Pentateuchauslegung bei Origenes und den frühen Rabbinen 9783653004533

Origenes ist der erste christliche Exeget, der eine systematische Kommentierung aller alttestamentlichen Schriften unter

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Pentateuchauslegung bei Origenes und den frühen Rabbinen
 9783653004533

Table of contents :
Vorwort ...................................................................................................................15
Einleitung................................................................................................................17
Zielsetzung der Untersuchung ............................................................................17
Entwicklung und Stand der Forschung..............................................................18
Quellen und methodologische Probleme...........................................................29
Kapitel 1. Weltschöpfung .....................................................................................32
Einleitung................................................................................................................32
“Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde”.....................................................34
Rabbinische Auslegungen des Ausdrucks !"#$%&.............................................34
Genesis Rabba I.4...................................................................................................38
Genesis Rabba I.10.................................................................................................39
Origenes über den Ausdruck "# $%&' ...............................................................43
Origenes über Gen 1:1 und Prov 8:22. Der Plan der Schöpfung .....................44
Himmel und Erde in Gen 1:1 und 1:8 .................................................................49
Die Schöpfung der unsichtbaren Welt in Gen 1:1 .............................................49
Die Rabbinen vor dem Problem Gen 1:1 und Gen 1:8......................................54
Das Problem der Schöpfung der Materie ...........................................................55
Origenes über die Frage der Schöpfung der Materie .......................................59
Das origenianische Zeugnis in Praeparatio Evangelica 7.20 ...........................60
Existenz mehrererWelten ....................................................................................71
Die vier Elemente als Voraussetzung für die Bildung der Materie ............74
GenRab IV und die Vierelementenlehre.............................................................74
Origenes über die vier Elemente .........................................................................74
Allegorische Interpretationen von Gen 1:2 und 1:3 ......................................75
Das Land und die Entstehung der Pflanzen (Gen 1:11) ...............................78
Schöpfung der Himmelskörper Gen 1:14(17......................................................80
Rabbinische Interpretation der Erschaffung der Lichter..................................82
Zusammenfassung ................................................................................................83
Anhang (Kapitel 1), Das origenianische Zeugnis in Präeparatio
Evangelica 7.20...................................................................................................84
Kapitel 2. Die Schöpfung des Menschen ............................................................87
Einleitung................................................................................................................87
)Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich).....................87
Rabbinische Erklärungen der Pluralform ..........................................................87
Origenes über die Pluralform in Gen 1:26..........................................................89
Die Schöpfung des Menschen aus himmlischen und irdischen
Elementen (Gen 1:26 und Gen 2:7). Rabbinische Zeugnisse........................90
Himmlischer und irdischer Mensch nach Origenes .........................................93
Körperlichkeit des ersten Menschen, ursprüngliche Sterblichkeit oder
Unsterblichkeit des Menschen? .......................................................................96
“Als Mann und Frau schuf er ihn”....................................................................108
Die Schöpfung der Geschlechter nach Origenes .............................................111
Die ursprüngliche Sexualität des Menschen und ihre Verbindung zur
ersten Sünde .....................................................................................................112
Zusammenfassung ..............................................................................................115
Kapitel 3. Eden.....................................................................................................117
Allegorische Interpretation des Origenes und seine Modelle ...................117
Die etymologische Erklärung des Origenes und die rabbinische
Interpretation Edens........................................................................................121
Zusammenfassung ..............................................................................................124
Kapitel 4. Die Geschichte Noahs........................................................................126
Einleitung..............................................................................................................126
Noah vor der Flut. Seine relative Gerechtigkeit, seine Rettung (
Verdienst oder Gnade Gottes?.......................................................................128
Die relative Gerechtigkeit Noahs ......................................................................128
Charakteristiken der Arche und des Lebens in ihr .....................................132
Maße der Arche....................................................................................................132
Keuschheit in der Arche .....................................................................................134
Reine und unreine Tiere in der Arche ..............................................................135
Die Flut als Wunder und Strafe .........................................................................137
Die Flut als gerechte Strafe.................................................................................138
Die Flut als Wiederherstellung der Gerechtigkeit...........................................138
Ende der Flut, Ausgang aus der Arche ............................................................139
Noah als Priester..................................................................................................140
Der Bund...............................................................................................................141
Noahs Sünden nach dem Auszug aus der Arche............................................142
Die Verfluchung Kanaans ..................................................................................143
Allegorische und typologische Interpretationen.............................................145
Die Arche als Reinigungsopfer in Genesis Rabba .............................................145
Typologische Auslegungen bei Origenes.........................................................146
Allegorische Interpretationen des Origenes ....................................................147
Moralische Interpretation des Origenes ...........................................................148
Zusammenfassung ..............................................................................................150
Allgemeine Einleitung zu den Kapiteln 5(7.....................................................152
Kapitel 5. Beschneidung .....................................................................................154
Einleitung..............................................................................................................154
Das Problem der Beschneidung nach Origenes ..............................................156
Geistiger Charakter der alttestamentlichen Befehle .......................................163
Beschneidung nach den Rabbinen ....................................................................172
Opfercharakter der Beschneidung ....................................................................173
Heilskraft der Beschneidung..............................................................................175
Das Problem der Schöpfung ohne Beschneidung...........................................180
Zusammenfassung ..............................................................................................184
Kapitel 6. Die Opferung / die Bindung Isaaks .................................................186
Historische Entwicklung der Rolle Isaaks im jüdischen Denken .............186
Charakteristiken der rabbinischen Isaak(Exegese...........................................189
Erlösungskraft des Opfers ..................................................................................190
Liturgische Funktion des Opfers Isaaks ...........................................................194
Eschatologische Funktion des Opfers Isaaks ...................................................195
6.3. Die Versuchung Abrahams und das Opfer Isaaks nach Origenes.....195
Christologische Typologien Isaaks nach Origenes .........................................198
Isaak als Typos des Wort Gottes........................................................................200
Zusammenfassung ..............................................................................................201
Kapitel 7. Kleinere Themen aus der Patriarchen(Geschichte ........................203
Die Erscheinungen vor Abraham und Lot .......................................................203
Allegorische Interpretation des Origenes.........................................................205
Die Erscheinungen nach den Rabbinen............................................................207
Interpretation der Scham Lots ...........................................................................208
Argumente zur Verteidigung der Blutschande...............................................209
Moralische Interpretation von Lots Töchtern..................................................213
Lot und seine Töchter. Zusammenfassung......................................................213
Ehen und Ehefrauen der Patriarchen................................................................214
Moralische Interpretation und Etymologie der Namen.................................215
Auslegung der Ablehnung der erstgeborenen Söhne (Ismael, Esau).......222
Origenianische Interpretation der abgelehnten Brüder .................................224
Auslegung der jüngeren Brüder. Zusammenfassung ....................................225
Jakob und Joseph. Die auserwählten Patriarchen...........................................226
Die Kraft der Verdienste.....................................................................................228
Die Vorsehung als besondere Gabe Gottes ......................................................229
Origenes über Jakob und Joseph .......................................................................231
Die Mission Josephs ............................................................................................238
Kapitel 8. Allegorische Deutung der Plagen der Ägypter .............................240
Die Sklaverei in Ägypten im Licht der Heilsgeschichte.............................240
Ägypten und die Idolatrie..................................................................................242
Geistige Sklaverei und Befreiung nach Origenes............................................242
Historische Typologie des Auszugs nach den Rabbinen...........................243
Mystische Interpretation des Auszugs aus Ägypten nach Origenes........244
Allegorische Interpretation der Plagen der Ägypter ......................................245
Interpretation der Plagen nach den Rabbinen.................................................248
Zusammenfassung ..............................................................................................251
Kapitel 9. Interpretation des Pascha..................................................................253
Einleitung..............................................................................................................253
Opfer( und Erlösungscharakter des Paschafestes ...........................................254
Typologische und allegorische Auslegung des Pascha bei Origenes.......256
Das Paschalamm als Typos Christi ...................................................................257
Liturgische Typologie des Pascha .....................................................................260
Allegorische Interpretationen der Rabbinen....................................................263
Weitere rabbinische Allegorien .........................................................................264
Teilnahme am Paschafest und Auserwählung des jüdischen Volkes ......265
Alttestamentliches Pascha und jüdisches Pascha nach der Ankunft
Christi ................................................................................................................267
Zusammenfassung ..........................................................................................270
Kapitel 10. Die Überquerung des Schilfmeeres. Auslegung von Ex 13:17–
14:31.......................................................................................................................272
Origenes über Ex 13:17(14:31. Die Typologie Durchquerung des
Schilfmeeres / Taufe ........................................................................................272
Rabbinische allegorische Deutungen................................................................273
Historische Interpretation ..................................................................................274
Weitere historische Interpretationen.................................................................275
Zusammenfassung ..............................................................................................276
Kapitel 11. Das Manna. Allegorische Deutungen ...........................................277
Das Manna als das Wort Gottes nach Origenes ..............................................277
Allegorische Interpretation des Manna nach den Rabbinen .....................279
Zusammenfassung ..............................................................................................282
Kapitel 12. Gabe und Empfang der Tora (Ex 19(20) .......................................284
Gabe der Tora nach den Rabbinen....................................................................284
Tora und Schöpfung............................................................................................284
Das Studium der Tora als Pflicht.......................................................................288
Die Aggada als wesentlicher Bestandteil der Tora .........................................289
Geben und Empfangen der Tora nach Origenes.........................................290
Ein Gott und ein Volk im ersten Gebot (Ex 20:2(5) .....................................292
Zusammenfassung ..............................................................................................298
Kapitel 13. Interpretation des Stiftszeltes (Ex 25)............................................300
Einleitung..............................................................................................................300
Die origenianische Interpretation des Stiftszeltes ...........................................302
Das Stiftszelt als Allegorie des Himmels..........................................................304
Historische Interpretation ..................................................................................309
Rabbinische Interpretation des Stiftszeltes/des Tempels ...........................310
Das Stiftszelt – Ort der Schekhina .....................................................................310
Zusammenfassung ..........................................................................................315
Kapitel 14. Priestertum........................................................................................316
Einleitung..............................................................................................................316
Origenianische Interpretation des Priestertums..............................................317
Alt( und neutestamentliches Priestertum nach Origenes ..............................317
Liturgische Charakteristiken des Priesteramtes..............................................322
Der Hohepriester bei Origenes ..........................................................................328
Allegorie der Ehe des Hohepriesters ................................................................330
Weitere Regeln für den Hohepriester. Allegorische Deutung ......................332
Rabbinische Interpretation des Priestertums...................................................333
Die Vollkommenheit des Hohepriesters ..........................................................334
Gott als eschatologischer Priester nach den Rabbinen ...................................334
Das allgemeine Priestertum der Gläubigen .....................................................335
Die Auswahl der Leviten und das allgemeine Priestertum...........................335
Rabbinische Polemik gegen das christliche Priestertum................................336
Zusammenfassung ..............................................................................................337
Kapitel 15. Interpretation des Opferkultes.......................................................339
Einleitung..............................................................................................................339
Das Opfer als Erlösungsmittel ...........................................................................342
Allegorisch(moralische Interpretation..............................................................344
Moralische Allegorien der Opfer in Levitikus Rabba........................................347
Das Problem homo / anima in Lev 1:2; 2:1; 4:1. 27 ..........................................349
Der Opferkult in seiner historischen Bedeutung.........................................351
Mystische Auslegung. Himmlischer Opferkult...........................................354
Theologischer Hintergrund der origenianischen Polemik in der 4.
Levitikushomilie ..............................................................................................355
Zusammenfassung ..........................................................................................357
Kapitel 16. Interpretation der Reinheitsgesetze (Lev 11(15) ..........................359
Einleitung..............................................................................................................359
Allegorische Deutung der Unreinheit der toten Körper bei Origenes
(Lev 5:23)...........................................................................................................363
Unreinheit des Opferfleisches............................................................................365
Speisevorschriften. Allegorie der reinen und unreinen Tiere ...................368
Meereswesen........................................................................................................373
Speisevorschriften. Reine und unreine Tiere nach den Rabbinen ............375
Unreinheit durch Lepra ......................................................................................379
Die Lepra als Allegorie der Sünde nach Origenes ..........................................379
Christus als Arzt ..................................................................................................382
Reinigungsmittel..................................................................................................384
Die Rabbinen zur Frage der Unreinheit durch Lepra.....................................387
Die Verbindung zwischen Lepra und Sünde...................................................389
Historische Allegorien der Lepra bei den Rabbinen.......................................391
Die Unreinheit nach der Geburt ........................................................................394
Kapitel 17. Interpretation des Versöhnungstags .............................................397
Einleitung..............................................................................................................397
Der Versöhnungstag und das Selbstopfer Christi...........................................399
Allegorische Interpretation des Origenes.........................................................401
Christologische Typologie der Böcke ...............................................................402
Der Hohepriester am Versöhnungstag nach Origenes...............................404
Christologische Typologie des Hohepriesters .................................................404
Das Problem der Christen, die den Versöhnungstag praktizieren...........406
Interpretation des Versöhnungstags nach den Rabbinen ..........................411
Erlösung durch den Tod der Gerechten...........................................................411
Zusammenfassung ..............................................................................................413
Kapitel 18. Interpretation der Sabbatfeier ........................................................415
Der Sabbat in rabbinischer Auffassung............................................................415
Sabbat und Schöpfung nach den Rabbinen .....................................................415
Sabbat als Heiligung nach den Rabbinen.........................................................417
Origenes über den Sabbat...................................................................................419
Der „geistige“ Sabbat des Origenes ..................................................................421
Zusammenfassung ..........................................................................................429
Schlusswort ..........................................................................................................431
Übernahme aggadischer Traditionen durch Origenes ...............................432
Übernahme stilistischer und exegetischer Formen.........................................435
Rabbinische Reaktionen auf die Herausforderungen der christlichen
Exegeten............................................................................................................438
Schriftauslegung in Predigten und ihr Publikum...........................................439
Abkürzungen .......................................................................................................443
Benutzte Editionen und Übersetzungen antiker Texte ..................................443
Konsultierte Sekundärliteratur ..........................................................................451

Citation preview

EARLY CHRISTIANITY IN THE CONTEXT OF ANTIQUITY Edited by David Brakke, anders-Christian Jacobsen, Jörg Ulrich

anna Tzvetkova-glaser

Pentateuchauslegung bei Origenes und den frühen Rabbinen

7 PETER Lang

Internationaler Verlag der Wissenschaften

Origenes ist der erste christliche Exeget, der eine systematische Kommentierung aller alttestamentlichen Schriften unternahm. Origenes war in alexandria und Cäsarea tätig, wo er Kontakte zu jüdischen gelehrten unterhielt. anhand der analyse der Pentateuchauslegung werden sowohl rabbinische Traditionen bei Origenes, als auch mögliche origenianische Einlüsse auf die frührabbinische auslegung kommentiert. Durch die Untersuchung mehrerer heologumena, von Welt- und Menschenschöpfung über Patriarchengeschichte bis zu verschiedenen rituellen Fragen aus dem Buch Levitikus, werden nicht nur die Beziehungen zwischen Origenes und zeitgenössischen jüdischen gelehrten, sondern auch seine auseinandersetzung mit heterodoxen oder judaisierenden Christen beleuchtet. Dies wirft ein neues Licht auf das Publikum des Origenes.

anna Tzvetkova-glaser, geboren 1978 in Bulgarien; Studium der Klassischen Philologie mit Schwerpunkt frühchristliche Literatur an der Universität „La Sapienza“ in Rom; Promotionsstudium in Heidelberg und Berlin; seit 2007 Lektorin für griechisch an der heologischen Fakultät der Universität Heidelberg.

www.peterlang.de

Pentateuchauslegung bei Origenes und den frühen Rabbinen

EARLY CHRISTIANITY IN THE CONTEXT OF ANTIQUITY Edited by David Brakke, anders-Christian Jacobsen, Jörg Ulrich advisory board: Hanns Christof Brennecke Ferdinand R. Prostmeier Einar Thomassen nils arne Pedersen

Volume 7

PETER Lang

Frankfurt am Main · Berlin · Bern · Bruxelles · new York · Oxford · Wien

anna Tzvetkova-glaser

Pentateuchauslegung bei Origenes und den frühen Rabbinen

PETER Lang

Internationaler Verlag der Wissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 2008

Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier.

11 ISSN 1862-197X (Print­Ausgabe) ISBN 978­3­653­00453­3 E-ISBN 978-3-653-00453-3 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2010 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.de

Inhalt Vorwort................................................................................................................... 15 Einleitung................................................................................................................ 17 Zielsetzung der Untersuchung ............................................................................ 17 Entwicklung und Stand der Forschung.............................................................. 18 Quellen und methodologische Probleme ........................................................... 29 Kapitel 1. Weltschöpfung ..................................................................................... 32 Einleitung................................................................................................................ 32 “Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde”..................................................... 34 Rabbinische Auslegungen des Ausdrucks !"#$%&............................................. 34 Genesis Rabba I.4................................................................................................... 38 Genesis Rabba I.10 ................................................................................................. 39 Origenes über den Ausdruck "# $%&' ............................................................... 43 Origenes über Gen 1:1 und Prov 8:22. Der Plan der Schöpfung ..................... 44 Himmel und Erde in Gen 1:1 und 1:8 ................................................................. 49 Die Schöpfung der unsichtbaren Welt in Gen 1:1 ............................................. 49 Die Rabbinen vor dem Problem Gen 1:1 und Gen 1:8...................................... 54 Das Problem der Schöpfung der Materie ........................................................... 55 Origenes über die Frage der Schöpfung der Materie ....................................... 59 Das origenianische Zeugnis in Praeparatio Evangelica 7.20 ........................... 60 Existenz mehrerer Welten .................................................................................... 71 Die vier Elemente als Voraussetzung für die Bildung der Materie ............ 74 GenRab IV und die Vierelementenlehre............................................................. 74 Origenes über die vier Elemente ......................................................................... 74 Allegorische Interpretationen von Gen 1:2 und 1:3 ...................................... 75

Das Land und die Entstehung der Pflanzen (Gen 1:11) ............................... 78 Schöpfung der Himmelskörper Gen 1:14(17...................................................... 80 Rabbinische Interpretation der Erschaffung der Lichter.................................. 82 Zusammenfassung ................................................................................................ 83 Anhang (Kapitel 1), Das origenianische Zeugnis in Präeparatio Evangelica 7.20................................................................................................... 84 Kapitel 2. Die Schöpfung des Menschen ............................................................ 87 Einleitung................................................................................................................ 87 )Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich)..................... 87 Rabbinische Erklärungen der Pluralform .......................................................... 87 Origenes über die Pluralform in Gen 1:26.......................................................... 89 Die Schöpfung des Menschen aus himmlischen und irdischen Elementen (Gen 1:26 und Gen 2:7). Rabbinische Zeugnisse........................ 90 Himmlischer und irdischer Mensch nach Origenes ......................................... 93 Körperlichkeit des ersten Menschen, ursprüngliche Sterblichkeit oder Unsterblichkeit des Menschen? ....................................................................... 96 “Als Mann und Frau schuf er ihn”.................................................................... 108 Die Schöpfung der Geschlechter nach Origenes ............................................. 111 Die ursprüngliche Sexualität des Menschen und ihre Verbindung zur ersten Sünde ..................................................................................................... 112 Zusammenfassung .............................................................................................. 115 Kapitel 3. Eden ..................................................................................................... 117 Allegorische Interpretation des Origenes und seine Modelle ................... 117 Die etymologische Erklärung des Origenes und die rabbinische Interpretation Edens........................................................................................ 121 Zusammenfassung .............................................................................................. 124 Kapitel 4. Die Geschichte Noahs........................................................................ 126

Einleitung.............................................................................................................. 126 Noah vor der Flut. Seine relative Gerechtigkeit, seine Rettung ( Verdienst oder Gnade Gottes? ....................................................................... 128 Die relative Gerechtigkeit Noahs ...................................................................... 128 Charakteristiken der Arche und des Lebens in ihr ..................................... 132 Maße der Arche.................................................................................................... 132 Keuschheit in der Arche ..................................................................................... 134 Reine und unreine Tiere in der Arche .............................................................. 135 Die Flut als Wunder und Strafe ......................................................................... 137 Die Flut als gerechte Strafe................................................................................. 138 Die Flut als Wiederherstellung der Gerechtigkeit........................................... 138 Ende der Flut, Ausgang aus der Arche ............................................................ 139 Noah als Priester.................................................................................................. 140 Der Bund............................................................................................................... 141 Noahs Sünden nach dem Auszug aus der Arche............................................ 142 Die Verfluchung Kanaans .................................................................................. 143 Allegorische und typologische Interpretationen............................................. 145 Die Arche als Reinigungsopfer in Genesis Rabba ............................................. 145 Typologische Auslegungen bei Origenes......................................................... 146 Allegorische Interpretationen des Origenes .................................................... 147 Moralische Interpretation des Origenes ........................................................... 148 Zusammenfassung .............................................................................................. 150 Allgemeine Einleitung zu den Kapiteln 5(7 ..................................................... 152 Kapitel 5. Beschneidung ..................................................................................... 154 Einleitung.............................................................................................................. 154 Das Problem der Beschneidung nach Origenes .............................................. 156 Geistiger Charakter der alttestamentlichen Befehle ....................................... 163

Beschneidung nach den Rabbinen .................................................................... 172 Opfercharakter der Beschneidung .................................................................... 173 Heilskraft der Beschneidung.............................................................................. 175 Das Problem der Schöpfung ohne Beschneidung ........................................... 180 Zusammenfassung .............................................................................................. 184 Kapitel 6. Die Opferung / die Bindung Isaaks ................................................. 186 Historische Entwicklung der Rolle Isaaks im jüdischen Denken ............. 186 Charakteristiken der rabbinischen Isaak(Exegese........................................... 189 Erlösungskraft des Opfers .................................................................................. 190 Liturgische Funktion des Opfers Isaaks ........................................................... 194 Eschatologische Funktion des Opfers Isaaks ................................................... 195 6.3. Die Versuchung Abrahams und das Opfer Isaaks nach Origenes..... 195 Christologische Typologien Isaaks nach Origenes ......................................... 198 Isaak als Typos des Wort Gottes........................................................................ 200 Zusammenfassung .............................................................................................. 201 Kapitel 7. Kleinere Themen aus der Patriarchen(Geschichte ........................ 203 Die Erscheinungen vor Abraham und Lot ....................................................... 203 Allegorische Interpretation des Origenes......................................................... 205 Die Erscheinungen nach den Rabbinen............................................................ 207 Interpretation der Scham Lots ........................................................................... 208 Argumente zur Verteidigung der Blutschande............................................... 209 Moralische Interpretation von Lots Töchtern .................................................. 213 Lot und seine Töchter. Zusammenfassung ...................................................... 213 Ehen und Ehefrauen der Patriarchen................................................................ 214 Moralische Interpretation und Etymologie der Namen................................. 215 Auslegung der Ablehnung der erstgeborenen Söhne (Ismael, Esau)....... 222

Origenianische Interpretation der abgelehnten Brüder ................................. 224 Auslegung der jüngeren Brüder. Zusammenfassung .................................... 225 Jakob und Joseph. Die auserwählten Patriarchen ........................................... 226 Die Kraft der Verdienste..................................................................................... 228 Die Vorsehung als besondere Gabe Gottes ...................................................... 229 Origenes über Jakob und Joseph ....................................................................... 231 Die Mission Josephs ............................................................................................ 238 Kapitel 8. Allegorische Deutung der Plagen der Ägypter ............................. 240 Die Sklaverei in Ägypten im Licht der Heilsgeschichte............................. 240 Ägypten und die Idolatrie.................................................................................. 242 Geistige Sklaverei und Befreiung nach Origenes............................................ 242 Historische Typologie des Auszugs nach den Rabbinen ........................... 243 Mystische Interpretation des Auszugs aus Ägypten nach Origenes........ 244 Allegorische Interpretation der Plagen der Ägypter ...................................... 245 Interpretation der Plagen nach den Rabbinen................................................. 248 Zusammenfassung .............................................................................................. 251 Kapitel 9. Interpretation des Pascha.................................................................. 253 Einleitung.............................................................................................................. 253 Opfer( und Erlösungscharakter des Paschafestes ........................................... 254 Typologische und allegorische Auslegung des Pascha bei Origenes....... 256 Das Paschalamm als Typos Christi ................................................................... 257 Liturgische Typologie des Pascha ..................................................................... 260 Allegorische Interpretationen der Rabbinen.................................................... 263 Weitere rabbinische Allegorien ......................................................................... 264 Teilnahme am Paschafest und Auserwählung des jüdischen Volkes ...... 265

Alttestamentliches Pascha und jüdisches Pascha nach der Ankunft Christi................................................................................................................ 267 Zusammenfassung .......................................................................................... 270 Kapitel 10. Die Überquerung des Schilfmeeres. Auslegung von Ex 13:17– 14:31 ....................................................................................................................... 272 Origenes über Ex 13:17(14:31. Die Typologie Durchquerung des Schilfmeeres / Taufe ........................................................................................ 272 Rabbinische allegorische Deutungen................................................................ 273 Historische Interpretation .................................................................................. 274 Weitere historische Interpretationen................................................................. 275 Zusammenfassung .............................................................................................. 276 Kapitel 11. Das Manna. Allegorische Deutungen ........................................... 277 Das Manna als das Wort Gottes nach Origenes .............................................. 277 Allegorische Interpretation des Manna nach den Rabbinen ..................... 279 Zusammenfassung .............................................................................................. 282 Kapitel 12. Gabe und Empfang der Tora (Ex 19(20) ....................................... 284 Gabe der Tora nach den Rabbinen .................................................................... 284 Tora und Schöpfung............................................................................................ 284 Das Studium der Tora als Pflicht....................................................................... 288 Die Aggada als wesentlicher Bestandteil der Tora ......................................... 289 Geben und Empfangen der Tora nach Origenes......................................... 290 Ein Gott und ein Volk im ersten Gebot (Ex 20:2(5) ..................................... 292 Zusammenfassung .............................................................................................. 298 Kapitel 13. Interpretation des Stiftszeltes (Ex 25)............................................ 300 Einleitung.............................................................................................................. 300 Die origenianische Interpretation des Stiftszeltes ........................................... 302 Das Stiftszelt als Allegorie des Himmels.......................................................... 304

Historische Interpretation .................................................................................. 309 Rabbinische Interpretation des Stiftszeltes/des Tempels ........................... 310 Das Stiftszelt – Ort der Schekhina ..................................................................... 310 Zusammenfassung .......................................................................................... 315 Kapitel 14. Priestertum........................................................................................ 316 Einleitung.............................................................................................................. 316 Origenianische Interpretation des Priestertums.............................................. 317 Alt( und neutestamentliches Priestertum nach Origenes .............................. 317 Liturgische Charakteristiken des Priesteramtes.............................................. 322 Der Hohepriester bei Origenes .......................................................................... 328 Allegorie der Ehe des Hohepriesters ................................................................ 330 Weitere Regeln für den Hohepriester. Allegorische Deutung ...................... 332 Rabbinische Interpretation des Priestertums................................................... 333 Die Vollkommenheit des Hohepriesters .......................................................... 334 Gott als eschatologischer Priester nach den Rabbinen ................................... 334 Das allgemeine Priestertum der Gläubigen ..................................................... 335 Die Auswahl der Leviten und das allgemeine Priestertum........................... 335 Rabbinische Polemik gegen das christliche Priestertum................................ 336 Zusammenfassung .............................................................................................. 337 Kapitel 15. Interpretation des Opferkultes....................................................... 339 Einleitung.............................................................................................................. 339 Das Opfer als Erlösungsmittel ........................................................................... 342 Allegorisch(moralische Interpretation.............................................................. 344 Moralische Allegorien der Opfer in Levitikus Rabba........................................ 347 Das Problem homo / anima in Lev 1:2; 2:1; 4:1. 27 .......................................... 349 Der Opferkult in seiner historischen Bedeutung......................................... 351

Mystische Auslegung. Himmlischer Opferkult........................................... 354 Theologischer Hintergrund der origenianischen Polemik in der 4. Levitikushomilie .............................................................................................. 355 Zusammenfassung .......................................................................................... 357 Kapitel 16. Interpretation der Reinheitsgesetze (Lev 11(15) .......................... 359 Einleitung.............................................................................................................. 359 Allegorische Deutung der Unreinheit der toten Körper bei Origenes (Lev 5:23)........................................................................................................... 363 Unreinheit des Opferfleisches............................................................................ 365 Speisevorschriften. Allegorie der reinen und unreinen Tiere ................... 368 Meereswesen ........................................................................................................ 373 Speisevorschriften. Reine und unreine Tiere nach den Rabbinen ............ 375 Unreinheit durch Lepra ...................................................................................... 379 Die Lepra als Allegorie der Sünde nach Origenes .......................................... 379 Christus als Arzt .................................................................................................. 382 Reinigungsmittel.................................................................................................. 384 Die Rabbinen zur Frage der Unreinheit durch Lepra..................................... 387 Die Verbindung zwischen Lepra und Sünde................................................... 389 Historische Allegorien der Lepra bei den Rabbinen....................................... 391 Die Unreinheit nach der Geburt ........................................................................ 394 Kapitel 17. Interpretation des Versöhnungstags ............................................. 397 Einleitung.............................................................................................................. 397 Der Versöhnungstag und das Selbstopfer Christi........................................... 399 Allegorische Interpretation des Origenes......................................................... 401 Christologische Typologie der Böcke ............................................................... 402 Der Hohepriester am Versöhnungstag nach Origenes............................... 404

Christologische Typologie des Hohepriesters ................................................. 404 Das Problem der Christen, die den Versöhnungstag praktizieren ........... 406 Interpretation des Versöhnungstags nach den Rabbinen .......................... 411 Erlösung durch den Tod der Gerechten ........................................................... 411 Zusammenfassung .............................................................................................. 413 Kapitel 18. Interpretation der Sabbatfeier ........................................................ 415 Der Sabbat in rabbinischer Auffassung ............................................................ 415 Sabbat und Schöpfung nach den Rabbinen ..................................................... 415 Sabbat als Heiligung nach den Rabbinen......................................................... 417 Origenes über den Sabbat................................................................................... 419 Der „geistige“ Sabbat des Origenes .................................................................. 421 Zusammenfassung .......................................................................................... 429 Schlusswort .......................................................................................................... 431 Übernahme aggadischer Traditionen durch Origenes ............................... 432 Übernahme stilistischer und exegetischer Formen ......................................... 435 Rabbinische Reaktionen auf die Herausforderungen der christlichen Exegeten............................................................................................................ 438 Schriftauslegung in Predigten und ihr Publikum ........................................... 439 Abkürzungen ....................................................................................................... 443 Benutzte Editionen und Übersetzungen antiker Texte .................................. 443 Konsultierte Sekundärliteratur .......................................................................... 451

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2008 von der Philosophischen Fakultät II der Humboldt(Universität zu Berlin als Dissertation angenom( men und für den Druck leicht bearbeitet. Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph Markschies hat die Aufgabe der Dissertation formuliert, die Arbeit mit Interesse verfolgt und sie begutachtet. Dafür und für die schöne Zeit an seinem Heidelberger Lehrstuhl bin ich ihm sehr dankbar. Auch Prof. Dr. Ulrich Schmitzer möchte ich für sein Gutachten danken. Da die Veröffentlichung der Doktorarbeit den Abschluss eines langen Ausbildungsprozesses bezeichnet, möchte ich einige der Menschen erwäh( nen, die mich an meinen unterschiedlichen Stationen (Sofia, Rom, Heidel( berg und Berlin) begleitet haben. Mit großer Dankbarkeit denke ich an das Nationalgymnasium für alte Sprachen und Kulturen in Sofia und an meine altsprachlichen Lehrerinnen Lili Jordanova und Athina Vassiliadou(Kyneva, die das Interesse für die alten Sprachen in mir geweckt und sehr dazu beige( tragen haben, dass ich klassische Philologie studierte. Danken möchte ich auch meinen Dozenten von der Universität „La Sapienza” in Rom und vor allem Prof. Dr. Sergio Zincone, der meine erste Arbeit über Origenes betreut hat. Ein herzlicher Dank gilt den Teilnehmern am Doktorandenkolloquium von Prof. Markschies in Heidelberg und Berlin für ihre freundlichen Kom( mentare und Anregungen. PD Dr. Karin Metzler gegenüber fühle ich mich für ihre Hilfe und Ratschläge sehr verpflichtet. Von der Origeneslektüre, bei der die von Frau Metzler edierten lateinischen und griechischen Fragmente der Genesiskommentierung des Origenes besprochen wurden, haben die ersten Kapitel meiner Dissertation sehr profitiert. Für ihre freundschaftliche Unterstützung durch Gespräche und Korrekturen danke ich auch Dr. Char( lotte Köckert von Herzen. PD Dr. Esther Beate Körber und Michael Knöthig haben große Teile der Arbeit korrigiert und viel zur Verständlichkeit des deutschen Textes beigetragen. Pfarrer Dr. Karl Günther hat einige meiner Übersetzungen aus dem Hebräischen gelesen und mit großer Geduld korri( giert. Ihnen allen ein herzlicher Dank! Für alle noch verbleibenden Fehler im Deutschen und im Hebräischen bin ich alleine verantwortlich. Prof. Dr. Anders(Christian Lund Jacobsen hat bereits vor der Einrei( chung der Arbeit mehrere Kapitel gelesen und mit wertvollen Kommentaren versehen. Dafür und für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe „Early

Vorwort

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Christianity in the Context of Antiquity” möchte ich Prof. Jacobsen zusam( men mit Prof. Dr. Jörg Ulrich und Prof. Dr. David Brakke herzlichst danken. Prof. Dr. Ferdinand Prostmeier hat die Arbeit zur Aufnahme in die Reihe begutachtet. Seine Anregungen waren mir für die letzte Bearbeitung des Manuskripts sehr hilfreich. Ihm und den Mitarbeitern von Prof. Jacobsen in Aarhus, die mir bei den Formatierungsarbeiten geholfen haben, bin ich ebenso sehr verpflichtet. Ich danke auch der Konrad(Adenauer(Stiftung, die mein Promotions( studium über drei Jahre lang gefördert und durch ihr Seminarprogramm dazu beigetragen hat, dass ich mich in Deutschland immer heimischer fühl( te. Die Hilfe, die ich während der Promotionszeit von meiner Familie erfah( ren habe, lässt sich kaum in Worte fassen. Meine Eltern Prof. Dr. Iren Tzibranska und Vasko Tzvetkov haben mich auf jede erdenkliche Weise, nicht nur moralisch, sondern oft auch finanziell unterstützt. Mein Ehemann Jürgen Glaser stand mit viel Geduld und trotz der Arbeit an seiner eigenen Dissertation für kleinere oder größere Korrekturen und für alle technischen Probleme zur Verfügung. Diese Arbeit möchte ich daher mit Liebe und Dankbarkeit meiner gan( zen Familie und auf eine besondere Weise meiner Mutter widmen. Heidelberg, im April 2010 Anna Tzvetkova(Glaser

Einleitung Zielsetzung der Untersuchung Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen jüdischen und christlichen Gelehrten in den ersten Jahrhunderten n. Chr. ist ein Thema, das in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, nicht zuletzt weil es mit der Problematik der Identitätsbildung von Juden und Christen eng verbunden ist. Die Abgrenzung von den „Anderen“1 bzw. von anderen Bibelauslegungen spielt eine wichtige Rolle in diesem Prozess. Eine Unter( suchung christlicher und jüdischer Exegese erlaubt es, die Entwicklung der Deutung bestimmter biblischer Theologumena zu verfolgen und die Ausein( andersetzungen zwischen den Gelehrten zu rekonstruieren. Sie liefert schließlich wertvolle Informationen über die Adressaten der Auslegungen. Denn die Schriftauslegung prägte ohne Zweifel das Leben der Gemeinden auf besondere Weise. Durch Homilien, durch Kommentare unterschiedli( cher Art und im Schulunterricht erreichte sie Adressaten unterschiedlicher sozialer und ethnischer Provenienz. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die origenianische und rab( binische Exegese des Pentateuchs zu analysieren, sie in ihren historischen Kontext einzuordnen und gegenseitige Einflüsse zu beleuchten. Drei Aspek( te sind dabei von besonderem Interesse: die Rezeption rabbinischer Interpre( tationen durch Origenes, die Wirkung christlicher und origenianischer Ein( flüsse auf rabbinische Diskussionen und die Beleuchtung expliziter oder impliziter Auseinandersetzungen zwischen den Exegeten. Die Wahl des Origenes als christlichen Interpreten für diesen Vergleich mit der frührabbinischen Exegese hat viele Gründe: erstens ist Origenes der erste christliche Exeget, der das Alte Testament systematisch in Werken unterschiedlicher Form kommentiert hat und dadurch besonders stark mit der jüdischen Exegese konfrontiert wurde. Die Tatsache, dass Origenes in zwei Städten wirkte, die Zentren blühender jüdischer Gemeinden waren, nämlich in Alexandria und Cäsarea Martitima, begünstigte seinen Aus( tausch mit jüdischen Gelehrten. Origenes hat außerdem wie kein griechi( scher christlicher Autor vor ihm die Methoden der alexandrinischen Philo(

1

Vgl. D. Boyarin, Semantic Differences; or, „Judaism“/“Christianity“, in A.H. Becker / A. Yo shiko Reed (Hg.), The Ways that Never Parted, Tübingen 2003, 65 85.

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Einleitung

logie für die Bibelauslegung genutzt und dabei ein besonderes Interesse für unterschiedliche Textüberlieferungen, Übersetzungen und Namensetymolo( gien gezeigt. Das veranlasste ihn zu textkritischer Arbeit und förderte seine Offenheit gegenüber verschiedenen schriftlichen Quellen und mündlichen Überlieferungen. Seine Abhängigkeit von jüdischen Exegeten wurde lange vor allem mit den Repräsentanten der hellenistisch(jüdischen Tradition in Alexandria (besonders mit Philo und Aristeas) in Verbindung gebracht. Obwohl die Einflüsse der hellenistisch(jüdischen Exegese auf Origenes un( bestritten sind, wird bei einer genaueren Analyse einzelner Texte deutlich, dass sich ein beträchtlicher Teil der „jüdischen“ Traditionen, die bei Orige( nes begegnen, in keinem der hellenistisch(jüdischen Autoren finden lässt, sondern Parallelen in rabbinischen Werken hat. Die Frage, wie Origenes davon Kenntnis erlangt hat und wer seine jüdischen Gesprächspartner wa( ren, hat bereits Interesse in der Forschung gefunden.

Entwicklung und Stand der Forschung Die wichtigsten Vergleichsuntersuchungen zu Origenes und der rab( binischen Exegese Die ersten Untersuchungen über die Einflüsse jüdischer Traditionen auf die patristische Literatur begegnen in der Studie „Die Haggadah bei den Kirchen" vätern und in der apokryphischen Literatur“2 von L. Ginzberg. Der Frage nach den jüdischen Traditionen in den Werken des Origenes ist dann G. Bardy3 in einer Studie nachgegangen, in der er sich hauptsächlich mit den Indizien für die Existenz eines möglichen jüdischen Mitarbeiters des Origenes in Ale( xandria beschäftigte. Es folgten weitere Untersuchungen, die sich als Ziel die Erforschung aggadischer Traditionen in Origenes‘ Werken und seiner Quel( len setzten. Mitte der 1970er Jahre erschienen zwei wichtige Untersuchun( gen: „Caesarea, Origenes und die Juden“ von H. Bietenhard4 und „Origen and the Jews“ von N. De Lange5. Anhand einer detaillierten Analyse rabbinischer und origenianischer Texte, konnten beide Autoren die Rezeption zahlreicher

2 3 4 5

L. Ginzberg, Die Haggada bei den Kirchenvätern und in der apokryphischen Literatur, Berlin 1900. G. Bardy, Les traditions juives dans l#œuvre d#Origène, in Révue biblique 34 (1925), 217 225. H. Bietenhard, Caesarea, Origenes und die Juden, Stuttgart 1974. N. De Lange, Origen and the Jews, Studies in Jewish Christian Relations in Third Century Pales tine, Cambridge 1976.

Einleitung

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aggadischer Traditionen durch Origenes nachweisen. Sowohl H. Bietenhard als auch N. De Lange stellten fest, dass ein großer Teil dieser Interpretatio( nen aus den Werken des Origenes stammt, die in Cäsarea entstanden sind. Von Herodes als eine rein römische Stadt konzipiert, hatte sich Cäsarea Maritima in der Tat schnell zu einem der bedeutendsten Orte rabbinischen Schrifttums in Palästina entwickelt, wo Teile des Jerusalemer Talmuds ver( fasst wurden und einige der wichtigsten palästinischen Rabbinen wirkten. Das hat N. De Lange veranlasst, der Frage nach den Quellen des Origenes nachzugehen und einen Teil seiner Untersuchung den rabbinischen Persön( lichkeiten zu widmen, die als Gesprächspartner von Origenes in Frage kommen. Die Bücher von De Lange und Bietenhard haben einen besonderen Bei( trag zum Verständnis der Beziehungen zwischen Origenes und dem rabbi( nischen Judentum geleistet. Seit diesen Untersuchungen ist deutlich gewor( den, dass die jüdischen Quellen des Origenes nicht nur im hellenistisch( jüdischen, sondern auch im rabbinischen Milieu zu suchen sind. Anfang der 1980er Jahre erschien G. Sgherris Buch „Chiesa e sinagoga nelle opere di Orige" ne“6. Anders als die Arbeiten von De Lange und Bietenhard untersucht Sgherri die Zeugnisse des Origenes, die sein Verhältnis zum Judentum all( gemein beleuchten. Sgherris Untersuchung schließt sowohl historische und philologische als auch theologische Analysen ein. Obwohl Sgherris Interesse nicht auf die rabbinischen Traditionen bei Origenes gerichtet ist, konzent( riert auch er sich hauptsächlich auf die cäsareische Periode des Origenes und dadurch auf sein Verhältnis zum palästinischen Judentum. Die vorliegende Arbeit hat als erstes zum Ziel, die Analyse der Penta( teuchauslegung des Origenes und der Auslegung in den Midraschim auf dem von De Lange und Bietenhard eingeschlagenen Weg fortzusetzen und weitere rabbinische Traditionen in der Pentateuchauslegung des Origenes zu identifizieren. Die bislang erwähnten Untersuchungen konzentrieren sich allerdings auf die Erforschung der aggadischen Traditionen bei Origenes. Ein anderer, von Bietenhard und De Lange kaum beachteter Aspekt der Vergleichsunter( suchung der christlichen und jüdischen Exegese in den ersten Jahrhunderten n. Chr., ist die Identifizierung eventueller christlicher Einflüsse auf die rab( binischen Interpretationen. Denn es ist kaum denkbar, dass die rasche Ent(

6

G. Sgherri, Chiesa e sinagoga nelle opere di Origene, Milano, 1982.

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wicklung der christlichen Exegese von den jüdischen Gelehrten nicht be( merkt wurde. In der Tat hat bereits A. Geiger7 am Ende des 19. Jh. behaup( tet, dass sich die Auslegung der Aqeda Isaaks in rabbinischen Texten unter dem Einfluss der christlichen Exegese des leidenden Christus entwickelt habe. Die Position von Geiger, der sich ausschließlich auf die Auslegung von Gen 22 bezog, wurde von mehreren Forschern kritisiert. Die These, dass auch die christliche Auslegung eine Spur in den rabbinischen Schriften der ersten Jahrhunderte hinterlassen habe, blieb daher für lange Zeit unbeachtet. Die Ergebnisse einiger in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Un( tersuchungen zur Exegese biblischer Persönlichkeiten sowie zu rituellen Fragen haben die These unterstützt, dass sich einige der in den Midraschim überlieferten Auslegungen durchaus als Reaktion auf die christliche Exegese oder als Anpassung an ihre Topoi entwickelt haben. So hat beispielsweise N. Koltun(Fromm in einer Studie zu Noah8 nachweisen können, dass die rabbi( nische Deutung dieser Figuren als polemische Antwort auf die christliche Exegese zu verstehen ist. Auch einige Ergebnisse von Stökl ben Ezras Buch „The Impact of Yom Kippur on Early Christianity“9 unterstützen diese These. Ein besonderes Interesse für die Rezeption christlicher Texte in Genesis Rabba hat auch M. Niehoff in ihren Veröffentlichungen zur Beschneidung10 und zur Creatio ex nihilo11 gezeigt. Anhand zweier in Genesis Rabba geschilderten Auseinandersetzungen zwischen einem „Philosophen“ und prominenten rabbinischen Persönlichkeiten hat sie die Abhängigkeit dieser Texte von christlichen Modellen nachgewiesen. Obwohl die vorliegende Untersuchung nicht allen Ergebnissen zustimmen kann, ist Niehoffs Grundthese, dass mit einer bewussten Übernahme christlicher Auslegungsmodelle in den Midra( schim zu rechnen ist, für diese Arbeit von Bedeutung. Das Thema der Rezeption christlicher Interpretationsmodelle in den rabbinischen Schriften hat in den letzten Jahren immer mehr an Interesse und Bedeutung gewonnen. Gleichwohl besteht nach wie vor ein großer

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9 10 11

A. Geiger, Erbsünde und Versöhnungstod: Deren Versuch in das Judentum einzudringen, in Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 10 (1872), 166 171. N. Koltun Fromm, Aphrahat and the Rabbis on Noah’s Righteousness in the Light of the Jewish Christian Polemic in J. Frishman / L. van Rompay (Hg.), The Book of Genesis in Jewish and Ori ental Christian Interpretation, Leuven 1997, 57 71. D. Stökl ben Ezra, The Impact of Yom Kippur on Early Christianity, Tübingen 2003. M. Niehoff, Circumcision as a Marker of Identity, in JSQ (10/ 2003), 89 113. Dies., Creatio ex Nihilo Theology in Genesis Rabbah in the Light of Christian Exegesis, in Harvard Theological Review 99:1 (2005), 37 64.

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Forschungsbedarf. Die Erforschung christlicher und origenianischer Einflüs( se in den Midraschim ist daher ein weiteres Ziel des vorliegenden Buches12. Eine weitere, sich aus der systematischen Analyse ergebende Frage be( trifft die Verbindung zwischen Exegese und rituellem Leben. Im Laufe sei( ner Pentateuchauslegung muss sich Origenes oft mit rituellen Fragen ausei( nandersetzen. Er ist auch der erste christliche Exeget, der eine Interpretation des Buches Levitikus wagte. In der Tat ergeben sich viele rituelle Themen fast wie von selbst aus den kommentierten biblischen Texten. Auch wenn die Auswahl der Themen bei einer Pentateuchauslegung nicht überrascht, ist die sich darausentwickelnde Polemik des Origenes gegen die Ausübung bestimmter alttestamentlicher Vorschriften keineswegs selbstverständlich: erstens weil sie sich, wie wir sehen werden, nicht nur an jüdische Gegner richtet, sondern auch christliche Adressaten anvisiert; zweitens weil sie Aspekte des jüdischen Kultes betrifft, die im dritten Jahrhundert n. Chr. keineswegs aktuell waren (z.B. der Opferkult). Die Polemik des Origenes und anderer frühchristlicher Autoren gegen Christen, die sich von den jüdi( schen Praktiken angezogen fühlten und sie befolgten, ist mehrmals in der Forschung untersucht worden. Dabei konzentrieren sich die meisten Studien über die sogenannten Judenchristen oder Christen jüdischen Ursprungs13. Allgemein zugegeben wird allerdings, dass die Existenz dieser Christen in Palästina und speziell in Cäsarea nach 135 n. Chr. sehr unwahrscheinlich ist. Dass sie sich nicht am Aufstand von 135 beteiligten, habe zu ihrer immer größer werdenden Absonderung von der jüdischen Gemeinde und zu ihrer wachsenden Integration in die christliche Gemeinde geführt. Unbeantwortet bleibt also die Frage, wer die Adressaten des Origenes waren, zumal ( wie A. Monaci Castagno gezeigt hat14 ( die christliche Gemeinde in Cäsarea haupt( sächlich aus Heidenchristen bestand. Die Existenz von „judaisierenden“ Heidenchristen wurde lange vernachlässigt. M. Simon hat sich für die Exis( tenz solcher Christen in Palästina ausgesprochen und die nicht unerhebliche

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Die Studie von P. Schäfer Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums: Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums, Tübingen 2010 konnte ich leider nicht konsultieren, da sich ihre Erscheinung mit den Druckvorbereitungen des vorliegenden Bu ches überscrhritten hat. J. Daniélou, Théologie du judéo christianisme, Paris 1961; H. Schoeps, Theologie des Judenchristentums, Tübingen 1949; C. Mimmouni, Le judéo christianisme antique, Essais historiques, Paris 1998. A. Monaci Castagno, Origene predicatore e il suo pubblico, Milano 1982.

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Rolle der rabbinischen Mission in diesem Prozess angedeutet15. Auch N. De Lange spricht vom Interesse einiger christlicher Intellektuellen an der rabbi( nischen Auslegung16. Einige neue Untersuchungen und v.a. das bereits er( wähnte Buch von D. Stökl ben Ezra haben weitere Beweise für diese These geliefert. Neben den bisher bekannten Beispielen werde ich in meiner Unter( suchung auch weiteres Material dafür aufbringen, dass Origenes eine sys( tematische Auseinandersetzung mit judaisierenden Christen geführt hat. In einer Stadt wie Cäsarea, in der eine blühende jüdische Gemeinde und rabbi( nische Schulen existierten, war der Kontakt mit der rabbinischen Exegese und Denkweise auch für Nicht(Juden durchaus möglich. Die Tatsache, dass das Griechische ohne Zweifel die übliche (oder eine der üblichen) Sprachen in Palästina im dritten Jahrhundert war17, begünstigte die Aufnahme der rabbinischen Traditionen.

Gliederung der Arbeit und die wichtigsten Akzente in der bisherigen Forschung zu den behandelten Themen Das Vorhaben, eine Vergleichsuntersuchung der Pentateuchauslegung bei Origenes und den Rabbinen durchzuführen, schließt eine große Vielfalt an Themen (von Welt( und Menschenschöpfung über Pascha, Opferkult, Pries( tertum und Tempel) ein, von denen jeder Teilaspekt für sich eine eigene Doktorarbeit füllen könnte. Einige Themen wurden bereits in der Forschung behandelt. Eine vertiefte Analyse jedes einzelnen dieser Aspekte ist folglich im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Die vorliegende Untersuchung hat demnach zum Ziel, einen Überblick über den dargestellten Themenkomplex zu geben. Sie konzentriert sich auf jene Punkte, die das religiöse Klima im Palästina des dritten Jahrhunderts besonders prägten. Die ersten sieben Kapitel beschäftigen sich mit der Auslegung des Buches Genesis: Weltschöp( fung, Menschenschöpfung, Auslegung der Paradieserzählung, gefolgt von der Analyse der Exegese von Noah, Abraham und der Beschneidung, von Isaak und seiner Bindung sowie kleinerer Themen aus der Patriarchenge( schichte. Die dann folgenden sechs Kapitel konzentrieren sich auf die Exo(

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M. Simon, Verus Israel, Études sur les rélations entre chrétiens et Juifs dans l’Empire Romain (135 425), Paris 1948. De Lange, 1976, 12. Vgl. De Lange, 1976, 8 10, vgl. auch ders., Jewish Influence on Origen, in Origeniana, Bari, 227 228 bezüglich des liturgischen Gebrauchs des Griechischen in den jüdischen Gemein den in Palästina.

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dusauslegung: Plagen der Ägypter, Pascha, die Überquerung des Schilfmee( res, Manna, Stiftzelt und Gabe der Tora. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit rituellen Fragen aus den Büchern Levitikus, Numeri und Deuteronomi( um: der Interpretation des Priestertums, des Opferkultes, der Reinheitsvor( schriften, des Versöhnungstages und des Sabbats. Das letzte Thema, das durchaus mehrere Aspekte von Kapitel 3 (Paradieserzählung, Gen 2:8(3:21) aufgreift, wird nicht im Zusammenhang der Interpretation von Gen 2(3, sondern als Teil der rituellen Fragen behandelt, da dies der origenianischen Interpretationslogik entspricht und da die Sabbatpraxis in der Zeit des Ori( genes einen der Hauptpunkte in diesem Kapitel darstellt. Im Folgenden sollen die wichtigsten Aspekte der vorliegenden Untersu( chung der einzelnen soeben erwähnten Themen kurz genannt sowie der Platz, den sie in der bisherigen Forschung eingenommen haben, skizziert werden. Zu den zentralen Fragen des Kapitels über die Weltschöpfung gehört das in Genesis Rabba stark vertretene Theologumenon der Tora als $%&* der Schöpfung. Diskutiert werden das philonische Modell und dessen Rezeption durch Origenes sowie die Abhängigkeit der Auslegung in GenRab I.1 von dieser Tradition. Von besonderer Bedeutung in Kapitel 1 ist auch die Inter( pretation von Gen 1:2 und die Frage nach der Erschaffung der Materie. Während wir über einige christliche vororigenianische Zeugnisse einer Er( schaffung der ersten Materie durch Gott verfügen (Tatian, Theophilus von Antiochien, Tertullian), sind ähnliche Aussagen in der rabbinischen Litera( tur sehr selten, wie J. Neusner festgestellt hat18. Mit Bezug auf GenRab I.9 schreibt J.A. Goldstein19 die Entstehung einer Creatio ex nihilo(Lehre einer rabbinischen Autorität vom Ende des ersten Jahrhunderts zu. Diese Position wurde von mehreren Forschern kritisiert. Die spätere Entstehung dieses Textes wurde sowohl inhaltlich als auch textkritisch von J. Neusner20 und M. Niehoff21 nachgewiesen. In der vorliegenden Untersuchung wird dieser Text im Zusammenhang mit anderen rabbinischen Texten interpretiert und seine Abhängigkeit von christlichen Modellen beleuchtet. Weitere Themen des ersten Kapitels sind die Erschaffung der Himmelskörper, wobei die Ergeb(

18 J. Neusner, Confronting Creation: How Judaism Reads Genesis, An Anthology of Genesis Rabbah, Columbia 1991. 19 Vgl. J.A. Goldstein, The Origins of the Doctrine of Creatio ex nihilo, in JJS 35/2 (1984), 127 135. 20 J. Neusner, 1991, 42 43. 21 Niehoff, 2005.

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nisse von A. Scotts Buch „Origen and the Life of the Stars“22 berücksichtigt werden, sowie die Frage nach der „sekundären“ Schöpfung der Pflanzen und Tiere. Im Kapitel über die Menschenschöpfung werden v.a. die Fragen nach der Körperlichkeit und Sterblichkeit des ersten Menschen diskutiert. Es wird nachgewiesen, dass nicht nur bei Origenes, sondern auch in Genesis Rabba zwischen dem Zustand des ersten Menschen vor und nach seiner Sünde unterschieden wird. Das zentrale Problem ist hier, ob die Exegeten den Menschen auch vor der Sünde als körperlich gedacht haben und welche Veränderungen seiner Natur als Folge der Sünde verstanden werden. Da die origenianische Überlieferung sehr umstritten und kontrovers ist, wird sie detailliert kommentiert. Dabei stellt sich die Frage, ob und inwieweit Orige( nes die Annahme einer besonderen, leichteren Form der Körperlichkeit ver( treten hat, wie von M. Simonetti23, P.F. Beatrice24 und C. Noce25 vorgebracht wurde. A.C.L. Jacobsens Untersuchungen zur Anthropologie des Origenes und zur Funktion der Körperlichkeit nach der Sünde sind für diese Thema( tik sehr hilfreich26. Die Ergebnisse von H.J. Vogt, der die widersprüchlichen Informationen auf verschiedene Perioden des Wirkens des Origenes bezo( gen hat27, werden ebenfalls diskutiert. Die Problematik der Körperlichkeit des ersten Menschen ist sachlich eng mit dem Problem der Materialität des Paradieses verbunden, mit dem sich das dritte Kapitel dieses Buches beschäftigt. Neben den bekannten origenia( nischen Zeugnissen zum Thema, die hauptsächlich eine allegorische Deu( tung des Paradieses überliefern, werden auch einige griechische Fragmente seines Genesiskommentars herangezogen, die das Interesse des Origenes für

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A. Scott, Origen and the Life of the Stars, A History of an Idea, Oxford 1991. M. Simonetti, Alcune osservazioni sull’interpretazione origeniana di Genesi 2, 7 e 3, 21 in Aevum 36 (1962), 370 381. P.F. Beatrice, Le tuniche di pelle. Antiche letture di Gen. 3, 21 in U. Bianchi (Hg.), La tradizione dell’Enkrateia. Motivazioni ontologiche e protologiche, Milano 1982, 433 482. C. Noce, Vestis varia. L’immagine della veste nell’opera di Origene, Roma 2002. A.C.L. Jacobsen, The Construction of Man according to Irenaeus and Origen in B. Feichtinger / S. Lake / H. Seng (Hg.), Körper und Seele, Aspekte spätantiker Anthropologie, München Leipzig 2006, 67 93 und ders. Origen on the Human Body, in Origeniana octava, Origen and the Alexandrinian Tradition, Leuven, 2003, 649 656. H.J. Vogt, Warum wurde Origenes zum Häretiker erklärt? Kirchliche Vergangenheits Bewältigungen in der Vergangenheit, in L. Lies (Hg.), Origeniana quarta, Die Referate des 4. In ternationalen Origeneskongresses (Innsbruck, 2. 6. September 1985), Innsbruck 1987, 78 103.

Einleitung

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die „wörtliche“ Auslegung von Gen 2:8 bezeugen28. Das Problem der Para( diesvorstellung des Origenes ist bereits diskutiert worden, z.B. von Vogt, der es allerdings nicht in Verbindung mit der rabbinischen Exegese brachte. Die Abhängigkeit bestimmter Aussagen des Origenes von rabbinischen Auslegungen wurde zwar von M. Rauer erkannt29, aber nicht ausreichend kommentiert. Mit der Problematik der Auslegung von Gen 3:16(21 bei christlichen Autoren und in den Midraschim beschäftigt sich H. Reuling in ihrem Buch „After Eden“30. Diese Untersuchung schließt allerdings Origenes nicht ein, sondern betrachtet ihn nur am Rande als Quelle für die Genesis( auslegung des Didymus. Die vorliegende Arbeit berücksichtigt besonders die fragmentarische Überlieferung aus der Genesiskommentierung des Ori( genes und beleuchtet von dort her die unterschiedlichen Tendenzen, die sich in der origenianischen Auslegung von Gen 2:8 feststellen lassen. Die auslegungsgeschichtliche Analyse von Gen 6(8 (Noah) und Gen 12( 50 (Patriarchengeschichte) stellt einen wichtigen Teil der vorliegenden Un( tersuchung dar (Kapitel 4(7). Hierzu sind die Ergebnisse von G. Oberhansli( Widmers Buch „Biblische Figuren in der rabbinischen Literatur“31, sowie die bereits erwähnte Studie von N. Koltun(Fromm von besonderer Bedeutung. Denn sie haben in der Entwicklung der rabbinischen Exegese eine polemi( sche Antwort auf die christliche Deutung von Noah (Koltun(Fromm), Abra( ham, Jakob und Esau (Oberhansli(Widmer) erkannt. Drei Kapitel dieser Arbeit beschäftigen sich auf unterschiedliche Weise mit dem rabbinischen und origenianischen Opferverständnis: mit der Be( schneidung (Kapitel 5), der Bindung Isaaks (Kapitel 6) und dem Opferkult (Kapitel 15). Der Erlösungscharakter der Opfer, der in der Zeit des zweiten Tempels das jüdische Denken dominierte, spielte selbstverständlich eine besondere Rolle in der frühchristlichen Exegese. Dementsprechend zahlreich sind auch die Untersuchungen zu diesem Thema. Dass jüdische Opfervor(

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Vgl. K. Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente der Genesis Kommentierung, Origenes. Werke VI.2 GCS, NF, erscheint 2010. Frau PD Dr. Karin Metzler gilt mein ganz herzlicher Dank, da sie mir den Einblick in ihre Edition der griechischen Fragmenten schon vor der Veröffentlichung gewährt hat. M. Rauer, Origenes über das Paradies, in Studien zum Neuen Testament und zur Patristik, Erich Klostermann zum 90. Geburtstag dargebracht, hrsg. von der Kommission für spätantike Reli gionsgeschichte, Berlin 1961, 253 259. H. Reuling, After Eden, Church Fathers and Rabbis on Genesis 3: 16 21, Leiden 2006. G. Oberhänsli Widmer, Biblische Figuren in der rabbinischen Literatur, Gleichnisse und Bilder zu Adam, Noah und Abraham im Midrasch Bereschit Rabba, Bern 1997.

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stellungen von den christlichen Exegeten rezipiert wurden, steht außer Fra( ge. Es ist allerdings festzustellen, dass in rabbinischer Zeit Gen 22 im Opfer( kontext immer mehr an Bedeutung gewann und die Figur Isaaks im soterio( logischen Sinne interpretiert wurde. Wie bereits angedeutet, hat Geiger die These gewagt, dass diese Entwicklung unter dem Einfluss der christlichen Interpretationen des Selbstopfers Christi entstanden sei. I. Lévy32 hat ener( gisch gegen Geigers Position argumentiert. R. Daly meinte, dass diese Ent( wicklung auch innerhalb des Judentums stattgefunden haben könne33, ähn( lich argumentiert auch M. Krupp34. L. Kundert35 und D. Lerch36 beschäftigen sich jeder aus unterschiedlicher Perspektive mit dem Thema. Was die Ent( wicklung der soteriologischen Bedeutung der Aqeda angeht, tendieren sie dazu, die These von Lévy und Daly anzunehmen. Bedeutende Untersu( chungen zum Thema Opfer und Beschneidung haben als Grundlagen für Kapitel 5 gedient. Besondere Erwähnung verdienen F. Youngs37 Buch zum Opferverständnis im Frühchristentum, das bereit zitierte Werk Dalys und A. Blaschkes Monographie über die Beschneidung38. Letztere Untersuchung hat eine detaillierte historisch(theologische Analyse der Beschneidung zum Ziel. Einen bedeutenden Beitrag leistet auch M. Niehoffs39 Artikel über die Be( schneidung bei Origenes, Philo und den Rabbinen, die hier als Identifikati( onszeichen in den jeweiligen Auslegungen dargestellt wird. Die vorliegende Untersuchung knüpft an die Ergebnisse dieser Studien an und verfolgt be( sonders die Frage nach der identitätsbildenden Rolle der Beschneidungspra( xis und der origenianischen Polemik gegen judaisierende Christen. Mit der Opferproblematik ist z.T. auch die Analyse der origenianischen und rabbinischen Paschaauslegungen verbunden (Kapitel 9). H. Buchingers zweibändige Untersuchung über das Paschaverständnis des Origenes40 bie( tet sowohl eine sorgfältige Bearbeitung und Darstellung des origenianischen Materials als auch eine ausführliche Kommentierung der Entwicklung be(

32 33 34 35 36 37 38 39 40

I. Lévy, Le sacrifice d’Isaac et la mort de Jésus, in REJ 64 (1912), 161 184. R. Daly, Christian Sacrifice, Washington 1978. M. Krupp, Die Bindung Isaaks nach dem Midrash Bereshit Rabba, Gütersloh 1995. L. Kundert, Die Opferung/Bindung Isaaks, Neukirchen Vluyn 1998. D. Lerch, Isaaks Opferung christlich gedeutet, Tübingen 1950. F. Young, The Use of Sacrificial Ideas in Greek Christian Writers from the New Testament to John Chrysostom, Philadelphia 1979. A. Blaschke, Beschneidung, Zeugnisse der Bibel und verwandter Texte, Tübingen 1998. M. Niehoff, Circumcision as a Marker of Identity, in JSQ 10/2 (2003), 89 123. H. Buchinger, Pascha bei Origenes, Innsbruck Wien 2005.

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stimmter mit dem Pascha verbundene Typologien und Allegorien. Von Interesse sind außerdem die von Buchinger identifizierten Spannungen zwischen jüdischer und christlicher Exegese und Praxis des Paschafestes. Auch die Untersuchung weiterer ritueller Themen visiert das Problem der judaisierenden Christen an: die Interpretation des Versöhnungstages und die Auslegung der Sabbatobservanz (Kapitel 17 und 18). Bereits ange( deutet wurde der große Beitrag, den Stökl ben Ezras Buch zur Rezeption des Versöhnungstages geleistet hat41. Der Autor hat besonders die theologischen sowie liturgischen Aspekte der Rezeption des Festes in den ersten Jahrhun( derten n. Chr. kommentiert und dabei wertvolle Beweise für die Existenz judaisierender Heidenchristen in Cäsarea geliefert. Die in Kapitel 18 diskutierte Thematik der Sabbatobservanz wurde be( reits von mehreren Studien aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet. L. Doering42 hat verschiedene Aspekte der Sabbatobservanz sowohl in der jüdischen Diaspora als auch in Palästina in den ersten Jahrhunderten n. Chr. untersucht. Dabei hat er die Deutung und Praxis verschiedener mit der Sab( batobservanz verbundener Vorschriften erforscht. W. Rordorf43 hat etliche frühchristliche Zeugnisse zum Sabbat gesammelt, die den Überblick und die Auswahl der zu kommentierenden Texte für diese Arbeit erweitert haben. Die Analyse der Sabbatobservanz in der vorliegenden Arbeit konzentriert sich auf die in den Midraschim erkennbaren Grundthesen zum Sabbat, v.a. diejenigen, die seine eschatologische Deutung betreffen. Weiterhin werden in Kapitel 18 die sich aus der origenianischen Exegese ergebenden polemi( schen Fragen diskutiert. Außerdem wird das Problem erörtert, ob es in Cä( sarea Christen gab, welche die jüdischen Sabbatregeln befolgten. Ein wichtiges Thema ist auch das Tempelverständnis und die Interpreta( tion der Tempelzerstörung bei Origenes und den Rabbinen. C. Koesters Monographie „The Dwelling of God“44 bietet eine Übersicht über die Tempel( vorstellungen in der alexandrinischen Tradition. H.M. Döpp beschäftigt sich in seinem Buch „Die Interpretation der Tempelzerstörung in den ersten Jahrhun"

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D. Stökl ben Ezra, The Impact of Yom Kippur on Early Christianity, Tübingen 2003. L. Doering, Schabbat, Schabbatjalacha und Praxis im antiken Judentum und Urchristentum, Tübingen 1999. W. Rordorf, Sabbat und Sonntag in der Alten Kirche, Zürich 1992. C. Koester, The Dwelling of God, the Tabernacle in Old Testament, Intertestamental Jewish Litera ture, and the New Testament, Washington 1989. 42

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derten n. Chr.“45 mit den unterschiedlichen theologischen und exegetischen Auswirkungen der Zerstörung des zweiten Tempels auf christliche und jüdische Exegeten. Dabei betont er die von vielen frühchristlichen Autoren vertretene Meinung, die Tempelzerstörung sei ein Zeichen für die endgülti( ge Aufhebung des alttestamentlichen Kultes. Vor diesem Hintergrund be( schäftigt sich die vorliegende Arbeit mit der origenianischen Rezeption des Tempels und der von Origenes auf besondere Weise vertretenen christologi( schen Deutung. Auch das sich innerhalb der Levitikusauslegung abzeichnende Thema Priestertum erweist sich als besonders interessant für die Vergleichsuntersu( chung origenianischer und rabbinischer Texte. Betrachtet werden dabei sowohl die Reaktionen auf das christliche Priestertum in den Midraschim als auch die Tatsache, dass Origenes ganz bewusst die Fortsetzung des alttes( tamentlichen Priestertums durch den christlichen Klerus betonte. Dieser Aspekt wurde von A. Vilelà, T. Herrmann und T. Schäfer in ihren Untersu( chungen kaum beachtet46. Auch innerhalb der rabbinischen Auffassung von ritueller Reinheit, wie sie sich in ganz unterschiedlichen Reiheitsgesetzen niederschlägt, lässt sich eine Entwicklung feststellen, die einige Berührungen zur origenianischen allegorischen Deutung der Reinheitsvorschriften aufweist. Obwohl die Reinheit und Unreinheit nach jüdischem Verständnis ontologische und kei( ne moralischen Kategorien sind, macht sich in den Midraschim eine gewisse Verbindung zwischen Sünde und Reinheit bemerkbar. Für die Verfolgung der Entwicklung des Verständnisses von ritueller Reinheit innerhalb des Judentums sind J. Klawans Untersuchung47 und Teile von Neusners „Hand" book of Rabbinic Theology“48 sowie die Untersuchung von C. Fonrobert49 hilf( reich. Das vorliegende Buch beschäftigt sich im Kapitel 16 mit der Ausle( gung verschiedener Reinheitsgesetze. Diskutiert werden die Entwicklung

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H.M. Döpp, Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des zweiten Tempels in den ersten drei Jahrhunderten n. Chr., Tübingen Basel 1998. Vgl. T. Schäfer, Das Priesterbild im Werken und Leben des Origenes, Frankfurt 1997; T. Hermanns, Origène, Théologie sacrificielle du sacerdoce des chrétiens, Paris 1996; A. Vilelà, La condition collégiale des prêtres au IIIe siècle, in Théologie historique, 14, Paris 1971, 61 63. J. Klawans, The Impurity and Immorality in Ancient Judaism, in JJS, 48 (1997), 1 16. J. Neusner, Handbook of Rabbinic Theology, Boston 2002. C. Fonrobert, Menstrual Purity, Rabbinic and Christian Reconstructions on Biblical Gender, Stanford University Press 2001.

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der allegorischen Auslegung des Origenes auf dem Hintergrund der helle( nistisch(jüdischen Auslegung, die Verbindung zwischen moralischen Ver( gehen und Unreinheit in Levitikus Rabba sowie die eventuelle Beeinflussung dieser Position durch christliche Modelle.

Quellen und methodologische Probleme Da das Ziel dieser Untersuchung ein Vergleich von rabbinischer und orige( nianischer Auslegung ist, stehen jene Themen und Werke im Mittelpunkt, die einen solchen Vergleich zulassen. Aus diesem Grund sind v.a. die rabbi( nischen aggadischen Werke, die im palästinischen Milieu verfasst wurden, von besonderem Interesse. Dazu zählen zuerst die Midraschim zu den Pen( tateuchbüchern, die viel homiletisches Material enthalten. Die Midraschim zum Pentateuch zählen zu den sogenannten „aggadischen Kommentaren“. Die Aggada ist laut rabbinischem Verständnis eine auf dem Sinai mündlich überlieferte Tradition. Diese sei ebenfalls von Gott inspiriert und dem Moses auf dem Sinai anvertraut. Die aggadischen Kommentare konzentrieren sich auf die unterschiedlichen Überlieferungen zu einer Bibelstelle und ihren möglichen Deutungen. Das unterscheidet sie auch von Werken wie Mischna und Talmud, die sich v.a. mit legalistischen Fragen beschäftigen und deswe( gen als halakhische Werke bezeichnet werden. Im Unterschied zu Mischna und Talmud, die nach Traktaten zu bestimmten Themen strukturiert sind, folgt die Kommentierung in den meisten Midraschim zum Pentateuch der Struktur des biblischen Buches Vers für Vers. Die Arbeit mit den rabbinischen Kommentaren stellt einen vor mehrere methodologische Schwierigkeiten. Einige betreffen die Datierung und die Urheberschaft der Texte, andere dagegen ihre „Gattung“. Die meisten für diese Untersuchung verwendeten rabbinischen Texte stammen aus Werken, die deutlich nach der Lebenszeit des Origenes verfasst wurden. So datieren die frühesten Midraschim zum Pentateuch ( Genesis und Levitikus Rabba ( aus dem Anfang des fünften Jahrhunderts n. Chr50. Andere Werke wie Exodus Rabba wurden erst im Mittelalter verfasst51, haben aber einige frühere Paral( leltexte wie die Mekhilta, die aus dem dritten Jahrhundert stammt. Dass die

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Vgl. Beispielsweise J. Neusner, Comparative Midrash, The Plan and Program of Genesis Rabbah and Leviticus Rabbah, Atlanta 1986, 82 87. Vgl. L. Zunz, Die Gottesdienstlichen Vorträge der Juden, Heidesheim 1966, 256 258; H. Strack / G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 1986, 284 285

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Midraschim auf früherem Material beruhen, steht für die heutige Forschung außer Frage. Ob es sich allerdings bei der Endredaktion um eine bewusste inhaltliche Bearbeitung der Kommentare oder um eine reine „Anthologie“ rabbinischer Interpretationen handelt, ist eine umstrittene Frage. So versteht z.B. J. Becker die einzelnen Auslegungen als unabhängig voneinander exis( tierende Traditionen, sodass bei der Redaktion von Genesis Rabba eine Aus( wahl, aber keine Bearbeitung der Texte stattgefunden habe52. J. Neusner dagegen spricht sich für die bewusste Endredaktion des in Genesis und Levi" tikus Rabba enthaltenen Materials aus53. P. Schäfer hat diese Auffassung zu( gespitzt, indem er die Existenz früheren Materials nicht ablehnt, aber be( streitet, dass die Rekonstruktion eines Urtextes in den Midraschimsamm( lungen möglich sei54. Mit dem Problem der Entstehungszeit und der Urheberschaft der ein( zelnen rabbinischen Traditionen ist auch die Frage nach ihrer „Gattung“ verbunden. Denn trotz der späten Redaktion ist es durchaus möglich, An( haltspunkte zu identifizieren, welche die ursprüngliche Zugehörigkeit der Auslegungen zu verschiedenen Gattungen bezeugen: so scheinen z.B. einige Auslegungen aus Homilien zu stammen, während andere eher für den Schulunterricht konzipierte exegetische Beispiele waren. Diese Besonderheit der Midraschim erschwert zusätzlich ihren Vergleich mit frühchristlichen Exegesen. Wie H. Reuling beobachtet, „one cannot simply compare the dis( tinct expressions (homilies, treatises etc.) of individual authors in one tradi( tion with the collective body of interpretations in the other“55. Bei der Analy( se der einzelnen in den Midraschim überlieferten Auslegungen muss man also mit großer Vorsicht vorgehen. Da die rabbinische Lehre sehr traditionell war, kann man allerdings davon ausgehen, dass bestimmte Tendenzen in der rabbinischen Exegese bereits zu Lebzeiten des Origenes verbreitet wa( ren. Dafür spricht auch die parallele Überlieferung einiger Texte in früheren rabbinischen Quellen wie der Mekhilta, der Tanhuma und des Jerusalemer Talmuds.

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Vgl. J. Becker, Die großen rabbinischen Sammelwerke Palästinas. Zur literarischen Genese von Talmud Yerushalmi und Midrash Bereshit Rabba, Tübingen 1999, 155 flg. Vgl. Neusner, Comparative Midrash, 1986, 15 16, 47, 82 87, 202. Vgl. P. Schäfer, Research into Rabbinic Literature, An Attempt to Define the Status Quaestionis, in JJS 37 (1986) 139 152. Reuling, 2006, 223.

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Auch die Überlieferung des origenianischen Materials ist kompliziert und fordert große Vorsicht. Ein großer Teil der Texte sind nur in der lateini( schen Übersetzung von Rufin oder Hieronymus überliefert. Das betrifft besonders die Homilien zu den verschiedenen Pentateuchbüchern, die eine der Hauptquellen dieser Untersuchung darstellen. Außer den origeniani( schen Homilien verfügen wir nur über Fragmente seiner Kommentare aus den griechischen Katenen. Auch wenn diese keine ausführliche und syste( matische Exegese darstellen können, überliefern sie wertvolle Hinweise und Traditionen. Dazu werden auch ausgewählte Stellen aus anderen origeniani( schen Werken, wie dem Römerbriefkommentar, dem Johanneskommentar, oder De Principiis herangezogen, die z.T. auch nur in der Übersetzung des Rufins vorliegen. Obwohl viele der origenianischen Quellentexte nicht im Original überliefert sind, erlauben sie uns trotzdem eine Vorstellung der Lehre des Origenes zu kontroversen Themen wie Beschneidung, jüdisches Priestertum oder jüdischen Opferkult. Da das homiletische Genre an ein breiteres Publi( kum gerichtet ist, werfen die diskutierten Fragen Licht auch auf die Interes( sen und den ethnischen Ursprung der Zuhörer des Origenes sowie generell auf das religiöse Klima in Cäsarea.

Kapitel 1. Weltschöpfung Einleitung Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, einen Überblick über Origenes‘ Exege( se zu Gen 1:1(25 im Vergleich zur frührabbinischen Interpretation zu geben und gegenseitige Einflüsse zu beleuchten. Das Thema der Weltschöpfung in seinen unterschiedlichen Aspekten war eines der wichtigsten überhaupt nicht nur für christliche oder jüdische Exegeten, sondern für jeden denkenden Menschen in der Antike. Die Auf( fassungen von der Weltschöpfung waren stark kontrovers: die Befestigung der eigenen Positionen bedeutete oft gleichzeitig die Ablehnung der ande( ren. So entsprach ab der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts die Ak( zeptierung bzw. die Exegese des biblischen Schöpfungsberichts der Polemik gegen einige Grundthesen der antiken Philosophie, wie der Präexistenz einer chaotischen Materie, ohne dass diese Polemik unbedingt zu einer tota( len Verwerfung einzelner Argumente oder exegetischer Methoden führte. Zu den Hauptzielen des Origenes zählten sicherlich die Polemik gegen pagan(philosphische Schöpfungsmodelle und die Polemik gegen heterodoxe Christen (v.a. Gnostiker). Im ersten Fall handelte es sich hauptsächlich um die Auseinandersetzung mit dem platonischen Schöpfungsmodell, im zwei( ten Fall ging es sich um die Ablehnung einer stark philosophischen Bibel( theologie1, die als eine “Gefahr von innen“ erschien. Origenes war in Ale( xandrien aufgewachsen. Er kannte die Lehre der Valentinianer wie auch die Interpretation des Johannesevangeliums von Herakleon und Ptolemäus2 und versuchte, wie schon sein Lehrer Klemens, die Gnostiker mit ihren ei( genen Auslegungsmethoden (der allegorischen Interpretation der Schrift) zu bekämpfen. Ähnliche Themen lassen sich auch in Genesis Rabba feststellen. Der Gnos( tizismus z.B. war kein ausschließlich christliches Phänomen, jüdisch( gnostische Denkrichtungen waren wahrscheinlich genauso verbreitet und die rabbinische Exegese gibt viele Hinweise darauf3. Wie wir in diesem Ka(

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Über diese Problematik siehe z.B. C. Markschies, / A. Böhlig, Gnosis und Manichäismus, Berlin 1994, 1 37. Vgl. M. Simonetti, Il profilo storico dell’esegesi patristica, Roma 1981, 22 24. Vgl. M. Simon, Die jüdischen Sekten zur Zeit Christi, Einsiedeln 1964 und A. Segal, Two Powers in Heaven, Early Rabbinic Reports about Christianity and Gnosticism, Leiden 1977.

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pitel sehen werden, wurde die Gefahr solcher Auslegungen wahrscheinlich erst in der Verfassungsphase der Sammlung (Ende des vierten ( Anfang des fünften Jahrhunderts) ernsthaft wahrgenommen. Auch Auseinandersetzun( gen mit „Philosophen“, die das platonische Schöpfungsmodel vertraten, sind von Genesis Rabba überliefert. Über ihre Entstehungszeit und ihre Ab( hängigkeit von christlichen Modellen wollen wir auch im vorliegenden Ka( pitel diskutieren. Es wird deutlich, dass in der oben geschilderten historischen Lage und Herausforderungen von außen und von innen, bestimmte exegetische Schlüsse z.T. auch logische Konvergenzen waren. Allerdings muss man sich nicht nur auf die Endergebnisse der Exegese, sondern auch auf ihre Ent( wicklung und innere Logik konzentrieren. In diesem Sinne sind analoge Auslegungen nicht nur historisch bedingter Zufall, sondern Beweise von Einflüssen. Für die rabbinische Exegese des Schöpfungsberichtes ist meine Haupt( quelle Genesis (Bereschit) Rabba. Das Werk zählt zu den frühesten Sammlun( gen aggadischer Midraschim, deren Verfassung um 400 n. Chr. datiert wird. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, geht die moderne Forschung davon aus, dass Genesis Rabba früheres Material enthält. Parallele Interpretationen sind z.T. von anderen früheren rabbinischen Quellen (wie der Mischna oder dem Talmud) überliefert. Die in Genesis Rabba eingeschlossenen Interpretati( onen stammen sowohl aus Predigten (petihot) als auch aus dem Schulunter( richt. Eine stark umstrittene Frage ist die Authentizität und die Urheber( schaft der überlieferten Traditionen, von denen viele frühen rabbinischen Autoritäten zugeschrieben werden. Mehrere Forscher haben sich für eine bewusste Redaktion des exegetischen Materials zum Zeitpunkt der Endver( fassung der Midraschimsammlungen ausgesprochen4. Die Tatsache, dass weder eine sichere Urheberschaft, noch eine genaue Datierung der einzelnen Interpretationen angenommen werden kann, erlaubt es zwar, Hypothesen über die Entwicklung bestimmter Konzeptionen zu äußern, lässt es aller(

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Vgl. z.B. J. Neusner, Comparative Midrash, the Plan and Program of Genesis Rabbah and Leviti cus Rabbah, Atlanta 1986, 15 16, 47, 82 87, 202 (in Kommentar zu S.D. Fraade, Enosh and His Generation. Pre Israelite hero and History in Post biblical Interpretation, Chicago 1984); P. Alex ander, Pre Emptive Exegesis: Genesis Rabba’s Reading of the Story of Creation, in JJS 43 (1992), 230 245, siehe besonders 233, 237, 243 245; M. Niehoff, Creatio ex Nihilo Theology in Genesis Rabbah in the Light of Christian Exegesis, Harvard Theological Review 99:1 (2005), 42, 45, 52 bezüglich der Bearbeitung einiger Auslegungen mit gnostischem Charakter.

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Kapitel 1

dings nicht zu, einen chronologisch begründeten Vergleich zur origeniani( schen Exegese anzustellen. Von der origenianischen Exegese zur Genesis, verfügen wir leider nur über die rufinianische Übersetzung der Genesishomilien, deren erste der Schöpfung gewidmet ist. Weitere Fragmente der origenianischen Genesis( kommentierung sind in den Katenen oder von anderen frühchristlichen Autoren überliefert, die ebenso in Betracht genommen werden. Konsultiert wurden die von F. Petit edierten origenianischen Fragmente5, sowie K. Metzlers Edition der Fragmente aus der Genesiskommentierung des Orige( nes6. Einzelne Stellen anderer origenianischen Werke z.B. De Principiis betreffen auch kosmologische Fragen und wurden in diese Analyse einbe( zogen.

“Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde” Die Frage, wie der Ausdruck "# $%&' / !"#$%& zu verstehen ist, ist funda( mental für die Exegese von Gen 1:1. Die rabbinische und die origenianische Exegese des ersten biblischen Verses sucht nach einer metaphysischen Er( klärung des Ausdrucks „am Anfang“. Beide versuchen im biblischen Aus( druck das Prinzip und das Endziel der Schöpfung zu identifizieren und jedes zeitliche Verständnis zu verdrängen.

Rabbinische Auslegungen des Ausdrucks !"#$%& Die Tora als Ziel und Ursache der Schöpfung ( Genesis Rabba I.1 Die erste in Genesis Rabba erwähnte Interpretation ist unter dem Name von R. Hoschaya überliefert und visiert Gen 1:1 an. Der Vers wird hier durch Prov 8:30 und Prov 8:22 erklärt. Die Interpretation eines biblischen Verses durch einen anderen entspricht einer der 32 Interpretationsregel von R. Elie( zer und ist eine in der rabbinischen Literatur sehr verbreitete Methode7. J. Neusner spricht von „base(verse“ und „intersecting verse“ und verschiede(

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La Chaîne sur la Génèse, Edition intégrale / Texte établi par F. Petit, Traditio Exegetica Graeca, Tome I (Chapitres 1 à 3), Leuven 1993. K. Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente der Genesis Kommentierung, Origenes. Werke VI.2, GCS, NF, erscheint 2010. Über die unterschiedlichen Interpretationsregeln (die seiben Regeln von Hillel, die drei zehn von R. Jischmael und die zweiunddreißig von R. Eliezer ben jose ha Galili) siehe H.L. Strack / G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 1982, 25 40.

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nen Möglichkeiten ihrer Verbindung. In der unter dem Name von R. Ho( schaya überlieferten Auslegung dient Prov 8:22 als Erklärung des eigentli( chen „intersecting(verse“ Prov. 8:308. „Am Anfang schuf Gott“ (Gen 1:1). R. Hoschaya begann [sein Ge( spräch mit dem Vers]: „Da stand ich wie ein Kind [Zögling, '()$] ihm zu Seite und ich war seine Freude jeden Tag“ (Prov 8:30). Das Wort '()$ [bedeutet] „Erzieher“9, „bedeckt“ und „verborgen” [...] [Das Wort] '()$ [bedeutet] auch „Werkmeister“. Die Tora sagt: „Ich war der Plan für die Werke des Heiligen, gepriesen sei er“. In der Welt ist es so üblich: wenn sich ein sterblicher König einen Palast baut, baut er ihn nicht nach eigener Einsicht, sondern er folgt einem Plan eines Architekten. Der Architekt aber baut ihn auch nicht nach sei( ner Einsicht, sondern nach Plänen und Skizzen [...] Der Heilige, ge( priesen sei er, befragte die Tora und er schuf die Welt, da die Tora sagt „Am Anfang schuf Gott” (Gen 1:1). Und [das Wort] „Anfang" bezieht sich nur auf die Tora, wie die Schrift sagt „der Herr hat mich als Anfang seiner Wege geschaffen“ (Prov. 8:22)10. Der erste in dieser Auslegung zitierte „intersecting(verse“ ist Prov 8:30. Anscheinend veranlasst nur die Schwierigkeit bei der Interpretation des Wortes '()$ R. Hoshaya zur weiteren Exegese. Allerdings wird im ganzen zweiten Teil der Auslegung die Bedeutung „Werkmeister“ kommentiert. Das eigentliche Ziel der Auslegung ist es, die Tora als Plan für die Erschaf( fung der Welt darzustellen. In diesem Sinne ist die Tora „der Anfang aller Werke Gottes“. Diese Interpretation scheint eine von Philo entwickelte Aus( legung zu übernehmen, wie P. Alexander bereits festgestellt hat11. In De

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Vgl. Neusner, 1986, 25 30. Der herbäische Text verwendet den Gräzismus *(*+,. GenRab I.1. Für dieses und alle weiteren Zitate aus Genesis Rabba verwende ich die Edition Midrash Bereshit Rabba, Critical Edition with Notes and Commentary by J. Theodor / C. Albeck, Jerusalem 1965: '()$ ,(- . "-#)) /"0(#0# 1"1$( '()$ (-2$ 1"1$( .!, $"0#($ ’% .’(*( /"1-$ $%& !"#$%& *13& ,1’’&41-# (!3)($ "-5 "!""1 "3$ !%)($ 1%(!1 '()$ [...] 032() '()$, 16(5) '()$ ,*(*+, (3"$ ')$1( ,')($ !0+) $-$ ()20 !0+) 1!($ 13(& (3"$( '"7-, 13(& /+( %#& 8-) /-(0&# 85 ,/"#,9,( /"%+. 16(0 $(1 8$"1 0+"- (- #" !(643,( !($%7,"+ $-$ (!0+) 1!($ 13(& 1%(! $-$ !"#$% '"$( /"1-$ $%& !"#$%& "$ 1%(!1( ,/-(01 $%(&( 1%(!& 7"&) 1"&41 1"1 (&5 . "-#)) (5%+ !"#$% "334 """ %)$ !$+ 1) 8"1 Siehe dazu auch J. Neusner, Confornting Creation, How Judaism reads Genesis, Columbia 1991, 25 27. P. Alexander, 1992, 237.

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Kapitel 1

Opificio mundi 17(18 und 20 legt Philo Gen 1:1 durch einen ähnlichen Ver( gleich aus. Philo verwendet die Metapher des Architekten, der sich für den Bau einer großen Stadt bereitet, um den Schöpfungsprozess Gottes zu be( schreiben: nachdem er sich entscheidet, die Welt zu erschaffen, bereitet er zuerst ihre Modelle +,-./ vor. So bringt er zuerst die intellegible (0123.4 #.5+14) und erst dann die mit den Sinnen wahrnehmbare Welt (0123.4 67285+14) hervor12. Dabei dient die intellegible Welt als Beispiel oder Modell für die Schöpfung der wahrnembaren Realität. Der Raum, in dem sich die Erschaffung der intelligiblen Welt abspielt, ist der göttliche Logos. Wie sich die vom Architekten konzipierte Stadt an keinem Ort be( fand, sondern nur in der Seele des Künstlers eingeprägt war, könnte die aus den Ideen stammende Welt keinen anderen Raum haben als den göttlichen Logos, der diese [Realitäten] geordnet hat13. Philo zitiert an dieser Stelle Prov 8:22 nicht, d.h. die Abhängigkeit der Aus( legung in GenRab 1.1 von Philo besteht nicht in der Verbindung zwischen Gen 1:1 und Prov 8:22, sondern in der Logik der Interpretation, die eine mehrstufige Schöpfung, bei der die Erschaffung der sichtbaren Welt dem Modell der intellegiblen Welt folgt, darstellt. Eine Erwähnung Philos in den rabbinischen Schriften ist nicht bekannt. Eine Kenntnis seiner Werke seitens der Rabbinen war, wie Runia meint14, wahrscheinlich dank der origeniani( schen Vermittlung möglich. Genau in Bezug auf GenRab I.1 vermutet P. Alexander auf der Spur von D. Barthélemy15, dass R. Hoshaya diese von Philo beeinflusste Konzeption einer sozusagen kosmischen Tora (welche den platonischen Ideen entspricht), von seinen Diskussionen mit Origenes zur Kenntnis nahm16. Die philonische Metapher des Architekten wurde in der

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14 15 16

Philo, opif 19 zitiert nach Philonis Opera quae supersunt, vol. 1 edidit L. Cohn, Berlin 1896: :9 -6%6-:*2/6 ;< 06= ->%= 8>.? ;.@62+A.#, B4 C%6 +D6:1-.:/# 0+EF>/# ;/6#.58>=4 "#>#152> -%1+>%.# +.G4 +,-.H4 6I+J4, "@ K# 0123.# #.5+L# 2H2+52M3>#.4 $->+A:>/ 06= +L# 67285+L# -6%6;>ED36+/ &%N3>#.4 "0>E#O. Vgl. opif 20, 154: P68M->% .Q# R "# +S $%&/+A0+.#/0S -%.;H6+H-T8>U26 -1:/4 &N%6# "0+L4 .I0 >V&>#, $::´"#>2W%MD/2+. +' +.? +>&#E+.H XH&', +L# 6I+L# +%1-.# .I;´Y "0 +Z# 7;>Z# 0123.4 C::.# [# \&./ +1-.# ] +L# 8>U.# :1D.# +L# +6?+6 ;/60.23*26#+6. Vgl. D. Runia, Philo in Early Christian Literature, Assen 1993, 14 15. D. Barthélemy, Est ce Hoshaya Rabba qui censura le „Commentaire Allégorique? in ders. Études d’Histoire du Texte de l’Ancien Testamment, Fribourg 1978, 45 78; P. Alexander, 1992, 237. Vgl. ibid.

Weltschöpfung

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Tat auch von Origenes übernommen17, wie wir demnächst sehen werden. Im Unterschied zu Origenes und Philo, die beide die Weisheit Gottes als Plan der Schöpfung annehmen, fällt der Akzent in der rabbinischen Auslegung auf das Gesetz. Die Aussage von Prov 8:22 wird zuerst auf die Tora bezogen, dann wiederum in Verbindung mit Gen 1:1 gebracht, sodass die Tora als Prinzip oder Plan der ganzen Schöpfung verstanden wird. Die Präposition & im Ausdruck !"#$%& ist nach dieser Auslegung weder zeitlich, noch instru( mental zu deuten. Auf die Tora bezogen, bezeichnet der Ausdruck vielmehr den Zweck der Schöpfung, er hat einen „finalen“ Charakter. Darin besteht auch der größte Unterschied zu Philo und, wie wir sehen werden, zu Orige( nes. Denn aus ihren Auslegungen ergibt sich eine „instrumentale“ oder kausale Bedeutung des Ausdrucks "# $%&'. Auch P. Alexander hat diesen Unterschied festgestellt und bemerkt, dass das eigentliche Ziel der Rabbinen eine Rechtfertigung der ganzen Schöpfung ist. Die Schöpfung ist laut der Exegese in Gen 1:1 nötig für die Erfüllung der Gebote der Tora18. Für P. Ale( xander ist die Zeit der Endverfassung von Genesis Rabba besonders signifika( tiv für die Auslegung in GenRab I.1: das Vorhaben des Verfassers der gan( zen Midraschimsammlung sei eine Hervorhebung des Gesetzes und der Gesetzesobservanz, sodass bereits die erste Auslegung von Genesis Rabba dieses Thema aufnehmen musste. Für P. Alexander sind Hoschayas Urhe( berschaft und die eventuellen philonischen Einflüsse durch die origeniani( sche Vermittlung von sekundärer Bedeutung. J. Neusner, hält diese Auslegung ebenso für historisch bedingt und ty( pisch für die Entstehungszeit von Genesis Rabba. Neusner betont die religiö( sen und kultischen Schwierigkeiten für die jüdischen Gemeinden nach der Tempelzerstörung (z.B. Erlösung, Reinigung etc.), die zu einer verschärften Observanz der verbliebenen Riten führe19. Diese zeige sich an vielen Stellen in den rabbinischen Kommentaren zum Pentateuch auch in GenRab I.1. D. Bartélemy und P. Alexander haben auf mögliche origenianische oder philo( nische Einflüsse auf GenRab I.1 hingewiesen. Unterstützt wird diese These

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19

Vgl. Or., Jo. 1.109 118, konsultiert nach der Edition Origenes, Johanneskommentar, herausge geben von E. Preuschen, GCS 10, Leipzig 1903. Vgl. Alexander, 1992, 238: The congruence between creation and Tora also means, crucially, a congruence between misvot and nature. Put in terms of the thought of the Hellenistic world in which the rabbis lived, this implies that the Jews, in observing the misvot in all their specificity and concreteness, are fulfilling the philosophical ideal of living in accor dance with nature. Vgl. Neusner, Confronting creation, 1991, 34.

Kapitel 1

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durch die Tatsache, dass R. Hoschaya, dem die Auslegung zugeschrieben wird, im dritten Jahrhundert in Cäsarea lebte. Die Beziehungen zwischen Origenes und verschiedenen jüdischen Gelehrten und konkret seine Kontak( te zu R. Hoschaya und seiner Schule in Cäsarea sind Gegenstand mehrerer Untersuchungen gewesen20. N. de Lange hat eine Teilnahme des Origenes an Gesprächen mit jüdischen Gelehrten angenommen21 und gleich auf die damit verbundenen Schwierigkeiten verwiesen, denn eine solche Annahme stellt zwangsweise die Frage nach Origenes‘ Sprachkenntnissen des Hebräi( schen22. Auch wenn davon auszugehen ist, dass die jüdische Bevölkerung in Palästina in der ersten Hälfte des 3. Jhs. der griechischen Sprache mächtig war, ist es nicht leicht, die Abhängigkeit des Origenes von R. Hoschaya und umgekehrt (wie P. Alexander von GenRab I.1 behauptet) als sicher zu be( zeichnen. Ein origenianischer oder philonischer Einfluss auf GenRab I.1 ist allerdings durchaus plausibel. Auch weitere Auslegungen stellen die Verwirklichung des Gesetzes als Ursache und Ziel der Schöpfung dar. Genesis Rabba I.4 In GenRab I.4 werden sechs Realitäten erwähnt, die der Schöpfung der Welt vorausgingen: die Tora, der Thron der Seligkeit, die Patriarchen, Israel, der Tempel und der Name des Messias: Sechs Dinge gingen der Schöpfung der Welt voraus: einige wurden erschaffen, andere wurden in der Absicht ihrer Erschaffung bedacht. Die Tora und der Thron der Herrlichkeit wurden geschaffen. Die Tora, weil es geschrieben steht: „Der Herr hat mich als Anfang sei( ner Wege geschaffen“ (Prov 8:22). Der Thron der Herrlichkeit, wie es geschrieben steht: „Dein Thron ist schon lange befestigt (Ps 93:2).

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21 22

G. Bardy, The traditions juives dans l’œuvre d’Origène, Revue Biblique 34 (1925), 217 252; N. De Lange, Origen and the Jews, Studies in Jewish Christian Relations in third century Palestine, Cambridge 1976; H. Bietenhard, Caesarea, Origenes und die Juden, Stuttgart 1974; G. Sgherri, Chiesa e sinagoga nelle opere di Origene, Milano 1982; R. Brooks, Straw Dogs and Scholarly Ecumenism: The Appropriate Jewish Background for the Study of Origen, in C. Kannengiesser / W.L. Petersen (Hg.), Origen of Alexandria, His World and His Legacy, University of Notre Dame Press 1988, 63 95; P.M. Blowers, Origen, the Rabbis and the Bible: Toward a Picture of Ju daism and Christianity in Third Century Caesarea, in C. Kannengiesser / W.L. Petersen (Hg.), 1988, 97 116. De Lange, 1976, 28, 89 102. Vgl. ibid. 21.

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Die Patriarchen wurden bedacht in der Absicht ihrer Schöpfung, wie es geschrieben steht: „Wie die erste Frucht am jungen Feigenbaum, so sah ich eure Väter“ (Hos 9:10). Israel wurde bedacht, wie es ge( schrieben steht: „Gedenke Deiner Versammlung, die du vor Zeiten erworben hast“ (Ps 74:2). Der Tempel wurde bedacht, wie es ge( schrieben steht: „Du, Thron der Herrlichkeit, vom Anfang an auf der Höhe, Ort unseres Heiligtums“ (Jer 17:12). Der Name des Messias wurde bedacht, wie es geschrieben steht „Sein Name existiert noch vor der Sonne“ (Ps 72:17)23. In dieser Auslegung wird die Tora an erster Stelle erwähnt, alle weiteren Realitäten (einschl. der Name des Messias) werden sozusagen als die not( wenigen Voraussetzungen für ihre Verwirklichung dargestellt. Laut diesem Text sind die Tora und der Thron der Herrlichkeit die einzigen Realitäten, die nicht nur konzipiert, sondern bereits vor der Schöpfung der Welt in Existenz gebracht wurden. Die restliche Schöpfung wird nach GenRab I.4 für diese sechs Realitäten konzipiert. Gen 1:1 wird so auf den Makrorahmen der Schöpfung, nämlich die Tora bezogen. Gen 1:1 wird so nicht als Beginn der materiellen Schöpfung der Welt verstanden, sondern auf die Tätigkeit der Vorsehung Gottes bezogen. Genesis Rabba I.10 In GenRab I.10 lesen wir bezüglich des ersten Buchstabens im biblischen Bericht (&) folgende Interpretation: R. Leazar bar Abina (sagte) im Name von R. Aha: Der „Aleph“ beschwerte sich durch 26 Geschlechter vor dem Heiligen, gepriesen sei er: „Herr der Welt, ich bin der erste der Buchstaben, aber Du hast nicht mit mir Deine Welt erschaffen“. Gott antwortete: „Die Welt und (alles), was sie erfüllt, wurden nur im Verdienst der Tora ge( schaffen. Morgen, wenn ich meine Tora auf dem Sinai verkündige,

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Vgl. GenRab I.4: .!($%&1- 1&#.)& (-0# /1) #"( ,($%&3# /1) #" ./-(0 !""%&- ()+4 /"%&+ ´( *( ;$) 8$65 '(53 !5+ +(&5 $65 ,(&5 . "-#)) !"#$% "334 "“" !5+ 1%(!1 ,($%&3 +(&51 $65( 1%(!1 ,(" 7 0#(1) /5"!(&$ "!"$% 1!"#$%& 13$!& 1%(5&5 ‘!5+ !($%&1- 1&#.)& (-0 !(&$1 ,(& *2 /"-1!) +(&5 $65 !5+ 1&#.)& 1-0 #+4)1 !"& ,(& +0 /"-1!) /+4 !"34 8!+0 %(5; !5+ 1&#.)& (-0 -$%9" (;" &0 /"-1!) ()# '(3" #)# "3,- !5+ 1&#.)& 1-0 ."#)1 /# (&" ;" 1")%" ) (3#+4) /(4) '(#$%) /(%)

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werde ich [mit keinem anderen Buchstaben, sondern] mit Dir begin( nen: „Ich ("53$) bin Dein Gott“.24 P. Alexander zählt diese Auslegung zu einer Liste von Interpretationen in Genesis Rabba, deren Zweck es ist, die Verkündung und die Erfüllung der Tora als Ziel der Schöpfung darzustellen25. In diesem Sinne steht GenRab I.10 in engem Zusammenhang mit mehreren anderen Auslegungen in Gene" sis Rabba, welche die Rolle der Tora hervorheben und ihre Erfüllung als Ziel aller Geschöpfe darstellen (z.B. GenRab I.1). Die Erfüllung des Gesetzes und die Entwicklung der Heilsgeschichte als Skopos der Schöpfung sind auch in weiteren rabbinischen Auslegungen belegt. So z.B. stellt R. Huna im Namen von R. Jeremiah, von R. Samuel und R. Isaak die Konzipierung Israels in den Mittelpunkt der Schöpfung26. Die Tatsache, dass diese Interpretation so vielen rabbinischen Autoritäten zuge( schrieben wird, bezeugt ihre Popularität. Sie steht im logischen Zusammen( hang mit der Vorstellung von der Tora als Ziel der Schöpfung, denn Israel ist das Volk, das die Erfüllung der Tora annimmt und erlaubt. Nach dieser Auslegung geht die Absicht, Israel zu erschaffen der Schöpfung aller weite( ren Geschöpfe nicht nur zeitlich voraus, sondern sie fordert und rechtfertigt ihre Entstehung. Schöpfung und Wahrheit (GenRab I.1/7) Der Ausdruck !"#$%& wird in Genesis Rabba nicht nur in Verbindung mit der Tora und Israel, sondern auch in Verbindung mit der Wahrheit Gottes und seiner Beschlüsse gebracht. Gen 1:1 wird von R. Isaak durch Ps 119:16 ausgelegt: R. Isaaks Auslegung: „Der Anfang Deines Wortes ist Wahrheit” (Ps 119:160). R. Isaak sagte: Seit dem Anfang der Schöpfung der Welt war der Anfang Deines Wortes Wahrheit. „Am Anfang schuf Gott”

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GenRab I.10:

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(3(&% ("3,- %)$ ,1“&41 "3,- %*"! $ $%(4 1"1 %(+ (""5 $1$ ´% /#& 13"&$ %& %;0- ´% $%&3 $- ($(-)( /-(01 1&41 (- %)$ ,$1)!$ "& 8)-(0 1!$%& $-( !("!($-# '(#$% "3$ /-(0 -9 (& 5 !()#) 8"1-$ "“" "53$ 8& $-$ .!(, "3$ '"$( "3"6& "!%(! '!"- $& "3$ %.)- ,1%(! !(5;& $-$ Vgl. Alexander, 1992, 233. Der Autor sieht in dieser Auslegung ein Zeichen dafür, dass viele Interpretationen aus dem Schulbetrieb stammen und zuerst nicht als Auslegungen biblischer Verse konzipiert wurden. Vgl. GenRab I.4.

26

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(Gen 1:1). „Und Gott ist Wahrheit” (Jer 10:9). Denn „Deine gerechten Urteile haben alle auf ewig Bestand” (Ps 119:160)27. Die Annahme der Wahrheit als Prinzip der Schöpfung und dadurch als Voraussetzung für das Verbleiben der Gebote Gottes steht auch in engem logischen Zusammenhang mit der Vorstellung von der Tora als Prinzip der Schöpfung. Es handelt sich vielmehr um eine Erweiterung der oben erwähnten Auslegungen, als um eine neue Interpretationslinie. Die Auslegung von R. Isaak zeigt noch einmal die enge Verbindung zwischen Tora, Geboten und Schöpfung im rabbinischen Denken. Schöpfung und Segen (GenRab I.10). Auseinandersetzung mit heterodoxen Gruppen Im Rahmen der Diskussion über den ersten Buchstaben der Hl. Schrift wird in Genesis Rabba auch eine Auseinandersetzung mit heterodoxen Gruppen überliefert. Nach der anonymen Auslegung, die der Interpretation von R. Judah b. Pazzi folgt, wurde die Welt mit & und nicht mit $ erschaffen, weil & auf das Wort „Segen” (15%&) anspielt, während $ für Fluch (1%"%$) steht. In der Auslegung wird betont, dass die Verbindung zwischen Segen und Schöpfung besonders wichtig gegen die „Minim” sei, welche behaupten, die Welt sei mit dem Wort „Fluch” geschaffen28. Unter „Minim” sind hier offensichtlich Gegner gemeint, welche die materielle Schöpfung negativ einstuften. Aus dem Kontext ist herauszuschliessen, dass es sich um dualistisch geprägte Gruppen (z.B. Gnostiker oder Markioniten) handelt, welche die materielle Welt als unvollkommen und unwürdig bezeichneten und ihre Erschaffung einer niedrigeren Gottheit zuschrieben29. Wenn wir annehmen, dass es sich um Markioniten handelt, müssen wir akzeptieren, dass sich die Rabbinen der Probleme innerhalb des christlichen Milieu bewusst waren. Eine antignostische Polemik kann auch gegen jüdische

27

GenRab I.1: /-(0-# (!""%& !-".!) 4.2" ´% %)$ ,(64 7"4 /"-1!) (*( !)$ 8%&+ !"#$% .!, 4.2" ´% 84+2 "7,#) -5 /-0-( 85",- ,(" " 1")%") !)$ /"1-$ "“( ,/"1-$ $%& !"#$%& ,!)$ 8%&+ #$% .(/# /# /"-1!)

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GenRab I.10: +()0- -(5" /-(01 8$"1 %)(- /"3")- 1, '(.!, '!"- $-# "$& $- 1).+()0"# "((-1( 15%& '(#-& ($%(& "3"%1 1“&41 %)$ $-$ ,1%"%$ '(#-& $%&3 $(1( Vgl. dazu auch J. Neusner, Confronting Creation, How Judaism Reads Genesis, An Anthology of Genesis Rabbah, Columbia 1991, 40.

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Kapitel 1

Opponenten gerichtet sein und scheint mir hier die überzeugendere Lösung zu sein. Die rabbinischen Interpretationen des Ausdrucks !"#$%& konzentrieren sich also auf drei Hauptthemen: Tora, Wahrheit und Segen. Die Tora wird gleichzeitig als Zweck und Ursache der Schöpfung interpretiert. Die Wahrheit, die mit dem Gesetz Gottes im logischen Zusammenhang steht, wird auch als Prinzip der Schöpfung dargestellt, während der Segen die positive Bewertung der ganzen Schöpfung bezeichnet. Diese Interpretatio( nen konzentrieren sich also auf die Gesetzgebung und ihre Umsetzung in die geschaffene Welt. Ein weiterer Beleg dafür, dass in Genesis Rabba eine zeitliche Vorstellung vom Schöpfungsakt abgelehnt wird, ergibt sich aus der Exegese von Gen 1:1 und Gen 1:5. Das Faktum, dass es im Hebräischen “Tag eins” und nicht “erster Tag” heißt, soll ein Hinweis dafür sein, dass der Schöpfungsakt auf einmal stattgefunden habe. Der Ausdruck !"#$%& wird so außerhalb jeder zeitlichen Vorstellung gedacht. Diese Konzeption hat, wie Schaller gezeigt hat30, ihre Modelle in Philo und im Jubiläenbuch. Die Tatsache, dass der biblische Bericht eine Reihenfolge der Schöpfung überliefert, bedeutet für Philo nicht, dass die Umsetzung der Ideen in einer zeitlichen Reihenfolge geschehen sei, sondern dass eine bestimmte Ordnung in Gottes Plan vor( handen war31. Philo versteht die Zeit nach der stoischen Vorstellung von ;/M2+536, d.h. die Zeit als Ausdehnung des Kosmos32. Im Jubiläenbuch wird berichtet, dass Gott am ersten Tag der Schöpfung den Himmel, die Erde, das Wasser, die Engel, sowie unterschiedliche Natur( elemente und alle Geiste geschaffen habe, die er „im Wissen seines Herzens

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Vgl. J.B. Schaller, Gen. 1.2. im antiken Judentum (Untersuchungen über Verwendung und Deu tung der Schöpfungsaussagen von Gen. 1.2. im antiken Judentum), (Diss.), Göttingen 1961, 83. Vgl. Philo, opif 28: P6= D9% >7 -6#8’^36 Y -./Z# "-.E>/, +M@/# .I;_# `++.# >V&> +9 06:Z4 D/#13>#6a 06:L# D9% .I;_# "# $+6@Eb. +M@/4 ;_ $0.:.H8E6 06= >c%314 "2+/ -%.5D.H3A#T# +/#Z# 06= d-.3A#T#, >7 06= 3< +.U4 $-.+>:A2362/#, $::M +./ +6U4 +Z# +>0+6/#.3A#T# "-/#.E6/4a .e+T4 D9% \3>::.# f0%/gZ286E +> 06= $-:6#>U4 >V#6/ 06= $2,D&H+./. Vgl. auch opif 35: h->= ;_ WZ4 3_# "DA#>+., 201+.4 ;’i->@A2+5 06= $#>&N%52>#, j%./ ;’"# +.U4 3>+6@G ;/62+*362/# "-MD526# d2-A%6 06= -%Tk6, 06+9 +$#6D06U.# +.? &%1#.H 3A+%.# $->+>:>U+. >I8,4, l 06= R3A%6# Y -./Z# "0M:>2>, 06= R3A%6# .I&= -%N+5#, $::9 3E6#, m :A:>0+6/ ;/9 +V#6/), wird es aus der Trinitätsbegründung deutlich, dass er Gott Vater und das sich bei ihm befindende Wort gleichermaßen als Schöpfer interpretiert. Die Tatsache, dass Prov 8:22 von der „Schöpfung der Weisheit” handelt, bedeutet nach Origenes keine Verneinung der Ewigkeit des Wortes Gottes, sondern ist nur ein Zeichen dafür, dass „Skizzen” und „Vorbilder” aller Geschöpfe in der Weisheit, bzw. im Wort Gottes enthalten waren. In Bezug auf das, was in der Weisheit skizziert worden oder als Vorbild für die Geschöpfe erhalten war, sagt die Weisheit durch Salomons Worte, dass sie als Anfang der Wege Gottes geschaffen

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Christus, sicut verbum et sapientia est, ita etiam iustitia est, consequens sine dubio erit, ut ea, quae in verbo et sapientia facta sunt, etiam in ea iustitia, quae est Christus, facta esse di cantur. Siehe darüber auch G. Sfameni Gasparro, Creazione, in Monaci Castagno (Hg.), Origene, Dizionario, la cultura, il pensiero, le opere, Roma 2000, 101. Vgl. Jo.1.101: P6+9 +.?+. ;_ +L B4 D>#A2>T4 2536/#13>#.# +86a „n 8>14, DM% W52/, \0+/2A# 3> $%&74 \%D6 6I+.?“. Vgl Jo. 1.102: $%&< Hc.? Y -6+14.

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sei, weil sie nämlich die Ursprünge, Pläne und Spezies der ganzen Schöpfung (in sich) enthielt.43 Aus dieser Auslegung ergibt sich, dass der Sohn Gottes, der für Origenes auch Gottes Weisheit ist, außerhalb jedes Schöpfungsaktes zu denken ist. Diese Interpretation weist Analogien sowohl zur philonischen Interpretation in opif 19(20 als auch zu GenRab I.1 (wo die Tora als Plan für die Erschaffung der Welt gedeutet wird) auf. P. Alexander sieht eine mögliche Vermittlung des Origenes zwischen Philo und den Rabbinen zu Recht. Wie bereits erwähnt, enthält die philonische Metapher des Architekten keinen Bezug auf Prov 8:22. Die Einflüsse des Origenes auf GenRab I.1 können nicht nur in der Vermittlung des philonischen Auslegungsmodels, sondern auch in der Verbindung von Gen 1:1 und Prov 8:22 gesucht werden. Gen 1:1 und die Erschaffung der Vernunftwesen nach De principiis Im Laufe der soeben erwähnten Auslegung von Gen 1:1 im Zusammenhang mit Prov 8:22 definiert Origenes zwei Gruppen von Geschöpfen: die primär( und die sekundärexistierenden. Da in ihr [der Weisheit Gottes] jede Kraft und Formveränderung der zukünftigen Schöpfung enthalten war, waren Pläne sowohl für die Wesen, die primär existieren, als auch für diejenigen, die als Folge zustandekommen, durch die Kraft des Vorherwissens vorgeformt und festgelegt44. Unter „primärexistierenden Wesen” versteht Origenes die Vernunftwesen (rationales creaturae), wie an mehreren Stellen in princ. deutlich wird. Denn genau diese geistigen Geschöpfe haben nach Origenes gesündigt und sind dadurch von Gott abgefallen. In pric. 2.2,9 zählt er einige Probleme auf, die Antwort auf die Frage nach der materiellen Schöpfung der Welt geben könnten. Dabei erwähnt er auch den unterschiedlichen Fall der

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Vgl. princ. 1.2,2: pro his ipsis, quae in ipsa sapientia velut descripta ac praefigurata fuerant, creaturis se ipsam per Salomonem dicit creatam esse sapientia „initium viarum“ dei, continens scilicet in semet ipsa universae creaturae vel initia vel rationes vel species. Vgl. ibid.: In hac ipsa ergo sapientiae subsistentia quia omnis virtus ac deformatio futurae inerat creaturae, vel eorum quae principaliter exsistunt vel eorum quae accidunt consequenter, virtute praescientiae praeformata atque disposita.

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Vernunftwesen, welcher Gott zur Vielfalt unserer Welt angeregt hätte45. Die Schöpfung der uns bekannten Welt sieht Origenes als einen auf zwei Ebenen stattfindenden Prozess, eine „doppelte Schöpfung”46. In princ. 3.5,4 diskutiert Origenes die Frage nach dem ursprünglichen und dem Endzustand der Geschöpfe. Er greift wieder auf Gen 1:1 zurück, indem er deutlich macht, dass das dort erwähnte Prinzip der Schöpfung auch ihrem Endzustand entspricht: Welche andere Schrift könnte uns besser belehren bezüglich der Schöpfung der Welt als diese, welche Moses von ihrem Ursprung geschrieben hat?47 In princ. 3.5 beschreibt Origenes den Fall der Vernunftwesen, welche sich aufgrund ihres freien Willens von Gott entfernten48. Ihr „Herunterwerfen”, 06+6g.:*, habe dann zur Erschaffung der materiellen Welt geführt. Gott habe dann die Erschaffung unserer Welt als Hilfsmittel für die gefallenen Vernunftwesen vorgesehen und zustande gebracht. Nach Origenes wird die Erschaffung der sichtbaren Welt erst in Gen 1:8 beschrieben. Denn diese bietet die Rahmenbedingungen, welche die Reinigung der Vernunftwesen erlauben. Man muss verstehen, dass die Welt so groß und solcher Eigenschaft geschaffen sei, dass sie sowohl alle Seelen aufnahm, von denen entschieden worden ist, dass sie in dieser Welt geprüft werden, als

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Vgl. princ. 2.3,1: lapsus autem varius intellectualium naturarum provocaverit deum ad istam variam diversamque mundi conditionem. Vgl. G. Sfameni Gasparro, Doppia creazione e peccato di Adamo nel Peri Archon di Origenes: fondamenti biblici e presupposti platonici dell´esegesi origeniana, in U. Bianchi, (Hg.), La „doppia creazione“ dell’uomo negli Alessandrini, nei Capaddoci e nella gnosi, Roma 1978, 43 82 und ders. Doppia creazione e peccato di Adamo: fondamenti biblici e presupposti platonici dell´esegesi origeniana, in H. Crouzel / A. Quacquarelli (Hg.), Origeniana secunda, Roma 1980, 57 67. Vgl. princ. 3.5,1: De conditione ergo mundi quae alia nos scriptura magis poterit edocere quam ea, quae Moyse de origine eius scripta est? Vgl. princ. 3.5,4: Quod si est, de superioribus ad inferiora descensum est non solum ab his animabus, quae id motuum suorum varietate meruerunt, verum et ab his, qui ad totius mundi ministerium ex illis superioribus et invisibilibus ad haec inferiora et visibilia deducti sunt, licet non volentes.

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auch alle Kräfte, die zur Verfügung stehen, um ihnen beizustehen, ihnen als Führung zu dienen und zu helfen49. Die zwei sich herauskrsistallisierenden Hauptpunkte in der origenianischen Auslegung des Ausdrucks "# $%&' sind: ( der Ausdruck "# $%&' wird zuerst als christologisches Prinzip gedeutet. Das Wort Gottes wird als Grund und Mittel der Schöpfung dargestellt. Diese Auslegung beruht sehr wahrscheinlich auf Philos Auslegung von Gen 1:1, welche er auf das Wort Gottes bezieht. Dabei versteht er :1D.4 und 2.WE6 als eine Einheit. Durch die christologische Interpretation von Gen 1:1 wird jede mögliche Differenzierung zwischen einem unvollkommenen Schöpfer und dem Gott des Neuen Testaments ausgeschlossen. Die "# $%&' wird auch auf die primärexistierenden Wesen bezogen, für die die materielle Welt geschaffen wurde. Diese sind grundsätzilich von den platonischen Ideen zu unterscheiden. Denn eine Ideenwelt wäre den tatsächlich ins Leben gerufenen Geschöpfen unterlegen (wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden). Auch der Unterschied zur rabbinischen Interpretation in GenRab I.4 ist leicht erkennbar. Als Ziel der Schöpfung versteht Origenes die Rettung der Vernunftwesen und nicht die Erfüllung des Gesetzes. Diese Konzeption von der Wiederherstellung des Zustandes der Vernunftwesen kann zwar dem rabbinischen Gedanke über den Zustand der Welt nach der Erfüllung der Tora ähneln. Allerdings ist der Grund, der zum ganzen Prozess von Reinigung der Vernunftwesen geführt hat, für Origenes ihr eigener Fall. Nach GenRab I.4 ist Gott derjenige, der für die Erfüllung des Gesetzes der Schöpfung der Welt bedarf.

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Vgl. ibid.: Talem vero ac tantum factum esse putandum est mundum, qui vel omnes animas, quae in hoc mundo statutae sunt exerceri, caperet, vel omnes eas virtutes, quae adesse eis et dispensare eas ac iuvare paratae sunt.

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Himmel und Erde in Gen 1:1 und 1:8 Origenes zu Himmel und Erde in Gen 1:1 und 1:8 Die Schöpfung der unsichtbaren Welt in Gen 1:1 Die Interpretation des biblischen Berichtes, der praktisch zweifach die Schöpfung von Himmel und Erde (zuerst in Gen 1:1 und dann in Gen 1:8 unter der Bezeichnung „Feste“ und „Trockene“) überliefert, stellt eine Her( ausforderung für die Exegeten dar. Bei der Analyse der Interpretation des biblischen Ausdrucks "# $%&' haben wir bereits auf die origenianische Vorstellung von der Schöpfung der Vernunftwesen hingewiesen. Die Schöpfung einer unsichtbaren Welt, die als Modell für die darauf folgende Schöpfung der materiellen Welt dienen solle, ist allerdings eine platonische Konzeption, die einige Bibelausleger beeinflusst hat. Philos Interpretation von Gen 1:1 ist z.B. stark davon geprägt: Er verstand den ersten Bibelvers als die Schöpfung der Ideen, die der Erschaffung des materiellen Kosmos vo( rausgingen. Aus dieser Auslegung ergibt sich, dass der Himmel in Gen 1:1 der Idee des Gewölbes entspricht, dessen Schöpfung in Gen 1:8 berichtet wird. Origenes‘ Vorstellung von der Erschaffung der sichtbaren Welt, die für die gefallenen Vernunftwesen bestimmt ist, unterscheidet sich grundsätzlich von dieser Konzeption. Es handelt sich für Origenes nicht um die Umset( zung einer Idee zur Erschaffung des sichtbaren Himmels. Der unsichtbare Himmel ist für Origenes eine von Gott geschaffene Realität, die für die un( sichtbare Natur der Vernunftwesen bestimmt war und die auch als Ort der Heiligen nach der Parusie dienen soll. Die Natur des unsichtbaren Himmels lässt sich durch die folgende Zusammenfassung erklären. Im Laufe einer Untersuchung des Gebrauchs des griechischen Wortes 0123.4 erklärt Origenes, dass Kosmos die aus Himmel und Erde bestehende Gesamtheit aller Dinge sei. Sie schließt sowohl die den Menschen bekannten Regionen, als auch die Antichtonen; dabei bestünde zwischen den beiden Teilen keine direkte Verbindung. Der pytagoreischen und platonischen Vorstellung folgend, erklärt Origenes, dass es mehrere solche Einheiten oder 0123./ gebe, die nicht nur die sichtbare, sondern auch die unsichtbare Welt einschließen. Als nächsten Schritt legt Origenes seine Meinung zur „unsichtbaren Welt” dar. Sein erstes Ziel ist es zu betonen, dass unter „unsichtbarer Welt” keine Ideenwelt nach platonischem Modell zu verstehen sei.

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Dass es uns schwierig ist, diese Welt zu erklären, haben wir schon im Voraus bemerkt, damit niemand die Gelegenheit hat zu denken, dass wir irgendwelche (Vor)Bilder, von den Griechen Ideen genannt, annehmen50. Origenes‘ Hauptargument gegen die Vorstellung einer bloßen Ideenwelt ist ihre zwangsweise anzunehmende Körperlosigkeit. Außerdem wäre eine Ideenwelt nicht unbedingt der materiellen Welt an Würde überlegen. Orige( nes versteht unter den in Gen 1:1 verwendeten Begriffen „Himmel“ und „Erde“ die Beschreibung der Schöpfung der Makrowelt, der obersten kosmi( schen Sphäre, die alle weiteren Sphären umschließt. Er erwähnt das im apokryphen Buch Baruchs dargestellte Schema von sieben Sphären. Daher meinen einige, dass die Sphäre des Mondes, der Sonne und der anderen Sterne, welche als Planeten bezeichnet werden, einzeln „Welten“ genannt werden; aber die sich über diese (Sphären) erstre( ckende Sphäre, die sie als „Sphäre der Fixsterne“ bezeichnen, wollen sie ebenso „Welt“ im eigentlichen Sinne nennen. Dann erwähnen sie als Zeugnis dafür das Buch des Propheten Baruchs, weil dort offen( sichtlich von sieben Welten oder Himmeln die Rede ist. Sie wollen annehmen, dass es auch eine weitere Sphäre über jener gibt, welche sie Sphäre der Fixsterne nennen, die durch ihre enorme Große und unaussprechliche Ausdehnung die Räume sämtlicher Sphären in ih( rem riesigen Umfang umschließt, genauso wie unser Himmel alles, was unter ihm ist, umschließt51. Über der Sphäre der Fixsterne befinde sich dann eine andere, die alles in sich umfasst. Diese sei das in der Hl. Schrift erwähnte „gute Land“ (Ex 3:8)

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princ. 2.3,6: Cuius mundi difficilem nobis esse expositionem idcirco praediximus, ne forte aliquibus praebeatur occasio illius intelligentiae, qua putent, nos imagines quasdam, quas Graeci 7;A64 nominant, adfirmare. Ibid.: Unde quidam volunt globum lunae vel solis ceterorumque astrorum, quae -:6#*+64 vocant, per singula mundos nominari; sed et ipsum supereminentem quem dicunt $-:6#J globum, proprie nihilominus mundum appellari volunt. Denique etiam Baruch prophetae librum in adsertationis huius testimonium vocant, quod ibi de septem mundis vel caelis evidentius indicetur. Esse tamen super illam 2W6U%6#, quam $-:6#J dicunt, volunt aliam, quam sicut apud nos caelum continet omnia, quae sub caelo sunt, ita illam dicunt immensa quadam sui magnitudine et ineffabili complexu spatia universarum spherarum ambitu magnificentiore constringere.

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„Land der Lebendigen“ (Jer 11:19; Ps 26:13 etc.)52. Origenes nimmt an, dass sie auch von einem Himmel umschlossen sei, d.h. von einer weiteren „Ober( sphäre“, dem im Gen 1:1 beschriebenen Himmel53. „Feste“ und „Trockene“ seien dagegen die Bezeichnungen für unsere Erde und unseren Himmel. Weitere Informationen zu seiner Vorstellung vom obersten Himmel liefert Origenes unmittelbar danach: es handle sich um einen unvergänglichen Himmel, der von gereinigten Heiligen bewohnt wird. Dass Körperlichkeit nicht unbedingt Vergänglichkeit impliziert, wird bereits im gleichen Kapitel von De principiis erklärt54. Daraus ergibt sich, dass dieser oberste Himmel als körperlich verstanden werden kann55. Origenes scheint also die unsichtbare und die sichtbare Welt in ein Sys( tem einzuschließen. Die primärexistierenden Sphären dieses Systems sind die unsichtbaren, denn diese waren auch für die Vernunftwesen bestimmt, auf deren Erschaffung Gen 1:1 deutet. Die sichtbaren Sphären sind dagegen die sekundärexistierenden, da sie in Folge des Falls der Vernunftwesen ge( schaffen wurden. Aus der origenianischen Polemik gegen die platonische Vorstellung einer Ideenwelt lässt sich beschließen, dass Origenes beiden, der unsichtbaren und der sichtbaren Welt, eine Körperlichkeit zuschreibt. Denn sein Hauptargument gegen die platonischen Ideen ist ihre Körperlosigkeit. Origenes’ Aussagen zum Verhältnis Sichtbarkeit/Körperlichkeit sind aller( dings nicht sehr deutlich. Dass die sichtbare Welt als körperlich zu verstehen ist, ist außer Zweifel. Schwerer ist allerdings, die Art der Körperlichkeit der unsichtbaren Welt zu definieren. Wie es sich auch aus Origenes’ Überlegun( gen zu den Himmelskörpern und zu den Engeln ergibt56, hat er sehr wahr( scheinlich eine besondere, leichtere Körperlichkeit für die primärexistieren( de, unsichtbare Welt angenommen. Das lässt sich auch durch die Aussagen

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Ibid. Vgl. Ibid. Vgl. princ. 2.3,2. In zwei Passagen diskutiert Origenes über den Zusammenhang zwischen Körperlichkeit, Vergänglichketi und Sterblichkeit. In einem ersten Schritt betont er, dass „nicht all dies, was vergänglich ist, auch sterblich sei“. Dann legt er sich fest, dass auch Körperlichkeit existiert, die nicht vergänglich ist, wie die feineren reineren Körper, welche die heiligen bekommen, bevor sie in die Unkörperlichkeit übergehen. Über himmlische und irdische Körperlichkeit siehe auch Jo. 4.56. Vgl. comm. in Mt. 17.30, konsultiert nach Origenes Matthäuserklärung, herausgegeben unter Mitwirkung von E. Benz von E Klostermann, GCS Origenes 2, Leipzig, 1935. Origenes be schreibt hier die Körper der Engel als 678A%/6 06= 6ID.>/;_4 WZ4. Vgl. dazu auch A. Mo naci Castago, Angeli, in ders. (Hg.) Origenes, 2000, 7.

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des Origenes in De Principiis bestätigen, wo er nur die Dreifaltigkeit als un( körperlich darstellt57. Himmel und Erde als die geistige und materielle Natur nach der ersten Ge( nesishomilie Auch in der ersten Genesishomilie unterscheidet Origenes die Schöpfung einer unsichtbaren Welt (natura invisibilis et incorporalis), symbolisiert durch den Himmel, von der Schöpfung der körperlichen und sichtbaren Welt (natura visibilis et corporalis), symbolisiert durch die Erde58. Da alles, was Gott geschaffen hätte, aus Geist und Körper bestehen sollte, wird gesagt, dass am Anfang und vor allen [anderen Ge( schöpfen] der Himmel geschaffen worden sei, d.h. die ganze geistige Substanz59. Die in der ersten Genesishomilie angebotene Interpretation ist wesentlich vereinfacht im Vergleich zum in princ. geschilderten Schema. In der Homilie wird der Himmel als Metapher der geistigen Schöpfung, während die Be( zeichnung „Erde“ als Anspielung auf die niedrigere, sichtbare Welt verstan( den wird. Im Unterschied zu den in princ. angebotenen Interpretationen wird in der ersten Genesishomilie die Frage, ob die Schöpfung in Gen 1:1 als körperlich zu verstehen ist, nicht diskutiert. Allerdings bezeichnet Origenes auch in der ersten Genesishomilie die unsichtbare Welt als den Ort, in dem die Heiligen nach der Parusie verweilen60. Diesen „Ort“ beschreibt er an anderer Stelle als „die gute Erde“61.

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Vgl. princ. 1.6,4; 2.2,2; 4.3,15. Ibid. hom. in Gen. 1.2: Cum enim omnia, quae facturus erat Deus, ex spiritu constarent et corpo re, ista de causa in principio et ante omnia caelum dicitur factum, id est omnis spiritalis substantia. Vgl. z.B. princ. 3.5,4: Et arbitror, quoniam quidem finis et consummatio sanctorum erit in his, „quae non videntur et aeterna sunt“, ex ipsius finis contemplatione, sicut in superiori bus frequenter ostendimus, simile etiam initium rationabiles creaturas habuisse censen dum est. Vgl. princ. 2.4,1 anhand von Kol 1:15.

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Die allegorische Deutung der Schöpfung von Himmel und Erde nach Origenes Schließlich möchte ich zwei Beispiele einer allegorischen Deutung im mora( lischen und anthropologischen Sinne erwähnen. Beide Zeugnisse stammen aus Homilien, was signifikativ für das didaktische Vorhaben des Origenes ist. An einer Stelle aus der hom. in Num. 26 denkt Origenes über den Unter( schied zwischen Erde und Trockenem nach (in der rufinianischen Überset( zung terra et arida). Dank einem Zitat aus dem Buch Haggais62 („ich werde Himmel und Erde bewegen, das Meer und das Trockene erbeben lassen”) beschließt er, dass die beiden Ausdrücke auf keinen Fall einfach synonym sind, sondern qualitative Unterschiede implizieren müssen. Nun bemüht sich Origenes den Gebrauch von „Erde“ in der Schrift zu analysieren und stellt fest, dass das Wort immer „laudabiliter“ benutzt wird. Der Ausdruck „Trockenes“ wird dagegen neutral verwendet. Origenes führt dann die schon bekannte moralische Allegorie der Seele an, welche, wenn sie tugend( haft ist, der fruchtbaren Erde ähnlich sei. Wenn die Seele aber keine geisti( gen Früchte bringt, sei sie „Trockenes“63. In der ersten Genesishomilie sieht Origenes die Schöpfung der unsicht( baren und der sichtbaren Welt als ein Vorbild für die Schöpfung des Men( schen als Geist und Körper64. In dieser „anthropologisch” gemeinten kleine( ren Welt ist der Himmel für Origenes ein Bild des Geistes oder des Verstan( des, des wertvollen Teils des menschlichen Wesens, während die Erde Sym( bol des Körpers ist. Origenes sieht einen qualitativen Unterschied zwischen dem Trockenen und dem Land. Er bestehe darin, dass die Erde nicht nur stabil wie das Trockene, sondern auch fruchttragend sei. Das Ganze wird allegorisiert und auf die menschliche Seele bezogen, deren Früchte der Glaube und die Kontemplation sind. Die Wasser unterhalb des Gewölbes

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Hag 2:6. Vgl. hom. in Num. 26.5,3, zitiert nach der Edition Origène, Homélies sur les Nombres, Homé lies XX XXVIII, texte latin de W.A. Baehrens, nouvelle édition par L. Doutreleau, d’après l´édition de A. Méhat et les notes de M. Borret, SC 461, Paris 2001: Omnes enim nos, donec infructuosi sumus et nullum iustitiae fructum, nullum pudicitiae, nullum pietatis afferi mus, arida sumus. Si autem nosmet ipsos coeperimus excolere et ad virtutum frugem desides animos suscitare, terra efficimur ex arida, quae verbi Dei suscepta semina laeta fruge multiplicet. hom. in Gen. 1.11: Cum ergo quae omnia fierent, quae videntur iussu Dei per Verbum eius et praepareretur immensus iste visibilis mundus, simul autem et per allegoriae figuram ostendetur quae essent quae exornare possent minorem mundum, id est hominem.

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sind dagegen Bilder der Laster des Körpers, die mit ihrem Gewicht verhin( dern, dass die Seele zum Licht Gottes kommt.65

Die Rabbinen vor dem Problem Gen 1:1 und Gen 1:8 Während die Schöpfung des Gewölbes am zweiten Tag und das Faktum, dass dieses Gewölbe auch Himmel genannt wird (wie der Himmel des ers( ten Tages), Origenes vor deutliche Schwierigkeiten stellt, gibt es, wie Schal( ler festgestellt hat66, kaum rabbinische Auslegungen, die beide Bibelberich( ten gleichzeitig auslegen. Das führt dazu, dass der Bericht von der Erschaf( fung des Gewölbes in Gen 1:8 in Genesis Rabba in der Regel als eine Ergän( zung der Himmelschöpfung am ersten Tag verstanden wird. Interpretatio( nen, die beide Schöpfungsberichte als Beschreibung zweier qualitativ unter( schiedlicher Prozesse deuten, sind dagegen nicht belegt und die Spuren eines solchen Gedankengangs in Genesis Rabba lassen sich nur indirekt re( konstruieren. So deutet z.B. die bereits erwähnte Auslegung von GenRab I auf eine platonisch geprägte Vorstellung von Ideen an, welche der materiel( len Erschaffung der Welt vorausgingen. Die sechs Realitäten werden von der Vorsehung Gottes bereits vor der materiellen Erschaffung der Welt kon( zipiert. Dieser Prozess wird dann als erster Schritt der Schöpfung (Gen 1:1) gesehen. Obwohl vom Text nicht explizit bezeugt, kann man davon ausge( hen, dass der Verfasser dieser Interpretation einen qualitativen Unterschied zwischen Gen 1:1 und Gen 1:8 setzte. Wenn wir seiner Logik folgen würden, d.h. wenn wir annehmen würden, dass bestimmte Realitäten zuerst von der Pronoia konzipiert wurden, kämen wir zum sich ergebenden Schluss, dass nur Gen 1:8 als „materielle Schöpfung“ von Himmel und Erde zu verstehen ist. Darin bestünde auch der größte Unterschied zu Origenes. Dieser deutet beide Verse als tatsächliche Schöpfungsberichte, die sich aber qualitativ voneinander unterscheiden. Eine Reihe in Genesis Rabba überlieferter rabbinischer Interpretationen bezeugt allerdings die andere Interpretationslinie, die keinen Widerspruch, sondern eine logische Ergänzung der biblischen Berichte über die Himmel( schöpfung in Gen 1:1 und 1:8 sieht. Es wird z.B. versucht, eine naturphilosophische Erklärung beider Berich( te zu geben: das Gewölbe sei später Himmel (/")#) genannt worden, weil es

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Vgl. hom. in Gen. 1.2. Siehe dazu Schaller, 1961, 118.

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aus den zwei Elementen Feuer (#$) und Wasser (/")) bestand67. Interessant an dieser Interpretation sind nicht nur die Spuren einer Elementenlehre, sondern auch die Tatsache, dass die zwei Berichte über die Schöpfung von Himmel und Erde in diesem Fall nicht die Schöpfung zweier qualitativ un( terschiedlicher Realitäten, sondern zwei Etappen in der Schöpfung bezeich( nen. Gen 1:8 bezeichnet in dieser Auslegung die genaue Aufteilung der Elemente, die die luftige Substanz des Himmels bilden. Gen 1:1 ist dagegen als die allgemeine Schöpfung dieser Elemente zu verstehen.

Das Problem der Schöpfung der Materie Vororegianianische Zeugnisse zum Thema Schöpfung der Materie Das Problem der Existenz der primären Materie und ihrer weiteren Anord( nung war von den unterschiedlichen antiken philosophischen Schulen be( kannt, welche alle ohne Ausnahme eine präexistierende Materie annahmen. Eine präexistierende chaotische Materie, war ein Begriff der Platoniker, Pe( ripatetiker und Stoiker. Demnach wurde die präexistierende Materie von Gott mit Eigenschaften ausgestattet und weitergebildet. Die Polemik gegen das platonische Schöpfungsmodell charakterisiert die Arbeit der christlichen Exegeten ab der zweiten Hälfte des zweiten Jahr( hunderts68. Die früheren Aussagen (in hellenistisch(jüdischen Schriften oder bei früheren Kirchenvätern) zur Schöpfung ohne eine präexistierende Mate( rie sind sehr undeutlich69. Die meisten dualistisch geprägten heterodoxen Gruppen innerhalb des Frühchristentums nahmen auch eine präexistierende chaotische Materie an und interpretierten sie als Ursprung des Bösen70. Eines der frühesten Zeugnisse einer „creatio ex nihilo Lehre“ stammt aus Tatians Oratio ad Graecos, einer Schrift, die vermutlich vor einem Publikum vorge(

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Vgl. GenRab IV.7. Vgl. G. May, Schöpfung aus dem Nichts, Die Entstehung der Lehre von der Creatio ex Nihilo, Berlin 1978, 1 39 (Das Problem der Weltschöpfung im hellenistischen Judentum und im Uhrchristentum bis zur gnostischen Krise des zweiten Jahrhunderts) und 151 182 (Die kirchliche Lehre von der Creatio ex nihilo); M. Alexandre, Le commencement du livre, Genèse I V; la version grecque der la Septante et sa réception, Paris 1988. Die Aussagen in 2Mac 7:28 und Sap 11:17 können nicht eindeutig im Sinne einer Erschaf fung der Materie verstanden werden. May, 1978, 40 120.

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tragen wurde, das hauptsächlich aus orientalischen Christen bestand71. Tati( an bemüht sich, seinen Zuhörern zu schildern, wie grundlos die Christen von den Bekennern des Griechentums gehasst werden. Um zu beweisen, dass nicht die Geschöpfe, sondern nur Gott einer Anbetung würdig sei, erklärt Tatian seine Vorstellung von Schöpfung und Auferstehung. In seiner Argumentation gegen eine materialistische Vorstellung von Gott wie sie z.B. die Stoiker vertraten, betont er, dass Gott Geist, während die Materie weder anfangslos noch „Gott gleichmächtig“ sei72. Tatian lehnt so die Annahme zweier ungeschaffener Prinzipien und somit das traditionelle platonische Schöpfungsmodell73 ab. Die Materie (Tatian benutzt den aristotelischen Terminus e:574) sei von Gott hervorgebracht und dann vom Logos gestaltet worden75. Auch Theophilos von Antiochien polemisiert auf ähnliche Art und Weise gegen das platonische Schöpfungsmodell: eine ungeschaffene Materie müsse „gottgleich“ (7218>.4) sein, weil die „Ungewordenheit“ ein Charak( teristikon Gottes ist76. Außerdem impliziert die Ungeschaffenheit für Theo( philos auch Unwandelbarkeit, d.h. eine ungeschaffene Materie wäre nicht imstande, Qualitäten oder Formen anzunehmen. Die Aussagen von Tatian und Theophilos gelten als die ältesten sicheren Belege einer Lehre über die

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Vgl. R.C. Kukula, Tatians sogenannte Apologie, exegetisch chronologische Studie, Leipzig 1900, 51 61. Tat., orat. 5.6 7, zitiert nach der Edition Tatian, Oratio ad Graecos, edited by M. Marcovich, Berlin 1995: P6= 068M->% Y q1D.4 "# $%&' D>##58>=4 $#+>DA##52> ++6%%H83EFT +J4 2HDD>#.?4 (i3U#) e:54 + D9% C#6%&.4 R e:5 068M->% 06= Y 8>14, .u+> ;/9 +L C#6%&.# 06= 6I+< 72.;,#63.4 +S 8>S, D>#5+< ;_ 06= .I& i-1 +.H C::.H D>D.#HU6, 31#.H ;_ i-L +.? -M#+T# ;53/.H%D.? -%.g>g:53A#5. Vgl. Pl., Ti. 27 D.28 29. Arist., Metaph. 4.10,4. Tat., orat. 5.7. Thphl. Ant., Autol. 2.4, zitiert nach Theophilus, Ad Autolycum, edited by M. Marcovich, Berlin 1995: v:M+T# ;_ 06= .c +J4 6c%A2>T4 6I+.? 8>L# 3_# Y3.:.D.?2/# $DA#5+.# 06= -6+A%6 06= -./5+V#6/a >V+6 i-.+E8>#+6/ -6%9 8>L# $DA#5+.# 06= e:5# $DA#5+.#, 06= +6,+5# W62=# 2H#50360A#6/ +S 8>S. w7 ;_ 8>L4 $DA#5+.4 06= e:5 $DA#5+.4, .I0 \+/ Y 8>L4 -./5+7 06= e:5 $DA#5+.4 {#, 06= $#6::.ET+.4 06= 7218>.4 {#a +L D9% D>#5+L# +%>-+L# 06= $::./T+1#, +L ;_ $DA#5+.# C+%>-+.# 06= $#6::.ET+.# [...] |>.? ;_ ;,#63/4 "# +.,+O W6#>%.?+6/, }#6 "@ .I0 p#+T# -./' j26 g.,:>+6/, 068M->% 06= +L XH&U# R3r4 e;T% "-/-.:MF>/# +' "-/W6#>Eb +J4 DJ4, .u-T -%L4 +E6# :J@/# +J4 iD%r4 .I2E64 $-.0%/8>E254. Die -6%6&6%M0+6/ +J4 $:58>E64 von hex. 2.2 wurden von der Forschung entweder als Gnostiker oder als Platoniker warum nicht christliche Plato niker? identifiziert. Vgl. auch Ambrosius, Exameron 1.26, CSEL 31, 25. Über Ambrosius´ Schöpfungsauslegung vgl. auch A. Tzvetkova, Creator caeli et terrae, Vergleichsuntersuchung der Schöpfungsexegese bei Origenes, Ambrosius und den frühen Rabbinen, in Cultura animi, Fest schrift für Prof. Anna Nikolova, Sofia 2004, 307 327. Auch die von Ambrosius wiedergegebe ne Auseinandersetzung mit dem platonischen Schöpfungsmodell scheint stark von hex. 2 des Basilius beeinflusst zu sein.

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Origenes über die Frage der Schöpfung der Materie Wie es sich aus den erwähnten Texten ergibt, war die Auseinandersetzung mit den kaiserzeitlichen philosophischen Schulen zum Thema Schöpfung der Materie in Origenes´ Lebenszeit bereits ein bekanntes Problem. In der 14. Genesishomilie fasst Origenes die Streitpunkte mit den zeitgenössischen philosophischen Schulen folgendermaßen zusammen: Fast die ganze moralische oder die sogenannte „physische” Philoso( phie nimmt unsere Sichtweise an84. Sie unterscheidet sich aber von uns, indem sie sagt, dass die Materie ewig wie Gott sei (mitewig sei). Sie unterscheidet sich von uns, wenn sie ablehnt, dass sich Gott um die sterblichen Wesen kümmert und dass seine Vorsehung nur die himmlischen Räume oberhalb des Mondes umschließt. Sie [die Phi( losophen] widersprechen uns, indem sie behaupten, das Leben der Neugeborenen sei von der Bewegung der Sterne [zum Zeitpunkt der Geburt] abhängig. Sie widersprechen uns, wenn sie behaupten, die( se Welt sei ewig und ohne jedes Ende. Es gibt aber noch viel ande( res, in dem sie mit uns entweder einverstanden oder uneinig sind85. Der konkrete Ausgangspunkt dieser Polemik ist die Annahme eines einzi( gen Gottes seitens der Philosophen (z.B. Platoniker) und der Christen (nostrum). Dann werden mehrere Streitpunkte erwähnt, welche der bibli( schen Schöpfungslehre widersprechen. Sowohl die Annahme einer präe( xistierenden und ewigen Materie, als auch der Glaube an die Astrologie oder die Ewigkeit der Welt unterwerfen die Macht Gottes der Materie. Die „Apathie” der Gottheit (hier sind gewiss die Stoiker gemeint), die sich über( haupt nicht um die Menschen auf Erden kümmert, widerspricht dem Grund der Schöpfung, der nach biblischer Auffassung nur die Rettung und das Glück des Menschen ist. Einige Texte überliefern eine noch detailliertere Polemik des Origenes gegen dualistische Schöpfungsvorstellungen.

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Origenes spricht vorher vom Glauben an einen Gott. hom. in Gen. 14.3: Moralis vero et physica quae dicitur philosophia paene omnis quae nostra sunt sentit. Dissidet vero a nobis cum deo dicit esse materiam coeternam. Dissidet cum negat Deum curare mortalia, sed providentiam eius supra lunaris globi spatia cohiberi. Dissident a nobis cum vitas nascentium stellarum cursibus pendunt. Dissident cum perpetuum dicunt hunc mundum et nullo fine claudendum. Sed et alia plurima sunt in quibus nobiscum vel dissident vel concordant.

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Das origenianische Zeugnis in Praeparatio Evangelica 7.2086 Eusebius überliefert in Praeparatio Evangelica ein Zitat, das wahrscheinlich aus dem verlorengegangenen Genesiskommentar des Origenes‘ stammt. Ori( genes‘ Ziel in diesem Text ist es, jede Behauptung einer präexistierenden Materie, bei der nur die Eigenschaften von Gott gebildet seien, die Materie aber jedoch unabhängig von Gott existiere, ad absurdum zu führen. Dieser Vorstellung mit platonisch(stoischem Hintergrund wirft Origenes zuerst eine Einschränkung des göttlichen Willens vor. Unlogisch sei die Vorstel( lung, dass Gottes Willen nur zur Gestaltung (Formung), nicht aber zur Er( schaffung der Materie führt. Die Annahme einer präexistierenden Materie impliziert nach Origenes eine zufällig stattgefundene Schöpfung (Gott habe Glück gehabt). Die Zufälligkeit der Schöpfung würde Gott aller seiner von den Platonikern angenommenen Attribute (wie Schöpfer, Vater, Wohltäter etc.)87, berauben. Die Annahme einer Pronoia oder „+L $DA#5+.#” (das Un( gewordene, das Ungeschaffene), welche Gott bei der Schöpfung geholfen haben sollen und ihm eine schon existierende Materie zur Verfügung ge( stellt haben, verwirft Origenes vehement88. Wenn das so wäre, sagt Orige( nes, dann würde dies bedeuten, dass eine andere Kraft größer und mächti( ger als Gott sei89, die das Ganze vorausgesehen habe. In diesem Fall wäre es aber absolut sinnlos von einem Gott überhaupt zu sprechen. Aber Origenes fragt weiter, wie man sich die Entstehung der präexistierenden Materie vorstellen sollte und ob sie ewig sei. Wenn die Materie ewig wäre, könnte man überhaupt nicht mehr von Pronoia sprechen, da sie nichts mehr ge( wirkt hätte als das, was auch der pure Zufall hervorgebracht hätte, was von selbst passiert wäre (6I+.3M+.H)90. Auch die im Timaios geäußerte Annah(

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Eus., p.e. 7.20 nach Eusebius von Caesarea, Praeparatio Evangelica, herausgegeben von K. Mras, GCS 8, 1, 1954, 402 403. Pl., Ti. 28 29. Vgl. Eus., p.e. 7.20: ~-.%*2.3># D9% -%L4 +.G4 .I g.H:.3A#.H4 +6?8’.e+T4 \&>/# >7 3< $0.:.H8>U 6I+.U4 >I+H&50A#6/ +L# 8>L#, $DA#5+.# >i%1#+6 +7 3< +L $DA#5+.# 6I+S i-.g>g:50L4 {#, .I;_# \%D.# ;H#6+L4 {# -./J26/, $::’\3>#># .I ;53/.H%D14, .I -6+*%, .I0 >I>%DA+54, .I0 $D6814, .I0 C::. +/ +Z# >I:1DT4 :>D.3A#T# ->%= 8>.?. Ibid.: .c.#>= D9% -%1#./M +/4 -%>2gH+A%6 8>.? $#6D06ET4 +g:50HU6 +S 8>S. Ibid.: P68’i-18>2/# D.?# $-.;>@M3>#./ +L $DA#5+.# >V#6/ +#.4 $-.-5;*2>+6/ 3_# $-L v:M+T#.4, +.? \0 +/#.4 0%6+J%.4 ++6/ ;_ ~%/2+.+A:>/ 06= +.U4 $-L +.? v>%/-M+.H, C:.# WM20.H2/# >V#6/ +L# 678A%6, 06= -A3-+54 -6%9 +9 +A226%6 2+./&>U6 6I+L# >V#6/ W,2>T4a -%L4 l# :1D.# .I0 $D>##Z4 06= .c $-L v:M+T#.4 06= .c $-L +J4 €+.r4 \2+526#. Siehe dazu auch A. Scott, Origen and the Life of Stars, Oxford 1991, 117. 139 Jo. 13.266: +A226%A4 >72/# 2W6U%6/ +Z# +>22M%T# 2+./&>ET# 6c i-.0>E3>#6/ +' 678>%EO W,2>/, "# 3A2O 3_# 06= 06+T+M+T +J4 DJ4, ->%= 6I++M%+5 ;_ R +.? -H%14, 3>8’m# R +J4 2>:*#54, 06= d@J4. 140 Vgl. princ. 4.4,6. 141 Vgl. Ibid. 142 Vgl. Basilius, Hex. 1.11, und Ambrosius, Exameron 1.6. 143 Vgl. GenRab II.3.

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ten begleiten144. Dieses Bewusstsein der Sünde Adams ist von besonderer Bedeutung, wenn wir bedenken, dass im ganzen Alten Testament die Hin( weise zu diesem Thema sehr gering sind. Die Schöpfungen des Lichtes und des Tages symbolisieren in Genesis Rabba die Gerechten, während die Fins( ternis und die Nacht als Symbole der Generationen der Sünder dargestellt sind. „Tag eins” wird schließlich als Anspielung auf den Tag der Sühne gedeutet145. Der Schöpfungsbericht wird so als allegorische Synthese der Heilsgeschichte interpretiert. Eng verbunden mit diesen Auslegungen ist eine zweite Interpretations( linie, welche die Geschichte seiner Verhältnisse zu den ausländischen Mäch( ten visiert. Die Epitheta der Erde in Gen 1:2 werden auf die zerstörerische Macht der Feinde Israels und ihre Laster bezogen146. Nachdem zuerst die Sünde der Menschen von Adam und allen weiteren Generationen von Sün( dern als Formlosigkeit bezeichnet wurde, werden jetzt die historischen Er( eignisse, die als Strafen dieser Sünde kommen, erwähnt. Gott sah das Schicksal Israels voraus, seine Sünde, Niederlagen, Zerstörungen, aber auch das neue Israel im messianischen Reich147. Zu dieser Interpretationsebene gehört auch die Auslegung, welche die Formlosigkeit der Erde auf die Zeit nach der Zerstörung des Tempels bezieht148. Eine andere Etymologie folgt mehr der typisch jüdisch(christlichen Al( legorie des Himmels: Sie leitet shamaim aus /")# (wiegen) ab, d.h. dass die Himmel die Taten der Menschen aufwiegen149. Andere mögliche Exegesen beziehen sich auf die uns schon bekannte Konzeption der Urflut als Ort der

144 Ibid.: „Finsternis“ spielt auf die Generation von Enosh an („und ihre Werke waren dun kel“), „lag über der Urflut“ symbolisiert die Generation der Sintflut. 145 Vgl. GenRab II.3. 146 Vgl. GenRab II.16 17; GenRab XVI.4. Origenes sagt (princ. 4.3,9), dass alle Prophezeiungen über Ägypten, Babylonien etc. einen nur allegorischen Sinn haben und sich gar nicht auf diese Völker beziehen. 147 Vgl. Alexander, 1992, 242. 148 Vgl. GenRab II.5: Seit dem Anfang der Schöpfung sah der Heilige, sein Name sei gesegnet, den Tempel gebaut, zerstört und wieder gebaut vor sich. „Die Erde war tohu“ bezieht sich auf die Zerstörung des Tempels. „Gott sagte: es werde Licht“ spielt auf seinen definitiven Wiederaufbau im messianischen Reich an. 149 GenRab IV.7. An derselben Stelle finden wir noch zwei andere etymologische Vorschläge: Shamaim von 1) -# (wovon) der Sinn wäre, dass es für uns ein Geheimnis bleibt, wovon die Himmel geschaffen werden, oder Shamaym von /")6 chemische Substanzen (wie die Farben chemischer Substanzen blau, rot, schwarz oder weiß sind, so sind auch die Farben des Himmels).

Weltschöpfung

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Gehenna, beispielsweise, dass das Gewölbe die Gehenna und den Rest der Welt scheidet150 oder, dass es als eine Barriere in der Welt für eine größere Ordnung steht und das Chaos verhindert 151. Es ist interessant, dass eschatologische Hinweise in den Midraschim nicht fehlen. Mehrmals wird auf den „Tag der Söhne“ hingewiesen, wir lesen von „dem Geist des Messias“ und dem „Messianischen Reich“152. Gott sah nicht nur die Existenz des Bösen und der Sünden der Menschen voraus, sondern auch die Mittel, die nötig für ihr Heil sind, symbolisiert durch die Schöpfung des Lichtes und durch seine Trennung von der Finsternis. Die Finsternis hat auch eine tiefe moralische Symbolik. Für Origenes und für die Rabbinen ist die Urflut ein Bild des Bösen, der Formlosigkeit und des Chaos. Die Urflut symbolisiert die Gehenna, deren Existenz Gott zusammen mit der Sünden der Menschen vorhersah. Die Rabbinen übernehmen das Zitat: „er enthüllt die tiefen und verbor( genen Dinge“153, in dem sie „die tiefen Dinge“ als die Gehenna und schlech( ten Taten der Menschen interpretieren und „die verborgenen Dinge“, als den Garten Eden154. Origenes versteht die Urflut auch als Bild der Hölle155. So wie die Rabbinen die Finsternis als Symbol des Bösen interpretieren, interpretieren sie das Licht als Bild der Tora, Quelle der Weisheit und Ge( rechtigkeit, Mittel der Rettung. Das Licht symbolisiert nicht nur die Tora allgemein, sondern auch jedes einzelne der Pentateuchbücher156. Jeder Teil des Pentateuchs stellt eine neue Etappe der Geschichte Israels beziehungs( weise der göttlichen Ökonomie dar. Diese Interpretation schließt sich in eine ganze Reihe von Auslegungen in Genesis Rabba, welche die zentrale Rolle der Tora im Schöpfungsvorhaben Gottes betonen, wie wir bezüglich GenRab I.1 feststellen konnten. Die Konzeption von der Geschichte Israels als einer ununterbrochenen Offenbarung Gottes gegenüber den Menschen, vertritt auch Origenes in seiner Exegese zum Pentateuch. Aber im Gegensatz zu den Rabbinen gibt Origenes sich nicht damit zufrieden, in dieser Offenbarung nur als ein Zei(

150 151 152 153 154 155 156

Vgl. GenRab IV.6. Vgl. ibid. Vgl. ibid. Dan 2:22. Ibid. hom. in Gen. 1.2. Vgl. GenRab III.5.

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chen der Treue Gottes zu seinem Volk zu verstehen, sondern sieht darin auch die Verkündigung der Ankunft Christi und des neuen Bundes. Das Licht symbolisiert nicht nur die Quelle der Weisheit (die Tora), sondern auch die guten Taten, wobei die Finsternis Vorbild der Ungerechtigkeit und der schlechten Taten ist. „Gott sah, dass das Licht gut war” bedeutet, dass Gott die Taten der Gerechten voraussah157. Am Ende müssen wir eine Interpretation erwähnen, nach der das Licht am Platz des Tempels geschaffen wurde158. In den rabbinischen Auslegun( gen des Schöpfungsberichtes lässt sich eine richtige „Tempeltheologie“ er( kennen. Nicht nur die Schöpfung des Lichtes wird mit dem Tempel in Ver( bindung gebracht. Anspielungen auf den Tempel und den Kult sind in Gene" sis Rabba auch im Zusammenhang der Tier( und Menschenschöpfung zu finden. Diese Auslegungen bezwecken, die Vollendung der Tora als Ziel der Schöpfung darzustellen. Eine wichtige Komponente in der Erfüllung des Gesetzes ist ohne Zweifel der Tempelkult.

Das Land und die Entstehung der Pflanzen (Gen 1:11)159 Wie sich aus unserer Analyse von den Schöpfungsberichten in Gen 1:1 und Gen 1:8 ergibt, beziehen sowohl Origenes, als auch die jüdischen Exegeten das in Gen 1:8 erwähnte „Trockene“ auf unsere Erde. Einige Aspekte dieser Erde sind von besonderer Bedeutung bei der Interpretation von Gen 1:11. Das aus der Trennung des Wassers entstandene Land ist nach dem bibli( schen Bericht fähig, die Schöpfung Gottes fortzusetzen, indem es Pflanzen und Samen hervorbringt. Dies hat für die Exegeten eine besondere Bedeu( tung. So wird in Genesis Rabba die Etymologie von „= 35;_ $#;%/6#+.-./L4 &T%=4 &6:0.? +L ‚;/.# \%D.# -./J26/ ;,#6+6/ 35;_ +A0+T# &T%=4 @,:T#, 35;_ .70.;13.4 &T%=4 :E8T#, F5+5+A.# -%L4 6I+L# ->%= ;H#M3>T4 8>.?, >7 8>:*264 i-.2+J26/ j +/ g.,:>+6/ Y 8>14, +J4 8>:*2>T4 6I+.? .I0 $-.%.H3A#54 .I;_ $+.#.,254, .I ;,#6+6/ i-.2+J26/ l g.,:>+6/. ƒ D9% :1DO +94 -./1+5+64 (06+9 -M#+64 +.G4 -%1#./6# >72MD.#+64 +S 7;EO :1DO) .I0 .u264 B4 g.,:>+6/ >74 ;/6012352/# +.? -6#+L4 iWE2+52/ +' $WM+O 6I+.? ;H#M3>/ 06= 2.WEb, +.,+O +S :1DO 06= +/ c06#< "2+/# 6I+.? R g.,:52/4 -./J26/ D>#A286/. $-.%*2.3># D9% -%L4 +.G4 .I g.H:.3A#.H4 +6?8’.e+T4 \&>/#, >7 3< $0.:.H8>U 6I+.U4 >I+H&50A#6/ +L# 8>1#, $DA#5+.# >i%1#+6 +7 3< +L $DA#5+.# 6I+S i-.g>g:50L4 {#, .I;_# \%D.# ;H#6+L4 {# -./J26/, C::’\3>#># .I ;53/.H%D14, .I -6+*%, .I0 >I>%DA+54, .I0 $D$814, .I0 C::. +/ +Z# >I:1DT4 :>D.3A#T# ->%= 8>.?. -18># ;_ 06= +L 3>+%>U# +J4 i-.0>/3A#54 .I2E64 +L +.21#;>, B4 ;/6%0A26/ +' +5:/0.,+.H 0123.H i-.2+M2>/; .c.#>= D9% -%1#./M +/4 -%>2gH+A%6 8>.? $#6D06ET4 +g:50HU6 +S 8>S, -%.#..H3A#5 +.? ++.; 068’i-18>2/# D.?# $-.;>@M3>#./ +L $DA#5+.# >V#6/ ++. 06+620>HM26/ 6I+*#, +E [# -:A.# R 2.WE6 06= R 8>/1+54 6I+.? ->-./*0>/ +.? "@ $D>#*+.H i-.2+M#+.4; >7 D9% >i%E20>+6/ +6I+L# D>#13>#.# [# i-L +J4 -%.#.E64, j->% 06= &T%=4 -%.#.E64 i-A2+5, ;/9 +E .I&= 06= "-= +.? 0123.H $8>+*2.3># +L# ;53/.H%DL# 06= +L# +>&#E+5#; y2->% D9% C+.-.# "-= +.? 0123.H >7->U# .e+T4 +>&#/0Z4 06+>20>H623A#.H +L &T%=4 +>&#E+.H 2.W.? 6I+L# +./.?+.# D>D.#A#6/, .e+T4 06= +L +/ +Z# $#62+63A#T# [...] C::T4 ;_ $#E2+6#+6/, B4 .‚.#+6/ .c $-L +Z# 6c%A2>T#, .c $#62+M3>#./ +Z# -/2+>H1#+T# >74 +L# %/2+1#. .I ;,#6#+6/ -6%62+J26/ -Z4 ‘’52.?4 -%T+1+.014 "2+/# "0 +Z# #>0%Z# [...] >7 D9% .I0 "D>E%.#+6/ .c #>0%.E, DAD.#> ;_ 06= "# #>0%.U4 Y “52.?4, .I0 "D*D>%+6/ .I;_ Y “52.?4a >7 ;_ "0>U#.4 "D*D%>%+6/, ;/’"0>E#.H ;5:.?+6/ R $#M2+62/4 +Z# #>0%.Z# [...] +E D9% B4 "# $;H#M+./4, }#’.e+T4 >‚-T, $;H#6+1+>%.# +L FT.-./58J#6/ +L 2Z36 ] .I%6#L# "@ .I0 p#+T# D>#A286/ ] ”:/.# ] +9 :./-9 +Z# 0+/23M+T#; +L C-/2+.# ;_ +' $#62+M2>/ +' $-L +Z# #>0%Z# ‚2.# i-A:6g># >V#6/ Y $-12+.:.4 +S 3< -/2+>,>/# j+/ >[7]213>86 +#.4 ;_ "0 +.? -6%6;>E2.H C#8%T-.4 3>+9 +J4 DH#6/014, +.G4 ;>%36+E#.H4 f3W/>23A#.4 &/+Z#64, .4 ;/9 +4 $#6g6E#T3># $-L +Z# 3,8T# \W5, 06= +J4 06+9 +L D%M336 "0;.&J4, F5+Z3># ;_ +E#6 +9 @,:6 "2+/# "0>U#6, — Y 8>L4 D>T%D>U, :AD.3># j+/ .I0 \#/ 67285+9 @,:6 "# +S +1-O.

Die Schöpfung des Menschen

115

Es besteht allerdings kein Zweifel, dass sie im rabbinischen Milieu genauso verbreitet war wie bei einigen frühchristlichen Exegeten, darunter Klemens, Origenes‘ Lehrer.

Zusammenfassung Die Analyse der origenianischen und rabbinischen Auslegung der Men( schenschöpfung zeigt mehrere Analogien. Im Falle der Schöpfung des Men( schen aus himmlischen und irdischen Elementen übernehmen die Rabbinen den Grundgedanken der philonischen und origenianischen Exegese. In Ge" nesis Rabba wird zwar kein qualitativer Unterschied zwischen Gen 1:26 und Gen 2:7 gemacht, wie es bei Philo und Origenes der Fall ist, es wird auch nicht explizit über die Körperlichkeit des ersten Menschen diskutiert. Einige der rabbinischen Auslegungen in Genesis Rabba versuchen, den Zustand des Menschen vor und nach der Sünde zu beschreiben. Die Sünde wird z.B. mit dem Verlust einiger „himmlischer“ Komponenten in der menschlichen Na( tur verbunden, wie der Unsterblichkeit. Die Frage nach dem Körper und dem Charakter der Materie vor der Sünde ergibt sich selbstverständlich aus dem logischen Gedankengang. In der rabbinischen Auslegung wird die Dichotomie himmlisch/irdisch angenommen, ohne dass sie auf die zwei unterschiedlichen Berichte von Gen 1:26 und Gen 2:7 bezogen wird. Die Gründe können unterschiedlich sein, z.B. Angst, dem biblischen Text eine rein allegorische Interpretation zuzuschreiben, wie es im Falle von Gen 1:26 gewesen wäre. Der zweite interessante Aspekt ist die Annahme oder Ablehnung der Geschlechtlichkeit der Menschen vor der Sünde. Eng damit verbunden ist auch der Zusammenhang zwischen Sünde und Zeugung. Denn wenn die Geschlechtlichkeit eine Folge der Sünde ist, ist es zu beschließen, dass die Zeugung auch erst nach dem Sündenfall notwendig wurde. Dank der Inter( pretation Klemens‘ können wir die Verbindung zwischen Sündenfall und Zeugung feststellen: die Sünde Adams und Evas bestand zwar in einem Akt des Ungehorsams, aber bezüglich der Zeugungsaktivität. Der Mensch, der sich in einem Zustand der geistigen Kindheit befand, musste auf die Erlaub( nis Gottes zur Zeugung warten. Diese Tradition stammte wahrscheinlich aus dem rabbinischen Milieu und wurde dann von christlichen Autoren über( nommen. Origenes selbst spricht nicht explizit von einer solchen Verbin( dung zwischen Zeugung und Ungehorsam, sie erschien ihm vielleicht viel zu einfach. Er machte aber offensichtlich einen Unterschied zwischen der Körperlichkeit vor und nach der Sünde sowie zwischen geistiger und

116

Kapitel 2

fleischlicher Zeugung, was vermuten lässt, dass ihm eine solche Konzeption bekannt und nicht ganz fremd war.

Kapitel 3. Eden Allegorische Interpretation des Origenes und seine Modelle Die Interpretation von Eden, dem ersten Aufenthaltsort des Menschen, ist ohne Zweifel ein wichtiges und in der origenianischen Forschung sehr um( strittenes Thema. Denn die widersprüchlichen Interpretationen des Origenes haben bereits in der Antike heftige Diskussionen ausgelöst. Die angeblich rein allegorische Deutung des Paradieses durch Origenes zählte zu den Argumenten, die zu seiner Verurteilung geführt haben1. In der Tat hatte bereits Philo Gen 2:8 auf allegorische Weise ausgelegt. Da Philo Gen 1:27 als die geistige Schöpfung des Menschen verstand, inter( pretierte er Eden als den geistigen Zustand des Menschen vor seiner Sünde. Die Tugenden und eine geistige Freude, die aus dem Besitz der wahren Weisheit stammte, charakterisierten das Leben des ersten Menschen2. Für Philo bedeutet Eden „Freude“ (+%HW*), eine Deutung, die auch von Symma( chus verwendet wurde3. Von Philo sind auch viele weitere allegorische Aus( legungen des Paradieses überliefert: so z.B. wird Eden als der richtige und göttliche Logos4 oder als die menschliche Seele interpretiert, in der Gott die Tugenden pflanzt5. Philos ausgesprochen allegorische Auslegung von Eden hat sich bereits auf die christlichen Exegeten vor Origenes ausgewirkt. Klemens unterschei( det genauso wie Philo zwischen einem 0123.4 #.5+14 und einem 0123.4 67285+14, betont allerdings, dass beide von Gott geschaffen worden seien6.

1 2

3 4

5 6

Vgl. Vogt, 1987, 78 103. Vgl. Leg. 1.45: -6%M;>/2.4 3_# ;< +%.-/0Z4 >‚%5+6/ R $%>+*, +1-.4 ;_ .70>U.4 +S -6%6;>E2O ";A3, +.?+. ;A "2+/ +%HW*a $%>+' ;_ o%31++.# >7%*#5 06= >I-M8>/6 06= &6%M, "# .˜4 +L +%HWr# B4 $:58Z4 "2+/. Eine ähnliche Etymologie begegnet auch in somn. 2.242: 06:>U ;_ +.? 2.WE6 06= 2.WE64 8>.?, "->= 06= "# e3#./4 ™;>+6/a „P6+6+%,W52.# +.? 0H%E.H“ (Ps 36:4). Vgl. Septuaginta, Genesis 2:8, J.W. Wevers (Hg.), Göttingen 1974. Die Interpretation von Symmachus war wahrscheinlich 0123.H +%HW*. Vgl. post. 30 32: €H3g.:/0Z4 ;A "2+/# h;_3 Ž%8L4 06= 8>U.4 :1D.4, -6%L 06= d%35#>E6# \&>/ „+%HW*#“, j+/ "#>HW6E#>+6/ 06= "#+%HWš -%L +Z# C::T# $3ED>2/ 06= $0%M+./4, \+/ ;_ $%+E./4 06= -:*%>/ $D68.U4 e.#+.4 +.? -:.H+.;1+.H 8>.? +94 -68A#.H4 06= $86#M+.H4 &M%/+64 6i+.?. Vgl. plant. 38. Vgl. z.B. Strom 5.93,4 5.94,1.

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Kapitel 3

Er folgt Paulus (2Kor 12:2.4) in der Behauptung, Eden befinde sich über dem dritten Himmel7. Andere Auslegungen von Gen 2:8 sind rein allegorischer Natur: ähnlich wie Philo und Symmachus interpretiert auch Klemens Eden als +%HW* und den geistigen Zustand jedes gläubigen Menschen8. Wie be( reits Bietz festgestellt hat, ist es schwierig einzuschätzen, ob Klemens die Existenz eines Paradieses auf Erden angenommen habe9. Es ist allerdings anzunehmen, dass er eine bestimmte Form der Materialität von Eden an( nahm, genau so wie er die Körperlichkeit des ersten Menschen nicht ablehn( te10. Im Folgenden möchten wir einige Beispiele allegorischer Deutungen von Eden analysieren. Leider ist unser origenianisches Material zum Thema sehr begrenzt. Un( ter den uns in der rufinianischen Übersetzung überlieferten Homilien zu Genesis fehlt die Auslegung von Gen 3 komplett. De principiis überliefert hauptsächlich allegorische Auslegungen, es handelt sich allerdings um keine systematische Auslegung von Gen 2:8. Auch andere frühchristliche Autoren wie Eustathius und Hieronymus schreiben Origenes eine rein allegorische Deutung von Gen 2:8(3:21 zu. In der Tat überliefert princ. 4.3 eine Liste biblischer Stellen, deren wörtli( ches Verständnis ausgeschlossen ist, darunter auch die Erschaffung des Paradieses in Gen 2:811. In princ. 3.6 beschreibt Origenes Eden als den geisti( gen Zustand der Vernunftwesen vor ihrem Fall12. Ein weiteres Indiz solcher Exegese kommt aus der zweiten Genesisho( milie, wo Origenes sich mit der allegorischen Interpretation der für die Ar( che Noahs benutzten Holztypen beschäftigt. Dort behauptet er, dass im Paradies die Rede von „rationabilia Ligna“ sei. Er erwähnt Ezek 31:8(9 über die Zeder im Libanon „keine Zeder im Garten Gottes war ihr vergleichbar. Keine Zypresse hatte Zweige wie sie“ und beschließt: Ezechiel zeigt deutlich, dass die Bäume im Paradies Gottes nach dem geistigen Schriftverständnis „geistig“ genannt sind. Er be(

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11 12

Clem. Exc.Theodotus. Vgl. Strom. 2.51,4. Vgl. W.K. Bietz, Paradiesvorstellungen bei Ambrosius und seinen Vorgängern, Gießen 1973, 20. Siehe die im Kapitel 2 diskutierte Auslegung von Gen 3:21. Da Klemens die erste Sünde in Verbindung mit der Zeugung brachte (vgl. strom. 3.7; protr. 11.1), ist es davon auszugehen, dass er den ersten Menschen auch körperlich dachte. Vgl. princ. 4.3,1. Vgl. princ. 3.6,3.

Eden

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schreibt auch, dass es in ihnen eine Eifersucht gegen die Bäume im Libanon gibt13. Eustathius überliefert uns in einem stark polemischen Kontext gegen die durchgehende Allegorisierung der Schrift bei Origenes folgende origeniani( sche Aussage: Damit wir uns beim Lesen von den Mythen und dem wörtlichen Verständnis [der Schrift] erheben können, sagt [Origenes], lasst uns untersuchen, welche Bäume sind gemäß dem Gesagten jene, die Gott [in Eden] pflanzt. Wir behaupten, dass es an diesem Ort keine wahrnehmbaren Bäume gibt14. Nach diesen zwei Stellen scheint es, dass Origenes die Bäume im Paradies als intellektuelle Fähigkeiten interpretiert, wobei das Paradies selbst einem seligen Geisteszustand entspricht. Ähnliche Interpretationen, die auf dem Ezechiel(Zitat basieren, sind wie L. Doutreleau feststellt15, auch bei anderen Autoren zu finden, z.B. bei Di( dymos. Offensichtlich war die origenianische Allegorie gut bekannt und wurde oft von Exegeten übernommen. Die Allegorie der „geistigen Bäume oder Wälder“ war Origenes wohl vertraut. Bezüglich Num 24:6 kommentiert Origenes folgendermaßen die Prophezeiung Balaams: „Wie schattige Waldtäler“16: Schattige geistige Waldtäler sind diese, wo [sich] die fruchtbaren rationalen und dichten Bäume der wir( kenden Tugend [befinden]. Geistig sind die „Gärten am Strom“17, ein Ort, an dem geistige Pflanzen wachsen, die entweder von der

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15 16 17

Vgl. hom. in Gen. 2.4: Evidenter ostendens (Ezechiel) secundum spiritalem intelligentiam rationabilia dici ligna quae in paradiso Dei sunt, quippe in quibus aemulationem quandam describit esse adversum ea ligna quae sunt in Libano. Eust., engast. 21, GCS 51: ›+’[# $#6D/D#N20.#+>4 $#6g6E#T3># $-L +Z# 3,8T# "W5 (%/DA#54), 06= +J4 06+9 +L D%M336 "0;.&J4, F5+Z3># +E#6 +9 @,:6 W52E# "0>U#6, — Y 8>L4 D>T%D>U, :AD.3># j+/ .I0 \#/ 67285+9 @,:6 "# +S +1-O. Vgl. hom. in Gen. 2.4. Vgl. Num 24:6. Vgl. ibid.

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Kapitel 3

Kontemplation der Ereignisse oder von der Kontemplation der hei( ligen Dreifaltigkeit bewässert werden18. Während Origenes hier die geistigen Wälder als Zustand der Seele versteht, fügt er später eine weitere Interpretation hinzu, nach der die geistigen Bäu( me nichts anderes als die rationalen Seelen darstellen19. In den letzten beiden Fällen handelt es sich allerdings um die Interpretation einer Prophezeiung, bei der eine Allegorie durchaus zu erwarten ist. In der zwölften Homilie zum Buch Numeri spricht Origenes ebenso „allegorisch“ vom Paradies und stellt den „Wald des berühmten göttlichen Paradieses, und die angenehmen Vergnügen des antiken Wohnortes“ als die erreichte Vollkommenheit und Seligkeit dar20. Dass Origenes eine geistige Interpretation des Paradieses und der Bäume vorschlägt, ist auch nicht weiter verwunderlich. Die Frage, die Polemiken auslöst, ist, ob er durch die Allegorisierung des Paradieses seine historische, materielle Existenz bestreitet. Einige Forscher, wie Bietz21 und Bürke22, behaupten, dass Origenes tatsächlich das Paradies nur „geistig“ verstand, und in den ersten christlichen Jahrhunderten war das einer der Vorwürfe, welche die Verdammung des Origenes verursachten23. Ob dies tatsächlich stimmt? Schließlich haben wir im Kapitel über die Menschen( schöpfung festgestellt, dass Origenes irgendeine Art von Körperlichkeit des Menschen im Paradies durchaus annimmt. Dieser Mensch muss also an einem materiellen Ort gelebt haben.

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19 20 21 22 23

Sel. in Num., PG 12, Col. 581B: œ2>= #M-6/ 20/MF.H26/: •M-6/ #.5+6E >72/ 20/MF.H26/ +L "# ƒ :.D/09 \D06%-6 06= 06+M0.36 +J4 -%6D36+/0J4 $%>+J4. v6%M;>/2./ "-= -.+631# >72/ #.5+.E, +1-.4 "# ƒ :.D/09 ->W,+>H+6/ $%;13>#6 +./ +' 8>T%Eb +Z# D>D.#1+T#, ] +' 8>T%Eb +J4 oDE64 ž%/M;.4. Sel. in num., PG 12, Col. 581C: œ2>= 0A;%./ -6%’ e;6+6. PA;%./ >72/ #.5+6= -6%’ e;6+6 WH>U26/ XH&6= :.D/06= $%;13>#6/ +' D#N2>/ +J4 $:58>E64. Vgl. hom. in Num. 12.3: famosissimi divini paradisi nemus et amoenas delicias habitationis antiquae. Vgl. z.B. W.K. Bietz, 1973, 31 32. Vgl. G. Bürke, Des Origenes Lehre vom Urstand des Menschen, in Zeitschrift für Katholische Theologie 72 (1950), 1 39. Vgl. Hier., epist. 51, Meth., res. 1.55,1.

Eden

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Die etymologische Erklärung des Origenes und die rabbinische Interpretation Edens In einem der griechischen Fragmente zur Genesis zeigt Origenes eine be( sondere Sensibilität für die wörtliche Bedeutung des biblischen Berichtes. Er übernimmt mehrere jüdische Auslegungen, wie er selbst zugibt, um zu be( weisen, dass Eden ein Ort in der Mitte der geschaffenen Welt war, an dem Gott seinen Garten pflanzte. Zu bemerken ist ebenso die deutlich örtliche Interpretation Edens als irdischer Lokalität wie auch die daraus folgenden Etymologien. Wir werden gleich zeigen, dass ähnliche Interpretationen in Genesis Rabba zu finden sind. In der Übersetzung steht „ein Garten in Eden“, wobei ein und der( selbe hebräische Ausdruck benutzt wird. Aber die Hauptbedeutung von Eden ist „schon, bereits“. Die Juden haben in der Tat gar nicht überliefert, dass der Ort, an dem Gott der Herr den Garten pflanzte, Eden heißt. Sie sagen auch, dass dieser Ort in der Mitte der Welt sei, wie die Pupille des Auges. Deswegen wird der [Name des] Flusses Pison mit „Mund der Pupille“ übersetzt, da der erste Fluss aus Eden herauskam. Was die Juden überliefert haben, ist das Folgende: Eden, das als „bereits“ übersetzt wird, existierte bevor der Garten ge( pflanzt wurde, weil der Garten in ihm gepflanzt wurde24. Das korrekte Verständnis der Übersetzung von ;5 (bereits, schon) hat meh( reren Editoren Kummer bereitet (de La Rue, Combefis, Petit). Sogar M. Rau( er, der die Abhängigkeit dieses Textes von der rabbinischen Auslegung erkannt hat, allerdings nicht bezüglich der Etymologie, hat vorgeschlagen, ;5 in R;, (süß) zu verbessern25, was der traditionellen, von Symmachus,

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25

Fr. Gn. 236, TEG 1 (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, D15: žA8>/+6/ "# +' d%3>#>Eb „0J-.# "# h;A3“, 6I+' &%52M3>#.4 +' Ÿg%60' :A@>/. x2+/ 3_# .Q# d%3>#>E6 +.? h;_3 0H%ET4 „;5“a .I;_# ;_ -6%6;>;N062/# Ÿg%6U./ j+/ Y +1-.4, "# ƒ „"W,+>H2> +L# -6%M;>/2.#“ ] +L# „0J-.#“ 0,%/.4 Y 8>14, h;_3 06:>U+6/. P6E W62E D> 6I+L# 3A2.# >V#6/ +.? 0123.H, B4 01%5# ŽW86:3.?, ;/L 06= +L# -.+63L# +L#  /2s# d%35#>,>286/ „2+136 01%54“, B4 "0 +.? h;_3 "0-.%>H.3A#.H +.? -.+63.? +.? -%N+.H. ¡ ;_ -6%6;/;162/#, +./.?+1# "2+/#a h;A3, l4 d%35#>,>+6/ „;5“, {# -%=# +L# 0J-.# D>#A286/a "# 6I+S D9% 06= Y 0J-.4 "WH+>,85. M. Rauer, Origenes über das Paradies, in Studien zum Neuen Testament und zur Patristik, Erich Klostermann zum 90. Geburtstag dargebracht, herausgegeben von der Kommission für spätan tike Religionsgeschichte, Berlin 1961, 253 259, bes. 258.

Kapitel 3

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Philo, Klemens und anderen christlichen Autoren angenommenen Deutung von Eden als +%HW* einigermaßen entsprechen würde. Sowohl „Wohlleben“ als auch „angenehm“ bieten sich für allegorische Interpretationen genauso wie für eine wörtliche Auslegung an. Der Ausgangspunkt des Origenes scheint allerdings nicht die Suche nach einer passenden Allegorie zu sein. Sein Interesse gilt in diesem Fall der korrekten Wiedergabe der hebräischen Vokabeln. Im Hebräischen liest man /+4) '+0&, das die LXX mit "# h;_3 06+9 $#6+.:M4 übersetzt (in Eden im Osten). Offensichtlich denkt Orige( nes, dass im Hebräischen '+0 und /+4 das gleiche Wort sei und dass dies in der griechischen Übersetzung praktisch zweimal wiedergegeben worden sei: einmal als der Name des Ortes „Eden“ und noch einmal als Himmels( richtung „Osten”, was ihn irritiert. Also lehnt er diese Übersetzung ab und übernimmt eine andere im Midrasch nachgewiesene Tradition. Diese versteht das Hebräische Adverb /+4 nicht in seiner örtlichen Be( deutung „im Osten”, sondern zeitlich als „vorher, bereits”. So bedeutet es, dass der Ort für den Garten existierte, bevor der Garten dorthin gepflanzt wurde. Nun, eine solche rabbinische Auslegung gibt es tatsächlich, ihre Logik ist aber etwas anders, als Origenes es darstellt. In GenRab XV lesen wir: /+4) R. Samuel b. Nahman sagt: man kann denken, dass es bedeutet „vor (/+4) der Schöpfung der Welt“, aber es ist nicht so; sondern „vor Adam“. Adam wurde am sechsten Tag geschaffen, während der Garten Eden am dritten Tag (geschaffen wurde)26. Aus dieser Auslegung wird ganz deutlich, woher die origenianische Ausle( gung ;5 stammt. Das griechische Adverb enthält, ähnlich wie das Hebräi( sche /+4, die Idee einer Vorzeitigkeit. Die Logik R. Samuels ist aber von der origenianischen verschieden: seine Bemühung ist nicht, die chronologische Reihenfolge der Erschaffung des Ortes, an dem der Garten gepflanzt wurde, und der Pflanzung des Gartens selbst festzustellen, sondern zu zeigen, dass der Garten schon vor dem Menschen geschaffen worden war. Am dritten Tag, an dem Gott befiehlt, dass die Erde Bäume wachsen lässt, entsteht auch das Paradies27. Die andere origenianische Behauptung, dass die Juden den

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GenRab XV.3:

27

'(#$%1 /+$ /+4 $-$ (3"$( ,/-(01 !""%&- /+4 %(&6 !$ : "3)13 %& -$ ()# "% %)$ /+4) ."#"-#& '+0 '* ,"##& $%&3 /+$ Über die Erschaffung des Paradieses am dritten Tag siehe auch Reuling, 2006, 270.

Eden

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Namen Eden nicht als Namen des Gartens annehmen, können wir ebenfalls in rabbinischem Material nachweisen. Im gleichen Kapitel der Genesis Rabba wird ein Disput zwischen R. Judah und R. Jose überliefert, die sich darüber streiten, was von beidem größer sei, der Ort Eden oder der Garten28. Es wird also offensichtlich ein Unterschied zwischen den beiden gemacht, bei dem der Name „Eden“ nicht auf den Garten bezogen wird, sondern nur den geographischen Ort bezeichnet. Origenes benutzt und vermischt in diesem Fall mehrere rabbinische In( terpretationen, ohne sie detaillierter zu untersuchen. Nachdem er eine pas( sende griechische Übersetzung, die sogar eine Assonanz ;5(h;A3 wieder( gibt, gefunden hat, nimmt er die Etymologie gerne auf. Für uns ist die Über( nahme der rabbinischen Interpretation an sich wichtig. Wichtig ist aber ebenso ein weiteres Faktum. Origenes ist offensichtlich nicht nur formal an der Etymologie interessiert, sondern auch inhaltlich. Wenn er aber die materielle Existenz des Paradieses komplett abgelehnt hätte, warum hätte er dann von seiner zeitlichen Schöpfung nach dem Ort Eden gesprochen? Das Problem, das sich anschließend stellen würde, ist das folgende: Wenn Origenes tatsächlich eine materielle Existenz des Paradieses akzep( tiert, was für eine Materialität meint er? Die Fragestellung folgt der gleichen Logik wie das Problem der Körperlichkeit des ersten Menschen. Auch hier haben wir es mit den gleichen Problemen zu tun. Eine Materialität, wie wir sie verstehen, würde die Ewigkeit Edens verneinen, weil nämlich kein Baum unsterblich ist und kein Garten ewig bleibt. Wenn eine Materialität anzu( nehmen ist, dann muss sie sich in irgendeiner Weise von unserer Körper( lichkeit unterscheiden. Wir haben bereits die Meinung von Simonetti er( wähnt, dass Origenes eine besondere Art leichter und glänzender Körper( lichkeit vor dem Sündenfall angenommen habe29. Ob eine solche Behaup( tung auch bezüglich des Paradieses und der Bäume in ihm möglich wäre? Bezüglich der Etymologie Edens haben wir schon gesehen, dass die Rabbinen eine durchaus materielle Vorstellung vom Paradies haben: Der Garten wird zusammen mit den Bäumen am dritten Tag der Weltschöpfung geschaffen, befindet sich in der Mitte der Welt, an einem Ort namens Eden.

28 29

Vgl. GenRab XV.5. Vgl. Simonetti, 1962, 381.

Kapitel 3

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In Genesis Rabba sind aber auch einige allegorische Interpretationen Edens präsent. Eine von diesen sieht im Garten ein Bild der verborgenen Erkenntnis. Zu diesem Zwecke wird Gen 2:8 durch Dan 2:22 „er enthüllt die tiefen und verborgenen Dinge“ ausgelegt. Als „tiefe Dinge“ werden die Gehenna und die schlechten Taten der Menschen verstanden, während die „verborgenen Dinge) auf den Garten in Eden anspielen30. Die Konzeption einer ausgezeichneten Schönheit der Natur im Garten Gottes entspricht nach rabbinischem Verständnis einer geistigen Vollkom( menheit und einem geistigen Glück des ersten Menschen. In Genesis Rabba treffen wir auf eine gemischte materiell(allegorische Interpretation des Pa( radieses. Das Gleiche gilt für den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen: R. Leazar sagt im Namen von R. Jose b. Zimra: Drei Dinge wurden vom Baum (der Erkenntnis) gesagt: er war gut zum Essen, ange( nehm für die Augen und gab Weisheit31. Diese Auslegung fügt, ohne die materielle Existenz des Paradieses in Frage zu stellen, einen „rationalen“ Charakter des Baumes der Erkenntnis hinzu.

Zusammenfassung Nach der Analyse der Paradiesauslegung können wir feststellen, dass rabbi( nische Einflüsse auf die origenianische Exegese durchaus festzustellen sind. Origenes kannte einige aggadische Etymologien, welche er gerne zu Bestäti( gung seiner Schriftauslegung benutzte. Die von ihm erwähnte Etymologie Edens begegnet bei keinem anderen griechischen Exegeten vor Origenes. In Bezug auf seine eigene Paradiesvorstellung, besonders auf die Frage nach seiner materiellen Existenz, wird deutlich, dass diese zu den umstrittenen und problematischen Fragen gehört, deren Auslegung mehrere Kirchenväter irritiert hat. Es wird oft vermutet, dass Origenes nur ein geistiges Paradies annahm, was sich keineswegs eindeutig beweisen lässt. Es ist unbestreitbar, dass Origenes eine allegorische Interpretation des Paradieses nicht nur vor( schlug, sondern auch vorzog. Dies bedeutet aber noch nicht, dass er jedes

30 31

Ibid. GenRab LXV.13: /"3"0- 1,"( -5$)- &(7 7 0./#1+>%.# "D%MW>+. +6?+6, "&%J# "-/WA%>286/ +S „¢Œ+6/ 6c D>#A2>/4 •Z>, •Z> "DA##52> +%>U4 Hc.,4“. •?# ;A, "->= ;/06/.2,#54 R DA#>2/4 6I+.?, -%.+A+60+6/ 3_# +L ¢Œ+6/ 6c D>#A2>/4, "-/WA%>+6/ ;_ +L C#8%T-.4 ;E06/.4 z#. Proc. G., TEG 2 (Petit) 92: +L ;_ 6Œ+6/ 6c D>#A2>/4 •Z> .I 0./#Z4, W62E#, >‚%5+6/, ] D9% [# >I8AT4 "-*#>D0> +L •Z> "DA##52> +%>U4 Hc.,4. #?# ;_, "->= ;/06/.2,#54 R DA#>2/4 6I+.?, -%.+A+60+6/ +L 6Œ+6/ 6c D>#A2>/4, "-/WA%>+6/ ;_ +L C#8%T-.4 ;E06/.4 06= +A:>/.4 z#.

Die Geschichte Noahs

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der Zeit des Origenes schon längst vergessen. Wenn wir später von der christlichen typologischen Interpretation Noahs sprechen, werden wir se( hen, dass der biblische Held als Typos des Messias verstanden wurde. Dafür muss ein christlicher Exeget auch die Vorfahren Noahs als möglichst gerecht und typologisch mit den Vorfahren Jesu vergleichbar darstellen. Wahr( scheinlich ist dies der wichtigste Grund, warum die rabbinische Auslegung eher seinen heidnischen Ursprung und seine unvollkommene Gerechtigkeit betont.

Die Rettung Noahs: Verdienst oder Gnade? Origenes fährt dann fort, indem er die Gerechtigkeit Noahs (sei sie absolut oder relativ) als ein Verdienst für die Rettung der Menschheit darstellt. Die Ungerechtigkeit kann nur die Erde zerstören, wie wir im folgenden Text lesen: Die Ungerechtigkeit verdirbt die Erde, die Gerechtigkeit rettet sie. Und derjenige, der sündigt, verdirbt, soweit es in seiner Macht ist, die Erde. Nicht in der Sintflut wurde die Erde verdorben – damals wurde das Verderben (W8.%M) abgewaschen ( sondern in der Unge( rechtigkeit. Nicht der Geist „verdarb den Weg“ Gottes, sondern das Fleisch; da die Logik des Fleisches Gott feindlich ist und diejenigen, die im Fleische leben, bei Gott kein Gefallen finden können16. Die Vorstellung, dass man durch Wohltaten Verdienste und Gefallen bei Gott finden17 kann, ist ohne Zweifel typisch für das rabbinische Denken18. Sie war sicherlich schon in der früheren jüdischen Exegese, die Noah noch

16

17 18 19 20

Fr. Gn. 653, TEG 2 (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E 8: ~;/0E6 3_# W8>E%>/ +/. 06= Y o36%+M#T# +L j2.# "W’d6H+S W8>E%>/ +-> +Z# Y3.ET# $-.:.H3A#T#, +.,+./4 0.E+6/4 06= -6/;.-./E6/4 2&.:MF>/#. j+> 3A#+./ +9 ;>/#9 -6%J:8> 06= &%>E6 "0M:>/ +/ +9 +.? #13.H -./Z2/#, ] $-L +.? W,2>/ #13.H +6?+6 f-E2+6+. Y •Z>.

Die Geschichte Noahs

137

Tiere darauf schließen, ob sie rein oder unrein sind; nach den Rabbinen ist das nur nach den Regeln der Tora möglich und da sie eine geheime Offenba( rung des Gesetzes an Noah ausschließen, ist seine Kenntnis unvollkommen und nur allgemein. Wir müssen merken, dass Origenes hier gar nicht über die Sinnhaltigkeit der Reinheit der Opfertiere diskutieren will (was an sich schon sehr merkwürdig erscheint), sondern die rabbinische Überzeugung bekämpfen möchte, die Kenntnis des Richtigen sei nur durch die Tora und ihre Observanz möglich. Es ist hoch wahrscheinlich, dass Origenes sich der tendenziellen „pejorativen“ Auslegung der Figur Noahs bei den Rabbinen bewusst war.

Die Flut als Wunder und Strafe Die Flut als Wunder Die rabbinische Interpretation der Flut selbst konzentriert sich auf ihren Wundercharakter. Genau in diesem Sinne finden die Rabbinen auch die Rolle Noahs: Er war bestimmt, ein Wunder Gottes zu erleben. Nach den Rabbinen ist jede der wichtigsten Figuren des Alten Testaments für etwas Bestimmtes im Plan Gottes vorgesehen: Abraham für die Reue der Welt, Adam zu sterben, die Schlange zur Strafe, Kain zum Exil, Hiob zum Leiden, Noah zu einem Wunder, Moses dazu, Erlöser zu werden und Mordekai zur Erlösung36. Origenes betont auch, dass die Flut ein reines Wunder Gottes sei. Seine Gründe sind allerdings sehr unterschiedlich. Fachlich antwortet er den Op( ponenten, die auf der Basis der Neumondüberflutungen behaupten, die Flut sei nichts anderes als die Übertreibung eines Naturphänomens. Origenes berechnet die Zeitangaben des biblischen Textes und schließt, dass der Mond zum Zeitpunkt der Flut nahe am Vollmond war37. Es gibt also keine rein „natürliche“ Erklärung der Flut, sie soll als Wunder Gottes angenom( men werden.

36 37

GenRab XXX.8. Parallelstellen ExRab II.4 und EsrRab VI.3. Vgl. die schon erwähnte Stelle Fr. Gn. 701, TEG 2 (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E12: „Ÿg;135 06= >70M;/ +.? 35#14“, ->%= 2,#.;.# .u254 +J4 2>:*#54, "# $%/83S 0,gO +S $-L +.? +%E6. ˆ/L .I 06+9 W,2/# DAD.#># Y i>+14, y4 +/#>4 "W6#+M28526#.

Kapitel 4

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Bei den Rabbinen finden wir eine Diskussion über die weitere Funktion der Planeten während der Flut. Der Wundercharakter der Flut wird aller( dings nicht in Frage gestellt.

Die Flut als gerechte Strafe Im Midrasch zur Genesis ist eine sehr deutliche Doktrin der Sünden und der Strafen zu erkennen: Die Strafe entspricht immer in ihren Mitteln, in ihrem Maß und ihrem Dauer den Sünden. Dies wird sehr deutlich, wenn es sich um die Plagen der Ägypter im Exodus handelt, aber auch hier, bezüglich der Flut, wird das Gleiche behauptet: Die Generation der Flut hatte mit den Augäpfeln (darunter wird symbolisch Lust und Leidenschaft verstanden) gesündigt, die wie das Wasser sind38. Deswegen ist es ganz gerecht, dass Gott sie durch Wasser bestraft. Es handelt sich also um eine gerechte Strafe Gottes. Der Unterschied im Vergleich zu den Plagen der Ägypter in Exodus ist, dass nicht behauptet wird, die Strafen seien solche, welche die Bestraften aushalten könnten. Im Exodus werden didaktische Strafen dargestellt, wäh( rend die Flut eine vernichtende Strafe ist. Damit die Strafe nicht gnadenlos erscheint, wird behauptet, Gott habe eine Bekehrungsmöglichkeit gegeben. Die Tatsache, dass Noah sieben Tage lang in der Arche wartete, bis die Flut kam, bedeutet nach den Rabbinen, dass die Generation der Flut so lange Zeit hatte zu bereuen. Sie konnten, sozusagen, sich immer noch von der Strafe retten, taten das aber nicht39.

Die Flut als Wiederherstellung der Gerechtigkeit Unabhängig davon, ob Noah als Held interpretiert wird oder eher als ein nur zum Teil gerechter Mensch, ist die Flut in der rabbinischen Interpretati( on ein Mittel der Wiederherstellung der Harmonie in der Beziehung Schöp( fer ( Geschöpf. Viele Details weisen auf den Zustand der Erde bei der Schöp( fung hin. Der von Noah geschickte Rabe z.B., der dunkel ist, symbolisiert die Dunkelheit der Erde nach der Flut und der Zerstörung40. Dunkel war aber auch die Welt gleich nach der Schöpfung. Andere Details erinnern nach den Rabbinen an Eden und den ursprünglichen Zustand des Menschen. Ein

38 39 40

GenRab XXXII.7. Ibid. GenRab XXXIII.5.

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weiterer Vergleich der Flut mit der Unordnung und Dunkelheit führt die Rabbinen zur Typologie Flut / Gehenna41. Die Taube soll das Olivenblatt aus dem Garten Eden geholt haben. In Genesis Rabba wird diese Behauptung als logische Folge der Tatsache darge( stellt, dass alle Bäume auf der Erde sonst verwüstet waren. Es ist zu betonen, dass die Verbindung Sünde ( Strafe oder Reue ( Paradies immer noch be( steht. Die Bemerkung, dass der Olivenblatt bitter ist, soll darauf hinweisen, dass auch die bittersten Dinge in Eden immer noch süßer als die süßen auf der Erde sind42. Schließlich in Bezug auf Noah selbst wird behauptet, dass die Flut und die Erwartung der trockenen Erde eine Art Probe des Glaubens und des Vertrauens Noahs gewesen sei. Dazu wird Ps 11:5 zitiert: „Gott ver( sucht/prüft die Gerechten“43. Da Origenes die Flut als Typos der Parusie und des letzten Gerichtes annimmt44, kann man vermuten, dass er sie auch „historisch“ als Wieder( herstellung der Gerechtigkeit verstanden habe.

Ende der Flut, Ausgang aus der Arche Noahs Zustand beim Ausgang aus der Arche Die Rabbinen erwähnen die Charakteristiken eines Gerechten: religiöse Akte und Wohltaten45. Noah, der als einziger zusammen mit seiner Familie über( lebte und dafür sorgte, dass die Menschen und die Tiere in der Arche gut versorgt wurden und am Ende noch Gott einen Altar baute, könnte allen zwei Charakteristiken entsprechen. Allerdings wollen die Rabbinen ihm das nicht zulassen. Sie behaupten, er sei nicht wirklich tauglich für religiöse Opfer gewesen, da er durch einen Löwen beim Auszug aus der Arche kast( riert worden war46. Weitere Stellen sprechen von einer eventuellen Ver( stümmelung Noahs durch seinen Sohn Ham47. Es wurde mehrmals die Fra(

41 42 43 44 45 46 47

GenRab XXXIII.1. GenRab XXXIII.6. GenRab XXXIV.2. Vgl. hom. in Gen. 2.3. GenRab XXX.6. GenRab XXX.6 und XXXVI. Sanh. 70a und LevRab XVII.5, zitiert nach Midrash Rabba, Jerusalem 1972, Bd. 7:

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ge gestellt, wieso diese Tradition so oft in Genesis Rabba vorkommt, so dass einige Forscher behauptet haben, diese hätte vielleicht ursprünglich dem biblischen Bericht angehört. Eine solche Hypothese kann aber schlecht auf die Frage antworten, wieso solche Auslegungen im Buch der Jubiläen z.B. nicht vorkommen. Es scheint, dass gerade die Rabbinen und nicht die frühe( ren jüdischen Exegeten diese Traditionen der Verstümmelung Noahs in besonderer Weise bevorzugen. Eine mögliche Erklärung wäre, dass sie be( absichtigten, Noah auf diese Weise als untauglich für die Ausübung der Priesterfunktion darzustellen. Seine Opfer können so nicht den gleichen Wert haben und können nicht mit den im Tempel von den Israeliten darge( brachten Opfern verglichen werden. Unser nächstes Problem ist also die priesterliche Funktion Noahs.

Noah als Priester Der Bau des Altars und das Opfer, das Noah brachte, gelten allgemein als seine großen Verdienste. In Genesis Rabba wird der religiöse Wert beider Taten nicht einfach übersehen. Der Altar, auf dem Noah opferte, wird z.B. mit dem Altar in Jerusalem verglichen, dabei wird behauptet, dass Adam an der gleichen Stelle opferte48. Es ist bekannt, dass die Rabbinen Abraham für den eigentlichen Einführer des Opferkultes hielten und den Altar des Isaak( Opfers als dem himmlischen Altar entsprechend darstellten. Immerhin lesen wir, dass Gott sich über das Opfer Noahs freute. Es wird auch vermutet, dass Noah so genannt wurde dank des Opfers, das er brachte: Noah (.3) wird aus .."3 (angenehm) abgeleitet49. Also wird ihm eine Rolle in der „vor( rituellen“ Phase des religiösen Kultes zugeschrieben. Es wird ganz deutlich, dass die Rabbinen auf keinem Fall Noah als Vorvater des Gesetzes oder Gründer von Kulten annehmen wollen. Dazu kommt die schon erwähnte Interpretation der Verstümmelung Noahs, die seiner Untauglichkeit für das Priesteramt nach dem Gesetz entspricht. Das bedeutet, dass auch Noahs Opfer nicht dem Gesetz gemäß waren. Einen der Gründe warum das Ganze nötig war, können wir ohne Zweifel in der origenianischen Auslegung iden( tifizieren: Origenes zweifelt nicht daran, Noah als offiziellen Einführer des

48 49

.!--4!) $"1 $ ,14- '035( (6%6 /. 1) (;)% Gen 8:21 GenRab XXXIII.3. Anspielung auf Gen 8:21 „Und der Herr spürte den süßen Geruch des Opfers“.

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Opferkultes anzunehmen. Origenes bemerkt bezüglich der vorherigen Opfe( rungen, dass Abel ohne Altar opferte und gar nicht wusste was zu opfern erlaubt war und was nicht. Deswegen sieht er Noah als sozusagen offiziellen Einführer des Opferkultes: Noah baut als erster Gott einen Opferaltar. Von Abel ist es nicht überliefert, dass er einen Altar gebaut habe, was klar wird aus der Tatsache, dass nicht die üblichen reinen Tiere auf den Altar gebracht werden50. Wenn wir am letzten Punkt unseres Vergleichs der origenianischen und rabbinischen Exegese von der Typologie Noah/Christus bei Origenes spre( chen, werden wir sehen, dass diese priesterliche Komponente für die chris( tologische Typologie eine wichtige Rolle spielt. Wenn aber ein christlicher Exeget Noah als ersten Priester und damit als Typos Christi verstand, konnten die Rabbinen auf keinem Fall eine ähnliche Interpretation annehmen und mussten sich bemühen, diese Interpretation in irgendeiner Weise abzulehnen.

Der Bund Der Bund, der mit Noah geschlossen wird, ist nach den Rabbinen nicht ewig. Er dauert laut der Schrift „solange Erde und Himmel bestehen“51. Diese Begrenzung des Bundes auf die sozusagen „materielle Welt“ ist sehr interessant. Der Bund wird also als inferior gegenüber dem Bund mit Abra( ham dargestellt und nicht in der messianischen Zeit angenommen. Es han( delt sich sozusagen um den Bund mit der Menschheit allgemein, nicht der Bund mit dem ausgewählten Volk, der mit Abraham geschlossen wurde. Deswegen glauben die Rabbinen, dass die wirklich gerechten Generationen den Bund Noahs gar nicht benötigten52.

50

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Fr. Gn. 744, TEG 2, (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E14: v%Z+.4 •Z> .70.;.3>U 8H2/62+*%/.# +S 8>S. ‹g>: D9% .I0 $#6DAD%6-+6/ ¤0.;.350A#6/, ;5:.#1+/ 06= $-L +Z# 3< >7T81+T# $#6WA%>286/ "-= +L 8H2/62+*%/.# 0686%Z#. GenRab XXXIV.11. GenRab XXXV.2.

142

Kapitel 4

Noahs Sünden nach dem Auszug aus der Arche Nach der Flut befiehlt Gott Noah und seinen Angehörigen „Wachset und vermehrt euch“. Für die Exegeten bedeutet dies, dass Noah sich zuerst der Zeugung widmen sollte. Seine erste Tat war aber das Pflanzen einer Wein( rebe. Für die Rabbinen ist dies ein Akt des Ungehorsams. Dieser musste also entsprechend bestraft werden, was durch die Geschichte der Scham Noahs geschah53. Die Tradition, dass Noah aufgrund seiner behaupteten Verstümmelung, eigentlich keine Kinder mehr zeugen konnte, wird an diesem Punkt verges( sen. Die Rabbinen konzentrieren sich auf die Pflanzung der Weinrebe und betonen, dass diese Tat Noah mit anderen Landwirten der Bibel verbindet, wie Kain und Uzziah, von denen keiner gerecht leben konnte54. Noah gehört also definitiv zu den Ungerechten und Ungehorsamen in der Bibel. Die Sünde Noahs hat nach den Rabbinen langfristige Folgen: die Stämme Judah und Benjamin wurden ins Exil geschickt nur wegen des von Noah einge( führten Weintrinkens55. Noah werden nicht nur die Verdienste gestrichen, sondern er wird auch mit Schuld für die zukünftigen Generationen belastet. Als ob die Anklagen gegen den biblischen Protagonisten nicht genug wären, wird noch ein Vergleich mit Moses hinzugefügt. Noah wird „Mensch der Erde“ genannt. Dieses Faktum versteht R. Berekiah als Zeichen einer Ernied( rigung. Noah wurde zuerst „gerechter Mensch“ genannt56, dann „Mensch der Erde“57. Moses dagegen wurde zuerst „Mensch aus Ägypten“58 und dann „Mensch Gottes“59 genannt. Noah „degradiert“ in seiner relativen Gerechtigkeit, während bei Moses eine weitere Perfektion festzustellen ist60. Die Sünden Noahs nach der Flut verursachten laut der rabbinischen Auslegung die Verfluchung Kanaans und die Trennung der Söhne Noahs.

53 54 55 56 57 58 59 60

GenRab XXXV.1 und GenRab XXXVI.4. GenRab XXXVI.3. GenRab XXXVI.4. Gen 6:9. Gen 9:20. Ex 2:19. Deut 33:1. GenRab XXXVI.3.

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Die Verfluchung Kanaans Wir haben gesehen, dass die Scham Noahs, von seinen Söhnen nackt gese( hen zu werden, als Folge und Bestrafung seiner Sünde interpretiert wird. Nach dem biblischen Bericht endet die Geschichte, indem Noah sein Enkel( kind Kanaan verflucht. Für die Exegeten ist die Verfluchung Kanaans ohne Zweifel eine problematische Bibelstelle. Sowohl die Rabbinen, als auch Ori( genes stellen sich die Frage, wieso Kanaan und nicht Ham, der eigentlich nach dem Bibelbericht den nackten Noah gesehen haben soll, verflucht wurde. In Genesis Rabba lesen wir die folgende Erklärung: R. Nehemiah sagt, dass Kanaan und nicht Ham den nackten Noah gesehen hat und deswegen verflucht wurde61. Kanaan wird von den Rabbinen als Quelle der Degrada( tion interpretiert. Sein Name wird aus 035 (niederträchtig sein) abgeleitet62. Eine andere mögliche Erklärung der Verfluchung Kanaans ist, dass Ham Noah daran gehindert habe, noch einen Sohn zu zeugen, indem er ihn kast( riert habe63. Als Rache dafür verflucht Noah den Sohn Hams. Einige Traditi( onen sprechen auch von einem Verstoß gegen die befohlene Keuschheit in der Arche seitens Hams. Origenes gibt als erstes die folgende Erklärung: die Nachkommen Hams seien wegen der Sünde ihres Vaters verflucht worden. In der zwanzigsten Homilie zum Buch Numeri bietet Origenes auch eine rein geistige Interpre( tation, indem er Kanaan als die schlechten Wünsche unserer Seele bezeich( net, welche den Fluch verdienen, noch bevor sie in Taten umgesetzt wer( den64. Diese Lösung lässt ihn etwas unzufrieden. In einem Fragment seiner Genesis(Kommentierung zitiert er einen Hebräer, der ihm eine alte Tradition überliefert haben soll, welche wir von den Midraschim auch kennen: nicht

61 62 63 64

GenRab XXXVI.7. GenRab XXXVI.2: $!.,+ "(&$ '035 "&$ $(1 /.( Vgl. bSanh. 70a. hom. in Num. 20.2,3: propterea fortassis in huius sacramenti figura etiam Chanaan puer, antequam nasceretur, maledicitur. Cham namque peccaverat pater eius et prophetans Noe, cum unicuique filiorum suorum optima quaeque signaret, ubi ad Cham ventum est, „ma ledictus“ inquit „Chanaan puer“. Cham peccavit et Chanaan progenies eius maledicitur et maledicta est. Et ideo acrius nobis intendendum est et prospiciendum, ne forte generet aliquid anima quod maledicto dignum sit; etiamsi nondum opere impleverit, in ipsa tamen voluntate et proposito eius erit huiusmodi maledicta progenies.

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Ham, sondern Kanaan soll die Scham Noahs gesehen haben und deswegen, ganz verdient, verflucht worden sei. Der Jude erzählte auch diese Tradition und fügte auch ihre Erklä( rung hinzu, nämlich, dass Kanaan als erster die Scham seines Groß( vaters sah und es nur seinem Vater [Ham] berichtete, bei dem er sich über den Alten lustig machte. Ham aber, der sich wie seine Brüder seinem Vater in keiner Weise respektlos nähern sollte und auch den erstgenannten Zeugen und Verleumder tadeln musste, hörte selbst zu und ging [zu seinem Vater] und sah [ihn] und erzählte seinen Brüdern davon. Das alles könnte als Legende (Mythos) angesehen werden, wenn nicht die Überzeugungskraft der Erklärung gewesen wäre [...] Und [Noah] sagte „verflucht sei Kanaan, er sei Diener der Diener für seine Brüder“ (Gen 9:25). Wenn sich jemand wundert, wieso Ham, der ebenso ungerecht war, nicht den gleichen Fluch er( hielt wie sein Sohn, soll bedenken, dass, wenn Ham gesagt worden wäre, er solle Diener der Diener sein, sich auch seine Brüder an der Dienerschaft hätten beteiligen müssen. So wurden [nur] Kanaans Brüder nach dem Fluch Diener, als deren Diener Kanaan dargestellt wurde65. Origenes scheint überzeugt von der übernommenen Tradition zu sein, die uns unter dem Name von R. Nehemiah überliefert ist und die wir vor Kur( zem erwähnt haben. Das Fragment stammt wahrscheinlich aus einer im Lateinischen nicht überlieferten Homilie oder Vorlesung, da der Genesis( kommentar, wie es bekannt ist, nur bis zum fünften Kapitel des biblischen

65

Fr. 160, Catenae Graecae in Genesim et Exodum, II. Collectio Coisliniana (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E20: \W>%> ;_ Y Ÿg%6U.4 Y +6?+6 >7-s# 06= -6%M;.2/# +./6,+5#, "->#>D0s# $-1;>/@/# +' -6%6;12>/, B4 C%6 Y 6#69# -%1+>%.4 >V;> +/:># 6I+.? +S -6+%= 31#O, 06+63T0N3>#.4 y2->% +.? DA%.#+.4a Y ;_ M3, ;A.# Y3.ET4 +.U4 $;>:W.U4 3< -%.2>:8>U# +S -6+%= $2>gZ4, $::9 06= "-/-:J@6/ +S -%N+O 8>6263A#O 06= ;/6g6:1#+/, 6I+L4 ;_ 06= -A->/2+6/ 06= >72J:8>#, 06= >V;>#, 06= $#*#>D0> 06= +.U4 $;>:W.U4. +6?+6 ;_ ;.0>U 3?8.4 >V#6/, >7 3< +L +J4 $-.;>E@>T4 {# 72&H%1# [...] 06= >V->#a "-/06+M%6+.4 6#6M#, ;.?:.4 ;.,:T# \2+6/ +.U4 $;>:W.U4 6I+.?. >7 ;A +/4 86H3MF./ +E ;*-.+> Y 93 06= 6I+L4 $2>g%/+.3J4 ] P1:&T#a ;/L .I& R 6I+< #.3/28>E5 [# ->%/+.3*. P6= y2->% Y 8,T# .I +S 6I+S 8,>/, >7 06= Y3.ET4 8,>/# ;.0>U, 06= Y >I&13>#.4 .I +S 6I+S >u&>+6/, >7 06= +9 6I+9 "# +6U4 >I&6U4 $@/.U. Vgl. Cels. 5.48. Vgl. ibid.: h;,#6+. D9% .Œ+.4 .V36/ Y CDD>:.4 06+9 +Z# 3< ->%/+>3#.3A#T# $-L +.? :6.? 06= o-6@6-:Z4 -M#+T# +Z# 2>g1#+T# 31#.# +L# ;53/.H%D1#, 06= "-= +.2.?+1# D> ";,#6+., j2.# .I0 $#>E:5W> 2Z36 Y “52.?4. ›+> ;’ $#>E:5W>, 06= ->%/+A3#>+. +L "0>E#.H 2Z36, 068†%A85 -r26 R 06+9 +Z# "# +' 8>.2>g>Ub +6,+† 3< ->%/+>3#A#T# ;,#63/4 6I+.?a $WM+O D9% 8>1+5+/ 068>U:># "0>U#.# Y “52.?4.

Beschneidung

163

ist ohne Zweifel mit dem Opfer( und Heilscharakter der fleischlichen Be( schneidung zu verbinden. Wir sehen also, dass die traditionellen rabbini( schen Argumente zur Begründung der Beschneidung von Origenes nicht nur übernommen, sondern auch in seiner antipaganen Polemik benutzt werden. Durch die wiederholte Betonung des Opfers Christi (dabei denkt er nicht nur an die Kreuzigung, sondern auch an seine Beschneidung), das alle bisherigen Opfer (die Beschneidung eingeschlossen) aufhebt, öffnet Orige( nes seine Polemik gegen diejenigen, welche die fleischliche Beschneidung immer noch praktizieren. Genau sie, Juden und Judenchristen mit ihrem „fleischlichen Verständ( nis“ der Schrift bzw. der Beschneidung14, provozieren nach Origenes diese Angriffe gegen die Praxis (von Gnostikern, Markioniten oder Heiden). Also ist sein nächstes Problem zu beweisen, dass obwohl Gott in der Lage wäre, zu den Menschen zu sprechen und ihnen „materielle Gesetze“ zu erteilen, diese eigentlich geistig sind.

Geistiger Charakter der alttestamentlichen Befehle Wir haben gerade gesehen, wie Origenes die alttestamentliche Beschneidung als Typos des Opfers Christi verteidigt. Die typologische Auslegung impli( ziert aber einen nicht ewigen Charakter der Vorschrift (der Typos hat eine Bedeutung nur bis zu seiner Verwirklichung). So muss Origenes den alttes( tamentlichen Vorschriften, darunter der Beschneidung, eine allegorische Interpretation geben, dank der die Vorschriften auch nach der Ankunft Christi ihre Gültigkeit behalten können. So interpretiert er die Beschneidung in allegorisch(moralischem Sinne. Sie ist nicht auf ein Körperorgan, sondern auf das Verhalten des Menschen zu beziehen, das dann die Benutzung des Körpers und bestimmter Organe einschließt. In diesem Falle handelt es sich einfach um sexuelle Keuschheit. Keiner bezweifelt, dass das Organ, an dem sich die Vorhaut offen( sichtlich befindet, der natürlichen Funktion des Beischlafes und der Fortpflanzung dient. Also, kann man, wenn kein rücksichtloser An( trieb entsteht und wenn jemand die in den Gesetzen vorgeschriebe( nen Beschränkungen nicht überschreitet, wenn er keine andere au( ßer der legitimen Frau kennt und mit ihr verkehrt nur, um Kinder

14

Vgl. hom. in Gen. 3.1.

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Kapitel 5

zu zeugen und dies in den dafür legitimen (opportunen) Zeiten, be( haupten, dass dieser Mann in der Vorhaut seines Fleisches beschnit( ten ist15. Origenes ist sich bewusst, wie schwierig es erscheinen könnte, anzunehmen, dass die tatsächlich erteilten Vorschriften eigentlich von Generationen und Generationen schlecht verstanden wurden. Es handelt sich zuerst allgemein um das geistige oder „fleischliche“ Verständnis der Vorschriften. Ihre kör( perliche Praktizierung entspricht einem solchen fleischlichen Verständnis. Das ist der erste Fehler der Juden, aber auch „einiger von uns“ (ex nostris nonnullorum)16, die er später direkt „Ebioniten“ nennt und von denen wir noch sprechen werden. Die origenianische Argumentation zu dieser Stelle ist symptomatisch für die Position, die er gegenüber dem Neuen und Alten Testament einnimmt. Auf der einen Seite, sagt Origenes, gegen die Vorwür( fe paganer Philosophen und Häretiker: Alles Materielle ist ohne Zweifel in der Macht Gottes, also kann er sich jedes dieser Dinge bedienen. Auf der anderen Seite, zieht er gleich die Grenzlinie zum Judentum: obwohl alles Materielle in der Macht Gottes ist, sind seine Gesetze und Vorschriften geis( tig gemeint und durch den Geist und den Willen der Menschen wirken sie auf ihr materielles Leben und Verhalten. Angesichts der paganen Vorwürfe zeigt sich Origenes mit der jüdischen Interpretation einverstanden. Ange( sichts der jüdischen Auslegung versucht er auf der Spur des Paulus, die eigene christliche Position zu verteidigen, welche das jüdische Verständnis überholt. In bestimmten Aspekten erscheint das wie eine Theologie der Sub( stitution: die alten „materiellen“ Gesetze werden durch neue ersetzt. Der Unterschied zum traditionellen „substitutionellen“ Denken besteht darin, dass Origenes annimmt, diese Gesetze seien noch in alttestamentlicher Zeit geistig gedacht gewesen, aber nur von wenigen Gerechten richtig verstan( den worden. Dazu muss man sagen, dass Origenes trotz seiner ganzen Po(

15

16

Vgl. hom. in Gen. 3.6: Membrum hoc, in quo praeputium videtur esse, officiis naturalibus coitus et generationis deservire, nemo qui dubitet. Si qui igitur erga huiuscemodi motus non importunus exsistat, nec statutos legibus terminos superet nec aliam feminam quam coniugem legitimam noverit et in ea quoque ipsa posteritatis tantummodo causa certus ei legitimis temporibus agat, iste circumcisus carnis suae dicendus est. Vgl. hom. in Gen. 3.2: Sed haec rursum non secundum errorem Iudaeorum vel etiam ex nostris nonnullorum, qui cum illis errant, eatenus dicimus, ut, quoniam humana fragilitas aliter audire de Deo non potest nisi ut sibi res ipsa et vocabula nota sunt, idcirco etiam membris haec nostris similibus et habitu humano Deum agere sentiamus.

Beschneidung

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lemik gegen die jüdische Schriftinterpretation nie kategorisch jede Nützlich( keit der alttestamentlichen „materiellen“ Gesetze bestreitet. Als eine harte, wenn auch eher „materielle“ Probe der Treue haben sie bestimmte Funktion erfüllt. So ergibt sich für Origenes ein ganzes System geistiger Gesetze und Regeln, die er nicht einfach als Ersatz der alten „materiellen“, sondern als die eigentlich wahren Gesetze darstellt. Es handelt sich um einen geistigen Bund, der noch innerhalb des Alten Testaments „geistig“ geschlossen wird. Origenes sieht das manifestiert in der Änderung von Abrahams Namen17. Die Observanz dieser geistigen Gesetze ist für Origenes durchaus notwen( dig: die Beschneidung im Herzen und alle weiteren geistig gedeuteten Be( schneidungen (der Lippen, der Augen, des Fleisches) bezieht er auf die Zu( rückhaltung von bestimmten Lastern und schlechten Gewohnheiten und nimmt sie als Voraussetzung für die Teilnahme an den christlichen Gottes( diensten an18. Es stellt sich natürlich die Frage wieso die materielle Beschneidung überhaupt in die Praxis gekommen sei und welchen Sinn ihre Praktizierung hatte. Vor allem weist Origenes auf diese sehr schmerzhafte Praxis als eine harte Probe hin, eine Auffassung, die vom rabbinischen Verständnis vom Opfercharakter der Beschneidung nicht weit entfernt ist. Dann entwickelt er die paulinische Theorie der Ritualen des Alten Testaments als Schatten der Realitäten des Neuen. „Mein Bund wird auf Deinem Fleisch sein“, sagt [Gott] (Gen 17:13). War diese vielleicht die Pflicht, die der Herr des Himmels und der Erde demjenigen, den er von allen Sterblichen ausgewählt hatte, für den ewigen Bund, bereit war zu geben? Nur darin sehen die Lehrer und die Gelehrten der Synagoge den Ruhm der Heiligen [...] Aber wir, erfühlt von [die Lehre des] Apostels Paulus, sagen, dass, wie viele andere Dinge in Figur und als Vorbild der zukünftigen Wahr(

17 18

Vgl. hom. in Gen. 3.3. Vgl. sel. in Ex., PG 12, Col. 288A (bezüglich der Teilnahme am Paschafest): n%r+> 3* +/4 i3Z# $->%E+35+14 "2+/ +' 06%;Eba 3* +/4 .I ->%/+A+35+6/ +94 ->%/+.394 —4 Y :1D.4 ;/;M20>/ ->%/+A3#>286/. -.E64 ;_ +6,+64; $->%E+35+./ +9 ¥+6 Ž#>/;EF.#+6E +/#>4 p#+>4a 06= j2./ .I ->%/+A+35#+6/ +72/#. ~->%E+35+.4 &>E:>2/#, Y 3< ->%/+>3#13>#.4 +.G4 :1D.H4 +.G4 "#6#+E.H4 06= $068M%+.H4. te+T4 \2+/# 06= $->%E+35+.# +' 26%0= >7->U#, +L# 3< ->%/+>3#13>#.# +9 26%0/09 -%MD36+6a 06= $->%E+35+.# ŽW86:3.U4, +L# g:A-.#+6 — 3< ;>U, 06= 3< 0686E%.#+6 +L Y%6+/01#a 06= $->%E+35+.# 26%0=, +L# -%M++.#+6 — 3< ;>U.

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heit geschahen, so auch die fleischliche Beschneidung ein Bild der geistigen Beschneidung war, bezüglich derer es würdig und oppor( tun war, dass der Gott der Herrlichkeit den Sterblichen Vorschriften gab19. Aus diesem Text lässt sich folgendes schließen: Origenes übernimmt einen Topos der Argumente der Heiden und Markions gegen die jüdische Be( schneidung, wie er sie im Römerbriefkommentar20 zitiert: die Unwürdigkeit des Körperorgans, auf dem die Vorhaut sich befindet. Gleichzeitig greift er die jüdische Vorstellung an, dass Rettung und Heiligkeit durch die Obser( vanz der „fleischlichen Vorschriften“ zu Stande kämen. Am Ende begründet er seine Annahme der geistigen Beschneidung mit der Autorität des Paulus. Durch die Erwähnung Paulus‘ bekommt Origenes auf der einen Seite die Unterstützung der Tradition (wenn auch der christlichen), die in einem Dia( log mit den Rabbinen unvermeidlich ist, andererseits beweist er, dass er Markions Auslegung nicht angenommen hat, trotz der Verwendung einiger seiner Argumente. Markion akzeptierte laut Origenes die Auslegung Paulus‘ nicht. Viel effektiver gegenüber seinen Opponenten ist aber die Argumentati( on, die auf alttestamentlichen Texten basiert. Origenes analysiert den unter( schiedlichen Gebrauch des Wortes „Beschneidung“ (1-")) im Alten Testa( ment und schließt, dass die primäre Bedeutung der Beschneidung allego( risch sei. Auf der Basis von Ezek 44:9 („Kein Fremder, der unbeschnitten ist am Herzen und unbeschnitten am Körper, darf mein Heiligtum betreten“) und Jer 9:25 („alle Völker gelten mir als unbeschnitten – auch das ganze Haus Israel hat ein unbeschnittenes Herz“) beweist er, dass es, obwohl in den zitierten Texten von der Beschneidung die Rede ist, unmöglich ist, diese körperlich zu verwirklichen. Also ist es selbstverständlich, auch im gesam( ten Kontext der Propheten, von denen die angegebenen Stellen stammen,

19

20

hom. in Gen. 3.4: „Erit enim”, inquit, “sacramentum meum super carnem tuam“ (Gen 17:13). Hocine erat quod‚ caeli et terrae Dominus ei, quem e cunctis mortalibus solum delegerat, aeterni testamenti munere conferebat? Haec enim sunt sola in quibus magistri et doctores synagogae sanctorum gloriam ponunt [...] Nos ergo imbuti per Apostolum Paulum dicimus quia, sicut multa alia in figura et imagine futurae veritatis fiebant, ita et circumcisio illa carnalis circumcisionis spiritalis formam gerebat, de qua et dignum erat et decebat Deum maiestatis praecepta mortalibus dare. Vgl. die schon zitierte Stelle comm. in Rom. 2.13,27 (Bammel II).

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dass der Terminus hier „geistig“ gemeint ist. Origenes unterscheidet den Ausdruck „mein Mund und meine Zunge sind nämlich schwerfällig“21 und den originalen hebräischen Text „unbeschnitten in den Lippen“22. Er bezieht die Lippenbeschneidung auf das sinnvolle Reden, genauso, wie die Be( schneidung der Vorhaut mit der Keuschheit und der ehelichen Treue zu verbinden ist. Die Beschneidung des Herzens interpretiert Origenes als Bild der Vertreibung der verborgenen Begierde, aber auch der häretischen Lehre. Diese moralische Interpretation der Beschneidung, die praktisch den Nutzen der menschlichen Organe für gute und gerechte Zwecke betont, ist nichts Neues Origenianisches. Diese Interpretation wurde von Philo entwickelt und von Origenes in vielen Punkten übernommen. Während aber Philo bezweckt, die fleischliche Beschneidung nicht zu verneinen, sondern ihr eine plausible und logische Interpretation zu geben, stellen wir bei Origenes eine völlige Ersetzung des fleischlichen Zeichens durch eine moralische Praxis fest. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine einfache Substitution des Alten durch das Neue, sondern um die Überzeugung, dass „die alte fleisch( liche Beschneidung“ nie „fleischlich“ gemeint, sondern von den Israeliten falsch verstanden wurde. Dieser Schluss ist aber nicht zwingend: Seine Argumente erklären die Notwendigkeit eines geistigen Verständnisses, schließen aber in keinem Fall die fleischliche Komponente aus. Dies ist aber Origenes sehr wichtig, weil er nur so die definitive Abgrenzung von der jüdischen Praxis erreichen kann. Die geistige Beschneidung der Kirche soll die fleischliche ausschließen.

Die geistige Beschneidung als christliches Identitätszeichen. Das Problem der Ebioniten Die „Beschneidung der Kirche“, wie Origenes sie nennt, ist „ehrenvoll, hei( lig, Gottes würdig“, die fleischliche, jüdische Beschneidung ist dagegen „schändlich, abscheulich, hässlich, in ihrem Brauch und Aspekt schlecht aussehend“23.

21 22 23

Ex 4:13.10. Vgl. hom. in Gen. 3.5. Hom. in Gen. 3.6: [...] si non etiam ipse sentis et intelligis hanc Ecclesiae circumcisionem honestam, sanctam, Dei dignam, illam vestram turpem, foedam, deformem, ipso etiam ha bitu et aspectu 060A3W6+.# praeferentem.

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Im unten zitierten Text sehen wir den Versuch, die „geistige Beschnei( dung“ als Merkmal der christlichen Gemeinde festzulegen. Wir werden bald feststellen, dass die Beschneidung als jüdisches Identifikationszeichen seit dem zweiten Jahrhundert sehr an Bedeutung gewann. Bei Origenes haben wir eine ähnliche Entwicklung: die „geistige Beschneidung“ wird zum Iden( titätszeichen der christlichen Gemeinde und schließt jede körperliche Prakti( zierung aus. Das Problem, mit dem sich der Prediger konfrontiert sieht, ist offensicht( lich nicht nur die weiterlebende Praxis der Beschneidung in der jüdischen Gemeinde, sondern das Problem der Judenchristen oder judaisierten Chris( ten (eine Bezeichnung, die mir in unserem Fall überzeugender scheint). Er selbst sagt: Nicht nur die Juden „in Fleisch“ müssen wir überzeugen (für unsere Seite gewinnen), sondern auch einige von diesen, welche den Na( men Christi scheinbar angenommen haben und trotzdem glauben, dass die Beschneidung zu empfangen sei, wie die Ebioniten und an( dere, die sich wegen ähnlicher Armut des Verstandes irren24. Interessant ist, wie Origenes seine Gegner nennt: „carnales Iudaei“ und „qui Christi nomen videntur accepisse“. Mit dem ersten Ausdruck meint er of( fensichtlich die Juden religiös und ethnisch zugleich. Der zweite Ausdruck „einige, die scheinbar den Namen Christi angenommen haben... Ebioniten und andere...“ dagegen visiert offensichtlich Christen an, welche die Be( schneidung praktizieren. Kurz vorher hatte sie Origenes bezüglich des geis( tigen Verständnisses der Vorschriften etwas liebevoller „einige von uns“ genannt. Die erste Gruppe wird gerade durch die fleischliche Beschneidung als jüdisch identifiziert. Die zweite Gruppe kann gerade wegen der fleischli( chen Beschneidung nicht als völlig christlich anerkannt werden, obwohl sie sich zum Christentum bekennt. Also ist die Beschneidung für Origenes ein Identitätskennzeichen. Die körperliche Beschneidung ist das Merkmal der Juden, die geistige Beschneidung bzw. die Annahme der geistigen Gesetze ist das Charakteristikum der Christen. Nun sollten wir, wenn wir zu den

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Vgl. hom. in Gen. 3.5: non solum carnales Iudaei de circumcisione carnis revincendi sunt nobis, sed et nonnulli ex his qui Christi nomen videntur suscepisse et tamen carnalem cir cumcisionem recipiendam putant, ut Ebionitae et si qui his simili paupertate sensus ober rant.

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„Ebioniten und anderen, die sich wegen ähnlicher Verstandsarmut irren“ (nicht zu übersehen das Wortspiel Ebionit(arm) zurückkehren, bemerken, dass Origenes hier die Judenchristen von einem rein rituellen Standpunkt aus betrachtet. Trotz der unterschiedlichen Definitionen, welche den Juden( christen gegeben wurden, um sie unter kulturellem, dogmatischem, rituel( lem oder ethnischem Blickwinkel zu identifizieren, sind sich alle Forscher sicher, dass die Ebioniten die am meisten „jüdischen“ unter diesen waren, indem sie die Gottheit Christi nicht anerkannten, sondern nur sein Propheti( sches Amt annahmen25. Also wäre die Frage nach der Beschneidung in die( sem Fall das kleinste zu bekämpfende Problem. Ganz anders wäre die Situa( tion der Nachfolger der Jerusalemer Gemeinde, die zwar einen orthodoxen Glauben besaßen, aber trotzdem einigen Vorschriften (Beschneidung, Spei( sevorschriften, Reinheitsvorschriften) folgten26. Bei solchen Opponenten sollte man sich wirklich auf den geistigen Charakter der Vorschriften kon( zentrieren, weil gerade sie den Unterschied zum orthodoxen Christentum darstellten. Wir müssen vor allem bemerken, dass diese These auf den Zeugnissen mehrerer Kirchenväter (Justin, Irenäus, Epiphanius) aufgebaut ist, während Origenes wahrscheinlich die Ebioniten gar nicht so streng von anderen Ty( pen von Judenchristen unterscheidet. Wenn wir also versuchen, uns vorzu( stellen, welche Gruppe er meint, wenn er gegen die Ebioniten predigt, soll( ten wir von unserer engen Systematisierung des Judenchristentums absehen. Origenes selbst beschreibt an einigen Stellen in Contra Celsum die Ebioniten folgendermaßen: Celsus hat nicht bedacht, dass diejenigen unter den Juden, die an Christus glauben, das väterliche Gesetz nicht verlassen haben. Sie leben nach ihm (dem Gesetz) und werden nach der Annahme der Armut des Gesetzes genannt. Bei den Juden bedeutet Ebion „der

25 26

Vgl. J. Daniélou, Theologie du judéo christianisme, Tournai 1958, 68 76 und H. Schoeps, Theo logie und Geschichte des Judenchristentums, Tübingen 1949. Vgl. Nach Danielou, 1958, 18: La communauté chrétienne de Jérusalem: ce milieu est parfaitement orthodoxe, mais il reste attaché à certaines formes de vie juives, sans les imposer d’ailleurs aux prosélytes venus du paganisme. Après la chute de Jérusalem, ces judéo chrétiens ont peu à peu disparu... on les designe parfois du nom des Nazaréens... à la différence des Ebionites, ce messianisme implique la divinité du Christ. Daniélou zitiert auch Reike, Diakonie, Festfreude und Zelos, Upsala 1951, 233 368, der die Wichtigkeit der jü dischen Propaganda in den christlichen Gemeinden in den Jahren 40 70 betont.

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arme“ und Ebioniten nennen sich diejenigen Juden, die Jesus als den Christus angenommen haben27. Nach diesem Text scheint Origenes´ Beschreibung etwas verworren. Es wird behauptet, dass die Juden christlichen Glaubens den Vorschriften weiter folgen und dass sie Ebioniten genannt werden. Das sind Christen jüdischen Ursprungs, die einen ganz orthodoxen Glauben bezüglich der göttlichen Natur Jesus haben. Der Unterschied zur orthodoxen christlichen Gemeinde wäre so nur die Praxis der alttestamentlichen Observanz. Diese Beschrei( bung lässt eher an die Nachfolger der Jerusalemer Gemeinde denken. Wenn wir die folgenden zwei Texte aus dem fünften Buch des Werkes betrachten, sehen wir, dass die origenianische Vorstellung von den „Ebioni( ten“ doch nicht so eindeutig ist. Diese sind die zwei [Typen] Ebioniten: diejenigen, die, wie wir, glauben, dass Jesus von der Jungfrau geboren wurde, oder diejeni( gen, die denken, dass er nicht so geboren sei, sondern wie die ande( ren Menschen sei28. Hier wird ein Unterschied zwischen den „Ebioniten“ gemacht bezüglich des Glaubens an die Göttlichkeit Christi. Zu der Gruppe, die im vorherigen Abschnitt definiert wurde und die sich nur wegen der Observanz der Vor( schriften von den orthodoxen Christen unterscheidet, wird jetzt eine zweite Gruppe hinzugefügt, welche die Gottheit Christi ablehnt. Beide werden „Ebionite“ genannt, also wird der Terminus hier allgemein zur Bezeichnung der Judenchristen verwendet. Im dritten Text wird auf die Ablehnung der Paulus(Briefe hingewiesen:

27

28

Cels. 2.1: 0A:2.4 [...] 35;_ +.?+. 06+6#.*264, j+/ .c $-L “.H;6ET# >74 +L# ’52.?# -/2+>,.#+>4 .I 06+6:>:.E-62/ +L# -6+%L# #13.#. ¦/.?2/ D9% 06+’ 6I+1#, "-N#H3./ +J4 06+9 +4 Y3.ET4 R3U# +L# ’52.?# ] .I& .e+T D>D>#J286/, $::9 B4 +.G4 :./-.G4 $#8%N-.H4.

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Es gibt einige „Sekten“, welche die Briefe des Apostels Paulus nicht annehmen, wie die beiden [Typen von] Ebioniten und die sogenann( ten Enkratiasten29. Nach dem rein rituellen Problem (Observanz der alttestamentlichen Vor( schriften), dem theologischen Unterschied (Ablehnung der Gottheit Christi), wird jetzt auch ein kanonisches Argument hinzugefügt (Ablehnung der Paulus(Briefe). Wir können schließen, dass Origenes unter „Ebioniten“ un( terschiedliche Strömungen im Judenchristentum verstand. Als gemeinsames Charakteristikum empfand er die Observanz der alttestamentlichen Vor( schriften und die Ablehnung der Paulus(Briefe. Also müssen wir einfach an die Existenz von Judenchristen in Cäsarea und nicht unbedingt an Ebioniten im strengen Sinn des Wortes denken. Wir müssen uns auch nicht unbedingt auf Christen beschränken, die jü( dischen Ursprungs wären. In der Tat, nach der einen Definition der Ebioni( ten bei Origenes handelte es sich um an Christus Glaubende Juden. Man nimmt aber an, dass diese Gemeinden, als Folge ihres fehlenden Engage( ments im Bar(Kochbar(Aufstand, nach dem Jahre 135 in Palästina in immer größere Isolation gerieten. Also ist zu fragen, ob eine solche Gemeinde gera( de in Cäsarea im dritten Jahrhundert lebendig sein konnte. Wie wir aber schon festgestellt haben, sind die Aussagen des Origenes eher allgemein. Wie M. Simon festgestellt hat, könnte es sich bei Judenchris( ten auch um christianisierte ehemalige Heiden handeln, welche unter dem Einfluss der jüdischen Propaganda und Mission die jüdische Lebensart an( nahmen30. Eine weitere Kategorie könnte aus eventuellen Christen jüdischer Nationalität, aber nicht palästinischen Ursprungs bestehen, die sich, in die Hauptstadt der Provinz gekommen und sich näher an den eigenen Wurzeln befindend, sozusagen langsam „rekonvertierten”. Origenes ist sich offen(

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30

Cels. 5.64: >72= DM% +/#>4 6c%A2>/4 +94 v6,:.H "-/2+.:94 +.? $-.2+1:.H 3< -%.2/A3>#6/, y2->% hg/.#6U./ $3W1+>%./ 06= .c 06:.,3>#./ hD0%6+52+6E. Vgl. auch M. Simon, Verus Israel, Étude sur les rélations entre chrétiens et Juifs dans l’Empire romain (135 425), Paris 1948, 277: de même que certains Juifs convertis ont, à l’exemple de saint Paul, rompu tout lien averc la religion ancestrale, de même il y a dans les rangs des judaïsants des fidèles étrangers par naissance au peuple élu. Vgl. Ibid., 314: Elle (l’attraction persistante de la synagogue sur certaines catégories de fidèles) détermine une judaïsation par le déhors, beaucoup plus ténace et de portée beaucoup plus considérable que l’effort de judaïsation interne tentée par les judéo chrétiens de la première heure de leur lignée.

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sichtlich dieser Komplexität gemischten jüdisch(christlicher Lebensformen bewusst. Mit dem Ausdruck „Ebioniten und andere” ist offensichtlich die ganze Skala dieser Formen, von den „dogmatisch” jüdischen bis zu den„nur rituell” jüdischen, gemeint. Wie wir aber gesehen haben, ist es hauptsächlich die zweite Gruppe der “nur rituell” jüdischen, die hier explizit angegriffen wird. Also ist der Terminus „Ebioniten” hier nicht in seiner strengen Bedeu( tung benutzt, sondern eher allgemein zur Bezeichnung der Judenchristen jüdischen Ursprungs, während der Ausdruck „andere” alle anderen Formen von judaisiertem Christentum bezeichnet und auch Gläubige nichtjüdischer Nationalität einschließt. Die Beschneidung, sei sie körperlich oder geistig, wurde immer mehr zum Identitätszeichen von Juden oder Christen. Beide Formen wurden als unmittelbare Bedingung nicht nur für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde, sondern auch für die Rettung des einzelnen Individuums verstanden. Sie wurde nicht nur als eine der wichtigsten Vorschriften gesehen, sondern auch als eines der wenigen religiösen Rituale, deren Ausübung auch nach der Zerstörung des Tempels und der Aufhebung des Tempelkultes problemlos weiterlief. Das Ausschließen jeder „gemischten“ Form (Praktizierung von körperlicher Beschneidung und christlicher Glauben) trug zur Verhärtung nicht nur der jüdischen, sondern auch der christlichen Positionen bei.

Beschneidung nach den Rabbinen Der erste Eindruck, den man von der rabbinischen Exegese der Beschnei( dung bekommt, ist die Betonung der absoluten Notwendigkeit dieser Vor( schrift und die systematische Ablehnung jeder allegorischen Deutung. Die Annahme der Beschneidung wird als eine, vielleicht die wichtigste, der zehn Prüfungen, welche Abraham erleiden musste, verstanden31. Dank ihres blu( tigen Charakters ist sie als eine Art Opfer interpretiert. Als Opfer impliziert die Praxis Erlösungs( und Heilskraft. All diese Aspekte werden wir jetzt zu erklären versuchen.

31

Jub 19:8, CantRab XVIII.25, Pirqe de Rabbi Elizer, 26 31. Eine vertiefte und detaillierte Unter suchung und Analyse befindet sich in Oberhänsli Widmer, 1997, 277 302. Die Beschnei dung ist im nach der Autorin gezeichneten Schema der zehn Prüfungen am achten Platz, vor der Vertreibung Hagars und Ismaels (Prüfung 9) und der Aqedah (Prüfung 10 und ei gentliche Kulmination der Prüfungen).

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Opfercharakter der Beschneidung Die Frage nach dem Opfercharakter der Beschneidung interessiert uns hier, nicht um den Ursprung der Praxis zu erklären, dies ist nicht unsere Aufga( be, sondern um einige ihrer theologischen Aspekte zu identifizieren, die uns helfen können, die Wichtigkeit der körperlichen Beschneidung für die Rab( binen zu verstehen. Im Hintergrund steht das alte Verständnis der Be( schneidung als eines Opferaktes, der Fruchtbarkeit garantieren soll. Außer( dem spielt ihr blutiger Charakter im spätjüdischen Denken die gleiche Rolle, die jedes Opfer in dieser Epoche hat: man schreibt ihm Erlösungs( und Süh( nekraft zu32. Der Opfercharakter in der jüdischen Auffassung der Beschnei( dung ist von Vermes33, Wendel34 und Daly35 untersucht worden. Dieser Op( fercharakter stammt allgemein aus dem semitischen Raum36 und bleibt bis zur rabbinischen Auslegung erhalten37. Einige Belege befinden sich im Tar( gum zum Hohelied38 und im Targum zu Ezekiel, wo bezüglich des Verses 16, 6 von „Deine Blute“ (im Plural) die Rede ist. In der Mekhilta lesen wir: Da gab Gott ihnen zwei Gebote, das Gebot des Paschalammes und das Gebot der Beschneidung, damit sie sich damit beschäftigen, um erlöst zu werden, wie es heißt „ich ging an Dir vorüber und sah Dich zum Zertreten in Deinen Blutarten“ (Ezek 16:6)39. Blaschke hat sich ausführlich mit der Frage nach der Bezeichnung „Blut des Bundes“ beschäftigt und bemerkt, dass diese ein gewöhnlicher Topos in der rabbinischen Literatur ist40. Es handelt sich offensichtlich um die besondere

32 33 34 35 36 37

38 39 40

Vgl. F. Young, The Use of Sacrificial Ideas in Greek Christian Writers from the New Testament to John Chrysostom, Philadelphia 1979, 39 40. Vgl. G. Vermes, Circumcision and Exodus IV, 24 26, in Scripture and Tradition in Judaism, Leiden 1961, 178 191. A. Wendel, Das Opfer in der altisraelitischen Religion, Leipzig 1922. Vgl. R. Daly, Christian sacrifice, Washington 1978, 187 194. Ibid., 187 f. Eine vertiefte Analyse der Erlösungsbedeutung des Blutes und besonders des männlichen Blutes im Unterschied zu komplett fehlenden Rolle des weiblichen Blutes siehe L. Hoff man, Covenant of Blood, Chicago 1996, 136 154. Vgl. R. Le Déaut, La Nuit Pascale, essai sur la signification de la Pâque juive à partir du Targum d’Exode XII, 42, Rome 1963, 211. Mekhilta, Pisha, V, Lauterbach, Bd. I, 33 34. Vgl. Blaschke, 275 ff.

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Erlösungs( und Lebenskraft des Blutes41, woraus sich als selbstverständlich ergibt, dass der Bund Gottes einen blutigen (und auch körperlichen) Charak( ter hat. Die gleiche Vorstellung spielt auch in der Interpretation des Opfer( kultes eine große Rolle und führt dazu, dass die Rabbinen keine definitive Abschaffung dieses Kultes annehmen können. Diese Erlösungs( und Opferfunktion des Blutes der Beschneidung war so stark ausgeprägt, dass man meinte, dass selbst schon beschnittene Män( ner, die aber nicht orthodox jüdisch waren, im Falle des Proselytismus noch einmal „symbolisch“ beschnitten werden sollten; das Gleiche galt auch für die „beschnitten geborenen“ Kinder42. Außer ihres Opfercharakters bemerkt Daly, dass die Praxis der Beschneidung auch als größter Beweis des Gehor( sams gegenüber den Vorschriften verstanden wurde und die körperliche Beschneidung, da die Rettung immer mehr als Frucht des Einhaltens und der Erfüllung des Gesetzes vorgestellt wurde, unvermeidbar war43. Der Einfluss des rabbinischen Opferverständnisses der Beschneidung auf die christlichen Autoren ist ohne Zweifel anzunehmen. Origenes selbst, wie wir gesehen haben, nimmt genau diese Argumentation an, um die alt( testamentliche Praxis gegen Markions Vorwürfe zu verteidigen und gleich( zeitig zu beweisen, dass nach dem Opfer Christi diese Praxis nicht mehr nötig sei. Wir haben schon angedeutet, dass die Verbindung zwischen dem Blut der Beschneidung und dem Blut eines Erlösers (Isaaks oder des Pascha( lamms) ein typisch jüdisches Motiv ist. Es scheint mir aber schwer die These Dalys zu teilen, da er im Opferverständnis der jüdischen Auffassung schon implizit die Spiritualisierung der Praxis sieht und behauptet, dass die christ( liche Auffassung von geistiger Beschneidung direkt vom rabbinischen Den( ken beeinflusst sei. Das Opferverständnis der Observanz führt, wie wir bei

41 42 43

Vgl. Philo, somn 2.21. Vgl. GenRab XLVI.12 und Sifra Lev. XII.2, nach J. Winter, Sifra, Halachischer Midrash zu Leviticus, 324 325. Daly, 1978, 193: The idea of sacrificial atonement was not, of course, the central idea associ ated with circumcision throughout the history of Israel [...] The sacrificial meaning took root in haggadah some time before the hellenistic crisis and persecution under Antiochus Epiphanes. It must have been well established by that time, for all later developments seem to have been in the line of making law observance the essential element: i.e. the idea that redemption comes through observance of the law, through obedience rather than through the virtue of the rite performed under obdience. The ideas of sacrificial atonement associ ated with circumcision, therefore, were at least „in the air“ in NT times. Their presence in the Palestinian Targum would insure that practicing Jews had at least heard of them.

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Origenes sehen, zu einer typologischen Auslegung (die Beschneidung als Bild des Opfers Christi) und nicht zu moralischen Allegorien. Wenn wir nach jüdischen Modellen der „geistigen Beschneidung“ suchen, müssen wir uns auf das hellenistisch(jüdische Milieu und vor allem auf Philo konzent( rieren. Bei den Rabbinen ist eine solche Idee m.E. nicht nachweisbar. Wenn wir dazu die besondere religiöse Situation nach der Zerstörung des Tempels einbeziehen, die einerseits zu einer immer wachsenden Spiritualisierung des Kultes führt, andererseits aber die praktische Ausübung der noch möglichen Rituale absolut fordert, wird es auch klar warum eine Spiritualisierung der Beschneidung bei den Rabbinen nicht stattfinden konnte.

Heilskraft der Beschneidung Wenn wir später auf die rabbinische Polemik gegen die Allegorisierung der Beschneidung zu sprechen kommen, werden wir sehen, dass eines der Hauptmotive die Vorstellung ist, dass die ganze Schöpfung einer Verbesse( rung brauche. Das ist bezüglich der Vorwürfe der Heiden und einiger Chris( ten, dass Adam unbeschnitten geschaffen wurde, gesagt. Wenn wir aber auch andere Stellen in Midrasch einbeziehen, merken wir, dass diese Kon( zeption stark mit dem Verständnis der Sünde verbunden ist. (Zum Vers „Und ich werde Dich zu einer großen Nation machen“, Gen 12:2). R. Berekiah sagt: „Ich werde Dir geben“ oder „ich werde Dich aufsetzen“ ist nicht geschrieben, sondern „ich werde Dich ma( chen“, d.h. nachdem ich Dich als neue Schöpfung geschaffen habe, wirst Du fruchtbar sein und Dich vermehren44. Der Ausdruck „neue Schöpfung“ entspricht einer qualitativen Unterschei( dung zur „alten“ Schöpfung. Die neue Schöpfung erscheint als bessere und perfektere in Vergleich zur alten. Abraham erscheint so als der Gerechte, der im Gegensatz zum Sünder Adam steht. Es wird betont, dass es einen be( stimmten Wendepunkt gegeben habe, in dem Abraham zu einer neuen Schöpfung geworden sei und dies könne nur die Beschneidung sein. Erst nach diesem Wendepunkt (der Beschneidung) sei es ihm möglich geworden,

44

GenRab XXXIX.11: 1#+. 1"%"& 8$%(& "3$# ") 890$( $-$ ’!5 '"$ 8)"9$( 83!$ 1"5%& ´% %)$ .1&%( 1%, !$

176

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fruchtbar zu sein (wobei eine Fruchtbarkeit in der Gerechtigkeit gemeint ist). Dieses „neue Schöpfung sein“ betrifft nicht nur Abraham selbst, sondern auch seine Nachkommen. Also haben wir hier offensichtlich eine Theorie der Heils( und Erlösungskraft der Beschneidung. Die Beschneidung als Rettungsmittel ist zwar eine Gabe Gottes, welcher selbst entscheidet, Abraham zu einer „neuen Schöpfung“ zu machen, die aber dem menschlichen Willen entspricht: Abraham nahm es an, sich im hohen Alter zu beschneiden. Dies wurde nach den Rabbinen von Gott höher geschätzt als alle anderen Zeichen seiner Gerechtigkeit und seines Glau( bens45. Die Akzeptanz der Beschneidung bringt Abraham zur Vollkommenheit. Im Unterschied zur christlichen Exegese, die sich auf den Glauben und das Vertrauen Abrahams konzentriert, betonen die Rabbinen das körperliche, blutige Zeichen dieses Vertrauens, die Beschneidung46. Erst nachdem Abra( ham sie durchgeführt hat, wird er vollkommen gerecht und läuft vor Gott47. Die Tanhuma überliefert einen schönen Gleichnis, der die relative unvoll( kommene Gerechtigkeit Noahs und die vollkommene Gerechtigkeit Abra( hams verdeutlicht. Beide sind wie die Söhne eines Königs, der kleinere Sohn (Noah) läuft mit Gott48, da er nicht genug stark ist allein zu gehen, von Ab( raham aber wird gesagt, dass er nach der Beschneidung „vor Gott“49 (vor dem Angesicht Gottes) stand50. Durch die Beschneidung, die, wie wir gesehen haben, als Gnade und menschliches Verdienst gleichzeitig interpretiert wird, ist die ganze spätere Geschichte des Volkes geprägt. Die Beschneidung wird als Zeichen dafür dargestellt, dass die Israeliten die Gottheit Jahwes anerkannt haben und dass sie das verheißene Land betreten konnten51. Also werden durch die Be( schneidung die zwei Hauptkomponenten für die Rettung des Individuums und das Überleben des Volkes verwirklicht: der Glaube an den einen Gott

45 46 47 48 49 50 51

Vgl. GenRab XLVIII.5. Vgl. darüber auch Hoffman, 1996, 121. Vgl. Tanh. Lak Lak § 25, ( übers. Bietenhard) 84. Vgl. Gen 6:9 Noach war ein gerechter untadeliger Mann unter seinen Zeitgenossen; er ging seinen Weg mit Gott. Vgl. Gen 18:22. Vgl. Tanh. Lak Lak, 26. Vgl. GenRab XLVI.9.

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und das Land52. Die Akzeptanz der Beschneidung wird nach der Mekhilta auch als Verdienst gesehen, dank dem die Israeliten aus Ägypten auszogen53 und das Rote Meer überqueren konnten54, was in sich selbst ein Typos der finalen Rettung im Midrasch ist. Die Versprechen Gottes über die Nach( kommen Abrahams gelten dann nach den Rabbinen nicht nur für ihre Viel( zahl auf Erden, sondern auch für die (messianische) Zukunft55. Hier sollten wir bemerken, dass nach einigen rabbinischen Interpretationen auch in der zukünftigen (messianischen) Welt die Beschnittenen von den Unbeschnitte( nen unterschieden und bevorzugt sein werden, da die Beschneidung als Zoll für die Fahrt ins Jenseits interpretiert wird56. Abraham selbst wird dank der Beschneidung eine besondere Funktion am Eingang der Gehenna zuge( schrieben57. Ihm wurde die Tora offenbart58 und, wie die Rabbinen mehr( mals betonen, der Tempel in all seinen Phasen (gebaut, zerstört und in mes( sianischer Zeit wiederaufgebaut) gezeigt59. So schließen die Rabbinen alle Elemente einer soteriologischen Lehre in die Interpretation der Beschnei( dung ein, ein Aspekt, der, zusammen mit der Opfervorstellung, in Genesis Rabba besonders wichtig ist. Was die Frage nach der göttlichen Ökonomie betrifft (dass die Beschneidung nicht allen Völkern gegeben worden ist, bzw. die Rettungshoffnungen dieser Völker sehr gering seien), ist zu bemerken, dass die Rabbinen eine Mission nicht ausschließen. Abraham wird nicht nur

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53 54

55 56 57 58 59

Zahlreich sind die Beispiele, die von einer wichtigen Rolle des verheißenen Landes in eschatologischer Perspektive sprechen, vor allem was die Auferstehung der Toten betrifft; u.a. wird vermutet, dass die in Eretz Israel begrabenen Toten, als erste auferweckt werden. Vgl. Mekhilta, Pisha, XVI, Lauterbach, Bd. I, 140 141: R. Yohai sagt: Dank ihrer Observanz des Ritus der Beschneidung brachte Gott die Israeliten aus Ägypten heraus. Mekhilta, Beshallah, IV, Lauterbach, Bd. III, 218: R. Simeon aus Timna (Teman) sagte: Durch das Verdienst der Beschneidung (sprach Gott) will ich für sie das Meer spalten, wie es heißt: Wenn nicht mein Bund wäre bei Tag und Nacht, hätte ich die Gesetze des Him mels und der Erde nicht gegeben (Jer 33:25). Geh und sieh, welcher der Bund ist, der Tag und Nacht regelt: Du findest nichts, außer den Gebot der Beschneidung. Darüber Blaschke, 1998, 273 f. Vgl. GenRab XLVIII.10. NumRab II.24, vgl. Blaschke, 279. Vgl. GenRab XLVIII.10. Vgl. GenRab XLIX.2 (die Interpretation ist unter dem Namen der „Rabbinen“ überliefert, sehr wahrscheinlich ist sie cäsareanischen Ursprungs). Vgl. GenRab LIX.6.

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Kapitel 5

als Vorbild des Proselyten, sondern auch, zusammen mit seiner Frau, als Prototyp des Missionars dargestellt60.

Rabbinische Polemik gegen die Allegorisierung der Beschneidung Bezüglich der Beschneidung des Herzens und des Ohrs (Deut 10:16; Jer 4:4), die von Origenes als sicherer alttestamentlicher Hinweis auf die Absurdität der körperlichen Beschneidung und auf die Notwendigkeit der Allegorisie( rung dieser Praxis verstanden wurde, wird im Midrasch gesagt, dass diese den Menschen untauglich für den Opferkult machen würde61. Wir haben den Eindruck, dass die rabbinische Erklärung, durch die Ablehnung der allegorischen Interpretation dieser Stelle, den biblischen Text als absurd darstellen möchte. In Wahrheit will R. Akiva, wie Niehoff62 zeigt, nur bewei( sen, dass eine solche Beschneidung für Abraham sinnlos gewesen wäre, da er nachher keine Opfer mehr hätte bringen können. Der Rabbi interessiert sich nicht weiter für die allgemeine Bedeutung des Textes. Sein Ziel ist es, zu erklären, warum bezüglich Abrahams nicht von der Beschneidung des Her( zens gesprochen wurde. Es ist ein unbestrittenes Faktum, dass die Rabbinen den „somatischen“ Charakter der Beschneidung sehr stark betonen. So wie Origenes sich be( müht, einen „doppelten“ physischen und geistigen Charakter der Praxis abzulehnen (wobei seine Sorge hauptsächlich die Judenchristen sind), stellen die Rabbinen die physische Beschneidung als absolute Bedingung für die Zugehörigkeit zum Volk Gottes und für die Rettung des einzelnen dar. Wenn sie von missionarischen Taten der Patriarchen oder Moses sprechen, wird immer wieder die Einführung der Beschneidung bei den konvertierten Heiden betont. Die physische Beschneidung ist Grund für „physische“ Wunder: Wenn( gleich in fortgeschrittenem Alter, wurde Abraham nach der Beschneidung wieder jung und erhielt besondere Zeugungskraft63. Trotz der Ablehnung jeder allegorischen oder moralischen Interpretati( on der Beschneidung, ist es nicht zu übersehen, dass die Rabbinen doch eine

60 61 62 63

GenRab XXXIX.16. GenRab XLVI.5, 462; der gleiche Motiv über die Beschneidung des Ohres begegnet auch in LevRab XXV.6. M. Niehoff, Circumcision as a Marker of Identity, JSQ (10/ 2003, n.2), 89 113. Vgl. GenRab XLVIII.16.

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Verbindung zwischen körperlicher Beschneidung, moralischer (sexueller) Gerechtigkeit und Zeugungskraft annehmen. Ob dies eine Reminiszenz der philonischen Auslegung (welche die Beschneidung als eine Art Mortifikati( on der Lüste versteht und auch von „physiologischen“ Vorteilen bei der Zeugung spricht)64 oder einfach eine logische Folge des rabbinischen Ver( ständnisses von Sünde und Gerechtigkeit ist, lässt sich schwer sagen. Tatsa( che ist, dass die beiden großen Sünden, die man im Alten Testament identi( fizieren kann, die Idolatrie und die sexuellen Vergehen sind. Wir erinnern uns auch an die rabbinische Interpretation der Schöpfung und der Sünde des ersten Menschen, bei der das Vergehen des Ungehorsams mit der Aus( übung der Sexualität verbunden war. Dies alles kann in einem logischen Zusammenhang zur Annahme eines moralischen Aspekts der körperlichen Beschneidung beigetragen haben.

Verteidigung der körperlichen Beschneidung als eines nationalen und religiösen Identitätszeichens Die besondere Betonung der körperlichen Beschneidung kann dadurch er( klärt werden, dass die Beschneidung eines der wenigen Rituale und Vor( schriften war, deren Ausübung auch nach dem Ende des Tempelkultes mög( lich blieb und so als religiöses und nationales Identitätszeichen besonders wertvoll wurde. In der Tat, von den drei möglichen Opfern (Paschalamm, Tempelopfern und Beschneidung), womit die religiöse Zugehörigkeit be( wiesen wird und wodurch Erlösung erwartet wird, bleibt nur die Beschnei( dung möglich65. M. Niehoff vermutet auch, dass diese so starke Betonung der Rolle der fleischlichen Beschneidung wahrscheinlich eine Antwort auf pagane und christliche Angriffe war, welche darauf zielten, die fleischliche Praxis als dumm und unwürdig darzustellen. Es ist allerdings sicher, dass der Opferkult während der Existenz des Tempels eine unbestrittene Priorität und Zentralität in der jüdischen religiösen Praxis hatte66. Die Beschneidung wurde zwar praktiziert, ihre liturgische „Kanonisierung“ aber geschah zu

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Vgl. die schon zitierte Stelle aus spec 1.1 12. Mekhilta, Pisha, V, Lauterbach, Bd. I, 33 34. Darüber siehe auch Hoffman, 113, der von der Ersetzung der blutigen Opferpraktiken durch die Beschneidung spricht. Vgl. Niehoff, 2003.

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einem späteren Zeitpunkt, nach der Zerstörung des Tempels67. Natürlich kam dazu die Konkurrenz von christlicher Seite mit der Alternative einer „moralischen“ Beschneidung, gleichzusetzen mit sexueller Keuschheit und Abstinenz. Diese Interpretationslinie stammte, wie wir schon bemerkt ha( ben, von Philo, dessen Ziel aber nicht die Ersetzung der fleischlichen Be( schneidung, sondern ihre akzeptable Erklärung war. Paulus führt dann die „asketische“, „geistige“ Dimension der Beschneidung als einzig würdig und wichtig ein, die im Gegensatz zur rabbinischen „Inkorporalisierung“ steht68. Origenes prägte dann das Konzept, dass die christliche Beschneidung nicht nur eine Substitution der alttestamentlichen körperlichen Praxis wäre, son( dern die einzig von Gott gewollte. Die Tatsache, dass sie auf das Fleisch geprägt sein musste, bedeutete nach Origenes eine tugendhafte Haltung. Dies alles gab den Rabbinen genügend Gründe, eine besonders harte Position gegenüber der Frage einzunehmen, die jeden möglichen Kompro( miss mit der origenianischen bzw. christlichen Lehre als unmöglich darstell( te.

Das Problem der Schöpfung ohne Beschneidung Zu klären bleibt die Frage, warum, wenn die Beschneidung so wichtig war, sie nicht schon Adam gegeben worden war. In Genesis Rabba ist es Abraham selbst, der die Frage stellt. Im fiktiven Dialog mit Gott beruft sich die Ant( wort auf die göttlichen Beschlüsse, die nicht durchdringbar sind: Und [Abraham] sagte: Wenn die Beschneidung so wertvoll ist, wa( rum wurde sie nicht dem ersten Menschen gegeben? Der Heilige, gepriesen sei er, sagte zu ihm: Abraham, es soll dir genügen, dass ich und Du in der Welt sind. Wenn Du die Beschneidung nicht an( nimmst, ist es [soweit] für meine Welt genug und es ist auch für die Vorhaut genug und es ist genug für die Beschneidung, dass sie bis jetzt etwas Abschreckendes war. [Abraham] sagte: Bevor ich mich beschnitten hatte, kamen andere Menschen und schlossen sich mir

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Vgl. Hoffman, 49 62, besonders 49 50. Ibid. 124 spricht der Autor von der Formel „ma’asim tovim“ beim Ritus der Beschneidung und versteht sie als Hinweis auf die fehlenden ande ren Kulten (Paschalamm und Tempelopfer), welche durch gute Taten ersetzt wurden. Vgl. D. Boyarin, This we Know to Be the Carnal Israel, Circumcision and the Erotic Life of God and Israel, Critical Inquiry 18 (Spring, 1992), 474 505.

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an. Werden sie kommen, nachdem ich beschnitten bin? Der Heilige, gepriesen sei er, sagte zu ihm: Abraham, es soll Dir genügen, dass ich Dein Gott bin, es soll Dir genügen, dass ich Dein Schutzherr bin, und nicht nur Dir, sondern es sei auch genügend für meine Welt, dass ich ihr Gott und ihr Schutzherr ((3(%7,) bin69. In diesem Dialog zwischen Gott und Abraham wird zuerst der geheimnis( volle Charakter der Gabe der Beschneidung betont: Sie ist eine freiwillige Gnade Gottes, der selbst entscheidet, zu welchem Zeitpunkt er sie gibt. Dann wird auf die Sorge Abrahams geantwortet, dass die neue Vorschrift die Zahl der Proselyten mindern würde. Auch hier wird mit der Vorsehung Gottes argumentiert. Abraham sollte sich nicht darum kümmern. Die Mei( nung, welche die Rabbinen bekämpfen wollen, die Beschneidung verhindere die Konversion der Heiden, stammt nicht aus dem orthodoxen christlichen Milieu, sondern ist wahrscheinlich auf Markion zurückzuführen. Origenes selbst berichtet über die Argumente Markions70, der die Beschneidung als Hindernis für die Verbreitung des Glaubens sah und jede Allegorisierung der Vorschrift ablehnte. Ähnlich sind die Argumente, welche ein Philosoph, auf den wir gleich näher eingehen werden, R. Hoshaya, bezüglich der Sinnlosigkeit der Be( schneidung vorbringt: Auch er beginnt mit dem Problem des ersten unbeschnittenen Menschen und der Frage, warum ihm die Beschneidung nicht gegeben wurde, d.h. warum er nicht schon beschnitten geschaffen wurde. R. Hoshaya versucht durch mehrere, oft absurde Argumente, die Veränderungen des Körpers und die notwendige Pflege zu belegen (die Haare wachsen und müssen geschnitten werden etc.). Am Ende schließt er, dass alles, was in den sechs Tagen geschaffen wurde, einer weiteren Verbes( serung und sogar einer Beendung bedürfe: zu dieser „Endversion des Man( nes“ gehört auch die Beschneidung71. Es ist offensichtlich, dass er mit der

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70 71

GenRab XLVI.3: $(1 8(%& #(+41 (- %)$ '(#$%1 /+$- 13!"3 $- 1)- 1-")1 1&"&1 /$ :%)$ '$5 +0 1-%0- 1""+( '$5 +0 ")-(0- ("+ ,-()- 8"-0 -&4) 83"$ /$ ,/-(0& 1!$( "3$ 8""+ /1%&$ "- '"*(+;)( /"$& "!-)#) %)$! ,"- /"*(+;)( /"$& ("1 "!-) $-# +0 :%)$ ,'$5 +0 1)(*0 $1!# 1-")- 1""+( ("+ ,(1-$ "3$# ")-0- ("+ $-$ 8)20- 8- $-( :83(%7, "3$# 8"+ ,8"1-$ "3$# 8""+ /1%&$ 1""&41 (- %)$ .(3(%7, "3$# ")-(0Vgl. comm. in Rom. 2.13,27, (Bammel II). GenRab XI.6: %)$ 1"0#(1 "% !$ -$# +.$ 6(,(6(-",

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These seines Opponenten, der hier allgemein „Philosoph“ genannt wird, vertraut ist und er versucht mit der Technik des Opponenten seine Argu( mente ad absurdum zu führen. Niehoff72 vermutet auf der Spur anderer Forscher, dass es sich um einen christlichen Philosophen handeln könnte, und schlägt als möglichen Kandidaten Justin oder sogar (indirekt) Origenes vor, wobei ersterer in seinem Dialog (19.4) genau von der Schöpfung Adams (als unbeschnittenen Mannes) ausgehend die Sinnlosigkeit der Beschnei( dung begründet. Ohne Zweifel sind beide Argumentationen sehr ähnlich. Es ist aber zu bemerken, dass die translitterierte Bezeichnung 6(,(6(-", auch an anderen Stellen in Genesis Rabba vorkommt, z.B. bezüglich der Schöpfung aus dem Nichts73, wo es sich ausdrücklich um eine Polemik gegen pagane Philosophen handelt. Im Falle einer antichristlichen (oder antihäretischen) Polemik nennen die Rabbinen74 ihre Opponenten eher „/"3)“ oder (spezifisch für die Christen) /"%6(375. Hirshman76, von M. Niehoff selbst erwähnt, aber nicht genügend beachtet, meint, dass der Philosoph nicht unbedingt ein Christ sein müsse. Wir können feststellen, dass der Rabbi in seiner Antwort Philo sehr eng folgt. Die philonische Argumentation ist ihrerseits für die paganen Opponenten sehr geeignet. Sehr wichtig ist die Abschlußbehaup( tung über die notwendige Verbesserung der Schöpfung. Origenes referiert die Ironie über eine mögliche Verbesserung der Schöpfung als einen der Vorwürfe, welche Heiden und Markioniten den Juden machten77. Die Be(

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/+$- 13!3 $- 1) "3,) 1-")1 1&"&1 /$ (.-*) #"$1 (!($ 1) "3,) '5 /$ (- %)$ ,'(#$%1 ,!(7#& ")0 -+*# "3,) (- %)$ (*4; ."3)( ,(#$% !$, ,("+" !$ 074"( (3"0 #"$1 (!($ $)6" '5 /$ (- %)$ 1"- %)$ ,$1)!$ '3"!$ 1""-) '"-$-( 1"- %)$ ")" !##& $%&3# 1) -& $-$ %#,$ "$ 4-. 8$"2(1,4!)- 8"%2 -+%.1 '(*5 1""#0 '"5"%2 !"#$%& .'(4"! 8"%2 %)$ (-",$ ,'.7"1- /"5"%2 /"7.1 4!)- 8"%2 /()(!1 Vgl. Niehoff, 2003, 25. Niehoff zitiert auch M. Friedländer, Patristische und talmudische Studien, Wien, 1878, 96 99, K. Hruby, Exégèse rabbinique et egégèse patristique, Rev. Sc.Rel. 47 (1973), 348 50, N. De Lange, Origen and the Jews, Cambridge 1976, 92. Vgl. GenRab I.9. Vgl. die Verfluchung der Christen bBer 28a 29a oder jBer 4, 3 (8a). Über die unterschiedlichen Gruppen, welche in den rabbinischen Schriften mit /"3) ge meint sind, siehe Simon, 1948, 214 238. M. Hirshman, Polemic Literary Units in the Classical Midrashim and Justin Martyr’s “Dialogue with Trypho“, in JQR 83 (1993 3/4), 369 384, besonders 382 383. Vgl. comm. in Rom. 2.13,27, (Bammel II).

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hauptung, die Schöpfung brauche Verbesserung, könnte aber meiner Mei( nung nach schwer für eine antichristliche und noch weniger für eine anti( markionitische Polemik verwendet werden, da sie zwangsläufig die Vorstel( lung einer Unvollkommenheit der Schöpfung, bzw. eines Mangels des Schöpfers impliziert. Markion konnte ohne Zweifel die gleiche Frage stellen, die Antwort von R. Hoshaya wäre aber anders gewesen. Also denke ich, dass es sich hier um antiheidnische Polemik handelt. Es ist sehr wahrschein( lich, dass Justin bekannte Topoi der heidnischen Polemik gegen die jüdische Beschneidung aufgenommen hat, indem er die Frage nach der fehlenden Beschneidung bei Adam stellte. Im ersten Fall einer Polemik gegen einen “Philosophen” in Genesis Rabba haben wir aufgrund der Thematik (Schöp( fung aus dem Nichts) vermutet, dass es sich um eine Imitation christlicher Modelle der Polemik gegen Platoniker handelt. In diesem Fall, bezüglich der Beschneidung, glaube ich dagegen, dass es sich um eine ältere jüdisch( heidnische Polemik handelt, die später auch in die jüdisch(christliche Ausei( nandersetzung übernommen wurde. Es ist uns ein weiterer Text zur Frage überliefert, warum der Mensch nicht beschnitten geschaffen worden ist, und in diesem Fall ist sogar der Name des Fragenden bekannt: der Römer Tinei( us Rufus (seit 132 Statthalter in Judäa78). Die Antwort kommt dieses Mal von R. Akiba, der, ähnlich wie im Falle des Philosophen, durch Analogien mit den natürlichen Veränderungen und der Pflege des menschlichen Körpers die Frage als sinnlos darstellt79. Diesmal folgt nicht der Schluss, jedes Ge( schöpf brauche Verbesserung, aber der Hintergrundgedanke ist doch: jeder Mensch bedarf nach der Geburt einer Verbesserung. Auch die Situation des inszenierten Dialogs ist sehr deutlich: Es handelt sich um einen hochrangi( gen Römer und einen der bekanntesten palästinischen Rabbinen. Über die Urheberschaft und die Authentizität der in den rabbinischen Texten überlie( ferten Auslegungen haben wir schon mehrmals Skepsis ausgedrückt. Es ist hochwahrscheinlich anzunehmen, dass dieser Dialog als eine Art Topos der heidnisch(jüdischen Auseinandersetzung über die Beschneidung diente. Durch die Identifizierung der Protagonisten mit zwei bekannten Persönlich( keiten erzielte man sicherlich eine größere Wirkung. Die nächste logische Frage ist, wenn die Beschneidung nicht bereits in der Schöpfung berücksichtig wurde, warum sie nicht mindestens im Deka(

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Blaschke, 1998, 283. Vgl. TanB, 7, Blaschke, 283 4.

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log eingeschlossen ist. Diese provokative Frage kommt dieses Mal vom Kö( nig Agrippa II. Damit befinden wir uns zwar nicht im heidnischen Milieu, aber in der Umgebung der hellenisierten Juden. R. Eliezer, der von König Agrippa herausgefordert wird, erklärt die Unvergänglichkeit des Beschnei( dungsgebots anhand von Jer 33:2580. Wir finden also bei den Rabbinen eine sehr detaillierte Polemik zur Verteidigung der Beschneidung, die hauptsäch( lich gegen heidnische Opponenten oder hellenisierte Juden eingesetzt wird. Wahrscheinlich hatte diese Polemik, wie auch von M. Niehoff81 und S.C. Mimouni82 vermutet wurde, das Ziel, nicht nur die Heiden, sondern auch das eigene Publikum von der Notwendigkeit der Beschneidung zu überzeu( gen. Das war sozusagen auch eine innenjüdische Frage. Es ist bekannt, dass das hellenisierte Judentum nicht sehr rücksichtsvoll mit der Praxis umging, was oft durch die staatlichen Verbote der offiziellen Gesetzgebung provo( ziert wurde.

Zusammenfassung Zusammenfassend können wir feststellen, dass zwei analoge Prozesse auf jüdischer und christlicher Seite im Gange sind. Der eine konzentriert sich auf die immer weitergehende Betonung der körperlichen Beschneidung als jüdisches Identitätszeichen. Der andere Prozess, der auf christlicher Seite stattfindet und bei Origenes gut nachgewiesen ist, konzentriert sich auf die allegorisch(moralische Auslegung der Beschneidung und zielt darauf, die „geistige“ Beschneidung als typisch christliches Identitätszeichen darzustel( len. Die eventuelle Praktizierung der körperlichen Beschneidung bedeutet, auch wenn der christliche Glaube angenommen wurde, eine Abtrennung von der christlichen Gemeinde und eine Unvollkommenheit des Glaubens. Dies ist der Fall der Ebioniten und aller anderen Judenchristen oder judai( sierten Christen. Die massive Polemik des Origenes in der dritten Homilie zur Genesis, aber auch an anderen Stellen, lässt vermuten, dass solche Gruppen oder Tendenzen auch in Cäsarea bestanden. Die Frage nach dem

80 81 82

Tanh. Lak, lak, 20b nach Strack und P. Billerbeck, Kommentar zum neuen Testament aus Tal mud und Midrasch, Bd. II, 769, kommentiert von Blaschke, 281 283. Siehe, Niehoff, 2003. Vgl. S.C. Mimouni, La circoncision dans le monde judéen aux époques grecque et romaine, Histoire d’un conflit interne au judaïsme, Paris 2007.

Beschneidung

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geistigen Charakter der Beschneidung ist aber viel breiter, da sie die ganze Problematik des geistigen Verständnisses der alttestamentlichen Vorschrif( ten einschließt und auch die Problematik der Beziehung der unkörperlichen und unsichtbaren göttlichen Natur zur materiellen Welt impliziert. Dies war auch der Schwerpunkt der Angriffe paganer Philosophen oderheterodoxer Christen, welche darauf zielten, das ganze alttestamentliche Gesetzessystem als unwürdig darzustellen. Gegen sie richtet sich auch die origenianische Verteidigung der Allmacht Gottes. Von rabbinischer Seite gab es auch Ver( suche, diese Vorwürfe zu entkräften, welche sich aber auf den Willen Gottes beriefen, d.h. sie stellten die Einführung der körperlichen Beschneidung als freien Akt des Willens Gottes dar. Daran anknüpfend polemisierten die Rabbinen gegen jede Allegorisierung der Praxis, auch wenn, wie oben ge( zeigt wurde, einige Aspekte dieser Allegorisierung (Keuschheit) ihnen auch nicht fremd waren. Die Problematik der Beschneidung erscheint so als be( sonders wichtig und delikat für den christlichen Exeget. Zwischen der kom( promisslosen Praktizierung (eines der wenigen verbleibende Rituale nach dem Jahre 70) durch die Juden und einen Teil der eigenen christlichen Mit( brüder und arroganter Ablehnung der Beschneidung und aller anderen Vorschriften durch Heiden und heterodoxe Gruppen war er gezwungen seine eigene Position klar und sicher festzulegen und sie zur einzig akzep( tablen für die orthodoxe christliche Gemeinde zu erklären.

Kapitel 6. Die Opferung / die Bindung Isaaks Historische Entwicklung der Rolle Isaaks im jüdischen Denken Das zweite Thema aus der Abraham(Geschichte, mit dem wir uns befassen werden, ist die Auslegung des Opfers Isaaks. Die Bedeutung dieses Opfers ist ein Thema, das im Judentum sehr oft behandelt wurde. Vom einfachen Akt des Gehorsams Abrahams gegenüber dem göttlichen Befehl seinen Sohn zu opfern entwickelt sich die Vorstellung eines bewussten „Selbstopfers“ Isaaks, das eine enorme Erlösungskraft hat. Der Tod wird traditionellerwei( se als unrein interpretiert. Die Idee vom Martyrium als Vorteil für das Volk entwickelt sich relativ spät. Nach Daly1 kristallisiert sich diese Vorstellung erst im vierten Makkabäerbuch heraus. Bei Philo und Josephus ist sie schon ein Topos. Die Idee also, dass sich jemand selbst als Erlöser hingeben könne, was in der rabbinischen Isaak Exegese weit verbreitet ist, entstand so in der zwischentestamentarischen Zeit. Zwei Elemente spielen hier eine entschei( dende Rolle – die Erlösungskraft des Opfers und die rabbinische Doktrin der Verdienste2, nach der es möglich ist, die Verdienste einer Person auf ihre Nachkommen zu übertragen. Die Zentralität und die Bedeutung Isaaks waren den jüdischen Exegeten auch in vorchristlicher Zeit gut bekannt. Es entwickeln sich aber in den ers( ten Jahrhunderten n. Chr. bestimmte Charakteristika, die nicht als zufällig betrachtet werden können. Isaak wird eine immer größere Rettungsfunktion zugeschrieben. Sie ist von seiner allgemeinen Gerechtigkeit, aber vor allem von seinem Opfer abgeleitet. Sein Opfer wird als freiwilliger und bewusster Akt interpretiert. Diese beiden Komponenten sind auf keinem Fall aus dem biblischen Text zu begründen. Wer die Aqeda liest, denkt natürlich an die Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn zu opfern, aber nicht an die Freiwillig( keit Isaaks zum Selbstopfer. Um das Opferbewusstsein und den freien Wil( len Isaaks zu betonen, fügen die Rabbinen hinzu, dass der Sohn Abrahams schon gut 36 Jahre alt war und nicht gegen den eigenen Willen gebunden werden konnte3.

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Vgl. Daly, 1978, 120 127. Vgl. Marmorstein, 1920, 4, 95. Vgl. GenRab LVI.7.

Die Opferung / die Bindung Isaks

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Obwohl kein Messias(Typos, wird Isaak im Midrasch als Erlöser darge( stellt. Diese Funktion ist ausschließlich mit seinem Opfer verbunden. Es werden zuerst die Freiwilligkeit der Bereitschaft zum Selbstopfer oder der Gehorsam Abrahams als Verdienste betont. Dann verstärkt sich die Vorstel( lung, nur ein Blutopfer könne wirklich erlösen. Also sprechen die Rabbinen immer öfters von der tatsächlichen Verwirklichung des Opfers und von der Auferstehung Isaaks. Wenn in früheren palästinisch(jüdischen Texten, wie dem Jubiläenbuch oder dem Targum4, vor allem der Gehorsam Abrahams betont wurde und das Opfer Isaaks hauptsächlich als Probe der Abrahams Treue verstanden wurde, ist in der rabbinischen Literatur eine Versetzung des Akzentes auf die Erlösungsrolle des Opfers festzustellen. Die Frage, ob diese Entwicklung des Verständnisses des Opfers Isaaks unter christlichem Einfluss (als Anpas( sung an das Modell der Leiden und des Todes Christi) oder unabhängig davon und sogar in vorchristlicher Zeit stattgefunden habe, ist Thema meh( rerer bekannter Untersuchungen gewesen. Geiger5 hat einen christlichen Einfluss auf die rabbinische Isaak Auslegung vermutet. Lévy6 hat später, aufgrund der Interpretation der Texte zum Rosch Hashana Fest, den chrono( logischen Primat der jüdischen Erlösungslehre bezüglich Isaaks behauptet. Vermes7 hat die verschiedenen Interpretationsebenen der Aqeda, ihre Ver( bindung mit den Tempelopfern und mit dem Rosch Haschana Fest unter( sucht und daraus beschlossen, dass die neutestamentliche Erlösungslehre nichts anderes als eine christianisierte Variante der jüdischen Aqeda Ausle( gung sei. Eine Abhängigkeit der christlichen Exegeten (vor allem Paulus) von der rabbinischen Isaak Auslegung sieht auch Daly8 und zum Teil Le Déaut9. Wir werden später bemerken können, dass die Schwerpunkte dieser

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Targum Ps. J. zu Gen 22, wo der Engel Mastemah eine wichtige Rolle spielt. Unter seiner Empfehlung entscheidet Gott die Treue Abrahams durch das befohlene Opfer seines Soh nes zu prüfen. A. Geiger, Erbsünde und Versöhnungstod: Deren Versuch in das Judenthums einzudringen, in Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 10 (1872) 166 171. I. Lévy, Le sacrifice d’Isaac et la mort de Jésus, REJ 64, Paris 1912, 161 184. G. Vermes, Redemption and Genesis XXII, The rabbinic Binding of Isaac and the Sacrifice of Jesus, in G. Vermes (Hg.), Scripture and Tradition in Judaism, Haggadic Studies, Leiden 1961, 193 227. Vgl., Daly, 1978, 178 180. Vgl. R. Le Déaut, La Nuit Pascale, essai sur la signification de la Pâque juive à partir du Targum d’Exode XII, 42, Rome 1963, 202. J.E. Wood, Isaac Typology in the New Testament, NTS 14 (1968), 583 594; N.A. Dahl, The Atonement An Adequate Reward for the Aqedah?, in E.E. Ellis

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Kapitel 6

Untersuchungen, trotz gemeinsamer Thematik sich als unterschiedlich er( weisen. Während die Erlösungskraft der Tat Isaaks im jüdischen vorchristli( chen Denken eine unumstrittene These ist, ist die Unabhängigkeit vieler Details dieser Doktrin von der christlichen Auslegung schwer zu beweisen. Das erste Problem ist die Chronologie der schriftlichen Zeugnisse, welche bestimmte Auslegungen überliefern und welche zum größten Teil in den ersten Jahrhunderten n. Chr. verfasst wurden. Das zweite Problem ist die besondere historische Situation des Judentums nach dem Jahre 70 n. Chr., die zur Spiritualisierung des Opferverständnisses und zur Betonung der Erlösungsbedeutung des Opfers Isaaks führte, das als Ersatz für den fehlen( den Opferkult angenommen wurde. Es existieren also einerseits der poten( tielle Einfluss der christlichen Exegese und andererseits eine innere beson( dere Entwicklung des jüdischen Denkens. Von hier ergibt sich die Komple( xität der Frage. Die Tatsache, dass so viele und prominente Forscher sich ausführlich mit der Problematik beschäftigt haben, zeigt die Bedeutung des Themas. Wir müssen hier gleich betonen, dass es weder unseren Möglich( keiten entspricht, noch unser Ziel ist, die Frage der jüdischen und der christ( lichen Exegese der Aqeda im Detail zu untersuchen. Aus dieser kurzen Ein( leitung wird deutlich, dass unsere Analyse sich an bestimmten Motiven und ausgewählten Themen orientiert, welche sich für einen Vergleich zur orige( nianischen Exegese gut anbieten und welche einige Grundlinien des jüdi( schen und des christlichen Denkens bezüglich des Opfers Isaaks in den ers( ten Jahrhunderten n. Chr. schildern. In diesem Sinne ist unsere Analyse sehr selektiv und beansprucht nicht, repräsentativ für die rabbinische und orige( nianische Exegese des Opfers Isaaks an sich zu sein. Dies wäre auch wenig originell. Die Aqeda ist ein Thema, das Gegenstand mehrerer detaillierter Untersuchungen gewesen ist. Wir weisen gerne auf die Studie von Kundert10 und Lerch11 hin, die an mehreren Punkten dieser Analyse konsultiert wur( den.

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/ M. Wilcox (Hg.), Neotestamentica and Semitica, Edinburgh 1969, 15 29; P.R. Davis, Passover and the Dating of the Aqedah, JJS 30 (1979), 59 67. C.T.R. Hayyward, The Present State of Re search into the Targumic Account of the Sacrifice of Isaac, JJS, 32 (1981), 127 150; ders. The sacri fice of Isaac and Jewish Polemic against Christianity, CBQ 52 (1990), 292 306. L. Kundert, Die Opferung/Bindung Isaaks, Neukirchen Vluyn 1998. D. Lerch, Isaaks Opferung christlich gedeutet, Tübingen 1950.

Die Opferung / die Bindung Isaks

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Charakteristiken der rabbinischen Isaak Exegese Freiwilligkeit des Opfers Die Freiwilligkeit des Opfers Isaaks ist bereits im vierten Makkabäerbuch12 angedeutet, in dem behauptet wird, Isaak habe sich für das Schicksal seiner Nachkommen zum Opfer angeboten. Das Thema der Bereitschaft Isaaks, sich selbst zu opfern, ist in den Midraschim oft vertreten. Das reife Alter Isaaks zum Zeitpunkt seines Op( fers (36 oder 33 Jahre) lässt die Rabbinen vermuten, dass seine Bindung nicht gegen seinen Willen geschehen konnte. Nach anderen Auslegungen gingen Abraham und Isaak zum Berg Moria mit dem klaren Verständnis dessen, was ihr Ziel war ( der eine, um zu opfern, der andere, um geopfert zu wer( den13. Es wird sogar ein Dialog zwischen Isaak und Ismael inszeniert, wobei sich beide streiten, wer von ihnen von Gott mehr geliebt würde. Ismael er( wähnt seine Beschneidung im dreizehnten Lebensjahr und behauptet, er habe sie freiwillig akzeptiert, während Isaak am achten Tag beschnitten wurde bzw. dies nicht nach seinem freien Willen geschehen sei. Wir haben schon vom Opfercharakter der Beschneidung gesprochen. Wenn Ismael behauptet, er hätte diese gewollt und freiwillig akzeptiert, ist das als Freiwil( ligkeit zum Opfern zu verstehen. Die in diesem Sinne einzig mögliche Ant( wort Isaaks ist, dass er selbst zum Gleichen bereit wäre14. Da er aber bereits beschnitten ist, bleibt ihm als Alternative ein vollständiges Selbstopfer. Wichtig zu bemerken sind die Verbindung von Beschneidung und Isaak( sopfer und schließlich die Idee einer Erlösungskraft des Opfers und des Vermittlers (Isaak). Isaak ist also bereit, sich als Zeichen seines Glaubens zu opfern. Also werden die Bereitschaft und die Freiwilligkeit als besondere Voraussetzun( gen für die Erlösungskraft des Opfers dargestellt.

12 13 14 14

4Mac. 12:13. Vgl. GenRab LVI.3. Vgl. GenRab LV.4. Vgl. Marmorstein, 1920, 95.

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Erlösungskraft des Opfers Wir haben schon am Anfang angedeutet, dass sich die Idee eines Vermitt( lers, der sich als Erlöser opfert, im Judentum recht spät entwickelt hat. Nach den Forschern, die sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt haben15, befindet sich die erste Spur eines „Märtyrertodes“ als Erlösung für die zu( künftigen Generationen, wie bereits erwähnt, im vierten Makkabäerbuch16. Die Stelle gibt als Beispiel des Martyriums gerade die freiwillige Entschei( dung Isaaks, sich zu opfern. Es wird aber auch hinzugefügt, dass er dies für die Gerechtigkeit der zukünftigen Generationen tat. Eine ähnliche Verbin( dung zwischen der Zustimmung Isaaks geopfert zu werden und der Erlö( sungskraft seines Opfers für seine Kinder finden wir an einigen Targumstel( len17. Wir müssen auch bemerken, dass die Idee von der Erlösungskraft eines Opfers selbst langsam an Bedeutung gewinnt, so dass in der zwischen( und neutestamentlichen Zeit fast allen Opfern ein Erlösungscharakter zuge( schrieben wird18. Nach dem Ende des jüdischen Opferkultes und der Ent( wicklung der christlichen Theologie von seiner Aufhebung durch das Selbstopfer Christi am Kreuze entwickeln auch die Rabbinen eine besondere Empfindlichkeit für die Erlösung durch einen auserwählten Gerechten, die auch für die folgenden Generationen von Vorteil sein könne. Als eine solche Figur bietet sich ausgezeichnet Isaak an19. Man muss aber betonen, dass diese Erlösungskraft nicht absolut ist, d.h. alle weiteren Formen von Bußop( fern sollten, wenn möglich, ebenso praktiziert werden. Genau wie die christlichen Autoren versuchen, die Kulmination der Heils( geschichte im Selbstopfer Jesu darzustellen, tun dies auch die Rabbinen im Bezug auf Isaak. Der Tat Isaaks wird eine Erlösungsfunktion zugeschrieben, eine Erlösung, die nicht nur die Vergehen der vorherigen Generationen, sondern auch die zukünftigen Sünden Israels miteinbezieht. Dank Isaaks Opfer vergibt Gott seinem Volk nach der Idolatrie am Fuße des Sinai. Dank Isaaks Verdiensten rettet Gott Israel immer wieder von den feindlichen

15 16 17 18 19

Vgl. z.B. Vermes, 1961, 198. Vgl. 4Mac 13:12. Vgl. Übersetzung von Vermes, 1961, 194 196. Vgl. Young, 1979, 39 40. Vgl. Vermes, 1961, 210, der bemerkt, dass die Gebete, welche nach dem Ende des Opferkul tes im Jahre 70 n.Chr. die fehlende Opferungen ersetzen mussten, explizit die Aqeda er wähnten.

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Herrschaften20. Die Verfolgungen selbst wurden durch den Widder im Busch symbolisiert21. Als Folge der Tat wurde Abraham und Isaak das Schicksal des Tempels in all seinen Phasen (gebaut, zerstört und wiederauf( gebaut in messianischer Zeit) gezeigt22. Isaak als Opfer wird auch mit dem Paschalamm verglichen. Nach einer Mekhilta(Auslegung23, erinnerte sich Gott, bei dem Auszug der Israeliten aus Ägypten und beim Anblick des Bluts des Lamms an das Blut der Aqeda, es wird also eine konkrete logische Verbindung zwischen dem Opfer Isaaks und dem Paschaopfer gezogen. Es wird nicht deutlich, ob das Blut Isaaks damit gemeint war oder das Blut des Widders. Allerdings wird eine Verbin( dung zwischen der Erlösungskraft der Aqeda als Blutopfer und dem bluti( gen Paschaopfer festgestellt. Die Notwendigkeit eines blutigen Opfers für die Erlösung ist der Hauptgrund für die Entwicklung einer Reihe von Traditionen, welche von der partiellen oder völligen Verwirklichung des Opfers Isaaks sprechen.

Blut, Verwirklichung des Opfers und Auferstehung – Christliche oder jüdische Ursprünge? Bezüglich der Beschneidung haben wir schon festgestellt, dass das Blut eine besondere Rolle beim Opfer spielt. Vom gleichen Argument werden wir ausführlicher bezüglich des levitischen Opferkultes sprechen. Auch im Falle Isaaks ist die Vorstellung wichtig, Erlösung käme durch Blut. Daraus entwi( ckelte sich die Tendenz, das Opfer Isaaks als vollständig oder als mindestens zum Teil realisiert darzustellen. Einige Stellen des babylonischen Talmuds und andere frühjüdische Texten deuten auf die Tötung Isaaks und seine Asche auf dem Altar24. Eine solche Vorstellung führt zwangsläufig zur An( nahme der Auferstehung Isaaks. Im späteren Pirqe de R. Eliezer ist diese

20 21 22 23

24

Vgl. GenRab LVI.5. Vgl. GenRab LVI.9. Vgl. GenRab LVI.10. Mekhilta, Pisha, (Lauterbach I), 57, 88 und Mekhilta, Beshallah, (Lauterbach I), 222 223. Eine ähnliche Verbindung zwischen der Akedah und Pascha wird im Targum zu Ex 12, 42 angedeutet. Vgl. bTaan 16a, bBer. 62b et jTaan. 2,4 65a, Sifra (Weiss) 102c, Mekhilta (Lauterbach I), 57, 57 58. Ein ausführlicher Kommentar befindet sich bei Kundert, 1998, 198 201, G. Vermes, Redemption and Genesis XXII, The rabbinic Binding of Isaac and the Sacrifice of Jesus, in Scripture and Tradition in Judaism, 205.

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Interpretation ganz deutlich ausgedrückt: Isaak wurde von seinem Vater tatsächlich geopfert und wurde dann von Gott wiederbelebt25. Wahrschein( lich war der erste logische Schritt die Behauptung, dass Abraham nicht zö( gerte, seinen Sohn zu opfern, da er an die Auferstehung glaubte. Origenes selbst kennt diese Tradition und nimmt gerne an, dass das Opfer Isaaks den ersten Hinweis auf die Auferstehung darstellt. Abraham hat laut Origenes‘ Auslegung an der Auferstehung seines Sohnes nie gezweifelt26. Die Tatsa( che, dass nur spätere Texte explizit davon sprechen, ist m.E. ein Indiz dafür, dass diese Interpretation vom christlichen Modell der Auslegung des Opfers und der Auferstehung Christi beeinflusst wurde. Sehr bedeutend für die Frage nach der Christianisierung der Figur Isaaks ist eine Stelle von Genesis Rabba, welche die folgende Allegorie von Gen 22:6 überliefert: „Abraham nahm Holz für das Brandopfer und lud es seinem Sohn Isaak auf“ – wie derjenige, der sein Kreuz auf seinem Schulter trägt27. Der Vergleich zwischen Isaak und dem mit dem Kreuz beladenen Christus scheint ganz offensichtlich. Diese ist eine der wenigen Stellen, an denen die Rabbinen &-2 für Kreuz benutzen. In anderen Fällen und in einer offensicht( lich antichristlichen Polemik nennen sie das Kreuz Christi sehr verächtlich „Stock” V-> :.D/2M3>#.4 j+/ "0 +Z# #>0%Z# "D>E%>/# ;H#6+L4 Y 8>14. 27 GenRab LVI.3: (,!5& (&(-2 '0(7# 1;5 (3& 4.2" -0 /9"( 1-01 "20 !$ /1%&$ .4"( 28 Vgl. D. Stökl Ben Ezra, The Impact of Yom Kippur on Early Christianity, Tübingen 2003, 287. 29 Vgl. G. Vermes, New Light on the Sacrifice of Isaac from 4Q225, JJS 47 (1996), 140 145. Vermes behauptet, dass diese Traditionen älter sind, er zitiert Josephus z.B., der ältere Traditionen aufnahm und beschließt (N. 35, 145): As though Jesus had been the only crucified person who had to carry the cross to the place of crucifixion! Vermes zitiert mehrere Behauptungen, dass die Kreuzigung und das Tragen des eigenen Kreu zes bekannte Praktiken und Schreckensbilder in der Antike waren.

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de in einer Zeit, in der die christliche Typologie Isaaks ein absoluter Topos war. Es scheint mir unplausibel, dass die Rabbinen die eventuellen Missver( ständnisse nicht vorgeahnt haben. Deswegen finde ich die Hypothese, dass die Ähnlichkeit mit der christologischen Typologie hier gesucht ist, nicht unwahrscheinlich und ist im ganzen Kontext der wachsenden Sensibilität für die Erlösungskraft des Opfers Isaaks zu verstehen. Wir haben schon die große Zahl an Studien über die rabbinische und christliche Erlösungslehre bezüglich der Aqeda erwähnt. Der Ausgangs( punkt vieler Forscher, vor allem Lévys30 und Vermes31, ist die dynamische Entwicklung des jüdischen Verständnisses vom Erlösungscharakter der Aqeda. Deshalb vermuten sie eine Abhängigkeit Paulus‘ von dieser Doktrin. Die weiteren Charakteristika der rabbinischen Auslegung Isaaks (Freiwillig( keit und Realisierung des Opfers) werden als selbstverständliche logische Folgen dieser Theologie dargestellt. R. Daly beschäftigt sich in einem ganzen Kapitel seines Buches32 mit der Frage nach dem Opfer Isaaks und den Ana( logien zwischen christlicher und jüdischer Exegese. Er vermutet, gerade aufgrund der oben erwähnten Charakteristika der rabbinischen Auslegung, dass diese das christliche Bild der Leiden und Opfer Christi beeinflusst habe. Die ältesten von Daly benutzten Quellen sind einige Stellen aus dem Tar( gum, welche die Tötung Isaaks als möglich darstellen und die talmudischen Interpretationen, welche von „den Aschen Isaaks“ sprechen und so die tat( sächliche Realisierung des Opfers andeuten. Der Targum ist, trotz seiner umstrittenen Datierung, auch die einzige Quelle, welche Origenes, aber auch Paulus zeitlich vorausgeht. Alle weiteren Quellen sind entweder gleichzeitig mit der frühchristlichen Exegese oder später als sie (die Mekhilta oder die Talmud–Stellen und vor allem das frühmittelalterliche Pirqe de(R. Eliezer). Le Déaut stellt fest, dass diese Theologie der Aqeda, die einen tatsächlichen Tod und Auferstehung Isaaks einschließt, erst in den späteren rabbinischen Texten entwickelt ist, die palästinischen Ursprungs und somit christlich beeinflusst seien33.

30 31 32 33

Vgl. Lévy, 1912, 182 184. Vgl. Vermes, 1961, 217 225. Vgl. Daly, 1978, 175 186. Vgl. Le Déaut, 1963, 202: Devant une telle pluratlité du sacrifice d’Isaac dans le monde juif ancien, on peut se demander à juste titre si les auteurs du N.T. ne s’en sont pas inspirés pour exprimer le mystère de notre rédemption. Si la théologie juive de l’Aqedah est pleinement dévéloppée dans les écrits plus tardifs seulement, tous les éléments essentiels

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Wir wollen nicht bestreiten, dass die Vorstellung des geopferten Erlösers aus dem jüdischen Milieu stammen könnte. Obwohl, wie Lerch bemerkt, weder Isaak noch Abraham zu den Messias Typen in der rabbinischen Lite( ratur gehören34, ist es unbestritten, dass Isaaks Tat eine Erlösungskraft für mehrere Generationen zugeschrieben wird. Wie wir schon bemerkt haben, ist diese Idee mit der Erlösungskraft des Blutes und mit dem Abraham zu( geschriebenen Glauben an die Auferstehung seines Sohnes verbunden. Aber ich vermute, dass die Entwicklung der rabbinischen Auslegung bis zu der Behauptung, Isaak sei wirklich geschlachtet worden und dann auferstanden, unter christlichem Einfluss stattgefunden hat und an das Modell der Leiden und der Auferstehung Christi angepasst wurde. Wir werden jetzt auf zwei weitere Charakteristiken der rabbinischen Isaak(Auslegung hinweisen, wel( che auch an ein christliches Vorbild erinnern.

Liturgische Funktion des Opfers Isaaks Das Opfer Isaaks hat auch eine liturgische Funktion in den Midraschim: Man interpretiert es als Einführung des Rituals der zwei Böcke und des täglichen Brandopfers im Tempel35 sowie auch als Akt, dessen Verdienst der Empfang des Priestertums sei36. Die christlichen Exegeten interpretieren in ähnlicher Weise das Opfer Christi als Einsetzung der Eucharistie. Isaak selbst und csein Opfer spielen eine wichtige Rolle am Fest des Neuen Jahrs (Rosch Haschana), das sich auf die Erinnerung an das Opfer des Patriarchen konzentriert37. Von Isaak wird behauptet, dass er im Monat Nissan, der eine besondere Bedeutung im jüdischen Kalender hat, nicht nur geboren, sondern auch gebunden wurde38. Wir stellen also eine weitere Tendenz der rabbinischen Interpretation des Opfers Isaaks fest: nämlich seine wachsende liturgische Bedeutung.

34 35 36 37 38

de cette théologie sont présents dans les écrits vierges de toute influence chrétienne et, pour la plupart, d’origine palestinienne. Vgl. Lerch, 1950, 19. Vgl. GenRab LVI.9. Vgl. GenRab LV.6. Vgl. Lévy, 1912, 166. bRosch Haschana16a. Das Datum 15 Nissan als Datum des Opfers Isaaks wird auf der Basis von Jub. 17:15 16 festgelegt, siehe die schon zitierte Studie von Vermes, 1996, 140 145.

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Eschatologische Funktion des Opfers Isaaks Dem Opfer Isaaks wird in der rabbinischen Literatur, ähnlich wie dem Opfer Christi in der christlichen Exegese, eine besondere eschatologische Funktion zugeschrieben. Isaak ist das vollkommene Opfer beim himmlischen Gottes( dienst. Der Altar auf dem Berg Moriah entspricht dem Ort des Altars im Jerusalemer Tempel, aber auch dem Ort des himmlischen Altars39. Die „ört( liche“ Verbindung zwischen dem Altar Isaaks, dem Jerusalemer Tempel und dem himmlischen Altar entspricht auch der zeitlichen Verbindung zwischen dem Monat der Geburt Isaaks, seiner Bindung und dem Zeitpunkt der Ret( tung – dem Monat Nissan40. Wenn wir jetzt in Kürze die Ergebnisse dieser Analyse zusammenfassen, können wir folgende Aspekte der rabbinischen Auslegung der Geschichte des Opfers Isaaks identifizieren: Es handelt sich um eine freiwillige Tat eines erwachsenen und reifen Menschen. Dabei spielt die Versuchung, die Selbstopferung nicht zu akzep( tieren, eine bedeutende Rolle. Allerdings ist der Gehorsam gegenüber Gottes Wunsch und dem Wunsch des eigenen Vaters sehr wichtig. Das Opfer selbst bleibt keine symbolische Tat, sondern man versucht es sogar als tatsächlich geschehen darzustellen. Dieser Tat wird besondere Bedeutung für die Erlö( sung und Rettung nicht nur einer Person, sondern des ganzen Volkes bei( gemessen. Sie hat eine starke eschatologische Komponente, indem das Opfer Isaaks als Vorbild des himmlischen Opfers gesehen wird, und eine nicht weniger wichtige liturgische Komponente, da dieses Opfer einige zukünfti( ge Tempelrituale präfiguriert.

6.3. Die Versuchung Abrahams und das Opfer Isaaks nach Origenes Bevor wir zur origenianischen Auslegung des Opfers Isaaks übergehen, sollten wir einige kurze Bemerkungen zu seinen Vorgängern erwähnen. Im Liber Antiquitatum Biblicarum ist die Zustimmung Isaaks zu seiner Opferung

39 40

Vgl. LVI.2, 596 597. ExodRab XV.11, Bd. 5 (über Isaaks Geburt und Bindung). Siehe dazu auch Lévy, 1912, 168.

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und die Erlösungskraft dieses Opfers für die zukünftigen Generationen angenommen41. Klemens von Alexandria entwickelt die Typologie Isaak/ Christus42, wo( bei er betont, dass Isaak nicht wirklich geopfert wurde, sondern nur als Typos für die tatsächliche Opferung Christi diente. Er übernimmt einige haggadische Traditionen, z.B. das reife Alter Isaaks, das sein Opfer als frei( willigen Akt darstellt. Dies diente Klemens als zusätzliches Détail für seine christologische Typologie43. Origenes beginnt seine Exegese des Opfers Isaaks mit einer langen Pas( sage über die Versuchung Abrahams. Dies ist insoweit symptomatisch, als Origenes, wie wir feststellen werden, in seiner Interpretation des Opfers Isaaks den Verdienst Abrahams besonders betont. Origenes bemerkt zuerst, dass der Patriarch bei der Aufforderung zum Opfer seines Sohnes nur mit dem schon neuen Namen Abraham, gerufen wird, was auf seine Rolle als Vater der Nationen hinweist44. Wir haben bereits bemerkt, dass Origenes im Akt der Opferung Isaaks die erste Andeutung der Auferstehung sieht. Abraham hoffte gerade auf die Auferstehung seines Sohnes und zweifelte deswegen nicht am Vertrauen und Gehorsam gegenüber Gott45. Ob Origenes dabei auch die jüdischen Traditionen, die eine Auferweckung Isaaks vom Tode überlieferten, kannte? Oder ist es vielleicht richtiger anzunehmen, dass solche jüdische Traditionen gerade nach dem Modell der christlichen Exegese entstanden sind? Origenes meint tatsächlich, dass Abraham die Geburt und die Auferstehung Christi vorhergesehen habe: Aber, damit ich es deutlicher ausdrücke, wusste (Abraham) auch, dass aus seinem Geschlecht Christus geboren würde, der als wirkli(

41 42 43 44 45

Vgl. Ant. Bibl. 32.2 4. Ein detaillierter Kommentar befindet sich bei Vermes, op. cit., 199 202. Vgl. str. 2.5; paed. 1.5. Vgl. Daly, 1978, 457. Vgl. hom in Gen. 8.1. Ibid.: “Fide Abraham non haesitavit, cum unicum offeret, in quo acceperat repromissiones, cogitans quia et a mortuis eum suscitare potens est Deus” (Heb 11:17.19). Prodidit ergo no bis cogitationes viri fidelis Apostolus, quod fides resurrectionis iam tum haberi coeperit in Isaac. Abraham ergo resurrecturum iam tum haberi sperabat Isaac et credebat futurum quod adhuc non erat factum. Quomodo ergo filii ergo sunt Abraham, qui factum non cre dunt in Christo, quod ille futurum credidit in Isaac?

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cheres (im Vergleich zu Isaak) Opfer für die ganze Welt dargebracht wäre und von den Toten auferstünde46. Der Patriarch hatte nicht nur auf die Auferstehung seines Sohnes gehofft, sondern auch sein Opfer als Typos des Todes und der Auferstehung Christi erkannt. Hier treffen wir wieder auf das bei Origenes häufige Motiv, dass die Gerechten des Alten Testaments die Wahrheiten des Neuen Testaments vorausgesehen haben. Trotz seiner Vorhersehung der Auferstehung werden aber die Leiden Abrahams wegen der Aufgabe, seinen Sohn zu opfern, nicht geringer. Ori( genes beschreibt im Detail die Steigerung der Versuchung. Es wird nicht einfach gesagt „Nimm deinen Sohn“, sondern hinzugefügt „den Du liebst“ und schließlich wird Abraham befohlen, auf den Berg zu steigen, so dass er drei Tage lang über das zukünftige Opfer nachdenken konnte und zwar in Anwesenheit seines Sohnes47. Ähnlich wie die Rabbinen, schildert auch Ori( genes in der Figur Abrahams das Bild des perfekten Gerechten. Allerdings ist der Zeitpunkt, zu dem sich diese vollkommene Gerechtigkeit beweist, für die Exegeten unterschiedlich. Für die Rabbinen ist es die Beschneidung, für Origenes das Opfer Isaaks. Die Gerechtigkeit Abrahams und Isaaks ist vollkommen. Im Unterschied zu Noah, bei dem Origenes wie die Rabbinen eine relative Gerechtigkeit angenommen hatte, dienen die obengenannten als Modell für Gerechtigkeit und Gehorsam. Als Moses auf den Sinai stieg, musste er sich die Schuhe ausziehen. Die Schuhe interpretiert Origenes als Bindung an die Sterblich( keit (im Sinne von Sünde). Die gleiche Interpretation kommt auch bei der Pascha(Auslegung vor, wobei Origenes erneut verdeutlicht, dass Moses, der auf heiliger Erde lief, sich von jeder Sterblichkeit befreien musste48.

46

47 48

Ibid.: Immo, ut apertius proloquar, sciebat se Abraham futurae veritatis imaginem prae formare, sciebat de semine suo nasciturum Christum, qui et offerendus esset totius mundi verior hostia et resurrecturus a mortuis.. Vgl. hom. in Gen. 8.2. Origenes, Peri Pascha, 1.108 112 nach B. Witte, Die Schrift des Origenes über das Passa, Textausgabe und Kommentar, Altenberge 1993: qAD>/ 06= i-.;*36+6 "# +.U4 -.2=# \&>/# +.G4 +%ND.#+64 +L -M2&6, j->% "#6#+ET36 +.U4 &%528>U2/# -%L4 –.2J4 ;1@>/A +/2/# >V#6/a "->= D9% –T2J4 "W’oDE6# "-M+>/ DJ#, 0>:>,>+6/ :?26/ +L i-1;536 "0 +Z# -.;Z# 6I+.?. vZ4 .Q#, oDE.H p#+.4 06= +.? -M2&6, .c +.?+. +%ND.#+>4 i-.;>;A286/ 0>:>,.#+6/ +9 i-.;*36+6 6I+Z#; [...] j+> D9% oDE6# +E4 -6+>U DJ#, .I;>3E6# #>0%1+5+6

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Von Abraham und Isaak überliefert die Schrift keine solche Tat, also in( terpretiert Origenes die beiden als vollkommen. Es ist vielleicht nicht unpas( send zu bemerken, dass die Vorstellung, auch Abraham und Isaak hätten sich die Schuhe ausgezogen, im palästinischen Judentum weit verbreitet war. Das Bild der ausgezogenen Schuhe Abrahams und Isaaks war in der Ikonographie der Synagogen aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. sehr oft zu sehen. Origenes behauptet, wie wir gesehen haben, genau das Gegenteil: Abraham und Isaak mussten ihre Schuhe (Sündhaftigkeit) nicht ausziehen, da sie vollkommene Gerechte waren. Ich denke nicht, dass hier irgendeine Polemik zu spüren ist, aber es ist, wenn man die Schuhe als Bild der Sünd( haftigkeit interpretiert, zu vermuten, dass sich die jüdischen Ausleger weni( ger mit einer Idee absoluter Sündenlosigkeit eines Menschen abfinden konn( ten, als ein christlicher Exeget es tat. Origenes bemerkt auch, dass Moses durch seinen Aufenthalt in Ägypten eine besondere Bindung an die Sterblichkeit (im Sinne von Sünde) hatte. Weitere Details der Geschichte der Opferung Isaaks bleiben nicht ohne alle( gorische Interpretation: die Tatsache, dass Abraham und Isaak sich morgens auf dem Weg zum Berg Moria machen, deutet auf das innerliche Licht in ihren Herzen hin. Der dritte Tag, an dem sie dort ankamen, ist selbstver( ständlich eine Anspielung auf die Auferstehung49.

Christologische Typologien Isaaks nach Origenes Isaak als Priester und Opfer Wenn nach der rabbinischen Auffassung Isaak als vollkommenes Opfer und Abraham als vollkommener Priester dargestellt werden, ist der christliche Exeget, der eine christologische Typologie Isaaks beweisen möchte, darauf angewiesen, Isaak als Typos von Priester und Opfer gleichzeitig darzustel( len. Diese beiden Funktionen charakterisieren seit Paulus die christliche Exegese50. Was die Rabbinen betrifft, haben wir gesehen, dass nur Isaak als

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"# 6I+S \&>/# 0>:>,>+6/ .I;A+/ 3A::T# 6I+.? #>0%1+>+M +/#6 ->%/06:,-+>/, j+> ;A +%ND>/ +L -M2&6, 0>:>,>+6/ 3>+9 2-oH;J4 "28E>/# i-_% +.? Š+./3.4 >V#6/. Vgl. hom. in Gen. 8.4: Tertia tamen dies semper apta fit sacramentis. Nam et populus cum exisset de Aegypto, tertia die offert sacrificium Deo et in die tertia purificatur; et resurrec tionis Domini tertia est dies; et multa alia intra hanc diem mysteria concluduntur. Vgl. hom. in Gen. 8.6.

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vollkommenes himmlisches Opfer angesehen wird51, während die Funktion des himmlischen Priesters den Engeln zugeschrieben wird52. Origenes be( schreibt zuerst das Modell Christi: Das Schaf oder Lamm, das am Pascha geopfert wird, ist er selbst, und ebenso wird er als Hirte der Schafe dargestellt sowie als Hohe( priester, der das Opfer darbringt, beschrieben53. Dann versucht er, nacheinander die unterschiedlichen Details des biblischen Berichtes einzubeziehen: z.B. Isaak trägt selbst das Holz für seine Opfe( rung54. Darin sieht Origenes einen Typos Christi, der sein Kreuz selbst trägt. In den Fragmenten zu Gen 22:6 lesen wir: Wie Christus selbst das Kreuz trägt, so war dies (der Fakt, dass Isaak das Holz trägt) ein Typos des anderen (Jesus, der das Kreuz trägt)55. Mit dem eigenen Kreuz auf den Schulter litt Jesus außerhalb des Stadttores, belastet [mit dem Kreuz] zum Leiden [trägt es] nicht aus menschlicher Kraft, sondern aus eigenem Wille und wegen der Entscheidung Gottes, des Vaters56. Es ergibt sich von selbst die Parallele zwischen Abraham und Gott(Vater: Abraham brachte Gott seinen sterblichen Sohn dar, der jedoch nicht gestorben wäre, während Gott seinen unsterblichen Sohn für die Menschen dem Tode übergab57.

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Vgl. H. Bietenhard, Die himmlische Welt im Urchristentum und Spätjudentum, Tübingen 1951, 123f. GenRab LXVIII.12. Bietenhard, 1951, bezieht die Stelle auf den Erzengel Michael. hom in Gen. 14.1: Ovis vel agnus qui immolatur in Pascha ipse dicitur et ovium pastor ipse signatur: et pontifex qui offert sacrificium nihilominus ipse describitur. Ibid. Fr. Gn. 1252, TEG 3 (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E50: œ4 Y %/2+L4 "gM2+6F># 6I+.? +L# 2+6H%1#a +,-.4 D9% {# +.?+. "0>E#.H. K. Metzler hält dieses Fragement für nicht origenianisch. Fr. Gn. 1254, TEG 3 (Petit): h-T3M;/.# D9% \&T# +L# .70>U.# 2+6H%1#, \@T +J4 -,:54 \-68># Y %/2+14, .I0 "@ $#8%T-E#54 72&,.4 g>g/623A#.4 >74 +L -68>U#, $::’"0 8>:*36+.4 .70>E.H 06= g.H:*2>/ +.? 8>.? 06= -6+%14. Die Urheberschaft dieser Ausle gung ist umstritten. K. Metzler hält das Fragment für nicht origenianisch. hom. in Gen. 8.8: Abraham mortalem filium non moriturum obtulit Deo; Deus immortalem filium pro hominibus tradidit morti.

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Nicht weniger wichtig ist für Origenes die Tatsache, dass das tatsächlich Geopferte ein Lamm ist, was die Typologie zu Christus als österlichem Lamm verdeutlicht58. Ganz allegorisch ist die origenianische Auslegung von Gen 26:25, die wieder mit einer liturgischen oder priesterlichen Funktion Isaaks verbunden ist. Isaak baut einen Altar und befestigt ein Zelt. Dies alles symbolisiert nach Origenes die Ökonomie des alten Gesetzes. Christus befestigt kein Zelt in den Evangelien, sondern errichtet sein Haus und baut dort seine Fundamen( te59. Im Unterschied zu den Rabbinen muss und will Origenes nicht anneh( men, dass Isaak tatsächlich geopfert wurde. Es genügt ihm zu sagen, dass Gott ohne Zweifel in der Lage gewesen wäre Abrahams Sohn wieder zu beleben. Die physische Komponente des Sterbens Christi, das im Unter( schied zum Typos wirklich stattfand, ist nach Origenes durch das Opfer des Widders symbolisiert. Isaak bleibt sozusagen, die göttliche Natur Christi zu symbolisieren, während das Lamm seine Leiden im Fleische abbildet60.

Isaak als Typos des Wort Gottes Bezüglich einiger biblischer Stellen, die allerdings nicht aus der Geschichte von Opfer Isaaks stammen, entwickelt Origenes die Typologie Isaak/Wort Gottes. Diese zusätzliche Typologie zielt nach Origenes nicht darauf, die Rolle Isaaks zu verkleinern. Wenn das Gesetz geistig verstanden wird, wird Isaak besonders wichtig erscheinen61. Als er auf die Saat von Gerste zu spre( chen kommt (Gen 26:12) vergleicht er sogleich Isaak mit dem Wort Gottes, welches im Alten Testament nur Gerste sät, dagegen in den Evangelien Wei( zen62.

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hom. in Gen. 14.1: Verbi gratia, sicut in superioribus exposuisse nos memini, quod ipse esset in typo Isaac cum offerretur ad holocaustum, ipsius tamen et aries formam teneret. Ego amplius dico quod et in angelo qui locutus est ad Abraham et dicit ei „ne inicias ma num tuam in puerum“ (Gen 22:12) ipse ostenditur, quia iterum dicit ad eum „propter quod fecisti verbum hoc, benedicens benedicam te“ (Gen 22:16 17). hom. in Gen. 14.2: Aedificat quidem Isaac altare etiam in lege et figit tabernaculum suum; in Evangeliis vero non tabernaculum figit, sed domum aedificat et fundamentum collocat. Vgl. hom. in Gen. 8.9. Vgl. hom. in Gen. 12.5. hom. in Gen. 12.5: Isaac sermo Dei est, qui sermo in lege hordeum seminat, in Evangeliis triticum.

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Einen weiteren Anlass, um von Isaak als Wort Gottes zu sprechen, bietet sich für Origenes bei der Auslegung von Gen 26:30 „Isaak bereitete ihnen ein großes Mahl (magnum convivium)“63. Hier übernimmt Origenes, mit vielen Hinweisen aus den Paulusbriefen, wieder die Allegorie Mahl/Wort Gottes und es wird auf die Evangelisation und Bekehrung der Heiden hingewiesen. Das Ziel des Origenes ist also nicht nur, Isaak als Typos Christi, des Wortes Gottes darzustellen, sondern auch, seine universelle Wirkung auf der Basis des alttestamentlichen biblischen Berichtes zu beweisen.

Zusammenfassung Nach der Analyse der origenianischen Exegese des Opfers Isaaks können wir zusammenfassen, dass sie stark auf die Typologie Isaak/ Christus hin orientiert ist. Allerdings müssen wir feststellen, dass im Zentrum seiner Auslegung das Opfer als solches steht und nicht die Figur Isaaks, wie dies in der rabbinischen Interpretation der Fall ist. Viele Aspekte, welche die Rab( binen der Entscheidung Isaaks zum Selbstopfer zuschreiben, verbindet Ori( genes mit Abraham. So gehört z.B. der Wille zum Opfer nicht Isaak, sondern Abraham, welcher auch in Versuchung geführt wird. Abraham und nicht Isaak sieht nach Origenes den Tod und Auferstehung Christi voraus. Das Opfer Isaaks als Typos hat einen besonderen Charakter, es hat aber keine der Funktionen, die das Opfer Christi hat: weder Erlösungskraft noch Ret( tung für das Volk Gottes. Das einzige, was Origenes Isaak nicht absprechen kann, ist sein Gehorsam. Origenes sagt nie deutlich, dass es sich tatsächlich um einen bewussten Akt Isaaks oder um ein freiwilliges Opfer handelt. Wie wir schon erwähnt haben, sah Klemens kein Problem in der Anerkennung der Freiwilligkeit Isaaks und benutzte sie sogar für seine christologische Typologie. Origenes zeigt sich viel vorsichtiger. Die Tatsache, dass er dem historischen Isaak keine expliziten Verdienste zuschreibt und ihn immer wieder nur als Typos Christi interpretiert, ist wahrscheinlich als Antwort auf die wachsende soteriologische Rolle Isaaks in der zeitgenössischen rabbini( schen Exegese zu verstehen. Die Verlagerung des Akzents bei der origenia( nischen Auslegung von Isaak auf Abraham ist sehr symptomatisch.

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Vgl. hom. in Gen. 14.4.

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Es ist folglich anzunehmen, dass die Figur Isaaks, ohne dass er selbst zu den Messias(Typen in der rabbinischen Literatur gehört, tendenziell dem Modell der christlichen Exegese Christi angepasst wurde, wobei sein Opfer eine immer größere Rolle spielte und bestimmte Charakteristika, wie die Freiwilligkeit und die Verwirklichung dieses Opfers besonders betont wur( den (nicht zu vergessen natürlich seine große Rettungskraft). Es ist mir be( kannt, dass eine solche Behauptung nicht unumstritten ist. Daly sieht, wie wir erwähnt haben, die Interpretation des tatsächlichen Opfers Isaaks nicht nur als chronologisch der christlichen Exegese vorausgehend, sondern be( hauptet, letztere sei von der rabbinischen Auslegung stark inhaltlich beein( flusst gewesen. Man kann ohne Zweifel schließen, dass einige Traditionen bezüglich des verwirklichten Opfers Isaaks schon in der zwischentestamen( tarischen Zeit entstanden, deren Systematisierung und Kristallisierung aber meiner Meinung nach später, unter christlichem Einfluss stattfand. Wenn man schließlich von christlichem Einfluss auf die Rabbinen spricht, ist Ori( genes für die wahrscheinlichste Quelle zu halten. Es ist nicht auszuschlie( ßen, dass die Rabbinen direkt Paulus lasen, um besser gegen die Christen polemisieren zu können. Aufgrund einer handschriftlichen Überlieferung, die allerdings nicht korrekt zu sein scheint, wird sogar dem Origenes eine Aussage in diesem Sinne zugeschrieben64. Allerdings bietet sich Origenes nach eigenen Worten als fruchtbarer Exeget und Teilnehmer vieler Diskus( sionen mit jüdischen Gelehrten als möglicher Vermittler der paulinischen Lehre und seiner eigenen, sehr detaillierten Exegese des Opfers Isaaks an.

64

Ep.1, De Lange (SC 302, 549) schlägt vor, statt „06/#J4 ;/68*054” “0./#J4 ;/68*054” zu lesen.

Kapitel 7. Kleinere Themen aus der Patriarchen( Geschichte Die Themen, deren Interpretation bei Origenes und bei den Rabbinen wir jetzt analysieren werden, gehören weder zu den großen kultischen Fragen des Pentateuchs, wie die Beschneidung, noch zu den zentralen theologi( schen Fragen wie das Opfer Isaaks. Allerdings zählen sie zu den bekanntes( ten Episoden im Buch Genesis und damit zu den am häufigsten interpretier( ten Stellen. Deswegen sollten wir nicht von einer, wenn auch knappen, Ana( lyse der Interpretation der Lot(Geschichte, der Ehen der Patriarchen oder der abgelehnten Brüder absehen. Dazu werden wir versuchen, einige pole( mische Züge in der origenianischen und rabbinischen Exegese zu identifi( zieren und auch bestimmte „Trends“ in der allegorischen Auslegung in der Zeit des Origenes zu erklären.

Die Erscheinungen vor Abraham und Lot Origenes über die Erscheinungen vor Abraham und Lot Origenes baut, ähnlich wie Philo, seine Interpretation beider Erscheinungen als Vergleich auf. Dabei wird ein qualitativer Unterschied zwischen den beiden Ereignissen herausgestellt. Eine solche Auslegung findet sich in der rabbinischen Auslegung der beiden Erscheinungen überhaupt nicht. Philo und Origenes interessieren sich für die subjektive Komponente, für die Per( sönlichkeiten der Empfänger der Erscheinung. Die Rabbinen dagegen sind an der objektiven Seite – der Niederlassung der Schekhina auf Erden und deren Auswirkung auf alle Generationen des Volks Gottes interessiert. Für den Vergleich beider Erscheinungen sind für Origenes alle Details wichtig: Zuerst beschäftigt er sich mit der Zahl der erschienenen himmli( schen Boten. Vor Abraham erscheinen drei Männer, die nach Origenes als zwei Engel und Gott selbst zu identifizieren sind. Lot erscheinen dagegen nur die zwei Engel. Die erste Erscheinung geschieht bei Mittagslicht, die zweite abends, beim Dunkelwerden. All dies sind Symbole, welche die Infe( riorität Lots beweisen. Abraham wird nicht nur die Erscheinung Gottes zuteil, sondern er erkennt diesen auch in den drei ihm erschienenen Gestal(

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Kapitel 7

ten und spricht ihn im Singular an1. All dies zeigt, laut Origenes, nicht nur die Besonderheit der Erscheinung vor Abraham, sondern auch seine geistige Tiefe, was bei Lot nicht der Fall ist. Origenes folgt hier Philo. Dieser beweist in Quaestiones in Genesim auf( grund der gleichen Charakteristiken ( zwei oder drei Engel, Tageszeit der Erscheinung (mittags oder abends) ( den Unterschied zwischen Abraham und seinem Neffe. Ersterer gilt als vollkommen (perfectus), während zweite( rer als Fortgeschrittener (proficiens) bezeichnet wird2. Philo und Origenes stellen Lots Gerechtigkeit nur als relativ (im Ver( gleich zu seinen Mitmenschen) dar. Eine Aussage, die wir schon von der rabbinischen Auslegung Noahs her kennen. Allerdings führt das nicht zu einer allgemeinen Ablehnung der Figur Lots. In einem der griechischen Fragmente, dessen origenianische Urheberschaft plausibel ist, wird eine ganz andere Erklärung gegeben, vor allem was seine Gastfreundschaft be( trifft. Nach dieser Interpretation erwartete Lot seine Gäste schon vor dem Stadttor. Das, genauso wie die Tageszeit (am Abend) hat für Origenes eine besondere allegorische Bedeutung: Lot war nicht in Sodom, sondern neben dem Stadttor. Ich würde sagen: Genauso wie Abraham, der außerhalb seines Zeltes saß und mit Gastfreundschaft und dem Zeitpunkt gemäß diejenigen erwarte( te, denen er Wasser zum Trinken und Waschen gab3 – es war näm( lich mittags ( so saß sein Verwandter und Nachahmer seiner Ge( wohnheiten [Lot] neben dem Stadttor und ermunterte die Vorbei( kommenden, als der Abend kam, weil er [Lot] die große Ruchlosig( keit der Sodomiten kannte und wusste, dass es dort keinen Ort zum Ausruhen für die Fremden gab4.

1 2 3

4

Vgl. Gen 18:3.4. Vgl. QG 4.30. Wörtlich bedeutet ;/.;>,>#+>4 “diejenigen, die sich befeuchten” zu übersetzten. Im biblischen Bericht schlägt Abraham seinen Gästen vor, ihnen Wasser zum Trinken und zum Füßewaschen zu bringen, was hier wohl gemeint ist. Fr. Gn. 1114, TEG 3 (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E46: tI0 {# \#;.# €.;13T# qs+ $::9 -6%9 +#E6# 06= -6%9 06/%L# +.G4 ;/.;>,>#+64 3>253g%E6 D9% {# , .e+T4 Y "0>E#.H 2HDD>## \@T €.;13T#, j+/ "2+%MW5 >74 +9 Ž-E2T. Fug. 122. Vgl. Leg. 3.213. Vgl. QG 4.52. Fr. Gn. 1152, TEG 3 (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E50: n 0,%/.4 .I 31#.# +.G4 $2>g>U4 $-1::H2/#, $::9 06= +94 +%.W94 6I+Z#, .u264 2.;.3/+/094 06= "-/g:6g>U4a "# 6˜4 "2+/ 06= C3->:.4, ->%= `4 W52/#a h0 D9% $3-A:.H €.;13T# R C3->:.4 6I+Z#, 06= R 0:536+=4 6I+Z# "0 §.31%%64.

Kleinere Themen aus der Patriarchen Geschichte

207

Die zweite Interpretation, die der rabbinischen ähnlich ist, betont die Ver( dienste Abrahams für die Rettung seines Neffen14. Außer der allgemein bekannten rabbinischen Lehre der Verdienste der Gerechten, reflektiert diese Auslegung eine Tradition, nach der Abraham der erste biblische Pro( tagonist war, der für jemanden anderen betete. Bevor wir versuchen, hieraus Schlüsse zu ziehen und etwas über den möglichen gedanklichen Hintergrund des Origenes bei seiner Exegese zu sagen, werden wir kurz die rabbinische Exegese der Erscheinungen schil( dern.

Die Erscheinungen nach den Rabbinen Für die Rabbinen sind zwei Aspekte bei der Interpretation der Erscheinung vor Abraham und Lot wichtig: Die Offenbarung der Schekhina und der Gnade Gottes als leitendes Element in der Heilsgeschichte15. Die Erscheinung vor Abraham spielt in der rabbinischen Pentateuchaus( legung eine besonders wichtige Rolle, da es sich um das erste biblische Zeugnis einer Offenbarung der Schekhina handelt. In besonderer Weise betonen die Rabbinen, dass dies keine Engels(, sondern eine göttliche Er( scheinung ist. Die Erscheinung der Schekhina auf Erden wird nicht nur als privates Privileg für die Person, vor der sie erscheint, sondern hauptsächlich als Gnadenzeichen für das ganze Volk gewertet. Dabei spielt die rabbinische Auffassung von den Verdiensten der Gerechten, die für die folgenden Gene( rationen gesammelt werden können, eine wichtige Rolle. Interessant ist allerdings, dass Genesis Rabba in diesem Sinne keinen Unterschied zwischen Lot und Abraham kennt. Anders als Philo oder Origenes, die durch systema( tische Allegorisierung aller Details der biblischen Berichte über die Erschei( nungen, einen riesigen Unterschied in der Vollkommenheit der beiden Ver( wandten zeigen, bieten die Rabbinen keine Auslegungen in dieser Richtung. Allegorisch legen sie nur die Zerstörungen der beiden Städte aus, die das Jüngste Gericht präfigurieren sollen16, nicht aber die Erscheinungen und ihre jeweiligen Protagonisten.

14

15 16

Fr. Gn. 1167, TEG 3 (Petit): 26WZ4 "#+6?86 -6%E2+52/ j+/ 06+9 &M%/# +.? ~g%693 +L# qs+ 2£F>286/. ¨2T4 ;_ W6E5 +/4 [# 06= ;/9 +.?+. 6I+L# >7%>0A#6/a –< 2H#6-.:A2†4 ;E06/.# 3>+9 $2>g.?4; (Gen 18:23). Vgl. GenRab XLVIII.1. Sanh. X.3 ( bSanh.107b und jSanh. 29b).

208

Kapitel 7

Ist die Interpretation der Erscheinungen polemisch? Bei dieser sehr knappen Wiedergabe der Exegesen des Origenes und der Rabbinen ergibt sich der Eindruck, dass die Unterschiede derart groß sind, dass für Spekulationen über eventuelle Einflüsse oder gegenseitige Kennt( nisse kein Platz mehr ist. Unterschied bedeutet aber nicht unbedingt Mangel an Interesse oder an Kenntnis. Es ist vielmehr festzustellen, dass sich die psychologische Interpretation des Origenes genau entgegen der rabbini( schen Interpretation entwickelt. Letztere vermeidet jede psychologische Analyse der Personen Abraham und Lot und ihrer Gotteserfahrung bei der Erscheinung und konzentriert sich auf die Auswirkung, die das Ereignis für die folgenden Generationen hat. Abraham und Lot werden so als Instrumen( te im Plan Gottes verstanden und ihre Eigenschaften (die unterschiedlichen Tugenden) spielen nur insofern eine Rolle, als sie als Verdienste für das Volk gelten. Es stellt sich also von selbst die Frage, ob Origenes nicht ganz be( wusst die andere, „psychologische“ Interpretation gewählt hat, die es ihm erlauben würde, die eigene Auslegung qualitativ von der rabbinischen zu unterscheiden. Dabei geht es nicht einfach um die allegorische Methode. Wir haben gesehen, dass die Rabbinen wohl auch allegorische Interpretationen kennen, die in den origenianischen Fragmenten aus dem Genesiskommentar z.T. erkennbar sind. In den Homilien dagegen stellt Origenes nur die eigent( lich viel kompliziertere und längere psychologische Allegorie dar. Wenn er das seinen Zuhörern zumuten wollte, hatte er ein konkretes Ziel vor Augen.

Interpretation der Scham Lots Die Interpretation der Geschichte Lots war für die Exegeten auf keinen Fall einfach. Die Peinlichkeit der Episode des Beischlafs Lots mit seinen beiden Töchtern zwang zur Ablehnung des historischen Sinnes der Schrift und zur Annahme von Allegorien. Dies galt für die jüdischen genauso wie für die christlichen Exegeten. Als Alternative galt nur der Versuch, die Tat zu ent( schuldigen. Dabei werden von christlicher wie von jüdischer Seite z.T. die gleichen Argumente benutzt. Origenes selbst, der gegen solche Versuche seitens der Christen polemisiert, nimmt, wie wir sehen werden, einige dieser Argumente wieder auf. Aufgrund der gemeinsamen Schwierigkeit für alle

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Exegete, die Blutschande zu interpretieren, bietet sich die biblische Episode für einen Vergleich zwischen Origenes und den Rabbinen besonders gut an.

Argumente zur Verteidigung der Blutschande Die Rabbinen versuchen, wie angedeutet, eine plausible Erklärung der Tat der Blutschande zu geben. Sie behaupten, die Töchter Lots hätten erwartet, einen messianischen Sohn von ihrem Vater zu empfangen17. Dadurch wäre das Schicksal der verurteilten Menschheit gerettet. Ähnliche Argumente erwähnt auch Philo, der in Quaestiones in Gene( sim als Grund für die Tat der Töchter ihre Sorge um das Verbleiben des menschlichen Geschlechtes erwähnt18. So wurde die Blutschande zu einem Akt der Barmherzigkeit. Diese Interpretation wurde gerne auch von christli( chen Exegeten vorgenommen. Irenäus sprach sich ebenfalls für die Un( schuld der Mädchen aus, die aus der Angst, die Menschheit könne ausster( ben, Kinder vom eigenen Vater empfingen19. Origenes muss sich wohl dessen bewusst gewesen sein, dass die zu( nehmende Heroisierung der Blutschande nicht immer überzeugend aussah. Deswegen stellt er sich zuerst auf einen mittleren Standpunkt, indem er weder bereit ist, Lot zu entschuldigen, noch ihn zu verurteilen20. Es folgt aber das Problem nach dem Ziel einer solchen Geschichte in der Heiligen Schrift. Auf der Suche nach einer Erklärung kommt Origenes schließlich doch zu den gleichen Argumenten für die Entschuldigung Lots und dessen Töchter, die er gerade abgelehnt hatte: Es scheint, dass die Töchter Lots etwas vom Ende der Welt wussten, das durch Feuer kommen sollte, aber als junge Mädchen hatten sie es nicht ganz und richtig verstanden. Sie wussten nicht, dass, ob( wohl die Region neben Sodom von Feuer verwüstet wurde, viel auf der Erde unbeschädigt blieb, sie hatten dagegen gehört, dass die Er( de und alles anderes durch Feuer „gekocht“ sein würde. Sie sahen das Feuer und die Schwefelflammen, sie sahen, dass alles verwüstet

17 18 19

20

GenRab LI.8. QG 4.56. Vgl. haer. 4.31,1, konsultiert nach der Edition Irénée de Lyon, Contre les Hérésies, Livre IV, édition critique d’après les versions arménienne et latine sous la direction de A. Rousseau, avec la collaboration de B. Hemmerdinger / L. Doutreleau / C. Mercier, SC 100, Paris 1965. Vgl. hom. in Gen. 5.3.

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wurde und dass die eigene Mutter nicht gerettet werden konnte. Sie hatten den Verdacht, dass so etwas passiere, was, wie sie gehört hat( ten, in der Zeit Noahs passiert war und, dass sie zusammen mit ih( rem Vater die einzigen Geretteten waren, um der Menschheit einen neuen Anfang zu geben. Also bekommen sie die Lust, das menschli( che Geschlecht wiederzubeleben und glauben, dass die Wiederher( stellung der Welt mit ihnen beginnen soll [...] Und obwohl ihnen das Verbrechen (die Sünde), den Vater zu missbrauchen schlimm aus( sah, erschien ihnen die Ungerechtigkeit, die Hoffnung in die Zu( kunft der Menschheit, wie sie dachten, durch die durchgehaltene Keuschheit zu vernichten, noch schlimmer21. Nach dieser Interpretation ist Lot nur ein Opfer der naiven Ignoranz seiner Töchter. Diese sind andererseits durch Verantwortlichkeit für die Mensch( heit und Barmherzigkeit gekennzeichnet, so dass der Beischlaf mit dem Vater als eine Art Selbstopfer erscheint. Man fragt sich natürlich, ob es Ori( genes nicht aufgefallen ist, dass er sich widersprach und dass er genau zu dem Schluss gekommen war, den er eigentlich vermeiden wollte. Es könnte sich natürlich um eine Redaktion des Rufinus handeln. Es kann aber auch sein, dass Origenes, der ursprünglich eine viel kritischere Meinung über den biblischen Bericht vertreten hatte und dadurch auf dem Weg gewesen war, die Glaubwürdigkeit der Geschichte im wörtlichen Sinne abzulehnen, sich auf einmal sorgte, dass die andere, wohl geprüfte und durchaus bekannte Interpretation von seinen Zuhörern erwartet wurde. Er wollte sich sozusa( gen nicht gegen die Topoi der bisherigen Exegese stellen. Vertreter dieser Interpretation waren in Cäsarea vor allem die Rabbinen und damit seine ernsthaftesten Konkurrenten.

21

Vgl. hom. in Gen. 5.5: Apparet namque filias Lot didicisse quaedam de consummatione mundi, quae immineret per ignem, sed tamquam puellae non integre perfecteque didicerant. Nescierunt quod sodomiticis regionibus igne vastatis multum adhuc spatii integrum resideret in mundo; audierunt in fine saeculi terram et omnia elementa ignis ardore decoquenda. Videbant ignem, videbant sulphureas flammas, videbant cuncta vastari; matrem quoque suam videbant non esse salvatam. Suspicatae sunt tale aliquid factum quale in temporibus audierant Noe, et ob reparandam mortalium posteritatem solas se esse cum parente servatas. Recuperandi igitur humani generis desiderium sumunt atque instaurandi saeculi ex sese dandum opinantur exordium. Et quamvis grande iis crimen videretur frari patris, gravior tamen iis videbatur impietas, si humanae, ut putabant, posteritatis spem servata castitate delerent.

Kleinere Themen aus der Patriarchen Geschichte

211

Es stellt sich natürlich die Frage, ob diese Auslegung zuerst von Philo erfunden und dann von Irenäus, Origenes und Genesis Rabba übernommen wurde, oder ob sie einen aggadischen Ursprung hatte und von Philo einfach weiterentwickelt wurde. Chronologisch gesehen, müssen wir die philoni( sche Urheberschaft annehmen. In diesem Fall wäre es sehr wahrscheinlich, dass die Rabbinen, die sonst mit Philo nicht besonders vertraut waren22, die Auslegung durch die Vermittlung des Origenes übernahmen. Es ist aber nicht auszuschließen, dass diese unter anderem nicht besonders anspruchs( volle und zum Stil der Haggada gut passende Interpretation aus dem jüdi( schen/rabbinischen Milieu stammte und von Philo einfach übernommen wurde. Origenes kannte in jedem Fall das philonische Modell, von dem er fast jedes Detail übernimmt. Er muss aber auch die „Kurzversion“, die von den Rabbinen erzählt wurde, gekannt haben, was ihn verunsicherte, als er dabei war, der Geschichte jeden historischen Wert abzuerkennen.

Allegorisch(typologische Interpretationen der Töchter Lots. In den Midraschim ist auch eine andere Interpretationslinie zu erkennen, welche die Scham Lots betont und die Geschichte für didaktische Zwecke benutzt. Nach dieser Auslegung war es eine Tat der Begierde Lots und sei( ner Töchter23. In Genesis Rabba findet sich auch ein Hinweis, dass dieser bib( lische Text regelmäßig als Warnung vor der Sündhaftigkeit des Menschen vorgelesen wurde24. Nach den Auslegungen in Genesis Rabba war Abraham bei der Episode des Beischlafs Lots mit seinen Töchtern anwesend und ging erst dann, auf( grund der Scham, von seinem Neffen weg. Die Tatsache, dass gesagt wird „Und Abraham betete zu Gott“25, ist ein weiteres Indiz für die moralische Deutung des Passus: der Patriarch ist so das erste Beispiel in der Schrift, dass jemand für jemanden anderen und nicht für sich selbst betet26. Für Origenes ist die allegorische die bevorzugte Interpretation dieser Bi( belstelle. Dabei ist seine eigene nicht die erste christlich gedeutete Allegorie der Geschichte von Lot und seinen Töchtern. Origenes kennt auch diese

22 23 24 25 26

Vgl. Runia, loc. cit. Vgl. GenRab LI.9, 539. Ibid. Gen 20:17. Vgl. GenRab LII.13.

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212

Auslegungen. „Einige stellen Lot allegorisch als Gott und die beiden Töchter als die zwei Testamente dar“ sagt Origenes etwa polemisch und denkt wahrscheinlich an die Auslegung des Irenäus27. Diese Interpretation will unser Alexandriner aber nicht übernehmen. Bei ihm konzentriert sich die Allegorie ganz auf das alttestamentliche Volk. Origenes interpretiert Lot als das Gesetz, seine Frau als das alttestamentliche Volk und die Töchter als die zwei Zweige des Volkes „im Fleisch“ (Oola/Juda und Ooliba/Samaria nach Ezek 23:4). Der Grund der origenianischen Ablehnung einer Allegorie, wel( che die zwei Töchter als die beiden Testamente darstellt, war wahrscheinlich die nicht ausreichend positive Rolle der biblischen Figuren. Wenn man die Töchter historisch mehr oder weniger als „Sünderinnen“ bezeichnet, kann man sie nicht als allegorische Modelle des Christentums annehmen. Die so aufgebaute Allegorie geht weiter, indem Origenes behauptet, dass die von den Töchtern empfangenen Söhne auch „fleischschlich“ waren, und deswegen vom Vater nicht als eigene Kinder anerkannt gewesen. Die letzte Allegorie, nach der „die fleischlichen Kinder“ vom Vater nicht als legitim anerkennt werden, entspricht einer Ablehnung der Legitimität der Erwählung des Volkes Gottes „im Fleische”, d.h. des Judentums. Origenes sagt es nicht explizit, allerdings ergibt sich dieser Schluss aus der Logik der Exegese. Die Söhne, die aus der Blutschande Lots gezeugt wurden, sind aber in der rabbinischen Literatur traditionell als Vorväter der Ammoniter und Moabiter (also der Feinde Israels) verstanden. Die Tatsache, dass Origenes durch den Ausdruck „fleischlich“ offensichtlich auf die Juden anspielt und ihnen die Rolle der aus der Blutschande geborenen Söhne zuschreibt, ist ein stark polemisches Element. Er benutzt die ihm aus der rabbinischen Traditi( on bekannte Allegorie der beiden Söhne, deutet sie aber so, dass sie pole( misch gegen die jüdischen Gelehrten gerichtet ist. Die Behauptung, dass die Söhne vom Vater nicht anerkannt bzw. abgelehnt sind, ist ebenfalls pole( misch gemeint und zielt darauf, die Erwählung des Volkes zu bestreiten. Derart radikale Aussagen über die Ablehnung des jüdischen Volkes als auserwähltem Volkes Gottes, die an eine Substitutionslehre erinnern, sind für Origenes eher untypisch. Ob es sich hier um eine nicht besonders gut gelungene Paraphrase des Rufinus handelt, oder ob die Interpretation so wie sie ist von Origenes stammt, der mit der Homilie bestimmte emotionale

27

Iren., haer. 4.31,1.

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Reaktionen seiner Zuhörer aufwecken wollte, ist schwer zu entscheiden. Es ist in jedem Fall eine Tatsache, dass sich Origenes in seinen im Lateinischen überlieferten Homilien viel radikaler über das Schicksal und die Rolle des Judentums ausspricht, als dies in den griechischen Fragmenten der Fall ist. Es ist immer wieder schwer, Behauptungen über den unterschiedlichen Stil der Fragmente zu äußern, da es nicht leicht festzustellen ist, welche von ihnen aus Homilien und welche aus anderen Werken stammen. Obwohl der Kommentar zu Genesis nur bis zum fünften Kapitel des biblischen Buches reiche, ist dies kein ausreichender Grund zu behaupten, dass alle Fragmente, welche die Bibelstellen nach Gen 5 betreffen, aus Homilien stammen.

Moralische Interpretation von Lots Töchtern Wenn wir jetzt zur Interpretation der Geschichte Lots zurückkehren, müssen wir feststellen, dass die moralische Interpretation sehr knapp entwickelt ist. Das Motiv, das wieder aufgenommen wird, ist die Metapher von Lots Frau als Bild des fleischlichen Menschen. Origenes spricht jetzt von der Gefahr der „vana gloria et maior soror eius superbia“, die er metaphorisch als die Töchter Lots darstellt. Diese zwei Charakteristiken können den Aufgang zum Gipfel der Kenntnis und der Wissenschaft begleiten. In dieser Interpretation ist er Philo nah, allerdings von ihm unabhängig. Philo bezieht ebenfalls die Figuren der Töchter Lots allegorisch auf die Funktionen des menschlichen Verstandes (Überlegung und Aufnahmefä( higkeit), welcher von Lot selbst symbolisiert wird28.

Lot und seine Töchter. Zusammenfassung Wir sehen, dass die Auslegung dieser Episode die Exegeten vor viele Prob( leme stellt. Selbst die Rabbinen können sich nicht erlauben, den Text in sei( ner wörtlichen Bedeutung zu akzeptieren, ohne mühsame Erklärungen hin( zuzufügen. Origenes selbst fühlt sich gezwungen, eine plausible Erklärung

28

QG 4.56: Istae enim sunt filiae intellectus, maior cogitatio, minor admissio: quoniam fieri non potest, ut quis quidquam admittat, antequam cogitet. Philos Interpretation dieser Stel le ist aber gar nicht negativ. Eine negative Interpretation finden wir in „De ebrietate“. Dort wird Lot als der Geist, der nicht in der Lage ist, richtig abzuschätzen, interpretiert. Seine Töcher symbolisieren die Entscheidung und Zustimmung des Geistes, während seine Frau Typos der Gewohnheit ist.

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der Geschichte anzubieten und übernimmt von Philo die einzig mögliche historische Interpretation, welche die Begierde der Töchter mit ihrer Angst begründet, die Menschheit würde aussterben. Da eine ähnliche Auslegung auch im Midrasch begegnet und da sie an andere aggadische Interpretatio( nen erinnert, ist es nicht auszuschließen, dass Philo selbst sie von einer zeit( genössischen jüdischen Quelle übernommen hat. In seiner allegorischen Interpretation zeigt sich Origenes gegenüber frü( heren Interpretationen kritisch. Er konzentriert sich ausschließlich auf Alle( gorien mit Bezug auf das alttestamentliche Gesetz und Volk und lehnt die Auslegung des Irenäus ab, welcher unter dem Bild der Töchter Lots die beiden Testamente sah. Die origenianische Auslegung erweist sich als sehr polemisch. Origenes polemisiert erstens theologisch, wenn er durch die Episode die Erwählung des jüdischen Volkes in Frage stellt, und dann auch rein exegetisch, indem er bestimmte Tendenzen in der Interpretation der Geschichte Lots (histo( risch, als auch allegorisch) nicht nur aus der jüdischen, sondern auch aus der christlichen Literatur ablehnt. Um uns eine Vorstellung zu geben, wie ver( breitet die allegorische Interpretation der Geschichte Lots war, reicht es, an das frühbyzantinische Kloster in Abata (an der südöstlichen Küste des Toten Meeres) zu denken, wo (nach der Tradition) Abrahams Neffe mit seinen Töchtern geschlafen haben muss. Man kann fast sicher davon ausgehen, dass die Mönche, die das Kloster bewohnt haben, an keine wörtliche Inter( pretation der Geschichte gedacht haben.

Ehen und Ehefrauen der Patriarchen Die Interpretation der Ehen der Patriarchen verdient besondere Aufmerk( samkeit. Wir können in der origenianischen genauso wie in der rabbinischen Auslegung die Tendenz zur Allegorisierung der Ehen und der Figuren der Ehefrauen der Patriarchen erkennen. Dabei sind natürlich wesentliche Un( terschiede festzustellen. Während die Rabbinen die historische Tatsache der Ehen nicht in Frage stellen und sie als moralische Beispiele verstehen, ist in den origenianischen Homilien nicht leicht zu erkennen, ob der Prediger die Ehen noch immer als historische Ereignisse bzw. die Ehefrauen der Patriar( chen als reale Personen betrachtet oder sie nur als allegorische Figuren ver( steht. Besonders deutlich ist dies im Falle Keturas. Allerdings zeigt Origenes in den wenigen griechischen Fragmenten eine viel größere Sensibilität für die historische Ebene des biblischen Berichtes und selbst Ketura wird in der

Kleinere Themen aus der Patriarchen Geschichte

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Heilsgeschichte ein besonderer Platz zugeschrieben. Mehr als von inhaltli( chen Analogien, kann man von einer Ähnlichkeit in den benutzten Metho( den sprechen. So wird z.B. in beiden Exegesen reichlich die Etymologie der Namen als Ausgangspunkt für eine allegorische Interpretation benutzt. In beiden Auslegungen ist die Allegorie Ehefrau / Volk Gottes, Ehemann / Gott stark vertreten. Origenes entwickelt ein sehr kompliziertes allegorisches System, wobei die Frau immer als Bild des neuen Volkes Gottes, der Kirche, und dann mystisch als Allegorie der menschlichen Seele dargestellt wird. In der Auslegung der Ehen der Patriarchen fehlt es natürlich nicht an ale( xandrinischen Modellen. Es genügt, an De congressu eruditionis et gratia zu denken, wo Philo alle Ehen der Patriarchen allegorisch auslegt (24(62). Der Einfluss seiner Auslegung ist bei Origenes leicht festzustellen.

Moralische Interpretation und Etymologie der Namen Die Figur Saras wird im Midrasch als Beispiel einer Matriarchin gesehen. Die in den vorherigen Auslegungen vorhandenen negativen Elemente ihres Verhaltens werden in den Midraschim nicht. So geht es im Jubiläenbuch etwa um Saras Eifersucht, die Ismael und Hagar wegschickt. In Genesis Rabba davon ist keine Rede mehr, sondern die Matriarchin wird, wie wir bezüglich Ismael sehen werden, völlig entschuldigt. Die Rabbinen sahen offensichtlich die Notwendigkeit, die Patriarchenpaare exemplarisch und als vollkommen darzustellen. Sie waren auch ohne Zweifel über die zeitgenössische christli( che Exegese informiert, welche die Unwürdigkeit solcher Gefühle bei der Matriarchin offen aussprach und eine allegorische Deutung versuchte. Hier bietet sich natürlich Origenes als „Ansprechpartner“ an29. Für seine allegorische Auslegung der Ehefrauen der Patriarchen benutzt Origenes reichlich die Etymologie der Namen, wo er die „Zweckbestim( mung“ einer Person innerhalb des Heilsplans Gottes erkennt. In einem der griechischen Fragmente lesen wir: Untersuche die Bedeutung der Namen, da [die Menschen] mit einer bestimmten Bedeutung [ihrer Namen] vom Heiligen Geist benannt wurden. Man muss aber auch wissen, dass die Namen die Lebens( art, die Auffassung und die Eigenschaften [der jeweiligen Person]

29

Siehe Runia, 1993, 14.

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offenbaren, wodurch es möglich ist, die „Zweckbestimmung“ des genannten [Menschen] zu verstehen30. Sara interpretiert Origenes auf der Spur Philos als „Weisheit und Tugend“31. Welche Rolle diese Interpretation im Kontext des biblischen Geschehens spielt, wird aus der Interpretation der Geschichte mit Abimelech und dem Pharao deutlich. Origenes versteht die ganze Episode mehr oder weniger typologisch, indem er darin ein Bild der Bekehrung der Heiden sieht. Das Ganze wird durch die etymologische Auslegung der Namen der Protagonis( ten möglich. Abimelech, dessen Name Origenes als „mein Vater ist der Kö( nig“ übersetzt, wird als Bild der paganen Philosophen dargestellt, während Sara als die Tugend des Geistes interpretiert wird32. Der Pharao, der unrein war, konnte Sara (die Tugend) nicht empfangen, während derjenige, wie Abimelech, der philosophisch lebt, dafür geeignet ist33. Abimelech ist laut der origenianischen Interpretation nicht nur Symbol der Logik, welche die Allmacht Gottes anerkennt, sondern auch der Keuschheit. Die Tatsache, dass er Sara nicht berührt, bezeichnet das zölibatäre und keusche Leben34. In Genesis Rabba wird Sara als Modell der Gerechtigkeit und der jüdischen Frau

30

31

32 33

34

Vgl. Fr. Gn. 1023, TEG 3 (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E40: ž94 d%35#>E64 +Z# Ž#.3M+T# F*+>/a ;H#M3>/ D9% ©#.3M28526# i-L +.? oDE.H -#>,36+.4. ~::9 37;A#6/, j+/ +9 Ž#136+6 Š@>N# "2+/ 06= 06+62+M2>T# 06= -./.+*+T# ;5:T+/0M, "@ K# \2+/# 7;>U# +V#6/ 2,3g.:.#. Vgl. hom. in Gen. 6.2, 188. Hom. in Gen. 14.3: Interpretatur autem Ocozath „tenens“, et Phicol „os omnium“, ipse autem Abimelech „pater meus rex“. Qui tres, ut ego abritror, imaginem totius philosophiae tenent, quae apud eos in tres partes dividitur, logicam, physicam, ethicam, id est rationalem, naturalem, moralem. Rationalis est illa quae Deum patrem omnium confitetur, ut est Abimelech. Naturalis illa est quae fixa est et tenet omnia, velut naturae ipsius viribus nitens, quam profitetur Ocozath, qui dicitur „tenens“. Moralis est quae in ore est omnium et ad omnes pertinet et pro communium similitudine praeceptorum in omnium ore versatur, quam designat iste Phicol, qui „os omnium“ interpretatur. Fr. Gn. 1183, TEG 3 (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E51: x3W62/# \&>/ +L „OI& ”X6+.“, B4 +L „P6:L# $#8%N-O DH#6/0L4 3< ^-+>286/“, j->% "2+= 06= &T%=4 3E@>T4, 06+9 35;_# C::. -685+/0Z4 +./ "#/;>U# ] ^X6286/ DH#6/014. |>L4 3A#+./ .I0 $WJ0># ^X6286/ +L# ~g/3A:>& 6I+J4, +M&6 06= -M#+6 +L# C0%T4 2TW%.#.?#+6a 8>12;.+.# D9% +L +./.?+.#.

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217

betrachtet35. Es wird behauptet, dass die Schekhina auf ihr Zelt herabkam36, was ihre besonderen Tugenden bezeugt. Die Veränderung ihres Namens machte sie von der „Fürstin ihres Volkes“ zur „Fürstin aller Völker“37. Ähnlich ist der exegetische Umgang mit Ketura. Die Tatsache, dass der Patriarch in einem hohen Alter erneut heiratet, stellte den Exegeten vor ein moralisches Problem. Die rabbinische Interpretation des Namens Ketura „diejenige, welche Befehle (mizwot) und gute Taten vereinbart (kithra)“38 deutet klar auf eine Spiritualisierung ihrer Person. Die zweite Ehe Abrahams wird in den Midraschim zwar nicht in Frage gestellt, es wird aber betont, dass dies nach göttlichem Befehl und nicht wegen der Lust des Patriarchen geschah. Abraham werden gezielt bestimmte asketische Charakteristiken zugeschrieben, welche eventuelle Missverständnisse über die Gründe der Ehe ausschließen sollen. Origenes lehnt die wörtliche Bedeutung der zweiten Ehe Abrahams als unwürdig ab. Dabei spielt auch das Argument des hohen Alters eine wichti( ge Rolle, aber vor allem die moralische Askese des Patriarchen. In einem Fragment, dessen ursprüngliche Zugehörigkeit kaum bestimmt werden kann, zeigt sich Origenes aber viel aufmerksamer für die historische Rolle Keturas in der Heilsgeschichte39, wo ihrer Mutterschaft ein Wert beigemes( sen wird, ohne dass Origenes zu einem moralischen Exkursus zum Thema „Mutter sein“ veranlasst wird. Dem Name Ketura gibt Origenes die Bedeu( tung „Weihrauch“, was sich im Midrasch nicht finden lässt, und folgert daraus allegorisch, dass die Christen der gute Duft vor Gott seien. Der nächste Schritt ist, wie erwartet, eine allegorisch(psychologische Interpreta(

35 36 37 38 39

Vgl. M. Grohmann, Die Erzmütter: Sara und Hagar, Rebekka, Rahel in M. Öhler (Hg.), Alttes tamentliche Gestalten im Neuen Testament, Darmstadt 1999, 99. Vgl. GenRab LX.16. Vgl. GenRab XLVII.1. GenRab LXI.4: /"&(7 /"90)( !((2) !%74#. Fr. Gn. 1374, TEG 3 (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E65: ~-L +Z# +A0#T# >++.,%64 \8#5 D>D1#62/ -:>U2+6, — 06+£0526# +0>/3A#5# +' i-_% +#8>%L4 –T2AT4, $-1D.#.4 {# +.? ~g%693 06= 2HDD>#+*# "2+/ 2,#.;.4 "@ 6I+J4 "W/>3A#.H -6/;.-./>U286/, >7 ;_ 3< ;,#6/+. >I8,4, $::M +./ +%6-6/#E;6 6I+J4, +U6#, "DDHr286/ ;/;620.3A#.H. Vgl. Grohmann, 1999, 100. Vgl. hom. in Gen. 11.2: Profectus etenim sanctorum Scriptura figuraliter per coniugia designat [...] Quod et si patientiam tibi iungas et mansuetudinem ceterasque virtutes, tot videberis accepisse uxores, quot virtutibus gaudes. Es werden Beispiele wie Solomon oder Helkan erwähnt. GenRab LX.5. Vgl. Fr. Gn. 1327, TEG 3 (Petit): -.::< i-.3.#< R ª>gA006 d%35#>,>+6/. Vgl. hom. in Gen. 10.3: Ista ergo talis anima, quae agit cuncta patienter, quae tam prompta est et tanta eruditione subnixa quae de profundis haurire scientiae fluenta consuevit, ista potest copulari nuptiis Christi.

Kleinere Themen aus der Patriarchen Geschichte

219

Die Ehefrauen der Patriarchen als Bild des Volkes Gottes. Analogien und polemische Züge Außer der moralischen Interpretation bekommen die Frauen der Patriarchen bei Origenes eine besondere, fast typologische Bedeutung beigemessen, bei der sie als Bild des Volkes Gottes verstanden werden. Diese „Grundallego( rie“ ist für Origenes nicht ausreichend. Durch mehrere Hinweise betont er, dass es sich um das neue Volk Gottes, die Kirche handelt. Diese Umwand( lung des Volkes Gottes illustriert er sehr deutlich durch das Beispiel Saras. Sara bindet sich zuerst an Abraham, der das Gesetz symbolisiert. Dann kommt sie (wie in einer zweiten Ehe) zur Kenntnis der neutestamentlichen frohen Botschaft. Dabei denkt Origenes offensichtlich an Abimelech und allegorisiert die ganze Geschichte als eine Anspielung auf die Bekehrung der Heiden47. Nun, die missionarische Tätigkeit von Abraham und Sara ist in den Midraschim ein durchaus bekanntes Element48. Die Tatsache, dass in der Vergangenheit eine Bekehrung der Völker zum Judentum stattgefunden habe, war sicherlich ein wichtiges Hoffnungselement für die jüdische Ge( meinde in ihrer schwierigen Situation im dritten Jahrhundert, einer Zeit, in der die jüdischen Missionsversuche längst noch nicht aufgehört hatten49. Origenes lehnt die Behauptung ab, der Patriarch habe jemanden bekehren können, da er dazu laut Origenes nicht groß genug war. Er bleibt nur ein Typos der zukünftigen Wirkung Christi. Das Gleiche gilt für Sara, die logi( scherweise als Typos der Mission der Kirche dargestellt wird. Die Betonung, dass die biblischen Gestalten nur Typen sind und selbst keine Missionare waren, ist wohl polemisch gemeint. Der Gegensatz zwischen dem Patriar( chenpaar als Typos der christlichen Mission und der Annahme einer tatsäch( lichen Mission der beiden stellt einen wesentlichen Unterschied zwischen der christlichen und der rabbinischen Exegese dar50.

47 48 49 50

Vgl. hom. in Gen. 14.3. Vgl. z.B. NumRab VIII.9 oder GenRab XLVI.2. Vgl. Simon, 1948, 277. Siehe dazu J. Pilcher, Abraham, in M. Öhler (Hg.), Alttestamentliche Gestalten im Neuen Testa ment, Beiträge zur biblischen Theologie, Darmstadt 1994, 57, der bemerkt, dass die Rolle Ab rahams in der jüdischen Missionspropaganda den größten Unterschied zwischen christli cher und jüdischer Rezeption Abrahams darstellt.

220

Kapitel 7

Die „ekklesiologische“ Interpretation der Ehefrauen der Patriarchen wird aber dennoch weiterhin benutzt. So wird z.B. im Bezug auf Rebekka gesagt: Rebekka folgte dem Diener und kam zu Isaak: genauso kam die Kir( che, den Worten der Propheten folgend, zu Christus51. Origenes bemerkt, dass mit Rebekka eine biblische Tradition beginnt, die das erste Treffen eines Paares bei einem Brunnen situiert: Jakob verliebte sich dort in Rachel und auch Moses traf seine Frau Sephorah an einem Brunnen. Das erlaubt ihm die Allegorie Christus(Kirche auf alle Ehen der Patriarchen zu erweitern52.

Mystische Interpretation der Ehen der Patriarchen als Bild der Bezie( hung Seele(Gott. Die Figur Saras interpretiert Origenes auch als die schwache und weibliche Seele, welche dem Geist (Abraham) folgen muss. Auf dieser Gedankenlinie entwickelt sich die Vorstellung von der Frau (Sara) als der schwachen menschlichen Seele, die dank der Wirkung des Heiligen Geistes als „geistige Kinder“ unterschiedliche Tugenden gebiert. Sie wird hier allerdings nicht völlig entwickelt, denn wir sehen, dass Abraham zwar als Figur der Ver( nunft, nicht aber als Typos Gottes, der mit der Seele eine mystische Ehe geschlossen hat, betrachtet wird. Nach der Allegorie, die Sara als die Seele präsentiert, stellt Origenes Isaak als die geistige Freude dar. Die Seele ist aber nach wie vor eine „schwache Substanz“, welche durch Unvollkom( menheit und Kampf gegen die Luste des Fleisches gekennzeichnet ist53. Nicht übersehen werden darf auch eine Interpretation, welche Saras Worte als Metapher der Worte des Heiligen Geistes darstellt54. Wir haben schon erwähnt, dass die Rabbinen hauptsächlich die Keusch( heit Rebekkas moralisch schätzen. Auch Origenes betont diese Tugend, die er vor allem geistig versteht. So bezeichnet er die Mutter Jakobs als die per(

51 52 53 54

hom. in Gen. 10.5: secuta puerum Rebecca venit ad Isaac; secuta enim sermonem propheti cum Ecclesia venit ad Christum. Vgl. hom. in Gen. 12.2. Vgl. hom. in Gen. 8.10. Vgl. GenRab XLV.2 bezüglich Gen 16:2 „Und Abraham hörte auf ihr (Sara)“. Die Stelle ist von Grohmann, 1999, 97 kommentiert.

Kleinere Themen aus der Patriarchen Geschichte

221

fekte Seele, welche die Versuchungen des Teufels nicht kennt55. Der Diener, der Rebekka für seinen Herrn aussucht, wird dagegen als die Worte und Taten der Propheten allegorisiert, deren Kenntnis die Voraussetzung für die mystische Ehe mit Christus ist56.

Interpretation der Ehen und der Ehefrauen der Patriarchen. Zusammenfassung Die origenianische und die rabbinische Exegese der Ehen der Patriarchen zeigen so mehrere Analogien, aber auch einige nicht zufällige Unterschiede. Zu den Analogien zählt in jedem Fall eine Tendenz zur Spiritualisierung der Ehen der Patriarchen, besonders deutlich im Falle von Abraham und Ketura. Dabei wird die Ehe als eine geistige oder moralische Verbindung dargestellt und den Ehemännern werden asketische Charakteristiken zugeschrieben, welche jede möglich physische Lust ausschließen sollten. Grund für diese Bemühungen waren sehr wahrscheinlich die Auslegungen v.a. gnostischen Ursprungs, welche den biblischen Berichten Unwürdigkeit vorwarfen. Die Rabbinen fühlten sich genauso verpflichtet, eine Antwort auf diese Vorwür( fe zu geben wie Origenes. Die von ihm bevorzugte Auslegung ist natürlich die allegorische. Diese entwickelt sich, wie erwartet, in zwei Schritten: zuerst wird die Frau psychologisch als Bild der Seele dargestellt und dann auch als Typos der Kirche betrachtet. Diese Methode, die z.T. von Philo beeinflusst ist, nimmt scheinbar keinen Bezug auf die rabbinische Auslegung. Jedoch sind einige polemische Züge nicht zu übersehen, z.B. die Interpretation der Mission Abrahams und Saras bei den Völkern. Die Allegorie Braut / Israel war seit den ältesten Auslegungen des Hohe( liedes im jüdischen Milieu bekannt. Ob die gleiche Allegorie als selbstver( ständlich auf die Frauen der Patriarchen übertragen wurde oder war dies eine Ausleihe bei anderen Exegeten wie z.B. Origenes war, ist schwer zu sagen.

55 56

Vgl. hom. in Gen. 10.4. Vgl. hom. in Gen. 10.2.

222

Kapitel 7

Auslegung der Ablehnung der erstgeborenen Söhne (Ismael, Esau) Die Tradition der abgelehnten erstgeborenen Brüder ist im biblischen Text stark präsent, was für die Exegeten nicht unbemerkt blieb. Sowohl Origenes als auch die Rabbinen bemühen sich, eine glaubwürdige Antwort an die damit gestellte Frage zu geben, welche die Gerechtigkeit Gottes nicht in Frage stellt. Um die Gerechtigkeit Gottes bei der Ablehnung der älteren Brüder zu bestätigen, stellen die Exegeten die abgelehnten Brüder als Sünder dar. Die Rabbinen bedienen sich dabei aggadischen Materials. Origenes versucht das Gleiche durch die allegorische Auslegung zu erziehen. Wir werden sehen, dass diese „allegorische Auslegung“ in vielen Punkten der aggadischen Interpretation ähnlich ist. Allerdings sind die Endziele dieser Auslegungen unterschiedlich. Während sich Origenes als christlicher Exeget der Geschich( te der abgelehnten Brüder typologisch bedient und sie als Bild des israeliti( schen Volkes interpretiert, bemühen sich die Rabbinen die abgelehnten Fi( guren als Bild der Heiden und indirekt der Kirche aus den Heiden darzu( stellen.

Ablehnung und Auserwählung der Brüder nach den Rabbinen Die Erklärung der Abschiebung Ismaels und seiner Mutter Hagar ist ohne Zweifel ein exegetisches Problem. Wir müssen aber feststellen, dass die Ge( schichte in Laufe der Zeit von den jüdischen Exegeten unterschiedlich inter( pretiert wurde. Im Jubiläenbuch handelt sich immer noch um die reine Eifer( sucht Saras57. Später, in Genesis Rabba, beginnt eine Tendenz zur negativen Auslegung der Figur Ismaels, dem verschiedene schwere Sünden zuge( schrieben werden. In noch späteren Texten wie im Pirqe de Rabbi Eliezer dagegen findet eine weitere Umwandlung der biblischen Personen statt, indem eine Bekehrung Ismaels und eine Versöhnung zwischen ihm und Abraham und Isaak angenommen wird58.

57 58

Jub. XVII.4. Vgl. Oberhänsli Widmer, 1997, 295 301.

Kleinere Themen aus der Patriarchen Geschichte

223

Das Werk, das die „negative“ Auslegung Ismaels am stärksten vertritt, ist Genesis Rabba. Das ist, wie schon oft erwähnt, das Werk, das sich chrono( logisch am besten für einen Vergleich mit Origenes anbietet. Nach Genesis Rabba sah Sara, dass Ismael lästerte und ungerecht war: er verführte verheiratete Frauen und praktizierte Idolatrie, wobei er Altäre baute und auf ihnen opferte59. Deswegen entschied sich die Matriarchin, den Sohn Hagars abzuschieben. Die Sünden, welcher Ismael sich schuld gemacht hat, sind die schwersten, die das Alte Testament kennt: sexuelle Vergehen und Idolatrie. Derjenige, der sie praktiziert, gefährdet grundsätzlich den Plan Gottes, indem er die physische und geistige Entwicklung des auser( wählten Volkes verhindert. Also wird Ismael automatisch zum Gegner des Plans Gottes und auch seines Auserwählten Isaaks gemacht. Diese Rivalität zwischen den beiden entspricht allegorisch der Rivalität zwischen dem Volk Gottes (Israel) und den Heiden. Eine solche Rivalität existiert nach der rab( binischen Auslegung nur im irdischen Leben. Isaak, der auch für die zu( künftige messianische Welt geschaffen wurde, wird dann triumphieren60. Die Argumentation bezüglich Esau unterscheidet sich nicht besonders: ihm werden auch unterschiedliche Sünden, darunter Frauenschändung zugeschrieben61. Nach anderen Traditionen plante Esau den Mord an seinem Bruder Ja( kob. Dieses Ereignis sah Rebekka dank ihrer prophetischen Gabe voraus, die nach den Rabbinen für alle Matriarchen charakteristisch war62. Indirekt wird Esau Idolatrie zugeschrieben, da die Rabbinen ihn traditi( onell als Vorvater der Römer und der anderen Heiden ansehen, während Jakob natürlich als Vater Israels gilt63. Diese Allegorie Esau/Rom und Ja( kob/Israel wird oft im Midrasch erwähnt. Damit bestätigt sich unsere erste Behauptung, dass die Rabbinen bewusst versuchen, die älteren Brüder als Götzendiener und Vorfahren der Heiden darzustellen. Der Grund für diese ausgesprochen negative Auslegung Ismaels und Esaus in Genesis Rabba, die sich, wie wir schon bemerkt haben, stark von

59 60 61 62 63

Vgl. GenRab LIII.11. Vgl. GenRab LIII.12. GenRab LXIII.12. Das gleiche Motiv begegnet auch in GenRab LXV.1. GenRab LXVII.9; dazu auch bMeg 14a, wo als Prophetinnen Sara, Mirjam, Debora, Hannah und Esther erwähnt werden. GenRab LXIII.7.

224

Kapitel 7

früheren und späteren Interpretationen unterscheidet (besonders was Ismael betrifft), scheint symptomatisch zu sein. Genesis Rabba ist das Werk, das sich am meisten mit der Entwicklung der frühchristlichen Exegese überschnei( det. Wenn wir nach den Gründen dieser Auslegung suchen, können wir von ihrem chronologischen Rahmen nicht absehen. Die christliche Exegese stellt die biblische Episode der Eifersucht Saras als unwürdig in ihrem wörtlichen Sinne dar. Die Frau des Patriarchen konnte auf keinen Fall solche niedrige Gefühle empfinden. Also war eine ähnliche Auslegung, wie die im Jubiläen( buch, für die Rabbinen unmöglich. Für die christlichen Exegeten und kon( kret für Origenes war dies Anlass für eine Allegorisierung der Geschichte. Die Rabbinen mussten sich logischerweise bemühen, der Episode eine plau( sible Erklärung auf der Ebene der historischen Bedeutung zu geben. Das war aber wahrscheinlich nur eines ihrer Motive. Der zweite nicht weniger wichtiger Grund für die Veränderung der rabbinischen Auslegung ist die Tendenz der christlichen Exegeten (auch des Origenes), die Geschichte der abgelehnten Söhne zu typologisieren und sie auf die beiden Völker Gottes, Juden und Christen zu beziehen. Die Juden bekamen hierbei die Rolle der älteren, abgelehnten Brüder. Dies blieb sicher nicht unbemerkt bei den jüdi( schen Exegeten, die sich folglich bemühten, die Figur der älteren Brüder in möglichst negativem Licht zu interpretieren. Ihnen werden Sünden wie Idolatrie zugeschrieben, die sie den Heiden verähnlichen. Das Ziel ist ganz deutlich: die älteren Brüder müssen als ungeeignet für einen möglichen Vergleich mit dem israelitischen Volke dargestellt werden. Gleichzeitig ist der Hinweis auf die älteren Brüder als Typoi der Heiden ein indirekter An( griff gegen die christliche Gemeinde, die in der Zeit der Verfassung von Genesis Rabba hauptsächlich aus Konvertiten aus dem Heidentum bestand.

Origenianische Interpretation der abgelehnten Brüder Wenn wir jetzt die origenianische Interpretation der Ablehnung der älteren Brüder analysieren, werden wir merken, dass die gleiche Interpretationslinie auch dort zu erkennen ist, allerdings klingt es anders: die jüngeren, bevor( zugten Brüder sind Typoi des Christentums, während die älteren das jüdi( sche Volk symbolisieren. Also ist die Logik der Argumentation die gleiche, das erwünschte Ziel allerdings unterschiedlich.

Kleinere Themen aus der Patriarchen Geschichte

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In Bezug auf Isaak und Ismael schlägt Origenes die folgende Interpreta( tion vor: Ismael symbolisiere das Volk nach dem Fleisch, während Isaak das Volk Gottes im Geiste darstelle64. In der zwölften Genesishomilie beschäftigt sich Origenes mit der Pro( phezeiung, die Rebekka gegeben wurde: „zwei Völker sind in deinem Leib, und ein Volk ist dem anderen überlegen und der Ältere muss dem Jüngeren dienen“(Gen 25:23). Das ältere Volk, sowie der ältere Bruder Esau, ist nach Origenes das jüdische Volk, während das jüngere Volk (die Nachkommen Jakobs), die christliche Kirche sei. Origenes behauptet, das wäre selbst für die Juden ganz klar65. Die Tugend des jüngeren Volkes ist, laut Origenes, seine Demut66. Auch in der vierzehnten Genesishomilie wird Isaak (ähnlich wie in Gal 3:16) als Typos des christlichen Volkes und Christi selbst dar( stellt67. In anderen Details ist die origenianische Interpretation der rabbinischen sehr nah. So z.B. erkennt auch Origenes in einem Fragment zu Gen 27:45 das Vorhaben Esaus, Isaak zu töten, allerdings ohne Rebekka eine Vorsehungs( gabe zuzuschreiben, wie es bei den Rabbinen der Fall war. Er spricht gele( gentlich von Esaus Sünde, als ob sie verwirklicht gewesen wäre68 und hinter( lässt den Eindruck, dadurch die Tat Rebekkas und Jakobs entschuldigen zu wollen. Die Beziehung zwischen Isaak und Jakob wird als analog der Beziehung von Gottes zu Jakob verstanden: z.B. der Segen, mit dem Isaak Jakob segne( te, entsprach nach Genesis Rabba dem Segen Gottes für Jakob69.

Auslegung der jüngeren Brüder. Zusammenfassung Aus der Analyse der Interpretationen der Ablehnung der älteren Brüder können wir schließen, dass eine bestimmte „Symmetrie“ zwischen der Ent( wicklung der christlichen Auslegung und der jüdischen Antwort besteht.

64 65 66 67

68 69

Vgl. hom. in Gen. 7.6. hom. in Gen. 12.3. Fr. Gn. 1392, TEG 3 (Petit): Y 6I&Z# >V#6/ 3>EFT#, ;.H:>,>+6/ +S "0 +6->/#.W%.2,#54 ":M22.#/. hom. in Gen. 14.1: Huius Isaac duas nobis figuras exposuit Apostolus Paulus, unam, qua dixit quod Ismael quidem, filius Agar, populi secundum carnem, Isaac vero populi qui ex fide formam teneret, aliam, qua ait: „semini tuo, tamquam in uno, qui est Christus“. Fr. Gn. 1492, TEG 3 (Petit): œ4 +.? $;>:W.0+1#.H -%1+>%.# +' o36%+Eb $-.8#*20.#+.4. Vgl. GenRab LXXV.8.

226

Kapitel 7

Die zunehmend allegorische Interpretation der Episode provoziert einerseits die jüdischen Exegeten, eine plausible Erklärung des wörtlichen Sinnes zu suchen. Andererseits ist die Typologie, welche das Christentum als den bevorzugten jüngen Bruder darstellt, Anlass für eine entsprechende polemi( sche Antwort jüdischerseits, welche darauf zielt, die älteren Brüder als Bild der Heiden und vielleicht nicht zuletzt der Kirche aus dem Heidentum zu präsentieren. Da beide Interpretationen von Philo unabhängig sind, der die zwei Völker nur moralisch als Schlechtigkeit und Gerechtigkeit interpretiert und keine typologische Modelle vorschlägt, können wir sicherlich schließen, dass die rabbinische Interpretation in diesem Falle eine Antwort auf die christliche Typologie ist. Da diese bei Origenes gut entwickelt und chrono( logisch eine der ersten ist, kann er die christliche Quelle der Rabbinen gewe( sen sein.

Jakob und Joseph. Die auserwählten Patriarchen Zu den Figuren aus der Abraham(Geschichte, deren Interpretation bei Ori( genes und bei den Rabbinen besondere Aufmerksamkeit verdient, zählen ohne Zweifel die Patriarchen Joseph und Jakob. Da die rabbinische Ausle( gung beider Figuren spezifische Züge enthält, ist es unser Ziel, diese zu identifizieren und eventuelle Spuren dieser Züge in der origenianischen Auslegung zu erkennen. Da das origenianische Material z.B. zu Jakob sehr begrenzt ist, erweist sich ein solcher Vergleich als keineswegs leicht und kann sich deswegen nur auf bestimmte Themen beschränken.

Die rabbinische Auffassung der auserwählten Patriarchen Die erste Charakteristik der rabbinischen Auslegung der Figuren beider Patriarchen ist die Auffassung vom „auserwählten Patriarchen“. Die rabbi( nische Verdienstlehre ist uns schon von der Auslegung Noahs, Abrahams und Lots her bekannt. Bei ihrer Interpretation der Geschichte Jakobs und Josephs gehen die Rabbinen einen Schritt weiter, indem sie eine besondere Gnade Gottes und eine Erwählung der Patriarchen annehmen, welche den Verdiensten vorangeht: Joseph z.B. wurde mit der Gnade und der Erwäh( lung Gottes versehen, bevor er sich als keusch und barmherzig erwies. Mit Hilfe zweier Psalmzitaten (Ps 135:5 und Ps 106:23) wird behauptet, dass

Kleinere Themen aus der Patriarchen Geschichte

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Jakob der Auserwählte Gottes unter den Patriarchen und Moses der Auser( wählte unter den Propheten sei70. In GenRab LXXXVI werden bestimmte Charakteristiken von Jakob und Joseph erwähnt, welche sie als auserwählt und als fast a priori gerecht darstellen: beide wurden beschnitten geboren, die Mütter beider waren zuerst unfruchtbar und gebaren danach je zwei Söhne, die Geschwister beider hassten sie und versuchten sie zu töten, beide waren für eine Zeit Hirten, flüchteten aus Erez Israel und nahmen keine Israelitinnen als Frauen. Beide bekamen Kinder außerhalb des Landes, beide wurden bei ihren Reisen von Engeln begleitet, bekamen Hilfe im Traum und die Vaterhäuser beider wurden gesegnet71. Wie wir sehen, sind einige dieser Charakteristiken mit Wundern (Söhne unfruchtbarer Mütter, beschnitten geboren), andere mit ihrer Verwandtschaft verbunden (die Geschwister beider versuchten sie zu töten). Weitere Aspekte ihres Lebens zeigen sie als untypisch für das jüdische Lebensmodell (sie flüchteten aus Erez Israel und heirateten keine Israelitinnen). Es wird also ein Modell des Gerechten ent( worfen, der seit seiner Kindheit verfolgt und dank Gottes Hilfe immer wie( der gerettet wird. Es ist durchaus klar, dass dies in der konkreten histori( schen Situation am Zeitpunkt der Abfassung der Midraschim ein wichtiger literarischer Topos war. Diese Konzeption der Vorauswahl der Heiligen ist im Alten Testament bekannt72. Bei den Rabbinen wurde sie oft benutzt, wie unsere Beispiele zeigen. In der origenianischen Exegese von Jakob und Jo( seph ist das Thema der Gnade und der Verdienste nicht so zentral wie es für andere christliche Exegete z.B. für Augustinus ist. Die Vorstellung, dass Gott sich bestimmten Gerechten in einer besonderen Weise offenbart hat, ist ihm auf keinen Fall fremd. Wir erinnern uns an Abraham, von dem Origenes annimmt, er hätte das Selbstopfer und die Auferstehung Christi vorherge( wusst73. Gleiches gilt für das geistige Verständnis der Vorschriften seitens Moses und Aarons74. Im Falle von Jakob und Joseph meint Origenes, wie wir sehen werden, dass beide sich ihrer eigenen Rolle in der Heilsgeschichte bewusst waren.

70 71 72 73 74

Vgl. GenRab LXXVI.1. Vgl. GenRab LXXXIV.6. Vgl. Jer 1:5. hom. in Gen. 8.1. Zum Thema der Vorsehung der alttestementlichen Gerechten siehe auch G. Sgherri, Chiesa e sinagoga nelle opere di Origene, Milano 1982, 70 72. Vgl. Peri Pascha 2.1.

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Die Kraft der Verdienste Die zweite Charakteristik der rabbinischen Auslegung der Figuren Jakobs und Josephs ist die Betonung der eigenen Verdienste beider Patriarchen. Trotz ihrer besonderen Erwählung, wird behauptet, dass die Verwirkli( chung der Versprechen Gottes von der Gerechtigkeit der Personen, d.h. von ihren jeweiligen Verdiensten abhängig ist75. Diese Verdienste gelten dann für das ganze israelitische Volk, eine Konzeption, welche wir schon bei der Auslegung des Opfers Isaaks vorgefunden haben76. Die dritte Charakteristik betrifft die besonderen Gaben, welche Gott den Patriarchen zuteilt, wie die Vorsehung des Schicksals des Volkes und des Tempels, die Vorkenntnis der Tora und der Idolatrie, was wir zum Teil auch in Bezug auf Abraham festgestellt haben. Mehrmals wird betont, dass die Verdienste der Patriarchen von beson( derem Nutzen für das ganze Volk waren: der Auszug aus Ägypten z.B. war dank der Verdienste Jakobs möglich. Im Text wird die allgemeine Bezeich( nung „Patriarche“ benutzt, da aber Jakob das Thema des ganzen Kapitels ist, können wir davon ausgehen, dass er auch hier gemeint ist 77. Die rabbinische Interpretation der Figur Josephs enthält ähnliche Züge. Durch das Schicksal Josephs verwirklicht sich eine wichtige Etappe der Heilsgeschichte. In diesem Sinne müssen die Rabbinen eine Art Notwendig( keit der Geschichte annehmen. Der Verrat der Brüder und der Verkauf Jo( sephs wird fast wie ein historischer Zwang dargestellt78. Ähnlich verläuft die rabbinische Exegese der Episode der Wiedererkennung der Brüder. Diese ist für die Rabbinen eine Schlüsselszene für die Fortsetzung der Geschichte des Volkes Gottes. Als Joseph an Benjamins Schulter weint, sieht er die Zerstö( rung des Tempels und das Exil des Volkes voraus79. Die eigentliche Ge( schichte Josephs spielt sich so im größeren Rahmen der Heilsgeschichte ab und ist von dieser abhängig. Die Zusammengehörigkeit beider Ebenen des biblischen Berichts (der Geschichte der Familie Jakobs und der Heilsge( schichte) war ohne Zweifel schon von Philo so verstanden worden, wird aber bei Origenes viel stärker betont. Philo bemüht sich vor allem darum,

75 76 77 78 79

Vgl. GenRab LXXVI, 2. Marmorstein, 1920, 20. Vgl. GenRab LXXIV.12. Vgl. GenRab LXXXIV.5. Vgl. GenRab XCIII.12.

Kleinere Themen aus der Patriarchen Geschichte

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den biblischen Bericht durch symbolische und allegorische Deutungen zu erklären. Eine rein allegorische Auslegung ist auch den Rabbinen nicht fremd. Um ein Beispiel aus der Joseph(Auslegung zu geben, können wir die Interpretation des Kleides Josephs erwähnen: diese wird entweder als Andeutung auf die Trennung des Schilfmeeres /" 6,, oder als Andeutung auf alle Feinde Josephs bezogen, deren Namen mit den Initialbuchstaben des Wortes /"6, begin( nen80.

Die Vorsehung als besondere Gabe Gottes Die Auffassung, dass den Gerechten das Schicksal des Tempels und des Volkes vorgezeigt wurde, haben wir schon im Falle von Abraham und Isaak feststellen können. Dieses Konzept wird dann auch auf die folgenden Gene( rationen von Patriarchen ausgeweitet. Nicht nur die beiden Zerstörungen des Tempels81 und die Idolatrie wurde ihnen offenbart, sondern auch der gerechte von Gott befohlene Opferkult82 und die Gabe der Tora, welche Abraham und die anderen Patriarchen durch göttliche Inspiration schon kannten83. Isaak soll auch das Exil der Israeliten vorausgesehen haben84, Jakob dagegen die Sklaverei in Ägypten (deswegen zögerte er, seine Söhne nach Ägypten zu schicken)85. Wir erkennen also in der Exegese der Figur Jakobs alle Hauptelemente der Heilsgeschichte, die wir im Laufe unserer Analyse der rabbinischen Genesis(Auslegung festgestellt haben: die Gabe der Tora, den Bau und Schicksal des Tempels und dementsprechen das Schicksal des israelitischen Volkes. Im Kontext der Vorsehung als besonderer Gabe Gottes an den auser( wählten Patriarchen ist die Auslegung des Traums Jakobs besonders wich( tig. Darin spiegeln sich mehrere der vorher erwähnten Elemente der Ver( dienst( und Gnadenlehre wieder, sowie weitere Hauptthemen rabbinischer Theologie wie Tempel, Tora und Priestertum. Der Traum Jakobs wird von

80 81 82 83 84 85

Vgl. GenRab LXXXIV.8. GenRab LXV.23: ."(3&( &%.( "(3& #+4)1 !"& 1‘‘&41 1$%1# GenRab LXXXII.5. Vgl. GenRab XCV.3. Vgl. GenRab LXXV.8. Vgl. GenRab XCI.6.

Kapitel 7

230

den Rabbinen als eine Art Offenbarung Gottes und seines Plans an Israel verstanden. Es wird z.B. versucht, den Ort, auf dem die Leiter stand, zu lokalisieren. R. Judah bar Simon identifiziert dessen Ort mit dem Tempelberg86. Es wird auch hinzugefügt, dass dem Jakob der Tempel in allen seinen Phasen (ge( baut, zerstört, wiederaufgebaut in der messianischen Zeit) vorgezeigt wor( den sei. Der Ort des Tempels spielte schon oft eine wichtige Rolle in der rabbinischen Auslegung, etwa im Falle der Schöpfung Adams, die angeblich auf dem Platz des Tempels stattgefunden haben muss, oder im Falle der Bindung Isaaks, die am gleichen Ort ausgeführt sein muss. Die Tatsache, dass als Ort der Leiter, auf der die Engel im Traum Jakobs ab( und aufstei( gen, der Tempelberg angenommen wird, verdeutlicht das besondere Ge( wicht dieser Tempeltheologie bei den Rabbinen. Weitere Hinweise zeigen den Ort als dem Thron Gottes gegenüberliegend87. Auch die Engel spielen in der Jakobsgeschichte eine wichtige Rolle; von ihnen wird gesagt, dass sie Jakob außer( und innerhalb von Erez Israel be( gleitet haben88. Sein ganzes Leben entwickelt sich so unter der Hilfe der Gnade Gottes und der Mitwirkung der Engel. Im Kontext der schon ange( deuteten Gnadenlehre, die im Falle Jakobs zum ersten Mal in der rabbini( schen Pentateuchauslegung so gut zum Ausdruck kommt, ist dieses Detail durchaus von Bedeutung. Dass diese Gnade und besondere Hilfe Gottes nicht nur Jakob, sondern auch die zukünftigen Generationen betrifft, wird an der Exegese von Gen 31:11 deutlich. In Genesis Rabba wird nämlich be( hauptet, dass der Engel Gottes nicht nur zu Jakob, sondern zu allen folgen( den Generationen sprach89. Weitere Details des Traums des Jakobs beziehen die Exegeten auf die Gabe der Tora und das Priestertum. Im Zusammen( hang mit der Interpretation des Verses „Und wenn Gott mir Brot zum Essen und Kleider zum Anziehen geben wird“ (Gen 28:20) wird auf die Prose( lythen, ihre Annahme der Tora und Befolgung der Gebote hingewiesen. Die Auslegung wird im Rahmen eines Dialogs zwischen einem prominentem Proselythen, Aquila, dem biblischen Übersetzer und R. Joshua inszeniert.

86 87 88 89

GenRab LXIX.7. Vgl. Ibid. GenRab LXVIII.12. GenRab LXXIV.3.

Kleinere Themen aus der Patriarchen Geschichte

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„Brot und Kleidung“ wird dann ganz allgemein auf die Tora und die pries( terliche Kleider bezogen90. Die gleichen Themen (der Tempel und sein Schicksal, das Priestertum und die Tora) finden sich als Allegorien auch an anderen Punkten der rab( binischen Auslegung, so etwa bezüglich Jakobs Besuchs bei Laban (Gen 29:1(4). Die drei Herden von Schafen, die Jakob auf dem Feld sieht, symboli( sieren die religiöse Struktur Israels (Priester, Leviten und einfache Israeli( ten)91. Durch diese kurze Analyse der rabbinischen Exegese der Figur Jakobs lassen sich die in der Einleitung erwähnten Charakteristiken bestätigen. Zum schon häufig erwähnten Argument der Verdienste der Gerechten kommt die Auffassung der besonderen Gnade Gottes hinzu, die den Ver( diensten Jakobs vorangeht. Diese Gnade ist mit einigen „außerordentlichen Hilfen“ wie Vorsehung des Schicksals Israels, des Tempels und des Kultes verbunden. Wenn wir jetzt zur origenianischen Interpretationen der Figur Jakobs übergehen, werden wir versuchen, Spuren dieser Auffassungen zu finden.

Origenes über Jakob und Joseph Das origenianische Material zum Thema ist leider sehr begrenzt: wir verfü( gen über nur wenige Seiten der 15. Homilie zur Genesis und einzelne grie( chische Fragmente, die uns überliefert sind. Dort interessiert sich Origenes für die unterschiedliche Benutzung der Namen des Patriarchen (Jakob und Israel). Origenes analysiert die Stellen, an denen die eine oder die andere Bezeichnung benutzt wird. Dabei sieht er einen qualitativen Unterschied: Und als er nach Ägypten kommt, wird nicht „Israel“, sondern „Ja( kob und seine Söhne“ gesagt. Und als er vor dem Pharao steht, um ihn zu segnen, wird er wiederum nicht Israel, sondern Jakob ge( nannt, da der Pharao den Segen Israels nicht empfing. Und wieder( um Jakob und nicht Israel sagt zum Pharao „die Tage deines Lebens sind wenige und schlecht“; das hätte Israel nie gesagt. Danach aber wird nicht von Jakob, sondern von Israel gesagt „er rief seinen Sohn Joseph und sprach zu ihm: wenn ich Gefallen in Deinen Augen ge(

90 91

GenRab LXX.5. GenRab LXX.9.

232

Kapitel 7

funden habe, leg Deine Hand unter meine Seite... und Du wirst Barmherzigkeit und Wahrheit an mir tun“ 92. Wenn wir jetzt an den Satz „quod utique numquam diceret Istrahel“ den( ken, haben wir den Eindruck, dass Origenes eine deutliche Zäsur zwischen die historische Persönlichkeit Jakobs und den ausgewählten Patriarchen „Israel“ setzt. Der erste (Jakob) hat eine rein historische Funktion, „Israel“ wird er nur dann genannt, wenn er eine Rolle in der Heilsgeschichte spielt. Das Gleiche gilt für die Ausdrücke „Söhne Jakobs“ und „Söhne Israels“: mit dem ersten Ausdruck werden nach Origenes die Nachkommen des „histori( schen“ Jakobs bezeichnet, während „Söhne Israels“ sich auf das auserwählte Volk bezieht. Wir beobachten so bei Origenes eine Entwicklung auf zwei historischen Ebenen: die Geschichte der Familie Jakobs und die Heilsge( schichte Israels. Zwischen den beiden Ebenen besteht eine enge Verbindung: die Fortsetzung der Heilsgeschichte wird durch die konkrete Geschichte der Familie Jakobs möglich. Eine ähnliche Vorstellung haben wir bei den Rabbi( nen bereits entdeckt. Trotz des sehr beschränkten origenianischen Materials, lassen sich doch einige allegorische Auslegungen entdecken. So werden z.B. die drei Stöcke Jakobs als die platonischen Einteilungen der Seele oder als die drei Stufen des geistigen Aufstiegs der Seele zur Kontemplation Gottes interpretiert (die Betrachtung der körperlichen Geschöpfe, die Kontemplation dessen, was unkörperlich ist und zuletzt der heiligen Dreifaltigkeit)93.

92

93

hom. in Gen. 15.4: Et cum intrat in Aegyptum, non Istrahel, sed Iacob dicitur et „filii eius cum ipso“, et cum stat ante Pharaonem, ut benedicat eum, non Istrahel, sed Iacob nomina tur, neque enim capiebat Pharao Istrahelis benedictionem. Et Iacob, non Istrahel est, qui dicit ad Pharaonem quia parvi et pessimi sunt dies vitae tuae. Quod utique numquam diceret Istrahel. Post hoc non de Iacob, sed de Istrahel dicitur quia „vocavit filium suum Ioseph et dixit ei: si inveni gratiam in conspectu tuo, pone manum tuam sub femore meo [...] et facies super me misericordiam et veritatem“ (Gen 47:29). Vgl. Fr. Gn. 1592, TEG 4 (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E84: 6c +%>U4 «Mg;./ 2H3g.:/0Z4 >72/# +./ 6c +%>U4 ;H#M3>/4 +J4 XH&J4 +L :.D/01#, +L 8H3/01#, +L "-/8H35+/01# +./ 6c +%>U4 8>T%E6/ +Z# 2T3M+T#, +Z# $2T3M+T#, +J4 oDE64 +%/M;.4, +./ D>#/0Z4, R -%60+/0< ;/9 +J4 06%Hk#54, R 8>T%5+/0< ;/9 +J4 2+H%60E#54a ;/9 ;_ +J4 -:6+M#.H +L# 0123.# +.?+.# 06= +T%E6# 6I+.? ¬#E@6+..

Kleinere Themen aus der Patriarchen Geschichte

233

Joseph und seine ägyptische Familie in Genesis Rabba und bei Orige( nes Ein Thema, dessen Interpretation dagegen gar nicht allegorisch ist, sondern die rein historische Ebene des biblischen Berichtes betrifft, ist die ägyptische Familie Josephs. Die Episode der Verführung Josephs durch Potiphars Frau weckt in besonderer Weise das Interesse der Exegeten. Die Geschichte ent( wickelt sich zu einem echten „Familiendrama“. Eine offensichtlich sehr po( puläre aggadische Tradition stellt Potiphar (den Herr Josephs) und Poti( phari (seinen Schwiegervater) als eine und dieselbe Person dar94. Der logi( sche Schluss dieser Auslegung ist, dass Joseph durch seine zukünftige Schwiegermutter verführt wird. Wie es dazu kam, dass Potiphar gleichzeitig der Käufer und der Schwiegervater Josephs sein konnte, wird aus den in den Midraschim überlieferten etymologischen Erklärungen seines Namens deutlich: Potiphar: weil er Böcke für idolatrische Opfer fütterte (/"%, /7,)). Po( ti(phera, weil er seinen Körper (Gebeine) enthüllte (%0(,), um Idole zu verehren95. Vom Schwiegervater Josephs überliefert der biblische Text, dass er Hohe( priester war. Da die Etymologien beider Namen (Potiphar und Potipheri) eine Anspielung auf priesterliche Dienste und Sterneverehrung einschließen, wird deutlich, dass die Rabbinen den Käufer des jungen Josephs und seinen Schwiegervater für eine Person gehalten haben. Warum Potiphar sich ent( schied seine Tochter Aseneth ausgerechnet diesem Mann zur Frau zu geben, den seine eigene Ehefrau begehrt hatte, wird uns in Genesis Rabba nicht über( liefert. Hilfreich für die Rekonstruktion der Geschichte ist ein griechisches Fragment des Origenes. Origenes übernimmt das rabbinische Missverständ( nis, nach dem beide Potiphars die gleiche Person wären, und verschweigt nicht, dass er diese Tradition von „Hebräern“ gehört hat. Origenes bemerkt, dass es Leser des biblischen Berichtes gäbe, welche die beiden Potiphars für zwei unterschiedliche Personen hielten, aber die Juden überlieferten, dass es

94 95

Vgl. GenRab LXXXVI.3. Ibid.: 1%2 !%(&0- ()20 %0(, 1".# 0%,"7(, ,1%; 1+(&0- /"%, /7,) 1"1# "%,"7(, 0%,"7(, $(1 %,"7(,

234

Kapitel 7

eine einzige Person sei96. Die Ausleger, welche die beiden Potiphars für zwei unterschiedliche Männer halten, sind z.B. der Autor des alexandrinischen Romans Joseph und Aseneth97, Philo98 und Jospehus99. Keiner von ihnen denkt, dass Josephs Käufer auch sein Schwiegervater sein könne. Dass Origenes die Verwechslung beider Potiphars aus rabbinischen Quellen entnommen hat, wird auch von den von ihm angebotenen Etymologien der Namen deutlich. Von der rabbinischen Etymologie Potiphars („der seinen Körper für die idolatrische Verehrung ( Verehrung der Sterne( entblößt“), übernimmt Ori( genes die Idee von „eröffnen, enthüllen“ und übersetzt den Name Potiphar mit „$-.->+M264”100. Allerdings verbindet Origenes diese Bedeutung des Namens nicht mit der Tatsache, dass Potiphar sich für bestimmte Kulte entblößte, sondern mit dem Faktum, dass er den Kopf seiner Frau (0>W6:*) enthüllt ($-.->+M264) hat. Dabei könnte eine Anspielung auf die “Enhüllung” des versuchten Betrugs gemeint sein. In diesem Fall sollte man 0>W6:* als Metapher für die Gedanken annehmen. Viel überzeugender ist dagegen, dass es sich um eine Anspielung auf Num 5:18 handelt, wo vom Einfersuchtsopfer die Rede ist. Die Haare der Frau, die wegen Betrug verdächtigt wird, werden gelöst. Der Hebräische Ausdruck lautet #$% 0%,101. Die Auslegung in Genesis Rabba überliefert das Verb %0,, während der biblische Bericht das Verb 0%, enthält. Beide Verben sind sich nach ihrem Klang und Bedeutung sehr ähnlich. Ori( genes scheint den Unterschied nicht gemerkt zu haben, weil er dachte, dass Potiphar als Priester, den in Num 5:18 beschriebenen Ritus vollziehen muss(

96

Vgl. Fr. Gn. 1940, TEG 4 (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E118: žL 3_#  .H+/W9% "# Ž#136+/ +.? -6+%14 "2+/ +J4 D6358>E254 +S “T2*W. t7*2>+6/ ;A +/4 Š+>%.# >V#6/ +.?+.# +L# C#;%6 -6%9 +L# ©#52M3>#.# +L# “T2*W. tI 3/:*W62/# Ÿg%6U./, $::’"@ $-.0%,W.H D#1#+>4 +L# 6I+L# >V#6/ :AD.H2/#, +L# ;>2-1+5# 6I+.? D>#13>#.# 06= +L# ->#8>%1#. 97 JosAs, 1.7. 98 Vgl. somn. 1.78 und Ios. 121. 99 Vgl. Ant. 2.91. 100 Vgl. Fr. Gn. 1940, TEG 4, (Petit); Metzler, Die griechischen und lateinischen Fragmente, 2010, E118: žL D.?# „$-.->+M2>/“, "# +S -6%6;>ED36+/ 0>E3>#.#, ;5:T+/01# "2+/# "D0:*36+.4 3./&>E64 "-6D.3A#.H DH#6/0E, 06= i-L $#;%L4 "W’ƒ "D0:*36+/ $-.->+M2>/ W52= +W6:+M##H3/ übersetzt, kann wahrscheinlich damit erklärt werden, dass Origenes sich bemühte, ein griechisches Verb zu finden, das die Bedeutung des hebräischen Verbs %0, besser wiedergibt. Für den Beweis von Josephs Unschuld spielte nach Origenes Aseneth, Potiphars Tochter, eine wichtige Rolle: sie hätte nämlich gesehen wie ihre Mutter den jungen Joseph zu verführen versuchte und diesen Vorfall dem Vater verraten. Origenes gibt dem Name Aseneth die Bedeutung 2,3-+T2/4 (Vorfall, Unglück), eine Etymologie, die er offensichtlich aus dem Hebräischen Wort '(6$ (Unfall, Unglück) ableitet. Der moralische Sturz der Mutter (2,3-+T36) ist der Grund warum die Tochter 2,3-+T2/4 ('(6$) genannt wird102. Diese Etymologie, die sich in den bis heute überlieferten Midraschim nicht nachweisen lässt, muss Origenes entweder aus einer mündlichen Überlieferung gekannt oder sie selbst mit Hilfe eines Wörter( buchs herausgefunden haben. Das Gleiche gilt für den von ihm angenom( menen Name der Frau Potiphars 0>W6:*. Die hebräische Analogie des Namens wäre Rosch (#$%). Der Eigenname, der dem Substantiv „Kopf” identisch ist, wurde allerdings in der biblischen Zeit nur für Männer benutzt (wahrscheinlich, weil das Substantiv #$% männlich ist). Dazu sollte man bemerken, dass im Hebräischen ein weiteres Homonym „Rosch” existiert, das allerdings „Giftpflanze” bedeutet und dessen metaphorische Benutzung hier auch nicht ausgeschlossen wäre ( die Begierde wird schließlich als eine Art Gift verstanden. Nach Origenes ging die Geschichte folgendermaßen weiter: Potiphar, der von Josephs Unschuld überzeugt und von seiner Keuschheit beeindruckt war, gab ihm seine Tochter Aseneth zur Frau. Dazu wollte der ägyptische Priester auch den Name seiner Familie vor möglichen schlechten Gerüchten bewahren103. Es war mir leider nicht möglich eine direkte Parallele dieser Geschichte in der rabbinischen Literatur zu finden. Allerdings wird GenRab LXXXVI gesagt, dass Potiphar den Anklagen seiner Frau gegen Joseph nicht geglaubt habe, da er Joseph sonst getötet hätte. Die Tatsache, dass er ihn nur ins

102 Ibid.: .I ;>U ;_ 86H3MF>/# >7 „2,3-+T2/4“ "0>E#5 (~2>#_8) 0A0:5+6/, +L "-= +' 35+%= 2,3-+T36 35#,2626, 06= >7 -%.2DAD.#># +S -%.+A%O Ž#136+/ +.? -6+%L4 6I+J4 +L $-.->+M2>/, +.? 3>+9 +6?+6 -%6&8A#+.4 i-’ 6I+.? +4 +L# 6I+L# >V#6/ :AD.H2/#, +L# ;>2-1+5# 6I+.? D>#13>#.# 06= +L# ->#8>%1#. P6E W62/ +6,+5# +#_8 ;/6g>g:50A#6/ +H8>U26#, 35;_# ;_ -68.?26# ;/9 +% $-.->+M264 +%1-.# +/#9 Y -6+*% 6I+J4, ":>D&8A#+.4 +.? -%MD36+.4 B4 2H#>/;HU6# 6I+7 -%.2DAD.#># +S -%.+A%O Ž#136+/ +.? -6+%L4 6I+J4 +L „$-.->+M2>/“, +.? 3>+9 +6?+6 -%6&8A#+.4 i-’6I+.? ++M2>/“ "# +S -6%6;>ED36+/ 0>E3>#.#, ;5:T+/01# "2+/ "D0:*36+.4 3./&>E64 "-6D.3A#.H DH#6/0E, 06= i-L $#;%L4 "W’ƒ "D0:*36+/ $-.->+M2>/ W52= +W6:/# (leiden) kategorisch ab und übernimmt die schon von Klemens6 (der wahrscheinlich Philo folgte7) berücksichtigte Etymologie aus dem Hebräischen „Pesach“ (Übergang), was im Griechischen mit ;/Mg62/4 wiedergegeben wird. Diese Erklärung entspricht nicht nur etymologischer Genauigkeit, sondern auch dem Verständnis der Sühne( und Erlösungskraft des Opfers, wodurch nach der allegorischen Interpretation des Origenes ein Übergang von der Sünde zum ewigen Leben möglich wird. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass diese Entwicklung schon im Alten Testament und bei den Rabbinen stattgefunden hat. Die Betonung der Leiden Christi und ihres Erlösungscha( rakters hat mehr oder weniger eine Analogie in der frührabbinischen Isaak( Auslegung. Die rabbinische Pascha(Auslegung dagegen konzentriert sich explizit auf die Folgen der Opferung des Paschalammes und natürlich nicht auf die Leiden des Tieres. Wir werden sehen, dass Origenes sich grundsätz( lich weigert, die Schlachtung des Paschalammes als Typos der Leiden Chris( ti anzunehmen. Unter seinen Gründen ist ein eventueller Einfluss der jüdi( schen Auslegung nicht auszuschließen.

Typologische und allegorische Auslegung des Pascha bei Origenes Die Pascha(Auslegung des Origenes folgt dem paulinischen Modell des Verständnisses des Alten Testaments als Schatten der Realitäten des Neuen. Andererseits versteht Origenes die christlichen Riten als nur Schatten des eschatologischen Gottesdienstes. Bezüglich der anderen Feste und des Pries( tertums werden wir oft dieses dreistufige Modell erkennen, so dass wir schließen können, dass es der origenianischen Liturgie(Vorstellung ent( spricht. Dieses mehrstufige Modell wurde nach der Auffassung des Orige( nes dem Moses offenbart und erklärt. Die Tatsache, dass die großen Gerechten des Alten Testaments die Reali( täten des Neuen vorhersehen konnten, ist ein Topos der origenianischen Auslegung des Alten Testaments, wie wir feststellen werden. Bezüglich des Zeitpunkts, an dem das Pascha gefeiert werden soll, behauptet Origenes

6 7

Str. 2.11.51. Spec. 2.147.

Interpretation des Pascha

257

auch, dass dieses Gebot nur Moses, Aaron und wenigen anderen Auser( wählten gegeben wurde. Weiterhin meint er, die Aussage „erster Monat“ beziehe sich auf die liturgische Bedeutung des Festes und nicht auf die zeit( liche Einteilung des Jahres8. Dies sei vom Volk missverstanden worden. Moses wird nicht befohlen zu sagen „Dieser soll euch der Anfang der Monate sein, erster ist er unter den Monaten eines Jahres“, son( dern „dass sie am zehnten Tag des Monats ein Schaf pro Vaterhaus“ nehmen sollen, daraus wird deutlich, dass dieser Monat nicht für das ganze Volk Anfang der Monate war, sondern nur für Moses, Aaron und diejenigen, zu denen es gesagt wird. Man muss sich vollkommen von der Schöpfung und dieser Welt abtrennen, um zu verstehen, dass man fast ein anderer werden muss, als man war, um hören zu können „dies soll der erster der Monate sein“9... Also wird der erste Monat als Anspielung auf die Vollkommenheit gedeutet. Diese Vollkommenheit wird dann nur auf Aaron und die Priester bezogen. Das Ziel des Origenes ist es, den Anfang als nicht zeitlichen Beginn, sondern einen Beginn des Erlösungsprozesses in der Heilsgeschichte darzustellen, was ihm den Weg zur Typologisierung des Paschaopfers (als Schatten des Opfers Christi) eröffnet. Dazu folgt gleich ein Hinweis auf das Wort Gottes am Anfang von allem. Die Parallele zwischen dem Wort Gottes und dem Pascha ist durchaus gewollt und impliziert die Vorstellung, das alttesta( mentliche Pascha sei ein Typos des Opfers des Logos (Christus)10.

Das Paschalamm als Typos Christi Wir haben schon vom Erlösungscharakter des Paschas und von dem großen Wert des blutigen Opfers gesprochen, das das Fest kennzeichnet. In diesem

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10

Vgl. Peri Pascha 2.1. Peri Pascha, 1.15 20, zitiert nach B. Witte, Die Schrift des Origenes über das Passa, Textausgabe und Kommentar, Altenberge 1993: n 3U#.4 {# Y 3/ 06= +S 0123O +.,+O ;>U B4 06+6:63gM#>/# j+/ 2&>;L# Š+>%.4 D>DA#5+6E +/4 -6%’l {#, }#6 $0.?26/ ;H#58'. Vgl. Ibid.

258

Kapitel 9

Sinne gehört das Pascha zu allen anderen alttestamentlichen Opfergebräu( chen, deren Charakteristika Blutvergießen, Erlösungs( und Heilskraft sind. Nach paulinischem Verständnis ist Christus durch seinen Tod am Kreuz das vollkommene Opfer, das gleichzeitig Erfüllung und Aufhebung des alttes( tamentlichen Opferkultes bedeutet. „Christus ist als unser Pascha geopfert worden”11, ist das Prinzip, nach dem die Typologie des Paschas und des Paschalammes entwickelt wird. Diese Typologie konzentriert sich zuerst auf den Wert und die Wirkung des Opfers (Sühneopfer, Erlösungskraft). Wei( terhin werden auch die unterschiedlichen Details des Ritus verglichen und typologisch interpretiert. Besonders interessant ist die folgende Beschrei( bung des Opferlamms im Vergleich mit Christus: „Ein vollkommenens männliches einjähriges Lamm“. Denn Christus ist ein vollkommenes Lamm, ihm mangelt nichts und er hat nichts Fehlerhaftes [in sich] (er benötigt nichts). „Männlich“ macht seine Kraft und seinen Mut deutlich. Es wurde gesagt „einjährig“, da ein Jahr die Zahl (der Monate) zeigt (diese Zahl wird erfüllt, nachdem die Sonne innerhalb von zwölf Monaten sich wieder am gleichen Platz befindet)12. Die Typologie Christus(Lamm wird auch im Kontext der Typologisierung der historischen Ereignisse des Auszugs aus Ägypten dargestellt. Das wahre Lamm ist Jesus Christus, dessen Typos das in Ägypten geschlachtete Lamm war, das die Hebräer dort vor der Macht des damaligen Herrschers Ägyptens rettete. Ägypten bedeutet „Dun( kelheit“ und Pharao bedeutet „Zerstörer“, der durch seine Herr( schermacht das, was im Licht der Tugend ist, zerstört13.

11 12

13

1Kor 5:7. Peri Pascha 2.3,2: žA:>/.# C%2># "#/6,2/.# -%1g6+.#. žA:>/.# DM% "2+/# Y %/2+L4 +S "# 35;>#= i2+>%>U286/ 35;_ "::/-A4 +/ \&>/# ;/’6I+.?. ‹%2># ;_ +L 2+>%>L# 06= $#;%>U.# 6I+.? ;5:.?+6/. h#/6,2/.# ;_ >‚%5+6/ "->= Y "#/6H+L4 2536E#>/ $%/83L# (->-:5%.3A#.#, R:E.H $-.068/2+63A#.H "-= +L# ‚;/.# +1-.# ;/9 35#Z# ;N;>06). Ibid.: +L $:58/#L# -%1g6+.#, j "2+/# %/2+L4 “52.?4, .Œ +,-.4 "DA#>+. +L "# ¢7D,-+O 2W6D_# -%1g6+.#, «H2M3>#.4 +.G4 +1+> Ÿg%6E.H4 "0 +J4 "@.H2E64 +.? +1+> C%&.#+.4 ¢7D,-+.H, l 06:>U+6/ 201+.4,  6%6s ;_ ;/620>;/62+*4, l4 ;/620>;6##,>/ +9 "# WT+= +J4 $%>+J4 \%D6 ;/9 +J4 6I+.? $%&.#+/0J4 "@.H2E64...

Interpretation des Pascha

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Im zehnten Buch des Johanneskommentars untersucht Origenes detailliert die Beschreibung des Festes nach Exodus 12 und stellt eine Reihe von Ana( logien zur Passionsgeschichte Jesu fest : z.B. entspricht das Verbot, die Kno( chen des Lammes zu zerbrechen14, der Tatsache, dass die Soldaten die Beine der anderen beiden Gekreuzigten zerschlugen, aber nicht die von Jesus15.

Ablehnung der Typologie der Opferung des Lammes als Bild der Leiden Christi Nun müssen wir bemerken, dass die Annahme der Typologie Pascha( lamm/Christus nicht selbstverständlich der Typologie Opferung des Lam( mes/Leiden Christi entspricht. In Peri Pascha untersucht Origenes auch die verschiedenen Details der Opferung des Lammes beim alttestamentlichen Pascha und schließt, dass es zwar als Opfer der Selbstopferung Christi ent( spricht, allerdings nicht seinen Leiden. Das Lamm wird von heiligen (Menschen) oder von Naziräern geop( fert, während unser Retter von Gesetzlosen und Sündern geopfert wird; da das Paschalamm von Heiligen geopfert wird, sagte der Apostel „Christus wurde als unser Pascha geopfert”, Christus wird nach dem Typos des Pascha geopfert, von Heiligen geopfert und das Pascha ist an sich ein Typos Christi, nicht aber Typos seiner Lei( den16. Die Typologie Christus Paschalamm wird so eher allgemein angenommen, in ihrem Opfer( und Erlösungscharakter. Die Ähnlichkeit der historischen Ereignisse der Schlachtung des Lammes und der Leiden Christi wird dage( gen redimensioniert. Es wäre m.E. falsch, diese Stelle als Gegensatz zur Aus(

14 15

16

Ex 12:10. Vgl. Jo. 10.15,94 (über Jn 19:32 36): x./0># ;_ +S „­2+.?# .I 2H#+%EX>+> $-’6I+.?“ Y “TM##54 "# +S >I6DD>:EO 0>&%J286/ B4 $#6W>%.3A#O "-= +%= +L# 2T+J%6 .70.#.3E6#, 06= j+> "# +S #13O 0>:>,.#+6/ +L -%1g6+.# "28E.#+>4 Ž2+.?# 6I+.? 3< 2H#+%Eg>/#. Vgl. Peri Pascha 2.1,4: +L 3_# -%1g6+.# i-L oDET# ] •6F/%6ET# 8,>+6/, Y ;_ 2T++6/a 06= j+/ +.? -M2&6 +L -%1g6+.# i-L oDET# 8,>+6/, >‚%50># +> Y $-12+.:.4a +L vM2&6 R3Z# "+,85 %/2+14, 8,>+6/ 3_# %/2+L4 06+9 +L# +,-.# +.? -M2&6, i-L +Z# oDET# 8,>+6/, 06= +,-.4 3_# %/2+.? "2+/# +L -M2&6, .I 3A#+./ D> +.? -M8.H4 6I+.?.

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legung im Johanneskommentar zu verstehen. Es ist natürlich durchaus mög( lich, dass beide Texte, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden sind, unterschiedliche Sichtpunkte des Origenes wiedergeben. Man kann tatsächlich feststellen, dass Origenes oft seine eigenen Vorstellungen korri( giert. Wir können aber auch bemerken, dass im Johanneskommentar zwar eine Verbindung zwischen der Opferung des Paschalammes und dem Opfer Christi hergestellt wird, sie konzentriert sich aber im Wesentlichen auf die Figur des Opfers und nicht auf den Akt der Opferung. In diesem Sinne wi( derspricht sie der Auslegung in Peri Pascha nicht.

Liturgische Typologie des Pascha Das Pascha ist keine nur auslegungsgeschichtliche oder theologische Frage. Das Pascha als das wichtigste alttestamentliche Fest ist auch eine liturgische Frage. Wir haben schon bemerkt, dass Origenes ein dreistufiges Modell der Liturgie aufstellt: alttestamentliche Liturgie als Schatten des neutestamentli( chen Kultes und diese seinerseits als Schatten des himmlischen Gottesdiens( tes. Wie die Mysterien (Riten) des Paschas, welche im Alten Testament zelebriert werden, durch die Wahrheit des Neuen Testaments auf( gehoben sind, so auch die Mysterien (Riten) des Neuen Testaments, die wir in ähnlicher Weise jetzt zelebrieren müssen, werden bei der Auferstehung nicht mehr nötig sein; dies wird durch die Tatsache symbolisiert, dass die Tageszeit, an der nichts bleiben soll und was übrig ist, in Feuer verbrannt wird, der Morgen ist17. Die obenwähnten Texte haben die Typologie Paschalamm/Christus deutlich gemacht. In Peri Pascha lesen wir: „Christus wird nach dem Typos des Pa( scha von Heiligen geopfert“. Der Satz kann nur als deutlicher Hinweis auf den christlichen Gottesdienst verstanden werden, da Christus historisch, wie Origenes vorher feststellt, nicht von Heiligen, sondern von Sündern geopfert worden ist. Also kann sich die Opferung durch Heilige nur auf den christli( chen Gottesdienst beziehen. Wir haben schon erwähnt, dass Origenes eine

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Peri Pascha 2.6,1: Sicut mysteria Paschae, quae in testamento veteri celebrantur, novi testamenti veritate sublata sunt, ita mysteria novi testamenti, quae similiter nunc celebrare debemus, necessaria in resurrectione non erunt, quod tempus mane significat, in quo nihil relinquetur et quod superaverit ex eo igne comburetur.

Interpretation des Pascha

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Typologie zwischen der Opferung des Lammes und den Leiden Christi bestreitet, er nimmt aber offensichtlich eine Analogie zwischen alttestament( lichem Paschafest und christlichem Gottesdienst gerne an. So stellt sich die Frage, als Typos welches christlichen Ritus er das Pascha versteht. Kein anderes christliches Ritual betont so stark die Opferrolle Christi wie die Eucharistiefeier. Umso überraschender ist es, dass die Typologie Pascha( lamm/Eucharistie, wie Harald Buchinger festgestellt hat18, bei Origenes fast völlig fehlt, außer an wenigen Stellen, wie in der Exodushomilie 1119, wo das Essen des Lammes allegorisch mit der Taufeucharistie verbunden ist. Bu( chinger beschließt20: „Es ist nicht klar, ob und inwieweit Origenes hier eu( charistietheologische Assoziationen erlaubt; es fällt nämlich auf, dass er in eindeutig eucharistischem Kontext sogar in Anspielungen auf seinen Lieb( lingsvers 1Kor 5:7 vermeidet, davon zu sprechen“. Statt einer Eucharistie(Typologie interpretiert Origenes das Verspeisen des Fleisches des Lammes als die Aufnahme des Wortes Gottes und sein richtiges Verständnis. Eine ähnliche Verbindung zwischen Essen vom Fleisch des Paschalammes und Wortgottesdienst ergibt sich aus dem Johan( neskommentar. Dort sagt Origenes, dass das Gebot, das Fleisch des Lammes zu essen, den Worten Jesu „Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch” entspricht21. Nach dem ersten Eindruck hätte dies fast als eine Andeutung der Eucharis( tie aussehen können, wenn Origenes nicht gleich eine weitere allegorische Erklärung hinzugefügt hätte: das Fleisch des Lammes als Text der Schrift und dessen Interpretation. Das Gebot, das Fleisch nicht roh, sondern gebra( ten zu essen, ist nach Origenes ein Hinweis darauf, dass man nicht bei der wörtlichen Bedeutung der Schrift, d.h. in ihrem „Rohzustand“ bleiben, son(

18

Vgl. H. Buchinger, Pascha bei Origenes, Insbruck 2005, 432. Der Autor zitiert hom. in gen. 10.3 „Christiani omni die carnes agni comedunt“, wo Origenes das Essen des Lammes als Teilnahem am göttlichen Logos versteht. 19 Vgl. hom. in Ex. 11.7: Nemo ergo potest audire verbum Dei, nisi prius fuerit sanctificatus, id est nisi fuerit “sanctus corpore et spiritu” (1Kor 7:34), nisi vestimenta sua laverit. Ingressurus enim est paulo post ad coenam nuptialem, manducaturus est de carnibus Agni, potaturus est poculum salutaris. Kommentiert von M. Borret SC 321, 350. 20 Vgl. Buchinger, 2005, 433. 20 Vgl. Jo. 10.18,103 105.

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dern sie durch das Feuer des Geistes interpretieren soll22. Man muss sich dabei nicht von den „inneren Teilen”, von den geheimsten und verborgens( ten Aspekten der Schrift fernhalten, genauso wie es den Israeliten beim Es( sen des Lammes befohlen wurde. Wie die Israeliten damals nur in der einen Nacht von dem Lamm essen sollten, so ist auch die Interpretation der Schrift nur in der Dunkelheit des irdischen Lebens nötig, da im Licht des ewigen Lebens die ganze Wahrheit bekannt sein wird23. Eine Erklärung der fehlen( den Eucharistie(Typologie könnte vielleicht aus einer Stelle in Peri Pascha abgeleitet werden, wo Origenes behauptet, das Pascha sei nur geistig und nicht als wahrnehmbar zu verstehen. Wenn man das Opferfleisch nur „geis( tig“ verstehen soll, dann ist jede Eucharistievorstellung undenkbar. Die Typologie Fleisch des Opferlammes/Heilige Schrift wird dagegen systema( tisch durchgezogen: Wir nehmen an den Fleischteilen Christi teil, d.h. an den göttlichen Schriften [...] Sein Fleisch, Knochen und Blut sind, wie wir gezeigt haben, die göttlichen Schriften. Wenn wir sie essen (verzehren), ha( ben (bekommen) wir Christus. Die Lesungen werden zu seinen Knochen, zu seinem Fleisch werden dann die Gedanken, die wir von den Lesungen gebildet haben, wenn wir ihnen nachgehen, sehen wir in ihnen (wie) im Bildnis und im Spiegel das, was danach kommt24. Dieser Teilnahme am Fleisch Christi durch das Zuhören und Meditieren der heiligen Schrift fügt Origenes weitere Bedingungen hinzu, welche er allego( risch aus dem biblischen Paschabericht ableitet: Die Vorschrift, das Fleisch des Lammes nicht roh zu essen, entspricht so der Notwendigkeit einer „geis( tigen“ und nicht nur wörtlichen Interpretation. Diese Allegorie gelingt ihm auch dank der von ihm oft verwendeten Allegorie Feuer / Geist Gottes25. Die Interpretation des Fleisches als Wort Gottes beschränkt sich nicht nur auf die liturgische oder außerliturgische Lesung und Erklärung der

Vgl. Jo. 10.18,106 107 über Ex 12:10. Vgl. Jo. 10.18,108. 24 Peri Pascha 2.6,1: 3>+6:63gM#.3># +Z# 26%0Z# +.? %/2+.?, +.?+’\2+/ +Z# 8>ET# D%6WZ# [...] .Œ 2M%0>s 06= Ž2+A6 06= 6˜36, B4 -%.6->;>E&85, 6c 8>E6/ >72/# D%6W6E, —4 "M# +%NDT3>#, %/2+L# \&.3>#, +Z# 3_# :>@AT# +Z# Ž2+Z# 6I+.? D/#.3A#T#, +Z# ;_ 26%0Z# +Z# "0 :A@>T4 #.53M+T#, .}2+/2/# B4 >70L4 "-/g6E#.#+>4 "# 67#ED36+/ 06= ;/’"21-%.H g:A-.3># +9 3>+9 +6?+6.’’ 25 Ibid. 21

22

Interpretation des Pascha

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Heiligen Schrift. Weiterhin behauptet Origenes, vom Fleisch des Lammes zu essen bedeute, die Gottheit Christi und die Praktizierung der christlichen Moral anzunehmen. Dies alles ist unter dem Bild von Innereien, Kopf und Schenkel des Lammes zu verstehen. Wenn wir zur liturgischen Fortsetzung des Paschafestes zurückkehren, müssen wir, nach der fehlenden Analogie Paschalamm/Eucharistie, eine weitere Besonderheit der origenianischen Auslegung feststellen. Fast logisch erscheint uns heute die Verbindung zwischen alttestamentlichem Pascha und christlichem Osterfest, die in vielen modernen Sprachen auch wörtlich zu spüren ist. Desto überraschender erscheint das Fehlen jeder solchen As( soziation bei Origenes. Noch rätselhafter erscheint dieser Mangel, wenn man bedenkt, dass diese Assoziation in der zeitgenössischen christlichen Exegese durchaus geläufig war. Origenes selbst spricht davon, wenn er am Anfang seiner Schrift Peri Pascha die richtige Bedeutung des Wortes Pascha disku( tiert. Dort kritisiert er, dass oft behauptet wird, Pascha komme -M2&>/#, was mit den Leiden Christi verbunden wird. Die Antwort auf die Frage, warum Origenes diese zwei so bedeutenden Topoi der Pascha(Typologie (Eucharistie und Osterfeier) ablehnt, ist nicht einfach. Eine mögliche Erklärung ist, dass Origenes alexandrinische Modelle wie Philo benutzt hat, die logischerweise keine Assoziation zwischen Pa( schalamm und Eucharistie oder Paschafest und christlicher Osterfeier kann( ten. Die origenianische Auslegung könnte aber auch aus der Bemühung stammen, dem jüdischen Paschafest keinen besonderen liturgischen Wert zu erkennen. Das Pascha wurde schließlich weiter gefeiert.

Allegorische Interpretationen der Rabbinen Opfer Isaaks und Pascha Bezüglich des Opfers Isaaks haben wir schon angedeutet, das dieses theolo( gisch mit dem Opfer des Paschalamms verbunden wird. Damals interessier( te uns die Betonung des blutigen Charakters beider Opfer (was die Realisie( rung des Opfers Isaaks implizieren könnte). Das Blut hat natürlich eine zent( rale Bedeutung. Wie wir schon erwähnt haben, erkennen die Rabbinen eine Reihe von alttestamentlichen Blutopfern an, welche besondere Heils( und Erlösungskraft für die kommenden Generationen haben. Als erstes dieser Opfer gilt das Opfer Isaaks, dessen Fortsetzung das Opfer des Paschalamms ist. Außer dem blutigen Charakter des Opfers finden die Rabbinen eine

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weitere Beziehung zwischen den beiden Opfern: Isaak sammelte durch seine angeblich freiwillige Bereitschaft zum Selbstopfer Verdienste für Israel26, das Pascha und die Verschonung der Erstgeborenen Israels ist dagegen Zeichen des Schutzes, den Gott, dank den Verdiensten Isaaks, seinem Volk zusicher( te27. Wenn wir dann von einer Fortsetzung der Geschichte Isaaks in der Paschanacht sprechen, dann handelt es sich um ein Verhältnis Verdienst( Belohnung des Verdienstes. Diese innerliche Beziehung zwischen den bei( den Ereignissen erlaubt den Rabbinen auch einige Typologien festzustellen: die Tatsache, dass das Fleisch nur am Feuer geröstet gegessen werden sollte, erinnert an Abraham, den Gott vor dem Feuer rettete28, während die unge( säuerten Brote an die Brote erinnern, die Sara für die Engel backte29. Auch die Bemerkung „mit Bitterkräutern” hat eine typologische Funktion – sie bezieht sich auf die Verfolgung der Nachfolger Jakobs30.

Weitere rabbinische Allegorien Neben dieser allegorisch(typologischen Auslegung des Pascha im Licht des Opfers Isaaks, ist eine weitere Besonderheit der rabbinischen Exegese die Typologie und die Allegorien, die sich auf das Hohelied beziehen und die Liebesbeziehung zwischen Gott und seinem Volk verdeutlichen. Diese Alle( gorien stellen das Volk als die Braut dar, die von ihrem Geliebten (Gott) geschützt wird. Die Allegorie Gott/Bräutigam Israel/Braut ist sehr häufig in der rabbinischen Auslegung der alttestamentlichen Vorschriften. Ziel dieser Interpretation ist es, die Vorschriften als eine Tat der Liebe Gottes zu seinem Volk darzustellen. Auch bezüglich der Einführung des Paschafestes fehlt diese Anspielung nicht. Der Ysopzweig z.B., der einen besonderen Duft hat, den Duft der Tora und der Gerechtigkeit, ist wie der Apfelbaum im Hohe( lied31 ein Symbol Gottes, der mit diesem Duft die Heiden anzieht32. Der Ysopbaum ist nach den Rabbinen auch ein Zeichen dafür, dass Gott alle

26 27 28 29 30 31 32

Vgl. Mekhilta, Pisha, (Lauterbach I) 57. Vgl. ExodRab XV.12. Vgl. Gen 19:24. Vgl. Gen 18:6. Vgl. ExodRab XV.12. Vgl. Cant 2:3. Vgl. ExodRab XVII.2.

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seine Geschöpfe nützlich geschaffen hat33. Die Tatsache, dass das Lamm ein männliches Tier sein musste, bezieht sich auf die Strafe der Erstgeborenen34: Diese wurden wegen der Ungerechtigkeit der Ägypter geopfert, das Pascha( lamm wird als Lob der Gerechtigkeit Gottes geopfert. Alle Vorschriften des Rituals sind Zeichen für die Menschen. Das Blut, mit dem man die Türpfosten und den Türsturz der Häusern bestreichen musste35, war nicht für Gott, der alles kennt, nötig, sondern als Zeichen für die Israeliten, damit sie an die Rettung glaubten36. Die Rabbinen meinen auch, dass das Opfer ein Zeichen der Gerechtig( keit des opfernden Menschen sein musste. Das Opfer hat eine Bedeutung nur in dieser Welt, während in der messianischen Zeit nur die Gerechtigkeit zählt37. Wir haben also eine stark allegorisch(typologische Auslegung des Paschas, bei der die einzelnen Details mit den gerechten Patriarchen und ihren Taten zu identifizieren sind. Die Tatsache, dass die Israeliten das Pa( schalamm in ihren Häusern essen müssen, wird als Anspielung auf das Haus der Braut im Hohelied interpretiert, in das Gott als Bräutigam kommt38. Die Allegorie von Israel als Braut Gottes kommt oft in den Midra( schim zum Exodus und Levitikus vor und immer in Bezug auf die Vorschrif( ten, die der Herr seinem Volk gibt. Die Rabbinen wollen uns die Tora und die Vorschriften nicht als einfache Befehle darstellen, sondern als Zeichen der Liebe Gottes, dessen Ziel die Rettung des auserwählten Volkes ist.

Teilnahme am Paschafest und Auserwählung des jüdischen Volkes Es stellt sich natürlich die Frage, warum Gott, wenn er das Pascha als Erlö( sungs( und Heilsmittel eingeführt hat, es nicht allen Völkern, sondern nur einem einzigen Volk zugänglich gemacht hat. Alle Vorschriften, denen eine Erlösungwirkung zugeschrieben wird, stellen das Problem der Erwählung

33 34 35 36 37 38

Vgl. ExodRab XVII.1. Vgl. ExodRab XV.12. Ex 12:7. Vgl. Mekhilta, Pisha, (Lauterbach I), 56. Vgl. DeutRab. V.3. Mekhilta, 57, die zitiert wird Cant 2:8 9.

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der Israeliten. Das Pascha ist insofern exklusiv, da zur Teilnahme an ihm nur beschnittene Männer (dazu auch Frauen und Kinder) zugelassen sind. Die Verbindung zwischen Beschneidung und Pascha erscheint logisch nicht nur, weil beide die Auswahl und Abgrenzung der Israeliten bezeichnen, sondern auch wegen des Opfercharakters beider Riten. Im Kontext der Rettung und der Ökonomie Gottes ist die folgende Auslegung sehr interessant: Die Vor( schrift, dass kein Fremder vom Lamm essen darf39, bedeutet nach den Rab( binen nicht, dass irgendjemand von der Gnade Gottes ausgeschlossen ist. Fremder ist nicht derjenige, der kein Israelit ist, sondern derjenige, der durch seinen Unglauben Gott fern ist. „Die Eingänge sind offen und jeder kann jederzeit hineingehen”40 fassen die Rabbinen zusammen. Die Beschneidung, die eine absolute Bedingung für die Teilnahme an der Paschafeier ist, ist das erste Zeichen der Annäherung an Gott41. So werden die Vorschriften als nicht exklusiv für die Juden dargestellt. Derjenige, der Gott näher kommt, muss sich aber auch der jüdischen Gemeinde annähern. Die Nicht(Israeliten sind nicht a priori vom Fest ausgeschlossen, aber der Weg zu Gott führt über die Gemeinde des auserwählten Volkes und über ihre religiöse Praxis (z.B. Beschneidung). In diesem Sinne wird das ethnische Prinzip der Erwählung durch ein nomistisches Prinzip ersetzt (zum auserwählten Volk gehört jeder, der die Gesetzesgebote erfüllt). Schließlich erkennen die Rabbinen in der Paschafeier einen Versuch der Wiederherstellung des paradiesischen Seins des Menschen. Deswegen be( fahl Gott, dass während der Feier die vier Winde der Welt den Geruch der Briese aus Eden bringen42. Dieser Hinweis auf den ursprünglichen Zustand der Menschheit und ihre Wiederherstellung durch die Gebote stellt auf einer Seite diese als notwendig dar und zeigt auf der anderen Seite die Universali( tät der Gesetzgebung.

39 40 41 42

Ex 12:43. ExodRab XIX.4. Vgl. Ibid. Vgl. ExodRab XIX.5.

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Alttestamentliches Pascha und jüdisches Pascha nach der Ankunft Christi Die Frage nach dem Pascha erschöpft sich aber nicht in der Auslegung des alttestamentlichen Festes. Als Herausforderung für den christlichen Exege( ten bleibt ungelöst die Frage nach dem weiterhin lebendigen jüdischen Fest. Für Origenes, der sowohl in Alexandria als auch in Cäsarea mit jüdischen Mitbürgern zu tun hatte, war das ein echtes Problem. Mehrmals deutet er in seinen Homilien darauf hin, dass auch viele Christen sich von der Festlich( keit des jüdischen Pascha angezogen fühlten43. Der Ausdruck „Pascha der Juden“ ist das Stichwort der Pascha(Auslegung im Johanneskommentar. Origenes selbst beschreibt die jüdischen Praktiken, was den Ritus der unge( säuerten Brote betrifft, mit minutiöser Genauigkeit. Buchinger44 hat die ori( genianische Beschreibung im Detail untersucht und festgestellt, dass mehre( re Informationen nicht aus dem biblischen Bericht stammen, sondern Frucht der persönlichen Beobachtungen des Origenes sein könnten. Das Gleiche gilt auch für andere Feste und Einhaltungen (z.B. den Verzicht auf Baden am Sabbat oder Fasten am Versöhnungstag). Immer wieder ist Origenes be( müht, die jüdische Praxis als sinnlos und lächerlich darzustellen, immer wieder beschwert sich Origenes über die Christen, welche an diesen Riten teilnehmen. Der Vers „Und das Paschafest der Juden war nahe”45 gibt Ori( genes die Gelegenheit, sich über das alttestamentliche Pascha und das jüdi( sche Pascha nach der Ankunft Christi Gedanken zu machen. Er untersucht den Text Ex 12:11.26(27.43 und schließt, dass immer vom „Pascha des Herrn” oder „eurem Pascha” die Rede ist, d.h. das Pascha vor dem Auszug

43

44 45

Vgl. hom. in Jer. 12.13, zitiert nach der Edition Origène, Homélies sur Jéremie Tome II (Homélies XII XX), Traduction par P. Husson et P. Nautin, SC 238, Paris 1977: Y $0.,T# +Z# ->%= +.? -M2&6 #>#.3.8>+53A#T# 0>0%H33A#T4, "28E>/ $-L +.? -%.gM+.H %/2+.? „žL D9% -M2&6 R3Z# "+,85 %/2+14“ 06= >7;s4 ++6:63gM#>/ +6,+54a 0>0%H33A#T4 D9% 0.H2> +.? -M2&6. n ;_ -.:G4 .Œ+.4 “.H;6U.4 ;/9 +.?+. +L# 0,%/.# ‘’52.?# $-A0+>/#> 06= \#.&.4 06= 2*3>%.# "2+/ +S W1#O “52.?, "->= 3< 0>0%H33A#T4 3*+> +.? #13.H 3*+> +Z# -%.W5+Z# 0.H2>#. h9# $#6D/D#N20†4 ->%= +Z# $F,3T#, \2+/# $0.?26/ 0>0%H33A#T4, \2+/# $0.?26/ W6#>%Z4 +J4 "#+.:J4. ›26/ "# R3U# "DDG4 DM% "2+/ +L -M2&6 CFH36 CD>+>, +9 CFH36 +9 2T36+/0M, .I0 $0.,>+> +J4 :>D.,254 "#+.:J4a „h9# 3< $0.,25+> 0>0%H33A#T4, 0:6,2>+6/ R XH&< R3Z#. Buchinger, 2005, Bd. 2, 676. Vgl. Jn 2:13.

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aus Ägypten ist das vom Herrn gewollte Pascha. Dies ist aber auch geistig, allegorisch gemeint, als Zeichen des Übergangs von der Sünde zum Leben. In diesem Sinne ist seine Fortsetzung die Ankunft Christi. In Peri Pascha46 interpretiert Origenes das neue durch Christus verwirklichte Pascha als das eigentlich ewige. Es ist wieder eine interessante Art von „Substitutionsaus( legung”. Das alte Pascha wird nicht wirklich durch das neue ersetzt; denn das neue Pascha ist das eigentlich von Gott gewollte, während das alte Pa( scha nichts anderes, als sein Schatten ist. Dann erwähnt Origenes den Vers „Ich kann eure Neumondfeiern, eure Sabbate, euren großen Tag nicht ertragen; meine Seele hasst eure Fasten, eure Sabbatruhen, eure Neumondfeier und eure Feste”47 und betont, dass Gott an dieser Stelle die religiösen Praktiken der Israeliten nicht als seine eigenen bezeichnet. Das erste Pascha war das Fest der Befreiung aus der Sklaverei der Welt und der Herr wurde als Befreier verehrt. Dies ist ein Bild des Pascha, bei dem der Herr selbst zum Paschaopfer wird und dadurch die definitive Befreiung, die Erlösung bringt48. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass Origenes sich bemüht, jeden liturgischen Wert des jüdischen Paschafestes abzulehnen. Durch die Substi( tution alttestamentliches Pascha/Christi Tod wird auch der Erlösungscha( rakter der Praxis bestritten. Durch das Selbstopfer Christi werden beide Dimensionen – die somatische (Opferung des Lammes) und die geistige (Erlösung) ( erfüllt. Nach Origenes kannten die Israeliten nur das somatische Pascha und sind nie zur Kenntnis seiner mystischen oder himmlischen Di( mension gekommen, sie sind Juden im Fleisch geblieben49 und konnten deswegen das Opfer Christi als Erlösung nicht begreifen. Das Gleiche gilt, sagt Origenes, auch für das Fest der ungesäuerten Brote50 und für das ganze Gesetz und seine Vorschriften, die nur als Bild und Schatten der himmli(

46 47 48 49 50

Peri Pascha, 2.20 21. Isa 1:13 14 nach LXX. Dabei zitiert Origenes 1Kor 5:7 „[...]denn als unser Paschalamm ist Christus geopfert worden“, Jo. 10.14,82. Jo.10.14,84 10.15,85. Jo 10.16,89 90: “.H;6ET# 3_# .Q# +L -M2&6 -%1g6+1# "2+/# 8H13>#.# [...] „+L ;_ R3Z# -M2&6 "+,85 %/2+L4“. 06= -M:/# "0>E#T# 3A# "2+/# +9 CFH36 $W6#/F.3A#54 -M254 F,354 "0 +Z# .V0T# 6I+Z#? R3>U4 ;_ d.%+MF.3># .I „F,3† -6:6/š“ .I;_ „F,3† 060E64 06= -.#5%E64“, $::’"# „$F,3./4 >7:/0%/#>E64 06= $:58>E64“ (1Kor 5:8).

Interpretation des Pascha

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schen Realitäten dienen, während die Gläubigen sich nach diesen Realitäten zu fragen verpflichtet sind51. Nur dann können sie das Paschafest „"# +.U4 "-.H%6#E./4” (in den himmlischen Welten) feiern. Wir müssen allerdings bemerken, dass Origenes die liturgische Funktion der Feste innerhalb der alttestamentlichen Ökonomie nie explizit bestreitet. Seine Angriffe konzent( rieren sich auf die Einhaltung des Pascha nach der Ankunft Christi. Was die rabbinische Interpretation der historischen Bedeutung des Pa( scha betrifft, können wir ein wichtiges Element erwähnen, welches das rab( binische Verständnis des Opferkults überhaupt charakterisiert, nämlich, dass Gott Opfer befiehlt, die auch den Heiden bekannt sind, allerdings den Götzern gewidmet und deswegen idolatrisch sind. Durch die neuen, heili( gen Opfer, welche Gott den Israeliten befiehlt, zielt er dagegen darauf ab, das Volk geistig zu erziehen, indem diese Opfer dem einzig wahren Gott gewidmet sind. Das Lamm gehörte, wie auch das Kalb, zu den häufigsten Opfertieren in der Antike. Gott befahl mit den gleichen Mitteln ein heiliges Opfer zu vollbringen52. Ähnliche Interpretation finden wir in der siebten Homilie zum Exodus des Origenes, wo Origenes meint, der jüdische Opfer( kult sei als Antwort an die idolatrischen Praktiken eingeführt worden, wo( mit Gott die geistige Vervollkommnung des Volkes bezweckte.

51

52

Vgl. Jo. 10.15,85 und 10.16,91: w7 ;A "2+E +/ +%E+.# -6%9 +9 >7%53A#6 ;,. +L -M2&6 +.? 0H%E.H 06= $F,3T# d.%+*, $0%/gA2+>%.# "@>+62+A.# ;/9 +L i-.;>ED36+6 06= 20/š :6+%>,>/# "0>E#.H4 +Z# "-.H%6#ET# "0>E#T#, 06= .I 31#.# g%N36+6 06= -136+6 06= #>.35#E64 06= 2Mgg6+6 $::9 06= +94 d.%+94 20/9# >V#6/ +Z# 3>::1#+T#. Siehe auch hom. in Num. 11.1,6, zitiert nach der Edition Origène, Homélies sur les Nombres, introducti on, traduction et notes par L. Doutreleau texte latin de W. A. Baehrens, Tome II (Homélies XI XIX), SC 442, Paris 1999: Cum ergo venio ad locum illum qui de pascha scriptum est, in ove illa corporali debeo intellegere umbram esse futuri boni et hoc sentire quod „pascha nostrum immolatus est Christus“ (1Kor 5:7). Simili modo invenies etiam et de azymis et de ceteris festorum dierum observantiis scriptum. Quia ergo haec omnia sub legis titulo scribuntur in lege, necessario, quia lex per praesentem umbram futura bona designat, requirere debeo quae sint azyma futurorum bonorum et invenio dicentem mihi Apostolum „ut diem festum agamus, non in fermento veteri neque in fermento malitiae et nequitiae, sed in azymis sinceritatis et veritatis“ (1Kor 5:8). Vgl. ExodRab XVI, 2 3.

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Kapitel 9

Zusammenfassung Die origenianische Pascha(Interpretation konzentriert sich hauptsächlich auf die Typologie Paschalamm/Christus und auf die traditionelle Allegorie Op( ferfleisch/Schrift. Die typologische Interpretation des Paschalamms ent( spricht aber nicht der Typologie Pascha/Leiden Christi. Obwohl Origenes den Opfercharakter des Paschafestes nicht in Frage stellt, konzentriert sich seine Typologie auf das Opfer und nicht auf den Akt der Opferung. Die Passion des Herrn ist für ihn unvergleichlich ungerechter und entspricht auch historisch der Schlachtung des Paschalammes nicht. Vergleichbar ist dagegen die Wirkung des Opfers: die Selbstopferung Christi dient, ähnlich wie das alttestamentliche Pascha, als Übergang zur Erlösung. Christus selbst dient als Übergang, als Vermittler zwischen Gott und der Menschheit. Die( ses wird durch die von Origenes aufgenommene Etymologie des Wortes „Pascha” deutlich. Im Unterschied zur jüdischen Praxis, die jedes Jahr wie( derholt wird, ist die Erlösung durch das Opfer Christi definitiv und hebt alle bis darin existierenden Opfer auf. Obwohl Origenes in seinem Liturgie(Verständnis der paulinischen Defi( nition Schatten/Wahrheit folgt und ein dreistufiges Modell stellt (alttesta( mentliche Riten als Schatten der neutestamentlichen, die ihrerseits nur Schatten des himmlischen Gottesdienstes sind), beschränkt er sich darauf, zu sagen, dass das Verspeisen des Paschalamms ein Typos der Aufnahme des Wortes Gottes sei. Liturgisch gesehen handelt es sich also um den Wortgot( tesdienst. Die beiden am meisten erwarteten christlichen Feier, welche als Nachfolger des alttestamentlichen Pascha gelten können (die Eucharistiefei( er und Ostern), finden keinen Platz in der origenianischen Auslegung. Das Fleisch des Opferlamms wird immer nur als das Wort der Heiligen Schrift und ihr richtiges Verständnis interpretiert. Die jüdische Praxis des Paschafestes lehnt er kategorisch ab. Im Alten Testament war sie ein „Schatten” der Ankunft und des Opfers Christi, nach deren Ereignis diese Praxis sinnlos wird. Das ist nicht nur die logische Schlussfolgerung aus seiner theologischen Überlegung, sondern auch das hilfreichste Mittel gegen jede Art jüdisch(christlicher Praktiken. Man muss sich vorstellen, dass es in Alexandrien und später in Cäsarea blühende jüdi( sche Gemeinden gab und möglicherweise eine nicht kleine Zahl von Chris( ten jüdischen Ursprungs. Ich habe zuvor vermutet, dass Origenes einige wichtige Themen vielleicht nicht an ihrem natürlichen Platz im Laufe der

Interpretation des Pascha

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Exegese interpretieren wollte, um die Möglichkeit zu haben, den Akzent der Exegese anders zu setzen. Das Paschafest ist ein solches Thema. Die rabbinische Pascha(Auslegung folgt den allgemeinen Tendenzen, welche die Interpretation vieler Riten in der Zeit nach dem Jahre 70 beglei( tet. Ohne die Notwendigkeit des materiellen Festes und Opfers in Frage zu stellen, findet eine gewisse Spiritualisierung des Paschafestes statt. Diese betrifft die schon in früherer Zeit entwickelte Vorstellung vom Pascha als Erlösungsritus und wird theologisch mit dem Opfer Isaaks verbunden. Wei( tere interessante Punkte der rabbinischen Auslegung sind die Fragen nach dem Anteil von Nicht(Israeliten am Paschafest und die Verbindung zwi( schen Beschneidung und Pascha. Die allegorische und typologische Interpretation des Origenes folgt ohne Zweifel Paulus und stellt sich in hohem Maßen in die Tradition der ersten christlichen Auslegungen des Pascha. Wie wir aber schon erwähnt haben, sind die Tendenzen zur Spiritualisierung des Festes in der rabbinischen Literatur (als Folge der alttestamentlichen Entwicklungen) deutlich zu spü( ren. Die Tatsache, dass Origenes sich weigert, eine klare liturgische „Substi( tution“ des alttestamentlichen Pascha zu geben, und vehement die noch lebendige jüdische Praxis ablehnt, beweist, dass er darum bemüht ist, die liturgische Bedeutung des Festes in möglichst bescheidenem Licht darzustel( len. Dies ist eine wenn auch verborgene antijüdische Polemik. Der Grund dafür ist ohne Zweifel im religiösen Klima in Cäsarea (aber auch in Ale( xandria) in der Zeit des Origenes zu suchen.

Kapitel 10. Die Überquerung des Schilfmeeres. ( Auslegung von Ex 13:17–14:31 Origenes über Ex 13:17 14:31. Die Typologie Durchquerung des Schilfmeeres / Taufe Die origenianische Interpretation konzentriert sich auf die Allegorie Durch( querung des Meeres/Rettung1. Das „Herauskommen aus den Sünden und aus der Dunkelheit der Welt”2 ist für Origenes der Weg jeder Seele, ein ständiger Prozess geistiger Reifung. Auch die Bestrafung des Pharao im Meer ist für Origenes eine Allegorie der Vorsehung Gottes, der die richtige Weise kennt, um jeden, auch den Sünder, zu bekehren3. Gott ist so der per( fekte .70.#13.4, der seinen Plan der Rettung durchsetzt und seine Hilfe für die Menschheit bereitstellt. Die Überquerung des Schilfmeeres versteht Ori( genes als Typos der Taufe4 – eine Allegorie, die er von Paulus5 übernimmt. Genau das Verständnis der Taufe als Mittel der Rettung unterscheidet die Schüler Christi von den Schülern der Synagoge6. Erstere verstehen die Schrift, bzw. die Schilfsmeer(Geschichte geistig, „spiritaliter”, was seiner Meinung nach richtig ist, während Zweitere es falsch, „male” begreifen. Mit „male” meint Origenes wahrscheinlich „wörtlich”, da er auch den paulini(

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Siehe z.B. hom. in Ex. 4.9: Sed nos nisi ab eo longius recedamus et transeamus mare et dicamus „quantum interiacet ortus ab occasu, elongavit a nobis iniquitates nostras“ (Ps 102:2), salvi esse non possumus. Propter quod deprecemur misericordiam Domini, ut et nos eripiat de terra Aegypti, de potestate tenebrarum, et Pharaonem cum exercitu suo „tamquam plumbum demergat in acqua validissima” (Ex 15:10). Vgl. hom. in ex. 5.2. Vgl. princ. 3.1,14: K# >˜4 31#.4 .70.#13.4, 06= +.G4 06/%.G4 "-/2+M3>#.4 06= +9 o%31F.#+6 g.58*36+6 06= +94 $DTD94 06= +94 Y;.,4, Y +Z# j:T# 8>L4 06= -6+*%, Y >7;s4 -Z4 06= +L#  6%6s CD>/ ;/9 +.2Z#;> 06= 06+6-.#+/23.?, >74 l# .I 06+6:*D>/ R .70.#.3E6 +.?  6%6Z. tI D9% "->= 06+>-185, $#>:,85. h# D9% &>/%= 8>.? 06= R3>U4 06= .c :1D./ R3Z# -r2M +> W%1#52/4 06= "%D62/Z# "-/2+*35. Vgl. hom. in Ex. 5.1. Vgl. 1Kor 10:1 4. hom. in Ex. 5.1: Hoc ergo differre vult [Paulus] discipulos Christi a discipulis synagogae, quod legem, quam illi male intelligendo Christum non receperunt, nos spiritaliter intelli gendo ostendamus eam ad ecclesiae instructionem merito datam.

Die Überquerung des Schilfmeeres

273

schen Ausdruck „fabulae iudaicae”7 erwähnt. Wie wir bald sehen werden, fehlen bei den Rabbinen allegorische Interpretationen dieser Stelle durchaus nicht. Entweder hat Origenes hier eine unpassende allegorische Interpretati( on gemeint, oder er dachte an die erwähnten typisch aggadischen Elemente bei der Auslegung dieser Stelle, die möglicherweise oft in den Homilien und im Unterricht in den cäsarianischen Synagogen wiederaufgenommen wur( den. Wir werden feststellen können, dass Origenes diese aggadischen Tradi( tionen gut kannte. Es ist aber auch durchaus möglich, dass Origenes, wie Blowers behauptet8, tendenziell und aus rein „praktischen Gründen“ (wie Bekämpfung der jüdischen Mission), die rabbinische Auslegung als unwür( dig darstellt.

Rabbinische allegorische Deutungen Die rein allegorischen Interpretationen sind bei Origenes, genauso wie bei den Rabbinen stark vertreten. Die Rabbinen verstehen die Überquerung des Roten Meeres als Symbol der Befreiung aus der Sklaverei der Ungerechtig( keit und gleichzeitig als Weg zur „Sklaverei” der Tora, bzw. der Gerechtig( keit9, eine Auslegung, die sehr nah an der origenianischen bleibt. Die Durchquerung des Schilfmeeres wird in dieser Interpretationslinie durch die Vorstellung eines geistigen Kampfes zwischen dem Volk Gottes und den Dämonen weiter dramatisiert. Ein Topos bei der Auslegung der Durchque( rung ist die Annahme feindlicher Engel, welche die Israeliten im Meer an( griffen10. Nach einer weiteren Interpretation war das Ziel der Engel, die Ägypter weiter zu bestrafen. Diese wurden im Meer auf fünfzig verschiede( ne Weisen bestraft11. Ein weiteres Thema in diesem Kontext ist, dass die Israeliten im Meer gegen Moses revoltierten, wie auch, dass einige Stämmen, die frühzeitig Ägypten verließen, im Meer den Tod fanden. So wird jede Tat, die sich gegen den Plan Gottes richtet, als ungerecht dargestellt. Typologi( sche Interpretationen sind bei den Rabbinen nicht festzustellen. Die Tren(

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Tit 1:1. Vgl. Blowers, 1988, 104, 109 111. Vgl. z.B. die schon erwähnte Stelle ExodRab XV.11. Vgl. ExodRab XXI.7. Vgl. ExodRab XXIII.9.

Kapitel 10

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nung des Meeres selbst wird allerdings in der Joseph(Geschichte typologisch dargestellt12. Bei Origenes können wir auch einige dieser Themen identifizieren. Eine seiner Interpretationen der Durchquerenung des Meeres erinnert z.T. an die rabbinische Auslegung der gegnerischen Kräfte, auf welche die Israeliten im Meer trafen. Der „contradicentium fluctus”13 sei durch den Stock Moses, Symbol des Gesetzes, zu besiegen. Während aber bei den Rabbinen von feindlichen Engeln die Rede war, ist die origenianische Interpretation eher psychologisch konzipiert: die gegnerischen Kräfte werden als Versuchung interpretiert.

Historische Interpretation Die Teilung des Meeres als Wunder Die Rabbinen entwickeln den Parallelismus zur Schöpfungsgeschichte, den wir schon bei der Interpretation der Plagen der Ägypter festgestellt haben, weiter und betonen, dass die Teilung des Meeres in der Trennung des Was( sers in Gen 1:6 ein Vorbild hat14. Genau wie die Trennung in der Schöp( fungsgeschichte physisch unerklärbar bleibt, so handelt es sich auch bei der Teilung des Schilfmeeres um ein Wunder. Darüber hinaus werden auch zehn weitere, sozusagen, zusätzliche Wunder erwähnt, welche den außer( gewöhnlichen Charakter dieses Phänomens betonen sollen15.

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Vgl. GenRab LXXXIV.8. Vgl. hom. in Ex. 5.5: Si Aegyptum fugias, si ignorantiae tenebras relinquas et sequaris legem Dei Moysen, obviet autem tibi mare et contradicentium fluctus occurrat, percute tu obluctantes undas virga Moysi, id est verbo legis, ut vigilantia Scripturarum iter tibi ipse disputando per adversarios pande. ExodRab XXI.6. Midrasch zu Ps 136:7 (von der englischen Übersetzung von W. Braude, The Midrash on Psalms, London Yale, 1951 59, Bd. 2, 327): Die Wasser des Meeres wurden zu einer Art Tunnel, durch den die Israeliten gehen konnten; die Wasser wurden in zwei geteilt, sie wurden zu trockener Erde, als die Isareliten durch das Meer gingen; das Meereswasser wurde auch zu Lehm, die Oberfläche des Meeres wurde geteilt, das Wasser wurde zu Stei nen, sie wurden auch in mehrere Teile getrennt, dann kamen sie wieder zusammen, das Wasser sammelte sich und trennte sich in zwei, Gott machte aus dem salzigen Wasser sü ßes für die Israeliten, auf den beiden Seiten der Israeliten kristalisierten sich die Tiefe des Meeres und wurde zu Eis.

Die Überquerung des Schilfmeeres

275

Weitere historische Interpretationen Was die historische Interpretation betrifft, ist die Erwähnung einer alten Tradition interessant, nach der das Meer sich vor jedem Stamm Israels sepa( rat öffnete, eine rabbinische Tradition, die in den Midraschim zu finden ist16 und die das Wunder als noch eindrucksvoller darstellen soll: das Meer öff( nete sich nicht nur einmal, sondern zwölfmal. Origenes sagt, er habe das von „maioribus traditum” gehört17. Die Freundlichkeit dieses Ausdrucks fällt besonders auf, wenn man bedenkt, dass Origenes kurz zuvor gegen die „iudaicae fabulae” polemisiert hatte. Es entsteht automatisch die Frage ob er die selben Menschen einmal als „maiores”, ein anderes Mal als Vertreter dummer „fabulae” bezeichnen möchte, was mir sehr unglaubwürdig er( scheint. Es ist m.E. hieraus zu schließen, dass es sich um zwei unterschiedli( chen Quellen handelte. Nach De Lange muss die Tradition der zwölfmaligen Teilung des Meeres in der Zeit des Origenes sehr populär gewesen sein, da sie in der Synagoge in Dura genauso dargestellt wurde18. Also, ist es mög( lich, dass Origenes seine Kenntnisse aus schriftlichen Quellen bezog oder von Juden erzählt bekam. Der Ausdruck „fabulae iudaicae“ sollte dann auf andere aggadische Auslegungen bezogen werden.

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Vgl. DeutRab XI.10: Moses sagt in seiner letzten Rede, bevor der Engel seine Seele zu Gott führt: Ich teilte das Meer in zwölf Teile und ich machte das bittere Wasser süß. De Lange, 1976, 129 30, der diese Stelle auch erwähnt, zitiert auch andere rabbinische Quellen: Mek hilta zu Exodus, (Lauterbach I), 220, GenRab LXXXIV.8 und Targum Ps. Jon. Ex 14:21. Die erwähnte Stelle von GenRab spricht von einer Teilung in Streifen “/" 6,” . Die Mekhilta und der Targum Ps. Jon. erwähnen eine Teilung des Meeres vor den Stämmen Israels. Es wird allerdings nicht klar, ob es sich um eine einmalige oder um mehrmalige Teilungen handelt. hom. in ex. 5.5: Audivi a maioribus traditum quod in ista digressione maris, singulis qui busque tribubus filiorum Istrahel singulae aquarum divisiones factae sunt, et propria uni cuique tribui in mari aperta sit via, idque ostendi ex quod in Psalmis scriptum est „qui di visit mare Rubrum in divisiones” (Ps 136:13). Per quod plures divisiones docentur factae, non una. Sed et per hoc quod dicitur “Ibi Beniamin invenior in stupore, principes Iuda du ces eorum, principes Zabulon, principes Neptalim (Ps 67:28), nihilominus unicuique proprius enumerari videtur ingressus. Haec a maioribus observata in Scripturis divinis religiosum credidi non tacere. Vgl. De Lange, 1976, 130.

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Kapitel 10

Zusammenfassung Die Interpretation der Rabbinen und des Origenes der Teilung des Meeres, eines der Themen, die sich am besten für eine allegorische oder typologische Auslegung anbieten, zeigt mehrere Analogien. Auf der allegorischen Ebene lässt sich die konsequente Allegorie Durchquerung des Meeres/Rettung beobachten. Auch eine Übernahme aggadischer Traditionen seitens des Origenes kann festgestellt werden wie z.B. die zwölfmalige Trennung des Meeres. Dies alles zeigt, dass das Thema oft diskutiert und ausgelegt wurde, sowie dass Origenes sich rabbinischen Materials bediente.

Kapitel 11. Das Manna. Allegorische Deutungen Das Manna ist auch ein für allegorische Interpretationen geeignetes Thema. Besonders beliebt bei den Exegeten ist die Allegorie Manna/Wort Gottes. Während diese Allegorie bei Origenes zu spezifischen christologischen Aus( legungen führt, sind die Rabbinen auf die Tora als Wort Gottes hingewiesen. In beiden Fällen ist aber der theologische Grundgedanke sehr ähnlich: Es handelt sich um eine Allegorie des Wortes Gottes in seiner Heilsfunktion.

Das Manna als das Wort Gottes nach Origenes Die Allegorie Manna / Wort Gottes entwickelt Origenes zuerst auf der Ebene der Heiligen Schrift. Dabei weist er gleich auf ihr richtiges Verständnis hin. Unser Manna also ist das Wort Gottes und das Wort Gottes bei uns wird zur Rettung für einige, für andere aber führt es zur Strafe1. Die rabbinische Allegorie Manna/Wort Gottes/Tora ist ihm nicht fremd. Schon Philo interpretiert das Manna als die Weisheit Gottes, die er indirekt mit der Tora verbindet2. Wenn Origenes von „unserem Manna“ spricht, meint er damit das christlich gedeutete Gesetz. In diesem Sinne ist „das christliche Manna“ wesentlich verschieden vom jüdischen Manna. Es ist auch nicht zu übersehen, dass der Ausdruck eine polemische Wirkung hat. Dieser Konfrontationslinie folgt Origenes weiter. Er findet eine besondere Bedeutung in der Tatsache, dass das Manna am Sabbat nicht zu sammeln war und am ersten Tag der jüdischen Woche wie( derkam, der der christliche Sonntag ist. Davon leitet Origenes ab, dass das lebenswichtige Manna, diese große Gnade Gottes, am Sonntag zum ersten Mal gegeben wurde, während am Sabbat verweigert wurde3.

1 2

3

Vgl. hom. in Num. 3.1: Igitur et nostrum manna Verbum Dei est et apud nos ergo sermo Dei aliis efficitur ad salutem, aliis cedit ad poenam. Vgl. mut. 259 260, eine detaillierte Analyse der philonischen Manna Auslegung findet sich in P. Borden, Bread from Heaven, An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo, Leiden 1965, 111 121. Vgl. hom. in Ex. 7.5: Apparet ergo sextam diem nominari illam quae ante sabbatum ponitur, quae apud nos parasceue appellatur. Sabbatum autem septima dies est. Quaero ergo qua die coeperit manna caelitus dari, et volo comparare dominicam nostram cum sabbato Iudaeorum. Ex divinis namque Scripturis apparet quod in die dominica primo in

278

Kapitel 11

Der Sonntag muss also der erste Tag sein, an dem es das Manna gab. Die Frage des ersten Tages, ist sehr wichtig für die Exegeten. Bei den Rabbinen finden wir auch reichliche Überlegungen über den ersten Monat und den ersten Tag in Bezug auf die religiösen Feste4. Es wird auch vermutet, dass genau am ersten Nissan auch die Welt geschaffen wurde. Die Bedeutung des ersten Tages und des ersten Monats, dessen Observanz nur Israel gegeben wurde5, hat also ein besonderes Gewicht im Plan Gottes und wird von den Exegeten immer betont. Der Neumond ist die Periode der Heiligung Israels6. Origenes fügt dann hinzu, dass das Manna Gottes von den Juden als Al( legorie der Gnade verstanden wurde, und sagt in ziemlich ironischem Ton, dass die Juden seiner Zeit unglücklich waren, weil sie nicht mehr verdien( ten, das Manna Gottes zu empfangen. Die Christen dürfen dagegen jeden Tag davon essen. Origenes entwickelt hier eine doppelte Allegorie: Einmal spricht er vom himmlischen Manna, das ein einziges Mal anzunehmen ist, was als Allegorie des Glaubens gilt, zum anderen Mal spricht er vom Manna als dem Wort Gottes (den „himmlischen” Lesungen), das den Gläubigen jeden Tag vorgelesen werden. Diese Texte erlauben das geistige Verstehen des Wortes Gottes7. Auch hier, wie im Falle des Paschalamms, fehlt jeder Hinweis auf die Eucharistie. Die Tatsache, dass Origenes konsequent ver( meidet, seine Allegorien auf die Eucharistie zu beziehen, beeindruckt jeden heutigen Leser. Man muss allerdings bemerken, dass eine ähnliche Allegorie

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terris datum est manna […] Quod si ex divinis Scripturis hoc constat quod in die dominica Deus pluit manna et in sabbato non pluit, intelligant Iudaei iam tum praelatam esse dominicam nostram iudaico sabbato, iam tunc indicatum quod in sabbato ipsorum gratia Dei ad eos de caelo nulla descenderit, panis caelestis, qui est sermo Dei, ad eos nullus venerit […] In nostra autem dominica die semper Dominus pluit manna de caelo. Vgl. ExodRab XV.22. Vgl. ExodRab XV.23. Vgl. ExodRab XV.24. Vgl. hom. in Ex. 7.5: Sed et hodie ego dico quia pluit Dominus manna de caelo. Caelestia namque sunt eloquia ista quae nobis lecta sunt, et a Deo descenderunt verba quae nobis recitata sunt, et ideo nos, qui tale manna susepimus, semper nobis manna datur de caelo; illi infelices dolent et suspirant et se miseros dicunt quia manna, sicut acceperunt patres ipsorum, ipsi non merentur accipere. Illi numquam manna manducant; non enim possunt illud manducare, quod est „minutum sicut semen coriansi et candidum sicut pruina“ (Ex 16:14.31). Nihil enim in verbo Dei minutum, nihil subtile, sed totum pingue, totum crassum; „incrassatum est corpus populi illius“ (Isa 6:10).

Das Manna. Allegorische Deutungen

279

bei den Exegeten vor Origenes auch nicht leicht feststellbar ist8. Die Allego( rie Manna/Wort Gottes ist aber, wie wir sehen werden, der jüdischen exege( tischen Tradition bekannt. Also befand sich Origenes so auf der gleichen Interpretationsebene, wie die Rabbinen. Eine Annahme der Allegorie Manna / Eucharistie würde ihn dagegen zu einem spezifisch christlichen Verständ( nis bringen, wo jede Polemik mit der jüdischen Auslegung unmöglich gewe( sen wäre. Außerdem war die Betonung des Wortes Gottes das beste Thema für eine christlich(jüdische Auseinandersetzung, in der es eigentlich um das richtige Verständnis der Heiligen Schrift ging. Schließlich gibt Origenes eine Etymologie des Wortes aus dem Hebräi( schen „was ist das?”9, was die Verwunderung der Israeliten wiedergibt. Für ihn impliziert es auch das fehlende richtige Verständnis des Wortes Gottes. Wir haben am Anfang bemerkt, dass die Allegorie Manna/Wort Gottes von Origenes auch christologisch interpretiert wird, z.B. wenn er vom Manna und dem zweiten Pascha spricht. Allerdings muss man bemerken, dass Ori( genes sich hier sehr vorsichtig zeigt und lieber auf der Ebene der Allegorie des Wortes Gottes bleibt. Vielleicht entsprach diese Allegorie am besten seinen Modellen (Philo z.B.) oder erlaubte es ihm am meisten, seine antijüdi( sche Polemik zu führen.

Allegorische Interpretation des Manna nach den Rabbinen Wir haben schon erwähnt, dass die Rabbinen auch gerne das Manna allego( risieren, wobei nie übersehen bleibt, dass dies ein großes Wunder Gottes für sein Volk ist. Aus Liebe zu Israel und als Beweis seiner Macht änderte Gott die Ordnung und die Gesetze der Schöpfung und ließ Brot vom Himmel regnen und Tau auf die Erde fallen10.

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Klemens z.B. benutzt mehrere Metapher für die Eucharistie, wofür er auch Exodusstellen verwendet, allerdings keine einzige, die explizit vom Manna als Typos der Eucharistie spricht. Siehe dazu A. Méhat, Clément d’Alexandrie in L’eucharistie des premiers chrétiens, Paris 1976, 90 127. Vgl. Hom. in ex. 7.5 und sel. in num. PG 12, Col. 576A: –r# ©#.3M285 $-L +.? +.G4 Ÿg%6E.H4 -%N+.H4 8A636 @A#.# Y%Z#+64 >7->U# -%L4 $::*:.H4 +' -6+%EO D:N22†: „–r#“ +.H+A2+/ „+= +.?+.;“ j->% .I0 [# >V-.#, >7 \8.4 {#, y4 +/#>4 +Z# "8#/0Z# W62/, +/#. Vgl. ExodRab XXXVIII.4.

280

Kapitel 11

Dieses Wunder( oder Gnadenverständnis des Manna breitet sich aus und das Manna wird allgemein als Bild der Rettung angenommen11. Da die Rettung nach rabbinischer Auffassung durch die Beachtung des Gesetzes erreicht wird, ist der nächste logische Schritt die Verbindung zwischen Manna, Sabbat und Tora. Das Manna zählt so zu den Metaphern des Geset( zes. Das Brot ist in der rabbinischen Literatur traditionell ein Bild der Tora12 und durch die Parallele Manna/Tora/Sabbat, auch ein Bild des Sabbats. Alle drei sind Zeichen der großen Gnade Gottes gegenüber seinem Volk. Genau diese besonderen Gnaden grenzen die Israeliten von allen anderen Völkern ab. Die Heiden waren von diesen Gnaden ausgeschlossen13. Nun wird das Gesetz, genauso wie das Manna, als freiwillige Gabe Gottes dargestellt, die nichts anderes als ein besonderes Privileg ist. Der polemische Hintergrund dieser Auslegung ist auch sehr deutlich und durchaus erwartet. Die Angriffe sind allgemein gegen jeden Versuch gerichtet, die jüdische Praxis als lächer( lich darzustellen. Diese Kontroverse stammte, wie bekannt und im Laufe dieser Dissertation oft erwähnt, noch aus der vorchristlichen Zeit und war ein Topos der paganen Vorwürfe gegen die Juden. Spezifisch im Kontext der allegorischen Interpretation des Manna könnte aber auch eine Antwort auf die christliche Exegese sein. Ausdrücke wie „unser Manna und unser Ge( setz“ konnten nicht überhört bleiben. Da die Verbindung zwischen dem Manna und dem Sabbat sehr stark ist (das Manna kam nämlich am Sabbat nicht), wird die Einhaltung des Sabbats als größte Vorschrift Gottes bezeichnet. Wenn diese besondere allegorische Verbindung zwischen dem Manna und der Heiligen Schrift noch in vor( christlicher Zeit enstanden ist, kann man vermuten, dass gerade dieser der Grund war warum Origenes sich auf der Allegorie Manna/Heilige Schrift beschränkt hat. Da er in der gleichen exegetischen Linie blieb, der schon die jüdischen Exegeten gefolgt haben, hatte er die beste Möglichkeit, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Also ist die Absicht seiner Exegese stark pole( misch.

11 12 13

Vgl. ExodRab XXV.7. Vgl. C.H. Dodd, The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge 1953, 336, wobei der Autor behauptet, es gebe keine konkreten Hinweise auf eine Allegorie Manna / Tora. Vgl. ExodRab XXV.11.

Das Manna. Allegorische Deutungen

281

Das Manna, das Brot vom Himmel, interpretieren die Rabbinen als Symbol der Tora bzw., wie bereits gesagt, der Rettung14. Das Manna ist auch Symbol des Wortes Gottes (im Sinne von Heiliger Schrift(, das zu jedem einzelnen Menschen nach seinem Bedarf kommt15. Diese individualistische Komponente scheint mir sehr interessant und wichtig. Sie ist der origeniani( schen Vorstellung vom Wort Gottes, das in jedem einzelnen Mensch unter( schiedlich wirkt, sehr nah. Damit verbindet sich auch eine haggadische Tra( dition, dass jeder einen anderen Geschmack des Mannas wahrnahm16. Schließlich wird auch im Falle des Manna ein Hinweis auf die Geschich( te Abrahams gegeben: Das Manna kam zuerst in Alush (#(-$), was die Rab( binen etymologisch mit dem Verb #(- (Teig kneten) verbinden; zur Erklä( rung des Verses wird Gen 18:6 benutzt, wo das Verb #(- vorkommt17. Die von Abraham und Sarah gebackenen Brote sind so ein Bild des Mannas. Dieser Hinweis auf die Geschichte des ersten Patriarchen scheint mir mehr als eine etymologische Erklärung zu sein. Wir haben schon im Laufe der Analyse der Genesis(Exegese festgestellt, welche große Bedeutung Abraham selbst und seine Gastfreundschaft hatte. Wir haben auch Gelegenheit gehabt zu bemerken, dass die Doktrin der Verdienste im rabbinischen Denken be( sonders stark ausgeprägt war. Ich vermute, dass auch hier die Logik der Exegese in dieser Linie verläuft: Durch sein Empfangen der Botschaft Gottes und die Bereitschaft, seinen Befehlen zu folgen, gewinnt Abraham Verdiens( te für die zukünftigen Generationen der Israeliten. Die Gabe des Manna wird also nicht nur als Gnade Gottes, sondern auch als Belohnung der Ver( dienste des Patriarchen verstanden. Symbolisch wird das durch das Brot dargestellt: Abraham bietet den Engeln und der Schekhinah Brote an, Gott lässt für die Israeliten Brot vom Himmel fallen. In diesem Sinne ist der Heilsplan Gottes sehr konsequent und das Manna, mehr als ein unerwarte( tes Wunder, erscheint als ein logischer Schrift.

14 15 16 17

Vgl. ExodRab XXV.7 und XXV.8. Vgl. ExodRab V. 9: R. Jose b. Hanin über Ps 24:4. Vgl. ExodRab XXV.3. Vgl. ExodRab XXV.5.

282

Kapitel 11

Zusammenfassung Aus der Analyse der origenianischen und rabbinischen Exegese des Mannas wird deutlich, dass beide stark allegorisch und sogar analog sind. Alle Exe( geten betonen die Allegorie Manna/Rettung, die dann zur zusätzlichen Me( tapher Manna/Wort Gottes führt. Diese zweite Allegorie wird sehr tenden( ziös weiterentwickelt. Die Rabbinen verstehen das Wort Gottes vor allem als das jüdische Gesetz. Da das Manna, wie wir gesehen haben, als Heilsmittel angenommen wird, wird auch die Beachtung der Tora als unvermeidliche Bedingung für die Rettung des Volkes und jedes einzelnen Israeliten ver( standen. Origenes kennt diese Grundvorstellung Manna/Wort Gottes/Gesetz und interpretiert sie im christlichen Sinne. Das wahre Manna ist das Wort Gottes und zwar richtig verstanden. Weitere analoge Entwicklungen merken wir bei der Auslegung der Rolle des Sabbats. Alle Exegeten finden eine enge Beziehung zwischen dem Manna und dem Sabbat. Während das für die Rabbinen nur die Wichtigkeit der Sabbat(Vorschrift betont, ist für Origenes die Tatsache, dass das Manna am Sabbath nicht gesammelt werden konnte, ein Grund für antijüdische Polemik. Laut Origenes kam das Manna zuerst am Sonntag, was ihm erlaubt das Manna im christologischen Sinne zu inter( pretieren. Dabei bezieht sich Origenes nicht nur auf das Wort Gottes im Neuen Testament, sondern weist auf das johanneische Theologoumenon Wort Gottes/Christus. All diese Ergebnisse zeigen, dass eine gegenseitige Kenntnis der jeweiligen Exegesen nicht nur möglich, sondern hochwahr( scheinlich ist. Die philonischen Einflüsse sind eine unumstrittene Tatsache. Die Rabbinen scheinen in ihrer Allegorie Manna/Wort Gottes von Philos Allegorie Manna/Logos abhängig zu sein. Wie wir aber schon mehrmals angedeutet haben, ist eine von der christlichen Exegese unabhängige Kennt( nis Philos seitens der Rabbinen sehr problematisch und schwer nachweisbar. Origenes selbst benutzt auch diese Allegorie als Basis für seine weitere Exe( gese. Wenn er von „unserem Manna“ im Sinne von „unserem Schriftver( ständnis“ spricht, lässt er vermuten, dass er das „jüdische Manna“ als „jüdi( sches Gesetz“ versteht. Also kann man denken, dass diese Allegorie bei den zeitgenössischen Rabbinen bekannt und von ihnen benutzt war. Es steht aber auch außer Zweifel, dass es das Ziel der Rabbinen in ihrer detaillierten Allegorie des Gesetzes ist, eine Antwort auf die christliche Auslegung zu geben. So wird es schwierig, die genaue Reihenfolge der Entwicklung dieser Allegorie festzulegen.

Das Manna. Allegorische Deutungen

283

Nachdem wir jetzt bezüglich der Manna(Interpretation so oft von Alle( gorien des Gesetzes gesprochen haben, werden wir im Folgenden von der Gabe der Tora selbst sprechen.

Kapitel 12. Gabe und Empfang der Tora (Ex 19(20) Gabe der Tora nach den Rabbinen Tora und Schöpfung Die Gabe der Tora ist für die Rabbinen ein Wendepunkt in der Geschichte Israels. Durch die Gabe der Gebote wird das jüdische Volk religiös gekenn( zeichnet. Der Empfang der Tora erfolgt am Ende der ersten Etappe der Heilsgeschichte, die nach rabbinischem Verständnis von der Schöpfung der Welt bis zur „Schöpfung“ des Volkes Gottes reicht. Diese Etappe wird mit dem Bau des Stiftszeltes und des Tempels vollendet. Die Verbindung zwischen der Tora und der Schöpfung ist im rabbini( schen Denken stark ausgeprägt. Wir erinnern uns an die Schöpfungsexegese, bei der behauptet wurde, dass sechs Realitäten vor der Schöpfung der Welt vorgesehen worden sind, wovon zuerst die Tora erwähnt wird1. Die weite( ren Realitäten (wie der Tempel oder der Hohepriester etc.) sind mit ihr ver( bunden, sie sind die „Folgen“ der Erfüllung des Gesetzes. Es kann diskutiert werden, ob und inwieweit diese rabbinische Auslegung von der platoni( schen Ideenlehre beeinflusst worden ist (dabei würde sich Philo als mögli( cher Vermittler anbieten, wobei die Tora in Genesis Rabba die Rolle des phi( lonischen Logos annimmt). Es ist eine Tatsache, dass die Tora in den Midra( schim zum Pentateuch als eine Art Rahmenbedingung für die weitere Schöpfung verstanden wird. Sie ist „!"#$%“: gleichzeitig der Grund, der Sinn und das Ziel der Schöpfung2. Wiederum im Kapitel über die Weltschöpfung haben wir die bekannte Auslegung von Prov 8:22 erwähnt, wo gemäß Gen( Rab I.1 die Tora selbst von sich sagt „der Herr hat mich geschaffen am An( fang seiner Wege“. Wenn die Tora als eigentlicher Grund und eigentliches Ziel der Schöpfung verstanden wird, ergibt sich der logische Schluss, dass ihre Gabe an die Israeliten als absoluter Höhepunkt der Heilgeschichte zu verstehen ist. Die Gabe der Tora auf dem Sinai wird als Fortsetzung des Schöpfungs( plans Gottes verstanden. Diese Fortsetzung ist für die Rabbinen nicht nur

1 2

Vgl. GenRab I.4. Über das richtige Verständnis der Begriffe !(5; und !"#$% in GenRab 1, bezüglich der Rolle der Tora für die Schöpfung siehe P. Egger, Verdienste vor Gott, Der Begriff zekhut im rabbini schen Genesis Kommentar Bereshit Rabba, Göttingen 2000, 53 57.

Gabe und Empfang der Tora

285

logisch, sondern auch formell erkennbar. In beiden Fällen, bei der Schöp( fung und auf dem Sinai, werden Gebote gegeben. Der Dekalog wird analog zu den Geboten verstanden, welche die ersten Menschen bekamen. Genauso wie ihnen Gebote gegeben wurden („vermehrt euch“, „von allen Bäumen darfst Du essen, nur vom Baum der Kenntnis des Guten und des Bösen darfst Du nicht essen“), werden Moses die zehn Gebote und die anderen Vorschriften auf dem Sinai anvertraut3. Wir müssen betonen, dass nur die Gebote, die Adam erhielt, als eine Vorstufe der Tora interpretiert werden und nicht die Befehle, mit denen Gott die einzelnen Geschöpfe zur Existenz ruft. Diese beziehen die Rabbinen auf die Plagen der Ägypter, die durch analoge Befehle zustande kommen4. Während in Gen 1 durch bestimmte Befehle die Welt für den Menschen geschaffen wird, wird durch die Beseiti( gung der Ägypter ein Lebensraum für Israel geschaffen. Weitere Parallelen zwischen der Gabe der Tora und der Befreiung aus Ägypten vergleichen die Regeln, welche der Pharao den Juden aufgezwungen hatte, mit den Regeln und Vorschriften der Tora: Erstere führten das Volk zur Sklaverei, während das Gesetz Gottes sie befreite5. Durch die Befreiung Israels und die Gabe der Tora wird die ursprüng( lich von Gott vorgesehene Ordnung wiederhergestellt. Genauso wie bei der Schöpfung, ist auch für die Erfüllung der Tora Gehorsam erforderlich6. Stark zu betonen ist, dass die Rabbinen auf keinen Fall von einer Verbesserung der ersten Schöpfung durch die Tora sprechen. Solche Ideen sind zwar dem rabbinischen Denken nicht fremd (wie sich z.B. aus ihrer Argumentation bezüglich der Beschneidung ergibt), aber im Falle der Einführung der Tora und des Baus des Stiftszeltes trifft diese Logik nicht zu. Die Beziehung zwi( schen Schöpfung und Gabe der Tora können wir gemäß dem rabbinischen Material schematisch so darstellen: Es handelt sich um eine Schöpfung in zwei Etappen ( die physische Schaffung des Menschen und die religiöse Schaffung des Volkes Gottes durch das Gesetz und den Tempel – die von Gott selbst so vorgesehen ist. Die Realitäten, welche das geistige Leben des

3 4 5 6

Vgl. ExodRab XXXVIII.1 und DeutRab II.25. ExodRab X.1 2. Vgl. ExodRab XXX.17. Vgl. ExodRab XXX.19.

Kapitel 12

286

Menschen bzw. des Volkes betreffen, sind schon beabsichtigt, bevor es überhaupt zu einer Welt( und Menschenschöpfung kommt. In den Midra( schim ist die Vorstellung, dass Gott die Sünden der Menschen und die re( spektiven Rettungsmitteln voraussah, zwar belegt, sie wird allerdings kaum unterstützt. Die Meinung der Mehrheit der Exegeten ist, dass Gott diese zweistufige „Schöpfung“ von Anfang an geplant und gewollt hat. Die Frage, ob der Mensch im Paradies auch die Tora und den Tempel gebraucht hätte, wird in den Midraschim zum Pentateuch kaum beantwortet. Wenn man aber alle Hinweise auf den Sabbat im Paradies betrachtet, würde man ohne Zweifel schließen, dass die Rabbinen die gleiche Gesetzgebung auch im Paradies erwartet hätten. Noch besser: die Erfüllung dieser Gesetzgebung wäre ohne die Sünden der Menschheit viel einfacher und vollkommener gewesen. Die didaktische Funktion des Gesetzes, die in der rabbinischen Exegese immer wieder begegnet, ist so nur sekundär. Primär ist der freie Wille Gottes, der Menschheit ein Gesetz zu geben. Diese Vorstellung unter( scheidet sich grundsätzlich von der christlichen bzw. origenianischen Auf( fassung der Rolle des Gesetzes. Letztere betont, wie wir sehen werden, die ausschließlich didaktische Funktion des alttestamentlichen Gesetzes in sei( nem wörtlichen Verständnis.

Die Gabe der Tora an Israel: Erwählung oder Verdienst? Die Fortsetzung der Schöpfung mittels Gabe der Tora wird nur dank der Mitarbeit Israels möglich. Hätte Israel die Tora und den Bund nicht ange( nommen, hätte Gott die Welt in ihren ursprünglichen Status des Chaos zu( rückgeführt7. Israel hat also einen Verdienst in der Herstellung und Fortset( zung der göttlichen Ordnung in der Welt8. Die Beziehung zwischen der Gnade Gottes und den Verdiensten Israels ist hier zentral. Die Gabe der Tora als Gnade ist in Exodus Rabba ein wichti( ger Aspekt: dadurch wird die Zuneigung Gottes zu seinem Volk deutlich. Das Volk wird unter der bekannten Allegorie der Braut dargestellt, der Gott als ein liebender Verlobter seine Gebote gibt9. Israel hat sich aber nach den

7 8 9

Vgl. ExodRab XLVII.4. Vgl. Egger, 2000, 89. Vgl. DeutRab III.5 und 7.

Gabe und Empfang der Tora

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Rabbinen diese Liebe mehr oder weniger erworben: das jüdische Volk war nämlich die einzige Nation, die fähig war, das Gesetz aufzunehmen10. Der folgende Text beschreibt noch deutlicher wie es dazu kam, dass nur Israel in der Lage war, die Tora zu empfangen: Als der Heilige, gepriesen sei er, die Tora auf dem Sinai gab, ließ er durch seine Stimme Israel Wunder über Wunder sehen. Auf welche Weise? Als Gott sprach, da ging seine Stimme um die ganze Welt. Israel hörte seine Stimme, die aus Süden zu ihnen kam, und sie [die Israeliten] liefen nach Süden, um die Stimme [Gottes] zu empfangen. Aus dem Süden wandte sie sich für sie nach Norden und sie rannten nach Norden, sie wandte sich von Norden für sie nach Osten und sie liefen nach Osten, sie wandte sich von Osten für sie nach Westen und sie liefen nach Westen, von Westen wandte sie sich für sie nach dem Himmel, und sie richteten ihre Augen dahin und sie wandte sich zur Erde. 11. Nach einer aggadischen Auslegung wirkte das Wort Gottes auf zwei Arten in der Welt: es bestrafte die Heiden, die es nicht aufgenommen hatten und brachte Israel, das es aufgenommen hatte, Leben12. Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass der Empfang der Tora nach diesen Texten auch einem anderen Volk möglich gewesen wäre. Die Vorwürfe, die von unterschiedlichen Seiten die Erwählung Israels in Frage stellten, werden durch die Annahme bestimmter Verdienste des Volkes beseitigt. Die oben zitierten Stellen bestätigen die Universalität der Botschaft Gottes: Israel ist nicht a priori auserwählt, sondern das einzige Volk, das aufgrund seiner Tugenden und Verdienste in der Lage ist, das Gesetz auf( zunehmen. Das Volk ist dazu bereit, was seine Freiwilligkeit einschließt. Es werden auch die wichtigsten Tugenden der Israeliten erwähnt: Scheu, Mitleid und Wohlwollen gegenüber den anderen13. Nicht nur die

10 11

12

Vgl. ExodRab XXVII.9. ExodRab V.9: #(+41 1"1 +2"5 /"$-, "$-, -$%9"- (-(4& 1$%1 "3"6& 1%(!1 !$ $(1 8(%& #(+41 '!3#5 /"2%("1 ( /(%+1 ') /1"-0 $&1 -(41 !$ '"0)(# -$%9" ./-(01 -5& %";.)( $2(" -(41( ,%&+) $(1 8(%& .%;))( .%;)- /"2% ("1( .%;)- 8,13 '(,2)( ,'(,2- /"2% ("1( '(,2- /1- 8,13 /(%+)( ,-(41 !$ -&4- /(%+. j%/6 "8#Z# 06+9 $%/83L# +Z# $DDA:T#. Vgl. hom. in Ex. 8.2: „Cum divideret“, inquit, „Excelsus gentes et dispergeret filios Adam, statuit terminos gentium secundum numerum angelorum Dei“ (Deut 32:8 9). Angelos igitur, quibus regendas gentes commisit Excelsus, vel deos appellari vel dominos constat, deos quasi a Deo datos, et dominos, quasi qui a Domino sortiti sint potestatem. Origenes erwähnt auch Ps 82:5 7 „Ihr seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten. Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen, sollt stürzen wie jeder der Fürsten” und verbindet diese Aussa ge mit dem Schicksal der gefallenen Engel.

Gabe und Empfang der Tora

295

Eine ähnliche Lösung, welche die Vielzahl von Göttern in der Schrift durch die Engeln erklärt, kennen auch die Rabbinen. In den Midraschim findet sich nämlich die Figur des Engels oder der Engel, die mit Gott mit( wirken: wir erinnern uns z.B. an die Exegese der Menschenschöpfung, bei der die Engel als Mitwirkende oder Berater Gottes verstanden wurden. Ähn( liche Beispiele fehlen auch nicht bezüglich der Sinai(Geschichte: nach einer Auslegung kam Gott mit einer Begleitung von gut zwanzig tausend Engeln auf den Sinai41. Als Beweis dafür, dass Gott der einzige sei, der entscheidet, und als Prävention gegen jede Art Missverständnisse, betonen die Rabbinen, dass alle Verbalformen, die sich auf die Tätigkeit Gottes beziehen, im Singu( lar stehen42. Dass eine große Vorsicht bei allen Interpretationen nötig war, die die Engel als Mitwirker Gottes darstellen, ergibt sich aus den häufigeren Diskussionen zu dieser Frage in den Midraschim43.

Das erste Gebot und das Problem der Idolatrie Das zweite Gebot betrifft explizit die Verehrung anderer Gottheiten und stellt damit das Problem der größten im Alten Testament bekannten Sünde: der Idolatrie. Die einzigartige Beziehung zwischen dem einen Gott und dem einen Volk impliziert die Notwendigkeit einer bedingungslosen Treue. Die Idolatrie begleitet die Geschichte der Gabe der Tora. Fast gleichzeitig mit dem Empfang der Tora wird die Frage nach der Treue des Volkes gestellt. Die rabbinische Exegese konzentriert sich auf folgende Punkte: die Ido( latrie als Ablehnung der von Gott vorhergesehenen Ordnung; die gebroche( ne Liebesbeziehung zwischen Gott und Israel und nicht zuletzt einige Hin( weise auf eventuelle gegnerische Kräfte, welche die Braut Gottes/ Israel verführen. Die rabbinische Logik bewegt sich in folgenden Bahnen: Die Idolatrie gilt als die schlimmste Form der Ungerechtigkeit und im Rahmen der Heilsgeschichte wird sie allen Generationen von Sündern vor( geworfen44. Sie impliziert erstens einen Ungehorsam gegenüber dem Befehl des einzigen Gottes. Zweitens zerstört sie die von Gott gewünschte Ord(

41 42 43 44

Vgl. ExodRab XXIX.2. Vgl. ExodRab XXIX.1. Über die Rolle und die Interpretation der Engel in den Midraschim siehe Segal, 1977, 135 146. Vgl. z.B. DeutRab V.10.

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Kapitel 12

nung für die Welt: dem Menschen wurde befohlen, über die Natur zu herr( schen und nicht sie zu vergöttlichen bzw. sich von ihr beherrschen zu lassen. Der Gehorsam wird dann als ein Zeichen der Liebe Israels zu Gott verstan( den. Der Ungehorsam und die Idolatrie erscheinen in diesem Sinne als ein Ehebruch seitens Israels45: Die Israeliten legten den Schmuck, mit dem Gott sie als eine geliebte Braut geehrt hatte, ab46. Die gegnerischen Kräfte, deren verführerische Kraft die Schuld des Volkes zum Teil vermindern kann, wer( den „Engel der Zerstörung” (1-&. "5$-)) genannt. Nach einer aggadischen Tradition traf Moses bei seiner Ankunft aus dem Sinai fünf dieser Engel47. Die Untreue Israels war in diesem Sinne sozusagen unvermeidbar. Das Ver( zeihen einer so großen Untreue war nach den Rabbinen nur dank den Ver( diensten der Patriarchen möglich. Den idolatrischen Opfern, die dem Kalb dargebracht worden sind, wird das Opfer Isaaks entgegengestellt, der gro( ßen Untreue des Volkes die perfekte Treue Abrahams und das unvergängli( che Versprechen Gottes, die Nachkommen des Patriarchen so zahlreich wie die Sterne am Himmel werden zu lassen48. Es handelt sich um eine wunder( bare Illustration der Auswirkung des Verdienstsystems, wie es im Midrasch verstanden wird. Beachtung verdienen auch die Etymologien der fünf Na( men Sinais, welche die Rabbinen als Allegorie der ganzen Geschichte der Gabe der Tora und der Idolatrie der Israeliten sehen49. Origenes versteht die Idolatrie auch als eine Art Ehebruch, er weigert sich allerdings von der Kirche als Braut Gottes zu sprechen und zieht in diesem Fall die „psychologische“ Allegorie vor, bei der das Volk Gottes allegorisch als Bild der Seele interpretiert wird. Das Ganze wird dann noch einmal allegorisiert, wobei Gott als Bräutigam und die Seele als seine Braut

45 46 47 48 49

Vgl. ExodRab XLIII.7. Vgl. ExodRab XLV.2. Vgl. ExodRab XLVII.9; ExodRab XLII.1; ExodRab XLIV.8. Vgl. ExodRab XLIV.5 6. Vgl. ExodRab II.4: Die fünf Namen sind: der Berg Gottes, weil die Israeliten dort die Gott heit des Allheiligen bekamen; der Berg von Baschan, weil alles, was man mit seinen Zäh nen ('"3# &) isst, nach den Vorschriften der Tora ist; der Berg von Spitzen (/"33&*), rein wie Käse, weil er rein von jedem Makel ist; der Berg von Horeb, weil von dort der Sanhedrin die Kraft bekam, mit dem Schwert zu schlagen &%. , oder weil die Nationen der Götzendie ner völlig vernichtet sein werden ('&%."). Der Berg heißt schließlich „Sinai”, weil von dort Hass (1$3#) gegen die Götzediener entstand.

Gabe und Empfang der Tora

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dargestellt wird. Diese kann sich entweder treu erweisen, oder sich den Dämonen prostituieren. Gott nennt sich nach Origenes „eifersüchtig”, weil er nicht ertragen kann, dass die Seele sich den Dämonen ergibt50. Die Inter( pretation der Seele als weiblichem und deswegen schwachem Element des Menschen ist bei Origenes durchaus häufig und seit der Schöpfungsausle( gung systematisch verwendet. Interessant an dieser Stelle ist, dass die Rab( binen genau im selben Kontext der Gabe des Gesetzes, eine ähnliche allego( rische Interpretation vorgenommen haben: Gott als Bräutigam gibt seiner geliebten Braut (Israel) seine Gebote. Das Problem der Verbindung zwischen Observanz des Gesetzes und Idolatrie ist auch für Origenes wichtig. Die konkrete Episode der Idolatrie der Israeliten zählt zu denjenigen, die Origenes nicht separat, sondern im ganzen Kontext der Kommentierung des Exodus interpretiert. Mehrmals im Laufe seiner Pentateuchauslegung, und vor allem bezüglich der levitischen Vorschriften, wiederholt Origenes, dass die wörtliche Observanz bzw. das wörtliche Verständnis der Schrift nichts anderes als Idolatrie sei. Der ganze jüdische Opferkult ist für Origenes, wie wir demnächst sehen werden, eine Art Erziehung gegen die Idolatrie51. Die jüdischen Fastentage nennt er „Aberglaube“52. Alle Vorschriften versteht er als eine Art Prüfung des Vol( kes, dessen große Schwäche die Idolatrie war53. Sogar kleinere Details wie der Stock Moses, der nur zum Teil als Wunderinstrument benutzt wurde, damit ihm keine magische Kraft zugeschrieben werden sollte, spielen eine Rolle im didaktischen Plan Gottes. Eine bemerkenswerte Interpretation des Origenes kann für uns nicht unbeachtet bleiben: es wird behauptet, dass

50 51 52 53

Vgl. hom. in Ex. 8.5: Et zelans dicitur Deus, quia animam sibi mancipatam non patitur daemonibus admisceri. Vgl. hom. in Ex. 7.1. Vgl. hom. in Lev. 10.2. Vgl. hom. in Ex. 7.2: Videtur mihi, quo prospectu datae sint iustificationes et iudicia et testimonia legis, exponere: ut tentaret, inquit, eos si audirent vocem Domini, et quae mandabantur custodirent. Nam quantum ad priorem populum spectat, quid iis boni aut perfecti murmurantibus et contradicentibus mandaretur? Denique paulo post etiam ad idola convertuntur, et obliti beneficiorum et mirabilium Dei caput vituli statuunt. Propterea ergo dantur iis praecepta in quibus tententur […] tentati enim in praeceptis Domini non inveniuntur fideles […] Sed quia admiscuit iis lignum crucis Christi, et spiritaliter intellecta servantur, eadem ipsa mandata vitae appelantur, sicut et alibi dicit „Audi, Istraehl, mandata vitae“.

Kapitel 12

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Moses außerhalb des verheißenen Landes, an einem unbekannten Ort, be( graben werden sollte, damit er später nicht in irgendeiner Weise von den Juden vergöttlicht werde 54. Der wahre Sinn des Gesetzes war nach Origenes verborgen, aber auch im Alten Testament zugänglich. Begriffen haben ihn nur einzelne alttesta( mentliche Persönlichkeiten, wie z.B. Moses. Der Schleier, den Moses bei seiner Rückkehr vom Sinai trug, symbolisiert die richtige, allegorische Deu( tung der Schrift, die dem Volk verborgen bleibt. Auf der Basis von Paulus55 spricht Origenes von der Bekehrung, die der Mensch benötigt, um den Schleier der Schrift aufheben zu können und das gilt, sagt Origenes, nicht nur für das Alte Testament, sondern auch für die Evangelien und für die Apostelschriften56.

Zusammenfassung Die origenianische und die rabbinische Auslegung der Gabe der Tora lassen deutlich die Zweckbestimmungen erkennen, welche die Exegeten bei ihrer Arbeit vor Augen hatten. Beide erkennen zwar eine Verbindung zwischen Schöpfung und Gabe der Tora, die Rabbinen sehen es aber als einen mehr( stufigen Prozess, der von der Schöpfung der Welt bis zur Schöpfung Israels andauert und von Gott so vorgesehen war. Für sie ist die Tora das Prinzip, nach dem und für das das Ganze geschaffen wurde. Die Tora spielt so in der rabbinischen Exegese die gleiche Rolle wie der Logos in der philonischen Pentatechauslegung. Nach der rabbinischen Vorstellung ist das Gesetz von Gott gewünscht und nicht als Folge des Sündenfalls der Menschheit einge( führt. Dazu gehört die Bereitschaft Israels, das Gesetz aufzunehmen und damit die Fortsetzung des Plans Gottes zu ermöglichen. Das Problem ist

54

55 56

Sel. in Num. PG 12, Col. 577B: n –T2J4, 3< ;.@M264 +L# |>L# "-= +.? :6.?, "0T:,85 -6%>:8>U# 3>+’ 6I+.?. ®#6 D9% 3< l# "+E3T# FZ#+6, "# |>.? 8>%6->E6/4 +/3*2T2/# $->:81#+6, $W6#J +L# +1-.# (+MW.#) ->-.E50>#. Vgl. 2Kor 3:14. Vgl. hom. in Ex. 12.4: Et manifeste, si negligenter audimus, si nihil studii et intelligentiae conferimus, non solum legis et prophetarum Scriptura, sed et apostolorum et Evangeliorum grandi nobis velamine tegitur.

Gabe und Empfang der Tora

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logisch mit der Frage nach der Ausgewogenheit zwischen den Verdiensten der Israeliten und der Gnade Gottes verbunden. Ganz anders ist die origenianische Position: für Origenes ist das Gesetz die logische Folge der Sünden der Menschheit, die eine zusätzliche Erzie( hung und Verbesserung braucht. In diesem Sinne hat das Gesetz für Orige( nes eine hauptsächlich didaktische Funktion. Das israelitische Volk spielt so nicht die Rolle der bevorzugten Nation, sondern eher die des von Gott be( gnadigten Sünders, der didaktische Mittel zu seiner Verbesserung angebo( ten bekommt. Gegen die rabbinische Auffassung der Observanz als Erfül( lung des Plans Gottes wird das richtige Verständnis der Gebote gestellt. Gegenüber der rabbinischen Verdienstlehre wird die Gnade Gottes betont. Während die Rabbinen die Idolatrie als Ablehnung des Gesetzes verstehen, spricht Origenes von einer Idolatrie in der wörtlichen Observanz und wirft so seinen jüdischen Kollegen die größte Sünde vor, die sie überhaupt kann( ten.

Kapitel 13. Interpretation des Stiftszeltes (Ex 25) Einleitung Die Auslegung des Stiftszeltes gehört zusammen mit jener des Opferkults und des Priestertums zu den wichtigsten Themen in der Exegese des Alten Testaments. Sehr oft verstehen die Exegeten, sowohl die jüdischen als auch die christlichen, das Stiftszelt nur als chronologischen Vorläufer des Tem( pels. Seine liturgische Funktion wird nicht wesentlich von der des Tempels unterschieden. Aufgrund dieser Tatsache habe ich mir erlaubt, die Analyse der Exegese von Ex 25 in den breiteren Kontext des Tempelverständnisses des Origenes und der Rabbinen einzuschließen. Dieses jeweilige Tempelver( ständnis lässt sich nicht erklären, ohne wenigstens einige Hinweise auf die historische Entwicklung des Tempelkultes zu geben. Die Vorstellung eines vollkommen reinen Heiligtums, das dem einzigen Gott gewidmet ist und dessen irdischer Bau ein Vorbild des himmlischen Heiligtums darstellt, erlitt schon mit der Zerstörung des ersten Tempels eine große Krise. Die erste Substitutionsvorstellung des fehlenden Jerusalemer Tempels durch einen himmlischen Tempel im himmlischen Jerusalem kris( tallisierte sich gerade in der Epoche der ersten Zerstörung Jerusalems her( aus. Seither wurde jede Profanation des Tempels mit einer wachsenden Spiritualisierung seines Verständnisses verbunden. Es ist bekannt, dass die jüdische Gemeinde es vorzog, „eine neue Art von Gottesdienst zu pflegen, die der Exklusivität des Zion keine Konkurrenz machte: den Synagogengot( tesdienst, von seinen (uns wenig bekannten) Vorläufern bis zu seiner entfal( teten Liturgie“1. Eine bedeutende Spiritualisierung des Tempel(Verständnisses lässt sich also schon in vorchristlicher Zeit feststellen. In der zwischentestamentari( schen Periode nimmt sie gewaltig an Bedeutung zu. Den historischen Grund für dieses Phänomen sehen einige Forscher in der mehrmaligen Profanation des zweiten Tempels und in der Enttäuschung einiger Gruppen aus der priesterlichen Schicht. Als klassisches Beispiel dieser Tendenzen gelten die Essener2. Das zweite und wesentlich größere Problem waren die Juden der

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Vgl. F. Siegert, Die Synagoge und das Postulat eines unblutigen Opfers, in B. Ego / A. Lange / P. Pilhofer (Hg.), Gemeinde ohne Tempel, Tübingen 1999, 335. Siehe z.B. J. Frey, Temple and Rival Temple, in Gemeinde ohne Tempel, 191.

Interpretation des Stiftszeltes

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Diaspora, die nur gelegentlich die Möglichkeit hatten, den Jerusalemer Tempel zu besuchen, während die anderen Kultstätten (z.B. diese in Elephantine oder der Tempel in Heliopolis) nie wirklich ernsthaft ange( nommen worden waren. Dazu kam in der Diaspora auch der Wunsch, den eigenen Kult möglichst stark an den heidnischen Kult anzupassen. Die Grie( chen hatten ebenfalls Tempel und Opfer, aber auch philosophische Interpre( tationen, welche dem Kult eine besondere kosmologische Dimension zu( schrieben. Reichliche Beispiele für die Versuche, den jüdischen Kult an die griechischen philosophischen Modellen anzupassen, finden wir bei Philo und Josephus. Philo war weit von radikalen Positionen, nach denen der Tempelkult kategorisch ablehnt wurde. Wir wissen nicht wie oft Philo selbst in Jerusalem war. Die einzige Erwähnung einer Pilgerreise nach Jerusalem befindet sich in der Schrift De providentia3, deren Urheberschaft sehr umstrit( ten ist4. Ähnlich wie in anderen Fällen (z.B. Beschneidung, Speisevorschrif( ten, Opferkult etc.), bestreitet er seine Funktion nicht, betont allerdings zugleich, dass die eigentliche Bedeutung des Kultes und des Tempels geistig sei5. Wir wissen auch, dass sich genau aus diesem „geistigen Kult außerhalb des Tempels” das jüdische Gebetssystem und der ganze synagogale Wort( gottesdienst entwickelt hat6. Die Kanonisierung der Texte und Zeiten der Gebete geschah dann nach dem Jahre 70 n.Chr., als auch konservative Kreise wie die Rabbinen, vor der Notwendigkeit standen, den Tempelkult zu „er( setzen”. Es entwickelt sich so eine beeindruckende Zahl allegorischer Inter( pretationen, welche die unterschiedlichen Aspekte des Tempels und des Kultes moralisch oder mystisch darstellen und die, aufgrund der analogen exegetischen Methoden, einen Vergleich mit Origenes interessant machen.

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Vgl. prov 2.107, benutzt wurde die Ausgabe De Providentia, Introduction, traduction et notes par M. Hadas Lebel, Les Oeuvres de Philon d´Alexandrie 35, Paris 1983. Vgl. ibid. Einleitung. So z.B. in QE. 2.51, 68 69 und 85 86, sowie Ebr. 134. Vgl. E. Eshel, Prayer in Qumran and at the Synagogue, in Gemeinde ohne Tempel, 329.

Kapitel 13

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Die origenianische Interpretation des Stiftszeltes Alexandrinische Modelle Bevor wir uns detaillierter mit der origenianischen Interpretation des Stifts( zeltes beschäftigen, sollten wir Einiges über eventuell von ihm benutzte Modelle sagen. Wie üblich, bietet sich eine Übersicht über die alexandrini( sche und die hellenistisch(jüdische Auslegung als besonders hilfreich an. Philo und Josephus, die mit der griechischen Philosophie vertraut wa( ren, benutzen die Konzeption des Tempels als Krönung oder symbolische Zusammenfassung der Schöpfung und geben der Konstruktion des Stiftszel( tes bzw. des Tempels eine allegorische, „kosmologische“ Erklärung. Koester analysiert die Details der Exegesen der beiden, was ihren Vergleich erleich( tert7. So ist z.B. das Allerheiligste bei Josephus ein Bild des Himmels8, wäh( rend Philo es als Symbol der intelligiblen Natur versteht9. Weitere Teile der

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C. Koester, The Dwelling of God, the Tabernacle in the Old Testament, Intertestamental Jewish Literature, and the New Testament, Washington 1989, 59 67. Philo, Mos 2.102: "# ;_ +S 3>8.%EO +Z# +>22M%T# -A#+> 0/1#T#, j->% "2+= 0H%ET4 -%1#6.# >7%D13>#.# ;H2=# iWM2362/, +S 3_# \#;.# l 06:>U+6/ 06+6-A+6236, +S ;_ "0+L4 l -%.26D.%>,>+6/ 0M:H336, +9 :./-9 +%E6 +Z# -%.>/%53A#T# c;%,>+.a 3A2.# 3_# +L 8H3/62+*%/.#, DJ4 06= e;6+.4 2,3g.:.# >I&6%/2+E64. m# Š#>06 +Z# D/#.3A#T# $W’d06+A%.H -%.2J0> -./>U286/ +L# D9% 3A2.# +6?+6 +.? 0123.H +1-.# 0>0:*%T+6/. Josephus, Ant. 3.123. 181, Josephus with an English Translation by H.S. Thrackeray, London 1957: + >V#6/ +L 3_# D9% +%E+.# 6I+J4 3A%.4 +L "#+L4 +Z# +>22M%T# 0/1#T#, l +.U4 c>%>?2/# {# Cg6+.#, B4 .I%6#L4 $#>U+. +S 8>S, .c ;’>‚0.2/ -*&>/4, y2->% DJ 06= 8M:6226 gM2/3.4 $#8%N-./4, .e+T4 +.U4 c>%>?2/ 31#./4 "->+A+%6-+.. Vgl auch Ibid.§ 181 182: +74 +%E6 06= ;,. 3A%5 -r26# $#>=4 +.U4 c>%>?2/# y2->% gAg5:1# +/#6 06= 0./#L# +1-.#, + +S 8>S ;/9 +L 06= +L# .I%6#L# $#>-Eg6+.# >V#6/ $#8%N-./4 [...] +g6ET2/# 06= };%H2/# "# +.U4 +>:>E./4 $%>+J4 ;1D362/ :63gM#>/a ;/L 06= 36%+H%>U+6/ i-L 8>.?, j+/ 06:Z4 "%š „"0:*85 D9% 205#< 36%+H%E.H” W52E... +.,+.H &M%/# Y $%&/>%>G4 >74 +9 ^D/6 +Z# oDET# .I0 >72>:>,2>+6/ "# +S -.;*%>/, $::9 +L# +J4 ;1@54 06= W6#+62E64 XH&J4 &/+Z#6 $-.;H2M3>#.4 06= 06+6:/-s# +.U4 +9 "0+L4 $D6-Z2/ 06= ;1@6# -%L $:58>E64 +>+/35012/ DH3#L4 C#>H &%T3M+T# 06= &T# >72>:>,2>+6/ 2->U26/ +L XH&/0L# 6˜36 06= 8H3/r26/ j:.# +L# #.?# +S 2T+J%/ 06= >I>%DA+† 8>S.

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Kapitel 13

Das Stiftszelt als Allegorie des Himmels Von besonderer Bedeutung für die origenianische Interpretation des Stifts( zeltes ist die neunte Homilie zu Exodus. Hier bietet Origenes mehrere alle( gorische Interpretationen, wobei die erste dieser Auslegungen eine ist, die seinen alexandrinischen Modellen sehr nahe steht. Das Allerheiligste interpretiert Origenes als den Himmel oder die himm( lische Welt (was wohl mit dem Plural „caelos“ in der rufinianischen Über( setzung gemeint ist)15. Wenn wir uns an die kosmologischen Interpretatio( nen Philos und Josephus` erinnern, sehen wir, dass sie das Allerheiligste als Bild der Himmel (bei Josephus) oder der intelligiblen Natur (bei Philo) ver( standen hatten. Die origenianische Interpretation ist der Auslegung des Josephus sehr ähnlich. Gerade von Josephus wird, wie wir erwähnt haben, vermutet16, dass er nicht direkt vom platonischen Denken beeinflusst war und dass seine Auslegung des Stiftszeltes originär jüdische Züge enthält. Wir werden bald sehen, dass solche Vorstellungen bei den Rabbinen tatsäch( lich präsent sind, wobei ihre Datierung aber sehr problematisch ist. So ist Josephus eine wertvolle Quelle, da die Datierung seiner Werke sicher ist. Wenn wir annehmen, dass Josephus tatsächlich eine jüdische allegorische Interpretation des Allerheiligsten aufgenommen habe, müssen wir schlie( ßen, dass diese schon im ersten Jahrhundert geläufig war. Höchstwahr( scheinlich kannte Origenes den Ursprung seiner Interpretation und bemühte sich daher, eine christliche Autorität zu zitieren, die seine Zuhörer von der Unabhängigkeit dieser Interpretation von eventuellen jüdischen Modellen überzeugen konnte. Paulus sprach tatsächlich vom himmlischen Stiftszelt17, womit er das Reich Christi bezeichnete. Allerdings ist diese Aussage viel mehr im Sinne des himmlischen Gottesdienstes zu verstehen, während die origenianische Auslegung an die kosmologische Interpretation des Josephus

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Vgl. hom. in Ex. 9.1: Qui ergo velamen interioris tabernaculi carnem Christi interpretatus est, sancta autem ipsa caelum vel caelos, Dominum ego Christum pontificem, eumque dicit introisse ‘semel sancta, aeterna redemptione inventa’ (Heb 9:12), ex his paucis sermonibus si quis intelligere novit Pauli sensum, potest advertere quantu nobis intelligentiae pelagus patefefecerit. Vgl. Koester, 1989, 61. Der Autor weist auf die Studie von U. Früchtel, Die kosmologischen Vorstellungen bei Philo von Alexandrien: Ein Beitrag zur Geschichte der Genesisexe gese (ALGHJ 2), Leiden 1968. Vgl. 2Kor 5:2.

Interpretation des Stiftszeltes

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erinnert. Diese Anleihe wollte Origenes offensichtlich vor seinen Zuhörern nicht zugeben. Wenn es sich tatsächlich um eine von Josephus übernomme( ne jüdische Auslegung handelte, ist gut verständlich, dass Origenes versuch( te, sich von seinen Konkurrenten zu distanzieren.

Christologische Interpretation des Stiftszeltes bei Origenes: Eine sehr markante Charakteristik der origenianischen Interpretation des Stiftszeltes ist die christologische Interpretation. Die systematische Allegori( sierung des Tempels als Körpers Christi kann man ohne große Übertreibung als typologisch bezeichnen. In seiner Darstellung des Tempels als Typos der Inkarnation folgt Ori( genes dem Modell des Hebräerbriefs. Die Auffassung, dass der Körper Christi der eigentliche Ort der Präsenz Gottes bzw. der Tempel sei, reflek( tiert in großem Maße die jüdische Auffassung des Tempels als Ort der Sche( ckinah. Wir haben schon angedeutet, dass die Rabbinen, aufgrund ihrer Auffassung von den Verdiensten der Gerechten, ein ganzes System von Beziehungen zwischen der Schekhina und der Menschheit entwickeln, wo( bei jede Generation von Gerechten die Schekhina auf die Erde bringt18, wäh( rend die ungerechten Generationen Grund für ihre Entfernung sind. Nach jüdischer Auffassung kam die Schekhina erst im Stiftszelt dauerhaft auf Erden. Für Origenes, genauso wie für den Autor des Hebräerbriefs, ist der Körper Christi der eigentliche „Ort“ der Präsenz Gottes. Die Inkarnation ist in sich die Materialisierung eines neuen Tempels. Wir werden bald sehen, dass Origenes immer wieder den materiellen Charakter des Körpers Christi betont. In Zeiten, in denen das Judentum damit beschäftigt war, die Theolo( gie des himmlischen Tempels als eine Art Substitution des materiellen Tem( pels zu entwickeln, konnte Origenes den Rabbinen nicht nur das Verständ( nis eines geistigen Tempels, sondern auch die Inkarnation Christi als dessen Materialisierung entgegen stellen. Als zusätzliches Mittel zur Bestätigung dieser These benutzt Origenes das historische Faktum der Zerstörung des Tempels. Mehrmals weist er als Beweis für die definitive Abschaffung dieser Realitäten auf die Asche des Altars und des „irdischen“ Heiligtums hin19. Das Thema der Tempelzerstörung und der Unterbrechung des Tempelkultes

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Siehe z.B. GenRab II.3 4; GenRab XLVIII.6. Vgl. HomLev 10.2.

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ist ein bekannter Topos in der christlichen Polemik gegen die jüdische Pra( xis20. Im Römerbriefkommentar legt Origenes mehrere einzelne Details der Konstruktion des Stiftszeltes im christologischen Sinne aus: das Gold an der Lade und auf der Sühneplatte ist für ihn ein Symbol der menschlichen Seele Christi, die rein von jeder Sünde ist21. Die zwei Cherubim auf der Sühneplat( te interpretiert er als Zeichen der „Fülle des Wissens”22. Ihre Flügel, welche die Unterstützung Gottes symbolisieren, sind der Seele des Sohnes Gottes zugewandt, in der nur Gott Vater und der heilige Geist in Vollkommenheit präsent sind. Die Bundeslade betrachtet er dann als Präfiguration des Kör( pers Christi23. Auch die Zahlen der Maße der Sühneplatte lässt er nicht ohne christolo( gische Bedeutung: die Tatsache, dass ihre Länge zweieinhalb Ellen sein musste, symbolisiert die zwei Naturen Christi Mensch und Gott und damit seine Funktion als Vermittler zwischen Gott und der Menschheit24. Die Brei( te von anderthalb Ellen symbolisiert seine Inkarnation durch eine Jungfrau

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Vgl. R. Brändle, Die Auswirkung der Zerstörung des Jerusalemer Tempels auf Johannes Chry sostomos und andere Kirchenväter, in S. Lauer (Hg.), Tempelkult und Tempelzerstörung (70 n. Chr.), Interpretationen, Bonn 1994, 105 ff. Obwohl Origenes in dieser Untersuchung nicht explizit betrachtet ist, wird deutlich, dass das Argument der Tempelzerstörung fundamen tal für die frühchristliche Exegese und ihre antijüdische Polemik war. Zur Rezeption der Tempelzerstörung siehe auch H.M. Döpp, Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des zweiten Tempels in den ersten drei Jahrhunderten n. Chr., Tübingen Basel 1998, bes. 64 66, wo die Verbindung zwischen dem Tod Jesu und der Tempelzerstörung bei Origenes analysiert wird. Der Autor untersucht allerdings hauptsächlich origenianische Interpretationen, wel che die Tempelzerstörung als Strafe für die Tötung Jesu darstellen und interessiert sich nicht für typologische oder Substitutionsvorstellungen des Origenes, welche die Inkarnati on als Erfüllung der Tempelfunktion bestätigen. Vgl. comm. in Rom. 3.5 (8) zu Rom 3:25 26: Quod ego in pluribus observans deprehendisse mihi videor, quod sicubi cum adiectione aurum purum dicitur, indicet sanctam illam et pu ram Iesu animam, quae ‘peccatum non fecit, nec dolus in ore eius’ (Isa 53:9; 1Pet 2:22). Vgl. ibid.: Cherubim enim in nostram linguam interpretatum ‘plenitudo scientiarum’ significat [...] Singnificatur igitur ut ergo arbitror in isto propitiatorio, hoc est in anima Jesu, verbum dei, qui est unigenitus Filius, et spiritum eius sanctum semper habitare; et hoc est quod indicant duo cherubim propitiatorio superposita. Vgl. ibid. Vgl. ibid.

Interpretation des Stiftszeltes

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und den Heiligen Geist25. Origenes folgert, dass die Symbolik der Länge das Streben der Seele Christi zu Gott bezeichnet, während die Symbolik der Breite seine menschliche Natur betont. Wir bekommen also in der origenia( nischen Auslegung des Stiftszeltes eine klare Vorstellung seiner weit entwi( ckelten christologischen Doktrin geboten. Die Abhängigkeit von Paulus ist wohl nicht der einzige Grund warum diese Interpretationen gerade im Römerbriefkommentar des Origenes zu lesen sind. Die Fragen nach der Natur und der Seele Christi waren tatsäch( lich für die etwas besser ausgebildeten Leser des Origenes viel zugänglicher und verständlicher als für die Zuhörer seiner Homilien. Eine so detaillierte Auslegung konnte er sich in den Homilien zum Exodus nicht erlauben. Die Homilien über das Stiftszelt konzentrieren sich auf die jüdische Auffassung des Zeltes/Tempels als Wohnort der Schekhina. Dass der Körper Christi als Ort der tatsächlichen Präsenz Gottes erscheint so als eine logische Fortset( zung der jüdischen Vorstellung, womit seine Zuhörer sich offensichtlich auskannten. Obwohl Origenes sagt, dass Moses und Aaron die Präfiguration der Inkarnation im Stiftszelt gesehen haben, behauptet er nirgendwo, die Schekhina wäre im Zelt nicht anwesend gewesen.

Moralische Allegorien der Konstruktion des Stiftszeltes bei Origenes In der komplizierten origenianischen Auslegung lässt sich noch eine weitere allegorische Ebene feststellen: moralische Allegorisierung des Stiftszeltes. Die unterschiedlichen Elemente des Baus werden so als Allegorien der un( terschiedlichen Tugenden oder der heiligen Schrift dargestellt: von den Zelt( tüchern behauptet er z.B., dass sie so am Zelt hängen, wie die Menschen an ihrem Glauben26. Die Maße jedes Zelttuches sind: achtundzwanzig Ellen Länge und vier Ellen Breite. Origenes betrachtet achtundzwanzig als Multi( plikation von sieben und stellt fest: Sieben ist eine wichtige biblische Zahl, die unter anderem auch das Gesetz symbolisiert, während vier der Zahl der Evangelien entspricht. Das Faktum, dass es zehn Zelttücher gab, soll eine

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Vgl. ibid. Vgl. hom. in Ex. 9.3: Tentoria […] habeantur reliqua credentium plebs, quae haeret et pendet in funibus fidei.

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Anspielung auf die zehn Gebote sein27. Die Logik seiner Gedanken führt zu dem Schluss, dass er hier das Stiftszelt als Allegorie für die Heilige Schrift darstellen möchte, wobei es ihm wichtig ist, die theologische Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament zu zeigen. Die Symbolik der Zahlen war ihm sicher aus der alexandrinischen Tradition und insbesondere von Philo bekannt. Dies ermöglicht ihm, gegen die jüdischen Exegeten, die selbst häufig die Symbolik der Zahlen benutzten, zu polemisieren und zwar inner( halb ihrer eigenen Tradition und mit ihren eigenen Mitteln. Eine weitere Besonderheit der moralisch(allegorischen Interpretation ist die Symbolik der Materialien, welche für den Bau des Stiftszeltes benutzt wurden. Zu diesem Thema wird Origenes im Laufe der Exegese von Ex 35 noch einmal zurückkommen28. Dort wird besonders die Freiwilligkeit der Abgaben der Israeliten für den Bau des Stiftszeltes und ihre moralische Funktion betont. Die Tatsache, dass diese Abgaben in Form von Gold, Silber etc. erfolgen, bezeichnet nach Origenes nichts anderes als die menschlichen Tugenden, die mit Gold und Silber vergleichbar sind29. Die Symbolik des Goldes kommentiert er auch im Hoheliedkommentar, wo er das Gold der Lade und die Gaben als den Glauben der Kirche/Braut und der Propheten bezeichnet. In hochpolemischem Ton erklärt er, dass nicht nur das Gold, sondern jedes jüdische Ritual und die ganze Religiosität des Alten Testa( ments ein Abbild, ein Gleichnis des wahren Goldes, nämlich des christlichen Glaubens, sei30.

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Vgl. ibid.: Viginti autem et octo cubitorum quod in longum et in altum atrii unius mensura, puto quod inserta lex Evangeliis designetur. Septenarius numerus legem significare solet pro multis septimi numeri sacramentis. Qui cum sociatur ad quattuor, quarter septem consequenter viginti et octo numerum faciunt. Decem autem haec atria fiunt, ut integrum perfectionis numerum teneant et legis decalogum signent. hom. in Ex. 13.2. Ibid.: Illud quidem aurum et argentum ceteraeque materiae unde tabernaculum constructum est, constat de scriniis et promptuaris uniuscuiusque prolatum; spiritalis autem lex aurum requirit ad tabernaculum quod intra nos est, et argentum, quod intra nos est, et omnes reliquas materias illas deposcit, quas et intra nos habere possumus et proferre de nobis. Vgl. Cant. 2.8,18 20.

Interpretation des Stiftszeltes

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Historische Interpretation Diese stark allegorische Exegese führt zu einem logischen Problem, da sie die Bedeutung des Stiftszeltes in der alttestamentlichen Zeit in Frage stellt. Man könnte vom alttestamentlichen Volk kaum erwarten, im Schleier des Stiftszeltes die Präfiguration der Inkarnation Christi zu sehen. Das ist Orige( nes völlig klar. Deswegen greift er, wie auch an anderen Stellen, den uns schon bekannten Exkursus über die Inspiration der Propheten und der Pat( riarchen wieder auf, dank der sie die geistige Bedeutung der Vorschriften und des Gesetzes verstehen konnten. So hat z.B. König David den Tempel als Symbol der „göttlichen Präsenz unter den Menschen” verstanden. Nach der origenianischen Logik gehört hierzu auch, dass auch der Rest des Volkes im Stiftszelt die göttliche Präsenz und nicht ein Bauwerk unterschiedlicher Materialien sehen musste. Dieses materielle Stiftszelt konnte durch die Fein( de des Volkes erobert werden, während die Präsenz Gottes ewig ist und sein Volk immer begleitet31. Origenes stellt sich aber auch die Frage, welche Funktion das historische Stiftszelt ausgeübt hat. Außer einer symbolischen Bedeutung sieht er in seiner Existenz auch eine didaktische Funktion: das Stiftszelt war nötig, um das Volk an Religiosität und Opfer zu gewöhnen. Die Abgaben, die dem Volk befohlen wurden, hatten ebenfalls eine Erziehungsfunktion32. Der Bau des Stiftszeltes hat also, genauso wie andere alttestamentliche Kulte und Praktiken, eine didaktische Funktion für die Israeliten.

Mystische Interpretation ( Das Stiftszelt als Bild der Seele. Wir haben schon die Möglichkeit gehabt, vom Tempel als Ort der Präsenz Gottes zu sprechen. Ebenso wie in der christologischen Interpretation, in der Origenes den Körper Christi als lebendigen Tempel Gottes bezeichnet hatte, interpretiert er auch die Seele als einen lebendigen Tempel Gottes. Origenes kennt auch die rabbinische Auffassung vom Tempel als Krö( nung der Schöpfung. Er entwickelt sie ein bisschen anders, indem er be(

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Vgl. hom. in Ex. 9.2. hom. in Ex. 9.3: iubetur ergo universus populus, unusquisque pro viribus conferens, aficere tabernaculum, ut quodammodo omnes simul unum sint tabernaculum. Collatio vero ipsa non fit necessitate, sed sponte. Ait enim Deus ad Moysen, ut unusquisque ‘sicut visum fuerit cordi eius’ […] offerat.

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hauptet, der Tempel sei eine Art „Summe“ der ganzen Schöpfung. Das Hauptwerk des Hexamerons ist ohne Zweifel die Schöpfung des Menschen, der nach Gottes Abbild geschaffen wurde. In diesem Sinne zieht Origenes eine Parallele zwischen dem Tempel und dem Menschen, der als ein Mikro( kosmos gestaltet wurde33. Das führt zu dem Schluss, dass jeder Mensch in sich ein innerliches Stiftszelt der göttlichen Präsenz und des göttlichen Wil( lens errichten kann34. Wir haben damit bereits einige allegorische Interpretationen des Stifts( zeltes bei Origenes kennengelernt: das Stiftszelt als Bild des himmlischen Tempels und Gottesdienstes, als Bild der Inkarnation, als Synthese der gan( zen Schöpfung und der Rettung, als Bild der menschlichen Seele. Wenn wir jetzt die rabbinischen Interpretationen untersuchen, werden wir sehen, dass viele dieser Motive, wenn auch in unterschiedlicher Weise bei ihnen ebenso präsent sind. Insbesondere werden die Aspekte des Stifts( zeltes als Bild des himmlischen Tempels, der Seele und der Gemeinschaft der Gläubigen (in diesem Falle identisch mit dem israelitischen Volk) analy( siert.

Rabbinische Interpretation des Stiftszeltes/des Tempels Das Stiftszelt – Ort der Schekhina Die Rabbinen verstehen das Stiftszelt als den Ort der Präsenz Gottes, der Schekhina. Diese Verbindung ist, wie bekannt, auch etymologisch nach( weisbar35, da beide Worte, 13"5# und '5#) vom Verb '5# (wohnen) abgeleitet werden. Die Funktion des Stiftszeltes liegt also zuerst darin, „Wohnort Got( tes” zu sein. Die Rabbinen sind sich dessen bewusst, dass es absurd wäre, zu behaupten, dass ein kleiner, fester, materieller Ort die göttliche Präsenz umfasse, sie betonen aber, dass die Schekhina an diesem Ort auf besondere

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Vgl. hom. in Gen. 1.12. Vgl. hom. in Ex. 9.4: Potest unusquisque nostrum etiam in semetipso construere tabernaculum Deo. Si enim, ut quidam ante nos dixerunt, tabernaculum totius mundi tenet figuram, mundi autem habere etiam singuli quippe imaginem possunt, cur non et tabernaculi unusquisque in semetipso formam possit explere? Siehe z.B. Koester, 1989, 71.

Interpretation des Stiftszeltes

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Weise wirkt und verehrt wird und dass dies gemäß dem exklusiven Willen Gottes geschieht: Der Ruhm Gottes, gepriesen sei er, erfüllt Himmel und Erde und jetzt befiehlt er „Mach ein Zelt für mich!” Er sah voraus, dass Salo( mon einen Tempel, viel größer als das Zelt, bauen würde und zu Gott sagen würde: Wird Gott wirklich auf der Erde wohnen? Selbst die Himmel und die Erde können Dich nicht fassen; wie viel weni( ger das Haus, das ich für Dich gebaut habe (1Kön. 8:27) 36. Das Stiftszelt ( und später der Tempel ( verwahren die Zeugnisse des Bun( des zwischen dem Herrn und seinem Volk. In diesem Sinne erfüllen beide die gleiche Funktion. Bekanntermaßen betonte schon das Jubiläenbuch die Kontinuität der theologischen und liturgischen Funktion des Stiftszeltes und des Tempels37. Während die Rabbinen Bedenken über den Charakter des in Schiloh gebauten Heiligtums äußern, das sie „Haus aus Steinen“ nennen38, haben sie wohl keine Zweifel bezüglich der Funktion des Stiftszeltes in der Wüste, das als Prototyp des Tempels galt. Beide wurden nicht zufällig, son( dern nach dem Willen Gottes gebaut. Die Konstruktion des Stiftszeltes folgt einer ganz bestimmten Ordnung, die vom Allerheiligsten ausgeht. Die Rab( binen nehmen ihre Interpretation der Ordnung der Schöpfung wieder auf: was zuerst geschaffen wird, muss das Allerwichtigste sein. Gott befiehlt zuerst die Errichtung der goldenen Lade39, genauso wie er zuerst, vor der ganzen Schöpfung, die Tora vorhergesehen hatte. Das Stiftszelt wird so nicht nur als Ort der Immanenz Gottes betrachtet, sondern auch als Ort, wo die Tora, die von Gott vorgesehene Ordnung für seine Schöpfung, aufbewahrt wird.

36 37 38 39

Vgl. z.B. ExodRab XXXIV.1 oder ExodRab XXXV.1, wo der göttliche Befehl für die Errich tung des Stiftszeltes auf den Tempel und den Tempelkult bezogen wird. Vgl. Koester, 1989, 69. Vgl. ibid., 68. Vgl. Ex 25:10.

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Kapitel 13

Die theologische Verbindung Schöpfung – Tempel ( himmlischer Tempel nach den Rabbinen Im Kapitel über die Weltschöpfung haben wir schon erwähnt, dass die Rab( binen den Tempel als eine der Realitäten betrachten, deren Existenz Gott vor der Schöpfung der ganzen Welt vorgesehen hatte40. Die Schöpfung selbst wird als ein langer Prozess verstanden, der die „Schöpfung“ des Volkes Gottes und seiner Religiosität einschließt. Die Errichtung des Jerusalemer Tempels kennzeichnet die Vollendung der Schöpfung41. Das Stiftszelt ist der Prototyp des Tempels und hat die gleiche liturgische Funktion. Also be( ginnt, obwohl eigentlich der Jerusalemer Tempel als Krönung der Schöp( fung gedacht war, die Vollendung der Schöpfung mit der Errichtung des Stiftszeltes. Wir erkennen also bei den Rabbinen einen ersten Abschnitt der Heilsgeschichte, der mit oder besser vor der Schöpfung der Welt beginnend bis zum Bau des Tempels dauert. Der zweite Abschnitt der Heilsgeschichte folgt dann nach der Zerstö( rung des materiellen Tempels, was sozusagen als Angriff auf die Schöpfung verstanden wird, und endet in eschatologischer Zeit mit dem himmlischen Tempel und dem himmlischen Gottesdienst. Die Existenz des himmlischen Tempels ist ebenso, wie die Errichtung des materiellen Tempels, vor der Weltschöpfung vorgesehen worden42. Es lässt sich so bei den Rabbinen ein dreidimensionales Modell erkennen: Vorsehung des Tempels vor der Schöp( fung, Errichtung des materiellen Tempels als Krönung der materiellen Schöpfung, himmlischer Tempel als Endziel der ganzen Schöpfung. Diesem Modell folgt annähernd auch Origenes: in seiner christologischen Auffas( sung vom Tempel als der Inkarnation Christi würde er sagen, dass diese vor dem Anfang der Schöpfung vorgesehen war und dann mit der Geburt Jesu realisiert wurde. Nur der himmlische Tempel behält bei Origenes die gleiche Funktion, die er auch bei den Rabbinen hat, allerdings hauptsächlich ver( standen als geistiger Zustand des Geschöpfes. Die rabbinischen Auslegun(

40 41

42

Vgl. GenRab I.4. In der bereits im K 1. zitierten Stelle GenRab I.4 wird der Tempel als vorletzte der sechs Realitäten erwähnt, die Gott vor der Schöpfung der Welt geplant haben soll. Da die letzte der Name des Messias ist, können wir annehmen, dass der Tempel für die Rabbinen die letzte materiell realisierbare Realität und damit Vollendung der materiellen Schöpfung ist. Vgl. ibid.

Interpretation des Stiftszeltes

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gen des Charakters des himmlischen Tempels sind dagegen sehr unter( schiedlich: von den tendenziell „geistigen“ Auslegungen bis zu sehr mate( riellen Vorstellungen (wie etwa, dass er sich im Himmel über dem Berg Moria befinde) ist die ganze Skala der Gedankenrichtungen präsent. Aller( dings müssen die „materiellen Vorstellungen“ des himmlischen Tempels ziemlich verbreitet gewesen sein, da, wie L. Schiffman feststellt, solche Be( hauptungen sowohl in rabbinischen, als auch in Qumran(Texten zu finden sind. Es handelt sich oft um die Vorstellung, Gott würde einen neuen Tem( pel bauen, der vom Himmel herunterkommen und den zerstörten Jerusale( mer Tempel ersetzen wird43. Der Tempel, dessen Errichtung Gott vor der Schöpfung vorgesehen hat, findet also einen materiellen Ausdruck, genauso wie die Steintafeln, die Moses gegeben wurden, die Materialisierung der Idee der Tora symbolisieren. Es ist hier wichtig zu betonen, dass die Idee eines Wiederaufbaus des Tempels (sei es in historischer oder in messianischer Zeit) von den Rabbinen nie aufgegeben worden ist. Eine „theologische“ Aufhebung des Tempels wird nicht vorgenommen. Die Ursachen, die der Talmud für die Zerstörung des zweiten Tempels erwähnt, sind im Grunde die gleichen, die auch für die erste Zerstörung angenommen werden: Idolatrie, Unzucht, Blutvergießen44 und nicht zuletzt die Ungerechtigkeit der Feinde Israels. Dies alles führt logisch zur Entfernung der Schekhina. Die damit logisch verbundene Erwar( tung ist die Hoffnung auf die Wiederherstellung des Tempels dank Buße und entsprechendem Verhalten. Von einer inhaltlich neuen Deutung des Tempels kann wohl nicht die Rede sein.

Rabbinische allegorische Deutungen In Exodus Rabba sind auch eine Reihe allegorischer Auslegungen des Stifts( zeltes zu entdecken, welche in ihren Methoden der origenianischen Interpre( tation ähnlich sind. Wir haben schon erwähnt, dass die Rabbinen oft das Licht als Allegorie der Tora interpretieren. Dieser allegorischen Interpretation folgt die Inter(

43 44

Vgl. L.H. Schiffman, The Qumran Community’s Withdrawal from the Jerusalem Tempel, in Gemeinde ohne Tempel, 279. Schiffman zitiert dazu Yadin, Temple Scroll, 1. 181 7, 2. 129. Vgl. jYoma 38c, 55, nach der Übersetzung von F. Avemarie, Yoma Versöhnungstag, Tübingen 1995.

Kapitel 13

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pretation von Ex 27:20 (Beleuchtung des Stiftszeltes), wo wieder metapho( risch auf das Licht hingewiesen wird, mit dem Israel für die anderen Völker leuchten wird. Ein Gleichnis stellt Israel als einen Blinden dar, der durch einen Sehenden nach Hause geführt wird. Am Ende bittet der Sehende den Blinden, ihm eine Lampe anzuzünden und den Weg zu beleuchten (obwohl er selbst nichts sieht); der Sehende ist für die Rabbinen Gott, während der Blinde, der doch leuchten kann, Israel ist45. Danach werden der Glaube und die Bewahrung der Tora als Licht im Menschen interpretiert und der Mensch selbst erscheint wie ein kleines Stiftszelt. Origenes hatte bereits vom „inneren Stiftszelt” gesprochen und man könnte hier von einer z.T. analogen Vorstellung im Midrasch sprechen. Eine weitere Charakteristik der origenianischen Exegese war die Ver( bindung zwischen Schöpfung und Stiftszelt. Genau diese Auffassung wird auch in Genesis Rabba erkennbar, wenn behauptet wird, dass sechs Realitäten vor der Erschaffung der Welt vorgesehen wurden und als Zweckbestim( mung der ganzen Schöpfung dienten, dazu gehörten die Tora und das Stift( zelt46. In Exodus Rabba wird dieser Gedankengang weiterentwickelt: es wird behauptet, dass das Gold geschaffen wurde, damit die Lade des Stiftszeltes mit ihm beschichtet werden konnte47, wie auch die Zedern exklusiv für das Stiftszelt und den Tempel notwendig waren48. Was die Allegorie Stiftszelt/Gemeinschaft der Gläubigen betrifft, gibt es in den Midraschim hierauf keine direkten Hinweise. Es wird aber betont, dass die Beschäftigung aller Israeliten mit dem Bau des Stiftszelts die Betei( ligung des ganzen Volkes am Empfang und Praktizieren der Tora symboli( siert49. Was die Interpretation der preziösen Gaben betrifft, welche die Israeli( ten brachten, wird in den rabbinischen Texten eine Parallele zum Manna gezogen. Genau wie dieses immer am Morgen gegeben wurde, so müssen auch die Gaben für das Stiftszelt am Morgen gebracht werden50. Dazu

45 46 47 48 49 50

Vgl. ExodRab XXXVI.2. Vgl. GenRab I.4. ExodRab XXXV.1. ibid. Vgl. ExodRab XXXIV.3. Vgl. ExodRab XXIII.8.

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kommt auch die Behauptung, dass zusammen mit dem Manna auch unter( schiedliche preziöse Steine und Waren vom Himmel fielen, welche die Israe( liten später ins Stiftszelt brachten51. Also wird betont, dass die Errichtung des Stiftszeltes nicht nur von Gott gewollt und befohlen, sondern von ihm auch konkret initiiert worden sei.

Zusammenfassung Aus unserer Analyse ergibt sich, dass die Spiritualisierung des Tempelver( ständnisses ein Prozess ist, der schon in vorchristlicher Zeit aus unterschied( lichen (politischen, theologischen oder einfach praktischen) Gründen be( gonnen hat. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels beschleunigt diese Tendenz, indem sich auch konservative rabbinische Kreise gezwungen se( hen, den fehlenden Tempel und Kult in irgendeiner Weise geistig zu erset( zen. Was konkret die Tempelvorstellung betrifft, ist in der rabbinischen Literatur ein wachsendes Interesse für den himmlischen Tempel und Got( tesdienst festzustellen, wobei man kaum von einem rein geistigen Charakter dieses himmlischen Heiligtums bei den Rabbinen sprechen kann. Die litur( gische Funktion des Tempels wird zum Teil von der Synagoge übernom( men. Allerdings ist diese kein Ort der göttlichen Immanenz. Die Schekhina charakterisiert nach den Rabbinen nur das Stiftszelt und den Tempel. Diese Auffassung war Origenes nicht fremd. Er entwickelt sie in einem christolo( gischen Sinne weiter und behauptet, der wahre Ort der Immanenz Gottes sei der Körper Christi. So bewahrt er die materielle Vorstellung vom Tempel als Ort der Schekhina. Die Tatsache, dass er so gerne die Materialität Christi betont, kann nicht ohne polemischen Hintergrund gewesen sein. Was den Rabbinen am meisten fehlte, war tatsächlich gerade die materielle Kompo( nente des Tempels. Die zweite Besonderheit ist die fehlende Allegorie Kir( che/Tempel Gottes. Obwohl man erwarten könnte, dass Origenes von der Kirche als liturgischem Ort sprechen würde, zeigt er sich sehr vorsichtig bei solchen liturgischen Substitutionsvorstellungen. Auch weitere Details wie die Verbindung zwischen Schöpfung und Tempel (der Tempel als Krönung oder Summa der ganzen Schöpfung) weisen seine gute Kenntnis der jüdi( schen Exegese nach.

51

Vgl. Ibid.

Kapitel 14. Priestertum Einleitung Das Priestertum gehört zu den Themen, die für die jüdischen Exegeten nach der Zerstörung des Tempels sehr problematisch wurden. Der fehlende Tem( pelkult, der die Aufhebung des Priesterdienstes zu Folge hatte, stellte die jüdischen Exegeten vor zahlreiche theologische und liturgische Probleme und verlangte nach einer Ersatzform. Für Origenes ist das Thema des alttestamentlichen Priestertums nicht weniger interessant. Die historischen Ereignisse, die zur Zerstörung des Tempels und zur Auflösung des jüdischen Priesteramtes geführt hatten, gaben ein beinahe endloses Material für Polemiken über die Auflösung und die endgültige Ablehnung des alttestamentlichen Kultes. Das Thema Priestertum stellt allerdings insofern eine Besonderheit dar, als es die Möglichkeit bietet, eine Theologie der wahren Substitution zu entwickeln, indem das christliche Priesteramt als einzig legitimer Nachfolger des jüdischen alttestamentlichen Priestertums betrachtet wird. Diese Inter( pretationslinie, die keine Zäsur zwischen, sondern eine durchgängige Linie durch die beiden Testamente darstellt, ist, wie ich versuchen werde zu zei( gen, bei Origenes vielleicht zum ersten Mal so explizit ausgedrückt. Diese Auffassung entwickelt Origenes auf unterschiedlichen Ebenen: im Bezug auf die historische Begründung der Institution des Priestertums, in der mysti( schen Interpretation des ewigen Hohepriesters oder in seinem Verständnis vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen. Mein Vorhaben ist nicht, ein vollständiges Bild des Priestertums in der alten Kirche nach den Zeugnissen des Origenes zu entwerfen, wofür man sich eher an spezielle Monographien wie die von Hermanns1 oder Schäfer2 halten sollte, sondern seine Rezeption und Interpretation des alttestamentlichen Priesteramtes innerhalb seiner Pentateuchauslegung zu analysieren. Für die rabbinische Exegese ist die Tendenz zur Spiritualisierung des Priesteramtes und der Rolle des Priesters deutlich zu erkennen. In diesem Sinne sind in den Midraschim zwei Ebenen des Verständnisses vom Pries(

1 2

T. Hermanns, Origène, théologie sacrificielle du sacerdoce des chrétiens, Paris 1996. T. Schäfer, Das Priesterbild im Werk und Leben des Origenes, Frankfurt 1977.

Priestertum

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tertum (ewiger Hohepriester und allgemeines Priestertum) besonders be( tont.

Origenianische Interpretation des Priestertums Wenn wir einen Überblick über die bisherigen Studien des origenianischen Verständnisses des Priestertums werfen, stoßen wir auf das von Vilelà3 dar( gestellte Schema der unterschiedlichen Ebenen des Priestertums nach Ori( genes. Dieses Schema, von Hermanns aufgenommen und verbessert4, stellt das Priesteramt in seinen unterschiedlichen Dimensionen dar: als ewigen Kult des Sohnes gegenüber dem Vater, als „fleischlichen Kult” der Leviten im Alten Testament, dann als einen geistigen Kult im engeren und im breite( ren Sinne. Eine weitere Stufe widmen die Forscher dem himmlischen Kult der Heiligen. All diese Ebenen des Kult( und Priestertumsverständnisses entsprechen nach den Autoren bestimmten Stufen der Offenbarung (Schat( ten der Realität, Realität, perfektem Bild, Bild als Teilnahme am perfekten Bild und voller Teilnahme an der Realität). Diese etwas komplizierte Syn( these entspricht in bestimmten Maßen den unterschiedlichen und mehrstu( figen Auslegungen des Priestertums, die wir bei Origenes finden. Da mein Ziel hier ein Vergleich mit der rabbinischen Exegese ist, in der bestimmte Aspekte besonders wichtig, andere dagegen für eine Vergleichsuntersu( chung nicht besonders relevant sind, werde ich mich nicht immer am oben geschilderten Modell orientieren.

Alt( und neutestamentliches Priestertum nach Origenes Die Idee eines ununterbrochenen Priesteramtes, das mit Aaron beginnend, im christlichen Priestertum seine logische und einzig mögliche Fortsetzung findet, verteidigt Origenes aufgrund der Unveränderlichkeit der göttlichen Befehle. Ein Amt, dessen Existenz Gott befohlen hat, kann also nicht aufhö( ren. Durch die Behauptung, die großen Figuren des Alten Testaments wären sich des geistigen Sinnes des Gesetztes bewusst gewesen5, gelingt es Orige(

3 4 5

A. Vilelà, La condition collégiale des prêtres au IIIe siècle, in Théologie historique 14, Paris 1971, 61 63. Vgl. Hermans, 1996, XXXV. Die bereits zitierte Stelle aus Peri Pascha 1.15 20.

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Kapitel 14

nes, die geistige Dimension des Amtes als schon im Alten Testament primär zu erklären. Diese war allerdings nur für bestimmte Gerechte zugänglich. Der materielle Kult, den die alttestamentlichen Priester ausübten, war we( gen der Unreife und der Unvollkommenheit des Volkes notwendig, was aber seine geistige Wirkung nicht minderte. Die Situation ändert sich in der Vorstellung des Origenes mit der Ankunft Christi und mit der Einführung des christlichen Priestertums. Es scheint mir, dass etwas Größeres durch dieses Bild gezeigt wird; Hohepriester ist derjenige, der die Weisheit des Gesetzes und die Erzählung jedes Geheimnisses innehat und, um es kürzer auszudrü( cken, derjenige, der das Gesetz geistig und buchstäblich gekannt hat. Also wusste der Hohepriester, den Moses damals weihte, dass die Beschneidung geistig ist, aber bewahrte auch die Beschneidung im Fleische auf; er, der ohne die Beschneidung kein Hohepriester sein konnte. Er hatte also zwei Gewänder: eines [als Zeichen] des fleichschlichen Gottesdienstes und ein anderes [als Zeichen] des geistigen Verständnisses6. Die Tatsache, dass die Juden keine Erfüllung des Kultes und keine Fortset( zung des Priestertums akzeptieren, führt nach Origenes zu absurden theolo( gischen Konsequenzen. Sie müssen nicht nur annehmen, dass der Kult nicht ewig ist, sondern sich auch mit dem praktischen Problem der Erlösung von den Sünden beschäftigen. Aber ich möchte, dass mir diejenigen, welche dem Gesetz buchstäb( lich folgen wollen, erklären, wie das Gesetz dieses Opfers ewig sein könnte, besonders wenn der Opferkult nach der Zerstörung des Tempels, dem Umstürzen des Altars und der Profanation all dessen, was heilig genannt wurde, nicht verbleiben konnte. Wie nennen sie etwas ewig, von dem es klar ist, dass es längst aufgehört hat und be( reits beendet ist? Es bleibt übrig [die Möglichkeit], dass dieses Ge(

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hom. in Lev. 6.3: Amplius mihi aliquid ex ista forma videtur ostendi; pontifex est, qui scientiam legis tenet et uniuscuiusque mysterii intelligit rationes et, ut breviter explicem, qui legem et secundum spiritum, et secundum litteram novit. Sciebat ergo pontifex ille, quem tunc ordinabat Moyses, quia esset circumcisio spiritalis, servabat tamen et circumcisionem carnis, quia incircumcisus pontifex esse non poterat. Habebat ergo ille duas tunicas: unam ministerii carnalis et aliam intelligentiae spiritalis.

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setz ewig genannt wird bezüglich dieses Teils, den wir als „geistigen Gesetz“ bezeichnen, und wodurch geistige Opfer dargebracht wer( den können, die weder je unterbrochen werden noch aufhören kön( nen.7 Dass der Verlust des Tempelkultes und des Priestertums bestimmte theolo( gische Schwierigkeiten bereitet, vor allem bezüglich der Versöhnung, dessen war sich Origenes völlig bewusst. Für ihn ist dies eine Art Bestrafung des alttestamentlichen Volkes. Er warnt die Christen, damit sie nicht in Sünden leben und in die Situation der Juden kommen, welche keine Opfer mehr darbringen können, keine Priester und keinen Tempel mehr haben und damit keine Vergebung für ihre Vergehen erlangen können8. Von den drei Voraussetzungen für den Kult (Tempel, Opfer, Priester) finden für Origenes die ersten zwei (Tempel und Opfer) eine nur geistige und mystische Vollen( dung in der Zeit nach der Ankunft Christi, welche die „materielle“ Aus( übung völlig aufhebt. Das Priestertum hat dagegen eine konkrete historische Nachfolge im christlichen Priestertum gefunden. So stellt sich die Linie der Kontinuität des Priestertums dar: sie existiert nicht nur im Plan Gottes, sondern wurde schon immer von den Priestern erkannt. Origenes erkennt ein einziges Priestertum an, das von Aaron be( ginnend bis zum heutigen Tag existiert. Im Sinne dieser Kontinuität des amtlichen Priestertums ist die Figur Aarons Typos des perfekten Priesters (Christus)9. Wie Schäfer feststellt, versteht Origenes das alttestamentliche Ho( hepriesteramt als Typos Christi, des einzig wahren Hohepriesters, dessen Priesterfunktion (laut Origenes´ Worte( mit dem allgemeinen Priestertum

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hom. in Lev. 4.10: Sed isti, qui legem secundum litteram sequi volunt, velim mihi nunc dicerent, quomodo lex huius sacificii esse possit aeterna, cum utique distructo templo, subverso altari et omnibus, quae dicebantur sancta, profanatis ritus iste sacrificiorum non potuerit permanere. Quomodo ergo aeternum dicent, quod olim cessasse et finitum esse iam constat? Restat ut secundum eam partem lex haec aeterna dicatur, qua nos dicimus legem esse spiritalem et per eam spiritalia offerri posse sacrificia, quae neque irrumpi umquam neque cessare possunt. Vgl. hom. in Num. 10.2,1. Vgl. hom. in Num. 9.7,2: Omnes ergo principes tribuum habeant necesse est virgas suas, sed unus solus est, sicut Scriptura refert, Pontifex Aaron, cuius „virga germinavit“. Verum quoniam, ut saepe ostendimus, verus Pontifex Christus est, ipse solus est cuius virga crucis non solum germinavit, sed et floruit et omnes hos credentium populorum attulit fructus.

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Kapitel 14

aller Christen vergleichbar sei10. Allerdings möchte Origenes auch histori( sche Nachfolger der alttestamentlichen Hohepriester annehmen. Es ist ihm wichtig, dass trotz aller mystischen Interpretationen, das alttestamentliche Modell des Priestertums in der christlichen Hierarchie aufbewahrt bleibt. Als amtliche Nachfolger Aarons können so nur die Bischöfe verstanden werden11. Der Bischof wird „Pontifex“ genannt, mit dem gleichen Titel also, mit dem auch Aaron bezeichnet wird12. Auf die Rolle Christi als Ho( hepriesters werden wir bald zu sprechen kommen. Es ist uns zunächst wich( tig zu betonen, dass Origenes eine amtliche Kontinuität der Priesterfunktio( nen zwischen Altem und Neuem Testament annimmt.

Rituelle Weihe und Lebensweise der alttestamentlichen Priester Die bereits dargestellte These der Kontinuität des priesterlichen Amtes stellt die logische Frage nach der rituellen Einführung in dieses Amt und den Folgen, welche es für den Rest der Gemeinde mit sich bringt. Im Bezug auf Lev 7:25(28 beschreibt Origenes die Ölung Aarons und seiner Söhne als ein „sacramentum“13, welches dem Recht auf das Darbringen der Opfer ent( spricht. Ähnlich klingt die origenianische Interpretation auch in der neunten Homilie zum Buch Numeri14, wo wir in der rufinianischen Übersetzung den Ausdruck „sacramentum sacerdotale“ finden. Es ist offensichtlich, dass Origenes die Ölung als rituelle Weihe und als Voraussetzung für die Aus( übung des Kultes betrachtet. Zwischen dem alttestamentlichen Amt und den neutestamentlichen Priestern und Bischöfen findet Origenes auch weitere Analogien: genauso

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Vgl. Schäfer, 1977, 49. Vgl. Ibid. 67. Vgl. hom. in Jos. 26.3, darüber Schäfer, 1977, 79. hom. in Lev. 6.2: Cum proposuerit dicere legislator: „Haec unctio Aaron et unctio filiorum eius“ (Lev 7:25) non subiunxit, quae esset unctio, nec qualiter unxisset, exposuit, sed hoc quidem in sequentibus facit, nunc vero posteaquam dixit „Haec unctio Aaron et filiorum eius“ nihil de unctione subiunxit. Profecto ut ostenderet quia haec, quae supra dixerat, id est „pectusculum impositionis et bracchium separationis“, ipsa essent unctio Aaron et filio rum eius, ne putaremus illa pro carnibus dicta, sed ut doceret etiam sub sacramento uncti onis inserta. hom. in Num. 9.7,4: Sic tres puteos fodit Isaac patriarcha, quorum solus ille tertius ab eo „latitudo“ vel „amplitudo“ nominatur. Quia autem sacramentum sacerdotale est virga nu cis, idcirco arbitror etiam Hieremiam, qui erat „unus ex sacerdotibus ex Anathoth, vidisse virgam nuceam et prophetasse” (Jer 1:1.11.13).

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wie es im Alten Testament üblich war, dass die Priester keinen Landbesitz hatten und von der Hilfe der Gläubigen lebten, ist auch für die christlichen Gottesdiener besser, wenn sie sich nicht mit alltäglichen Sorgen beschäftigen müssen, sondern sich komplett Gott und der Gemeinde widmen können. Dazu meint Origenes, dass einige neutestamentliche Aussagen gezielt die alttestamentlichen Priesterregeln bestätigen und das nicht allegorisch, sondern wörtlich. Diese Regeln bewahren insoweit ihre Kraft und müssen daher mit aller Observanz eingehalten werden, dass auch der Apostel die glei( chen Regeln durch die Gesetze des Neuen Testaments bestätigt. In( dem auch er einige Lebensregeln für die Priester und die Hohepries( ter (principibus sacerdotum) aufstellt und sagt, dass sie „sich nicht an viel Wein gewöhnen, sondern nüchtern sein müssen“15. Später legt Origenes als Voraussetzung für das Nüchternsein auch die Be( freiung von schlechten Gedanken und Emotionen fest16. Diesen Regeln wer( den auch didaktische Funktionen zugeschrieben: Gott hat das (Weintrinken) nicht absurderweise verboten, sondern weil er die Schwäche der Israeliten kannte: jedesmal wenn sie etwas anfingen, betrieben sie es bis zur Maßlosigkeit17. Genau wie die alttestamentlichen Priester durch Nüchternheit sich besser an Gott erinnern konnten, müssen auch die christlichen Bischöfe ihren Geist

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Vgl. hom. in Lev. 7.1: Quae mandata in tantum vim sui servant et omni obseravantia custodienda sunt, ut et Apostolus haec eadem Novi Testamenti legibus firmet. In quo similiter etiam ipse sacerdotibus vel principibus sacerdotum vitae regulas ponens dicit eos “non debere esse vino multo” servientes, sed “sobrios esse“ (Tit 1: 7.8). Vgl. hom. in Lev. 7.1: Iam vero si discutiamus, quot modis mens inebriatur humana, inveniemus ebrios etiam eos, qui sibi sobrii videntur. Iracundia inebriat animam, furor vero eam plus quam ebriam facit, si quid tamen esse ebrietate amplius potest. Cupiditas et avaritia non solum ebrium, sed et rabidum hominem reddunt. Et obscenae concupiscentiae inebriant animam, sicut e contrario et sanctae concupiscentiae inebriant eam, sed ebrietate sancta illa. sel. in Lev. PG 12, Col.400 D: tI& B4 C+.-.# ;_ $-6D.%>,>/ +.?+., $::’ j+/ ¯;>/ +L $0%6+_4 +Z# “2%65:/+Z#, j+/ Y-1+6# ^X./#+., >74 $3>+%E6# "&1%.H#.

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Kapitel 14

durch Nüchternheit und Abstinenz nicht nur vom Wein, sondern von allen irdischen Angelegenheiten, frei für Gott halten18.

Liturgische Charakteristiken des Priesteramtes Wir haben eben von der theologischen und historischen Kontinuität des Priestertums nach Origenes gesprochen. Die historische Dimension erlaubt uns auch die Auffassung der Kontinuität einiger Charakteristiken und Funk( tionen des Priesteramts im Alten und Neuen Testament bei Origenes festzu( stellen. Genauso wie im Alten Testament ist auch im Neuen Testament der Priester derjenige, der Versöhnung für das Volk bewirkt und Opfer am Altar darbringt. Origenes ist sich dessen bewusst wie Versöhnung im alttesta( mentlichen Kult geschieht, wie es aus der zehnten Homilie zum Buch Nu( meri deutlich wird. Es wird gezeigt, dass derjenige, der am Altar steht, die priesterliche Aufgabe erfüllt: Aufgabe des Priesters ist es, für die Sünden des Volkes zu beten [...] Und deswegen befürchte ich auch, dass uns, wenn unsere Sünde sozusagen in uns bleiben, das Gleiche geschieht wie den Juden, die aufgrund des fehlenden Altars, Tempels und Priestertums und weil sie deswegen keine Opfer mehr darbringen, selbst sagen „unsere Sünde bleiben bei uns und es folgt keine Ver( gebung für uns“19. Der zweite interessante Aspekt ist die Frage nach der Erlösung im Juden( tum nach dem Jahre 70. Origenes gibt die angeblichen Geständnisse zeitge( nössischer Juden wieder, welche behaupteten, eine Vergebung der Sünden sei aufgrund der Tempelzerstörung und der Unterbrechung des Opferkultes unmöglich. Die Aussage des Origenes ist umso interessanter, da uns keine

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Vgl. ibid.: ˆ>U D9% +.G4 i-_% +.? :6.? >I&.3A#.H4 "-/201-.H4 $-.2+%AW>286/ $-L 3A854, .I 31#.# $-L .‚#.H, $::9 06= +J4 +Z# -%6D3M+T#, 06= ;/6:.D/23Z# $#8%T-E#T#. hom. in Num. 10.2,1: qui autem „adstit altari“, ostenditur fungi sacerdotis officio; sacerdotis autem officium est pro populi supplicare peccatis [...] Et ideo vereor ne permanentibus in nobis peccatis nostris, accidat nobis illud quod de semetipsis dicunt Iudaei, quia non habentes altare neque templum neque sacerdotium et ob hoc nec hostias offerentes, peccata, inquiunt, nostra manent in nobis et ideo venia nulla subsequitur.

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derartige Aussage aus dem rabbinischen Milieu bekannt ist. Was wir aus den sparsamen Worten der Rabbinen nur vermuten können, drückt Orige( nes hier ganz deutlich aus. Er stellt offen das geistige Problem der Erlösung und gleichzeitig implizit die Polemik gegen die Rechtfertigung des jüdi( schen Kultes dar. Eine ähnliche Verbindung zwischen priesterlichem Amt und Vergebung der Sünden ergibt sich auch aus dem folgenden Text: Das Gesetz sagt: „der Priester, der das Opfer dargebracht hat, wird es an einem heiligen Ort essen, im Vorhof des Bundeszeltes“ (Lev 6:26). Konsequent ist deswegen, dass die Diener und die Priester der Kirche nach dem Vorbild dessen, der der Kirche das Priestertum gab, „die Sünden des Volkes“ annehmen und ihrem Lehrer nach( ahmen, indem sie dem Volk die Vergebung der Sünden gewähren. Die Priester des Volkes selbst müssen so vollkommen und in den priesterlichen Diensten [Riten] belehrt sein, dass sie [die Opferungen für] die Sünden des Volkes an einem heiligen Ort, im Vorhof des Bundeszeltes zu sich nehmen, ohne selbst zu sündigen20. Als Heiliger Ort, wo das Gesetz Moses im richtigen Sinne ankommt, wird die Kirche angenommen. Die Verbindung zwischen materiellem alttesta( mentlichem Kult und christlicher Praxis ergibt sich von selbst. Nun wird als Alternative des alttestamentlichen Opferkultes, den die Priester zur Verge( bung der Sünden praktizierten, der christliche Gottesdienst, genauer der Wortgottesdienst angenommen. Wir haben schon früher, etwas bezüglich der Interpretation des Paschafestes, feststellen können, dass Origenes ten( denziell alle Opferhinweise auf das Wort Gottes und dessen richtiges Ver( ständnis bezieht. Auch in diesem Falle stellt er als notwendigen Ritus die Lesung und Interpretation der heiligen Schrift dar21. Zu den Aufgaben des

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Hom. in Lev. 5.3: Dicit ergo lex „sacerdos qui obtulerit, edet illud in loco sancto, in atrio tabernaculi testimonii“ (Lev 6:26). Consequens enim est, ut secundum imaginem eius, qui sacerdotium Ecclesiae dedit, etiam ministri et sacerdotes Ecclesiae „peccata populi“ accipiant et ipsi imitantes magistrum remissionem peccatorum populo tribuant. Debent et ipsi Ecclesiae sacerdotes ita perfecti esse et in officiis sacerdotalibus eruditi, ut „peccata populi in loco sancto, in atriis tabernaculi testimonii“ ipsi non peccando consumant. Ibid.: In hoc itaque loco positus sacerdos Ecclesiae „populi peccata“ consumat, ut hostiam iugulans verbi Dei et doctrinae sanctae (1Tim 1:10) victimas offerens purget a peccatis conscientias auditorum. Edet ergo sacerdos carnes sacrificii „in atrio tabernaculi

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Priesters gehört außerdem wie im Alten Testament die Bekehrung der Gläu( bigen durch Tadeln22. Dass das Priesteramt von Gott gewollt und nach bestimmten Bedingun( gen als Amt eingeführt wurde, ist für Origenes selbstverständlich und wird nicht in Frage gestellt. In diesem Falle denkt Origenes, im Unterschied zu anderen alttestamentlichen Fragen, nicht, dass das Priestertum nur geistig gemeint sei. Die Auffassung eines geistigen Priestertums ist ihm durchaus bekannt, allerdings nicht als Ersatz des tatsächlichen Amtes, sondern als eine parallele Form. In den bis jetzt erwähnten Beispielen lässt sich eine Kontinuitätsvorstel( lung rekonstruieren, die das christliche Priestertum in unterschiedlichen Aspekten als legitimen Nachfolger des alttestamentlichen Priesteramts dar( stellt. Es gibt aber auch einige weitere Aspekte der origenianischen Auffas( sung vom Priestertum, die unsere Beachtung verdienen. Auch die priesterlichen Gewänder sind ein Thema allegorischer Ausle( gung bei Origenes. Die Tatsache, dass das Gewand aus Leinen genäht wer( den muss, symbolisiert nach Origenes die Inkarnation Christi. Genauso wie das Leinen aus der Erde hervorgebracht wird, stammt auch der Körper des Menschen aus der Erde. Christus hat diesen Körper „angezogen“, wobei hier die platonische Terminologie nicht zu übersehen ist23. Die Notwendig( keit eines Leibrocks symbolisiert die Abstinenz, welche die Priester prakti( zieren müssen24. Origenes betont, wie wichtig es ist, sich als Priester an alle Lebensregeln zu halten. Obwohl er zugeben muss, dass nur Christus durchschauen kann, wer tatsächlich sein Dienst würdig ausübt, empfiehlt er die Praktizierung

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testimonii“, cum intelligere potuerit, quae sit ratio in his, quaeve mysteria, quae describuntur de atriis tabernaculi testimonii. Ad haec enim atria secreta et recondita nullus accedit, nulli haec nisi sacerdotibus pateant, si scientia sua et intellectu mysico potuerint eorum secreta penetrare. hom. in Lev. 5.4: Si assumpseris peccatorem et monendo, hortando, docendo, instruendo adduxeris eum ad paenitentiam, ab errore correxeris, a vitiis emendaveris et effeceris eum talem, ut ei converso propitius fiat Deus, pro delicto repropitiasse diceris. hom. in Lev. 9.2: Linum de terra oritur, tunica vero sanctificata induitur verus pontifex Christus, cum naturam terreni corporis sumit; de corpore enim dicitur quia terra sit et in terram ibit. Ibid.

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auch der „äußerlichen“ unter den Priesterregeln25. Origenes ist aber fern von jeder Idealisierung des Priestertums. Er sagt auch ganz deutlich: [Die göttliche Weisheit] hat als Priester nicht diejenige bestimmt, die auf keinen Fall sündigen können – sonst wären sie keine Menschen ( sondern solche [Männer], die denjenigen nachahmen müssen, der keine Sünde beging (1Pet 2:22)26. Die Ansichten des Origenes über alt( und neutestamentliches Priestertum sind sehr konsequent historisch und theologisch begründet und zeigen eine sehr lebendige und objektive Schätzung der Rolle des Priesteramtes. Dabei werden unterschiedliche liturgische und praktische Aspekte des Priester( tums in dem Bemühen diskutiert, das christliche Amt als legitimen und vollen Nachfolger des alttestamentlichen Priestertums darzustellen.

Das Priestertum im geistigen Sinne und das allgemeine Priestertum Unter geistigem Priestertum verstehe ich nicht, wie Hermanns und Vilelà nur „le sacerdoce du Corps du Christ“ oder „le culte spirituel en sens large“, den die beiden im Gegensatz zum Priestertum der Leviten und dem „culte charnel“ verstehen. Mit „geistigem Priestertum“ bezeichne ich die geistige Komponente des Priesterdienstes im Alten und im Neuen Testament. Wie wir schon festgestellt haben, nimmt Origenes an, dass Aaron und seine Nachfolger sich des geistigen Sinnes ihres Amtes bewusst waren, d.h. eine bestimmte Allegorisierung oder, vielleicht besser gesagt, Spiritualisierung des Amtes findet noch in alttestamentlicher Zeit statt. Das Verständnis, dass der materielle Kult nur Schatten des eigenen, geistigen Kultes sei und dass die materiellen Opfer nur Bild der inneren Opfer sein müssen, führt zu dem Schluss, dass jeder Mensch in seiner Seele solche geistigen Opfer bringen kann. Das wäre die von uns im Kapitel über den Opferkult so genannte moralische Allegorie der Opfer unter der Form von Tugenden und Schrift( lehre. Derjenige, der sie ausübt, gehört zum geistigen Priestertum. So kommt

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hom. in Num. 10.3,1 über Num 18:2 3: Tu et filii tui tecum in conspectu Tabernaculi Testimonii observate custodias vestras et altaris Tabernaculi. Mandata quidem certa sunt et evidentia, ut observare debeamus custodias Tabernaculi et altaris sacerdotii. hom. in Lev. 2.3: Sacerdotes statuit (sapientia divina) non eos, qui omni modo peccare non possent alioquin non essent homines sed eos, qui imitari quidem debeant illum, qui peccatum non fecit (1Pet 2:22).

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Origenes schnell zur Idee des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen. Für ihn ist dieses Priestertum dem Menschen von Anfang an gegeben. Wie die Rabbinen, sieht er auch seinen Anfang bei Adam, der es dann weiter seinen Nachfolgern übergab. Die Auswahl der Erstgeborenen für den Opferdienst ist auch eine Fortsetzung des allgemeinen Priestertums. Die Zäsur kommt, wie auch die Rabbinen bemerken, mit der Auswahl der Leviten, die zuerst die Verdienste dem Naturrecht vorziehen. Der Priester ist in Dir und seine Söhne, der Verstand und seine Sin( ne, sind in Dir, welche richtig „Priester“ oder „Söhne des Priesters“ genannt werden, da sie die einzigen sind, welche Gott verstehen und fähig für die Kenntnis Gottes sind [...] Es gibt auch andere, die sein Fleisch als Brandopfer darbringen, aber nicht durch Priester( dienst. Da sie nicht nach dem Gesetz opfern, das in den Worten des Priesters ist, und sie körperlich rein, im Geiste aber unrein sind... Die körperliche Abstinenz allein kann nämlich nicht zum Altar des Herrn kommen (reichen), wenn ein Mangel an anderen Tugenden und priesterlichen Diensten besteht27. Die hier zitierte Stelle stellt die zwei Komponente des geistigen Kultes bzw. des geistigen Priestertums dar: auf einer Seite die intellektuelle Kenntnis der Weisheit Gottes, auf der anderen Seite die Tugende und zwar geistig, nicht nur körperlich gelebt. Auch dieses geistige Priestertum der Gläubige ist Nachfolger der alttestamentlichen Priester. Während Origenes von der Ölung Aarons spricht, sagt er zu seinen Zuhörern: Hört mit aufmerksamen Ohren und einem wachen Herzen die (Be( schreibung der) Einweihung des Hohepriesters und des Priesters, da

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hom. in Lev. 1.5: Sacerdos in te est et filii eius mens in te est et sensus eius, qui merito sacerdos vel „filii sacerdotis“ appellantur; soli enim sunt qui intelligant Deum et capaces sint scientiae Dei... sunt enim et alii, qui offerunt quidem holocaustum carnem suam, sed non per ministerium sacerdotis. Non enim scienter nec secundum legem quae in ore sacerdotis est, offerunt, sed sunt casti corpore, animo autem inveniuntur incesti... quoniam sola carnis continentia ad altare dominicum non potest pervenire, si reliquis virtutibus et sacerdotalibus ministeriis deseratur.

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auch ihr nach den Versprechen Gottes Priester des Herrn seid „denn ihr seid ein heiliges Volk und ein Priestertum“28. So versteht Origenes Aaron als Typos des Priesters überhaupt. Unabhängig davon, ob er von den amtlichen Priestern, vom geistigen Priestertum der Gläubigen oder vom Hohepriester spricht, ist das Vorbild immer wieder Aaron. Das allgemeine Priestertum ist zwar ein innerliches Amt jedes Chris( ten, das aber auch bestimmte rituelle Voraussetzungen kennt, darunter die Ölung: Alle, die mit dem Öl (der Salbe) der heiligen Ölung gesalbt sind, sind Priester geworden, wie Petrus es der ganzen Kirche sagt: ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft.29 Das innerliche Priestertum stellt sich genauso wie der innerliche Gottes( dienst nicht als eine Ersetzung des institutionellen Amtes oder Gottesdiens( tes, sondern als sein Zusatz dar. Wie dieser innerliche Kult funktioniert, erklärt Origenes im folgenden Text: Moralisch kann als Hohepriester dieses Gefühl für Pietät und Frömmigkeit verstanden werden, das in uns durch die Gebete und das Flehen, das wir vor Gott ausströmen lassen, wie ein Priesteramt wirkt30. Bei Origenes handelt sich um keine Substitution des materiellen Kultes, sondern um zwei parallele Arten von Kult, die sich in keiner Weise gegen( seitig ausschließen. Dies ist auch der große Unterschied zur rabbinischen Auffassung vom innerlichen (allgemeinen) Priestertum der Gläubigen. Die( ses ist für die Rabbinen nur eine vorübergehende moralische Substitution des fehlenden Amtes, wie es ebenso im Falle des Opferkultes ist. Origenes

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hom. in Lev. 6.2: Intentis auribus et vigilanti corde consecrationem pontificis vel sacerdotis audite, quia et vos secundum promissa Dei sacerdotes Domini estis: „Gens enim sancta et sacerdotium estis“(1Pet 2:9). hom. in Lev. 9.9: Omnes enim, quicumque unguento sacri chrismatis delibuti sunt, sacerdotes effecti sunt, sicut et Petrus ad omnem dicit Ecclesiam: „Vos autem genus electum, regale sacerdotale, gens sancta“(1Pet 2:9). hom. in Lev. 2.4: In morali autem loco potest pontifex iste sensus pietatis et religionis videri, qui in nobis per orationes et obsecrationes, quas Deo fundimus, velut quodam sacerdotio fungitur.

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sieht im christlichen Priesteramt (institutionell und geistig) keine Substituti( on, sondern eine Fortsetzung des Amtes.

Der Hohepriester bei Origenes Wir haben jetzt ausführlich über die Kontinuität des amtlichen Priestertums und das geistige Priestertum gesprochen. Wir möchten jetzt die Frage nach dem Hohepriester etwas näher betrachten. Die Kontinuität zwischen alttes( tamentlichen Hohepriestern und christlichen Bischöfen, die wir vorher ge( zeigt haben, stellt die historische Ebene der origenianischen Interpretation dar. Das Priestermodell hat aber, wie wir schon festgestellt haben, auch eine vertikale Dimension, die sich auf den himmlischen Gottesdienst konzent( riert. Wir haben auch schon angedeutet, dass Origenes, ähnlich wie der Au( tor des Hebräerbriefs (Heb 5:6), Christus als den eschatologischen Hohe( priester versteht. In dieser Funktion hat er einen konkreten alttestamentli( chen Typos: Melchisedek. So beobachten wir zwei unterschiedliche typolo( gische Modelle des Hohepriesters bei Origenes: das Eine betrifft das amtli( che Priestertum und sieht die alttestamentlichen Hohepriester als Typoi der christlichen Bischöfe, während das Zweitere sich auf die Typologie Melchi( sedek / Christus konzentriert. Im Schema von Vilelà(Hermanns ist das Hohepriestertum Christi die höchste Stufe des himmlischen Kultes, weil es die Beziehungen innerhalb der Dreifaltigkeit charakterisiert „culte éternel rendu du Fils au Père“. Beide differenzieren noch einmal zwischen ewigem Priestertum und ewigem Got( tesdienst auf der einen Seite und dem Dienst des inkarnierten Christus auf der anderen Seite. Es ist wahr, dass Origenes in Christus und in seiner Opfe( rung am Kreuz ein perfektes liturgisches Opfer sieht, aber dies versteht er als materiellen Ausdruck der ewigen Opferung, die der Sohn am eschatolo( gischen Gottesdienst an sich vollzieht. In diesem Sinne ist der Dienst Christi auf Erden ein Teil seines ewigen Priestertums und keine weitere, davon unterschiedene Funktion. Diese „historische“, materielle Erfüllung des Hohepriesteramtes durch die Inkarnation Christi ist für Origenes ein deutliches Zeichen dafür, dass das Amt jetzt den Christen gehört. Die Gnade des Heiligen Geistes ging an die Völker und die Festlich( keiten an uns über, da auch der Hohepriester zu uns überging und zwar nicht der fiktive, sondern „der wahre, ausgewählt nach der Ordnung Melchisedeks“(Heb 5:6); es ist aber notwendig, dass er

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wahre Opfer, d.h. geistige Opfer bei uns darbringt, wo „der Tempel Gottes aus lebendigen Steinen gebaut wird“(1Pet 2:5), d.h. die Kir( che des lebendigen Gottes ist (1Tim. 3:15) und wo das wahre Israel ist.31 Wir haben schon gesehen, dass Origenes die alttestamentlichen Hohepries( ter eher als Typoi der christlichen Bischöfe versteht. Ein besonderer alttes( tamentlicher Typos Christi ist für ihn die Figur Melchisedeks. Vielleicht bewusst im Unterschied zur rabbinischen Exegese, die Abraham und den Erzengel Michael an Stelle des Melchisedek als Bild des ewigen Ho( hepriesters tolerierte, greift Origenes im folgenden Text die jüdischen Exege( ten mit der Behauptung an, sie hätten in der Figur Melchisedeks nicht den Typos Christi gesehen. Da aber er [Melchisedek] den Schatten und das Bild dieser [Realitä( ten] erfüllte, trug er nur als Schatten und im Vorbild den Namen „großen Priester“. Deswegen werden auch die Juden, da sie dem Glauben am nächsten stehen sollten, weil ein Schatten und Bild der Wahrheit bei ihnen aufleuchtete, die eigene Wahrheit als Lüge ab( lehnen werden, solange sie den Typos für Wahrheit halten.32 Christus wird so als perfekter Hohepriester im Himmel, aber auch auf Erden betrachtet. In der neunten Homilie zu Numeri stellt Origenes das Opfer Christi als liturgisches Opfer für die Erlösung der Sünden dar33.

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hom. in Jos. 26.3, zitiert nach der Edition, Origène, Homélies sur Josué, texte latin, introduction, traduction et notes de A. Jaubert, SC 71, Paris 1960: Translata est enim ad gentes gratia Spiritus sancti, translatae sunt solemnitates ad nos, quia transiit ad nos et pontifex non immaginarius, sed verus „secundum ordinem Melchisedec“ (Heb 5:6) electus; sed necesse est eum veras hostias, id est spirirtales, offerre apud nos, ubi „aedificatur templum Dei ex lapidibus vivis“ (1Pet 2:5), quae est „ecclesia Dei viventis“ (1Tim 3:15) et ubi est verus Istrahel. hom. in Lev. 12.1: Sed quia horum umbram implebat et imaginem (Melchisedech), idcirco etiam magni sacerdotis nomen per umbram gerebat et imaginem. Unde et Iudaei per hoc, quod ad fidem proximi esse debuissent, quia apud ipsos adumbratio quaedam et imago praeluxerat veritatis, dum typos veritatem putant, veritatem ipsam tamquam mendacium respuerunt. hom. in Num. 9.5,2 über Num 17:11: Si intellexisti historiae ordinem et oculis, ut ita dicam, cernere potuisti „stantem Ponteficem medium inter vivos et mortuos, adscende nunc ad verbi huius celsiora fastigia et vide quomodo verus Pontifex Iesus Christus „assumpto batillo“ carnis humanae „et superpositio igni altaris“, anima sine dubio illa magnifica cum

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Kapitel 14

Allegorie der Ehe des Hohepriesters Auf der Basis der Typologie Hohepriester/Christus interpretiert Origenes die Vorschriften bezüglich seiner Person in einem allegorisch(mystischen Sinne. So wird z.B. seine Ehe als die mystische Trauung zwischen Christus und der Kirche interpretiert. Hier muss man gleich betonen, dass eine solche Allegorie nicht ohne po( lemische Aspekte bleibt. Genau in Bezug auf die Interpretation der Bücher Levitikus und Numeri, weisen die jüdischen Gelehrten oft auf das Bild der Braut aus dem Hohelied, die das auserwählte Volk darstellt. Gott bereitet seine Braut (das Volk) durch die unterschiedlichen Regeln und Vorschriften für seine mystische Ehe vor. Obwohl diese Interpretation nicht direkt mit einer Allegorie aus dem Hohelied verbunden ist, kann man den Grundge( danken deutlich erkennen. So ist die origenianische Allegorie der Braut des Hohepriesters als Bild der Kirche, die sich für die mystische Trauung mit dem Logos bereitet, gezielt und analogisch aufgebaut. Das Neue seiner mystischen Interpretation finden wir in der zweiten dargestellten Variante: die menschliche Seele als Braut des Hohepriesters (Christi) und, um jede mögliche Täuschung und Verwirrung gnostischer Prägung zu vermeiden, weist Origenes gleich auf die Inkarnation Christi und seine menschliche Seele hin, die vom gleichen Typ und gleicher Sub( stanz, wie alle menschlichen Seelen war. Also „wird der Priester eine Frau von seinem Volk (von seiner Art) nehmen“. Es könnte scheinen, dass es deswegen „von seinem Volk“ gesagt ist, weil die Seele Christi von der Art und Substanz aller menschlichen Seelen war. 34 Die Seele als Braut Gottes muss makellos und ohne Sünde sein, genauso wie die Braut des Hohepriesters perfekt sein sollte35. Hier müssen wir bemerken,

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qua natus est in carne, adiecto etiam et incenso qui est spiritus immaculatus, medius inter vivos et mortuos stetit et mortem non fecit ultra grassari, sed sicut Apostolus dicit, destruxit eum qui habebat mortis imperium, id est diabolum (Heb 2:14). hom. in Lev. 12.5: Hic ergo „sacerdos magnus uxorem virginem accipiet de genere suo“ (Lev 21:13). Potest et propter hoc dictum videri „de genere suo“, quod anima Christi ex genere et ex substantia fuerit humanarum omnium animarum. hom. in Lev. 12.6: „Viduam autem eiectam et contaminatam non accipiet“ (Lev 21:14) [...] unde etiam hoc ostenditur quod sint differentiae peccatorum et qui peccaverit „peccatum ad mortem“, abiectus est.

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dass diese Allegorie bei Philo gar nicht vorkommt. Obwohl die Allegorie Israel/Braut Gottes für das jüdische Denken traditionell ist, schlägt Philo keine ähnlichen Interpretationen bezüglich der Ehe des Hohepriesters vor. Philo betont immer wieder die Wichtigkeit der nicht nur körperlichen, son( dern auch geistigen Jungfräulichkeit der Frau, die der Hohepriester zur Verlobte nimmt36 und bleibt dabei beim wörtlichen Sinn des biblischen Tex( tes. Origenes weist gleich darauf hin, dass die Juden diese Interpretation mit der Begründung ablehnten, dass im Hebräischen der entsprechende Aus( druck „ex genere suo“ (aus seiner Familie) nicht zu lesen ist. Der polemische Ton lässt vermuten, dass der erwähnte Widerspruch seitens der Rabbinen drauf zielte, mögliche allegorische Interpretationen des biblischen Verses abzulehnen. Genau nach dem gleichen Gebrauch wie [Jesus] die in ihn Glauben( den seine Brüder nennt, könnte auch von der Seele gesagt werden, dass sie, die mit ihm [Christus] im Glauben wie in einer Ehe ver( bunden wird, „von seinem Volk“ sei. Aber ich möchte nicht ver( schweigen, dass die Juden bestreiten in ihrer Schrift die Worte „von seinem Volk / Art“ zu haben, welche wir bei den siebzig Überset( zern finden. Und sie haben das zu Recht nicht in [ihrer Schrift] ge( schrieben. Denn die Nähe Gottes ihnen weggenommen ist, wegge( nommen ist ihnen die Adoption als Kinder [Gottes] und ist der Kir( che Christi gegeben worden. Bei ihnen steht nicht geschrieben, dass sie von der Art Christi seien, da sie es auch nicht verdient haben37. Für Origenes ist also gerade der Mangel dieses Textes ein Indiz dafür, dass die hebräische Schrift nicht für die allegorische Auslegung inspiriert ist. Ähnlich der Konzeption eines didaktischen Planes Gottes bezüglich der Offenbarung, können wir hier Origenes so verstehen als sei die spätere grie( chische Übersetzung der Schrift inspirierter und besser für das allegorische

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Vgl. Spec 1.103 107. hom. in Lev. 12.5: Potest et secundum hoc, quod fratres vocat credentes in se, „de genere suo“ dici anima, quae ei in fide tamquam nuptiis sociatur. Illud tamen nolo nos lateat, quod Hebraei negant se scriptum habere, quod nos apud septuaginta interpretes invenimus „de genere suo“. Et recte illi non habent scriptum. Ablata est enim ab iis propinquitas Dei, ablata est adoptio filiorum et translata est ad ecclesiam Christi. Illi ergo non habent scriptum quia „de genere“ Christi sint, sicut nec esse meruerunt.

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Verständnis (das er als das einzig wahre betrachtet) geeignet als der ur( sprüngliche hebräische Text. Weitere Regeln für den Hohepriester. Allegorische Deutung Einige weitere Regeln in Lev 21 betreffen auch die Kleidung und das Verhal( ten des Hohepriesters. So wird ihm z.B. befohlen, den Turban nie von seinen Haaren abzunehmen38. Dieses verbindet Origenes mit der völligen Hingabe des Priesters, der sich in jedem Moment seiner priesterlichen Pflichten be( wusst sein muss39. Ähnlich geht Origenes die Frage nach der Kleidung an, die der Hohepriester nicht zerreißen darf. Dieses ist in der origenianischen Interpretation eine Andeutung der befohlenen Keuschheit40. Eine weitere interessante Frage stellen die besonderen Reinheitsregeln für den Hohepriester bezüglich der Berührung von toten Körpern. Wie schon im Falle der rituellen Reinheiten, allegorisiert Origenes fast selbstver( ständlich den Tod als Sünde und die toten Körper als Metapher der Sün( der41. Der Hohepriester soll von der Sünde fernbleiben. Für die einfachen Priester gilt diese Reinheitsregel im Falle des Todes eines nächsten Ver( wandten nicht. Vom Hohepriester wird dagegen gesagt, dass er sich auch am Leichnam seines Vaters oder Mutter verunreinigen kann42. Hier genügt die allgemeine origenianische Allegorie Tod/Sünde nicht, um den wörtli( chen Sinn der Schrift von vornherein abzulehnen. Die Frage, die sich auto( matisch stellt, ist, wie es überhaupt möglich sein soll, sich an den eigenen Eltern zu verunreinigen. Nach einem Aufruf an seine Zuhörer, um das rich( tige Verständnis der Stelle zu bitten, interpretiert Origenes die Aussage des biblischen Textes als Anspielung auf die Materie. Da aber der Vater auch ein Typos Gottes ist und die Mutter allegorisch mit der himmlischen Jerusalem

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42

Lev 21:10. hom. in Lev. 12.3: „Non” inquit „auferet de capite suo cidarim” (Lev 21:10). Iam et prius diximus cidarim unum esse operimenti, quod capiti superpositum pontifici praestat ornatum. Hic ergo magnus pontifex meus numquam deponit sacri capitis ornatum. Ibid. Vgl. ibid.: „Et ad omnem animam defunctam non intrabit” (Lev 21:10). Quae est anima defuncta? Quae est mortua; propheta dicit „Anima, quae peccat, ipsa morietur” (Ezek 18,4). Vgl. Lev 21:11.

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verbunden werden könnte, folgert Origenes, dass die Stelle sich gegen jeden Verstoß gegen das Gesetz richtet43. Wir sehen also, dass die origenianische Interpretation des Priestertums einige Besonderheiten darstellt. Bemerkenswert ist z.B. seine Auffassung von der historischen Rolle des alttestamentlichen Priestertums und vom christlichen priesterlichen Amt als dessen legitime Nachfolger. Selbst in Hinsicht auf das Hohepriesteramt ist Origenes darum besorgt, einen christli( chen Nachfolger darzustellen, den er im Bischofsamt findet. Natürlich spielt auch die christologische Interpretation des Hohepriesters eine wichtige Rolle in seiner Exegese. Was die Spiritualisierung des Kultes und des Priestertums betrifft, sieht Origenes sie auf der Ebene des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen. Ganz anders setzt die rabbinische Exegese ihre Akzente.

Rabbinische Interpretation des Priestertums Wenn wir von der Auffassung des Priestertums bei den Rabbinen sprechen, sollten wir gleich sagen, dass wir es eher mit einem „argumentum e silentio“ als mit einer Exegese zu tun haben. Es ist auffällig, wie wenig die Rabbinen über das Priestertum und insbesondere von seiner Rolle nach der Zerstö( rung des Tempels sagen. Man kann historisch leicht begründen, dass dieses Thema nicht mehr aktuell bzw. jede Diskussion darüber unwichtig war. Das ist allerdings eine „lectio facilior“, die, obwohl plausibel, nicht ganz über( zeugend ist. Wir sind schon auf andere Themen, wie Opfer oder Tempel, gestoßen, die nach 70 n.Chr. ebenso an Bedeutung verloren haben und trotzdem in den Midraschim diskutiert werden. Wir können uns fragen, ob die Stille der Rabbinen in Bezug auf das Priestertum nicht von der christli( chen Vorstellung provoziert sei, nach der das christliche Priestertum als legitimer Nachfolger des alttestamentlichen Priesteramtes galt. In den ande( ren Fällen (Opferkult, Tempel) betrieb die christliche Exegese nur eine geis( tige oder allegorische Fortsetzung dieser Kultusbegriffe. Nie handelte es sich um eine derart direkte Übernahme und historische Rechtfertigung, wie im Falle des Priestertums. Dagegen zu argumentieren war schwierig, es blieb die stille Ablehnung. Es wird oft empfohlen, keine Schlüsse aus der Stille zu

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Vgl. hom. in Lev. 12.3.

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ziehen. Ich würde es mir aber in diesem Fall erlauben, weil ich es für die einzig mögliche Interpretation halte.

Die Vollkommenheit des Hohepriesters Die Auslegung der historischen Ämter der Priester und der Hohepriester ist im Midrasch insofern vertreten, als das Priestertum genauso wie andere Kategorien in der Erinnerung der Gläubigen aufbewahrt werden soll. Es lässt sich dabei eine Tendenz zur Idealisierung des Hohepriesters vermer( ken, was wahrscheinlich dazu führen sollte, die Hoffnung auf die Wieder( herstellung seines Amtes lebendig zu halten. Warum lautet sein Name „Hohepriester“? Sein Name ist „groß“ [er ist groß] in fünf Sachen [Aspekten]: in Weisheit, in Kraft, in Schön( heit, in Wohlleben und in Alter44. Uns wird fast eine Kalokagathie des jüdischen Hohepriesters dargestellt, dem hier keine transzendentalen, sondern rein menschliche Charakteristiken zugeschrieben werden. Es scheint uns, dass diese Auffassung eher säkular geprägt ist und wahrscheinlich aus einem hellenisierten Milieu stammte. Es ist aber nicht auszuschließen, dass dies auch eine Möglichkeit war, von der christlichen Vorstellung des Bischofs als Nachfolger des Hohepriesters ab( zuweichen. Ein solches kalokagathisches Ideal würde man für einen christli( chen Bischof kaum benutzen.

Gott als eschatologischer Priester nach den Rabbinen Das rabbinische Verständnis vom Priestertum tendiert, wie wir schon be( merkt haben, zu einer zunehmenden Spiritualisierung, die nach dem Ende des Tempel( und Priesterkultes fast unvermeidlich ist45. Eine der Charakte( ristiken dieser Spiritualisierung sind die immer häufigeren Hinweise auf Gott als perfekten eschatologischen Priester. In Levitikus Rabba lesen wir:

44

LevRab XXVI.9:

45

./"3#&( %#0& "(3& ,.5& ,1)5.& :/"%&+ 1#).& -(+* $(1# -(+* '15 ()# $%43 1)Vgl. Hermanns, 1996, 233.

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In dieser Welt untersucht der Priester auf Lepra, aber in der zukünf( tigen Welt – sagt der Heilige, gepriesen sei er – werde ich Dich rei( nigen46. Wenn der Text Gott als Prüfer der Reinheit von Lepra darstellt, ist es logisch zu vermuten, dass die Rabbinen hier eine geistige Dimension der Krankheit annehmen. Rein geistig muss auch der Dienst Gottes sein. Es handelt sich um eine Auslegung, die gleichzeitig eschatologisch (Gott als Priester in der zukünftigen Welt) und moralisch (geistige Dimension der Krankheit und der Heilung) ist.

Das allgemeine Priestertum der Gläubigen Die zweite Charakteristik der Spiritualisierung des Priesterverständnisses bei den Rabbinen ist die Betonung des allgemeinen Priestertums aller Gläu( bigen. Wenn wir jetzt wieder ein Beispiel aus der Abraham ( Geschichte nehmen (Abraham wird schließlich als Prototyp des Priesters angenom( men), werden wir sehen, dass auch dort das allgemeine Priestertum ein Thema ist. Nach einer aggadischen Überlieferung fragt Abraham verzweifelt wie ein Opfer ohne die Präsenz eines Priesters geschehen kann. Darauf wird ihm geantwortet „Ich habe Dich schon zum Priester bestellt‘. Im Folgenden wird auch über den Ort des Opfers diskutiert und festgestellt, dass er nicht nur dem Ort des himmlischen Tempels, sondern auch dem des Jüngsten Ge( richts entsprechen wird47. Durch die Antwort an Abraham wird das Pries( teramt der Gläubigen bestätigt und dieses wird auch für den eschatologi( schen Gottesdienst angenommen.

Die Auswahl der Leviten und das allgemeine Priestertum Eine besondere Rolle spielt in der rabbinischen Auslegung die Kategorie der Leviten: ihre Auswahl wird in vierlei Weisen gerechtfertigt. Die Leviten seien erstens besonders fromm und mit besonderen Verdiensten ausge( zeichnet. Sie hatten als einziger Stamm die Beschneidung während des

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LevRab XV.9: 8(%& #(+41 %)$ $&1 /-(0- -&$ ,/"0*31 !$ 1$(% '151 1;1 /-(0&# ",./5!$ %17) "3$ :$(1

47

GenRab LV.4 8.

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Kapitel 14

Ägyptenaufenthalts praktiziert und dann, beim Auszug aus Ägypten nicht dem Goldenen Kalb geopfert48. Als Folge ihrer Frömmigkeit wurden ihnen die Privilegien und die Dienste der Erstgeborenen gegeben49. In diesem Sinne werden sie als Beispiel des Priestertums aller Gläubigen dargestellt. Es wird sogar behauptet, dass dieses Priestertum schon Adam gegeben worden sei und später an Seth und Methusalem übergegangen sei50. Wir erinnern uns, dass die Rabbinen in anderen Fällen, etwa bei der Interpretation Noahs, sehr vorsichtig mit solchen Definitionen umgingen und das Priestertum ausschließlich rituell verstanden haben. Wenn aber bei Noah ihr Interesse sehr polemisch gegen die wachsende christologische Typologisierung der biblischen Gestalt gerichtet war, ist ihr Ausgangspunkt hier ein ganz ande( rer. Hier haben sie mit einer christlichen Exegese zu tun, welche die Erb( schaft des institutionalisierten alttestamentlichen Priestertums für sich bean( spruchte und Aaron als ihren Vorgänger annahm. Die Auffassung vom allgemeinen Priestertum der Leviten, das sie als Erbschaft vom ersten Men( schen, Adam, bekamen, war eine Möglichkeit, das allgemeine Priestertum des Volkes nicht nur zu verteidigen, sondern es auch als sehr alt darzustel( len. Es handelt sich also, m.E. um eine indirekte Polemik gegen die christli( che Exegese.

Rabbinische Polemik gegen das christliche Priestertum Es bleibt die Frage, ob die Rabbinen tatsächlich nur still oder indirekt auf die Behauptung, das Priesteramt wäre von den christlichen Priestern ererbt worden, geantwortet haben. Eine Polemik gegen das christliche Priestertum, das sich als Nachfolger des alttestamentlichen verstand, ist in der rabbini( schen Literatur durchaus belegt51. Die christlichen Priester werden oft als „Ausländer“ bezeichnet. Unter „Aus( länder“ sind wohl die Christen und ihr Priestertum zu fassen. Diese Be( zeichnung wird in der rabbinischen Literatur oft als verächtliche Bezeich( nung der Christen benutzt52. Der Text kann aber auch als Antwort auf die Auffassung von der priesterlichen Funktion Christi verstanden werden.

48 49 50 51 52

NumRab III.5. NumRab III.12; NumRab IV.8. Vgl. Ibid, auch NumRab VI.2. Vgl. D. Stökl Ben Ezra, The Impact of Yom Kippur on Early Christianity, 2003, 287. Vgl. ibid.

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Jesus war zwar Jude und kein Ausländer, aber doch nicht levitischer Ab( stammung, was ihn für das Priestertum untauglich machte. In diesem Sinne war er auch ein „Fremder“ für das Priesteramt. Dies zusammen mit einigen anderen (sehr metaphorischen) Aussagen ist eines der sehr wenigen Zeugnisse einer rabbinischen Verteidigung gegen die christlichen Ansprüche auf die Erbschaft von Kult und Priestertum. Man kann hieraus schließen, dass solche Aussagen eher seltener waren, während das Problem durchaus bekannt war. Offensichtlich aufgrund der Schwierig( keit, eine plausible Erklärung der historischen Situation zu finden, haben es die Rabbinen soweit wie möglich vermieden, vom Priestertum und seiner Fortsetzung im Christentum zu sprechen. Es ist sicher, dass Origenes in dieser Diskussion eine wichtige Rolle gespielt hat. Als erster christlicher Exeget des Levitikus, der außerdem in einer Stadt mit großer jüdischer Ge( meinde lebte, hat er die polemischen Elemente in seiner Interpretation des alttestamentlichen Priestertums bewusst herausgestellt.

Zusammenfassung Nach der Analyse der origenianischen und rabbinischen Auffassung des Priestertums mit den unterschiedlichen Aspekten des Amtes, können wir schließen, dass diese einige Analogien, aber auch mehrere polemische Züge enthält. Die Polemik spielt sich in diesem Falle (anders als sonst bei der Pen( tateuchexegese) nicht auf der Ebene der Auseinandersetzung historische/ geistige Rolle des Priestertums ab. Das Priestertum ist eine Institution, deren historische Existenz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels zu Ende ging und deren Fehlen eine große Lücke im jüdischen kultischen System verursachte. Gegenüber einer solchen Institution zeigt sich Origenes uner( wartet sensibel für ihre historische Rolle und Wirkung. Er erkennt alle As( pekte des alttestamentlichen Amtes an, vor allem was das Darbringen von Sühneopfern betrifft. Dies führt Origenes zunächst zur Polemik über den Sinn der jüdischen Religion, die praktisch ihrer wichtigsten Kultelemente beraubt ist. Der gleiche Gedankengang veranlasst Origenes zur Suche nach einer eventuellen historischen Fortsetzung der verschwundenen Institution. Diese findet er im christlichen Priestertum, das Origenes sich aus liturgi( scher, historischer und theologischer Sicht als einzigen und legitimen Nach( folger des alttestamentlichen Priestertums darzustellen bemüht. All das macht die Lage der jüdischen Exegeten nicht leichter. Sie erwei( sen sich besonders vorsichtig, wenn sie die historische Situation und die

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Aufhebung des Tempelkultes und damit des Priestertums angehen müssen. Vor den konkreten Problemen wie der Erlösung und dem mit ihr verbunde( nen priesterlichen Dienst drücken sie sich, indem sie vorsichtig vom geisti( gen Kult im Herzen und vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen spre( chen. In ihrer Auffassung vom geistigen Priestertum gehen sie genauso weit, wie in der Frage des Opferkultes, indem sie diesen geistigen Kult als wenn auch zeitlichen Ersatz für den tatsächlichen Kult und das Priestertum ver( stehen. Origenes spricht natürlich auch vom allgemeinen Priestertum der Gläubige, kennt allerdings bestimmte Bedingungen dafür (Taufe, Firmung, orthodoxer Glauben). Dieses geistige Priestertum sieht Origenes aber nicht als Ersatz der Institution, sondern als Zusatz zu ihr. Dass ihm sehr wichtig war, die christliche Priester als Nachfolger der alttestamentlichen darzustel( len, wird aus der Exegese des Hohepriesters sehr deutlich. Auf den Spuren des Hebräerbriefes bezeichnet auch er Christus als den einzig wahren Ho( hepriester. Dann aber sucht er doch in der christlichen Hierarchie mögliche Kandidaten für die alttestamentliche Erbschaft, die er in den Bischöfen fin( det. Im Rahmen seiner Exegese spielt sich zugleich eine feine und konse( quente Polemik gegen die jüdischen Gelehrten ab. Es scheint, dass das The( ma wichtig für die Zuhörer des Origenes war. Offensichtlich waren sie ver( traut genug mit der jüdischen Auffassung vom Priestertum, so dass sie keine Schwierigkeiten hatten, wenn der Prediger das christliche Priesteramt nicht von Petrus, sondern von Aaron her beginnen ließ.

Kapitel 15. Interpretation des Opferkultes Einleitung Die Untersuchung des Verständnisses und der Interpretation des Opferkul( tes bei christlichen und jüdischen Exegeten ist ein grundlegendes Thema. Mein Ziel ist es, in diesem Kapitel zu beweisen, dass, obwohl Origenes und die Rabbinen ein je unterschiedliches Verständnis des Opferkultes hatten und sie von unterschiedlichen theologischen und historischen Vorausset( zungen ausgingen, sie in ihrer Auslegung zu ähnlichen Ergebnisse kamen. Abschließend werde ich versuchen die Frage zu beantworten, worauf sich die origenianische Polemik gegen die jüdischen Gelehrten in der vierten Levitikushomilie bezieht und warum Origenes diese im dritten Jahrhundert nicht mehr aktuelle Problematik vor seinen Zuhörern so ausführlich disku( tiert. Origenes ist der erste christliche Exeget, der sich ausführlich mit der Kommentierung des Buches Levitikus befasst hat. Den Heterodoxen Chris( ten, wie den Gnostikern und Markioniten, gab gerade das Buch Levitikus viele Argumente für ihre Ablehnung des Alten Testaments, wie Origenes selbst berichtet1. Der Opferkult (insbesondere die Tieropfer) war ein beson( ders schwieriges Thema, dessen Akzeptanz auch innerhalb des Judentums nicht unbestritten war. So musste Origenes einerseits als Christ, der der paulinischen Tradition treu blieb und nach der Ankunft Christi und in des( sen Tod die komplette Erfüllung des Opferkultes erblickte, eine allegorische Auslegung vertreten2. Auf der anderen Seite, angesichts der Angriffe von Gnostikern und Markioniten, musste er die historische Bedeutung des alttes( tamentlichen Opferkultes verteidigen und rechtfertigen. Hier sollte man noch etwas betonen: es gibt keine früheren „Modelle“ dieser doppelten Aus( legung im alexandrinischen Milieu. Philo z.B. setzt ganz andere Akzente in seiner Opferexegese. Er setzt sich mit der heidnischen Kultur auseinander, die selbst eine Kultur der Opfer ist. Philos Zweck war es zu beweisen, dass

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Vgl. sel. in Lev. PG XII, Col. 397B: žL# ->%= 8H2/Z# :1D.# .c 3< Ž%8Z4 "#.%Z#+>4 06+6W%.#.?2/# ] B4 >I+>:.?4 #.3.8>2E64, 06= 35;_# C@/.# +.? ˆ53/.H%D.? "&.,254, ] 6I+.? +.? ˆ53/.H%D.? B4 >I+>:J #.3.8>+.?#+.4 $2>gZ4 06+6X5WEF.#+6/. Vgl. H. Wenschkewitz, Die Spiritualisierung der Kultusbegriffe. Tempel, Priester und Opfer im Neuen Testament, in Angelos, Leipzig 1932, 67 76.

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Kapitel 15

der jüdische Opferkult inspiriert und dem heidnischen überlegen sei. Wenn er von der Symbolik der geopferten Tiere oder anderer Details des Kultes spricht, hat er immer das Ziel vor Augen, den materiellen jüdischen Opfer( kult als perfekt und naturgemäß darzustellen3. Die allegorische Interpretati( on Philos, die Origenes ohne Zweifel kannte4, schlägt weder eine Erfüllung, noch eine Substitution der materiellen durch moralische Opfer vor. Die Rechtfertigung des Opferkultes als solchem war ursprünglich eine innerjü( dische Problematik. Die Ablehnung des Tieropfers, aus dem semitischen Raum allgemein bekannt, wurde von einigen Propheten5 vertreten und im( mer wieder von jüdischen Gruppen (z.B. Essener) aufgenommen. Die Rab( binen dagegen verteidigten die Opfer als absolut notwendige Sühnemitteln. Diese Sühnefunktion charakterisiert jedes Opfer in der Zeit des zweiten Tempels6. Desto schwieriger wurde für die jüdischen Gelehrten die Situation nach der Tempelzerstörung, als die Ausübung des Opferkultes unmöglich geworden war7. Die Opfer wurden zu einem äußerst problematischen The( ma, dessen zeitgemäße Erklärung eine große Herausforderung für die Exe( geten darstellte8. Den jüdischen Exegeten blieben zwei Möglichkeiten: die lebendige Bewahrung der religiösen Praxis durch Nacherzählungen des biblischen Textes, oder eine immer weitergehende Spiritualisierung des Opferkultes, bei der die bereits unmöglich gewordenen materiellen Opfe( rungen im Tempel durch Fasten, Gebete, Reue und insgesamt tugendhaftes Verhalten ersetzt wurden. Bei der ersten Möglichkeit verbleiben die Mischna

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Vgl. Philo, spec 194 ff.; vgl. auch De sacrificiis Abelis et Caini 112. Vgl. J. Laporte, Sacrifice in Origen in the Light of Philonic Models, in C. Kannengiesser / W. Petersen (Hg.), Origen of Alexandria, his World and His Legacy, Notre Dame University Press 1988, 250 276. Vgl. Amos 5:25, Jer 7:22, Isa 1:17, dazu auch H. Schoeps, Theologie des Judenchristentums, Tübingen 1949, 220. Vgl. F. Young, The Use of Sacrificial Ideas in Greek Christian Writers from the New Testament to John Chrysostom, Philadelphia 1979, 39 40. Unmittelbar nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels wurde auch der Tempel von Leontopolis geschlossen. Die andere Opferstätte auf der Insel Elephantine, wurde nie wirk lich ganz akzeptiert und wahrscheinlich schon lange nicht mehr in Gebrauch. Vgl. O. Schmitz, Die Opferanschauung des späteren Judentums und die Opferaussagen des Neuen Testaments, Tübingen 1910, 109 111.

Interpretation des Opferkultes

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und der Talmud9. Eine „geistige“ Auslegung des fehlenden Opferkultes finden wir in Levitikus (Wayikra) Rabba. Es wird oft behauptet, dass die Op( ferproblematik in diesem Werk komplett abwesend ist10 ( eine Meinung, die ich nicht teilen kann. Diese Problematik ist in Levitikus Rabba durchaus an( wesend, allerdings nicht sehr systematisch dargestellt. Der Opferexegese widmet Origenes mehrere Seiten seiner Homilien zu Levitikus. Dabei gilt, wie er selbst sagt11, die exegetische Methode des drei( fachen Schriftsinns (historisch, moralisch und mystisch), genauso wie es drei Arten gibt, die Opfer vorzubereiten. Diese Interpretationsebenen entdecken wir auch in der rabbinischen Auslegung und ich möchte durch einige Bei( spiele die Analogien aufzeigen. Bei der Untersuchung des origenianischen und rabbinischen Materials über den Opferkult wäre es meiner Meinung nach falsch, die unterschiedli( chen Opfer nach Arten (Lamm(, Kalb(, Vogel(, Weihrauchopfer etc.) oder Funktionen (Sühneopfer, Dankopfer, Reinigungsopfer) einzuteilen. Origenes selbst folgt in der Regel dem biblischen Text und seinen „Opferkategorien”, interpretiert sie aber exklusiv allegorisch. Deswegen ist es einfacher die Interpretationen in anderer Weise zu systematisieren, als sie nach dem bibli( schen Text, auf den sie sich beziehen, zu ordnen. Die logische Ordnung entspricht den drei Ebenen der origenianischen Interpretation (mystisch, moralisch und historisch), der in diesem Fall auch die rabbinische Ausle( gung gefolgt ist. Da die mystische Auslegung sehr eng mit dem soteriologi( schen Charakter des Opfers Isaaks bzw. Christi verbunden ist, welches Thema des gleichnamigen Kapitels in dieser Arbeit ist, werde ich mich hier

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10 11

Hauptsächlich in den Traktaten Zebahim, Menanot und Terumot. Besonders detailliert wird der Opferkult behandelt z.B. in Terumot, Qiddushim 1.8 oder oder auch in Zebahim 2.10, wo es explizit um die Strafe geht, die bei Opfern ausserhalb des Tempels droht (K. 2). Vgl. z.B. R.L. Wilken, Origen’s Homilies on Leviticus and Vayikra Rabbah, in Origeniana VI, 88. Vgl. hom. in Lev. 5.5: Tria itaque sunt haec, in quibus dicit sacrificia debere praeparari, in „clibano, in sartagine, in craticula“, et puto quod clibanus secundum sui formam pro fundiora et ea, quae sunt inenarrabilia, significet in Scripturis divinis; sartago vero ea, quae si frequenter ac saepe versentur, intelligi et explicari possunt; craticula autem ea, quae palam sunt et absque aliqua obtectione cernuntur. Triplicem namque in scripturis divinis intelligentiae inveniri saepe diximus modum: historicum, moralem, mysticum; unde et corpus inesse ei et animam ac spiritum intelleximus. Cuius intelligenitiae triplicem formam sacrificiorum triplex hic apparatus ostendit.

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Kapitel 15

auf die verbleibenden zwei Ebenen (moralische und historische Interpretati( on) des Opferkultes konzentrieren.

Das Opfer als Erlösungsmittel Wir hatten schon einmal, im Bezug auf die Beschneidung und das Opfer Isaaks, von der Erlösungskraft des Blutes gesprochen. Das Blut wird traditi( onell als das Element betrachtet, das die Lebenskraft oder die Seele des Op( fers trägt. Das Opfertier sühnt so mit seinem Blut (seinem Leben) für die Seele des Opfernden. Philo12 und die Rabbinen beschreiben diesen Mecha( nismus der Sühne: „und sein Opfer wird wohlgefällig aufgenommen sein zu sühnen“. Welches ist dieses Sühnende? Dies ist das Blut. Denn es heißt „Denn das Blut, es sühnt die Seele“(Lev 17:11)13. Das ist auch der Grund warum der blutige, d.h. materielle Charakter der Opfer als absolute Notwendigkeit für die gewünschte Erlösung angenom( men wird. Wir haben schon angedeutet, dass Origenes auf der Spur Pauli an der definitiven Erfüllung des Opferkultes durch das Selbstopfer Christi festhält. Origenes ist mit der jüdischen Auffassung über die Erlösungskraft des Opferblutes wohl vertraut14. Deswegen ist es ihm besonders wichtig, dass das Opfer Christi nicht allein symbolisch, sondern tatsächlich, „mate( riell“ geschieht15. Das theologische Konzept der Versöhnung und Erlösung durch das Blutvergießen des Opfers wird also keineswegs abgelehnt. Der Unterschied besteht nur darin, dass dieses Opfer bzw. die von ihm gewirkte Erlösung definitiv und endgültig ist. Die Aussage, dass „jedes Opfer Bild

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Vgl. somn 2.21, ff. Sifra, Halachischer Midrasch zu Levitikus, übersetzt von Prof. Dr. Jakob Winter, Breslau 1938. Über die Sühnekraft des Blutes 28. Vgl. Comm. in Rom. 2.13,27: Verum donec Iesu sanguis daretur qui tam pretiosus fuit ut solus pro omnium redemptione sufficeret, necessarium fuit eos, qui instituebantur in lege unumquemque pro se velut ad imitationem quandam futurae redemptionis sanguinem suum dare. Der Text bezieht sich auf den Opfercharakter der Beschneidung, ist aber sym ptomatisch für die origenianische Auffassung des Opferkultes und seiner Erfüllung durch Christus. Vgl. Jo. 10.16,95 99.

Interpretation des Opferkultes

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Christi sei16“ bezieht sich damit nicht einfach auf das Opfer Christi als sol( ches, sondern auf seine Wirkung. Der Opferkult wird also nicht aufgehoben, sondern erfüllt. „Erfüllung“ ist auch das Stichwort, das die origenianische Opfer(Auslegung begleitet. Die moralische Deutung ist in diesem Sinne für ihn kein inhaltliches Substitut der Opfer in ihrer Erlösungs( und Versöh( nungswirkung. Die moralische Praxis ist mehr oder weniger als ein Teil des didaktischen Plan Gottes für sein Volk zu verstehen. Genauso wie die alttes( tamentlichen Opfer für Origenes einen Erziehungscharakter hatten, wird auch die moralische Praxis in der Form innerlicher Disziplin und Bekehrung als didaktisches Mittel verstanden. Ganz anders ist dagegen die Logik der Rabbinen. Ihr Ausgangspunkt ist ebenfalls, dass die Opfer (und zwar die materiellen Opfer) eine absolute Voraussetzung für die Versöhnung und Erlösung sind. Von einer Aufhe( bung des Kultes kann also nicht die Rede sein. Genauso wenig können die Rabbinen aber auch eine Erfüllung des Kultes im Sinne einer endgültigen Erlösung und Versöhnung annehmen. Sie befinden sich also in einer beson( ders delikaten Situation, die auch viele praktische Schwierigkeiten bereitet (vor allem was Buße und Versöhnung betrifft) und welche sie zwingt, mehr oder weniger nach einer inhaltlichen Substitution des Kultes zu suchen. Die moralische Deutung der Opferpraktiken hat so die Funktion eines Substitu( tes. Diese moralische Deutung ist formal der origenianischen allegorisch( moralischen Auffassung der Opfer sehr ähnlich, doch zeigen sich inhaltlich wesentliche Unterschiede. Wir werden im Folgenden einige Beispiele auf( führen, die es erlauben, die formale Analogie zwischen der rabbinischen und der origenianischen Auslegung festzustellen. Am Ende unserer Analyse werden wir uns dann noch mal mit den inhaltlichen Unterschieden des Op( ferverständnisses bei Origenes und den Rabbinen befassen und die damit verbundene Polemik zu erläutern versuchen.

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Vgl. hom. in Lev. 3.5: Multum erit hostiarum diversitates et sacrificiorum ritus ac varietates exsequi et longe alterius operis quam eiusverbi, quod in communi auditorio vulgus excipi at. Verum ut aliqua in transcursu perstringere videamur, omnis quidem paene hostia, quae offertur, habet aliquid formae et imaginis Christi. Siehe auch hom. in Lev. 3.8: Iam superius diximus quod omnis hostiarificioru typum ferat et imaginem Christi.

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Allegorisch moralische Interpretation Origenes Die moralische Deutung des Opferkultes konzentriert sich auf die geistige Bereitschaft des Gläubigen, den Glauben zu empfangen, sich bestimmter (auch geistiger) Vergnügen zu enthalten oder einfach frei von Sünde zu sein. Origenes legt eine Reihe von Allegorien der Opferungen dar, die auf die Glaubenswahrheiten und unterschiedliche Tugenden anspielen: Das Holz auf dem Brandopferaltar interpretiert er als Symbol des Glaubens17, das Brandopfer dient als Bild der Reue18 und die für das Opfer notwendige Koh( le als Bild für die Worte der Schrift19, die zur Reue führen. Weitere Allego( rien sehen in der Absicht zu opfern ein Zeichen für die Intensität des Glau( bens20, der Bekehrung und der unterschiedlichen Tugenden21. Der Prozess der Rettung schließt nicht nur die göttliche Initiative in Form der Inkarnati( on und der Kreuzigung Christi, sondern auch die menschliche Aktivität, in Gestalt von Glaube und Bekehrung ein. Die Opferung von Innereien des Tieres soll nach Origenes das menschliche Gewissen symbolisieren22. Einen besonderen Platz in der allegorischen Exegese des Origenes hat die Auffassung vom innerlichen Gottesdienst der Seele, bei dem bestimmte innerliche Gaben oder Opfer dargebracht werden können. Der Mensch kann auch ein eigenes innerliches Brandopfer durch Glauben, Martyrium, Barm(

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Vgl. hom. in Lev. 4.6. Vgl. hom. in Lev. 5.3 über Lev 6:25. Vgl. hom. in Lev. 9.9. Vgl. hom. in Lev. 3.8. Vgl. hom. in Lev. 5.2: Verum istas omnes hostias tu, qui in occulto iudaeus es, nolo in animalibus requiras visibilibus nec in mutis pecoribus invenire putes, sed offeri debeat Deo. Istas hostias intra te ipsum require et invenies eas intra animam tuam. Intellige te habere intra temet ipsum greges boum […] intellige te habere et greges ovium et greges caprarum, in quibus benedicti et multiplicati sunt patriarchae. Vgl. auch hom. in Lev. 4.8: Atria tabernaculi testimonii sunt, quae fidei murus ambit, spei columnae suspendunt, cari tatis amplitudo dilatat. Ubi haec non sunt, carnes sanctae nec haberi possunt, nec comedi. Hier wird es deutlich, dass das geistige Verständnis der Opfer typisch für den „occulto Iu daeus“ ist, d.h. man kann schließen, dass der „manifesto Iudaeus“ die materiellen Opfer verteidigt. Vgl. hom. in Lev. 5.4.

Interpretation des Opferkultes

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herzigkeit oder Mortifikation des Fleisches darbringen23. In diesem Kontext wird das Herz24 als „Ofenplatte”25 für die Vorbereitung des Opferfleisches, während er das Opferfleisch selbst ganz traditionell als Bild der Schrift26 betrachtet. Die Allegorie Opferfleisch/heilige Schrift kennen wir bereits aus der Pascha(Auslegung. Sie wird von Origenes in einer sehr systematischen Weise benutzt und als Allegorie des Verspeisens des Opferfleisches wird immer ausschließlich die Lesung der heiligen Schrift angesehen. Im Bezug auf die Pascha(Exegese hatten wir schon bemerkt, dass Origenes aufgrund dieser Logik, nur den Wortgottesdienst als liturgischen Nachfolger des Op( ferkultes annimmt. Eine besondere Rolle in diesem innerlichen Opferkult spielen auch die Gebete: Origenes versteht sie als die beste Form innerlicher Opfer27.

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Vgl. hom. in Lev. 9.9: Sed et unusquisque nostrum habet in se holocaustum suum et holo causti sui ipse succendit altare, ut semper ardeat. Ego si renuntiem omnibus, quae possi deo et tollam crucem meam et sequar Christum, holocaustum obtuli ad altare Dei; aut si „tradidero corpus meum, ut ardeam, habens caritatem“ (1Kor 13:3) et gloriam martyrii consequar, holocaustum me ipsum obtuli ad altare Dei. Si diligam fratres meos, ita ut „animam meam ponam pro fratribus meis“ (1Jn 3:13), si „pro iustitia, pro veritate cantavero“ (Sir 4:28), holocaustum obtuli ad altare Dei. Si membra mea ab omni concupiscentia carnis mortificavero (Kol 3:5), si „mundus mihi crucifixus sit et ego mundo“ (Gal 6:14), holocaustum obtuli ad altare Dei et ipse meae hostiae sacerdos efficior. Vgl. hom. in Lev. 5.5: Et quidem invenisse me puto in propheta Osee, ubi dicit: „omnes moechantes, sicut clibanus succensus ad comburendum” (Hos 7:4) et iterum „Incaluerunt sicut clibanus corda eorum“ (Hos 7:6). Cor ergo est hominis clibanus. Istud autem cor, si vitia succenderint vel diabolus inflammaverit, non coquet, sed exuret. Si vero ille id succenderit, qui dixit „ignem veni mittere in terram“ (Lk 12:49), panes Scripturarum divinarum et sermonum Dei, quos in corde suscipio, non exuro ad perditionem, sed coquo ad sacrificium. Vgl. Lev 7:9. Siehe z.B. hom. in Lev. 4.8 und Jo. 10.18,103. Vgl. Cels. 8.21: 06= ".%+MF>/ D> 06+9 $:*8>/6# Y „+9 ;A.#+6 -%M++T#“, $>= >I&13>#.4, ;/9 -6#+L4 8,T# +94 $#6/3M0+.H4 "# +6U4 -%L4 +L 8>U.# >I&6U4 8H2E64. Vgl. auch hom. in Num. 9.9: Laudare ergo Deum et vota orationis offerre immolare est Deo. Sed huius immolationis primitiae ita per Ponteficem offeruntur, si non solum verbis et voce, sed et mente oremus et corde.

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Kapitel 15

Besondere Aufmerksamkeit verdient das Martyrium28 als Opfer. Dieses, im Unterschied zu allen anderen vorher erwähnten moralischen Deutungen, ist keine nur geistige Bereitschaft, sondern hat einen materiellen, blutigen Charakter. In diesem Sinne stellt es die Fortsetzung des materiellen Opfer( kultes dar und hat dementsprechend eine besondere Heilswirkung. Dass eine solche Auffassung vom Martyrium, die es, aufgrund seines blutigen Charakters, als einziges Erlösungsmittel darstellt, doch gefährlich sein könn( te, war sich Origenes wohl bewusst. In der zehnten Homile zum Buch Nu( meri, die wir schon im Kapitel über das Priestertum z.T. zitiert haben, betont Origenes, dass nur das Selbstopfer Christi eine Erlösungswirkung habe. Es wird gezeigt, dass derjenige, der am Altar steht, die priesterliche Aufgabe erfüllt: Aufgabe des Priesters ist es, für die Sünden des Volkes zu beten. Daher befürchte ich, dass, wenn jetzt keine Marty( rien stattfinden und die Opfer der Heiligen nicht für unsere Sünden dargebracht werden, keine Erlösung unserer Sünden mehr stattfin( det. Und deswegen befürchte ich auch, dass uns, wenn unsere Sün( de sozusagen in uns bleiben, das Gleiche geschieht wie den Juden, die aufgrund des fehlenden Altars, Tempels und Priestertums und weil sie deswegen keine Opfer mehr darbringen, selbst sagen „unse( re Sünde bleiben bei uns und es folgt keine Gnade für uns“. Und ge( gen uns selbst (gegen die Meinung einiger von uns) müssen wir sa( gen, dass die Opfer der Märtyrer nicht für uns dargebracht werden und deswegen bleiben die Sünden in uns selbst. Wir verdienen in der Tat weder eine Verfolgung für Christus zu erleiden, noch für den Namen des Sohnes Gottes zu sterben29.

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Origenes widmet dem Thema Martyrium ein ganzes Werk “Exhortatio ad martyrium”. Da unser Ziel hier die Erläuterung des ganz konkreten Aspekts des Martyriums als Opfer ist, werden wir die erwähnte Schrift nicht detailliert untersuchen. hom. in Num. 10.2,1: qui autem „adstit altari“, ostenditur fungi sacerdotis officio; sacerdotis autem officium est pro populi supplicare peccatis. Unde ego vereor ne forte, ex quo martyres non fiunt et hostiae sanctorum non offerunt pro peccatis nos tris, peccatorum nostrorum remissio non fiat. Et ideo vereor ne permanentibus in nobis peccatis nostris, accidat nobis illud quod de semetipsis dicunt Iudaei, quia non habentes altare neque templum neque sacerdotium et ob hoc nec hostias offerentes, peccata, inquiunt, nostra manent in nobis et ideo venia nulla subsequitur. Et contra nos dicere debemus quia hostiae martyrum non offeruntur pro nobis, idcirco manent in nobis peccata nostra; non enim meremur persecutionem pati propter Christum nec mori propter nomen Filii Dei.

Interpretation des Opferkultes

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Der Text ist besonders reich an Material über das Erlösungsverständnis und die Rolle der Priester. Zuerst ist es interessant, dass Origenes den Märtyrer( tod als eine Art Opfer darstellt. Dies stimmt mit der jüdischen Auffassung vom Erlösungsopfer als blutigem Opfer völlig überein. Die Tatsache, dass in bestimmten historischen Situationen keine Martyrien stattfinden, bringt Origenes zu der Überlegung, ob die Erlösung tatsächlich durch das Vergie( ßen des Blutes zustande kommt. Am Ende des obenerwähnten Textes löst er das Problem, indem er behauptet, man müsse die Erlösung innerlich verdie( nen. Das Martyrium ist nach Origenes zwar eine Art blutiges Opfer, aller( dings nicht unbedingt gefordert, sondern eine besondere Gnade Gottes, die man verdienen muss. Allerdings versteht Origenes auch die reine Bereit( schaft zum Martyrium als schon vollendetes Opfer30. Sühne und Erlösung sind für Origenes ausschließlich durch das Selbst( opfer Christi und nicht durch das Martyrium der Christen verwirklicht. Dies ist ein Punkt, der, trotz scheinbarer Analogien, große inhaltliche Differenzen zwischen der origenianischen und rabbinischen Exegese offenbart.

Moralische Allegorien der Opfer in Levitikus Rabba Durch die moralische Deutung der Opfer versuchen die Rabbinen, wie wir schon bemerkt haben, eine vorübergehende Substitution des materiellen Kultes vorzunehmen. Dieser Kult kann dann zwar keine Versöhnung und Erlösung bewirken, dafür jedoch Reue und Bekehrung, welche die geistigen Voraussetzungen für die Versöhnung auch beim materiellen Kult waren. So werden, ebenso wie bei Origenes, unterschiedliche Tugenden, Schriftlehre und Bußpraxis erwähnt. Betrachten wir einige Beispiele: Schon der Anfang des Buches Levitikus „Wenn ein Mensch … eine Op( fergabe bringt”31 wird Objekt vielfältiger Exegese. Es wird gesagt, dass die Schrift mit dem Ausdruck „Mensch” (/+$) Liebe, Brüderlichkeit und Freundschaft bezeichnet32, d.h. ein Opfer hat als Zweck die Wiederherstel( lung dieser drei Tugenden durch Sühne. Der Vers wird auch auf den ersten Adam bezogen, der, wie die Rabbinen sagen, nichts Geraubtes oder mit

Vgl. hom. in Num. 10.2,2. 31 Lev 1:2. 32 Vgl. LevRab II.8: 30

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Gewalt Erobertes geopfert hat33. Diese Bemerkung weist auf einen deutlich moralischen Aspekt hin: der Mensch muss nicht nur freiwillig irgendwas opfern, sondern auch etwas was ihm gehört und ihm wichtig ist, damit das Opfer als eine Art „Selbstberaubung” wirkt34. Einige Allegorien, die das Opfer als Studium der Heiligen Schrift darstellen, erinnern an Origenes‘ Interpretationen: so wird z.B. auch eine Parallele zwischen dem Brandopfer und dem Studium des Talmuds hergestellt35. Im siebten Kapitel von Leviti" kus Rabba wird behauptet, dass der Zweck des Brandopfers nur die Medita( tion des Herzen sei36. Weiterhin verstehen, ähnlich wie Origenes, auch die Rabbinen die Reue als innerliches Opfer. Der „zerknirschte Geist und das zerbrochene und zerschlagene Herz”37 werden so als Modell des Opfers angesehen. Die Reue und die guten Taten werden geschätzt als etwas, das besser sei als das Leben in der zukünftigen Welt38. Das Martyrium, das zu( sammen mit der Beschneidung, nach dem Jahre 70 die einzige Form eines blutigen Opfers darstellt, hat einen besonderen Wert39. Dieses Konzept, das sich zuerst im vierten Makkabäerbuch nachweisen lässt, spielt, wie wir ge( sehen hatten, eine zentrale Rolle für die soteriologische Funktion des Opfers Isaaks. Von der Idee der Erlösungswirkung des Todes bestimmter Gerechter ausgehend, entwickelt sich die Vorstellung der Erlösungskraft jedes Marty( riums40. Wir sehen also, dass trotz inhaltlicher Unterschiede die allegorisch( moralischen Interpretationen des Origenes und der Rabbinen wesentliche Analogien darstellen. Bevor wir versuchen, eine Vermutung über eventuelle Einflüsse zu äußern, sollten wir noch einige weitere Beispiele betrachten.

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Vgl. LevRab II.7. Vgl. LevRab XXVII.10. Vgl. LevRab III.1. Vgl. LevRab VII.3. Ps 51:19. Vgl. LevRab III.1. Vgl. NumRab XVIII.21. Zur Tendenz, das Martyrium und die Leiden als Substitution des Opferkultes zu interpre tieren siehe R. Daly, Christian Sacrifice, Washington 1978, 122.

Interpretation des Opferkultes

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Das Problem homo / anima in Lev 1:2; 2:1; 4:1. 27 Ein weiteres interessantes Beispiel ist die Exegese von Lev 1:2; 2:1; 4:1. 27. Die Exegeten fragen sich, weshalb die Schrift den Opfernden im ersten Fall „Mensch” nennt, während an allen anderen Stellen von „Seele” die Rede ist. Origenes übernimmt die platonische Vorstellung vom #.?4 als der höchsten Stufe des menschlichen Geistes, die er schon bei der Interpretation der Rolle von Mann und Frau herangezogen hatte, und sagt, dass unter „Mensch” derjenige zu verstehen sei, der „rationabiliter” lebe und der das wahre Abbild Gottes sei, während mit Seele (anima) der fleischliche Mensch (homo animalis), der unter der Begierde des Fleisches leide, gemeint sei41. Wegen seines Geistes sei der Mensch Abbild Gottes und dieses Abbild Got( tes kann nicht sündigen, weswegen man sagt, dass die Seele und nicht der Mensch oder der Geist sündige42. Die Seele ist für Origenes die sündigende Komponente des Menschen, der Geist ist göttlicher Natur, während der Körper den Entscheidungen der Seele als ihr Instrument folgt43. Der Geist als Abbild Gottes ist unsterblich, der Körper als Materie ist sterblich, die

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Vgl. hom. in Lev. 2.2: Et primo velim videre, quae sit ista differentia, quod alia quidem hominem dici offerre, alia animam, alia ponteficem, alia synagogam, alia unam animam ex populo terrae. Et puto quidem hominem illum debere intelligi, qui ad imaginem et similitudinem Dei factus rationabiliter vivit. Hic ergo munus offert Deo vitulum, cum carnis superbiam vicerit; ovem, cum irrationabiles motus insipientesque correxit; haedum, cum lasciviam superaverit [...] Animae autem munera longe inferiora describit. Anima haec neque vitulum habet, neque ovem, neque haedum, quem offerat Deo; sed ne par quidem turturum aut duos pullos invenit columbarum […] unde videtur mihi hic anima appellata est, homo ille, quem Paulus „animalem hominem“ nominat, intelligendus; qui etiam si peccatis non urgeatur nec sit praeceps ad vitia, non tamen habet aliquid in se spiritale quod figuraliter carnes Verbi Dei reputentur […] iste ergo, qui anima nominatur, non potest offerre omnia, quia examinare non potest omnia, sed offert solam similam et pane azymos, id est communem hanc vitam, verbi gratia, in agricultura vel navigando. Vgl. hom. in Lev. 2.2: „Locutus est Dominus ad Moysen dicens: anima quaecumque peccaverit coram Domino non voluntate“ (Lev 4:1 2). Recte „animam“ dicit, quam peccare describit; non enim spiritum vocasset, quem diceret peccaturum; sed ne hominem quidem hunc diceret, in quo nequaquam imago Dei peccato interveniente constaret [...] Quoniam ergo alius est, qui seminat et alius est, in quo seminatur autem vel in carne, cum peccatur, ut metatur corruptio, vel in spiritu, cum secundum Deum vivitur, ut metatur vita aeterna, constat animam esse, quae vel in carne vel in spiritu seminat, et illam esse, quae vel in peccatum ruere possit vel converti a peccato. Nam corpus sequela eius est ad quodcumque delegerit; et spiritus dux eius est ad virtutem, si eum sequi velit. Vgl. ibid.

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Kapitel 15

Seele dagegen ist nach Origenes per se weder sterblich noch unsterblich. Sterblich wird sie durch die Sünde, unsterblich bleibt sie dank der Gerech( tigkeit44. In der obengenannten Stelle45 benutzt Rufinus die Etymologie ani( ma / animalis, Origenes hat wahrscheinlich XH&/0.E für „animales” gesagt, während die „rationabiliter viventes” mit :.D/0.E zu übersetzen wären. Die Stelle ist interessant, weil klar wird, wie sehr sich Origenes von analogen gnostischen Vorstellungen entfernt. Der qualitative Unterschied zwischen animales und rationabiliter viventes ergibt sich nicht aus ihrer Natur, son( dern aus ihren Gaben. In einem griechisch überlieferten Fragment sagt Ori( genes, dass die Opfer der Seele (XH&*) CXH&6 seien46. Im Kontext des Frag( ments geht es um die Reinigung vom Irrationalen, vom Toten (CXH&.#). Das Wortspiel XH&*(CXH&6 spielt aber höchstwahrscheinlich auf die jüdische Vorstellung von der Seele als dem Lebenselement eines Wesen an, deren Tötung Sühne bewirkt. In diesem Sinne wären CXH&6 die Gaben, die keine Sühne oder Erlösung bewirken können. Einer ähnlichen Interpretation begegnet man auch im Midrasch Levitikus Rabba. Auch die Rabbinen interessieren sich für den Unterschied zwischen /+$ und #,3. Während dem Mensch /+$ Tugenden wie Brüderlichkeit und Liebe zugeschrieben werden, wird die Seele (#,3) in einem deutlich negati( veren Licht verstanden: Die Seele, ebenso wie die Frau und die Erde, lehnt in besonderer Weise das Gute und die Gnade ab47. Wir wissen von der rabbini( schen Schöpfungsexegese, dass sich nicht nur die Frau, sondern auch die Erde einer Sünde schuldig gemacht hatte: sie hatte sich laut der rabbinischen Interpretation geweigert, die Bäume so hervorzubringen, wie es das göttli( che Gebot gefördert hatte48. Es handelte sich sogar um den ersten Akt des

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45 46

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Vgl. hom. in Lev. 9.11: Unde et arbitror quod ipsa per se anima humana neque mortalis neque immortalis dici potest. Sed si contigerit vitam, ex participio vitae erit immortalis (in vitam enim non incidit mors); si vero avertens se a vita participium traxerit mortis, ipsa se facit esse mortalem. hom. in Lev. 2.2, wo die Rede von „homo animalis” war. Vgl. sel. in Lev. PG 12, Col. 397C: „‹#8%T-.4, W52E#, "@ i3Z#, "9# -%.26DMD† ;Z%6a“ "-= ;_ +Z# $X,&T#, „"9# XH&*“. žL CXH&.# R XH&*a }#6 +.? 3_# $:1D.H +L :.D/0L# 31#.# 06+6:>E-5+6/, 06= +.? $X,&.H i-L +.? -H%L4 #>#/053A#.H $-.3>E#./ +L \3XH&.# 31#.#. Vgl. LevRab IV.2. Vgl. GenRab V.9. Nach dieser Interpretation hätte die Erde nicht nur fruchtbare, sondern auch essbare Bäume hervorbringen müssen (vgl. Kapitel 1).

Interpretation des Opferkultes

351

Ungehorsams in der Weltgeschichte. Die Tatsache, dass beide (die Erde und die Frau) einen so deutlich sündhaften Charakter haben, führt zur Vermu( tung, dass die Rabbinen hier auch der Seele eine ähnliche Charakteristik zugeschrieben haben. Es handelt sich offensichtlich um keine so anspruchsvolle Auslegung, wie die des Origenes. Von Bedeutung ist für mich aber, dass ein Unterschied zwischen der Exegese von /+$ in Lev 1:2 und #,3 in Lev 2:1 und 4:2. 27 ge( macht wird, wobei Ersteres positiv interpretiert wird, während zweiteres im negativen Sinne Verwendung findet. Das ist insoweit unüblich, als #,3 im Hebräischen nicht unbedingt als Seele im platonischen Sinne verstanden wird und als „lebendiges Wesen“ eher ein Synonym als ein Antonym von /+$ sein kann. Woher haben die Rabbinen die Anregung für eine solche Auslegung be( kommen? Es besteht kein Zweifel, dass bei Philo jede Menge allegorischer Interpretationen zu finden sind, die eine nach dem platonischen Modell ausgebildete Allegorie Seele / Frau darstellen, allerdings keine im Bezug auf diese konkrete Stelle. Daher scheint es mir nicht ausgeschlossen zu sein, dass die Quelle, aus der die Rabbinen ihr Material übernommen haben, Origenes selbst sein könnte. Allerdings müssen wir feststellen, dass die Übernahme origenianischer Allegorien nicht vollständig erfolgt. Während Origenes dem Menschen und der Seele qualitativ unterschiedliche Opfer zuschreibt, gibt es im Midrasch keine Spur einer solchen Auffassung. Die weiteren Analogien in der moralischen Deutung der Opfer hinterlassen einen ähnlichen Ein( druck. Die Rabbinen haben sich also wahrscheinlich der origenianischen Interpretation bedient, allerdings in einer sehr selektiven Weise, indem sie die Form, aber nicht den theologischen Inhalt übernommen haben. Wenn wir uns gleich im Anschluss mit der historischen Interpretation des Opfer( kultes beschäftigen, werden wir diesen Eindruck bestätigt sehen.

Der Opferkult in seiner historischen Bedeutung Historische Bedeutung des alttestamentlichen Opferkultes bei Orige( nes. Wenn Origenes von der definitiven und endgültigen Erfüllung des Opfer( kultes durch Christus spricht, kann er die logische Frage nach der Rolle des alttestamentlichen Kultes in seiner materiellen Ausübung nicht vermeiden. Wenn die göttliche Vorsehung das Selbstopfer des Erlösers vorgesehen hat,

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Kapitel 15

warum wurden die komplizierten und grausamen Praktiken der Opfer den( noch von den Israeliten gefordert. Origenes greift auf seine Auffassung des didaktischen Planes Gottes zu( rück, dessen Ziel die „geistige Erziehung” des israelitischen Volkes war. Nun war einer der größten Fehler des Volkes seine Untreue, nämlich Ido( latrie in Form von Opfern an Götzen. Genau aus diesem Grund gab Gott den Befehl, Opfer zu seiner Ehre zu bringen. Auf eine Weise waren die Opfer eine den Israeliten schon bekannte Form der Religiosität, auf der anderen Seite war dies eine Art „Prüfung” ihrer Treue49. Ein weiterer didaktischer Grund war, dass man schlecht die Tiere ver( göttlichen kann, die man zugleich als Opfer darbringt50. Die Beständigkeit und Treue bei der Bewahrung und im Praktizieren dieser Vorschriften war zugleich eine Voraussetzung, dass die Menschen zur vollen Wahrheit des Glaubens (bei der Ankunft Christi) kommen konnten51. In diesem, sozusa( gen didaktischen Sinne, sind die alttestamentlichen Praktiken für Origenes von Nutzen52. In der Ökonomie des Alten Testaments wurden beide Kom( ponenten gefordert und gebraucht: die geistigen und fleischlichen Opfer, entsprechend der Forderung, dass der Priester zwei Gewänder tragen muss(

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Vgl. hom. in Ex. 7.2: Videtur mihi, quo prospectu datae sint iustificaiones et iudicia et testimonia legis, exponere: ut tentarent, inquit, eos si audirent vocem Domini, et quae mandabantur custodirent. Nam quantum ad priorem populum spectat, quid iis boni aut perfecti murmurantibus et contradicentibus mandaretur? Denique paulo post etiam ad idola convertuntur, et obliti beneficiorum et mirabilium Dei caput vituli statuunt. Propterea dantur iis praecepta in quibus tententur [...] tentati enim in praeceptis Domini non inveniuntur fideles. Vgl. dazu auch sel. In Leviticum PG 12, Col. 397C: h->/;< \&6/%.# +6U4 8H2E6/4 .c “.H;6U./ "# ¢7D,-+O +6,+6/4 -%.28E26#+>4, B4 06= R "# +' "%*3O 3.2&.-./k6 36%+H%>U "-A+%>X># Y |>L4 +6,+64 6I+S -%.26D6D>U#, +6,+† &6:/#N264 +J4 -.:H8>k64 +94 $+M0+.H4 Y%394 06= +.? 3< 8,>/# ;6E3.2/. Dem Thema begegnet man auch bei der Kommentierung der von Balaam dargebrachten Opfer: Sel. in Numeros PG, 12, Col. 579B: ˆ/9 +.?+. .Q# Y 8>L4 8H2E6/4 $->/+>U +L# -%Z+.# :61#, }#6 ;/9 +L -%.2WA%>286/ +S 8>S, 06+6%D58' +L -%.2WA%>286/ +.U4 ;6E3.2/#a >7 06= +9 3M:/2+6 2,3g.:6 {26#. Sel. in Lev. PG 12, Col. 400C: ˆ/-:.?# ;A "2+/ +L 0A%;.4 +L $-L +.? 8,>/#a 06= j+/ |>S -%.2MD>+6/ +/3*, 06= j+/ — 8,>/ +/4 .I0 [# -%.20H#*2>/>#, .I;_ [# .758>E5 |>L# >V#6/. Vgl. hom. in Ex. 11.2: Si quis est qui legens Moysen murmurat adversus eum, et displicet ei lex, quae secundum litteram scripta est, quod in multis non videtur servare consequentiam, ostendit ei Moyses petram, quae est Christus, et adducit eum ad ipsam, ut inde bibat et reficiat sitim suam. Vgl. z.B. hom. in Lev. 3.2: Hoc etiam secundum historiam nos aedificat et docet.

Interpretation des Opferkultes

353

te, eines oben und eines darunter53. Moses und die Propheten verstanden nach Origenes den doppelten Charakter der alttestamentlichen Opfer und der anderen Vorschriften54 und praktizierten sie aus Notwendigkeit, wegen der Einfältigkeit der Israeliten. Origenes gesteht zu, dass es vielleicht sogar einfacher war, den alten Vorschriften „ad litteram” zu folgen, wie es für jemanden einfacher wäre, ein Tier zu schlachten, als etwas zu bereuen. Die „geistigen Opfer” konzent( rieren sich auf den Glauben und eine stetig zunehmende geistige Perfekti( on55. Das bedeutet aber nicht, dass die Sühnemöglichkeiten jetzt weniger und begrenzter wären, als sie es im Alten Testament waren.

Historische Bedeutung des Opferkultes nach den Rabbinen Auch die Rabbinen erkennen einen didaktischen Zweck in der Einführung des Opferkultes: die Israeliten waren an Götzenverehrung und Opfer ge( wöhnt, deswegen befahl Gott als eine Art „Buße” für diese Sünde die Opfer, die zu seiner Verehrung dargebracht werden56. Dabei wird das Gott darge( brachte vollkommene Opfer als Gegensatz zum idolatrischen Opfer ver( standen. Während Ersteres Zeichen der Treue und des Gehorsams ist, drückt das Zweite Mangel an Glauben, Untreue etc. aus. Genau das sollen die Israeliten am Sinai demonstriert haben: sie haben nicht nur das goldene Kalb gebaut, sondern ihm auch geopfert. Diese didaktische Komponente der alttestamentlichen Vorschriften ist in den Midraschim stark präsent. Sie ist wahrscheinlich ein Teil der allgemeinen Spiritualisierung der Kultbegriffe, die, wie schon mehrmals angedeutet, in den ersten Jahrhunderten n. Chr. stattfindet. Dabei spielt aber der Einfluss der christlichen Exegese ohne Zweifel eine wichtige Rolle. Origenes, der erste systematische christliche Exeget des Pentateuchs, vertrat und entwickelte die Idee vom didaktischen Plan Gottes besonders stark. Es ist also nicht auszuschließen, dass seine

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Vgl. Lev 8:7. Vgl. hom. in Lev. 6.3. Vgl. hom. in Lev. 2.4: Sed fortasse dicant auditores ecclesiae: melius fere agebatur cum antiquis sacrificiis quam nobiscum, ubi oblatis diverso ritu sacrificiis peccantibus venia praestabatur. Apud nos una tantummodo est venia peccatorum, quae per lavacri gratiam in initiis datur; nulla post haec peccanti misericordia nec venia. Vgl. LevRab XXII.

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Kapitel 15

Ansichten Auswirkungen auf die rabbinische Vorstellung von der Erzie( hungsfunktion der alttestamentlichen Vorschriften gehabt haben.

Mystische Auslegung. Himmlischer Opferkult Da die mystische Interpretation des Opferkultes mit der Auslegung des Opfers Isaaks eng verbunden ist, die im gleichnamigen Kapitel dieser Arbeit diskutiert worden ist, werde ich mich hier nur auf die Erwähnung weniger allgemeiner Charakteristiken beschränken. Die Auffassung eines himmlischen Gottesdienstes und eines himmli( schen Opferkultes ist bei Origenes und den Rabbinen präsent. Origenes hat ein dreistufiges Modell der Liturgie vor Augen, in dem der alttestamentliche Kult als Schatten des christlichen dient, der seinerseits nur eine Präfigurati( on des himmlischen Gottesdienstes ist57. Bei den Rabbinen entwickelt sich diese Auffassung auch unter dem Zwang der historischen Ereignisse. Das fehlende irdische Heiligtum evoziert die Idee eines himmlischen Heiligtums und eines himmlischen Gottesdienstes mit himmlischen Opfern. Der himm( lische Gottesdienst nach jüdischer Auffassung schließt tatsächlich einen Hohepriester ein, der auf dem himmlischen Altar opfert, wie Bietenhard konstatiert58. Bei diesen Auslegungen macht sich die Tendenz bemerkbar, das himmlische Heiligtum und den himmlischen Gottesdienst als den irdi( schen entsprechend darzustellen59. Für Origenes ist Christus nicht nur das perfekte Opfer auf Erden, sondern auch Bild der Opfer beim zukünftigen eschatologischen Gottesdienst60. Im Kapitel über das Opfer Isaaks haben wir gezeigt, dass die Rolle Christi als perfektes Opfers auf Erden und im Him( mel eine Entsprechung in der rabbinischen Interpretation Isaaks findet. Die

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Vgl. Vilelà, 1971, 61 63. Vgl. H. Bietenhard, Die himmlische Welt im Urchristentum und Spätjudentum, Tübingen 1951, 123. Vgl. GenRab LXVIII.12. Vgl. Jo. 10.15 und hom. in Lev. 1.3: Vis autem scire, quod duplex hostia in eo (Jesu) fuit, conveniens terrestribus et apta caelestius? [...] Si ergo duo intelliguntur velamina, quae velut pontifex ingressus est Jesus, consequenter et sacrificium, duplex intelligendum est, per quod et terrestria salvaverit et caelestia. Die Problematik begegnet auch in hom. in Lev. 1.3: Sanguis Jesu non solum in Hierusalem effusus est, ubi erat altare et basis eius et tabernaculum testimonii, sed quod et supernum altare, quod est in coelis, ubi et ecclesia primitivorum est.

Interpretation des Opferkultes

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Analogie zwischen den Opfern entspricht aber keinerlei einer Analogie der Opfernden. Während bei der christlichen Interpretation Christus gleichzeitig himmlisches Opfer und himmlischer Hohepriester ist, unterscheiden die Rabbinen diese zwei Funktionen. Als himmlischer Hohepriester wird nor( malerweise der Erzengel Michael angenommen und nicht Abraham oder Isaak61. Es bleibt die Frage nach der Funktion des himmlischen Opferkultes. Deutlich wird seine Funktion als Lob und Dankbarkeit zu Gott betont. Die Rabbinen behaupten, dass in der „zukünftigen Welt” alle Opfer abgeschafft würden, außer dem Dankopfer62, das der geschaffene Mensch seinem Schöpfer bringt.

Theologischer Hintergrund der origenianischen Polemik in der 4. Levitikushomilie Wir hatten schon am Anfang festgestellt, dass die Tendenz zur Spiritualisie( rung des Opferkultes eher ein historischer Zwang als ein logischer theologi( scher Schluss für die jüdischen Exegeten war. Die Notwendigkeit der „mate( riellen“ Opfer bis zur Zerstörung des Tempels bleibt für die Rabbinen un( bestritten, genauso wie die Hoffnung auf die Wiederherstellung des Tem( pels und der Opfer unbestritten bleibt. Die oben erwähnten Traktate der Mischna und des Talmuds bezwecken in ihrer detaillierten Beschreibung der Opferungen genau das: die lebendige Aufbewahrung der Erinnerung und Kenntnis dieses Kultes63. Für die Rabbinen ist das perfekte Opfer materiell und zugleich geistig. Ein nur geistiges Opfer bleibt ein mangelhaftes Opfer. Das ist genau der größte Unterschied zur christlichen und in unserem Fall origenianischen Exegese. Genau dieser Aspekt charakterisiert Origenes‘ Polemik in der vierten Homilie zu Levitikus gegen die „Iudaeorum doctores“, die lehren, dass das Opferfleisch für jeden Erlösungskraft hat, der es berührt. Origenes stellt die logische Frage, was denn passiere, wenn ein Verbrecher das Opferfleisch berührt. Die übliche Antwort, sagt Origenes, sei, dass es dem Gesetzgeber

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Vgl. Bietenhard, 1951, 129. Vgl. LevRab XXVII.12. Vgl. O. Schmitz, 1910, 111.

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Kapitel 15

(Gott) so gefallen hätte. Origenes lehnt auch dieses Argument ab mit der Begründung, dass von Gott kein Mangel oder Widerspruch kommen kann64. Diese Art von Polemik, die sich auf die absurden Konsequenzen der alttes( tamentlichen Vorschriften stützt, ist charakteristisch für Origenes und weckt hier daher keine besondere Aufmerksamkeit. Von Interesse ist hier aber, warum Origenes bei einer Frage wie dem Opferkult so vehement polemi( siert, die in seiner Zeit von keiner praktischen Bedeutung mehr war. Die Durchführung des Opferkultes hatte vor fast zwei Jahrhunderten aufgehört und die Frage nach der Wirkung des Opferfleisches kann daher nicht aktuell gewesen sein. Die Tatsache, dass Origenes diese Problematik dennoch so energisch in einer Homilie angeht, führt zur Behauptung, dass dies keine nur auslegungsgeschichtliche Diskussion zwischen den Exegeten, sondern eine für die christliche Gemeinde wichtige Frage war. Man kann sich vor( stellen, dass es in den Reihen der Zuhörer des Origenes einige konvertierte Juden gab, die mit der rabbinischen Lehre der Sühne und Erlösung durch den Opferkult und der Hoffnung auf seine Wiederherstellung vertraut wa( ren. In Cäsarea lebte eine große jüdische Gemeinde und die lokale rabbini( sche Schule war bekannt. Man kann sich aber auch Zuhörer heidnischen Ursprungs vorstellen, die auf der Suche nach der wahren Religion oder aus Neugier die christliche Kirche und die jüdische Synagoge besuchten und gute Kenntnisse der jeweiligen Lehren erworben hatten. Dabei spielte die Frage nach dem Opferkult eine wichtige Rolle und Origenes fühlte sich her( ausgefordert, gegen die rabbinische Lehre zu argumentieren.

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Vgl. hom. in Lev. 4.7: Sed si velimus nunc ab his, qui in „manifesto Iudaei“ sunt, requirere de singulis, qua ratione illud hoc modo dictum sit aut aliud alio modo, absoluta nobis responsione satisfacient dicentes: ita visum est legem danti; nemo discutit Dominum suum. Et ideo cedentes iis in ceteris de hoc novissimo sermone requiramus, ut dicant, quomodo „omnis, qui tetigerit ex sacrificio sanctorum, sanctificetur“ (Lev 6:18). Si homicida tetigerit, si profanus, si adulter, si incestus, sanctificatus erit? Non enim excepit aliquem, sed dixit: „Omnis qui tetigerit ea, sanctificetur“ [...] Enimvero nullo modo vel rei natura vel veritas religionis hoc recipit; et ideo redeundum nobis est ad expositiones evangelicas atque apostolicas, ut lex possit intelligi. Nisi enim velamen abstulerit Evangelium de facie Moysi, non potest videri vultus eius nec sensus eius intelligi. Vide ergo, quomodo in Ecclesia Apostolorum discipuli adsunt his, quae Moyses scripsit, et defendunt ea, quod et impleri queant et rationabiliter scripta sint; Iudaeorum vero doctores et impossibilia haec et irrationabilia sequentes litteram faciant.

Interpretation des Opferkultes

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Zusammenfassung Durch diesen Vergleich wollte ich die Unterschiede, aber vor allem auch die Ähnlichkeiten zwischen der origenianischen und der rabbinischen Exegese des Opferkultes zeigen. Die Unterschiede bestehen hauptsächlich in den Auffassungen über die Nützlichkeit der Opfer im Alten Testament, wie auch im Verständnis der „geistigen“ Opfer. Diese sind für Origenes als Christ die einzig mögliche Form von Opfern, während die materiellen Opfer grund( sätzlich abgelehnt werden. Die einzige Ausnahme sieht Origenes im Marty( rium als einer Art „Selbstopfer”. Für die Rabbinen sind die geistigen Opfer nur eine Möglichkeit, die materiellen Opfer einigermaßen zu ersetzen, sie bleiben aber mangelhaft. Da die Analogien auf den drei Ebenen der Interpretation des Opferkul( tes (auf der mystischen, der moralisch(allegorischen und zum Teil auch auf der historischen Ebene) so groß sind, kann man leicht gegenseitige Einflüsse vermuten. Da die Problematik der allegorischen Interpretation der Opfer sich für das Judentum erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts wirklich stellte, kann man schließen, dass die Analogien durch christlichen Einfluss auf die jüdischen Exegeten zustande kamen. Eine bestimmte Tendenz zur Spiritualisierung war zwar schon bei den Essenern und in einem anderen Sinn innerhalb des hellenistischen Judentums angelegt65, da es aber bekannt ist, dass die palästinischen jüdischen Kreise reserviert gegenüber den Inter( pretationstendenzen in der Diaspora waren, glaube ich, dass Philos Einfluss auf Levitikus Rabba nicht entscheidend für die Entwicklung der spiritualisier( ten Deutung der Opfer ist. Wenn man diesen christlichen Einfluss akzeptiert, muss man sagen, dass Origenes und alle anderen Autoren in ihrer allegorischen Interpretation der Opfer direkt von Paulus abhängen. Es gibt Hinweise von Origenes66 selbst, dass jüdische Gelehrte das Neue Testament studierten, um besser gegen die Christen polemisieren zu können. Dass die jüdischen Gelehrten Paulus gele( sen haben, ohne mit zeitgenössischen christlichen Exegeten in Kontakt zu

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Vgl. Schmitz, 1910, 119. Es handelt sich nach dem Autor um ein besonderes Verständnis der Sühnekraft des Opfers: die Seele des geopferten Tieres sühnt anstelle der Seele des op fernden Menschen: „Seele sühnt für Seele”. Daraus entsteht die Idee von den Leiden der Gerechten, die Sühne für die Seelen der Ungerechten bewirken können vgl. ibid. 131. Ep. 1.15.

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Kapitel 15

treten ist kaum denkbar; außerdem gehen die Ähnlichkeiten origenianischer und rabbinischer Exegese weit über die paulinischen Beispiele hinaus. Des( wegen denke ich, dass die Einflüsse gut von Origenes selbst während seiner Arbeit in Cäsarea ausgegangen sein können.

Kapitel 16. Interpretation der Reinheitsgesetze (Lev 11(15) Einleitung Die Interpretation der Reinheitsgesetze ist ein wichtiges Thema in der Penta( teuchauslegung, besonders wenn es sich um einen Vergleich rabbinischer und origenianischer Texte handelt. Die unterschiedlichen Speise( und ande( re Reinheitsvorschriften charakterisieren seit jeher die jüdische Gemeinde und sind mit wenigen Veränderungen noch heute erhalten. Die im Buch Levitikus beschriebenen Unreinheiten werden traditionell vom Judentum als ontologische Zustände verstanden, d.h. als körperliche Phänomene, die (mit wenigen Ausnahmen) nicht vom menschlichen Verhalten verursacht wer( den. Unreinheit wird grundsätzlich nicht mit Sünde verbunden. Das Prob( lem betrifft nur das jüdische Volk, alle anderen können sich nicht verunrei( nigen, sie sind durch ihren Unglauben a priori unrein. Es ist klar, dass die Polemik gegenüber der Einhaltung von Reinheitsre( geln sich vehement entwickelte, wenn es zu Kontakten mit Nicht(Juden kam. Die Frage war geradezu ein Topos in den Auseinandersetzungen zwi( schen Juden und Heiden an den Orten mit gemischter Bevölkerung. Alle Versuche von jüdischer Seite aber, eine mehr oder weniger „geistige“ Deu( tung der Reinheitsvorschrifte (vor allem hellenistisch(jüdischen Ursprungs) zu entwickeln, wollten auf keiner Weise die wörtliche Observanz der alttes( tamentlichen Reinheitsvorschriften aufheben, sondern zielten darauf, ihre Einhaltung verständlich zu machen. Die Verbindung zwischen Sünde und Unreinheit kommt schon bei den Essenern vor, führt allerdings nicht zu einer Aufhebung der Reinheitsobservanzen1. Die ontologische Unreinheit der menschlichen Natur (vor allem nach dem Sündenfall) ist dem christlichen Denken und Origenes2 wohl bekannt. Dabei wird aber nur die Taufe als materielles „Reinigungsritual“ angesehen. Die ontologische Unreinheit wird dadurch gereinigt. Nach dieser einmaligen Reinigung wird nur das moralisch Unreine, die Sünde, als unrein verstan( den. Wenn wir später vom Versöhnungsfest sprechen, werden wir wieder

1 2

Vgl. E.P. Sanders, Jesus and Judaism, Philadeplphia 1985, 183; J. Neusner, Purity in Rabbinic Judaism, A Systematic Account, Atlanta 1994, 59. Vgl. hom. in Lev. 8.3.

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erwähnen müssen, dass keine weiteren Reinigungsriten (außer einigen Buß( praktiken) in der christlichen Liturgie vorgesehen sind. Für die frühchristli( chen Exegeten spielte die Episode aus Apostelgeschichte 10:9 eine sehr wich( tige Rolle, indem sie die Schriftautorität für die Aufhebung der Reinheitsob( servanzen lieferte. Die christliche Exegese hatte aber trotzdem das Problem, die Existenz der Reinheitsgebote im Alten Testament zu erklären. Diese Situation kennen wir schon von der Exegese der Beschneidung und des Opferkultes. Ähnlich wie in diesen Fällen, war die einzig mögliche Lösung die Auslegung im geistigen Sinne. Origenes hatte auch in diesem Fall ale( xandrinische Modelle der hellenisierten jüdischen Auslegung, wie Aristeas oder Philo. Es gab also eine etablierte Tradition der Polemik gegen die rituel( le Reinheit. Der Aufbau der christlichen Argumentation musste also mit Fingerspitzengefühl vorgenommen werden, damit die spezifisch christli( chen Züge deutlich werden konnten. Die erste spezifisch christliche Charak( teristik ist die Verteidigung des göttlichen Charakters der alttestamentlichen Gesetzgebung und die gleichzeitige kategorische Ablehnung der Observanz nach der Ankunft Christi. Also musste eine theologische Ansicht einge( nommen werden, welche die Inkarnation Christi und die endgültige Erfül( lung der Reinheitsgebote verbinden konnte. Diese Maßnahmen kennen wir schon von anderen Themen, z.B. dem Opferkult, wobei die logische Konse( quenz dort viel deutlicher ist. Die Auffassung einer definitiven Erfüllung und Aufhebung der Reinheitsobservanzen ist auch die Grenzlinie zu den allegorisierten jüdischen Auslegungen. Alle hellenistisch(jüdischen Interpre( tationen betonten in der Tat die Notwendigkeit und die Nützlichkeit der Reinheitsregeln, was die Autoren oft mit einer psychosomatischen oder medizinischen Begründung verteidigten (z.B. die Verbindung zwischen Abstinenz von bestimmten Speisen und Bekämpfen der Begierde). In diesem Sinne ist die hellenistisch(jüdische Auslegung von der traditionellen rabbini( schen Lehre über die ontologischen Unreinheiten weit entfernt. Origenes war als Alexandriner für die innerjüdische Frage nach der moderaten geisti( gen Interpretation der Reinheitsvorschriften sensibel. Die Tatsache, dass die alexandrinischen Juden eine, wenn auch begrenzte, allegorische Deutung der Regeln entwickelt und angenommen hatten, war für ihn ein zusätzlicher Hinweis, dass diese die korrekte Richtung der Interpretation war und desto absurder erschien ihm die buchstäbliche Observanz. Die Rabbinen blieben nicht unsensibel für diese Entwicklung des Verständnisses von Reinheit, die z.T. innerhalb des Judentums ihren Ausgang genommen hatte. Wir können zwar nicht von einem allegorischen Verständnis der Reinheitsregeln seitens

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361

der Rabbinen sprechen, aber wohl eine bestimmte Tendenz erkennen, wel( che die Vorschriften nicht nur auf den Körper einer bestimmten Person, sondern auch auf ihr Verhalten bezieht. Es existieren mehrere Untersuchun( gen über den Charakter der rabbinischen Auslegungen zur Frage der Rein( heitsgesetze. Jakob Neusner3 hat erklärt, dass die Unreinheit ursprünglich von den Rabbinen als ein ontologischer Status verstanden wurde, d.h. als ein Phänomen, das nicht vom Verhalten der Person beeinflusst ist (mit Aus( nahme von einigen sexuellen Fragen). Erst später entwickelt sich die Vorstel( lung einer moralisch verursachten Unreinheit. Nach Neusner reflektiert diese Auffassung die allgemeine Spiritualisierung des Kultes. Unter den kultischen Gebräuchen, welche nach dem Jahre 70 nicht mehr ausgeübt werden konnten, waren auch einige Reinigungsriten. Neusner4 und Kla( wans5 stellen fest, dass die Verbindung zwischen Sünde und Unreinheit hauptsächlich in späteren (ab Ende des dritten ( Anfang des vierten Jahr( hunderts) exegetischen Werken (wie Levitikus Rabba) belegt ist und in frühe( ren halakhischen Traktaten, wie der Mischna, komplett ignoriert wird. Kla( wans6 meint, dass sich die Unterscheidung zwischen ontologischen (oder rituellen Reinheiten) einerseits und moralischen Reinheiten andererseits aus dem biblischen Text ergibt. Die rituelle Unreinheit bezieht sich auf Körper( phänomene wie Blutvergießen, Aussatz, Berührung von toten Körper und wird normalerweise durch Waschen gereinigt. Die moralische Unreinheit dagegen wird durch Opfer gereinigt. Jakob Neusner wiederum hat die theo( logischen Gründen der sogenannten ontologischen Reinheiten untersucht und gezeigt, dass in einigen Fällen selbst diese „ontologischen Unreinhei( ten“ einen moralischen Hintergrund haben: z.B. die Unreinheiten, die durch Berührung „unreiner“ Gegenstände zustande kommen, haben als Ursache die Tatsache, dass Ungläubige, welche Gott hassen, diese Gegenstände be( rührt haben7. Ähnlich verläuft nach Neusner die rabbinische Logik im Falle von anderen Unreinheiten, welche mit Blutvergießen und Tod zu tun haben: sie erinnern an die Sterblichkeit des Menschen nach dem Sündenfall. Beide Typen von Unreinheiten haben also etwas mit Sünde zu tun, aber in unter(

3 4 5 6 7

Vgl. Neusner, Purity in Rabbinic Judaism, 1994, 54. Vgl. Ibid. 60 61. Vgl. Ibid. 11 14. Vgl. J. Klawans, The Impurity and Immorality in Ancient Judaism, in JJS 48 (1997), 1 16. Vgl. J. Neusner, Handbook of Rabbinic Theology, Boston 2002, 490 493.

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schiedlichem Maß. Während die rituellen Unreinheiten die allgemein un( vollkommene menschliche Natur betreffen, werden die moralischen Un( reinheiten von den vom konkreten Individuum begangenen Sünden verur( sacht und durch Reue und Buße gereinigt8. Obwohl diese Erklärung sehr überzeugend ist, sollte man sich fragen, ob das Gleiche für die von Klawans angenommene Terminologie (rituelle und moralische Reinheiten) gilt. Alle alttestamentlichen Unreinheiten haben nämlich rituelle Konsequenzen. Es handelt sich also immer um rituelle Unreinheiten. Auf der anderen Seite sind die Folgen der sogenannten „moralischen Unreinheiten“ wieder kör( perliche Zustände (z.B. Lepra), die aber von einem moralischen Vergehen verursacht sind. Der Unterscheid zwischen beiden Kategorien besteht also nur in ihren Ursachen. Wenn wir einen Vergleich zwischen der rabbinischen und der origenia( nischen Exegese der Unreinheiten anstreben, müssen wir uns natürlich auf die Themen beschränken, die überhaupt ein Vergleichsmaterial liefern. Eine Untersuchung aller rabbinischen Texte, inklusive derer, die rein halakhische Vorschriften zu den ontologischen Unreinheiten bieten (wie die Mischna), wird also nicht viel Nützliches für einen Vergleich mit Origenes erbringen. Wir werden uns deswegen auf aggadische Texte konzentrieren, welche mo( ralische Ursachen der rituellen Reinheiten annehmen. Dann werden wir uns fragen können, ob Origenes nicht auch einige rabbinische Auffassungen in seine Interpretation aufgenommen hat. Dazu werden wir auch bemerken, dass die rabbinischen Interpretationen vielleicht auch von der zeitgenössi( schen christlichen Exegese beeinflusst gewesen sein könnten. Man kann sich vorstellen, dass die Rabbinen tatsächlich Origenes oder die hellenistisch(jüdische Tradition (sei es unabhängig von oder gerade durch Origenes) kannten. Sie zeigten sich natürlich sehr resistent gegenüber solcher Auslegungen, nicht nur wegen des theologischen Hintergrunds, sondern auch aufgrund der historischen Bedingungen, die im dritten ( vier( ten Jahrhundert schon ganz andere waren, als in der Zeit Philos. Auf der einen Seite gab es die Konkurrenz der christlichen Exegese, auf der anderen Seite war ein großer Teil des jüdischen Kultsystems mit der Tempelzerstö( rung zu Ende gegangen und damit wurden alle noch erhaltenen Praktiken, deren Ausübung weiterhin möglich war, nicht nur für das jüdische Identifi(

8

Vgl. Klawans, 1997, 3; Neusner, Purity in Rabbinic Judasim, 1994, 54.

Interpretation des Reinheitsgesetze

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kationsbild, sondern auch für die religiösen Bedürfnisse des Volkes beson( ders wichtig. In diesem Sinne sind wir in tannaitischer und amoräischer Zeit Zeugen eines wachsenden Rigorismus. Hätten Aristeas oder Philo in dieser Epoche gelebt, wären sie bestimmt nicht so frei mit der Allegorie der bibli( schen Vorschriften umgegangen. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die immer wieder angedeutete ori( genianische Polemik gegen christliche Kreise, die einige jüdische Reinheits( vorschriften weiter befolgten. Dabei muss man nicht unbedingt an jüdisch( stämmige Christen denken. Die rituelle Reinheit war für die Neukonvertier( ten keine so unangenehme Forderung, wie es z.B. die Beschneidung ist. Die Reinheitsobservanzen, genauso wie die jüdischen Festen hatten eine beson( dere Anziehungskraft auch für Neukonvertierte aus dem Heidentum. Was die origenianische Polemik betrifft, ist es für ihn besonders wichtig, jede mögliche Übernahme von Motiven aus der heidnischen Polemik gegen die jüdische Praxis zu vermeiden, besonders wenn es um den angeblich unwürdigen und lächerlichen Charakter der Vorschriften ging. Dazu zählen selbstverständlich auch die Gnostiker und die Markioniten. Gefahren droh( ten aber auch aus den gebildeten heidnischen Kreisen, weil die Diskrepanz zwischen der angeblichen Annahme des Alten Testaments durch die Chris( ten und ihrer praktischen Ablehnung der Praktizierung von Reinheitsgebo( ten nicht unbemerkt blieb. Zeugen dafür sind die etlichen Hinweise auf die Interpretation von Reinheitsvorschriften in Contra Celsum. Origenes benutzte in vielen Fällen seiner Kommentierung der Reinheitsgebote die hellenistisch( jüdische Auslegung, allerdings, wie wir bemerkt haben, mit einem anderen theologischen Hintergrund und sogar als polemisches Argument gegen die traditionelle rabbinische Lehre. Dies alles macht eine Vergleichsuntersu( chung der origenianischen und rabbinischen Interpretation der Reinheitsge( setze sehr spannend.

Allegorische Deutung der Unreinheit der toten Körper bei Origenes (Lev 5:23) Exemplarisch dafür, wie Origenes mit der Frage nach der Unreinheit um( geht, ist schon die erste Gelegenheit, welche der biblische Text ihm zu die( sem Thema anbietet und zwar Lev 5:2(3. Es handelt sich um den unreinen Zustand nach dem Berühren des Körpers eines Toten. Origenes, der sich bemüht, den biblischen Text auf der allegorischen Ebene zu interpretieren, deutet den körperlichen Kontakt als geistiges Zusammentreffen und den

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körperlichen Tod als geistigen, moralischen Tod. Es ist bekannt, dass der Tod für Origenes eine konstante Allegorie der Sünde ist9. Im Kapitel zur Schöpfung wurden wir schon einmal mit der Frage nach der Verbindung zwischen Körperlichkeit und Sterblichkeit einerseits und der Auswirkung des Sündenfalls auf den Zustand des Menschen andererseits konfrontiert. Die schwierige Thematik, die sich nicht sehr deutlich erklären lässt, wird hier weiter getrieben, indem der körperliche Tod als Allegorie der Sündhaf( tigkeit und konkret der Sünde verstanden wird. Auf der anderen Seite ist die Ablehnung der wörtlichen Bedeutung der Reinheit in sich auch eine Verteidigung der körperlichen Natur des Menschen, dessen Tod von Gott vorgesehen und deswegen nicht unrein sein kann. Genau hier sieht Origenes auch den Fehler der Juden. Nach einer Reihe von Argumenten, welche die jüdische Praxis ad absurdum führen sollen, schließt er „Dieses wird bei den Juden ziemlich indezent und unnötig beachtet“10. Was die rufinianische Übersetzung mit „inutiliter“ bezeichnet, ist der Unsinn der jüdischen Praxis. Unter „indecenter satis“ versteht er aber offensichtlich, dass eine solche Praxis unpassend, indezent für Gott und seine Schöpfung sei. Origenes war sich offensichtlich der möglichen Häresievorwürfe gegenüber eine Unwür( digkeit der Gebote bewusst und wollte der Gefahr entkommen, indem er nicht die Schrift, sondern allein ihr Verständnis für unpassend erklärte („vi( de quam inconveniens sit iudaica intelligentia”11). Diese Verlagerung des Akzentes vom biblischen Text auf dessen Verständnis ist charakteristisch für die origenianische Interpretation der Reinheitsobservanzen. Nun müssen wir feststellen, dass uns die Interpretation dieser ersten Reinheitsfrage noch weitere Aspekte bietet, welche einen Unterschied zur hellenistisch(jüdischen Auslegung ausweisen. Zu bemerken ist vor allem das Fehlen jeder medizinischen Begründung für die Unreinheit des toten Kör( pers. Weiterhin bemerkenswert ist die Betonung der Sünde als eines morali( schen Todes, eine Auffassung, die schon bei Philo geläufig ist, der allerdings viel mehr die geistige Unvollkommenheit als fehlende Kenntnis des Geset( zes12 und nicht so sehr die moralischen Vergehen als Sünde versteht. Die

9 10 11 12

Vgl. hom. in Lev. 3.3 über Lev 5:2 3. Ibid.: haec quidem apud Iudaeos indecente satis et inutiliter observantur. Vgl. ibid. Vgl. spec 1.166.

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allegorische Deutung vom moralischen Tod kannte Origenes höchstwahr( scheinlich von Philo, er passte sie aber seinem eigenen Verständnis von Sünde an. Wir beobachten also, dass die ganze origenianische Exegese der Frage nach der Verunreinigung durch tote Körper auf die Allegorie Tod / Sünde hin angelegt ist. Dies gelingt ihm allerdings nicht durchgängig. Wenn er später auf die Reinheit des Hohepriesters zu sprechen kommt und sich zu erklären verpflichtet fühlt, was „in seinen (toten) Vater und Mutter verun( reinigt zu sein“13 bedeute, muss Origenes sich eine weitere allegorische Deu( tung ausdenken. Er interpretiert den Vers dann als Anspielung auf die ma( terielle Beschaffenheit des Menschen und konkret Christi, der als vollkom( mener Hohepriester gilt und der durch die Inkarnation (Vater, Mutter) die materielle Natur angenommen hat14. Obwohl der Übergang Materie(Sünde konsequent erscheint, ist diese Interpretation für Origenes nicht einfach, vor allem weil es um zusätzliche Reinheitsregeln geht, die nur den Hohepriester betreffen. Insgesamt beobachten wir bei Origenes eine völlige Ablehnung der wörtlichen Bedeutung der Unreinheit durch Berührung von Leichen. Die origenianische Allegorie verbindet die Vorstellung vom Tod mit Sünde und bereitet daher Schwierigkeiten, wenn es um konkrete Erweiterungen oder Einschränkungen der Reinheitsvorschriften geht. Die zusätzlich ange( nommenen Allegorien sind aber mit der Grundvorstellung Tod / Sünde mehr oder weniger logisch verbunden.

Unreinheit des Opferfleisches Auf die richtige Schriftkenntnis konzentriert sich die Interpretation der Un( reinheit des Opferfleisches. Ganz konsequent und vielleicht untypisch für seine Homilien sagt Origenes: Wir müssen nach der Ordnung unserer Erklärung (Auslegung), wo das heilige Fleisch als die göttlichen Worte zu verstehen ist, folgende

13 14

Lev 21:11. Vgl. hom. in Lev. 12.3.

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Beobachtung machen, dass es oft vorkommt, dass das heilige Fleisch von einem „unreinen“ berührt wird15. Bemerkenswert erscheint hier die Tatsache, dass Origenes betont, es gäbe feste Auslegungstopoi in seiner Exegese, wie Opferfleisch/Heilige Schrift. Diese Behauptung, die sich ohne Zweifel bestätigen lässt, erinnert, wenn auch nur formal, an die rabbinischen Interpretationsregeln, nach denen einem bestimmten Wort immer wieder die gleiche allegorische Deutung zugeschrieben wird. Die Erklärung des Origenes konzentriert sich auf die Unreinheit des Menschen bei der Auslegung der Heiligen Schrift. Origenes nimmt eine bestimmte Vorkenntnis des Auslegers an und bezieht die Allegorie indirekt auf die Prediger, deren Aufgabe die Schrifterklärung ist. Als „unrein“ wird zuerst derjenige bezeichnet, der das Geheimnis der Dreifaltigkeit und aller anderen rationalen und irrationalen Glaubenswahrheiten nicht deutlich genug erklären kann16. Dieser ersten Polemik, die sich allgemein gegen die inkompetenten Prediger richtet, werden ganz konkrete Vorwürfe hinzuge( fügt, welche bestimmte heterodoxe Tendenzen charakterisieren, z.B. die Ablehnung der Auferstehung der Körper. Durch diese schädlichen Ideen wird das heilige Fleisch der Schrift verunreinigt17. Der zweite Typ von Unreinheit bei der Auslegung der Schrift ist die feh( lende Askese, trotz guter intellektueller Voraussetzungen. Das richtige Ver( ständnis der heiligen Schrift fordert die Trennung von allen weltlichen Sor( gen und Gütern18. Dieses Argument richtet sich wahrscheinlich gegen keine

15

16

17 18

Vgl. hom. in Lev. 5.10 zu Lev 7:9 11: Secundum nostrae vero expositionis ordinem, ubi carnes sanctae verba intelliguntur esse divina, huiusmodi habenda est observatio, quia saepe accidit mundas carnes contingi ab aliquo immundo. Ibid.: Si quis de Deo Patre ac de unigenito eius et Spiritu sancto digno mysterio purum faciat sincerumque sermonem, similiter et de omnibus creaturis rationabilibus tamquam et irrationabilibus factis ad hoc, ut caperent et intelligerent eum. Ibid.: Quod his addit resurrectionem carnis negando, quia alienum a fide est, superioribus iunctum perfectis et fidelibus verbis sanctas carnes contaminavit et polluit. Ibid.: Secundum immunditiae genus est, ne ipse, qui carnes edit, immundus sit, et immunditia eius in ipso sit (Lev 7:10), quod hoc modo intelligi potest, verbi gratia, si sit aliquis naturae florentis et ardentis ingenii, non continuo aptus videbitur ad suscipienda Verbi Dei mysteria, sed quaeritur etiam hoc, ut prius a profanis actibus et immundis actibus separetur et item demum eruditionis capax fiat.

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konkrete Gruppe, sondern bekämpft allgemein die Bestrebungen zu einem intellektualisierten Christentum. Als dritter Typos von Unreinheit wird die Freundschaft und der Kontakt zu Menschen bezeichnet, welche unter Neid, Zorn oder fehlender Keusch( heit leiden. Trotz eigener Nichtbeteiligung an diesen Sünden, bedeuten die nahen Kontakte mit solchen Leuten nach Origenes eine Unreinheit19. Wir haben den Eindruck, dass Origenes hier das Zusammentreffen mit Sündern verurteilt und es als eine Gefahr für das inspirierte Verständnis der Schrift darstellt. Das wäre der rabbinischen und allgemein jüdischen Vorstellung eigentlich sehr nah. Für einen christlichen Exegeten ist aber eine solche Be( hauptung sehr untypisch und schwer zu erklären, da seine Auffassung von Unreinheit sich nur auf ihren moralischen Aspekt konzentriert und keinen von außen bedingten reinen oder unreinen Zustand kennt. Also sollten wir nach einem moralischen Aspekt dieser origenianischen Aussage suchen. Das könnte dann nur die Duldsamkeit und Indifferenz gegenüber der Sünden des Anderen sein20. Wenn man mit Sündern zu tun hat und nicht versucht, sie zur Reue zu bringen, wird sein richtiges Verständnis der Schrift verhin( dert. Wir haben keine explizite rabbinische Auslegung der Frage der Verun( reinigung des Opferfleisches. Wir wissen aber von der Exegese der Opfer, dass den Rabbinen eine Allegorie Opferfleisch/Heilige Schrift bzw. Talmud21 nicht fremd war. Hierbei wird eher der Akt der Opferung als Studium der Schrift allegorisiert und nicht konkret das Opferfleisch als Allegorie der heiligen Schrift betrachtet, allerdings besteht ein logischer Zusammenhang zwischen beiden. Also kann man annehmen, dass eine Auslegung der Ver( unreinigung des Opferfleisches als falsches Verständnis der Schrift nicht ausgeschlossen wäre. Im Kapitel über den Opferkult haben wir auch die Polemik des Origenes aus der vierten Homilie zu Levitikus analysiert, deren Kern die rabbinische Betonung der Reinigungskraft des Opferfleisches war22. Man kann also da(

19 20

21 22

Vgl. ibid. Eine ähnliche Konzeption findet sich im Cant. 2.30, wo die verweigerte Hilfe für einen Sünder, den richtigen Weg zu finden, mit der Indifferenz gegenüber einem kranken Men schen vergliechen wird. Vgl. LevRab III.1. hom. in Lev. 4.7.

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von ausgehen, dass die Rabbinen in der Zeit des Origenes immer noch auf der wörtlichen Auslegung dieser Frage bestanden und sich bemühten, ähn( lich wie in der Mischna23, den Glauben an die Wirkung des Opferfleisches lebendig zu erhalten.

Speisevorschriften. Allegorie der reinen und unreinen Tiere Die Frage nach der Reinheit der Tiere und der Lebensmitteln allgemein ist eine der fundamentalen, wenn es um die Reinheitsvorschriften im Buch Levitikus geht. Es ist durchaus bekannt, dass die Speiseobservanz die jüdi( sche Gemeinde seit der Antike charakterisiert hat und dies auch heute noch eines ihrer Kennzeichen ist. In der Zeit des Origenes war das Thema schon ein Topos in der jüdisch(heidnischen Polemik. Es ist zweifellos kein Zufall, dass die ersten Beispiele einer allegorischen Interpretation der biblischen Vorschriften von jüdischer Seite, genau die Frage nach den Speisevorschrif( ten betreffen. Bekannt ist die Auslegung des Aristeas, die allegorisch die unterschiedlichen Typen von Tieren auf das innerliche Leben des Menschen bezieht24. Philo bringt die Speisevorschriften in einen interessanten Kontext hinein, indem er sie psychosomatisch mit der Reinigung von Leidenschaften und speziell von der Begierde verbindet25. Die Basis dieser Behauptung ist die platonische Einteilung der Seele, welche den Bauch als Sitz der Begierde darstellt26. Philo bemerkt selbst, dass nur bestimmte Tiere für unrein erklärt worden sind, deren Fleisch besonders fett und lecker ist und die in dieser Weise viel Appetit anregen, Appetit, der dann leicht in Begierde übergeht27. Die Verbindung zwischen Essensgewohnheit und Keuschheit ist ein Topos, der bis zum heutigen Tage in der psychologischen und asketischen Literatur nicht an Bedeutung verloren hat, auch wenn die Frage nach reinen und un( reinen Tieren durch Fasten oder Kontrolle des Appetits ersetzt worden ist. Trotz spezifischer Charakteristika der einzelnen Autoren, können wir sagen,

23 24 25 26 27

Vgl. Zebaim, Menanot, Terumot. Vgl. Phil. 9.140 166, nach Lettre d’Aristée à Philocrate, Introduction, texte critique, traduction et notes par A. Pelletier, Paris 1962. Spec 4.95. Spec. 4.93a Spec. 4.100.

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dass die Tendenz, die Speisevorschriften allegorisch auszulegen eine Tradi( tion ist, die von Aristeas über Philo bis Origenes erhalten bleibt. Die Speise( vorschriften und Reinheitsregeln sind insofern wichtig, als sie Objekt der ältesten allegorischen Interpretation biblischer Vorschriften sind und damit erlauben, die durchgängige Linie von der hellenistisch(jüdischen Exegese bis zur christlichen Deutung dieser Frage zu verfolgen. Andererseits ist die Einhaltung der Reinheitsnormen für die jüdische Gemeinde in der Zeit nach der Tempelzerstörung durchaus weiterhin möglich. Das führt, wie wir schon in anderen ähnlichen Fällen festgestellt haben, zu einem wachsenden Rigorismus in der Observanz der Speisevorschriften. Wenn wir an den Trak( tat Toharot der gleichnamigen Ordnung der Mischna denken und uns an alle detaillierten Vorschriften über die Reinheit und Unreinheit der Lebens( mittel und Getränke oder an die Unreinigung der in sich reinen Speisen erinnern, sehen wir inwieweit diese Observanz wichtig und von der jüdi( schen Gemeinde praktiziert wurde. Oder vielleicht nicht nur von der jüdi( schen Gemeinde? Origenes hat es auch nicht einfach. Die systematische Bekämpfung der lebendigen jüdischen Speiseobservanz erscheint nicht besonders leicht, auch nicht mit der Autorität des Petrus. Wir können uns gut vorstellen, dass die jüdaisierenden Christen, von denen wir schon in Bezug auf die Beschnei( dung gesprochen haben, der Observanz der reinen und unreinen Tieren weiter folgten. Also musste diese Praxis unbedingt von den orthodoxen christlichen Kreisen bekämpft werden. Andererseits war auch in diesem Falle Vorsicht geboten und eine Distanzierung von den Argumenten der heidnischen Ankläger erwünscht. Dafür musste der christliche Exeget im( mer wieder die Würde der alttestamentlichen Schriften betonen und das falsche „körperliche“ Verständnis anklagen. Wir werden gleich feststellen können, dass Origenes sich an diesen Vorgaben orientiert, was die Analyse der Frage nach den Speiseobservanzen im dritten Jahrhundert besonders spannend macht. Origenes ist sich dessen bewusst, wie schwierig eine durchgängig allegorische Interpretation sein kann. Er selbst sagt: Keiner soll denken, dass ich den heiligen Schriften Gewalt antue und auf die Menschen das beziehe, was von reinen oder unreinen Tieren, Vierbeinern, Vögeln oder Fischen gesagt worden ist und phantasiere, dass es von den Menschen gesagt worden sei. Vielleicht wird jemand meiner Zuhörer sagen: warum tust Du der heiligen Schrift Gewalt? Es wird „Tiere“ gesagt, man soll Tiere verstehen.

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Damit keiner denkt, dass dies vom menschlichen Verstand verdor( ben sei, müssen wir an die Autorität des Apostels erinnern: „alle [unsere Väter] zogen durch das Meer hindurch, wurden auf Moses in der Wolke und im Meer getauft, denn alle aßen dieselbe geistliche Speise, und alle tranken denselben geistlichen Trank; denn sie tran( ken aus einem geistlichen Felsen, der mit ihnen zog. Der Fels aber war Christus“ (1Kor 10:2(4)28. Origenes weiß sehr gut, dass die Interpretation von den eigenen Ideen des Auslegers verdorben sein kann. Er selbst hat vorher die häretische Exegese derart verurteilt. Vielleicht waren ihm schon die Vorwürfe gegen seine Alle( gorien bekannt. Also brauchte er unbedingt eine Autorität, die nicht zu wi( dersprechen war, wie eben Paulus. Genau dies erlaubt uns zu behaupten, dass die Gegner/Zuhörer in diesem Fall Christen sein müssen. Nur vor christlichem Publikum wäre die Autorität des Paulus überzeugend und würde zu einer captatio benevolentiae führen. Eventuelle heterodoxe z.B. gnostische Tendenzen sind nicht auszuschließen. In ihrer Ablehnung und dem Auslachen der alttestamentlichen Vorschriften neigten sie eigentlich zu einer wörtlichen Interpretation. Die nächste Feststellung ist in diesem Sinne noch repräsentativer: Siehst Du, wie Paulus all dies, was Moses von den Speisen und dem Trinken sagt, Schatten der zukünftigen Realitäten nennt, Paulus, der besser belehrt war als diejenigen, die sich jetzt loben, Lehrer zu sein?29

28

29

Vgl. hom. in Lev. 7.4: Ne qui, inquam, putet quod ego vim faciam Scripturis divinis et ea, quae de animalibus, quadrupedibus vel etiam avibus aut piscibus mundis sive immundis in lege referuntur, ad homines traham et de hominibus haec dicta esse confingam. Fortassis enim dicat quis auditorum: cur vim facis Scripturae? Animalia dicuntur, animalia intelligantur. Ne ergo aliquis haec depravari humano credat ingenio, apostolica in iis auctoritas evocanda est. Audi ergo primo omnium Paulus de his qualiter dicat. “Omnes enim inquit, per marem transierunt, et omnes in Moysen baptizati sunt in nube et in mari, et omnes eandem escam spiritalem manducaverunt, et omnes eundem potum spiritalem biberunt. Bibebant enim de spiritali sequenti petra; petra autem erat Christus” (1Kor 10:1 4). Ibid.: Vides ergo, quomodo haec omnia, quae de cibis vel potu losquitur Moyses, Paulus, qui melius didicerat quam hi, qui nunc iactant se esse doctores, omnia haec esse umbram dicit futurorum.

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Nun, diese Behauptung (alle Speisevorschriften seien nur Schatten zukünfti( ger Realitäten) ist in beiden Richtungen nützlich: in der antijüdischen Pole( mik und in der Polemik gegen christliche heterodoxe Gruppen. Besonders auffallend ist die Betonung der Belehrung und der Autorität des Apostels, einmal im Ausdruck „besser belehrt“ und einmal rein historisch: die Lehre Pauli ist geprüft und gehört zur Geschichte, während andere behaupten erst „jetzt“ gute Lehrer zu sein. Die Annahme einer nicht nur theologischen, sondern auch „historischen“ Autorität lässt heterodoxe Gegner vermuten. Das Argument der Tradition als Garantie für das richtige Verständnis der religiösen Botschaft charakterisiert bis zum heutigen Tag die Auseinander( setzung zwischen traditioneller Kirchenlehre und den sich von dieser ab( grenzenden religiösen Strömungen.

Die Tiere mit gespaltenen Klauen als die Interpreter der Schrift nach Origenes Die erste Kategorie von reinen Tieren sind diejenigen, die wiederkäuen und getrennte Klauen haben30. Sie werden als Bild derjenigen Bibelleser interpre( tiert, welche die beiden Sinnen der Schrift, den wörtlichen und den allegori( schen, kennen. In einem der griechischen Fragmente der origenianischen Kommentierung des Levitikus wird behauptet, dass die getrennten Klauen ein Zeichen des Lebens seien, das komplett vom Erstreben der zukünftigen Welt charakterisiert sei. Die getrennten Klauen gelten in diesem Fall als Allegorie der Fähigkeit, all dies, was oberflächlich oder (moralisch) tot ist, von den eigenen Taten auszuräumen31. Eine ähnliche Interpretation findet sich auch in der siebten Homilie zu Levitikus. Dort übernimmt Origenes die gleiche Erklärung, schließt aber nicht nur die Christen, sondern auch die Philosophen ein, die danach streben, sich die göttliche Belohnung zu ver(

30 31

Vgl. Lev 1:4. Vgl. sel. in Lev. PG 12, 401: „-r# 0+J#.4 ;/&5:.?# Y-:*#“. ˆ/&5:J +L# >I2>gZ4 "# +S 67Z#/ +.,+O -.:/+>H13>#.# 06= ;/9 +L# 3A::.#+6 67Z#6 "-’"0>U#.# 2->,;.#+6a -%L4 ;_ +L ;/&5:>U# 06= Ž#H&/2+J%64 Ž#H&EF>/# ->%/6/%.,3>#.# +9 ->%/++9 06= #>0%M, $-L +Z# &>/%Z#, +.?+’\2+/ -%M@>T#a 06= -.;Z#, +.?+’\2+/ +J4 -.%>E64. v%L4 +.,+./4 06= $#9 35%H0/23L# .I0 $-.+/8A3>#.# 31#.# +H36+/0#.# 06= 2H#>&Z4 6I+:>+Z#+6.

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dienen32. Auch in diesem Fall ist Philo als Modell anzunehmen, da er das Wiederkäuen als Unterscheidung / Entscheidung (6}%>2/4) interpretiert33. Das „Wiederkäuen“ bedeutet für Origenes, den gelesenen Text geistig zu verstehen34. Diese Auslegung hat ohne Zweifel ein Modell in Philo, der auch ähnlich das Wiederkäuen der Tiere mit dem Studium verbindet. Aller( dings ist bei Philo nicht explizit von Schriftauslegung die Rede. Man könnte es genauso gut auf die Erziehung und Vorbereitung der Philosophen bezie( hen35. Aristeas hatte diese Kategorie in Verbindung mit der Aufmerksamkeit und der Erinnerung gestellt36, die auch Charakteristiken des Studiums sind. Der biblische Text führt eine weitere Kategorie ein, die als unrein gilt: die Tiere mit gespaltenen Klauen, die aber nicht wiederkäuen37. Darunter versteht Origenes die Menschen, denen es an Lektüre und Meditation fehlt, die aber doch eine gute moralische Grundlage haben38. Diese Kategorie wird bei Philo nicht analysiert, vielleicht weil seine Auffassung von Reinheit als Kenntnis der Heiligen Schrift dem nicht hätte entsprechen können. Wir ha( ben schon in der Einleitung auf diesen wesentlichen Unterschied zwischen der origenianischen und der philonischen allegorischen Interpretation hin( gewiesen: Philo ist viel weniger sensibel für die rein moralische Deutung der Unreinheit und tendiert immer dazu, diese allegorisch als fehlende Beleh( rung zu interpretieren. Diese Tendenz ist m.E. auch nicht zufällig, sondern kohärent mit der Auffassung, die biblischen Observanzen müssten bekannt sein und verstanden werden, um anschließend ausgeübt zu werden. Da Origenes aber auf die völlige Ablehnung der Observanzen angewiesen ist

32

33 34 35 36 37 38

hom. in Lev. 7.6: Et iterum est alius vel ex his, qui extra religionem nostram sunt, vel ex his, qui nobiscum sunt, qui dividunt quidem ungulam et ita incendunt in viis suis, ut actus suos ad futurum saeculum praeparent. Multi enim ita et ex philosophis sapiunt et futurum esse indicium credunt. Immortalem enim animam sentiunt et remunerationem bonis quibusque positam confitentur. Hoc et haereticorum nonnulli faciunt et quantum exspectant, timorem futuri iudicii gerunt et actus suos tamquam in divino examine requirendos cautius temperant. Vgl. spec. 4.108. hom. in Lev. 7.6. Vgl. spec. 4.106. Phil. 153. Lev 11:4 6. Vgl. ibid.

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und im Grunde eine geistige Substitution sucht, geht er mit viel größerer Aufmerksamkeit die allgemein moralischen Fragen an. Für Philo bedeutet moralische Vollkommenheit die Praktizierung der Reinheitsvorschriften in ihrer geistigen und materiellen Form. Für Origenes existiert dagegen nur die geistige Ausübung, die dann nur allegorisch auf das konkrete Verhalten des Individuums bezogen wird.

Wildtiere als Beispiel für Unreinheit durch Grausamkeit In einem der im griechischen überlieferten Fragmente spricht Origenes von der Unreinheit der Wildtiere: Die Wildtiere sind auf keinen Fall rein. Alle sind unrein nach dem Gesetz, das sagt: „Jedes unter den Tieren, das auf Pfoten geht, sollt ihr für unrein halten“ (Lev 11:27). Allgemein könnten Wildtiere [Ty( poi für] alle sehr grausamen Menschen [sein].39 Dass die Raubtiere Ungerechtigkeit symbolisieren und damit als unrein gelten müssen, meint auch Aristeas40. Die origenianische Allegorie ist inso( fern interessant, weil sie sich am stärksten der rabbinischen Interpretation nähert. Die Rabbinen legen, wie wir sehen werden, die unreinen Tiere in einem historisch(allegorischen Sinne aus, und beziehen sie auf die Verfolger und Feinde Israels.

Meereswesen Weiter erwähnt der biblische Text die reinen und unreinen Meereswesen. Diese werden zum Teil als rein und zum Teil als unrein eingestuft. Diese Feststellung bezieht Origenes auf die unterschiedlichen Kontakte zu Men( schen, die wir haben ( sei es zu Sündern oder zu Gerechten41. Die philoni( sche Interpretation ist andersartig, obwohl eine bestimmte Ähnlichkeit fest( gestellt werden kann. Philo sieht nämlich die Meereswesen ohne Flossen

39

40 41

Vgl. sel. in Lev. PG 12, Col. 401: |5%E6 3_# .Q# .I;63Z4 "2+/ 0686%Ma -M#+6 D9% $0M86%+6 06+9 +L# >7-1#+6 +L# #13.#a „vr# l "9# -.%>,5+6/ "-= &>/%Z# 6I+.? "# -r2/ +.U4 85%E./4, $0M86%+6 \2+6/ i3U#“. w‚5 ;’[# D>#/0Z4 85%E6 -M#+>4 .c ©31+6+./ +Z# $#8%N-T#... Vgl. Phil. 52. Vgl. hom. in Lev. 7.5.

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und Schuppen als schwache Menschen, die sich von der Wasserströmung (der Mehrheitsmeinung) treiben lassen und keinen Widerstand leisten, wäh( rend die reinen Meereswesen diejenigen seien, welche dank ihrer Körper( struktur viel resistenter und kämpferischer sind42. Da ein Sünder nicht un( bedingt schwach und charakterlos ist, ist die Abhängigkeit des Origenes von Philo hier nicht sicher. Es ist aber ganz deutlich, dass die psychologisch( moralische Begründung der Unreinheit auf Philo zurückgeht.

Reine und unreine Tiere nach Origenes. Zusammenfassung Die origenianische Auslegung von Lev 11 erweist sich als äußerst allego( risch. An mehreren Stellen ist Philos Einfluss zu erkennen, wobei auch we( sentliche Unterschiede zur philonischen Interpretation zu bemerken sind. Diese Unterschiede hängen mehr oder weniger mit dem Ziel des Origenes ( der Ablehnung der wörtlichen Bedeutung und vor allem der Observanz zusammen. Dieses ist auch das implizite polemische Argument gegen die Speiseobservanzen, die von Juden, aber wahrscheinlich auch von einigen Christen gefolgt wurden. Die Frage nach der allegorischen Bedeutung bestimmter Körperteile wie z.B. der Klauen ist für Origenes interessant, weil sie ihm erlaubt, einen sys( tematischen Gebrauch von dieser Allegorie zu machen und weil er über( zeugt ist, dass dies besser als alles anderes die Absurdität der wörtlichen Bedeutung schildert. Origenes ist sich bewusst, dass einige der Speisevor( schriften doch einen medizinischen Wert haben und nicht zu unterschätzen sind. Diese gehören aber zur natürlichen Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren. Die stolze Behauptung der Juden, den Unterschied der Tiere zu kennen, wird so als fast selbstverständlich dargestellt. Ein An( spruch an den Glauben ist dagegen die richtige Deutung dieser Vorschriften nach der Ankunft Christi43. Die Abstinenz hat nur in einem konkreten reli( giösen Kontext einen Sinn. Origenes selbst weist auf die Abstinenzpraxis der ägyptischen Priester hin, die sich, obwohl formal ähnlich, inhaltlich von den

42 43

Vgl. spec 4.111. Cels. 5.49: ~::’.I;_ "-= +S 2HZ# $-A&>286/ B4 3>DM::O +/#= “.H;6U./ 2>3#,#.#+6/, "-= ;_ +S +36850A#6/ 06= ++M/. P6= +6?+6 ;_ 2,3g.:M +/#T# {# 3A&%/ +J4 “52.? "-/;53E64.

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alttestamentlichen Vorschriften für Speiseabstinenz unterscheidet. Diese Logik kennen die Juden selbst. Das gleiche gilt dann nach der Ankunft Christi44: der theologische Kontext ändert sich und die Praxis mit ihm, was zu einer hauptsächlich geistigen Ausübung führt. Trotz aller geistigen Inter( pretation, beschäftigt sich Origenes offensichtlich mit der Frage, ob die von Gott geschaffenen Wesen unrein sein können. Merkwürdigerweise bestreitet dies Origenes nicht kategorisch. Er schließt nur: Wenn jemand das, was Gott geschaffen hat, für unrein halten kann, um wie viel mehr [sollte er das für unrein halten], was sich gegen den Willen Gottes richtet und tut, was Gott verboten hat?45 Die Interpretation der Reinheit der Tiere ist somit ein Thema, das viele Pa( rallelen, aber auch wesentliche Unterschiede zur hellenistisch(jüdischen Interpretation aufweist. Diese Unterschiede stellen die typisch christlichen Züge der origenianischen Interpretation dar. Obwohl wir uns noch nicht mit der rabbinischen Interpretation befasst haben, können wir trotzdem feststel( len, dass die origenianische Interpretation im Vergleich zur jüdisch( hellenistischen Auslegung, wie erwartet, deutlich polemischer aussieht. Philo ist, trotz seiner reichen Allegorien, von denen Origenes selbst viele übernimmt, nie bereit, irgend etwas von der wörtlichen Observanz abzuleh( nen. Die Tatsache, dass die Speisevorschriften eine verborgene Bedeutung haben, macht sie nicht in ihrem wörtlichen Sinn inakzeptabel. Das Gleiche gilt für Aristeas. Genau wie im Falle der Beschneidung oder des Opferkultes ist für Philo die geistige Bedeutung ein zusätzlicher Grund, der die Obser( vanz legitimiert.

Speisevorschriften. Reine und unreine Tiere nach den Rabbinen Moralischer Aspekt der Abstinenz von verbotenen Tierspeisen Die Speisevorschriften sind, wie wir schon bemerkt haben, zwischen diesen Praktiken der jüdischen Gemeinde, die diese nicht nur seit jeher charakteri( sieren, sondern die auch keine besonderen Veränderungen im Laufe der

44 45

Vgl. ibid. sel. in Lev. PG 12, Col. 401: w7 +L .Π|>L4 -./5+V#6/ #.3EF./ +/4, -12O 3r::.# +L "#6#+ET4 \&.# -%L4 +L +.? |>.? g.,:536, 06= -./.?# j->% $-5D1%>H2>#;

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Jahrhunderten erlitten haben. Deswegen gewannen sie nach dem Jahre 70, wie alle anderen verbliebenen Observanzen, noch mehr an Bedeutung. Die Auseinandersetzung über die Speisevorschriften war schon aus dem Dialog mit den Heiden bekannt, also fühlten sich die Rabbinen zunächst von der christlichen Interpretation nicht besonders bedroht oder herausgefordert. Ihre erste und fundamentale Auffassung ist, dass alle Vorschriften (auch die bezüglich der Tiere, welche gegessen werden dürfen) als Ziel die Reini( gung und Heiligung der Menschheit haben46. Nicht zufällig beschäftigt sich der Traktat Tohorot u.a. mit der Unreinheit bestimmter Spesen. Wenn wir uns an Klawans Schema über die rituellen und moralischen (moralisch ver( ursachten) Reinheiten erinnern, gehören die unreinen Tiere ohne Zweifel zur ersten Kategorie. Das Ziel aller Reinheitsgebote aber ist die Heiligung des Individuums. Es ist also weiterhin nicht verwunderlich, dass die Absti( nenz vom Verspeisen unreiner Tiere als moralischer Verdienst für das zu( künftige Leben dienen kann. Wenn das irdische Ritual eine Entsprechung im himmlischen hat, müssen auch die Reinheitsregeln, die auf Erden eingehal( ten werden, eine Verbindung zum himmlischen reinen Zustand des Men( schen haben. Eine solche Meinung vertritt R. Judan b. R. Simeon. Er meint, dass jeder, der keine Behemoth (in unerlaubter Weise getöteten Tiere) oder keinen Leviathan gegessen hat, zum Bankett des Herrn in der zukünftigen Welt eingeladen sein wird. Das Gleiche gilt für denjenigen, der keinen Spek( takeln zugeschaut hat, bei denen solche Tiere in unerlaubter Weise getötet werden, worunter offensichtlich Tierhetzen zu verstehen sind47. Auch hier ist die moralische Komponente nicht zu übersehen. Nicht nur das Verspei( sen von Behemoth wird abgelehnt, sondern auch das Vergnügen am Töten der Tiere bei Spielen. Dies ist zugleich auch ein polemischer Seitenhieb ge( gen eventuelle heidnische Opponenten. Wir können feststellen, dass auch in diesem Fall des „rein rituellen“ Verständnisses der Observanz, einige mora( lische Aspekte nicht fehlen. Im Unterschied zu Philo oder Origenes wird allerdings nicht versucht, die einzelnen Tierarten allegorisch mit unter( schiedlichen Menschentypen zu verbinden. Betont wird hier zunächst nur eine einzige Tugend: die Abstinenz von verbotenen Speisen.

46 47

Vgl. LevRab XIII.3. Vgl. ibid.

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Allegorische Auslegung der unreinen Tiere nach den Rabbinen Die große Betonung der Wichtigkeit der Abstinenz von bestimmten Speisen hindert die Rabbinen nicht daran, diese, trotz ihrer großen rituellen und sogar Heilsbedeutung, im Fall der unreinen Tiere, ebenfalls allegorisch zu interpretieren. Die allegorische Deutung ist in diesem Fall sehr verscheiden( verschieden von den jüdisch(hellenistischen oder christlichen Modellen. In der Zeit, in der die Midraschim verfasst wurden, war die christliche Allego( rie der Speisevorschriften schon stark etabliert. Die Mehrheit der Christen lebte auch nach diesen neuen geistigen Regeln. Wir haben bei Origenes an( gedeutet, dass es wahrscheinlich Schwierigkeiten mit einigen christlichen Kreisen gab, welche die jüdischen Speisegebote einhalten wollten. Das Prob( lem in der umgekehrten Richtung war ebenfalls bekannt: jüdische Kreise, besonders aus der Diaspora, welche die Speiseobservanzen zunehmend ablehnten. Schon im Ptolemäischen Alexandrien waren bestimmte jüdische Gruppen so weit in ihrer Öffnung zur neuen Kultur gegangen, dass sie die Speisevorschriften als sinnlos ablehnten. Das Problem der Selbstvergewisse( rung durch die Observanz des Gesetzes stellte sich damals genauso wie in den ersten Jahrhunderten n. Chr. dar. Für die jüdische Gemeinde hatte sich in dieser Problematik wenig geändert. Aus diesen Gründen, die mit der Konkurrenz der christlichen Exegese, aber auch mit den innerjüdische Prob( lemen verbunden sind, mussten die Rabbinen besonders vorsichtig mit den allegorischen Interpretationen der Speisevorschriften umgehen. Wir entde( cken vor allem historische Allegorien, deren Inhalt uns von anderen Midrasch(Stellen bekannt vorkommt. Das folgende Beispiel ist besonders signifikativ: Moses sah die Mächte in ihren Taten. [Zwischen den unreinen Tie( ren] weist das Kamel (-)*) (Lev 11: 4) auf Babylon hin, von dem es gesagt ist „Tochter Babel, Du Zerstörerin; wohl dem, der Dir Deine Entlohnung (-()*) heimzahlt, was Du mit uns gemacht hast (-)*) (Ps 137:8). Der Klipdachs ist eine Anspielung auf Medien48. Die Rabbinen bieten zwei unterschiedliche Erklärungen: Genauso wie der Klipdachs einige Zeichen von Reinheit und einige Zeichen der Unreinheit

48

LevRab XIII.5. Der zitierte Abschnitt ist nur der Anfang einer langen Reihe von Exegesen der unreinen Tiere als Metapher der Feinde Israels.

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hat, so gebar Medien gerechte und schlechte Menschen. Die zweite Erklä( rung bezieht sich ganz konkret auf die Persönlichkeit des Darius, der Sohn der Esther und damit halb Jude war, dessen Vater, Ahasuersus allerdings Heide und damit unrein war. Der Hase wird mit Griechenland verbunden, da der Name der Mutter des Ptolemäus :6DN4 (Hase) war. Von ihr wird auch behauptet, dass sie Alexander im Geist der Tora erzogen hätte und dass dieser (Alexander) vor Simeon dem Gerechten Gott gepriesen hätte. Das Schwein wird als Anspielung auf Edom/Rom verstanden. Besonders interessant ist hier die Begründung: es wird nämlich beobachtet, dass ge( nauso wie das Schwein „mit Stutzen seine Hufe weitersetzt“, als ob es sagen möchte „Sieh dass ich rein bin”, sich der Römische Staat ebenso lobt, wenn er Gewalt und Räuberei betreibt und scheinbar ein Gericht etabliert49. Die Allegorien der feindlichen Mächte sind allerdings eine Konstante in der rabbinischen Literatur. Darunter ist der „bevorzugte“ Feind ohne Zwei( fel Rom. Die systematischen Angriffe gegen Rom beeindrucken mit ihrer Schärfe und Kompromisslosigkeit, was leicht mit der historischen Situation, in der die Midraschim verfasst wurden, zu erklären ist. In den Midraschim finden wir keine Analogie zu den Allegorien der rei( nen und unreine Tiere, wie wir sie von Aristeas, Philo und Origenes kennen. Im Gegenteil müssen wir feststellen, dass die rabbinischen Allegorien nicht spezifisch im Hinblick auf die Speisevorschriften entwickelt worden sind. Die historische Allegorie der feindlichen Mächte ist ein ständiges Element in den Midraschim, das auf alles (Ereignis, Mensch oder Tier) bezogen wird, was eine negative Bedeutung hat. Die Interpretation der Speisevorschriften bietet somit nur wenige Analogien zwischen der rabbinischen und der ori( genianischen Auslegung. Die Tatsache, dass eine historisch(allegorische Auslegung dennoch stattfindet, zeigt das große Interesse der Rabbinen für die Allegorien. Selbst in einer so delikaten Frage, wie bei den Speisevor( schriften, welche die Rabbinen am besten wörtlich erklären sollten, schlagen sie allegorische Auslegungen vor. Wir müssen auch bemerken, dass die oben erwähnte allegorische Interpretation die Hauptauslegung in der drei( zehnten Parasche (eigentlich das einzige Kapitel über die Speisevorschriften) von Levitikus Rabba darstellt. Es ist bekannt, dass dieses Werk einen aggadi( schen und keinen halakhischen Charakter hat. Daraus ist zu schließen, dass

49

Ibid.

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379

Fragen, deren Erklärung keine Neuigkeiten bietet, wenig interessant für den Verfasser von Levitikus Rabba erschienen.

Unreinheit durch Lepra Die Vorschriften zur Unreinheit der Leprakranken sind wahrscheinlich der Teil der alttestamentlichen Reinheitsvorschriften, der für uns am meisten nachvollziehbar ist. Umso überraschender ist es, dass genau diesbezüglich in der rabbinischen Auslegung Spuren von allegorischer Deutung zu entde( cken sind, was z.B. im Fall der Speisevorschriften gar nicht geschieht. Die Allegorie Krankheit/Sünde ist nicht nur in der allegorischen Interpretationen hellenistisch(jüdischer oder christlicher Autoren ein Topos, sondern auch in der rabbinischen Exegese. Parallel dazu steht die Auffassung von Gott als perfektem Arzt. Die Vorschriften zur Unreinheit der Leprakranken geben innerhalb der Pentateuchauslegung die Möglichkeit, die Entwicklung dieser Auffassung zu verfolgen. Dabei müssen wir auf einige Punkte besonders achten: Inwieweit ist die origenianische oder rabbinische Exegese vom Einfluss der jüdisch(hellenistischen Auslegung abhängig? Diese Frage ist insofern wichtig, als wir darauf bedacht sind, eventuelle origenianische Einflüsse auf die rabbinische Exegese zu identifizieren. Wie ist die innerliche Verbindung zwischen Krankheit und Sünde ver( standen? Verstehen die Autoren die Lepra als reine Allegorie der Sünde oder sehen sie die Lepra tatsächlich als Krankheit, die von einer moralischen Unregelmäßigkeit verursacht ist? Wie ist die Beziehung zwischen Verge( bung der Sünden und Heilung der Lepra? Wie ist die iatrische Funktion Gottes beschrieben? Und welche Taten sind erforderlich, damit der Kranke geheilt (gereinigt) wird? Wir beginnen unsere Analyse mit der origeniani( schen Auslegung der Lepra.

Die Lepra als Allegorie der Sünde nach Origenes Die origenianische Allegorie der Unreinheit durch Lepra stellt die Krankheit als rein geistigen Zustand dar. Die Bezeichnung des Kranken lautet „in ani( ma leprosus“50, +-%T3A#.451. Die Sünde wird als Krankheit

50

hom. in Lev. 8.10.

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Kapitel 16

der Seele verstanden. Folgendes Beispiel stammt aus der Interpretation der Vorschrift bezüglich der Kleider des Kranken: Das Gesetz will also, dass der Sünder nicht nur seine Kleider nicht annäht und seinen Kopf nicht deckt, damit, wenn ein kapitales Verbrechen da ist, d.h. wenn etwas gegen Gott getan ist und im Glauben gesündigt ist, dies nicht gedeckt (verborgen) bleibt, son( dern für alle offen sei, so dass durch die Intervention und den Tadel aller (Gläubigen) der Sünder sich verbessert und Vergeben ver( dient52. Nach dem Gesetz soll der Kranke im Falle eines Aussatzes auf dem Kopf jedes Haar seines Kopfes rasieren. Origenes interpretiert ganz konsequent die Haare als tote Natur, also als Bild der Sünde, wovon die Seele befreit werden soll53. Alle Vorschriften bezüglich der Körperrasur und der Körper( reinigung sind für Origenes Symbole der Reinigung der Seele. Er analysiert detailliert die unterschiedlichen Typen von Lepra, die in Levitikus beschrieben werden. Dabei konzentriert er sich auf diese Unvoll( kommenheiten der Seele, welche sie zum Sündigen führen: Die Narben, welche nach einer eventuellen Heilung auf dem Körper des Kranken blei( ben, interpretiert Origenes als Erinnerungen an und Indizien der Sünde. Durch diese verbleibenden Kennzeichnungen der alten Sünde könne die Seele wieder zum Sündigen neigen, so die origenianische Logik54. Die alte

51 52

53

54

sel. in Lev. PG 12, Col. 401. hom. in Lev. 8.10: Vult ergo lex divina peccatorem non solum vestimenta non assuere sed et caput non contegere, ut, si quod est capitis delictum, id est si in Deum aliquid comissum est, si in fide peccatum est, ne haec quidem habeantur obtecta, sed omnibus publicentur, ut interventu et correptione omnium emendetur et veniam mereatur. Ähnlich auch sel. in Lev., PG 12, 401: „ž9 c3M+/6 6I+.? \2+6/ -6%6:>:H3A#6“. ˆ/9 +.,+T# 67#E++>+6/ 3< ;>U# 2HD0%,-+>/# +9 o36%+*36+6, 06= $0>-MF>/# 6I+9 +L# +-%T3A#.#. hom. in Lev. 8.11 über Lev 14:9. Dazu auch sel. in Lev., PG 12, 403D, wo die Kopfhaare mit den Hauptdogmen des Glaubens verglichen werden: „žW6:+6/“. °H%r+6/ +W6:W6:6/T;A2+>%6 06= $%&/0N+>%6 +Z# ;.D3M+T#a 06+9 ;_ +L# -NDT#6, j->% 2,3g.:1# "2+/ +.? $#;%14, $-.+/8A3>#.4 +9 +.? $#;%L4 o36%+*36+6a 06+9 ;_ +94 ŽW%?4, -r26# .‚52/#, 06= }#’.e+T4 Ž#.3M2T, ŽW%,T2/# $-.+/8A3>#.4. €,3g.:.# ;A W52/ +6?+6 -%.2W,#+6 06= "@6#8*26#+6 +' XH&', #>0%1+5+.4 +%E&>4 Ž#.36F13>#6. hom. in Lev. 8.5: Si ergo post cognitionem et medicinam Dei, si post manifestationem pacis et fidei, quam per Christum suscepimus, rursum in ista cicatrice adscendat aliquod peccati

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Lepra wird als Mangel an Entscheidung im Kampf gegen die Sünde, das Geschwür dagegen als schlechte Wünsche der Seele interpretiert55. Noch konkreter wird Origenes bezüglich des Brennens (adustio)56, das er konse( quenterweise als Begierde des Fleisches und als Lust auf Lob und weltliche Ehre darstellt. Nun sind noch zwei Symptome zu allegorisieren und zwar die Lepra des Kopfes (Aussatz der Kopfhaut)57 und der Glatzkopf58. Von der ersten Krankheit sagt Origenes, sie sei die Haltung derjenigen, welche nicht Chris( tus als höchste Autorität erkennen (Christum ut caput non habentes), son( dern nach der Lehre anderer, z.B. Epikurs, leben59. Der Glatzkopf bezeichnet dagegen die Menschen, welche nach der Reinigung der Seele immer wieder in der Sünde verfallen60. Die origenianische Predigt weckt den Eindruck eines erfahrenen geisti( gen Leiters, der mit großer Genauigkeit die Schwächen seiner Gläubige beschreibt. Die Vorwürfe können aber nicht nur auf Christen bezogen wer( den. Der erste kritische Punkt des Origenes ist z.B. das Weitersündigen nach der Ankunft Christi. Wir wissen, dass Origenes häufig die Ablehnung des geistigen Charakters des Gesetzes als große Sünde und sogar als Idolatrie bezeichnet. Das Problem der Erfüllung des Gesetzes in Christus und die entsprechende Deutung der Heiligen Schrift ist ein Argument, das vor allem die Auseinandersetzung mit dem Judentum betrifft. Die origenianische In(

55 56 57 58 59 60

prioris indicium aut signum aliquod erroris veteris innovetur, tunc fit in cute corporis nostri contagio leprae inspicienda per pontificem, secundum ea, quae legislator exposuit. Vgl. eine ähnlihe griechische Überlieferung bei Prokop G., zitiert nach SC 287: tI0.?# 3>+9 .I:V#6/ .I:*#, 25362E6# ;A +/#6, ] .I;_ 25362E6# +%6#*#, $::9 ++6/“ -.+> „"# +S ;A%36+/ +.? &%T+L4 oW< :A-%64“, "W’… #.3.8>+>U+6/ +9 "-/W>%13>#6. Dazu auch sel. in Lev. PG 12, 401 D: ~#MD>+6/ +6?+6 "-E +/#64 3N3.H4 +J4 XH&J4. P6= y2->% "-= +Z# +.? 2N36+.4 +%6H3M+T# 3>+9 +%6->E6# \28’j+> ‚&#.4 +.? ->-.#8A#6/ +.G4 +1-.H4 06+6:>E->+6/ "# +' 06:.H3A#† .I:'a +L# 6I+L# +%1-.# R :6g.?26 +%6?36 o36%+E64 XH&*, 0[# +,&† 8>%6->E64, .c.#>= .I:.?, Y;.U4 8>%6->E64 &%N3>#.4 -./0/:T+M+6/4 06= o%3.;E6/4 -%L4 +.G4 060Z4 \&.#+64 06= "-/06/%/T+M+6/4.

Kapitel 16

384

vorhanden sind67. In diesem Zusammenhang behauptet er auch, dass be( stimmte somatische Symptome oder Leiden als Hilfsmittel für die geistige Besserung von Gott verwendet werden68. Die Heilung betrifft dann die kör( perlichen „Entzündungen” und ihre „metaphysischen Ursachen”69. Diese Interpretation der Krankheit als geistigen, aber auch körperlichen Zustand der Seele nähert sich wesentlich der rabbinischen Auffassung von der Ver( bindung zwischen Sünde und Aussatzkrankheiten. Es fällt auf, dass die letzte Interpretation im Kommentar des Origenes zu Exodus zu finden ist und nicht, wie wir erwarten würden, im Laufe seiner Levitikus(Predigten. Ist dies vielleicht ein Problem der Überlieferung oder eher ein taktisch durchdachter Schritt, der Origenes erlaubt, sich von der rabbinischen Ausle( gung zu distanzieren?

Reinigungsmittel Der biblische Text beschreibt nicht nur, in welchen Fällen jemand als Lepra( kranker und unrein zu bezeichnen ist, sondern auch durch welche Riten er wieder gereinigt werden kann. Unter diesen Riten fallen vor allem Opfer(, Buß( und Wohltaten. Es ist interessant zu untersuchen, wie diese Praxis in den Augen der Exegeten aussieht. Origenes versteht die Reinigungsopfer genauso wie den restlichen Opferkult als im Selbstopfer Christi erfüllt und endgültig aufgehoben. Was die Buß( und Wohltaten betrifft, die für die Rei( nigung benötigt werden, zeigt sich Origenes etwas kompromissbereiter gegenüber der alttestamentlichen Praxis. Fundamental bleibt für ihn aller( dings die innerliche Bekehrung. Die komplizierten Reinigungsriten legt Origenes ausführlich in der ach( ten Homilie zu Levitikus aus. Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich,

67

68

69

Vgl. Ibid. B C: +Z# ;_ +J4 8>%6->E64 Y;Z#, 6c 3_# >72/# "-= -:>U.#, 6c ;_ "-’\:6++.# -1#.H4 06= g62M#.H4 "3-./.?26/ +.U4 >74 ‚62/# $D.3A#./4a -M:/# +’6Q g.58*36+6 [...] –6%+H%/Z# ;_ +Z# >74 Š062+.# -:*%54 -r26 R 8>1-#>H2+.4 §%6W*, 20H8%T-.+A%T# g.5853M+T# "-= -:>U.# ] \:6++.# $#6D>D%633A#T# D>D.#A#6/ +S :6S 06= 2H3g>g50A#6/ 6I+S i-_% "-/2+%.WJ4 06= ;/T%8N2>T4. In Exodum Tomoi, PG 12, 272 A: ±2->% ;_ "-= +/#T# 2T36+/0Z# -6853M+T#, >74 gM8.4 +.?, }#6 .e+T4 >‚-T, 0>&T%501+.4 060.?, Y 76+%L4 >74 +-94 "3-./Z# 06= ;/./;*2>/4, 06= -1#.H4 -:>E.#64 K# >V&A +/4 -%=# "-= +L 8>%6->H8J#6/ Y;>?26/. Vgl. ibid. 272B.

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385

seine umfangreiche Exegese hier zu analysieren. Deswegen werden wir hier nur einige Punkte seiner Exegese erwähnen, die uns erlauben, die Logik und die theologische Deutung der rituellen Reinigungen bei Origenes zu verste( hen. In den zwei Hühnern (Lev 14:7), die zur Reinigung genommen werden (geopfert werden müssen), findet Origenes eine Analogie zu anderen alttes( tamentlichen Bußriten. Ähnlich wie beim Ritus der zwei Böcke, wird auch hier ein Huhn ins freie Feld entlassen, das andere dagegen geopfert70. Ori( genes findet hier offensichtlich eine Ähnlichkeit in den Reinigungsriten des Alten Testaments, wo ein Opfertier mit der Krankheit oder Schuld belastet und weggeschickt wird, das andere dagegen als Dankopfer dargebracht wird. Das Tier, das mit der Sünde belastet wird, nimmt Origenes immer wieder als Figur der Erlösung oder des Erlösers an. Auch das zweite, geop( ferte Huhn versteht Origenes als Typos Christi und bezieht alle Details der Opferung auf die Passionsgeschichte: Die Tatsache, dass auch Zedernholz benötigt wird, verbindet Origenes mit dem Kreuz Christi und seiner Erlö( sungsmacht. Karmesin erinnert nach Origenes an das Blut Christi, während der Ysopzweig besondere Reinigungswirkungen hat. Hier, bezüglich des Zweiges, finden wir auch zum ersten Mal bei Origenes einen Hinweis auf die antike Medizin, indem er annimmt, in der Brust des Menschen könnten sich schädliche Flüssigkeiten (humores) sammeln71. Origenes gibt sich mit einer einfachen Allegorie der Reinigung nicht zu( frieden und fügt unterschiedliche Stufen der Reinigung und des reinen Zu( standes ein. Das Waschen der Kleider ist selbstverständlich ein Bild der Reinigung der Seele72. Das Gleiche gilt auch für die Rasur aller Haare des Geheilten73: sie gilt als Zeichen der schon überwundenen Sünde74. Nach

70 71

72 73 74

Vgl. hom. in Lev. 8.10. Vgl. Ibid.: Igitur tamen ad emundationem leprae huius etiam coccum tortum sociatur et hyssopum. Cossum tortum figuram sacri sanguinis continet, qui de eius latere per lanceae vulnus exortus est. Et hyssopum. Hoc genus herbae naturam habere medici ferunt, ut diluat et expurget, si quae illae pectori hominum sordes ex corruptione noxii humoris insederint. hom. in Lev. 8.11 zu Lev 14:8. Vgl. ibid. Ibid. Wichtig ist zu betonen, dass Origenes die Haare nicht allgemein als Bild der sterbli chen Natur betrachtet. Er bemerkt, dass bei den Heiligen die Haare nicht geschnitten und noch weniger rasiert werden. In diesem Falle versteht er unter „Haaren“ alle Taten und das

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Kapitel 16

dieser Vorstellung sind die Nägel und die Haare (tote Natur) Symbol all dessen, was mit Untreue gegenüber dem christlichen Glauben verbunden ist75. Im weiteren interpretiert Origenes die Nägel, zusammen mit den Haa( ren allegorisch als Symbol der falschen Ideen und der Sterblichkeit. Das führt ihn konsequent zu einem polemischen Schluss gegen jede mögliche buchstäbliche Interpretation des Textes. Seine imaginären Gegner werden in der lateinischen Übersetzung einfach „Iudaei“ genannt. Die Argumentation des Origenes kann als reductio ad absurdum bezeichnet werden, welche den biblischen Text nicht nur als unwürdig, sondern auch als unmöglich in sei( ner buchstäblichen Bedeutung darstellen soll76. Die dritte Stufe der Reinigung (nach der Bekehrung und der Korrektur des Verhaltens) ist die Reinigung des Körpers, welche der biblische Text befiehlt77. Das erste Opfer, das der Geheilte selbst darbringen darf, ist für Origenes ein Bild der Tugend, durch die der Mensch sich bekehrt, und Buße, durch die er weiter gerecht leben kann78. Die fünfte Stufe besteht im Darbringen von Speiseopfermehl und in der Ölung durch den Priester79. Während Origenes das Speiseopfermehl als Allegorie der Barmherzigkeit versteht, interpretiert er die Salbung als Emp( fang des wahren Wissens. Den Umstand, dass der Priester explizit das Ohr, die Hand und den Fuß des Geheilten salbt, bezieht Origenes auf die rechte Doktrin, die guten Wer( ke und den richtigen Weg des Gläubigen80. Die siebenfache Versprengung des Öls, die der Priester vornehmen soll, verbindet Origenes mit der Ver(

75 76 77 78 79 80

gesamte Verhalten der Person. Emblematisch dafür, wie Origenes bestimmte Körperteile und vor allem die Haare allegorisch interpretiert, ist seine Auslegung von Deut 21:10 13. Der biblische Text betrifft die unterschiedlichen Riten, die zur Reinigung einer hübschen Gefangenen nötig sind, damit ein Israelit sie zur Frau nehmen darf. Dabei wird Nägel und Haareschneiden vorgeschrieben. Origenes versteht unter dem Bild der schönen Gefange nen die Philososphie. Vgl. hierzu H. Crouzel, Origène et la Philosophie, in Théologie 52, Paris 1962. hom. in Lev. 7.6. Vgl. ibid. Lev 14:9. hom. in Lev. 8.11. hom. in Lev. 8.11. Lev 14:18, hom. in Lev. 8.11.

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treibung von sieben Dämonen durch Christus (Lk 11:26)81. Später allegori( siert Origenes die Versprengung des Öls als die Gnade des Heiligen Geis( tes82. Am Ende dieser langen und komplizierten Interpretation der Reinigung von Lepra und Aussatzkrankheiten können wir zusammenfassen, dass die origenianische Auslegung ein genaues Modell des Mechanismus der Bekeh( rung von der Sünde und der Reinigung der Seele darstellt. In diesem hat Origenes Modelle aus der jüdisch(hellenistischen Literatur benutzt, die aber nicht so stark an der psychologischen Dimension der Problematik orientiert waren. Origenes erkennt keinen eigenen Wert der wörtlichen Bedeutung des biblischen Berichtes zu. Wir werden als Nächstes versuchen, die rabbinische Auslegung der Frage darzustellen und eventuelle Analogien zu identifizie( ren.

Die Rabbinen zur Frage der Unreinheit durch Lepra Wir haben schon in der Einleitung zur Auslegung der rituellen Reinheiten auf die Entwicklung des rabbinischen Verständnisses von Unreinheiten hingewiesen. Die Unreinheit, die ursprünglich als rein ontologischer Zu( stand verstanden wurde, bekommt in späteren Texten einen moralischen Hintergrund. Es wird angenommen, dass bestimmte körperliche Unreinhei( ten eine moralische Ursache haben können. Wir haben damals auf Klawans Beobachtung hingewiesen, dass die meisten Beispiele einer derartigen mora( lischen Auslegung in Levitikus Rabba zu finden sind. Diese konzentrieren sich hauptsächlich auf die Lepra. Charakteristisch für diese Auslegung sind die Verbindung zwischen Lepra und Sünde, die Auffassung von Gott als Arzt, und die Konzeption, dass die Buße ein Reinigungsmittel sein kann. Trotz scheinbarer Ähnlichkeit mit der origenianischen Allegorie, zeigen sich bei den Rabbinen einige inhaltliche Unterschiede, so z.B. bei der Verbindung zwischen Krankheit und Sünde, bei der die Krankheit einfach als Strafe für bestimmte Sünden verstanden wird. Die Strafe besteht dann nicht nur in der Erkrankung der Person, die gesündigt hat, sondern auch in ihrem unreinen Zustand in Folge der Erkrankung. Als Mirjam wegen ihrer Verleumdung

81 82

Vgl. ibid. Vgl. Hom. in Lev. 8.11.

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mit Lepra bestraft wird, muss sie sieben Tage lang außerhalb des Lagers bleiben. Es handelt sich um eine moralische Ursache ritueller Unreinheit. Die Realität dieser Unreinheit genauso wie die Realität der Krankheit, wird bei den Rabbinen (anders als bei Origenes) nie in Frage gestellt83. Während Origenes die Lepra allegorisch als geistigen Zustand des Sünders versteht, ist diese für die Rabbinen ein somatischer Zustand der Unreinheit, dessen Ursache „geistig“ ist. Mit der Frage nach der moralischen Ursache der Un( reinheit durch Lepra sind noch weitere Aspekte verbunden, die typisch für die rabbinische Theologie sind. So wird z.B. die rabbinische Lehre von den Verdiensten wieder ins Spiel gebracht. Die Verdienste bestimmter Gerechter werden als eine Art Immunität verstanden, die ihre Wirkung auf einige Generationen ausübt. Charakteristisch ist auch das rabbinische Verständnis der Entsprechung zwischen Sünde und folgender Unreinheit. Die Lepra ist eine Folge ganz bestimmter Sünden, welche von der schlimmsten, der Ido( latrie beginnend, unterschiedliche weite Bereiche des moralischen und reli( giösen Lebens des Menschen umfassen: sexuelle Abstinenz und Keuschheit in der Ehe, Mord, Eitelkeit, Streben nach Ehre und Lob, Beschimpfung des Namens Gottes. Die gleichen Sünden wurden auch von Origenes in Bezug auf die Lepra erwähnt. Während Origenes allerdings die Symptome der Krankheit als Allegorie dieser Taten und Laster versteht, sind diese dagegen nach den Rabbinen Folge bestimmter Sünden. Logisch bietet sich dann die Auffassung von der Buße als richtigem Reinigungsmittel an. Die Analogien zwischen origenianischer und rabbinischer Exegese zu diesem Punkt sind, dank der delikaten historischen Situation, besonders groß. Da die Rabbinen nicht mehr auf äußerlichen Praktiken wie Opfer hinweisen können, konzentrieren auch sie sich mehr auf die innerliche Bekehrung und Buße. Ein weiterer interessanter Punkt ist die Allegorie Gott/Arzt. Hier hatte Origenes häufig auf die Figur Christi hingewiesen und vor allem auf die durch ihn erworbene Erlösung als das wahre Heilmittel. Die Rabbinen spre( chen auch von Gott als himmlischem Arzt, dieser Aspekt betrifft aber vor allem die eschatologische Perspektive.

83

Zum gleichen Schluss kommt auch Klawans, 1997, 14.

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Die Verbindung zwischen Lepra und Sünde Schon die ersten medizinischen Beobachtungen über die Leprakrankheit sind in Levitikus Rabba mit der Auffassung von Sünde verbunden. So wird z.B. im dreizehnten Kapitel von Levitikus Rabba gesagt, dass die Lepra eine Störung der Balance zwischen Blut und Wasser im menschlichen Organis( mus sei. Die Rabbinen behaupten dann, dass bei einigen Sünden das Blut über das Wasser dominiere, was zur Lepra führe (es wird ebenfalls behaup( tet, dass bei anderen Sünden die Menge des Wassers über die des Blutes überstiege)84. Hier interessiert uns nicht die merkwürdige medizinische Deutung, sondern die Tatsache, dass als Ursache der Lepra eindeutig die Sünden angenommen werden, und zwar ganz bestimmte Sünden. Die Rab( binen postulieren damit eine psychosomatische Entsprechung zwischen bestimmten Verstößen und bestimmten Krankheiten. Im Folgenden wollen wir genauer klären, welche Sünden zu einer Lepraerkrankung führen kön( nen. Zuerst ist hier die mangelhafte Keuschheit zu erwähnen. Es wird z.B. erklärt, dass Kinder an Lepra erkranken, deren Eltern gegen das Gesetz verstoßen haben, indem sie z.B. während der Periode der Frau Geschlechts( verkehr hatten85. Diese Auffassung, dass die Sünden oder Verdienste einer Generation auf eine andere wirken können, findet sich in den Midraschim häufig. Mangel an Keuschheit und ritueller Abstinenz findet sich auch in der schon erwähnten Liste der schweren Sünden, welche nach den Rabbinen Lepra als Bestrafung nach sich ziehen, unter denen Idolatrie, Blutvergießen, Schande des Namens Gottes, Fluch des Namens Gottes, Raub, Anspruch auf unverdiente Würde, Streben auf Ehre, Verleumdung und Gier erwähnt werden86. Mord und Verleumdung gehören auch im folgenden Text zu den Sünden, die mit Lepra bestraft werden: R. Tanhuma sagte: weil sie [die Israeliten] spotteten hinter der Bun( deslade, indem sie sagten „Diese Bundeslade tötet ihre Träger“ und so kommen die Plagen nicht anderswoher als durch die üble Nach(

84 85 86

LevRab XV.2. LevRab XV.5. LevRab XVII.3

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390

rede. Aufgrund dessen wurde Israel zu Aussatz und Lepra verur( teilt87. In einer anderen Liste, die sieben Lepraursachen enthält, werden die folgen( den Sünden erwähnt: die Anstiftung zur Uneinigkeit unter Brüdern, stolze (hohe) Augen, eine lügenhafte Zunge, das Vergießen vom unschuldigen Blut, ein Herz, das unheilvolle Gedanken pflegt, Füße, die dem Bösen nach( eilen, das Verbreiten von Lügen88. Mord, Verleumdung, schlechte Gedanken und Absichten gehören also konsequent zu den Sünden, die durch Lepra bestraft werden. In dieser Liste fehlen allerdings die größten Sünden, die wir im ersten Katalog gefunden haben: Idolatrie, Schande und Fluch des Na( mens Gottes. Bei den moralischen Ursachen der Lepraunreinheit sind also zwei Typen zu unterscheiden: einige Sünden, die konkret die Moral der Person in ihren Beziehungen zu den Anderen betreffen, und andere Sünden, welche sich gegen die Grundlagen des Glaubens richten. Die breitere Liste erfasst Verstöße gegen alle zehn Gebote. Die „kürzere“ Liste der Sünden, die zur Lepra führen, erfasst nur moralische Vergehen. Wir merken an, dass mehrere der hier erwähnten Sünden bei Origenes als Phasen der Sünde beschrieben werden. Origenes betrachtet die Sympto( me der Krankheit als direkte Allegorien der Sünden. Bei ihm fehlt die Auf( fassung von ritueller Unreinheit komplett (abgesehen vom Kontext des geis( tigen Kultes im Herzen wofür die Seele durch die Sünde unrein wird). Die rituelle Unreinheit ist für die Rabbinen, unabhängig von ihrem Ursprung, eine Tatsache. Diese Betonung der somatischen rituellen Unreinheit fällt in den Midraschim deutlich auf. Wenn wir bedenken, dass einige andere Wer( ke, wie die Mischna überhaupt vermeiden, von den moralischen Gründen der Lepraerkrankung zu sprechen, bekommen wir den Eindruck, dass es den Rabbinen besonders wichtig war, die somatische Komponente der Un( reinheit zu betonen. War das etwa eine Antwort auf die sich immer breiter entwickelnde christliche Exegese im geistigen Sinne? Ich glaube, man darf

87

88

LevRab XVIII.4: .("$9(3 !$ *%(1 1; '(%$ :/"%)($( '(%$1 "%.$ '";"-) ("1# "+" -0 :%)($ $)(.3! ’A .!0%2( !(&";& -$%9" (&".!3 85- ,0%1 '(#- -0 $-$ /"$& /"0*3 '"$( Siehe auch Sifra Ahari Mot, 4, (Weiss) 81,1 d, zitiert und kommentiert von Klawans, 1997, 13. LevRab XVI.1, benutzt wurde auch Wünsches Übersetzung, Der Midrasch Vajikra Rabba, Leipzig, 1881, 102 103.

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hier ruhig positiv antworten. Wir bemerken auch innerhalb der rabbinischen Auslegung eine bestimmte Entwicklung. Die tannaitischen Texte sind be( sonders konservativ auf die wörtliche Auslegung ausgerichtet. Die amoräi( schen Midraschim dagegen zeigen eine Öffnung zu den so genannten „mo( ralischen Unreinheiten“. In der Zeit ab dem dritten Jahrhundert war die etablierte christliche Exegese schon eine Tatsache, es ging wahrscheinlich darum, zu vermeiden, dass die moralischen Unreinheiten oder Reinheiten eine typisch christliche Charakteristik würden. Die Rabbinen nahmen daher ganz vorsichtig eine Position an, welche der philonischen Einstellung ähn( lich ist: die Sünde als Grund für Unreinheit zuzugeben, ohne damit die kör( perliche Manifestation dieser Unreinheit abzulehnen.

Historische Allegorien der Lepra bei den Rabbinen Es wäre falsch mit Klawans zu behaupten, es gäbe keine allegorischen oder metaphorischen Auslegungen der Lepra in den rabbinischen Texten. Diese sind zwar nicht in der Richtung, die wir von Origenes kennen und erwarten würden, sie sind auch nicht speziell für die Lepra entwickelt worden, aber die Rabbinen kennen die Unreinheit durch Lepra als echte literarische Me( tapher. Es handelt sich um die allegorische Darstellung der Feinde Israels, in diesem Falle unter dem Symptom der Leprakrankheit. Wenn es sich im vorherigen Punkt um eine Verbindung zwischen Sünde und Lepra handelte, die aber auf keinem Fall als allegorisch bezeichnet werden konnte, handelt sich hier um eine tatsächliche Allegorie der Lepra. Diese Interpretation ist keine Allegorie der Lepra als Bild der Sünde oder des sündigenden Zustan( des der Seele, sondern eine Anspielung auf die Sünden der Feinde Israels gegen das Volk Gottes. Wenn es sich bei Origenes um eine feine psychologi( sche Beschreibung der Zustände der sündigenden Seele handelte, bemerken wir bei den Rabbinen eine „historische“ Allegorie der Lepra. Die erwähnten Feinde sind wieder Babylonien, Medien, Griechenland (die hellenistischen Staaten) und an der Spitze der Klimax steht natürlich Rom89. Es fällt auf, dass wieder auf den Ursprung Roms aus Isaak hingewie( sen wird. Die Feindlichkeit Roms gegen Israel wird als Hass zwischen Brü( dern empfunden, als eine Art Lepra, die sich auf dem eigenen Körper bildet.

89

LevRab XV.9.

Kapitel 16

392

Wir sollten nicht vergessen, dass eine der moralischen Ursachen der Lepra die Anstiftung von Uneinigkeit zwischen Brüdern war. Die allegorische Interpretation der Feinde Israels als Symptom der Krankheit stellt inhaltlich nichts originelles zum Thema „Lepra und Aussat( zunreinheit“ dar. Interessant ist aber, dass eine solche Metapher überhaupt bezüglich der Lepra benutzt wurde. In ihrer systematischen Allegorisierung der Krankheit ist die rabbinische Methode der origenianischen sehr ähnlich. Statt der Sünden der Seele werden die Sünden der feindlichen Völker er( wähnt. Allerdings ist die formale Ähnlichkeit wesentlich größer als die in( haltliche. In jedem Fall müssen wir betonen, dass eine solche historische Allegorie bei Philo nicht zu finden ist. Sie wäre ihm ja wahrscheinlich nicht „geistig“ genug erschienen. Also hatten die Rabbinen den Mut, die Lepra allegorisch auszulegen. Diese Entwicklung innerhalb der rabbinischen Aus( legung hat sicherlich nicht ohne die Beispiele der christlichen Exegese statt( gefunden, deren Form die Rabbinen an den gewünschten Inhalt angepasst haben.

Gott als eschatologischer Hohepriester und Arzt nach den Rabbinen Auch in der Interpretation der Funktion Gottes als eschatologischen Priester und Arzt finden wir in der rabbinischen Auslegung wesentliche Ähnlichkei( ten zur origenianischen Interpretation. Die Tatsache selbst, dass eine solche Allegorie angenommen wird, ist schon symptomatisch. So heißt es etwa in Levitikus Rabba, dass in dieser Welt der Priester auf Lepra untersucht, dass es in der zukünftigen Welt aber Gott selbst es tun wird90. Gott wird als eschatologischer Priester und damit Arzt dargestellt. Dies ist der origenianischen Auffassung von Christus als medicus besonders nah. Diese rabbinische Auslegung entspricht auch der Vorstellung von Christus als eschatologischem Hohepriester. Weitere Auslegungen verbinden den Vers „Wenn ihr in das Land Ka( naan kommt, das ich euch zum Besitz gebe, und ich lasse an einem Haus des Landes, das ihr besitzen werdet, Aussatz entstehen“ (Lev 14:34) mit dem Tempel, der im heiligen Land gebaut wurde,. Weiterhin wird auch auf die Idolatrie hingewiesen, welche als Aussatz dargestellt wird91. Die weitere

90 91

Vgl. LevRab XV.9. Vgl. LevRab XVII.7.

Interpretation des Reinheitsgesetze

393

Verfahrungsweise mit dem Haus, in dem Aussatzerkrankungen entstehen, dies im biblischen Text befohlen wird, weist nach den Rabbinen auf die Zerstörung des Tempels durch Nebukadnezar92. Nun ist dies auch eine feine Anspielung auf die Wirkung Gottes, der wie ein Arzt Heilmittel für die Unvollkommenheit anbietet. Die Rabbinen lassen allerdings, im Unterschied zu Origenes, die Erlösung und die Vergebung der Sünde nicht zu den Heil( mitteln Gottes zu. Es werden nur Anspielungen auf die Bestrafung gemacht. Es ist zudem zu bemerken, dass nur sehr wenige Texte explizit von Gott als Arzt sprechen und diese sich dann auf die eschatologische Medizin Gottes konzentrierten. In diesem Sinne ist eine Allegorie von Krankheit/Sünde und Gott/Befreier von der Sünde immanent, sie kommt aber nur in eschatologi( schem Sinne zum Ausdruck. Vielleicht bestand der Grund hierfür darin, dass die christliche Exegese Christus traditionell in seiner Funktion als Arzt darstellte. Selbst die neutestamentlichen Texte überliefern eine Reihe von Heilungserzählungen, bei denen die Vergebung der Sünde eine zentrale Rolle spielt. Damit ist die Übernahme dieser Allegorie durch christliche Exegeten (natürlich auch durch Origenes) mehr als selbstverständlich. Es ist damit nicht auszuschließen, dass die Rabbinen sensibel für die Frage waren und es deswegen gezielt vermieden, ähnliche Allegorien anzunehmen. Nach dieser Analyse können wir festhalten, dass einige rabbinische Konzepte sich der origenianischen Auslegung nähern. Die Verbindung zwi( schen Sünde und Lepra fällt hierbei besonders auf. Bei Origenes ist die Krankheit in sich allegorisiert, während sie bei den Rabbinen als „materiel( le“ Strafe für bestimmte (sehr schwere) Sünden verstanden wird. Die Funk( tion des Priesters, der bei der Feststellung der Krankheit und bei der Reini( gung von ihr eine zentrale Rolle spielt, muss an die neuen historischen Be( dingungen angepasst werden, was bedeutet, dass sie auf das eschatologi( sche Priestertum Gottes bezogen wird. Hier nähern sich die Rabbinen wie( der dem Origenes, der eine sehr konsequente und überzeugende Interpreta( tion Christi als Arzt vornimmt. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die Rabbinen die origenianische Interpretation als Grundlage für ihre spirituali( sierte Auslegung benutzt haben. Ähnliche Anleihen haben wir schon in anderen Fällen (etwa bei der Auslegung des Opferkultes) vermutet. In die(

92

Vgl. Ibid.

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Kapitel 16

sem Sinne ist die Levitikus(Auslegung des Origenes besonders wichtig für unsere Untersuchung der Auslegung des Pentateuchs.

Die Unreinheit nach der Geburt Eine weitere Form von Unreinheit, welche die Rabbinen moralisch deuten und welche deswegen interessant für unsere Untersuchung zu sein scheint, ist die Frage nach dem unreinen Zustand der Frau nach der Geburt. Interes( sant ist, dass bei den Rabbinen der Akzent auf dem sündhaften, unreinen Zustand des Kindes und nicht der Mutter liegt. Die Vorstellung, dass das Neugeborene die Unreinheit in sich hat, kommt in halakhischen Texten wie Sifre zum Levitikus vor, und zwar in Verbindung mit dem Reinigungsopfer der Familie93. Dass diese Unreinheit von den Rabbinen nicht einfach als Folge der Geburt, sondern als Konse( quenz der allgemeinen Unreinheit der menschlichen Natur verstanden wird, ergibt sich von der Diskussion über die Wirkung der Geburt eines toten Kindes94. Wenn der Unreinheitsgrund die biologische Geburt wäre, hätte sich die Frage wohl überhaupt nicht gestellt. Eine solche Diskussion kann nur dann entstehen, wenn eine Verbindung zwischen menschlichem Leben und Unreinheit besteht. Auch in Levitikus Rabba finden wir ganz deutliche Hinweise auf die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur und des neugebo( renen Kindes95. Diese braucht einen Reinigungsritus. Die Behauptung, das Kind brauche gleich nach der Geburt eine Verbesserung (oder Reinigung) stößt bei den Rabbinen auf keine Schwierigkeiten. Sie haben nämlich eine ganz klare Vorstellung von Schöpfung und ihrer Fortsetzung durch die göttlichen Befehle. Die Gesetzgebung ist der Rahmen, in dem sich die Schöp( fung weiterentwickeln kann. Speziell im Falle der Unreinheit nach der Ge( burt überlegen die Rabbinen, warum die entsprechenden Vorschriften erst nach der Vorschriften über reine und unreine Tiere etc. stehen, wenndoch der Mensch der wichtigste ist. Die Antwort ist ganz klar: ebenso wie bei der Schöpfung zuerst die ganze Tier( und Pflanzenwelt und erst danach der

93 94 95

Vgl. Sifra, Halachischer Midrasch zu Levitikus, übersetzt von J. Winter, Breslau 1938, Perek XII, 321 322. Vgl. ibid. LevRabXIV.5.

Interpretation des Reinheitsgesetze

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Mensch geschaffen wurde, so werden auch bei der Gesetzgebung zuerst die Vorschriften über die Reinheit anderer Wesen und nur zuletzt diese bezüg( lich des Menschen erklärt96. Zwischen Schöpfung und Gesetzgebung gibt es damit eine völlige Entsprechung: in ihrem inneren Sinne, als auch in der Reihenfolge. Die Entstehung des Kindes wird als exemplarisch für die Auf( erweckung der Toten verstanden. Nach der Schule Hillels werden die Orga( ne der Toten genau nach der gleichen Ordnung wiederbelebt, wie sie im Mutterleib gebildet sind, während die Schule Schammais eine andere Mei( nung vertrat: die Organe würden bei der Auferstehung in umgekehrter Ordnung wiederbelebt97. Die Geburt und die Reinigungsriten werden so als wichtiges Element der Fortsetzung des Plans Gottes und als Voraussetzung für die Wiederherstellung der Ordnung in der Schöpfung verstanden. Sehr wenige Auslegungen beziehen das Opfer nach der Geburt auf den Zustand der Mutter. Diese sprechen allerdings nicht von einem Reinigungs(, sondern von einem Lobopfer der Frau, da Gott den Embryo in ihr aufbewahrt hat98. Origenes tendiert in seiner achten Homilie zu Levitikus ebenfalls dazu, die Unreinheit auf den Zustand des Kindes gleich nach der Geburt zu bezie( hen. Diesen unreinen Zustand verbindet Origenes mit der sündhaften, fleischlichen Natur des Menschen99. Dass Origenes Körperlichkeit und Sün( de sehr eng verbindet, kennen wir von seiner Schöpfungsexegese100. Es geht hierbei um die ontologische Unreinheit der Menschheit, von der man aller( dings durch die Taufe gereinigt werden kann. Die Tatsache, dass kleine Kinder getauft werden, ist für Origenes der beste Beweis, dass sie ein Reini( gungsritual brauchen101. Diese Interpretation genügt Origenes aber nicht, um den unreinen Zustand der Frau nach der Geburt und vor allem seine Dauer zu erklären. Es folgt eine rein allegorische Interpretation, welche die Tage der Unreinheit mit dem irdischen Leben und die Frau mit der schwa(

96 97 98 99 100 101

LevRab XIV.1. LevRab XIV.9. LevRab XIV.2. Vgl. hom. in Lev. 8.3. Vgl. Kapitel 2. Vgl. hom. in Lev. 8.3: Addi his etiam illud potest, ut requiratur, quid causae sit, cum Bap tisma Ecclesiae pro remissione peccatorum detur, secundum Ecclesiae observantiam etiam parvulis baptismum dari; cum utique, si nihil esset in parvulis, quod ad remissionem debe ret et indulgentiam pertinere, gratia baptismi superflua videretur.

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chen Natur verbindet102. Diese Auslegung eignet sich schlecht für einen Vergleich mit den rabbinischen Interpretationen und wird deswegen hier nicht weiter analysiert. Auch bezüglich der Unreinheit nach der Geburt sind also Analogien festzustellen, v.a. die Betonung der Unreinheit des Neugeborenen. Diese Thematik findet sich in den rabbinischen Texten oft in Verbindung mit der Beschneidung des Kindes. Die Behauptung, dass diese als Reinigungsmittel auch für die Unreinheit der Mutter dienen kann, ist eher untypisch. Auch hier ist der Einfluss der christlichen Exegese, welche die ontologische Un( reinheit vor der Taufe betonte, nicht ausgeschlossen, allerdings nicht be( weisbar.

102 Ibid.

Kapitel 17. Interpretation des Versöhnungstags Einleitung Das Thema dieses Kapitels betrifft einen der wichtigsten Aspekte jeder Theologie: die Frage nach der Versöhnung. In diesem Falle möchten wir ganz konkret von der Tradition und Transformation der Vorstellungen von Buße und Sühne bezüglich des Versöhnungstages sprechen. Die Problema( tik der Versöhnung im jüdischen und christlichen Verständnis und die christliche Deutung des Versöhnungstages ist ein sehr weitreichendes und schwieriges Thema, das Objekt vertiefter Untersuchungen gewesen ist, wie die von Stökl Ben Ezra verfasste Dissertation über „The Impact of Yom Kippur on Early Christianity“1 zeigt. Im Rahmen meiner Arbeit, die sich mit der In( terpretation sehr verschiedener Themen aus dem Pentateuch beschäftigt, ist mir nur möglich, wenige Aspekte der komplexen Problematik darzustellen. Der Versöhnungstag hat eine zentrale Bedeutung im jüdischen religiö( sen Leben als die alljährliche besondere Gelegenheit für Buße und Sühne. Die Interpretation des Festes in den ersten Jahrhunderten n.Chr. erscheint aus mehreren Gründen sehr interessant. Aus jüdischer Sicht wurde der Ver( söhnungstag, genauso wie alle andere Praktiken, die mit Opfer( und Tem( pelkult verbunden sind, nach der Tempelzerstörung sehr problematisch. Einige liturgische Aspekte mussten neu gedeutet werden. Das Fest verlor so nicht an Bedeutung, aber viel von seinem rituellen Aspekt. Auch für die christlichen Exegeten war die Deutung des Versöhnungs( tages eine Herausforderung. Es war zu erwarten, dass sich die christlichen Autoren der ersten Jahrhunderten n. Chr. systematisch mit der Frage nach der Buße im Alten Testament auseinandersetzten und sich um eine rituelle Substitution des Festes bemühten. Genau hier liegt auch die Besonderheit der christlichen Exegese: das Fehlen jeder liturgischen Ersetzung des Ver( söhnungstags2. Wie G. Stroumsa festgestellt hat, ist der Grund dafür wahr(

1 2

D. Stökl Ben Ezra, The Impact of Yom Kippur on Early Christianity, Tübingen 2003. Förscher wie Stökl Ben Ezra, 2003, 290 329, v.a. 294 302 und M. Fraser, Constantine and the Encaenia, Thesis Durkham University, 1995 und unter dem gleichen Titel in Studia Patristi ca 39, Leuven 1997, 25 28 haben die Einführung einiger christlicher Herbstfeste (vor allem das Fest der Kreuzerhöhung) als beabsichtigte Alternativen des jüdischen Yom Kippur ver standen. Dabei werden auch bestimmte rituelle Elemente der Feste erwähnt, welche dem Yom Kippur Ritual ähnlich sind. Es ist durchaus plausibel, dass ein Substitut für die wei

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scheinlich die spezifische christliche Auffassung von Buße3. Diese wird hauptsächlich als innerliches Bedürfnis jedes Einzelnen verstanden, was die öffentliche Dimension des jüdischen Versöhnungstags, an dem das ganze Volk teilnimmt, unnötig macht. Dazu kommt noch die strenge innerliche Disziplin, welche zu häufigen Gewissensüberprüfungen und Buße führt, so dass Letztere ständig und nicht nur einmal pro Jahr praktiziert wurde. Die( ser geistige Aspekt der Praxis war allerdings in hellenistisch(jüdischen Krei( sen durchaus geläufig. Wenn Philo vom Versöhnungstag spricht, betont er immer wieder die innerliche Buße, die mit Fasten und Abstinenz verbunden ist4. Philo allegorisiert den Eingang des Hohepriesters in das Allerheilige als ein geistiges Treffen des Weisen mit Gott5, oder als den Logos, der in die Welt kommt6. Selbst wenn wir annehmen, dass die mystische Interpretation wohl nicht allen Gläubigen vertraut war, so ist durchaus anzunehmen, dass die moralische Ebene des Festes (innerliche Bekehrung und Buße) in der Diaspora das Hauptelement der Feiers des Versöhnungstags darstellte. Wei( terhin besteht das Problem, dass die Mehrheit der christlichen Autoren das im Hebräerbrief (dessen paulinischer Ursprung damals nicht in Frage ge( stellt wurde) zu findende Modell einer christlich gedeuteten Exegese von Yom Kippur benutzen und damit kaum noch Bezug auf den alttestamentli( chen Text Lev. 16 nehmen7. Diese typologisch(christologische Deutung vom

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4 5 6 7

terlebende und für viele Christen sehr anziehende Praxis des Versöhnungstags gesucht wurde. Es handelte sich aber wohl um rein rituelle Substitute und nicht um Feiern, die in haltlich den Veröhnungstag ersetzen sollten. Dazu sollte man bemerken, dass diese Feste erst ab dem vierten Jahrhundert, d.h. in nachorigenianischer Zeit eingeführt wurden. Vgl. G. Stroumsa, From Repentance to Penance in Early Christianity: Tertullian’s de Paenitentia in Context, in J. Assmann / G.G. Stroumsa (Hg.), Transformation of the Inner Self in Ancient Re ligions, Leiden 1999, 167 178, besonders 169 170. Vgl. spec. 2.193 202, zur philonischen Interpretation des Versöhnungstags vgl. Stökl Ben Ezra, 2003, 107 114. Vgl. somn. 1.215. Vgl. Mos. 2.95. Vgl. D. Stökl, The Biblical Yom Kippur, the Jewish Feast of Day of Atonement and the Church Fathers, in Studia Patristica 34, Leuven 2001, 493 502.

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Versöhnungstag ist schon vor Origenes ein fester Bestandteil der christlichen Auslegung8. Einige rituelle Aspekte des Versöhnungstags könnten in der christlichen Taufe wiedererkannt werden, es handelt sich allerdings um einen einmali( gen Ritus, der eher mit der Einweihung in die Religion verbunden ist9. Das alljährliche Fest der Versöhnung muss aber die Christen in besonderer Wei( se beeindruckt haben, obwohl einige wichtige rituelle Elementen aufgrund des fehlenden Tempels in der Zeit des Origenes nicht mehr praktiziert wur( den. Trotzdem beschwert sich Origenes, wie wir sehen werden, über seine Mitbrüder, die gerne am Yom Kippur teilnehmen und das jüdische Fasten einhalten. Die Faszination der christlichen Gemeinde für die jüdischen Feste sollte noch länger nach Origenes dauern, wie die Polemik des Chrysostomos gegen „die Judaisierten“10 zeigt. Das Problem stellt sich Origenes als echte Herausforderung. Er ist nicht nur bemüht, die christologische Allegorie des Sühnebocks nach dem Hebräerbrief zu erklären, sondern auch immer mehr die moralische Komponente der Observanzen zu betonen. Der Exegese des Versöhnungstags widmet Origenes einen großen Teil der neunten Homilie zu Levitikus und Teile der dreiundzwanzigsten Homilie zum Buch Numeri.

Der Versöhnungstag und das Selbstopfer Christi Die Typologische Auslegung des Sühnebocks ist vom Hebräerbrief ausge( hend zu einem Topos in der frühchristlichen Literatur geworden. Origenes folgt diesem Modell treu: das Selbstopfer Christi dient in seiner Erlösungs( und Sühnekraft als „materielle“ Erfüllung aller Opferriten. Dadurch wird für Origenes jede rituelle Substitution der entsprechenden alttestamentli( chen Riten, die mit Versöhnung verbunden sind, in der christlichen Liturgie unnötig11. Die Erfüllung des Versöhnungstags durch den Tod Christi ist so die Op( tik, in der Origenes seine weitere Exegese entwickeln wird. Diese Erfüllung

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9 10 11

Siehe z.B. A. Signer, Fleisch und Geist. Opfer und Versöhnung in den exegetischen Traditionen von Judentum und Christentum, in H. Heinz (Hg.), Versöhnung in der jüdischen und in der christlichen Liturgie, Freiburg 1990, 197 219, bes. 200 210. Vgl. Stroumsa, 1999. Vgl. Chrys., Iud. 4.7. hom. in Lev. 10.1.

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schließt eine Offenbarung in Allegorien ein, wodurch alle typologischen und allegorischen Interpretationen des Rituals gerechtfertigt werden. Dieses erste Zitat kann fast den Eindruck erwecken, Origenes würde einen nur symbolischen Wert des alttestamentlichen Versöhnungstags anerkennen. Dass die Versöhnung eine geistige Notwendigkeit sei, die vor der Ankunft Christi durch bestimmte Riten möglich war, nimmt Origenes problemlos an. Es ist ihm dabei wichtig zu betonen, dass dieser ganze Ritus ein Vorbild der himmlischen Realitäten sei: Einen Versöhnungstag benötigen alle, die gesündigt haben, und so gibt es zwischen den Festen des Gesetzes, welche ein Bild der himm( lischen Mysterien enthalten, eine Feier, die, wie wir gesagt haben, Versöhnungstag genannt wird12. Die Einführung und die Existenz des alttestamentlichen Festes wird so nicht abgelehnt. Darin sieht Origenes wahrscheinlich ein didaktisches Element. Die Vorstellung, dass Riten und vor allem solche, die mit Opfern verbunden sind, eine Erziehungswirkung für das israelitische Volk hatten, haben wir schon bezüglich des Opferkultes feststellen können. Elemente einer solchen Auffassung sind auch in der zehnten Levitikushomilie im Bezug auf den Versöhnungstag zu finden13. Die Aussage, dass diese Riten „himmlische“ Mysterien präfigurieren, macht deutlich, dass Origenes keinen liturgischen Ersatz, sondern die rein geistige Praktizierung als christliche Alternative anbieten will. Die Ablehnung des materiellen Ritus begründet Origenes nicht nur mit der Erfüllung des Kultes durch Christus, sondern auch mit der historischen Situation: der Zerstörung der heiligen Stadt Jerusalem, der Auflösung des Hohepriesteramtes etc.14 Alle diese Ereignisse, die zeitlich dem Tod Christi folgen, sind für Origenes zusätzliche Argumente für das

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13 14

hom. in Lev. 9.1: Die propitiationis indigent omnes qui peccaverunt, et ideo inter sollemni tates legis, quae figuras continent caelestium mysteriorum, una quaedam sollemnitas habe tur, quae dies propitiationis appellatur. Vgl. hom. in Lev. 10.1. Vgl. ibid.: Erat prius Ierusalem urbs illa magna regalis, ubi templum famosissimum Deo fuerat exstructum. Postea vero quam venit ille, qui erat verum templum Dei [...] deleta est illa terrena [Ierusalem], ubi caelestis apparuit, et in templo illo non remansit lapis super la pidem, ex quo verum templum die facta est caro Christi. Erat prius pontifex sanguine tau rorum et hircorum purificans populum; sed ex quo venit verus pontifex, qui sanguine suo sanctificaret credentes, nusquam est ille pontifex prior nec ullus ei relictus est locus.

Interpretation des Versöhnungstags

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Ende des alttestamentlichen Kultes. Die Methode, die theologischen Auffas( sungen durch historische Argumente zu begründen, kennen wir schon von der origenianischen Auslegung. Wir werden später sehen, dass die histori( schen Vorwürfe den Rabbinen durchaus bekannt waren und von ihnen auch zur eigenen Verteidigung benutzt wurden.

Allegorische Interpretation des Origenes Allegorie der beiden Böcke Einer der typischen christlichen Züge der Exegese des Versöhnungstages stellt die Typologie Sühnebock / Christus dar. Diese, aufgebaut nach dem Modell des Hebräerbriefes, ist schon vor Origenes zu einem Topos der christlichen Interpretation des Festes geworden. Es ist interessant festzustellen, dass diese typologische Interpretation erst als letzte in der zehnten Levitikus(Homile zu finden ist. Die zuvor dar( gestellten Allegorien der beiden Böcke erinnern dagegen an einige rabbini( sche und vor allem an die philonische Interpretation. Die erste Allegorie der Sühneböcke stellt den geopferten Bock als Bild der büßenden und sich bekehrenden Menschen dar. Der Bock, der in die Wüste abgeschickt wird, dient als Symbol der Menschen, die aufgrund ihrer Sünden verworfenen worden sind. Später aber sagt Origenes ganz deutlich, dass „sors apopompaei“ diejenigen sind, welche das Vergnügen mehr als Gott lieben15. Zuerst weist Origenes auf diejenigen hin, welche die Sünde auf sich annehmen und damit versteht er wahrscheinlich gerechte Menschen16. Diese Schwankung bezüglich der Allegorie der beiden Böcke und vor allem des „apopompaeus“ ist vielleicht durch ähnliche Unsicherheiten in der rab( binischen Auslegung zu erklären, wo die Zweckbestimmung des „apopom( paeus“ ebenfalls nicht immer eindeutig war. Als Adressat der Abschiebung des Bocks war nicht nur Gott, sondern auch der Teufel betrachtet17.

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Vgl. hom. in Lev. 9.4: Si vero libidini servias, voluptatis amator sis magis quam Dei, saecu lum diligas, malitiam non oderis, sortem tuam fecisti apopompaei, ut abducaris in eremum per manus ministri Dei, qui in hoc ipsum ordinatus a Deo est. Vgl. hom. in Lev. 9.3. Nach Mishna Shevuot Yoma ist der Bock Gott gewidmet. Nach bToma 67b (unter dem Name von R. Yshmael) und nach Pirqe Rabbi Eliezer 46 ist der Bock für den Satan bestimmt. Beide Tendenzen sind ausführlich von Stökl ben Ezra, 2003, 131 diskutiert.

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Weitere allegorische Interpretationen stellen die Versöhnung als innerli( che Askese und Ausübung der christlichen Moral dar. Origenes meint hier, dass der apopompaeus eine Allegorie aller Gedanken in uns sei, welche uns zum Sündigen bringen könnten. Der Ausdruck „Bock, der in die Wüste geschickt wird“ beinhaltet vielmehr die Bedeutung von Ablehnung und Verwerfung. Daher können wir z.B. das Folgende verstehen: in Dein Herz kommt ein schlechter Gedanke, die Begierde auf eine fremde Frau oder auf das Eigentum eines Nachbars; verstehe sogleich, dass diese (Begierde) vom Schicksal des Bocks ist (dem Bock entspricht), der in die Wüste geschickt werden soll; lehn sie gleich ab und schmeiße sie aus Dei( nem Herzen hinaus18. Auch die folgenden Paragraphen der Homilie sind der innerlichen Buße als einer Art Sühneritus gewidmet. Diese Interpretation ist offensichtlich von Philos Auslegung des Yom Kippur beeinflusst. Philo hatte das Fest als geis( tige Kulmination der Askese des Weisen dargestellt. Die Tatsache, dass die beiden ersten Allegorien, die Origenes bezüglich der beide Sühneböcke annimmt, keine christologischen Typologien darstellen, sondern auf jüdi( sche (eine rabbinische und eine philonische) Auslegungen zu beziehen sind, ist höchstwahrscheinlich kein Zufall. Origenes möchte sich offensichtlich an eine Auslegungstradition einschließen, mit der er im Grunde auch polemi( sieren möchte. Die christologischen Typologien sind deutliche inhaltliche Überholungen aller vorherigen allegorischen Auslegungen.

Christologische Typologie der Böcke Erst nach einer ersten allegorischen Auslegung kommt die christologische Typologie: Christus ist derjenige, der die Sünden der Welt auf sich nahm (der Bock, der in die Wüste geschickt wird) und gleichzeitig gekreuzigt wurde (der geopferte Bock).

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hom. in Lev. 9.6: Magis enim et sermo ipse apopompaei abiecti et refutati significantiam continet. Ex quo possumus etiam illud intelligere, verbi causa: adscendit in cor tuum mala cogitatio, concupiscentia mulieris alienae aut vicinae possessionis; intellige statim hanc es se de sorte apopompaei, abice confestim et expelle de corde tuo.

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Da aber das Wort Gottes reich ist und, nach der Ansicht Salomos, nicht einmal, sondern zwei( und dreimal in unsere Herzen geschrie( ben werden muss, versuchen wir jetzt etwas zu dem hinzuzufügen, was wir schon nach unseren Kräften gesagt haben, um zu zeigen wieso als Typus der zukünftigen (Mysterien) der eine Bock als Opfer dargebracht, während der andere lebendig in die Wüste geschickt wurde. Hör zu, wie Pilatus in den Evangelien zu den jüdischen Priestern und zum Volk sagt: „Wen wollt ihr, dass ich euch freilasse: Jesus, der sich Christus nennt, oder Barnabas?“ Dann rief das ganze Volk, dass er Barnabas freilassen, Christus dagegen in den Tod schi( cken solle. Hier hast Du den Bock, der lebendig in die Wüste ge( schickt wurde und der die Sünde des Volkes trägt, das ruft: „Kreu( zige ihn!“ Er ist also der Bock, der lebendig in die Wüste geschickt wird und er ist auch der Bock, der Gott dargebracht wurde als Süh( neopfer und den Völkern, die in ihn glauben, die wahre Versöhnung brachte19. Die doppelte Typologie, die gleichzeitig den Sühne( und Opfercharakter des Todes Christi verbindet, ist im Rahmen der Polemik gegen das Yom(Kippur( Fest in der Zeit des Origenes besonders wichtig. Schon bei der Behandlung des Opfers Isaaks hatten wir festgestellt, dass sich im Judentum seit dem 4.Makkabäerbuch progressiv die Vorstellung des Erlösungscharakters des Todes eines Gerechten entwickelt hat. Wenn wir in Kürze von der rabbini( schen Auffassung des Yom Kippur nach der Tempelzerstörung sprechen werden, werden wir bemerken, dass auch in diesem Fall der Tod der Ge( rechten als eine Art Ersatzsühne betrachtet wird. Genau dieser Punkt muss

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hom. in Lev. 10.2: Tamen quoniam dives est sermo Dei et secundum sententiam Salomonis non simpliciter, sed et dupliciter et tripliciter describendus in corde est (Prov 22:18.20), temptemus etiam nunc addere aliqua ad ea, quae dudum pro viribus dicta sunt, ut osten damus, quomodo in typo futurorum etiam hic unus hircus Domino oblatus est hostia et alius vivus dimissus est. Audi in Evangeliis Pilatum dicentem ad sacerdotes et populum Iudaeorum: „Quem vultis ex duobus dimittam vobis, Iesum, qui dicitur Christus, aut Ba rabban?“ Tunc clamavit omnis populus, ut Barabban dimitteret, Iesum vero morti traderet. Ecce habes hircum, qui dimisus est „vivus in eremum“ peccata secum populi ferens cla mantis „Crucifige, crucifige” (Lk 23:21). Iste est ergo vivus dimissus in eremum et ille est hircus, qui Domino oblatus est hostia ad repropitianda peccata et veram propitiationem in se credentibus populis fecit.

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für Origenes sehr wichtig gewesen sein, um seine Opponenten von der Erlö( sung durch Christi Selbstopfer zu überzeugen.

Der Hohepriester am Versöhnungstag nach Origenes Christologische Typologie des Hohepriesters Die Opfertiere sind nur eines der Elemente des Versöhnungstages. Eine besondere Rolle spielt dabei auch der Hohepriester. Die Tatsache, dass er nur an diesem einen Tag das Allerheiligste betreten darf, ist ein wichtiger Punkt für die Exegeten. Philo hatte dies als Eingang des Logos in die Welt interpretiert20. Origenes stellt den Hohepriester am Versöhnungstag syste( matisch als Vorbild Christi dar. Trotz gewisser Ähnlichkeiten mit der philo( nischen Exegese des Logos, ist es höchstwahrscheinlich wieder das Modell des Hebräerbriefs, dem Origenes hier folgt21. Es wurde gelehrt, in welcher Weise der Ritus der Versöhnung für die Menschen bei den Alten vor Gott praktiziert wurde; Du aber, der du zu Christus, dem wahren Hohepriester, gekommen bist, der Gott durch sein Blut für Dich gnädig gestimmt hat und Dich mit dem Va( ter versöhnt hat, Du sollst nicht am Blut des Fleisches [des Tieres] hängen, sondern besser lernen, das Blut des Wortes Gottes zu ken( nen und auf ihn [Christus] zu hören, wenn er sagt: „Dies ist mein Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26:28)22. Dabei versteht Origenes Christus gleichzeitig als vollkommenes Opfer und als vollkommenen Opfernden. Die christologische Interpretation des Ho( hepriesters ist, wie wir im Kapitel über das Priestertum gezeigt haben, bei Origenes sehr häufig. Hier ist wichtig zu bemerken, dass dieses Konzept im Falle des Versöhnungstages eine besondere Rolle spielt. Nicht zu vergessen

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Vgl. Mos. 2.95. Vgl. Heb 5:5. hom. in Lev. 9.10: Ritus quidem apud veteres propitiationis pro hominibus, qui fiebat ad Deum, qualiter celebraretur edocuit; sed tu, qui ad Christum venisti, ponteficem verum, qui sanguine suo Deum tibi propitium fecit et reconciliavit te Patri, non haereas in sanguine carnis; sed disce potius sanguinem Verbi et audi ipsum tibi dicentem quia: „Hoc sanguis meus est, qui pro vobis effundetur in remissionem peccatorum” (Mt. 26:28)

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ist auch die systematische Allegorisierung des Tempels. Dieser wird zuerst mystisch als die Gemeinschaft der Gläubigen dargestellt und dann noch mal als die Seele des Menschen allegorisiert23. Im Kontext der Polemik gegen das weiterlebende jüdische Fest spielt dieses Konzept ebenfalls eine wichtige Rolle. Dadurch werden zwei Elemente des Sühneritus (Opfer und Hohe( priester) in Christus verbunden. Es scheint mir, dass das dritte Element des Ritus (der Tempel) hier nicht christologisch gedeutet wird, obwohl Origenes durchaus die Vorstellung vom Leib Christi als dem wahren Tempel geläufig ist.

Allegorische Interpretation der Funktion des Hohepriesters am Ver( söhnungstag Auch bei der Interpretation der Figur des Hohepriesters fehlt bei Origenes die moralische Interpretationen nicht. Er meint z.B., dass das Feuer, das für das Opfer gebraucht wird, eine Art Reinigung von den Sünden symboli( siert24. Auf der gleichen Interpretationsebene wird auch der Weihrauch als Tugende ausgelegt25. Das gesamte Ritus des Anzündens des Feuers seitens des Hohepriesters wird zunächst auf den himmlischen Gottesdienst bezo( gen, wobei die Engel die Konzelebranten sind. Dann, ebenso wie im Falle der beiden Böcke, geht Origenes zur anthropologischen/psychologischen Ebene der Interpretation über, die er hier „mystisch“ nennt. Diese stellt den ganzen Ritus des Brandopfers als innerliche Opferung dar. Neben Selbst( verneinung, Erniedrigung und Demut schließt das innerliche Brandopfer des Christens nach Origenes auch Bruderliebe und Martyrium ein. Das Op( ferfeuer wird mit dem Empfangen der heiligen Schrift verglichen, die im Menschen als innerliches Feuer brennt26. Als Modell dieser moralischen Interpretation kann ohne Zweifel Philo angenommen werden. Philo hatte die Versöhnungsfeier als Frucht der Aske( se verstanden und hierbei alle Reinigungsstadien des weisen Menschen beschrieben.

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Vgl. hom. in Lev. 9.9. hom. in Lev. 9.8. Vgl. Ibid. Vgl. hom. in Lev. 9.9.

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Das Problem der Christen, die den Versöhnungstag praktizieren Trotz aller allegorischen und typologischen Deutungen des Versöhnungsta( ges, bestand für Origenes offensichtlich das Problem der Christen, die am jüdischen Fest teilnahmen. Dieses Verhalten, das wahrscheinlich durch Neugier oder einfach die Faszination der Riten verursacht war, schien Ori( genes gar nicht so harmlos, da es einen der wichtigsten Punkten der christli( chen Theologie, die Erlösung und Versöhnung durch den Tod Christi, in Frage stellte. Ich möchte erneut auf den Beginn der zehnten Homilie zu Levitikus hinweisen, den wir bezüglich der Versöhnung in der neutesta( mentlichen Ökonomie schon einmal zitiert haben: Wir, die aus der Kirche sind, nehmen Moses zu Recht an und lesen seine Schriften mit dem Gedanken, dass er ein Prophet sei und dass er, unter der Offenbarung Gottes, die zukünftigen Mysterien in Symbolen, Figuren und Allegorien beschrieben hat; wir lehren, dass diese [zukünftigen Mysterien] in ihrer Zeit erfüllt wurden. Wer aber, sei es von den Juden, sei es von unseren, diesen Sinn in ihm [Moses] nicht annimmt, der kann auch nicht lehren, dass Moses ein Prophet sei; wie wird er beweisen, dass Moses ein Prophet ist, wenn er be( hauptet, die Schriften Moses seien ganz üblich, ohne jede Kenntnis der Zukunft und ohne jedes verborgene Geheimnis?27. Hier interessiert uns hauptsächlich der zweite Teil des Textes. Origenes gibt zu, dass seine Gegner, die Moses Vorschriften nur wörtlich verstehen, nicht nur Juden, sondern auch Christen („jemand von uns“) sind. Das wörtliche Verständnis des Alten Testaments charakterisierte aber auch Markioniten und Gnostiker, was zu ihrer Ablehnung dieses Teils der Schrift führte. Ori( genes sagt hier aber, dass auch seine Gegner in Moses einen Propheten se(

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Hom. in Lev. 10.1: Nos quidem, qui de Ecclesia sumus, merito Moysen recipimus et scripta eius legimus sentientes de eo quod propheta sit et de Deo sibi revelante in symbolis et fig uris ac formis allegoricis conscripserit futura mysteria, quae in tempore suo docemus im pleta. Qui vero huiusmodi in eo non recipit sensum, sive Iudaeorum quis, sive etiam nos trorum est, is ne prophetam quidem eum docere potest; quomodo etenim prophetam probabit, cuius litteras asserat esse communes, futuri nullius conscias nec occulti aliquid mysterii continentas?

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hen. Also kann es sich nicht um Markioniten oder Gnostiker handeln, und wir müssen an Christen denken, welche die Schriften Moses (vor allem in Bezug auf den Versöhnungstags) nicht nur wörtlich verstanden, sondern auch praktizierten. Die gleiche Thematik, wieder in Verbindung mit dem Glaube an die de( finitive Erlösung durch Christus, findet sich auch in stark polemischen Tö( nen in seiner zwölften Homilie zu Jeremias. Dort wirft Origenes seinen Geg( nern das wörtliche Verständnis der alttestamentlichen Praktiken vor. Die Polemik konzentriert sich auf die Beschneidung, das Paschafest, die Sabbat( observanzen und die mit dem Versöhnungstag verbundenen Praktiken. Während in den ersten beiden Fällen die Rede von Juden ist28, geht es bei der Sabbatobservanz29 und dem Versöhnungstag offensichtlich um Christen. Ihr alle, die das Fasten einhaltet, ohne den Versöhnungstag zu er( kennen, der nach der Ankunft Christi existiert, habt nicht in der „verborgenen“ [allegorischen] Weise von der Versöhnung gehört, sondern nur in der sichtbaren [oberflächlichen] Weise. Von der Versöhnung in der verborgenen Weise zu hören bedeutet nämlich hören [zu können] wie „Gott Jesus als Sühneopfer für unsere Sün( den gegeben hat“ (Rom 3:25) und dass „er selbst Sühneopfer für un( sere Sünden ist und nicht nur für unsere Sünden, sondern für die Sünden der ganzen Welt“ (1Jn 2:2)30. Die Annahme der Gottheit Christi und des damit verbundenen Glaubens an die Versöhnung, lässt keinen auch nicht teilweisen Kompromiss mit den jüdischen Observanzen zu. Wenn Origenes auf die Fastenzeit, die mit dem Versöhnungstag verbunden ist, zu sprechen kommt, drückt er dies sehr deutlich aus:

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29 30

Vgl. hom. in Jer. 12.13, zitiert nach der Edition Origène, Homélies sur Jérémie, traduction par P. Husson et P. Nautin, édition, introduction et notes par P. Nautin, Tome II (Homélies XII XX), SC 352, Paris 1977. Vgl. ibid. Ibid.: ›26/ +E6# + $0.?26/ -Z4 „-%.A8>+. Y 8>L4 c:623L# ->%= +Z# o36%+/Z# R3Z# ‘’52.?#“ 06= j+/ „6I+L4 c:62314 "2+/ ->%= +Z# o36%+/Z# R3Z#, .I ->%= +Z# R3>+A%T# ;_ 31#.#, $::9 06= ->%= j:.H +.? 0123.H“.

408

Kapitel 17

Deswegen müssen wir etwas zu denjenigen sagen, die behaupten, dass es nötig sei wegen des Befehls des Gesetzes an den jüdischen Fastentagen zu fasten. Ich werde zuerst die Worte Pauli benutzen (zitieren), der sagt, dass, wenn jemand etwas vom Gesetz bewahren will, er „verpflichtet sei, das ganze Gesetz zu praktizieren“ (Gal 5:3). Wer diese (jüdische) Fastenzeiten einhält, soll auch dreimal im Jahr nach Jerusalem gehen, vor dem Tempel des Herrn erscheinen, sich dem Priester anbieten; er soll den zu Staub gewordenen Altar su( chen und Opfer darbringen, obwohl kein Hohepriester mehr da ist31. Die origenianische Polemik an dieser Stelle erscheint besonders hart. Es wird zuerst, dank der Autorität Pauli, betont, dass die Observanz auch nur einer einzelnen Regel des Gesetzes die Akzeptanz des ganzen Gesetzes impliziert. Jedes Gesetz beinhaltet ein Bild der Beziehung zwischen Mensch und Gott, das durch Christus überholt wurde. Das zweite Argument ist noch schwer( wiegender: die historische Situation des zerstörten Tempels und des fehlen( den Altars und Priestertums ist ein weiterer Beweis für die Aufhebung des Kultes. Diese Observanzen sind selbst für die jüdische Gemeinde nicht mehr praktikabel. Dies soll die Gegner des Origenes völlig überzeugen. Juden können diese Gegner wohl nicht sein, da Origenes von ihnen als denjenigen redet, „die denken an den Fasten der Juden fasten zu müssen“. Wir müssen also eine christliche Gruppe annehmen, welche teilweise den jüdischen Ob( servanzen folgte. Diese Gruppe konzentrierte sich auf etwas neutralere Ob( servanzen wie Fasten und Buße und hatte wahrscheinlich keine besonderen theologischen Unterschiede zur orthodoxen christlichen Gemeinde. Es han( delt sich also um moderate Juden(Christen oder, wie wir sie schon einmal genannt haben, judaisierte Christen. Diese spielten schon mehrmals in der origenianischen Polemik eine Rolle und immer bezüglich der jüdischen Observanzen: etwa in der Frage nach der Beschneidung, nach den Speise( vorschriften, bezüglich des Paschafestes und jetzt bezüglich der Fastentage.

31

hom. in Lev. 10.2: Unde et nunc dicenda nobis sunt aliqua etiam ad eos, qui putant pro mandato legis sibi quoque Iudaeorum ieiunium ieiunandum, et primo omnium sermonibus utar Pauli dicentis quia, si quis vult unum aliquid custodire de observationibus legis, „obnoxius est universae legis faciendae“ (Gal 5:3). Qui ergo observat ista ieiunia, adscendat et ter in anno in Ierusalem, ut „appareat ante templum Domini“ (Ex 23:17), ut offerat se sacerdoti; requirat altare, quod in pulverem versum est, offerat hostias nullo adstante pontifice.

Interpretation des Versöhnungstags

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Origenes hatte es also nicht leicht mit dieser Gruppe, die höchstwahrschein( lich in seiner eigenen Gemeinde in Cäsarea vertreten war. Dann folgen die weiteren theologischen Argumente: die ganze Verge( bung der Sünden erwächst den Christen nicht aufgrund ihres Fastens, sie ist von ihnen nicht in dieser Weise verdient, sondern ihnen durch das Selbstop( fer Christi geschenkt32. Das ist eine deutlich polemische Behauptung gegen die rabbinische Lehre der Verdienste. Im Folgenden werden die Charakteris( tiken des christlichen Fastens erwähnt, welche die gleiche sind, wie für die christliche Buße. Als Christ zu fasten bedeutet nach Origenes vor allem „sei( ne Seele demütigen“33. Dieses innerliche Fasten, das ein Zeichen innerlicher Abstinenz von den Sünden ist und vor allem in Kontemplation und Barm( herzigkeit besteht, folgt laut Origenes’ Worten den Gesetzen, welche der Heiland in den Evangelien erlassen hat34. Origenes will der problematischen Zielgruppe, welche so gerne den Gesetzen folgt, die neuen geistigen Gesetze als realen Substitut der alttestamentlichen Gesetzgebung vermitteln. Sehr polemisch sagt er schließlich: Willst Du, dass ich Dir weiter zeige, nach welchen Fasten(vorschrif( ten) Du fasten musst? Faste von jeder Sünde, nimm keine Speise der Schlechtigkeit an, nimm keine Festmahle der Lust (des Vergnügens) ein, erwärme Dich mit keinem Wein der Begierde. Faste von schlechten Taten, halte Abstinenz von schlechten Gesprächen, halte Dich fern von sehr schlechten Gedanken. Berühre nicht die geraub( ten Brote einer perversen Doktrin35. Somit hat Origenes den theologischen Gründen der Abschaffung des Ver( söhnungstags und dem damit verbundenen Fasten, eine moralische Dimen( sion hinzugefügt. Ob er denkt, dass diese genügen kann, um die alte „mate( rielle“ Praxis zu ersetzen? Nun, wir sehen, dass Origenes sich nicht damit zufrieden gibt, denn die rein geistige Praxis ist keine vollständige Ersetzung

32 33 34 35

Hom. in Lev. 10.2. Ibid. auf der Basis von Mt 11:29. Vgl. ibid. Hom. in Lev. 10.2: Vis tibi adhuc ostendam, quale te oportet ieiunare ieiunium? Ieiuna ab omni peccato, nullum cibum sumas malitiae, nullas capias epulas voluptatis, nullo vino lu xuriae concalescas. Ieiuna a malis actibus, abstine a malis sermonibus, contine te a cogitationibus pessimis. Noli contingere panes furtivos perversae doctrinae.

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des alttestamentlichen Fastens. Origenes begibt sich immer stärker auf die Suche nach einer rituellen Substitution. Grund dafür ist ohne Zweifel die existierende christliche Praxis, aber auch seine Zielgruppe, die sich eine „reale“, eine konkrete Erfüllung der Riten wünscht. Er gibt zu, dass das Speisefasten im Grunde der christlichen Tradition gar nicht fremd, sondern sogar wöchentlich (am vierten und am sechsten Tag) geübte Praxis ist, wie es auch vierzig Tage lang vor Ostern praktiziert ist. Das geistige Fasten ge( nügt also auch den Christen nicht. Origenes bemerkt die Schwäche seiner eigenen vorangegangenen Interpretation und folgert, dass der Unterschied zur jüdischen Praxis nicht in der Speiseabstinenz als solcher, sondern im sie begründenden Inhalt besteht: Der Christ ist sicherlich frei zu jeder Zeit zu fasten, allerdings nicht wegen des Aberglaubens der Observanz, sondern wegen der Tu( gend der Enthaltsamkeit36. Aus diesem Schluss wird für uns deutlich, dass Origenes eine rituelle Substi( tution der Fastentage vor dem Versöhnungstag gar nicht ablehnt. Die lange theologische Begründung der jüdischen Praktiken dient ihm allein dazu, ihre geistige Ebene als primär darzustellen. Ein liturgischer Ausdruck bleibt dabei nicht ausgeschlossen. Der überwiegend geistige Hintergrund der Pra( xis erlaubt es Origenes, sie als individuell zu bezeichnen. Jede Bekehrungs( oder Bußpraxis soll aus der innerlichen Überzeugung des Menschen entste( hen und sich in seinem Verhalten ausdrücken. Schließlich kritisiert Origenes an der jüdischen Observanz genau dieses Fehlen eines individuellen und geistigen Aspekts: es wird gefastet, ohne dass dies Einfluss auf das Verhal( ten des Menschen oder auf sein innerliches Leben hätte. Die jüdische Obser( vanz wird mit dem Aberglauben verglichen und damit ist Origenes überaus konsequent. Oft nennt er sie „Idolatrie“, da diese Observanz Ziel ihrer selbst ist. Damit wirft Origenes seinen Gegnern die schlimmste Sünde vor. Man kann sich gut vorstellen, dass diese höchst polemischen Töne nicht nur seine jüdisch(christliche Zielgruppe berührten, sondern auch die traditionelle jüdische Gemeinde, die, soweit es möglich ist, allen Observanzen folgte und auf die Wiederherstellung des Tempels und der Institutionen, welche den Kult in seiner Vollkommenheit wieder erlaubt hätten, hoffte. Die vehemente

36

Hom. in Lev. 10.2: Est certe libertas Christiano per omne tempus ieiunandi, non observantiae superstitione, sed virtute continentiae.

Interpretation des Versöhnungstags

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Polemik zeigt die große Spannungen, die sich zwischen Juden und Christen über das richtige Verständnis der alttestamentlichen Observanzen aufbau( ten. Die Herausforderung für die christlichen Exegeten war besonders groß: sie mussten nicht nur die eigene geistige Interpretation, sondern auch die kategorische Ablehnung der jüdischen Feier begründen. Die richtige Inter( pretation war hier eine Frage der Selbstidentifikation37.

Interpretation des Versöhnungstags nach den Rabbinen Der Versöhnungstag nimmt ohne Zweifel einen wichtigen Platz im jüdi( schen Festtagskalender. Wie jede Sühnegelegenheit war auch diese Fest mit Opfern und weiteren Tempelpraktiken verbunden. Eine sehr wichtige Rolle spielten vor allem die Opfer, die durch ihren blutigen Charakter die Erlö( sung garantierten. Genau diese wichtige Elemente fehlen in der Zeit nach dem Jahre 70. Es ist also eine ähnliche Entwicklung wie jene zu erwarten, die den Opferkult charakterisiert. Diese allgemeine Charakteristik ist tatsächlich von der rabbinischen Interpretation des Sühnetags bezeugt.

Erlösung durch den Tod der Gerechten Die schon bei der Exegese des Opfers Isaaks erkannte Tendenz, dem Tod eines Gerechten eine Erlösungswirkung zuzuschreiben, finden wir auch in Bezug auf den Versöhnungstag: Der Tod eines Gerechten bewirkt genauso Versöhnung wie der Ver( söhnungstag selbst38. Es wird auch gefragt, warum sich die Erzählung des Todes Mirjams in un( mittelbarer Nähe zu den Vorschriften über die Vorbereitung der Asche der roten Kuh befindet. Beantwortet wird diese Frage damit, dass es so ist, weil die Asche der Kuh genauso Versöhnung bringt wie der Tod eines Gerech( ten39. Dabei wird aber die Versöhnungskraft der Asche nicht in Frage ge( stellt. Es ist das typische Verhalten der Rabbinen, das wir schon aus der Analyse des Opferkultes kennen: es wird nichts an die Wirkung und Bedeu(

37 38

Vgl. Stökl, 2001, 502. LevRab XX.12:

39

Vgl. ibid.

.!%,5) /"4"+2 -# '!!") 85 ,%,5) /"%(,51 /("# /#5# +)-) $-$

Kapitel 17

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tung der Opfer bestritten. Es wird allerdings eine Erlösung durch andere Ersatzmitteln angenommen. In dieser Weise bleiben die Exegeten der Tradi( tion treu und bieten gleichzeitig eine Substitutionsmöglichkeit für den feh( lenden Kult an.

Rabbinische Polemik gegen die christliche Erlösungslehre bezüglich des Versöhnungstags Wir haben gesehen, dass die origenianische und insgesamt die christliche Auslegung des Yom(Kippur(Festes sehr polemisch gegen die weiter beste( henden Reste des jüdischen Rituals gerichtet ist. Dabei werden historische Argumente wie die Zerstörung des Tempels und die Aufhebung des Opfer( kultes und des Priestertums auf der einen Seite und theologische Argumente wie die endgültige Erlösung und Versöhnung durch den Tod Christi auf der anderen Seite benutzt. Diese Vorwürfe blieben bei den Rabbinen nicht un( bemerkt. Eine ausführliche Bekämpfung der christlichen Polemik findet zwar nirgendwo in der rabbinischen Literatur statt, ist aber an einigen Stel( len angedeutet. Diese Stellen wurden erneut dank der Untersuchung von Stökl Ben Ezra40 ans Licht gebracht und im Kontext der jüdisch(christlichen Auseinandersetzung analysiert. Ich möchte hier zwei dieser Stellen erwähnen, weil sie zwei der Haupt( elemente der christlichen Erlösungslehre angreifen. Der erste Text aus dem Sidrei Avodah behauptet, dass der Hohepriester keine Versöhnung bewir( ken kann, wenn er nicht selbst seine eigene Sünde sühnt41. Diese Aussage richtet sich offensichtlich gegen die Vorstellung von Christus als Ho( hempriester und der gleichzeitigen Vorstellung seiner Sündenlosigkeit. Eine weitere Stelle spricht vom Kreuz (das mit Verachtung „Holz, Pfahl“ / +L# 06/%L# +.? $#13.H 06= 0%/#>U +.G4 $2>g>U4 06= $::M@>/ +L# ”:/.# 06= +:*#5# 06= +.G4 $2+A%64, +1+> 06:Z4 06+6-6,2>+6/ d# +' R3A%b +' dg;13†. Zur Zentralität der Soteriologie in Barn. 15 siehe Prostmeier, 1999, 488, wo der Autor beschließt: Barn. 15.5 scheint das älteste Zeugnis für die Vorstellung zu sein, dass der Sohn Gottes „kommt“ bzw. „kommen wird“. Siehe dazu noch ibid. 490 492. Barn. 15.6b: w7 .Q# m# Y 8>L4 R3A%6# RDE62># #?# +/4 ;,#6+6/ oD/M26/ 0686%L4 ²# +' 06%;Eb, "# -r2/# ->-:6#*3>86, zitiert auf Deutsch nach Prostmeier, 1999, 474. Vgl. Prostmeier, 1999, 499 500.

Interpretation der Sabbatfeier

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Der „geistige“ Sabbat des Origenes Origenes widmet den jüdischen Festtagen einen großen Teil seiner Homilien zu Levitikus und zu Numeri. Die Interpretation der Feste verdient laut sei( ner Aussage große Beachtung, da der Ritus so kompliziert und triumphal ist, dass er dem Schöpfer der ganzen Welt angemessen sein könnte24. Chris( tus hat die Seelen aber zur Kontemplation der geistigen Dinge geführt (ad considerationem caelestium et ad contemplationem rerum spiritalium) und so den Kult Gottes von den sichtbaren zu den unsichtbaren und von den zeitlichen zu den ewigen Sachen gebracht (a visibilibus ad invisibilia transu( lit et a temporalibus ad aeterna)25. Es wird also eine besondere Substitution des alttestamentlichen Kultes angeboten, welche sich nicht nur auf die Ebene des geistigen/moralischen Verständnisses und Erlebnisses des Festes kon( zentriert, sondern ihre Fortsetzung im eschatologischen Gottesdienst findet. Diese Auffassung, der Origenes in seiner Exegese der alttestamentlichen Festtage systematisch folgt, benutzt er auch für die Erklärung des Sabbats.

Origenianische Polemik über die Einführung des Sabbatfestes Ein wichtiger Punkt in der origenianischen Sabbatauslegung ist der Grund für die Einführung der Observanz. In Contra Celsum setzt Origenes sich mit den Vorwürfen seines Opponenten auseinander, der die jüdische Observanz auslachte, da diese nichts anderes als Erinnerung an das Ausruhen Gottes sei. Damit wollte Celsus erstens den Juden und Christen vorwerfen, dass ihr Gott müde sein könne, und zweitens, dass er nach der Schöpfung in einen Zustand der Untätigkeit geraten sei. Gott hätte sich dabei „selbstkon( templiert“. Origenes analysiert den biblischen Text, um zu beweisen, dass es sich nicht um ein untätiges Ausruhen Gottes, sondern um die Beendung der Schöpfung handelt. Dabei ist er vom rabbinischen Verständnis des Sabbats als Akt der Kontemplation des Geschöpfes gegenüber seinem Schöpfer nicht weit entfernt. Origenes schließt tatsächlich, dass die Sabbatobservanz „eine breite, mystische, tiefe und schwierig zu erklärende Doktrin“ sei26. Das Fak(

24 25 26

Vgl. hom. in Num. 23.1,1. Vgl. ibid. Vgl. Cels. 5.59: "# … (R3A%b), B4 3_# R D%6W< :AD>/, „06+A-6H2>#“ „$-L +Z# \%DT# d6H+.?“ Y 8>L4 $8#6&T%Z# >74 +%/T-*#, B4 ;‡Y PA:2.4 3< +5%*264 +9 D>D%633A#6 35;_ 2H#/>=4 6I+M W52/#, $#6-6H2M3>#.4, j->% .I DAD%6+6/. v>%= ;_ +J4

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Kapitel 18

tum selbst, dass er hier die Observanz „:1D.4” nennt, zeigt, dass er den theologischen Inhalt der rabbinischen Sabbat(Lehre übernehmen und damit in der gleichen Interpretationstradition bleiben will. Auch in der Polemik gegen Celsus‡ Vorwürfe bemerkt Origenes, dass je( de Arbeit und jede tägliche Tätigkeit, außer der Lesung der heiligen Schrift und der Exegese, am Sabbat verboten wird 27. Ziel des Sabbats sei die Ruhe der Seele in Gott. Da diese Ruhe erst nach der völligen Union mit Gott mög( lich sein wird, behauptet Origenes, genauso wie die Rabbinen und der Bar( nabasbrief, dass der eigentliche Sabbat sich in Jenseits abspielt (ultra hunc mundum)28. Auf Erden betrachtet Origenes diese Ruhe als einen geistigen Zustand des Verbleibens im Glauben und im Gebet29. Diese Auffassung vom Sabbat als Ausruhen der Seele in Gott führt Origenes zu einer eschato( logischen Dimension des Sabbats als Vorbild des ewigen Lebens30. Während aber bei den Rabbinen diese Erinnerung an das Paradies oder an die messia( nische Zukunft in einem ganz konkreten „materiellen“ Rahmen möglich ist (in Israel, geographisch und geistig verstanden), ist dieser Rahmen für Ori( genes die christlich geprägte Seele. Bei dieser Auslegung handelt es sich um eine allegorisch(moralische Deutung des Festes, die eine „materielle“ Ausübung nicht unbedingt aus( schließt. Dass Origenes sich gezwungen fühlte, eine nur geistige Observanz als christliches Substitut des Sabbats zu verteidigen, wird im folgenden Punkt deutlich.

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30

0.23.-./k64 06= +.? 3>+’6I+/-.3A#.H 26gg6+/23.? +S :6S +.? 8>.? „-.:G4“ [# >‚5 06= 3H2+/0L4 06= g68G4 06= „;H2>%3*#>H+.4 :1D.4“. Vgl. hom. in Num. 23.4,2. hom. in Num. 23.4,3: Quod autem diximus vera sabbata, si altius repetamus, quae sint vera sabbata, ultra hunc mundum est veri sabbati observatio. Quod enim scriptum est in Genesi quia „Requievit Dominus in die sabbati ab operibus suis“ (Gen 1:29), non videmus vel tunc factum esse vel etiam nunc fieri. hom. in Lev. 13.5: Addit et „in die sabbatorum“ (Lev 24:8), id est in requie animarum. Et quae maior fideli animae requies quam memoria Dei, quam in conspectu Domini versari, quam in fide Patris ac Filii permanere, quam orationes Domino tamquam odorem suavita tis offerre? hom. in Num. 23.4,4: Erit ergo verum sabbatum, in quo requiescet deus ab omnibus operi bus suis, saeculum futurum, tunc cum aufugiet dolor et tristitia et gemitus et erit omnia et in omnibus deus. In quo sabbato concedat etiam nobis deus diem festum agere secum et cum sanctis angelis suis festa celebrare, „offerentes sacrificium laudis et reddentes Altissi mo vota nostra, quae nic distinxerit labia nostra“ (Ps 49/50:14).

Interpretation der Sabbatfeier

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Qualis Christiano sabbati observatio esse debet? Die Frage nach der liturgischen Substitution des Sabbats in der alten Kirche ist Gegenstand vertiefter Untersuchungen gewesen31. Dabei stellt sich im( mer wieder die Frage, ob der Sonntag als ein Ersatz der Sabbatobservanz dienen könnte. Es ist hierbei allerdings sicher, dass eine Observanz des Sab( bats unabhängig vom Hauptgottesdienst am Sonntag bis zum fünften Jahr( hundert existierte32. Deutlich zu machen, dass eines der zehn Gebote nur geistig zu verstehen sei, war offensichtlich nicht einfach. Besonders interes( sant wird die Frage, wenn man bedenkt, dass erst Konstantin den Sonntag zum offiziellen Feiertag des Imperiums machte. Die Ruhe am Sabbat war dagegen für die jüdischen Bürger des Imperiums schon längst möglich und wurde von ihren heidnischen Mitbürgern gerne geteilt33. Eine solche Situati( on könnte zur Vermutung führen, dass genau diese Möglichkeit, ungestört einen Gottesdienst am Samstag zu feiern, attraktiv für die Christen gewesen sein müsste. Desto überraschender ist es, dass regelmäßige christliche Got( tesdienste am Samstag erst ab dem vierten Jahrhundert bekannt sind. Früher gab es also keine liturgische Alternative des Sabbats am Samstag selbst. Erst nach Origenes begann eine systematische Bekämpfung der unterschiedli( chen Elemente, welche die Sabbatpraxis charakterisierten, darunter ist das Verbot des Fastens am Samstag wie auch die Einführung von Gottesdiensten am Samstag zu erwähnen34. Da der Sabbat an sich weder einen Erlösungs( charakter, noch eine didaktische Funktion hatte, war es nicht einfach, eine theologische Begründung seiner Ablehnung zu geben. Der Hintergrund der Polemik über den Sabbat war nämlich gar nicht theologisch, sondern rein rituell und kulturell.

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32 33 34

W. Rordorf, Sabbat und Sonntag in der Alten Kirche, Zürich 1992; P. Cotton, From Sabbath to Sunday. A Study in Early Christianity, Bethlehem 1933; C. Mosna, Storia della domenica dalle origini fino agli inizi del V secolo. Problema delle origini e dello sviluppo, Analecta Gregoriana 170, Roma 1969; W.E. Straw, Origin of Sunday Observance in the Christian Church, Washington 1940; J. Bauer, Vom Sabbat zum Sonntag, in Der christliche Sonntag. Probleme und Aufgaben, Wien 1956. Vgl. Rordorf, 1992, 13. Vgl. L. Doering, Schabbat, Schabbathalacha und praxis im antiken Judentum und Urchristentum, Tübingen 1999, 285 289. Vgl. Rordorf, 1992, 13.

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Die Idee vom Tag der Auferstehung des Herrn als neuen Sabbat beinhal( tete zwar etwas von der Vorstellung einer Wiederherstellung der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf, war aber viel mehr mit Erlösung als mit Kontemplation verbunden. Selbst Origenes gelingt eine solche „theologi( sche“ Ablehnung des Sabbats nicht. Er diskutiert die Frage immer wieder im breiteren Kontext des geistigen Charakters der alttestamentlichen Vorschrif( ten und weigert sich ganz explizit gegen die „materielle“ Observanz des Sabbats zu polemisieren. Wenn er das tut, sind seine Argumente z.T. sehr oberflächlich. So bemüht sich Origenes z.B. die Vorschrift, man sollte am Sabbat zu Hause bleiben, ad absurdum zu führen. Als Argument gegen die Observanz führt er an, dass kein Wesen so lange am gleichen Ort sitzen bleiben könn( te35. Origenes muss die ausführlichen rabbinischen Diskussionen über die maximal am Sabbat erlaubte Entfernung vom eigenen Haus gekannt ha( ben36, um so ausgerechnet dies als Beispiel für die Absurdität der Observanz zu zitieren. Wie man tatsächlich mit der biblischen Vorschrift umgehen soll, wird aus seiner eigenen Interpretation deutlich: Am Sabbat sitzt jeder an seinem Ort (in seinem Haus) und geht nicht davon weg. Welcher ist denn der geistige Ort der Seele? Ihr Ort ist die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Weisheit, die Heiligung und all dies, was Christus selbst ist, ein Ort der Seele37. Die eigentliche Alternative, die Origenes zum Sabbat anbietet, ist nicht der Sonntagsgottesdienst, wie man nach einigen Aussagen vermuten könnte, sondern die Zuwendung zu den „geistigen“ Dingen, nämlich die Lesung und Meditation der Heiligen Schrift.

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36 37

Vgl. princ. 4.3,2: w9# ;_ 06= "-= +2E6# \:8T3># +%./ ;_ $;,#6+.# [...] ~::9 06= +L ;/6g15+.# 2Mgg6+.# +S $0%/g.?#+/ +1a „P68*2>28> Š062+.4 >74 +.G4 .‚0.H4 i3Z#a 35;>=4 i3Z# "0-.%>HA28T "0 +.? +1-.H 6I+.? +' R3A%b +' Rg;13†“ (Exod 16:29; Num 35:5) $;,#6+1# "2+/ WH:6&8J#6/ 06+9 +#L4 FN.H ;H#63A#.H ;/’j:54 068AF>286/ +J4 R3A%64 06= $0/#5+>U# $-L +.? 068AF>286/. Vgl. z.B. Doering, 1999, 145 155. hom. in Num. 23.4,2: In sabbato unusquisque sedet in loco suo et non procedit ex eo. Quis est ergo locus animae spiritalis? Iustitia locus eius est, veritas, sapientia, sanctificatio et omnia, quae Christus est, locus animae est.

Interpretation der Sabbatfeier

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Welche ist also die Sabbatfeier, wenn nicht diese, von der der Apos( tel sagt „Es wird also eine Sabbatruhe“, d.h. die Einhaltung des Sab( bats „dem Volk Gottes zugelassen“ (Hebr. 4:9)? Nachdem wir das jüdische Einhalten des Sabbats [bei Seite] gelassen haben, lasst uns betrachten, wie ein Christ den Sabbat einhalten muss. Am Sabbat soll keine der vielen weltlichen Tätigkeiten ausgeübt werden. Wenn du also mit allen weltlichen Beschäftigungen aufhörst und nichts ir( disches tust, sondern dich für geistige Beschäftigungen frei hältst, in die Kirche kommst, den göttlichen Schriften und den Predigten [Er( läuterungen] zuhörst, wenn du an die himmlischen Dinge denkst, dir Sorgen um die erhoffte Zukunft machst, wenn du das kommen( de Gericht vor Augen hast, wenn du nicht das Sichtbare und jetzt Existierende, sondern das Unsichtbare und Zukünftige betrachtest, dann ist das die [richtige] Observanz des Sabbats für einen Chris( ten38. Besonders auffällig in diesem Text ist die wiederholte Aussage „die Einhal( tung des Sabbats für einen Christen“. Origenes zeigt dadurch ganz deutlich, dass er vorhat, die geistige Ruhe und Kontemplation als die christliche Form der Sabbatobservanz darzustellen. Diese geistige Auffassung vom Sabbat enthält in sich keine besonderen christlichen Züge, außer der Tatsache, dass Origenes sie als völligen Ersatz der „praktischen“ Observanz versteht. Die Ablehnung der Sabbatpraxis ist also die einzige typisch christliche Charakte( ristik der origenianischen Auslegung. Der logische Schluss ist, dass jede rituelle Observanz des Samstags für Origenes als nicht christlich gilt. Der Text aus der Numerihomilie zeigt auch den Unterschied zur Deutung der Sabbatobservanz, die der Barnabasbrief überliefert. Während in Barn. 15 das

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Hom. in Num. 23.4,1: Quae est autem festivitas sabbati, nisi illa, de qua Apostolus dicit: „Relinquetur ergo sabbatismus“, hoc est Sabbati observatio „populo dei“ (Heb 4:9)? Relinquentes ergo Iudaicas sabbati observationes, qualis debeat esse Christiano sabbati observatio, videamus. Die sabbati nihil ex omnibus mundi actibus oportet operari. Si ergo desinas ab omnibus saecularibus operibus et nihil mundanum geras, sed spiritalibus operibus vaces, ad ecclesiam convenias, lectionibus divinis et tractatibus aurem praebeas, de coelestibus cogites, de futura spe sollicitudinem geras, venturum iudicium prae oculis habeaas, non respicias ad praesentia et visibilia, sed ad invisibilia et futura, haec est observatio sabbati Christiano. Vgl. auch hom. in Num. 23.4,2: Qui ergo cessavit ab operibus saeculi et spiritalibus operibus vacat, iste est, qui sacrificium sabbati et diem festum agit sabbatorum.

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Sabbatgebot hauptsächlich im eschatologischen Sinne gedeutet wurde, sind die Bemühungen des Origenes viel mehr auf die Bekämpfung der „prakti( schen Ausübung“ des Gebots gerichtet. Obwohl er kein liturgisches Substi( tut für die Sabbatobservanz anbietet, betont er jedoch auf besondere Weise die moralische Komponente der Observanz und schlägt als eine Alternative die Verachtung des Weltlichen und die Kontemplation des Ewigen und Himmlischen vor. Diese Kontemplation soll allerdings bereits im irdischen Leben stattfinden und entspricht nicht nur dem Zustand des Menschen nach der Parusie, wie sich aus dem Barn. 15 ergibt. Die Tatsache, dass Origenes den moralischen Charakter der Sabbatobservanz dermaßen betont, ist ein Zeichen für die Aktualität des Problems der Sabbatobservanz innerhalb der christlichen Gemeinde in Cäsarea.

Christen, welche die Sabbatobservanz einhalten Wir haben schon auf die verbreitet bleibende Praxis der Sabbatobservanz seitens der Christen in den ersten Jahrhunderten n.Chr. hingewiesen. Orige( nes selbst gehört, wie wir bald sehen werden, zu den wertvollen Quellen, welche die judaisierende Praxis der christlichen Gemeinde beklagen. Dabei verweist er auf das Sabbatfasten, sowie auf die Gewohnheiten bestimmter Frauen, am Sabbat keine Hausarbeit auszuüben. Die zitierte Stelle befindet sich in einer langen Polemik gegen die Einhaltung sämtlicher jüdischer Ob( servanzen. Und während die erste Aussage, die die Beschneidung betrifft, sich direkt an die Juden im Fleisch richtet, werden bei allen weiteren Ankla( gen Frauen angesprochen, die aus Ignoranz die Sabbatobservanz einhalten. Und bezüglich des Sabbats haben einige Frauen nicht auf dem Pro( phet [gemein ist Jer 13:17] gehört: sie nehmen [die Vorschriften] nicht im verborgenen, sondern im oberflächlichen Sinne wahr; wa( schen sich am Sabbat nicht und kehren zurück zur Armut und Schwäche des Buchstabens [des Gesetzes], als ob Christus nicht ge( kommen wäre, der uns zur Vollkommenheit bringt und uns von den Buchstaben des Gesetzes zur Vollkommenheit des Evangeliums führt39.

39

hom. in Jer. 12.13: P6= ->%= 26ggM+.H DH#6U0>4 3< $0.,2626/ +.? -%.WA+.H, .I0 $0.,.H2/ 0>0%H33A#T4, $::9 $0.,.H2/ W6#>%Z4a .I :.,.#+6/ +;53501+.4, +.? +>:>/.?#+.4 R3r4 06= ;/6g/gMF.#+.4 $-L +Z# #.3/0Z# 2+./&>ET# "-= +I6DD>:/0:>/1+5+6. Vgl. Schab. VII. Vgl. bSchab. 53a.

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diskutiertes Thema war, welches der Prediger irgendwann zur Kenntnis nahm42. Mit den jüdischen Praktiken in seiner christlichen Gemeinde setzt sich Origenes mehrmals im Laufe der Pentateuchauslegung auseinander. Immer wieder stellt sich die Frage inwieweit die von ihm erwähnte Gruppe den Kriterien einer jüdisch(christlichen Gemeinde entspricht. Bezüglich der Be( schneidung haben wir schon festgestellt, dass der Begriff Juden(Christen in sich sehr vage und ungenau ist, da er viele Charakteristiken (von theologi( schen Unterschieden bezüglich der Gottheit Christi bis zu rein rituellen Unterschieden wie den Speiseobservanzen) beinhaltet. Das Problem der Sabbateinhaltung kann nicht so harmlos gewesen sein. Wenn wir uns an die schon erwähnte Tatsache erinnern, dass der Sabbat sogar von der heidni( schen Bevölkerung praktiziert wurde, können wir schließen, dass auch Christen, die aus dem Heidentum stammten, den Sabbat gerne feierten. Dies bedeutete (mindestens bis ins vierte Jahrhundert) also nicht unbedingt eine Abweichung von der orthodoxen Doktrin, sondern erscheint als ein häufiges Phänomen43. Es wäre also durchaus plausibel, dass die Sabbatobservanz in Cäsarea nicht nur durch einige Frauen eingehalten wurde, sondern die Sympathie mehrerer Christen der Gemeinde des Origenes genoss. Diese, anders als z.B. die Beschneidung, war kein exklusiv jüdisches Element. Es handelte sich um eine im Dekalog gebotene Praxis, welche dem christlichen Glauben im Grunde nicht widersprach. Für Origenes selbst erschien die Sabbateinhaltung durch Christen auf keinen Fall als Normalität. Ein Grund dafür war ohne Zweifel seine beson( dere Sensibilität für den geistigen Sinn des Gesetzes und in diesem konkre( ten Fall für den geistigen Sabbat. Wir haben aber auch schon mehrmals fest( gestellt, dass die origenianische Verteidigung der Observanzen und des Gesetzes im Geiste einen stark polemischen Punkt seines Predigens darstellt, welcher immer wieder Anspielungen auf die jüdischen Gelehrten beinhaltet. Wir können also schließen, dass Origenes auch ganz praktische Gründe vor Augen hatte: er wollte seine Interpretation von der rabbinischen nicht nur unterscheiden, sondern auch die geistige Praktizierung des Gesetzes als

42 43

Dass Origenes viele Details der jüdischen Praxis aus eigener Beobachtung kannte, ist uns von seiner Beschreibung des Paschafestes bekannt. Vgl. Rordorf, 1992, 13 14.

Interpretation der Sabbatfeier

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typisch christlichen Zug beanspruchen. Wir haben schon festgestellt, dass die Vorstellung vom Sabbat als Kontemplation Gottes auch bei den Rabbi( nen stark vertreten ist, allerdings eher in den Midraschim, deren Abfassung wesentlich später als die Lebenszeit des Origenes ist. In der Mischna und im Talmud ist diese Idee ohne Zweifel implizit, nicht aber derart deutlich zum Ausdruck gebracht. Selbstverständlich ist die Auffassung vom Sabbat als einer Kontemplation der Seele auch Philo bekannt44. Zu fragen ist hier, wie in vielen anderen Fällen, welchen Weg die Interpretation gegangen ist. Die erste Möglichkeit wäre anzunehmen, dass es sich um eine jüdische Tradition handelt, die dann von Philo übernommen und dadurch den christlichen Exegeten übermittelt worden ist (wenn man natürlich die Autorität des Paulus nicht übersieht). Die zweite und m.E. überzeugendere Möglichkeit ist, Philo als Begründer dieser Interpretation (die einen deutlich philosophi( schen z.B. stoischen Hintergrund hat) und dann Origenes als Vermittler an die Rabbinen anzunehmen. Wenn hier von „Vermittlung“ die Rede ist, ist damit keine bewusste und gezielte Übernahme von Ideen gemeint, sondern eine eher „unbewusste“, eine sich im Laufe der Polemik entwickelnde An( passung an die exegetischen Methoden und Beispielen des Gesprächsparten. Das Procedere wäre also all dem sehr ähnlich, was wir schon hinsichtlich er Auslegung des Opferkultes, des Priestertums und anderer kultischen Fragen festgestellt haben. Der Unterschied im Falle des Sabbats ist, dass es sich um eine Praxis handelt, die im Laufe der Zeit nur geringe Veränderungen erlit( ten hat bzw. kaum eine Spiritualisierung braucht. Der Stimulus zu einer geistigen Deutung kommt für die Rabbinen so nur indirekt, durch die Pole( mik ihrer Gegner zustande.

Zusammenfassung Das in diesem Kapitel analysierte Material wird deutlich, dass der Sabbat und sein richtiges Verständnis ein wichtiges und umstrittenes Thema in der

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Fug 174, zitiert nach der Ausgabe, De fuga et inventione, introduction, texte, traduction et commentaire par E. Starobinski Safran, Les oeuvres de Philon d´Alexandrie 17, Paris 1970: v%.2501#+T4 .Q# :AD>+6/a „P6= \2+6/ +9 2Mgg6+6 +J4 DJ4 i3U# g%N36+6“ (Lev 25:6), ;/´i-.#./Z#a +%1W/3.# D9% 06= $-.:6H2+L# 31#.# R "# 8>S $#M-6H2/4, +L 3AD/2+.# $D68L# ->%/-./.?26, +3.# >7%*#5#. ³ 3/4 $#60A0%6+6/ "3WH:EO -.:A3O. R ;_ XH&J4 $3/D