Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland: Studienausgabe [Reprint 2019 ed.] 9783110893205, 9783110101034

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Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland: Studienausgabe [Reprint 2019 ed.]
 9783110893205, 9783110101034

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Die Autoren
1. Kapitel. Grundlagen
Einleitung
1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland; Aufgabe und Funktion der Verfassung
2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins
3. Abschnitt. Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration
2. Kapitel. Grundrechte
Einleitung
1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung
2. Abschnitt. Die Menschenwürde
3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit
3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes
Einleitung
1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie
2. Abschnitt. Das parlamentarische System
3. Abschnitt. Wahlrecht
4. Abschnitt. Politische Parteien
5. Abschnitt. Verbände
6. Abschnitt. Massenmedien
4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes
Einleitung
1. Abschnitt. Der soziale Rechtsstaat
2. Abschnitt. Ehe und Familie
3. Abschnitt. Grundgesetz und Wirtschaftsordnung
4. Abschnitt. Eigentum
5. Abschnitt. Unternehmensverfassung — Mitbestimmung und Grundgesetz
6. Abschnitt. Tarifautonomie
7. Abschnitt. Sozialrecht. Sozialpolitik
5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes
Einleitung
1. Abschnitt. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes
2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes
3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung
6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung
Einleitung
1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates
2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen des Grundgesetzes für das Bildungswesen
3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften
7. Kapitel. Staatliche Funktionen
Einleitung
1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung
2. Abschnitt, öffentlicher Dienst
3. Abschnitt. Die Rechtsprechung
4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit
8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung
Einleitung
Der Schutz der Verfassung
9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber
Einleitung
Abschließende Äußerungen
Stichwortverzeichnis

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Handbuch des Verfassungsrechts Studienausgabe

Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland

herausgegeben von

Ernst Benda • Werner Maihofer • Hans-Jochen Vogel unter Mitwirkung von

Konrad Hesse

Studienausgabe Teil 1

W DE

G

Walter de Gruyter • Berlin • N e w York 1984

Unveränderter Nachdruck der Originalausgabe (1983)

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland / hrsg. von Ernst Benda . . . unter Mitw. von Konrad Hesse. — Nachdr., Studienausg. — Berlin ; New York : de Gruyter ISBN 3-11-010103-3 N E : Benda, Ernst [Hrsg.] Teil 1. - Unveränd. Nachdr. d. Orig.-Ausg. (1983). - 1984.

© Copyright 1984 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. - Satz: Arthur Collignon G m b H , Berlin 30. — Druck: Heenemann G m b H & Co., Berlin 42. — Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe G m b H , Berlin 61

Vorwort Das vorliegende Werk, das sich an einen weitgezogenen, nicht auf die Fachwelt beschränkten Leserkreis wendet, fügt sich in keine der geläufigen Formen der Literatur zum Verfassungsrecht; es ist namentlich nicht nur eine systematisch geordnete Sammlung von Beiträgen im üblichen Sinne eines „Handbuchs". Zwar gelten seine Beiträge auch der Darstellung, Erläuterung und Durchdringung des Stoffes, der kritischen Auseinandersetzung und der Lösung verfassungsrechtlicher Probleme. Aber mit dieser Aufgabe verbindet sich eine weitere Zielsetzung, welche die eigentlich primäre ist: einen Beitrag zu leisten zu der Antwort auf die Konsensfragen, die sich heute stellen und die nach Überzeugung der Herausgeber für die gegenwärtige und künftige Entwicklung der Bundesrepublik von ausschlaggebender Bedeutung sind. Ein demokratisches Gemeinwesen lebt von der prinzipiellen Einigkeit über die Grundlagen seiner Ordnung; sein Leben und Wirken vollzieht sich in politischer Auseinandersetzung, Einigung oder Mehrheitsentscheidung. Diese Grundlage zu benennen und zu gewährleisten, Konsens über sie zu schaffen und zu erhalten, ist eine der wesentlichen Aufgaben der Verfassung, ebenso wie Gegenstand ihrer Ordnung der politische Prozeß ist, dem die Verfassung nicht nur Regeln der Entscheidung und der Austragung von Konflikten, sondern auch inhaltliche Richtlinien und Impulse zu geben sucht. Insoweit ist sie Ordnung des Prozesses staatlicher Integration (Smend). Für den Erfolg dieses Prozesses kommt es wesentlich auf das Ausmaß an, in dem Konsens oder Dissens über jene Grundlagen, Regeln und Richtlinien unter denen besteht, die unter der Verfassung leben; die Lebenskraft und die Wirksamkeit der Verfassung sind letztlich eine Frage der Zustimmung, welche ihr Inhalt bei den Mitgliedern des politischen Gemeinwesens findet. Dieser Zusammenhang bestimmt die Konzeption des vorliegenden Handbuchs: Ihm liegt der Gedanke zugrunde, daß es notwendig ist, sich des Bestands und des Ausmaßes des verfassungsrechtlichen Konsenses zu versichern, wie er zwischen den in der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen politischen Richtungen besteht. Uber Darstellung, Erläuterung und Wertung in den Einzelbeiträgen hinaus wird daher eine Würdigung dieser Beiträge unternommen, von der erwartet wird, daß sie über wichtige Punkte Aufschluß vermittelt, in denen zwischen jenen Richtungen Übereinstimmung oder Verschiedenheiten der Auffassung bestehen. Dies soll nicht in einem Vergleich oder einer Gegenüberstellung der Positionen der politischen Parteien geschehen. Die Aufgabe wird vielmehr von den Herausgebern wahrgenommen, die zwar wesentlichen politischen Richtungen in der Bundesrepublik zuzuordnen und demgemäß in der Lage sind, ihren „politischen Hintergrund" in die Arbeit einzu-

VI

Vorwort

bringen, gegebenenfalls auch kritisch zu werten, die aber ihre persönliche Meinung darlegen. Aus dieser Konzeption des Handbuchs ergeben sich die Auswahl des Stoffes und die Art seiner Behandlung, die Zusammensetzung des Kreises der Herausgeber und Autoren und die Aufgaben, die diesen gestellt waren. Das Buch behandelt das Verfassungsrecht des Grundgesetzes, während das Landesverfassungsrecht nicht im einzelnen dargestellt wird. Dies erschien gerechtfertigt, weil die hier wesentlichen Konsensprobleme vor allem das Grundgesetz betreffen; im übrigen sind sie weithin mit denen der Landesverfassungen identisch. Die folgenden Beiträge beschränken sich deshalb, der traditionellen und auch heute üblichen Aufteilung in Reichs- (Bundes-) und Landesstaatsrecht folgend, im wesentlichen auf das Verfassungsrecht des Bundes. Dabei geht es nicht um eine fachwissenschaftlich-systematische Darstellung des geltenden Verfassungsrechts, wie sie in der Zeit der Weimarer Reichsverfassung in vorbildlicher Weise in dem von Anschütz und Thoma herausgegebenen Handbuch des deutschen Staatsrechts geleistet worden ist, das leider bis heute noch keine Nachfolge gefunden hat. Wohl soll, wie gezeigt, auch ein Überblick über das geltende Verfassungsrecht und seine wesentlichen Probleme vermittelt werden, so daß der Leser sich über diese unterrichten kann. Aber auf Vollständigkeit ist bewußt verzichtet worden, so daß manche Regelungen sowohl aus dem Bereich der Grundrechte als auch aus dem organisatorischen Teil des Grundgesetzes nicht, nur in Hinweisen oder nur im Zusammenhang mit der Erörterung anderer Regelungen oder Fragenkomplexe behandelt sind. Statt dessen liegt das Hauptgewicht auf den Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes und auf Problemkreisen, von denen zu erwarten ist, daß sie in naher Zukunft die verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Diskussion beherrschen werden; es kam den Herausgebern darauf an, die Frage nach Konsens und Dissens gerade auch in diesen Punkten zu prüfen. Die Akzente liegen also deutlich auf politisch bedeutsamen Fragestellungen, die eben darum auch verfassungsrechtlich von besonderer Bedeutung sind. Daß ferner die Konzeption des Handbuchs eine „plurale" Zusammensetzung des Kreises der Herausgeber erforderte, wie sie sich hier ergeben hat, liegt auf der Hand. Unbeschadet der Verantwortung der Bearbeiter der einzelnen Beiträge tragen sie eine Gesamtverantwortung für das Werk. Dessen Anlage entsprechend haben sie in den Einleitungsabschnitten zu den Kapiteln 3 bis 6 die Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes selbst behandelt. Soweit diese Beiträge übereinstimmende Auffassungen zu erkennen geben, ergibt sich bereits hieraus selbst der Konsens; Entsprechendes gilt für einen Dissens, soweit die Beiträge der Herausgeber unterschiedliche Positionen, Sichtweisen, verfassungspolitische Auffassungen deutlich werden lassen. Während sich diese Ergebnisse dem Leser schon bei der Lektüre der Beiträge erschließen, gelten die Schlußwertungen ausdrücklich der Frage nach Zustimmung oder abweichender Meinung, nicht nur zu den Grundsatzbeiträgen der Mitherausgeber, sondern auch zu den Beiträgen der übrigen Bearbeiter. Hierbei konnte es freilich angesichts der Fülle der behandelten Fragen und der Vielzahl der Aussagen nicht um Kritik im einzelnen gehen, sondern nur um wesentliche verfas-

Vorwort

VII

sungsrechtliche oder verfassungspolitische Positionen. Wird nicht ausdrücklich Stellung genommen, so bedeutet das nicht, daß die Herausgeber in allen Punkten mit den jeweils vertretenen Ansichten der Autoren aller Beiträge übereinstimmen, zumal es die Umstände erfordern können, von einer Äußerung abzusehen, wie etwa bei Fragen, die in einem schwebenden verfassungsgerichtlichen Verfahren eine Rolle spielen oder bei denen dies zu erwarten ist. Aus der besonderen Aufgabe des Handbuches ergab sich nach Meinung der Herausgeber auch die Notwendigkeit einer „Pluralität" der Autoren. Ähnlich wie die Herausgeber repräsentieren deshalb die Autoren der einzelnen Beiträge zu einem guten Teil die Vielfalt heutiger Grundauffassungen. Andere Persönlichkeiten, auf deren Mitarbeit die Herausgeber Wert gelegt hatten, haben dieser Bitte nicht entsprechen können oder konnten wegen unvorhergesehener anderweitiger Beanspruchung ihren Beitrag nicht zu Ende führen. Die Bearbeiter der einzelnen Beiträge hatten in der Gestaltung und Stellungnahme volle Freiheit; sie bringen ihre Auffassung zum Ausdruck. Es konnte nicht Aufgabe der Herausgeber sein, eine sachliche Abstimmung herbeizuführen. Sie haben jedoch den Inhalt der einzelnen Beiträge untereinander diskutiert; wenn dazu ihrer Auffassung nach Anlaß bestand, sind sie in ein Gespräch mit den Autoren eingetreten. In jedem Fall ist der Beitrag in der Fassung aufgenommen worden, für die sich der Bearbeiter entschieden hat. Die Herausgeber haben auch nicht auf eine Behebung von Überschneidungen in den einzelnen Beiträgen hingewirkt, um — zumal für den nur nachschlagenden Leser — den Gedankengang innerhalb der Beiträge nicht unnötig zu zerreißen. Die Beiträge enthalten im wesentlichen eine Darstellung, Erläuterung und Würdigung der von dem jeweiligen Thema erfaßten Verfassungsrechtslage. Neben der schon erwähnten Unterschiedlichkeit der politischen, staats- oder verfassungstheoretischen Ausgangspositionen lassen sie, wie bei einer Zahl von über 20 Autoren nicht anders erwartet werden konnte, wesentliche Unterschiede der Methodik erkennen. Ein gemeinsamer Grundzug ist indessen deutlich erkennbar: die in der Zeit der Weimarer Reichsverfassung noch umstrittene Uberzeugung, „daß eine allseitige Erfassung der Normen des Staatsrechts ohne Einbeziehung des Politischen gar nicht möglich ist" (Triepel). Diese Einsicht führt, wie Richard Thoma es formuliert hat, zu der Aufgabe, „ein jedes (Verfassungs-)Institut sowohl positivistisch zu fixieren, als auch zu begreifen als einen im Strom der Geschichte stehenden Versuch der Lösung eines politischen Problems". Das schließt die Aufgabe ein, die Frage nach der Bewährung der Verfassung und ihrer Institute zu stellen und, falls notwendig, eine Fortentwicklung ins Auge zu fassen. Es ist die Hoffnung der Herausgeber, daß das Handbuch in seiner Gesamtanlage wie in der Bearbeitung der einzelnen Themen auch hierzu beizutragen vermag. Dem Verlag Walter de Gruyter, im besonderen Herrn Dr. Helwig Hassenpflug, danken die Herausgeber für die verlegerische Betreuung und großzügige Förderung des Zustandekommens des Werkes, namentlich auch die rasche und sorgfältige Bearbeitung der Manuskripte und Korrekturen. Ihr Dank gilt den Autoren der Beiträge, auch für die Geduld, mit der sie, ebenso wie der Verlag, die durch anderweitige Inan-

VIII

Vorwort

spruchnahme der Herausgeber bedingte Verzögerung des Erscheinens dieses Buches in Kauf genommen haben, sowie Herrn Dr. Klaus-Eckart Gebauer für die Anfertigung des Sachregisters. Nicht zuletzt ist für seine Mitarbeit zu danken Herrn Minister D r . Diether Posser, der ursprünglich zu dem Kreis der Herausgeber gehörte, jedoch nach der Übernahme seines Amtes als Finanzminister von Nordrhein-Westfalen bitten mußte, ihn von seinen Pflichten zu entbinden. Karlsruhe, Florenz, Bonn Im März 1983

Die

Herausgeber

Inhaltsverzeichnis Vorwort Die Autoren

V XI

1. Kapitel. Grundlagen 1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland; Aufgabe und Funktion der Verfassung (KONRAD

HESSE)

3

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (JOCHEN A B R . FROWEIN)

29

3. Abschnitt. Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration ( W E R N E R VON S I M S O N )

59

2. Kapitel. Grundrechte 1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (KONRAD HESSE) Abschnitt. Die Menschenwürde ( E R N S T B E N D A ) 3 . Abschnitt. Freiheit und Gleichheit ( M A R T I N K R I E L E )

79

2.

107 129

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt. Abschnitt.

Prinzipien freiheitlicher Demokratie ( W E R N E R M A I H O F E R ) Das parlamentarische System ( H A N S - P E T E R S C H N E I D E R ) Wahlrecht ( E C K A R T SCHIFFER) Politische Parteien ( D I E T E R G R I M M ) Verbände ( D I E T E R G R I M M ) Massenmedien ( W O L F G A N G H O F F M A N N - R I E M )

. . .

173 239 295 317 373 389

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes 1. Abschnitt. Der soziale Rechtsstaat ( E R N S T B E N D A ) 2. 3.

Abschnitt. Ehe und Familie ( W O L F G A N G Z E I D L E R ) Abschnitt. Grundgesetz und Wirtschaftsordnung ( H A N S - J Ü R G E N

4. Abschnitt. Eigentum (PETER BADURA)

477 555 PAPIER) . .

609

653

X

Inhaltsverzeichnis

5. Abschnitt. Unternehmensverfassung — Mitbestimmung und Grundgesetz (ALBRECHT KRIEGER)

697

Abschnitt. Tarifautonomie ( A N K E F U C H S ) 7. Abschnitt. Sozialrecht. Sozialpolitik (DETLEF MERTEN)

6.

733

765

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes 1. Abschnitt. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes (HANS-JOCHEN

VOGEL)

809

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (FRANZ K L E I N ) 3.

863

Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung

( D I E T H E R POSSER)

899

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung 1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (WERNER MAIHOFER) 2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen des Grundgesetzes für das Bildungswesen (PETER G L O T Z und K L A U S F A B E R ) 3 . Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften ( P A U L M I K A T ) . . .

953 999 1059

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

4.

Abschnitt. Abschnitt, Abschnitt. Abschnitt.

8.

Kapitel. Der Schutz der Verfassung

1. 2. 3.

Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (THOMAS öffentlicher Dienst (JOSEF ISENSEE) Die Rechtsprechung ( W O L F G A N G H E Y D E ) Verfassungsgerichtsbarkeit ( H E L M U T S I M O N ) (ERHARD DENNINGER)

ELLWEIN) . . .

1093 1149 1199 1253

1293

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber ERNST BENDA

1331

HANS-JOCHEN VOGEL

1361

WERNER MAIHOFER

1381

Stichwortverzeichnis

(KLAUS-ECKART GEBAUER)

1417

Die Autoren

PETER BADURA,

Dr. jur., o. Professor an der Universität München

Dr. jur. h. c., Honorarprofessor an der Universität Trier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe

ERNST BENDA,

ERHARD DENNINGER, THOMAS ELLWEIN,

Dr. jur., Professor an der Universität Frankfurt/Main

Dr. jur., o. Professor an der Universität Konstanz

Regierungsdirektor im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, Bonn

KLAUS FABER,

Dr. jur., M . C . L . , o. Professor an der Universität Heidelberg, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

JOCHEN A B R . FROWEIN,

Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit a.D., Mitglied des Deutschen Bundestages, Bonn

ANKE FUCHS,

KLAUS-ECKART GEBAUER,

Dr. jur., Ministerialrat in der Staatskanzlei Rheinland-

Pfalz, Mainz Dr. phil., Senator für Wissenschaft und Forschung in Berlin a.D., Bundesgeschäftsführer der SPD, Bonn

PETER GLOTZ,

DIETER G R I M M ,

Dr. jur.,

LL.M.,

o. Professor an der Universität Bielefeld

Dr. jur., o. Professor an der Universität Freiburg i.Br., Richter des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe

KONRAD HESSE,

WOLFGANG HEYDE,

Dr. jur., Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, Bonn

Dr. jur., L L . M . , o. Professor an der Universität Hamburg, Direktor des Hans-Bredow-Instituts für Rundfunk und Fernsehen an der Universität Hamburg

WOLFGANG HOFFMANN-RIEM,

JOSEF ISENSEE,

Dr. jur., o. Professor an der Universität Bonn

Dr. jur., Honorarprofessor an der Universität Trier, Präsident des Bundesfinanzhofes, München

FRANZ KLEIN,

ALBRECHT KRIEGER,

Dr. h.c., Ministerialdirektor im Bundesministerium der Justiz,

Bonn MARTIN KRIELE,

Dr. jur., o. Professor an der Universität zu Köln

D i e Autoren

XII

Dr. jur., o. Professor an der Universität Bielefeld, Bundesminister des Innern a . D . , Präsident des Europäischen Hochschulinstituts, Florenz

WERNER MAIHOFER,

Dr. jur., Dr. rer. pol., o. Professor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Sozialrecht der Gesellschaft für Rechtspolitik Trier, Richter am Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz

DETLEF MERTEN,

Dr. jur., Dr. h.c., o. Professor an der Universität Bochum, Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen a . D . , Mitglied des Deutschen Bundestages, Bonn

PAUL MIKAT,

HANS-JÜRGEN PAPIER,

Dr. jur., o. Professor an der Universität Bielefeld

Dr. jur., Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Vorsitzender des Finanzausschusses des Bundesrates

D I E T H E R POSSER,

HELMUT SIMON,

Dr. jur., Richter des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe

W E R N E R VON S I M S O N , ECKART SCHIFFER,

Dr. jur., em. o. Professor an der Universität Freiburg i.Br.

Dr. jur., Ministerialdirektor im Bundesministerium des Innern,

Bonn HANS-PETER SCHNEIDER,

Dr. jur., o. Professor an der Universität Hannover

Dr. jur., Rechtsanwalt, Vorsitzender der Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag, Bundesminister der Justiz a . D . , Bonn

HANS-JOCHEN VOGEL,

Dr. jur., Honorarprofessor an der Universität Mainz, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Karlruhe

WOLFGANG ZEIDLER,

1. Kapitel Grundlagen Ubersicht d) Bedingungen tatsächlicher Geltung

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland; Aufgabe und Funktion der Verfassung ( K O N R A D H E S S E ) Einführung I. Die verfassungsrechtliche Entwicklung seit 1945 1. Vorgeschichte und Entstehung des Grundgesetzes a) Die Ausgangslage b) Die neuen Landesverfassungen c) Über den Landesbereich hinausgehende deutsche Einrichtungen d) Das Besatzungsrecht e) Die Entstehung des Grundgesetzes 2. Das Verfassungswerk im geschichtlichen Zusammenhang . . 3. Die weitere Verfassungsentwicklung a) Vom „Grundgesetz" zur „Verfassung" b) Bewahrung und Veränderung c) Überblick II. Die Verfassung und ihre Eigenart 1. Die Aufgaben der Verfassung . . 2. Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens 3. Die Eigenart des Verfassungsrechts a) Vorrang b) Offenheit c) Selbstgewährleistung des Verfassungsrechts

3

4 4 5 6 6 7 8 11 11 11 12

15 17 17 18 18 19

III. Zur heutigen und künftigen Bedeutung des Grundgesetzes 1. Die Bedeutung des Grundgesetzes in der Gegenwart 2. Das Grundgesetz und die Anforderungen der Zukunft 3. Voraussetzungen künftiger Funktionsfähigkeit

20

21 23 25

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (JOCHEN ABR. FROWEIN)

I. Einführung II. Die Kapitulation der deutschen Wehrmacht und die Besetzung des Reichsgebietes 1. Die Kapitulation 2. Die Besetzung Deutschlands . . . 3. Die Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die Erklärung vom 5. 6. 1945 4. Würdigung

29

30 30 32 33

III. Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1. Allgemeines 34 2. Das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zum Deutschen Reich 34 3. Das Verhältnis der Deutschen Demokratischen Republik zum Deutschen Reich 36

2

1. Kapitel. Grundlagen 4. Die Rechtsbeziehungen zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR

2. Konfliktmöglichkeiten mit verbliebener staatlicher Hoheitsmacht 37

IV. Der Viermächtestatus Deutschlands 1. Die Existenz von Rechten und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte 2. Das Recht zu gewaltsamer Intervention 3. Das Recht der Truppenstationierung 4. Die endgültige Regelung der deutschen Frage 5. Grenzfragen 6. Vier-Mächte-Status von Berlin . .

44 44 46

V. Das Fortbestehen des Deutschen Reiches 1. Die offiziellen Rechtspositionen . . 2. Würdigung

47 47

VI. Die deutsche Staatsangehörigkeit 1. Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland 2. Die deutsche Staatsangehörigkeit im Verhältnis zur D D R 3. Die deutsche Staatsangehörigkeit im Verhältnis zu Drittstaaten . . . 4. Würdigung VII. Der Status Berlins 1. Der völkerrechtliche Status . . . . 2. Die Rechtslage nach deutschem Recht VIII. Schluß

40 41 42

48 51 52 54 54 57 58

3. Abschnitt. Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration ( W E R N E R VON S I M S O N )

I. Form und Umfang außerstaatlicher Hoheitsgewalt 1. Gemeinsame Ausübung staatlicher Hoheitsrechte

59

II. Europäische Menschenrechts-Konvention 1. Deren rechtliche Wirkung . . . . 2. Vorrang vor späteren einzelstaatlichen Gesetzen 3. Faktische Präventivwirkung . . . III. Die Europäische Sozialcharta . . . . IV. Die Europäischen Gemeinschaftsverträge 1. Ihr Verhältnis zu einzelstaatlichen Verfassungsgeboten . . . 2. Schrittweise Entwicklung des gegenseitigen Verhältnisses . . . 3. Streit um die verfassungsrechtliche Bedeutsamkeit der Verträge 4. Tragweite der gemeinschaftsrechtlichen Garantien 5. Demokratische Legitimation der Gemeinschaftsgewalt 6. Die Grundrechte im Gemeinschaftsrecht 7. Einschlägige Vertragsnormen . . 8. Fünf ausdrückliche Freiheiten . . 9. Satzung des Europäischen Gerichtshofs 10. Wahrung „des Rechts" durch den Gerichtshof 11. Wahrung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft 12. Richterliche Anerkennung einzelner Grundrechte 13. Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention oder autonome Garantie 14. Deutsche Grundrechte praktisch gewahrt 15. Ausdehnung der Reichweite auf die Gemeinschaft 16. Gefahr einer verfrühten Gesamtstaatlichkeit

59

60 61 62 62

63 63 64 65 66 66 68 68 69 69 70 71

71 73 74 74

1. Abschnitt

Das Grundgesetz in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland; Aufgabe und Funktion der Verfassung K O N R A D HESSE

Einführung Das Verständnis der einzelnen Bestandteile und Probleme der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, denen die folgenden Kapitel gelten, setzt einen Einblick in das Ganze dieser Verfassung voraus. Es bedarf der Ausgangspunkte und eines gewissen Rahmens, mit deren Hilfe sich der Inhalt der Normierungen des Grundgesetzes erschließen läßt. Es bedarf der Einsicht in Grundlagen und Grundzusammenhänge, ohne die sich die Gegenwarts- und Zukunftsfragen des Verfassungsrechts nur unvollkommen beurteilen lassen. Es bedarf schließlich einer Darlegung der Probleme, die die Verfassung als ganze betreffen. Dieser Aufgabe dienen die Ausführungen des vorliegenden Abschnittes. Sie gehen davon aus, daß die Verfassung eines konkreten Gemeinwesens, ihr Inhalt, die Eigenart ihrer Normierungen und ihre Probleme geschichtlich begriffen werden müssen 1 . Nur die Einsicht in diese Geschichtlichkeit ermöglicht die volle Erfassung und zutreffende Beurteilung verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Fragen. Eine allgemeine und abstrakte Theorie, welche die Einbettung der Verfassung in die politisch-soziale Wirklichkeit und deren geschichtliche Besonderheiten außer Betracht läßt, vermag dies nicht zu leisten. Auch ein geschichtliches Verständnis kann freilich theoretischer Begründung und Ausformung nicht entraten. Nur muß solche Theorie auf die konkrete Verfassungsordnung und die Wirklichkeit'bezogen sein, welche die Verfassung zu ordnen bestimmt ist. Im folgenden ist daher in einem ersten, im wesentlichen historischen Teil die verfassungsrechtliche Entwicklung in der Bundesrepublik darzustellen. Vor dem damit gewonnenen Hintergrund sucht der zweite Teil die Aufgaben und die Eigenart der Verfassung zu verdeutlichen und damit zugleich Gesichtspunkte aufzuweisen, die für die Behandlung und Beurteilung aller Verfassungsfragen der Gegenwart, nicht nur 1

R. BÄUMLIN Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 7 ff.

4

1. Kapitel. Grundlagen

für die Interpretation der Verfassung, von wesentlicher Bedeutung sind. Aus den Darlegungen der beiden ersten Teile zieht der dritte Teil Konsequenzen für die Fragen nach der Bewährung des Grundgesetzes und seiner Eignung zur Bewältigung künftiger Aufgaben. — Angesichts der Begrenztheit des zur Verfügung stehenden Raumes kann dabei nicht mehr als ein relativ grober Uberblick gegeben werden; auf Vollständigkeit mußte ebenso verzichtet werden wie auf nähere Auseinandersetzung mit dem Schrifttum.

I. Die verfassungsrechtliche Entwicklung seit 1945 1. Vorgeschichte und Entstehung des Grundgesetzes Zweimal mußte in der jüngeren deutschen Geschichte der Aufbau einer neuen staatlichen Ordnung nach einer militärischen Niederlage und dem Zusammenbruch des bisherigen politischen Systems vollzogen werden: 1919 mit der Weimarer Verfassung und 1949 mit der Schaffung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 2 . Beide Male wurde die neue Ordnung nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern in Anknüpfung an frühere Verfassungen, die Reichsverfassung von 1871, die Reichsverfassung von 1849 und in gewisser Weise auch an die Verfassung des Deutschen Bundes von 1815. Bei aller Unterschiedlichkeit dieser Verfassungen gibt es daher geschichtliche Kontinuität, Ähnlichkeit oder sogar Identität zahlreicher Verfassungsinstitute. Aber das ändert nichts an den Brüchen der politischen und Verfassungsentwicklung und ihren Auswirkungen, die für den Bestand des geltenden Verfassungsrechts und die heutigen Probleme des Verfassungslebens von wesentlicher Bedeutung sind. a) Die Ausgangstage Tiefer noch als 1919 war der Einschnitt des Jahres 1945. Die bedingungslose Kapitulation des Reiches im Mai dieses Jahres hatte zur vollständigen Auslöschung organisierter und handlungsfähiger deutscher Staatlichkeit geführt. Auf der Grundlage der Viermächteerklärung vom 5. Juni 1945 übernahmen die Besatzungsmächte die oberste Regierungsgewalt in Deutschland. Sie wurde durch den Alliierten Kontrollrat ausgeübt, der aus den Oberbefehlshabern der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion bestand. Das Deutsche Reich wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Berlin wurde von allen vier Besatzungsmächten in je einem Sektor besetzt und durch eine aus den vier Kommandanten bestehende Behörde geleitet und verwaltet. In dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945

2

Den Verfassungen der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 und 1968, die nicht in gleicher Weise das politische System konstituieren, kommt eine vergleichbare Bedeutung nicht zu. — Von einer Darstellung der

Entwicklung im Bereich der Deutschen Demokratischen Republik wird im folgenden abgesehen, da sie von der Thematik dieses Beitrags nicht umfaßt ist.

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung; Aufgabe und Funktion (HESSE)

5

stimmten die Vereinigten Staaten und Großbritannien grundsätzlich der endgültigen Ubergabe der Stadt Königsberg und des anliegenden Gebietes an die Sowjetunion zu; die übrigen deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie wurden unter die Verwaltung des polnischen Staates gestellt. Auf dieser Grundlage und unter den Bedingungen einer zunächst vollständigen Herrschaft der Besatzungsmächte hat sich der Neubau deutscher Staatlichkeit von unten nach oben vollzogen, beginnend mit deutschen Verwaltungen auf der Gemeinde- und Kreisstufe über die Errichtung neuer Länder und die Schaffung von Länderverfassungen, die Einrichtung deutscher Zonen- und gemeinsamer Zonenverwaltungen bis zur Entstehung der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Verfassungen. b) Die neuen

Landesverfassungen

Am frühesten setzte die neue Verfassungsentwicklung in der amerikanischen Besatzungszone ein. Hier wurden durch Proklamation der Militärregierung drei Verwaltungsgebiete mit der Bezeichnung Staaten geschaffen: Bayern, Württemberg-Baden und Hessen. 1946 wurden verfassunggebende Landesversammlungen gewählt; die von diesen beschlossenen Landesverfassungen, die, namentlich in ihrem Grundrechtsteil, weitgehend an die Weimarer Reichsverfassung anknüpften, wurden im November und Dezember 1946 durch Volksabstimmungen gebilligt. Ein knappes Jahr später folgte die Hansestadt Bremen. Die neuen Staaten übernahmen sämtliche den Deutschen überlassenen Staatsauf gaben, auch solche des Reiches. In der britischen Besatzungszone war die Bildung neuer Länder ungleich schwieriger als in der amerikanischen, weil sie sich weniger an ältere Ländergliederungen anlehnen konnte. Aus den fünf ehemaligen Ländern und vier ehedem preußischen Provinzen, die das Besatzungsgebiet umfaßte, wurden im Jahre 1946 die Länder Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein geschaffen. Die Verfassungen dieser Länder sind — mit Ausnahme der vorläufigen Verfassung von Hamburg vom 15. Mai 1946 — erst nach Inkrafttreten des Grundgesetzes entstanden: Schleswig-Holstein gab sich am 30. Dezember 1949 eine Landessatzung, Nordrhein-Westfalen die Verfassung vom 18. Juni 1950, Niedersachsen die vorläufige Verfassung vom 13. April 1951, Hamburg die Verfassung vom 6. Juni 1952. Kennzeichnend für diese Verfassungen ist es namentlich, daß sie im Blick auf die Gewährleistungen des Grundgesetzes weitgehend oder ganz auf eigene Grundrechtsgarantien verzichten. In der französischen Besatzungszone entstanden noch im Jahre 1945 die neuen Länder Baden und Südwürttemberg-Hohenzollern. 1946 folgte das Land RheinlandPfalz. Diese Länder gaben sich 1947 Verfassungen. Berlin, das eine Sonderstellung einnimmt 3 , erhielt 1946 eine vorläufige und 1950 eine endgültige Verfassung. Das Saarland schließlich, das der Bundesrepublik erst 1957 politisch eingegliedert worden ist, gab sich im Jahre 1946 seine Verfassung.

3

Vgl. unten S. 54ff.

1. Kapitel. Grundlagen

6

Die auf diese Weise entstandene staatliche Gliederung des westdeutschen Raumes ist mit Ausnahme des auf der Grundlage des Art. 118 G G aus den Ländern Baden, Württemberg-Baden und Südwürttemberg-Hohenzollern 1951 neugebildeten Landes Baden-Württemberg erhalten geblieben. Baden-Württemberg hat sich im Jahre 1953 eine Verfassung gegeben. Die Verfassungen dieser Periode gelten bis heute, wenn auch mehrfach geändert 4 , fort. Von praktischer Bedeutung sind neben den Bestimmungen über die Staatsorganisation vor allem diejenigen Regelungen geblieben, die sich auf Gebiete der Gesetzgebungskompetenz der Länder beziehen, wie das Schul- und das Kommunalrecht. Die zum Teil umfassenden Grundrechtsgewährleistungen sind zwar in Kraft geblieben (vgl. Art. 142 G G ) . Sie sind aber gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes nahezu gänzlich in den Hintergrund getreten. c) Über den Landesbereich hinausgehende deutsche Einrichtungen Schon in der Zeit der Errichtung der deutschen Länder und bald danach sind auch deutsche Einrichtungen entstanden, deren Aufgaben über den Landesbereich hinausreichten. Im Oktober 1945 wurde für die amerikanische Besatzungszone der Länderrat geschaffen. Ihm folgten im Februar 1946 der Zonenbeirat und die Zonenämter in der britischen Zone. Die französische Besatzungszone hat keine umfassenden Zoneneinrichtungen gekannt. Im Herbst 1946 begannen dann die amerikanische und die britische Besatzungsmacht, gemeinsame Zoneneinrichtungen für ihre beiden Zonen zu schaffen. Aus ihnen entstand 1947 die gemeinsame Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes („Bizone") mit den Organen eines Wirtschafts-, eines Länderund eines Verwaltungsrates. Dieser Zusammenschluß ist in gewisser Weise ein Vorläufer der Bundesrepublik geworden. Nach Art. 133 G G ist der Bund in die Rechte und Pflichten des Vereinigten Wirtschaftsgebietes eingetreten. d) Das Besatzungsrecht Alle diese Ansätze neuer deutscher Staatlichkeit änderten freilich nichts an der obersten Gewalt der Besatzungsmächte und damit auch dem uneingeschränkten Vorrang des Besatzungsrechts: N u r dort, wo die Besatzungsmacht 5 dies verlangte, zuließ oder nicht intervenierte, mußten oder konnten die deutschen Stellen tätig werden; eine feste Grenze war den Befugnissen der Besatzungsmächte nicht gezogen. Diese brachte erst nach Verabschiedung des Grundgesetzes das Besatzungsstatut vom 12. Mai 1949, das diese Befugnisse festlegte, sowie das revidierte Besatzungsstatut vom 6. März 1951. Mit dem Inkrafttreten des Deutschlandvertrages am 5. Mai 1955 ist dann das Besatzungsregime beendet worden 6 . Die weitgehende Uberlagerung

4

5

Vgl. dazu CH. PESTALOZZA Die Verfassungen der deutschen Bundesländer (Textausgabe) 2. Aufl. 1981, Einführung S. X I I f f . Das gemeinsame Organ, der Alliierte Kontrollrat, wurde am 20. März 1948 vertagt und

6

ist seitdem nicht mehr zusammengetreten. D a z u das Pariser Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. 10. 1954, B G B l . II, 1955, S. 215.

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung; Aufgabe und Funktion (HESSE)

7

durch das Recht und die Anordnungen der Besatzungsmächte ist auch für die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und die ersten Jahre der Bundesrepublik kennzeichnend gewesen. e) Die Entstehung

des

Grundgesetzes

In der dargestellten Entwicklung war bereits die Differenz zwischen den Verhältnissen in den westlichen Besatzungszonen und in der sowjetischen zutage getreten. Die Frage der deutschen Einheit war ungelöst. Es mußte befürchtet werden, daß die Bildung eines das Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen umfassenden deutschen Staates die Teilung Deutschlands perpetuieren würde. Dieser Umstand ist von wesentlicher Bedeutung für die Art der Entstehung und den Inhalt des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland geworden. Die Geschichte der Entstehung des Grundgesetzes 7 beginnt mit den Frankfurter Dokumenten, die den 11 Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder am 1. Juli 1948 von den Besatzungsmächten übergeben wurden. Sie enthielten die Aufforderung, eine verfassunggebende Nationalversammlung einzuberufen, beauftragten die Ministerpräsidenten mit der Prüfung der Frage einer Änderung der Ländergrenzen und umfaßten Leitsätze für das zu erlassende Besatzungsstatut. Die Ministerpräsidenten setzten dem die Vorstellung eines bloßen Organisationsstatuts für die westlichen Besatzungszonen entgegen. Sie gingen davon aus, daß auf alles verzichtet werden müsse, was auf einen vollkommenen Staat hinausliefe, weil anderenfalls die Aufhebung der deutschen Spaltung nicht möglich sein würde. Demgemäß schlugen sie die Bildung eines Parlamentarischen Rates zur Ausarbeitung eines Gesetzes für eine einheitliche Verwaltung des westlichen Besatzungsgebietes vor. Sie stießen damit auf Ablehnung; nur die Beschränkung auf die Einberufung eines Parlamentarischen Rates wurde zugestanden. Dieser trat am 1. September 1948 in Bonn zusammen. Er bestand aus 65 Mitgliedern, die von den Landtagen der 11 Länder gewählt worden waren. In seiner Arbeit konnte er an den im August 1948 aufgestellten Entwurf des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee anknüpfen, eines Sachverständigengremiums, das von den Ministerpräsidenten bestellt worden war. Im Verlauf seiner bis zum Mai 1949 andauernden Beratungen arbeitete der Parlamentarische Rat ein Grundgesetz aus, das in seinen föderativen Regelungen weitgehend durch die Forderungen der mehrfach intervenierenden Besatzungsmächte bestimmt war 8 . Als vorläufige Ordnung suchte es die Lösung der deutschen Frage offenzuhalten 9 , ging aber, namentlich in der Gewährleistung von Grundrechten, doch über den Charakter eines Organisationsstatuts hinaus. Am 8. Mai 1949, dem fünften Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation, nahm der Parlamentarische Rat das Grundgesetz mit 53 gegen 12 Stimmen an. Ebenso wurde es nach Bestimmung der Besatzungsmächte in 10

7

8

Im einzelnen dokumentiert in J ö R N . F . 1, 1 9 5 1 , S. l f f . Texte der Memoranden und Schreiben der Militärgouverneure und Außenminister bei

9

E. R. HUBER Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit II, 1 9 5 1 , S. 2 0 8 f f . In der endgültigen Fassung deutlich namentlich in der Präambel, in A r t . 23 und in A r t . 146.

1. Kapitel. Grundlagen

8

westdeutschen Landtagen angenommen (vgl. Art. 144 Abs. 1 GG) 1 0 . Mit dem Ablauf des 23. Mai 1949 ist es in Kraft getreten (Art. 145 Abs. 2 GG). 2. Das Verfassungswerk im geschichtlichen Zusammenhang Eine „Stunde Null", aber kein revolutionärer, nicht einmal ein grundsätzlicher und umfassender Neubeginn, kein Aufbruch zu neuen Ufern, sondern eine Rückkehr an die sicheren Gestade deutscher und gemeineuropäischer Verfassungstradition: Wer dies dem Grundgesetz zum Vorwurf machen will, verkennt die Geschichte seiner Entstehung. Der Grundgesetzgeber war nicht frei wie die Nationalversammlungen von 1848 und 1919. Wie die Landesverfassungen hat das Grundgesetz daher den Inhalt früherer deutscher Verfassungen aufgenommen, ist es, wenn man so will, nach rückwärts gewendet. Gleichwohl weicht es in charakteristischer und prägender Weise von seinen Vorgängern ab, und diese Abkehr ist weithin ebenfalls das Resultat einer Rückwendung, des Blicks auf die Geschehnisse, die Fehlschläge und Katastrophen der jüngeren Vergangenheit und der gebieterischen Konsequenz daraus: daß dies alles sich nicht wiederholen dürfe, daß alles getan werden müsse, um gleichen oder ähnlichen Entwicklungen entgegenzuwirken. In dem Bestreben, die Fehler zu vermeiden, die — wirklich oder vermeintlich 11 — zum Scheitern der Weimarer Republik geführt haben, in der entschiedenen Absetzung von dem Unrechtssystem des „Dritten Reiches" und in den daraus gezogenen verfassungsrechtlichen Folgerungen hat das Grundgesetz neben dem Sozialstaatsgebot (vielleicht unbewußt) mehr an Neuem geschaffen und ermöglicht, als die Kritik wahrhaben will, die ihm einen restaurativen Grundzug vorwirft. Unmittelbarster Ausdruck der Absetzung gegenüber der Vergangenheit des nationalsozialistischen Regimes ist der Eingangsartikel des Grundgesetzes, in dem das Fundament der neuen Ordnung gelegt wird: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) als oberstes Konstitutionsprinzip der verfassungsmäßigen Ordnung des Gemeinwesens, dessen Legitimität nach einer Zeit der Unmenschlichkeit und im Zeichen gegenwärtig-latenter Gefährdung der Würde des Menschen in der Achtung und im Schutz der Menschlichkeit liegt. In die gleiche Richtung weist das Bekenntnis zu den Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft (Art. 1 Abs. 2 GG).

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11

Abgelehnt wurde das Grundgesetz im Bayerischen Landtag, der jedoch die Zugehörigkeit Bayerns zur Bundesrepublik bejahte. Wie weit für dieses Scheitern institutionelle Mängel der Reichsverfassung ausschlaggebend gewesen sind, ist fraglich und umstritten. Kritisch etwa W. WEBER Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, in: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 32ff; U . SCHEUNER Die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung unter den Präsi-

dentschaften von Ebert und Hindenburg, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik, Festschrift für Heinrich Brüning, 1967, S. 249ff; E. FRIESENHAHN Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung, in: Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, hrsg. von K . D . Erdmann/H. Schulze, 1980, S. 81 ff; E . - W . BÖKKENFÖRDE Weimar — Vom Scheitern einer zu früh gekommenen Demokratie, D Ö V 1981, 946 ff.

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung; Aufgabe und Funktion (HESSE)

9

Aber auch in der Normierung und Gewichtung der übrigen Verfassungsprinzipien, der Grundrechte, der Stellung und des Verhältnisses der staatlichen Organe zueinander, der Ausgestaltung der föderativen Ordnung zeigt sich jene Reaktion auf die Vergangenheit — insofern überwiegend die Entwicklung der Weimarer Republik. Das Bild, das sich insgesamt aus der Verknüpfung von Altem und Neuem ergibt, kann hier nur in groben Umrissen nachgezeichnet werden. Während das primär bestimmende Element der Reichsverfassung von 1871 das föderative Element war, nimmt im Grundgesetz, ebenso wie schon in der Weimarer Reichsverfassung, das demokratische Prinzip diesen Rang ein; die plebiszitären Elemente der Weimarer Verfassung: die Institute des Volksbegehrens und des Volksentscheids sowie die Volkswahl des Reichspräsidenten sind freilich weitgehend eliminiert; zugleich werden erstmals die politischen Parteien in die Verfassungsordnung einbezogen (Art. 21 GG). Das föderative Element erhält im Grundgesetz gegenüber der Weimarer Verfassung größeres Gewicht, deutlich namentlich in den Kompetenzen des Bundesrates, der Erweiterung der Länderverwaltung im VIII. Abschnitt des Grundgesetzes und den Bestimmungen über das Finanzwesen. Eine stärkere Betonung als in der Weimarer Verfassung und vollends in der Reichsverfassung von 1871 erfährt schließlich das Rechtsstaatsprinzip, auch das eine Reaktion auf die Mißachtung rechtsstaatlicher Grundsätze in der Zeit des NS-Regimes. Dies manifestiert sich namentlich in der Verstärkung der bindenden Kraft des Verfassungsrechts (Art. 20 Abs. 3 GG), besonders der Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG), auch für die gesetzgebende Gewalt. Mit dieser Verstärkung hängt eine wesentliche Verschiebung in der Ordnung der staatlichen Funktionen zusammen. Sie besteht in einer den Vorgängern des Grundgesetzes unbekannten Ausweitung der Rechtsprechung, die nunmehr zur gerichtlichen Kontrolle aller Akte der öffentlichen Gewalt berufen ist (Art. 19 Abs. 4 G G ) — eine Entscheidung, die je nach Standpunkt als Krönung des Rechtsstaates 12 oder als Etablierung des Justizstaats 13 gewürdigt worden ist — und in einer Ausdehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die ebenfalls ohne geschichtliches Vorbild ist. Fehler der Weimarer Verfassung sucht das Grundgesetz im Recht der obersten Bundesorgane zu beheben. Dies gilt namentlich für die Bildung der Bundesregierung (Art. 63f GG), die Regelung des konstruktiven Mißtrauensvotums (Art. 67 G G ) sowie für die Kompetenzen des Bundespräsidenten, dessen Stellung mit derjenigen des Reichspräsidenten nach der Weimarer Verfassung kaum noch vergleichbar ist. Die Entwicklung eines „Präsidialsystems", wie es die letzten Jahre der Weimarer Republik gekennzeichnet hat, ist damit ausgeschlossen. Ein ebenfalls aus den historischen Erfahrungen hervorgegangener, den Vorläufern des Grundgesetzes unbekannter Zug des Grundgesetzes ist schließlich der verstärkte Schutz der Verfassung, dem die Schöpfer des Grundgesetzes ihr besonderes Augenmerk zugewendet haben. Dem dient neben dem Verbot einer Aushöhlung der

12

H. JAHRREISS in: Mensch und Staat, 1957, S. 126.

13

E. FORSTHOFF Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für C . Schmitt, 1959, S. 35 ff.

1. Kapitel. Grundlagen

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Grundrechte (Art. 19 Abs. 2 G G ) und der Einschaltung der rechtsprechenden Gewalt in das Zusammenwirken und die Kontrolle der staatlichen Gewalten der Ausschluß von Verfassungsdurchbrechungen (Art. 79 Abs. 1 G G ) und die Begrenzung von Verfassungsänderungen (Art. 79 Abs. 3 G G ) 1 4 . In den gleichen Zusammenhang gehören die in der deutschen Verfassungsentwicklung neuen Bestimmungen zur Sicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, namentlich die Verbotsmöglichkeit politischer Parteien (Art. 21 Abs. 2 G G ) . Tritt in Bestimmungen dieser Art die motivierende Bedeutung des Rückblicks unverkennbar hervor, so gibt es doch auch den Blick nach vorn: In Art. 24 weist das Grundgesetz in eine — ungewisse — Zukunft, der es den Gedanken der innerstaatlichen Souveränität zum Opfer bringt. Die in dieser Bestimmung enthaltene Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen hat die Grundlage für die Einfügung der Bundesrepublik in die Europäischen Gemeinschaften geschaffen 1 5 . In den dargestellten Unterschieden zeichnet sich freilich das volle Ausmaß der Differenz zwischen der heutigen und früheren Verfassungslagen noch nicht ab. Kaum minder wichtig als die institutionellen Regelungen und ihr Wortlaut ist das Verständnis der Verfassung und der Tragweite ihrer Normierungen, das deren Auslegung weitgehend beeinflußt. Es kennzeichnet die Verfassungslage unter dem Grundgesetz, daß auf der Grundlage eines stärker inhaltlich geprägten Verfassungsverständnisses und einer weiten Auslegung namentlich der Grundrechte nahezu das gesamte Leben des Gemeinwesens bis hin zu der bürgerlichen Rechtsordnung als in seinen Grundlagen verfassungsrechtlich bestimmt und geordnet betrachtet wird, daß dem Grundgesetz mithin für dieses Leben ungleich größere Bedeutung zukommt als allen seinen Vorgängern 1 6 . So bedeutsam daher die Ursprünge sind und bleiben, ist nicht zu verkennen, daß das Grundgesetz sich von den Absichten und Erwartungen seiner Väter weitgehend gelöst hat: Es ist in ein Eigenleben getreten und entfaltet insoweit eine Selbstgesetzlichkeit, in der Züge eines Wandels deutlich hervortreten.

14

Nach herrschender Auffassung der Weimarer Staatsrechtslehre konnte sich der Gesetzgeber mit den für Verfassungsänderungen erforderlichen Mehrheiten über die Verfassung hinwegsetzen, ohne deren Text zu ändern (Verfassungsdurchbrechung). Ebenso waren einer Verfassungsänderung keine Grenzen gezogen: Sofern nur die Voraussetzung der erforderlichen qualifizierten Mehrheiten erfüllt war, konnten durch verfassungsänderndes Gesetz „Verfassungsänderungen jeder Art bewirkt werden: nicht nur minder bedeutsame, mehr durch technische als durch politische Erwägungen bedingte, sondern bedeutsame, einschließlich solcher, die sich auf die rechtliche Natur des Reichsganzen (Bundesstaat), die Zuständigkeitsverteilung zwischen

Reich und Ländern, die Staats- und Regierungsform des Reichs und der Länder (Republik, Demokratie, Wahlrecht, Parlamentarismus, Volksentscheid, Volksbegehren) und andere prinzipielle Fragen (Grundrechte!) beziehen" ( G . ANSCHÜTZ Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, Anm. 3 zu Art. 76). Demgegenüber läßt Art. 79 Abs. 3 G G keinen Zweifel daran, daß Verfassungsänderungen, die den materiellen Kern der Verfassung betreffen, nach dem Grundgesetz ausgeschlossen sind; er enthält ferner ein Verbot der Beseitigung der bundesstaatlichen Ordnung. 15 16

D a z u unten S. 59ff. Vgl. unten S. 90ff.

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung; Aufgabe und Funktion (HESSE)

11

3. Die weitere Verfassungsentwicklung a) Vom „Grundgesetz"

zur

„Verfassung"

Ein Wandel gegenüber der ursprünglichen Lage liegt zunächst und vor allem darin, daß das Grundgesetz sehr bald seinen Charakter als Provisorium abgestreift hat. Ist es schon von vornherein mehr als eine Teilordnung als das anfänglich angestrebte „Organisationsstatut" gewesen, so hat es sich in der Zwischenzeit auch als dauerhafte Ordnung erwiesen — die Zeit seiner Geltung beträgt inzwischen mehr als das Doppelte derjenigen der Weimarer Verfassung. Diese Ordnung ist auch von größerer Lebens- und Wirkkraft als manche Kritiker vorausgesagt haben: Der Bundesrepublik sind unter ihr drei Jahrzehnte politischer Stabilität beschieden gewesen, wobei freilich offen ist, ob und inwieweit diese Stabilität institutionellen Regelungen, vor allem dem geltenden Wahlrecht mit seiner 5%-Klausel, zu verdanken ist 17 . Ein Wechsel der die Regierung stellenden politischen Kräfte hat sich sowohl mit der Bildung der Großen Koalition von C D U / C S U und SPD im Jahre 1966 als auch derjenigen von SPD und FDP im Jahre 1969 reibungslos vollzogen und das Modell alternativer Regierung Wirklichkeit werden lassen. Schließlich erscheint auch der Mangel geheilt, daß das Grundgesetz nicht von einer unmittelbar vom Volke gewählten Versammlung beschlossen oder einer Volksabstimmung unterworfen worden ist und deshalb dem Einwand unzureichender demokratischer Legitimation ausgesetzt war. Denn die Zustimmung der Mehrheit des Volkes zu seiner Verfassung ist inzwischen zwar nicht förmlich, aber doch der Sache nach gegeben: Auch wenn das Grundgesetz kein Volks-, sondern eher ein Juristengesetz ist 18 , ist es doch, namentlich in seinen Grundprinzipien und den Grundrechten, von den Menschen grundsätzlich „angenommen" worden, die unter ihm leben; insoweit dürfte es in das Bewußtsein breiterer Bevölkerungskreise gedrungen sein als seine geschichtlichen Vorgänger. Die Unterschiede gegenüber einer echten Verfassung, die in der Bezeichnung „Grundgesetz" Ausdruck finden sollten, sind damit gegenstandslos geworden: Das Grundgesetz ist zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland geworden, wenn auch unter dem Vorbehalt ihrer Ablösung durch eine gesamtdeutsche Verfassung (Art. 146 GG). b) Bewahrung und

Veränderung

Von diesem Wandel abgesehen ist das Grundgesetz in den Grundlinien seiner Konzeption erhalten geblieben; es zeigen sich insoweit in der Entwicklung seit 1949 einzelne Verlagerungen und neue Wege, die vor allem auf förmliche Verfassungsänderungen zurückgehen, aber keine tiefer gehenden Veränderungen des vom Parlamentarischen Rat festgelegten Grundschemas. Von insgesamt vermutlich größerer Bedeutung ist daneben der Prozeß kontinuierlicher Ausgestaltung und Festigung, das erweiterte Verständnis und die erweiterte Auslegung der Verfassung im Zusammen17

Sicher ist sie jedenfalls nicht auf das zweimalige Verbot extremer politischer Parteien zurückzuführen, der Sozialistischen Reichspartei im Jahre 1952 ( B V e r f G E 2, 1 ff) und der Kommunistischen Partei Deutschlands im

Jahre 1956 ( B V e r f G E 5, 85ff). Zur Rolle der 5%-Klausel: U . SCHEUNER Das Grundgesetz in der Entwicklung zweier Jahrzehnte, A ö R 95, 1970, S . 374. >8 W . W E B E R ( A n m . 1 1 ) S . 1 6 .

12

1. Kapitel. Grundlagen

wirken mit ihrer unmittelbaren Verbindlichkeit, durch die das geltende Verfassungsrecht sowohl in der Tragweite seiner Regelungen als auch in seiner Wirkkraft über seine Ursprünge hinausgewachsen ist. Die hierdurch bewirkte Veränderung wird deutlich, wenn die Rolle des Verfassungsrechts in der Zeit der Vorgänger des Grundgesetzes mit derjenigen der Gegenwart verglichen wird. Sie ist vor allem ein Werk der Rechtsprechung, voran des Bundesverfassungsgerichts, aber auch der Wissenschaft gewesen. c) Überblick Unter den bisher 34 Gesetzen zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes 19 sind von größerer Tragweite das vierte von 1954 und das siebente von 1956 gewesen, die im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung die verfassungsrechtlichen Grundlagen für das Verteidigungswesen der Bundesrepublik geschaffen haben, ferner das 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes von 1968, das diesem eine umfangreiche Notstandsregelung einfügte — auch hier wieder maßgebend von dem Bestreben geleitet, die Mängel der Regelung des Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Verfassung zu vermeiden und den Gefahren einer allgemeinen Notstandsklausel zu wehren. Die übrigen förmlichen Verfassungsänderungen und -ergänzungen haben ganz überwiegend der bundesstaatlichen Ordnung 2 0 , im besonderen der Ordnung des Finanzwesens gegolten, freilich in diesem Zusammenhang mit dem 15. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes von 1967 auch wichtige verfassungsrechtliche Grundlagen zur Erhaltung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geschaffen (Art. 109 Abs. 2 - 4 GG) 2 1 . In den zahlreichen Korrekturen an der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und der Konzeption der Ordnung des Finanzwesens spiegeln sich die erheblichen Spannungen und Schwierigkeiten der föderativen Ordnung wider, zu denen die Starrheit der Regelung dieser Materien durch die ursprüngliche Fassung des Grundgesetzes geführt hatte 22 . Sie warfen die Grundfrage nach Aufgabe und Funktion der bundesstaatlichen Ordnung in der Gegenwart des modernen Sozialstaates auf, die der Verfassunggeber nicht im Auge gehabt hatte. Ansätze einer Bundesstaatsreform in dem Finanzreformgesetz von 1969 haben einer Lösung kaum nähergeführt. Die Herstellung einer Grundvoraussetzung hierfür, nämlich die Bildung leistungsfähiger Länder, dürfte durch das 33. Änderungsgesetz von 1976 auf Dauer vertagt worden sein, das den obligatorischen Verfassungsauftrag zur Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29 Abs. 1 G G ) in eine bloße Ermächtigung verwandelt hat. Haben sich damit im Bereich der bundesstaatlichen Ordnung nicht unwesentliche Änderungen ergeben und steht insoweit eine grundsätzliche Lösung aus, so kann 19

20

Durch sie sind 47 Artikel teilweise mehrfach geändert, 33 Artikel neu eingeführt und 7 Artikel gestrichen worden. Eine zusammenfassende Würdigung gibt R. STEINBERG Verfassungspolitik und offene Verfassung, J Z 1980, 389f m . w . N . Dazu unten S. 809ff.

21

22

Dazu das Stabilitätsgesetz vom 8. 6. 1967 (BGBl. I S. 582) mit spät. Änderungen, Sehr kennzeichnend die Große Anfrage der Abgeordneten LENZ und GEN. vom 2. 6. 1968 und die Antwort des Bundesministers des Innern vom 20. 3. 1969, BT-Drucks. V/4002.

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung; Aufgabe und Funktion (HESSE)

13

Ähnliches nicht oder zumindest nicht in gleichem Maße für die übrigen Bereiche der Verfassungsordnung gelten. Abgesehen von einigen Änderungen technischer Art (Änderung des Art. 39, Streichung der Art. 45 und 49), der Konstitutionalisierung der Ausschüsse für Auswärtiges und Verteidigung sowie des Petitionsausschusses (Art. 45 a und c), der Einführung des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages (Art. 45 b) und des Gemeinsamen Ausschusses (Art. 53 a) sowie der Übertragung der Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte auf den Bundesverteidigungsminister (Art. 65a), ist das Recht des III.—VI. Abschnittes des Grundgesetzes über die obersten Bundesorgane in seinem Bestand unverändert geblieben. Den neuen Lösungen des konstruktiven Mißtrauensvotums (Art. 67) und des Gesetzgebungsnotstands (Art. 81) ist eine Bewährungsprobe bisher erspart geblieben 23 . Allerdings sind auch hier gegenüber der ursprünglichen Anlage der Verfassung gewisse Gewichtsverlagerungen unverkennbar. Sie dokumentieren sich einerseits in der Rolle des Bundesrates, die im Gegensatz zu dem Gewicht des Reichsrates nach der Weimarer Reichsverfassung und des Bundesrates nach der Reichsverfassung von 1871 im Lauf der Entwicklung zunehmend stärker geworden ist, andererseits in einer Machtverschiebung zwischen Bundestag und Bundesregierung, in der Probleme des Parlamentarismus im modernen Staat deutlich hervortreten. Beide Veränderungen haben indessen nicht in gleich unmittelbarer Weise zu praktischen Schwierigkeiten geführt wie im Bereich der föderativen Ordnung; sie lassen sich auch kaum auf die verfassungsrechtliche Ausgestaltung zurückführen. Wenn heute das Parlament in der Erfüllung seiner Aufgabe demokratischer Gesamtleitung, Willensbildung und Kontrolle gegenüber der Regierung im Nachteil ist, dann beruht dies eher auf den Bedingungen seines und des Wirkens der Regierung im lenkenden und leistenden Staat der Gegenwart, namentlich auch auf den aus diesen Bedingungen resultierenden Erfordernissen längerfristiger Planung und wirtschaftlicher Steuerung. Deshalb ist bislang auch offen, ob und inwieweit sich der Verstärkung der Rolle der Exekutive durch institutionelle Regelungen des Verfassungsrechts begegnen läßt, ob nicht die Lösung der Probleme eher in einer grundsätzlichen Veränderung der Arbeitsweise des Parlaments zu suchen ist, die eine Änderung des insofern weiten Raum lassenden Verfassungsrechts nicht voraussetzt 24 . Im wesentlichen unverändert sind auch die verfassungsrechtlichen Regelungen auf dem Gebiet der Rechtsprechung geblieben. Von einer gewissen Bedeutung sind hier der Wegfall des ursprünglich zur Wahrung der Einheit des Bundesrechts vorgesehenen obersten Bundesgerichts und seine Ersetzung durch einen gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes 25 sowie die Aufnahme der Verfassungsbeschwerde in den Katalog des Art. 93 Abs. 1 G G durch das 19. Änderungsgesetz von 1969, mit der eine Rechtslage Verfassungskraft erlangt hat, die schon mit dem 23

Das gilt auch für die Lösung der Regierungskrise des Jahres 1972, für die nach dem Scheitern eines Antrags gem. Art. 67 G G der Weg der Vertrauensfrage (Art. 68 Abs. 1 Satz 1

GG) und der Auflösung des Bundestages eingeschlagen worden ist. 24

V g l . SCHEUNER ( A n m . 17) S. 3 8 0 .

25

16. Änderungsgesetz zum Grundgesetz vom 18. 6. 1968 (BGBl. I S.S. 657).

14

1. Kapitel. Grundlagen

Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951 geschaffen worden war (§§ 90f), und auf der zu einem nicht unwesentlichen Teil die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Rechtsprechung beruht. Die übrigen Veränderungen in diesem Bereich beschränken sich auf Korrekturen technischer oder terminologischer Art. Schließlich die Normierung von Grundrechten im Grundgesetz: Sie ist in ihrem ursprünglichen Bestand nahezu vollständig erhalten. Ergänzungen, Modifikationen und Änderungen von einigem Gewicht haben das 7. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes mit der Regelung von Grundrechtsbeschränkungen für Wehr- und Ersatzdienstleistende (Art. 17 a) und die Notstandsnovelle von 1968 gebracht. Insoweit ist vor allem hinzuweisen auf die ausdrückliche Gewährleistung des Rechts zum Arbeitskampf im Falle eines Notstandes (Art. 9 Abs. 3 Satz 3) und — nicht auf Notstandsfälle begrenzte — Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 19 Abs. 4 Satz 3) 26 . Mit der weitgehenden Bewahrung des äußeren Bestandes der Grundrechte hat sich indessen eine grundlegende Ausweitung und Verstärkung ihrer Tragweite verbunden, welche der heutigen Verfassungslage ihre prägenden Züge gegeben hat: Auf dem Gebiet der Grundrechte tritt der neben der Weiterentwicklung durch förmliche Verfassungsänderungen sich vollziehende innere Ausbau und die Ausgestaltung der Verfassungsordnung (oben S. l l f ) mit besonderer Deutlichkeit hervor, und er ist gerade hier von ausschlaggebender Bedeutung geworden. Insofern hat die Rechtsprechung, namentlich des Bundesverfassungsgerichts, wesentlichen Anteil an der Fortbildung des Verfassungsrechts 27 . Ohne wesentliche praktische Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Verfassungsordnung ist die Arbeit der vom Bundestag durch die Beschlüsse vom 8. Oktober 1970 und 22. Februar 1973 eingesetzten Enquete-Kommission für Fragen der Verfassungsreform geblieben. Ihr Auftrag war darauf beschränkt ,,zu prüfen, ob und inwieweit es erforderlich ist, das Grundgesetz den gegenwärtigen und voraussehbar zukünftigen Erfordernissen — unter Wahrung seiner Grundprinzipien — anzupassen". In Ausführung dieses Auftrags hat die Kommission im Dezember 1976 ihren Schlußbericht vorgelegt 28 . Der Bericht konzentriert sich auf die Fragenkomplexe „Parlament und Regierung" sowie „Bund und Länder". Unter dem ersten Aspekt werden vor allem Probleme der politischen Mitwirkungsrechte der Bürger, der Stellung des Bundestages, der Dauer und Beendigung der Wahlperiode, der parlamentarischen Kontrollrechte und der Einsetzung eines Bundeswirtschafts- und Sozialrates behandelt, unter dem zweiten namentlich Fragen der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen, der Finanzordnung, der Rahmenplanung und Investitionsfinanzierung sowie der Stellung des Bundesrates. Zu diesen Fragen hat die Kommission Empfehlungen einer Änderung des Grundgesetzes ausgearbeitet, mit deren Realisierung indessen auf absehbare Zeit nicht zu rechnen sein wird 2 9 .

26 27 28

Vgl. dazu BVerfGE 30, 1 (17ff). Dazu näher unten S. 90ff. BT-Drucks. 7/5924. Vgl. auch den Zwischenbericht von 1973, BT-Drucks. VI/3829.

29

Zur Würdigung der Arbeit der Kommission: R. WAHL Empfehlungen zur Verfassungsreform, AöR 103, 1978, S. 477ff ( m . w . N . S. 484 A n m . 20); R . GRAWERT Z u r V e r f a s s u n g s -

I. Abschnitt. D a s Grundgesetz in der Entwicklung; A u f g a b e und Funktion (HESSE)

15

II. Die Verfassung und ihre Eigenart „Jeder dauernde Verband bedarf einer Ordnung, der gemäß sein Wille gebildet und vollzogen, sein Bereich abgegrenzt, die Stellung seiner Mitglieder in ihm und zu ihm geregelt wird. Eine derartige Ordnung heißt eine Verfassung. Notwendig hat daher jeder Staat eine Verfassung . . . Die Regel aber bildet bei Kulturvölkern eine rechtlich anerkannte, aus Rechtssätzen bestehende Ordnung. Die Verfassung umfaßt demnach in der Regel die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des Einzelnen zur Staatsgewalt 3 0 ." Diese beschreibende Kennzeichnung G E O R G J E L L I N E K S vermag eine erste Orientierung zu vermitteln 31 . Da sie im Allgemeinen stehen bleibt, ist sie freilich zum Verständnis und zur Bewältigung der Fragen des in der Bundesrepublik geltenden Verfassungsrechts nur eine schwache und unvollkommene Hilfe. Dafür bedarf es näherer Einsicht in die Aufgaben, die Funktion und die Eigenart der Verfassung in der Wirklichkeit heutigen konkret-geschichtlichen Lebens. 1. Die Aufgaben der Verfassung Die Funktion, welche die Verfassung im Leben des Gemeinwesens erfüllen soll, gilt zwei Grundaufgaben: der Bildung und Erhaltung politischer Einheit sowie der Schaffung und Erhaltung rechtlicher Ordnung. Beide hängen eng miteinander zusammen 3 2 . Die politische Handlungseinheit, die wir „Staat" nennen, ist nicht, wie in der Umschreibung G . Jellineks vorausgesetzt, etwas, was ohne weiteres vorgegeben ist. Es bedarf der Herstellung dieser Einheit, und es bedarf ihrer Erhaltung, dies um so mehr, als sie sich nicht in dem einheitlichen Willen eines souveränen Volkes oder einer herrschenden Klasse verkörpert. Sie muß vielmehr im politischen Prozeß der modernen pluralistischen Gesellschaft gewonnen und gesichert werden: im Nebenund Gegeneinander zahlreicher Gruppen, in dem der Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Meinungen, Interessen und Bestrebungen, die Austragung und die Regelung von Konflikten gleichermaßen zur kategorisch gestellten Aufgabe wie zur

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31

reform, D e r Staat 18, 1978, S. 2 2 9 f f ; R . STEINBERG Verfassungspolitik und offene Verfassung, J Z 1980, 390f. G . JELLINEK Allgemeine Staatslehre, N e u druck der 3. A u f l . , 1921, S. 505. - Z u der Geschichte des Verfassungsgedankens und den T y p e n geschichtlicher Verfassungen ebd. S. 5 0 5 f f ; P. BADURA Artikel Verfassung, in: Evangelisches Staatslexikon, 2. A u f l . 1975, Sp. 2 7 0 7 f f . Sie ist, soweit ersichtlich, keinen Einwänden ausgesetzt, während es im heutigen verfassungsrechtlichen Schrifttum einen konkreteren, allgemeineren oder zumindest überwiegend anerkannten Verfassungsbegriff nicht

32

gibt. V o n einer Darstellung der verschiedenen Begriffe, die ohne Einbeziehung ihrer Voraussetzungen und Implikationen kaum hinreichend informieren könnte, muß hier abgesehen werden. Vgl. dazu K . STERN D a s Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland I, 1977, S. 51 f f ; TH. MAUNZ Deutsches Staatsrecht 23. A u f l . 1980, S. 3 0 f ; zu den heutigen verfassungstheoretischen Positionen: H . VORLÄNDER Verfassung und K o n sens, 1981, bes. S. 2 7 5 f f . P. BADURA Verfassung und Verfassungsgesetz, in: Festschrift für U . Scheuner, 1973, S. 19 ff.

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1. Kapitel. Grundlagen

Daseinsbedingung des Staates geworden sind. Wo es nicht mehr möglich ist, aus der Vielheit der einzelnen Willensrichtungen einen verbindlichen Gesamtwillen zu bilden, wo es nicht mehr gelingt, im Wege der Verständigung oder der Mehrheitsentscheidung politische Ziele zu setzen und zu verwirklichen, zerbricht der Staat als politische Handlungseinheit. Sein Entstehen und Bestehen beruht auf dem Erfolg des Prozesses staatlicher Integration, in dem mit Recht der eigentliche Kern seines Wesens gesehen worden ist 33 . Dieser Erfolg hängt im letzten von dem Grad der Zustimmung ab, die der Staat findet. Es kommt darauf an, daß der Staat von den Menschen, die in ihm leben, getragen, verantwortet und wenn nötig auch verteidigt wird; nur in dem Maße, in dem das geschieht, läßt sich sagen, daß er ein gefestigter, ein „starker" Staat sei. Diese Bedingungen sind eine Frage zahlreicher außerrechtlicher Faktoren wie Tradition, politisches Bewußtsein oder führende Persönlichkeiten; sie sind in einem nicht näher bestimmbaren und wechselnden Maße, aber notwendig auch eine Frage des Rechts. Denn jener Prozeß bedarf der rechtlichen Ordnung: Das Zusammenwirken, das zur Bildung politischer Einheit führen und in dem staatliche Aufgaben erfüllt werden sollen, bedarf der Organisation und des geordneten Verfahrens 34 . Nicht minder kommt es darauf an, den Inhalt dieser Ordnung so zu gestalten, daß sie die Zustimmung der Menschen findet, die unter ihr leben sollen. Dieser Grundaufgabe dient die Verfassung, die sich insoweit als rechtliche Ordnung des Prozesses staatlicher Integration begreifen läßt. Nicht nur in dieser Richtung, in Beschränkung auf den Staat, besteht die Aufgabe rechtlicher Ordnung. Rechtlicher Ordnung bedarf in einem umfassenden Sinne das gesamte menschliche Zusammenleben innerhalb des Staatsgebietes, das ohne sie nicht möglich wäre. Dabei ist Ordnung nicht Selbstzweck, Ordnung um der Ordnung willen; sondern es kommt auf die Inhalte dieser Ordnung an: Sie soll „richtige" und deshalb legitime Ordnung sein. Als Maßstab solcher Richtigkeit läßt sich in der heutigen Zeit, die der Geschichtlichkeit allen Rechts inne geworden ist, nicht mehr auf ein außerhalb menschlichen Denkens und Handelns bestehendes Naturrecht zurückgreifen. Ebensowenig ist es indessen gerechtfertigt, sich auf einen skeptischen Positivismus zurückzuziehen, für den ohne Rücksicht auf ihren Inhalt jede Regelung „Recht" ist, die von den zuständigen Instanzen als Recht gesetzt worden ist. Maßstäbe der Richtigkeit geschichtlichen Rechts bieten demgegenüber bewährte Rechtstradition, aber auch ihr Gegenteil: geschichtliche Erfahrungen, die erwiesen haben, was nicht „richtig" ist und darum nicht als Recht angesehen werden darf, wie z. B. die Vernichtung „rassisch wertlosen" oder „lebensunwerten" Lebens unter dem nationalsozialistischen Unrechtsregime. Darüber hinaus und im Zusammenhang damit ergeben sich Maßstäbe aus den Rechtsgrundsätzen, die sich im Kampf und in der Erfahrung der Generationen gebildet haben und durch sie bestätigt worden sind, im besonderen aus den Menschenrechten und weiteren Grundsätzen, wie denen

33

R . SMEND Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 136 ff.

34

H . HELLER Staatslehre, 1934, S. 88ff, 228ff.

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung; Aufgabe und Funktion (HESSE)

17

der Unabhängigkeit der Richter oder des rechtlichen Gehörs. Maßstäbe sind endlich die Leitbilder der lebenden Generation für die Gestaltung der Gegenwart und die der Zukunft. Diese Maßstäbe aufzunehmen, zu positivieren und damit zu ihrem Teil „richtige" rechtliche Ordnung zu gewährleisten, ist Aufgabe der Verfassung. 2. Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens In der Erfüllung dieser grundlegenden Aufgaben politischer Einheitsbildung und rechtlicher Ordnung wird die Verfassung zur rechtlichen Grundordnung nicht nur des Staates 35 , sondern auch für das nichtstaatliche Leben innerhalb des Staatsgebietes: zur rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens. Sie bestimmt zunächst die Leitprinzipien, die zur Bildung politischer Einheit führen, nach denen diese sich vollziehen und nach denen staatliche Aufgaben wahrgenommen werden sollen; nach dem Grundgesetz sind dies die Unantastbarkeit der Würde des Menschen als oberstes Konstitutionsprinzip der verfassungsmäßigen Ordnung, die Prinzipien der Republik, der Demokratie, des sozialen Rechtsstaates und des Bundesstaates. In der näheren Konkretisierung dieser Prinzipien ordnet die Verfassung die Organisation und das Verfahren politischer Einheitsbildung und staatlichen Wirkens. Sie normiert Regeln, nach denen die staatlichen Organe zu bilden, nach denen die politische Gesamtrichtung zu bestimmen und schwebende Fragen zu entscheiden sind. Sie regelt die Kompetenzen dieser Organe und in Grundzügen das Verfahren, in dem diese wahrzunehmen sind. Sie schafft Verfahren zur Bewältigung von Konflikten innerhalb des Gemeinwesens. Darüber hinaus normiert die Verfassung im oben dargelegten Sinne Grundzüge rechtlicher Gesamtordnung, nicht nur des staatlichen Lebens im engeren Sinne. Sie ordnet die für das Gesamtleben wesentlichen Lebensbereiche zusammen, und zwar deshalb, weil diese Bereiche zum Leben des Gesamtkörpers gehören und in unaufhebbarem Zusammenhang mit der politischen Ordnung stehen. In diesem Sinne werden in der Verfassung auch Grundlagen von Lebensbereichen geordnet, die mit der politischen Ordnung unmittelbar nichts zu tun haben, etwa die Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung: Ehe, Familie, Eigentum, Erbrecht, Grundlagen des Strafrechts, Grundsätze für die Ordnung des Bildungswesens, des religiösen, des Arbeits- oder des Soziallebens. In allem ist die Verfassung „der grundlegende, auf bestimmte Sinnprinzipien ausgerichtete Strukturplan für die Rechtsgestalt eines Gemeinwesens" 36 . 3. Die Eigenart des Verfassungsrechts Nicht nur durch seine Aufgaben und seinen Gegenstand unterscheidet sich Verfassungsrecht von dem Recht anderer Rechtsgebiete. Wesentliche Besonderheiten liegen auch in seinem Rang, in der Art seiner Regelungen sowie den Bedingungen seiner

35

So der Titel der bedeutsamen Schrift von W. KÄGI 1945.

36

A. HOLLERBACH Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht, hrsg. von W. MAIHOFER 1 9 6 8 , S . 4 6 .

18

1. Kapitel. Grundlagen

Durchsetzungs- und Geltungskraft in der sozialen Wirklichkeit. Diese Unterschiede sind für seine Wirkungsweise von grundlegender Bedeutung; die Einsicht in sie ist Voraussetzung für das Verständnis verfassungsrechtlicher Probleme und deren angemessene Lösung. a) Vorrang Dem Verfassungsrecht kommt der Vorrang vor allem übrigen innerstaatlichen Recht zu 3 7 . Dieser Vorrang ist Voraussetzung der Funktion der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens. Verfassungsrecht kann daher durch einfache Gesetze weder aufgehoben noch abgeändert werden; keine Bestimmung der Rechtsordnung und kein staatlicher Akt darf sich in Widerspruch zu ihm setzen; alle staatlichen Gewalten, auch die gesetzgebende, sind an die Verfassung gebunden (vgl. Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG). b)

Offenheit

Diese Bindung ist, namentlich in einer Verfassung mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit wie dem Grundgesetz, nicht unproblematisch. Denn die Regelungen der Verfassung sind weder vollständig noch vollkommen. Weite Bereiche, auch solche des im engeren Sinne staatlichen Lebens, werden nur durch Bestimmungen von mehr oder minder großer Weite und Unbestimmtheit, manche sogar überhaupt nicht geordnet. Die Verfassung ist kein lückenloses System; sie enthält keine Kodifikation, sondern eine punktuelle Zusammenfassung von einzelnen Grundsätzen und Grundzügen der Gesamtordnung des Gemeinwesens. Sie ist eine „offene" Ordnung. Diese Offenheit ist stets begrenzt. Aber soweit sie reicht, gibt sie — dies ist vor allem ein wesentlicher Sinn und Inhalt demokratischer Ordnung — Raum für einen freien politischen Prozeß und sucht sie diesen zu gewährleisten. Die Verfassung ermöglicht daher durchaus unterschiedliche politische Konzeptionen, Zielsetzungen und deren Verfolgung. Sie ermöglicht es, veränderten technischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gegebenheiten Rechnung zu tragen, sich dem geschichtlichen Wandel anzupassen, und sie sichert damit eine Grundvoraussetzung ihres eigenen Bestands und ihrer Wirkkraft. Zugleich hat die Unbestimmtheit und Weite mancher Verfassungsnormen freilich zur Folge, daß verfassungsrechtliche Fragen oft schwerer zu beantworten sind als Fragen aus anderen Rechtsgebieten, die eine detaillierte normative Regelung gefunden haben. Namentlich das zugrunde gelegte Verständnis der Verfassung, im besonderen der Grundrechte, ist von erheblicher Bedeutung und kann — wie die folgenden Beiträge zeigen — zu sehr unterschiedlichen Antworten führen. Da alle staatlichen Gewalten an die Verfassung gebunden sind, entscheidet sich hier die zentrale Frage, ob und in welchem Umfang der Gesetzgeber im konkreten Falle bei einer Regelung 37

Dazu R. WAHL Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20, 1981, S. 4 8 5 ff Zum Verhältnis von Verfassungsrecht und Völkerrecht vgl. etwa E . MENZEL/K. IPSEN Völkerrecht, 2.

Aufl. 1979, S. 58ff. Zum Verhältnis von Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht vgl. unten S. 63ff.

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung; Aufgabe und Funktion (HESSE)

19

frei oder ob er verfassungsrechtlichen Bindungen unterworfen ist, deren Einhaltung der Kontrolle des Verfassungsgerichts unterliegt. Die relative Offenheit und Weite des Verfassungsrechts liefe allerdings Gefahr, zur Auflösung in totale Dynamik zu führen, wenn sie nicht mit bestimmter und verbindlicher Festlegung gepaart wäre; beides, Offenheit und verbindliche Festlegung, ist Voraussetzung für die Erfüllung der Aufgaben der Verfassung. Demgemäß legt die Verfassung die Grundlagen der Ordnung des Gemeinwesens sowie Inhalte fest, die der ständig neuen Diskussion und Infragestellung entrückt sein sollen. Sie legt den staatlichen Aufbau und das Verfahren fest, in dem von ihr offengelassene Fragen ebenso zu entscheiden sind wie Konflikte. Gerade die Verfahrensregelungen sind von oft unterschätzter Bedeutung, weil sie bei angemessener Gestaltung zur richtigen Entscheidung offener Fragen beitragen. Sie schaffen zudem eine feste Form, in der Entscheidungen getroffen werden sollen, und schließen damit regellose Machtkämpfe aus. Sie machen endlich den Vorgang der Entscheidungsbildung für die Beteiligten und die von der Entscheidung Betroffenen einsehbar und verstehbar. J e mehr die Verfassung selbst auf Entscheidungen verzichtet, desto wichtiger ist es, daß sie für diese ein geordnetes Verfahren bereitstellt. Erst auf diese Weise kann die Offenheit der Verfassung die ihr zukommende Funktion erfüllen. c) Selbstgewährleistung des Verfassungsrechts Verfassungsrecht unterscheidet sich schließlich von dem Recht anderer Rechtsgebiete dadurch, daß es letztlich keine Instanz gibt, die seine Einhaltung erzwingen könnte; Verfassungsrecht muß sich selbst gewährleisten, und dies setzt eine Gestaltung voraus, die solche Selbstgewährleistung nach Möglichkeit zu sichern imstande ist. Die Ordnungs- und Befriedungsfunktion des staatlichen Rechts beruht zu einem wesentlichen Teil darauf, daß es wenn nötig im Wege der Vollstreckung, durch staatlichen Zwang, durchgesetzt wird. Seine Befolgung ist also stets „ v o n außen" gewährleistet. Anders bei den Regelungen der Verfassung. Deren Einhaltung ist weder durch eine über ihr stehende Rechtsordnung noch durch überstaatlichen Zwang gesichert; die Verfassung ist auf ihre eigenen Kräfte und Garantien beschränkt. Sie sucht dieser Lage durch eine Gestaltung Rechnung zu tragen, die durch die Teilung und das Zusammenspiel der staatlichen Gewalten die Einhaltung des Verfassungsrechts immanent bewirken soll: Sie muß sozusagen ein in sich gravitierendes System bilden und die Bedingungen ihrer Durchsetzung in sich selbst tragen 3 8 . Aber dieses immanente Gleichgewicht bleibt immer prekär. Sofern ein Gericht besteht, das über die Frage der Einhaltung der Verfassung zu entscheiden hat, kann zwar verbindlich festgestellt werden, ob dies der Fall ist oder nicht, und aus dem Spruch des Gerichts können sich Konsequenzen ergeben, die auf eine Wiederherstellung oder Respektierung der verfassungsrechtlichen Lage hinwirken. Erzwingen läßt sich dies indessen nicht; es kommt letztlich darauf an, daß jedes staatliche Organ sich freiwillig den Bindungen der Verfassung unterwirft und daß alle ihre Verantwortlich-

38

R. SMEND (Anm. 33), S. 195F.

20

1. Kapitel. Grundlagen

keit für die Befolgung der Verfassung erkennen und wahrnehmen. — Die Vorstellung eines über oder außerhalb dieser Immanenz stehenden „Hüters der Verfassung" 39 verfehlt die Problematik und kann daher in die Irre führen. d) Bedingungen tatsächlicher Geltung Darüber hinaus kann auch das kunstvollste Verfassungssystem seine Einhaltung nicht wirksam gewährleisten, wenn es an den Voraussetzungen seiner tatsächlichen Geltung fehlt, wenn die Verfassung nicht imstande ist, die Realität gelebter, geschichtliche Wirklichkeit formender und gestaltender Ordnung zu gewinnen. Diese Fähigkeit, die Bedingung dafür ist, daß die Verfassung ihre dargelegte Funktion erfüllen kann, hängt weithin von außerrechtlichen Faktoren ab, die die Verfassung ihrerseits nur beschränkt zu beeinflussen vermag. Zu ihnen gehören die Gegebenheiten der geschichtlichen Wirklichkeit, die zu ordnen die Verfassung bestimmt ist, der geistige, soziale, politische oder ökonomische Entwicklungsstand der Zeit: Je mehr Verfassungsrecht an diese Gegebenheiten anknüpft, die Kräfte und Tendenzen der Zeit in sich aufnimmt, desto eher wird es seine Wirkung entfalten können. Sucht es geschichtlich überholte Gestaltungsformen festzuhalten oder strebt es umgekehrt eine Utopie an, dann wird es unvermeidlich an den Realitäten scheitern. Nicht minder wesentlich ist daneben das Verhalten der Menschen, die am Verfassungsleben beteiligt sind, die Bereitschaft der politisch Führenden wie der Geführten, die Inhalte der Verfassung als verpflichtend anzuerkennen. Nicht der Wille des historischen Verfassunggebers vermag zu bewirken, daß die Normierungen der Verfassung befolgt, daß die durch sie konstituierte politische Handlungseinheit Staat bejaht und verantwortlich mitgetragen wird, sondern dazu muß die Einigkeit unter den Vätern der Verfassung prinzipiell unter denen fortbestehen, die später unter der Verfassung zu leben haben. Es kommt darauf an, daß die von ihr normierte Ordnung als „richtige", als legitime Ordnung angesehen wird und darum integrierende Wirkung entfaltet. Der die aktuellen Gegensätze und Konflikte übergreifende grundsätzliche Konsens hierüber ist ein weiterer wesentlicher Faktor, von dem die Lebens- und Wirkkraft des Verfassungsrechts abhängt 40 .

III. Zur heutigen und künftigen Bedeutung des Grundgesetzes Ist das Grundgesetz den dargelegten Aufgaben gerecht geworden, wird es sie weiterhin erfüllen können oder leidet es an Fehlern, die seine Funktion für die Gegenwart und absehbare Zukunft insgesamt in Frage stellen?

39

C . SCHMITT Der Hüter der Verfassung, 1931.

40

Vgl. dazu U . SCHEUNER Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: G. JAKOBS Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 33 ff; A . PODLECH Wertentscheidungen

und Konsens, ebd. S. 2 9 ff. Eingehend zu den Bedingungen eines Konsenses über die Verfassung in der Gegenwart: H . VORLÄNDER (Anm. 31) bes. S. 157ff ( 3 . - 5 . Kapitel).

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung; Aufgabe und Funktion (HESSE)

21

1. Die Bedeutung des Grundgesetzes in der Gegenwart Das Grundgesetz findet heute im ganzen breite Zustimmung, auch wenn sich kaum abschätzen läßt, wie gesichert dieser Konsens ist, ob er auch die Bereitschaft umfaßt, die verfassungsmäßige Ordnung in Krisenlagen zu bejahen und zu verteidigen. Wie die dargestellte Entwicklung zeigt, ist es während eines nicht unerheblichen Zeitraums in der Lage gewesen, seine Funktion als Verfassung der Bundesrepublik zu erfüllen. Insofern hat die geschichtliche Entwicklung manche skeptische Würdigung und daran anknüpfende Bedenken und Verfallsprognosen 41 bislang widerlegt. Allerdings ist das Grundgesetz auch keiner härteren Belastungsprobe ausgesetzt gewesen. So sehr indessen eine Verfassung auch in Krisenzeiten standhalten soll, ist sie doch in erster Linie für die Normallage geschaffen. In dieser hat sich das Grundgesetz im ganzen bewährt 42 . Zu verdanken ist das namentlich dem Umstand, daß seine Regelungen bei allen Spannungen und Friktionen, vor allem im Bereich der föderativen Ordnung, es ermöglicht haben, den Gegebenheiten der Zeit gerecht zu werden: Das Grundgesetz gibt Raum für ein Verständnis der Verfassung und ihrer Bestimmungen, das den politischen Gewalten ausreichende Gestaltungsfreiheit beläßt und es ihnen ermöglicht, in der Bestimmung der politischen Gesamtrichtung wechselnde Ziele zu verfolgen oder sich wechselnden Erfordernissen anzupassen; das gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts namentlich auf dem Gebiet der Wirtschaft 43 . Diese Offenheit und die Möglichkeit, dort wo sie nicht ausreicht, das Grundgesetz zu ändern, sind entscheidende Voraussetzungen für die Bewältigung der Probleme von drei Jahrzehnten gewesen. Freilich bewährt sich eine Verfassung nicht nur in der klugen Anpassung an das Gegebene. Sie legt auch Ziele und Richtlinien fest, und sie sucht der Verfolgung dieser Ziele und Richtlinien einen festen Rahmen zu geben. Eben das ist dem Grundgesetz in unerwartetem Ausmaß gelungen. Es hat nicht etwa nur mühselig mit der geistigen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Schritt gehalten, sondern es hat diese in weitem Umfang geleitet und geprägt: In seiner umfassenden Bedeutung für alle Bereiche des Rechts (oben S. l l f , 14) und damit für das gesamte Leben des Gemeinwesens liegt der wesentliche Charakterzug der neueren verfassungsrechtlichen Entwicklung. Das ist sicher eine Folge der Ausweitung des gerichtlichen Rechtsschutzes, vor allem der Existenz und des Wirkens der mit umfassenden Zuständigkeiten ausgestat-

41

Vgl. etwa H . P. IPSEN Uber das Grundgesetz, 1950; DERS. Über das Grundgesetz — nach 25 Jahren, D Ö V 1974, 289ff (u. a. mit der Diagnose, daß der „ B a s i s k o n s e n s " der ersten Jahre des Grundgesetzes verloren gegangen sei (S. 293); W. WEBER Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz (Anm. 11) S. 9 f f ; DERS. Die Bundesrepublik und ihre Verfassung im dritten Jahrzehnt, ebd. S. 3 4 5 f f ; DERS. Ist Verlaß auf unser Grundgesetz? 1975; H . KRÜGER Die deutsche Staatlichkeit

42

43

im Jahre 1971, Der Staat 10, 1971, S. 471 ff, insgesamt freilich, ebenso wie E. FORSTHOFF Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, eher einen zunehmenden Verlust an Staatlichkeit in der Entwicklung der Bundesrepublik konstatierend. Vgl. auch N . ACHTERBERG Deutschland nach 30 Jahren Grundgesetz, W D S t R L 38, 1980, S. 81 ff. Zusammenfassend mit weiteren Nachweisen B V e r f G E 50, 290 (337f).

1. Kapitel. Grundlagen

22

teten Verfassungsgerichtsbarkeit. Durch dieses hat sich nicht nur die dem früheren Verfassungsrecht keineswegs selbstverständliche Bindung aller staatlichen Gewalten — einschließlich des Gesetzgebers — an die Verfassung verwirklicht. Von gleichem, wenn nicht größerem Gewicht ist die Ausdehnung der inhaltlichen Tragweite des Verfassungsrechts, namentlich der Grundrechte. D a s allein reicht indessen nicht aus, den Befund zu erklären. Das, was das Grundgesetz als Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet: die Würde des Menschen, die in den Grundrechten garantierten Freiheiten und die Rechtsgleichheit, die Prinzipien der staatlichen Ordnung, hier vor allem diejenigen der Demokratie und des Rechtsstaates, und die vielfältigen Versuche, dies alles institutionell zu wahren und zu sichern, ist in der Bundesrepublik in höherem Maße eine Frage des Rechts als in älteren Demokratien des Auslandes. Dort haben politische und Geistesgeschichte eine politische Kultur entstehen lassen, die ohne ein ähnlich kunstvolles perfektes System rechtlicher Sicherungen auskommt und Demokratie, Freiheitlichkeit und Rechtsstaatlichkeit in gleichem Maße, möglicherweise sogar sicherer zu gewährleisten imstande ist. In der Bundesrepublik war bislang, als Folge der neueren deutschen Geschichte und ihrer Umbrüche eine solche Lage nicht gegeben; an ihrem Anfang stand vielmehr ein geistiges und politisches Vakuum, in dem die Verfassung, besonders in ihren Grundrechten, gewissermaßen eine Ersatzfunktion zu übernehmen hatte. So erscheint sie als Proklamierung eines Wert- oder Güter-, eines Kultursystems 4 4 , ohne das kein Gemeinwesen bestehen kann; sie gewinnt die Bedeutung einer geistigen Grundlegung der neuen Staatlichkeit. Vor dem Hintergrund der besonderen geschichtlichen Lage dieses Gemeinwesens sucht sie durch institutionelle Stützung und Sicherung zu ersetzen, was außerrechtlich nicht hinreichend gewährleistet erscheint. Es ist daher kein Zufall, wenn die Verfassung eine Überhöhung erfahren hat und zu einer höchsten, geradezu bibelähnlichen Autorität erhoben worden ist. Ebenso ist es bezeichnend, daß die in neuerer Zeit geführte Diskussion über die Grundwerte weitgehend an das Grundgesetz anknüpft. Daß solche Überhöhung in eine gleichsam theologische Dimension auch ihre Gefahren hat, namentlich die politische Auseinandersetzung um ihre Funktion bringen und sie belasten kann, ist mit Recht kritisch bemerkt worden 4 5 . Diese hohe Bedeutung der Verfassung ist nicht unangefochten. Doch richten Kritik und Protest sich weniger gegen die verfassungsmäßige Ordnung und ihre Prinzipien selbst, als gegen politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen in der Bundesrepublik. Soweit solche Kritik sich am Grundgesetz als Maßstab orientiert, wird diesen Entwicklungen die Preisgabe der Zielsetzungen des Grundgesetzes durch eine konservative und restaurative Politik zum Vorwurf gemacht 4 6 ; demgegenüber befürchten andere eine Auflösung der rechtsstaatlichen Ordnung

44

SMEND ( A n m . 33) S. 2 6 4 f.

( A n m . 29) S. 386; H . VORLÄNDER ( A n m . 31)

45

U . SCHEUNER Diskussionsbeitrag, in: K . STERN Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 1980, S. 36; R . STEINBERG

S. 20 ff. Etwa H . RIDDER Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, bes. S. 17ff.

46

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung; Aufgabe und Funktion (HESSE)

23

durch ein die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit in ihrem Kern veränderndes Grundrechtsverständnis47. Eine ideologische Fundamentalopposition von einigem Gewicht, Hauptursache für die Krise der Weimarer Republik, hat die Bundesrepublik in keiner Phase ihrer Entwicklung gekannt. Der leidenschaftliche Protest von Teilen der jüngeren Generation in den Jahren nach 1968 hat nicht unmittelbar der Verfassung, sondern dem „System" gegolten; er ist bald wieder in sich zusammengefallen und einer verbreiteten Abwendung von der Politik gewichen. Heute verbindet sich mit Protest gegen Ziele und Maßnahmen namentlich im Bereich der Verteidigungs-, Energie-, Umwelt- und Wohnungspolitik vielfach eine Entfremdung von dem bestehenden politischen System oder eine grundsätzliche Ablehnung dieses Systems schlechthin. In der Form des Protestes wird oft, ebenso wie in den Reaktionen auf ihn, ein Mangel an Vertrauen auf die demokratischen Prinzipien und mit ihm ein Defizit erkennbar, das geeignet ist, zu einer offenen oder schleichenden Verkürzung des freiheitlichen Gehalts der Verfassung zu führen. Daran wird deutlich, daß die Verfassung die außerrechtlichen Voraussetzungen und Gewährleistungen von Demokratie nur bedingt ersetzen kann, im besonderen diejenige einer breiten Schicht ausreichend informierter, demokratisch bewußter Bürger. Auch wenn dieser Mangel nicht dem Grundgesetz selbst zugerechnet werden kann, läßt er doch Grenzen der Wirkungsmöglichkeit von Verfassungsrecht erkennen und muß deshalb bei der Einschätzung der heutigen Bedeutung des Grundgesetzes berücksichtigt werden. 2. Das Grundgesetz und die Anforderungen der Zukunft Wird das Grundgesetz in der Lage sein, auch den Anforderungen der absehbaren Zukunft gerecht zu werden? Daß diese durch raschen und tiefgehenden Wandel gekennzeichnet sein wird, muß als sicher angesehen werden. Schon heute tritt die immer stärkere Einschränkung des „beherrschten" Lebensraumes der einzelnen Menschen, des Bereichs, in dem sie über die Grundbedingungen ihres Lebens und ihrer Existenz selbst und eigenverantwortlich bestimmen können, zugunsten des von umfangreicher öffentlicher Daseinsvorsorge abhängigen „effektiven Lebensraumes" 4 8 mehr und mehr hervor; der Zwang zur Ausdehnung öffentlicher Verantwortung nimmt unter den modernen Bedingungen des Zusammenlebens einer großen Zahl von Menschen auf engem Raum und knapper werdender lebenswichtiger Ressourcen zu, wie dies etwa an den Beispielen der Raum- und Stadtplanung, des Umweltschutzes oder der Energieversorgung deutlich wird 49 . Kann eine Verfassung wie das Grundgesetz, dessen wesentliche Inhalte älteren historischen Schichten entstammen, den daraus sich ergebenden, heute noch nicht voll übersehbaren Notwendigkeiten entsprechen?

47

E t w a E . FORSTHOFF Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 147ff; DERS. Einiges über Geltung und Wirkung der Verfassung, in: Festschrift für E . R . Huber, 1973, S. 3 f f ; H . - H . KLEIN Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, S. 3 9 f , 53ff.

48

E . FORSTHOFF Die Verwaltung als Leistungsträger (1938), in: Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 25 ff.

49

Vgl. dazu P. SALADIN Wachstumsbegrenzung als Staatsaufgabe, in: Festschrift für U . Scheuner, 1973, S. 550ff.

24

1. Kapitel. Grundlagen

Das Verfassungsmodell, an welches das Grundgesetz anknüpft, ist, wie gezeigt (oben S. 8), das des 19. Jahrhunderts. In der konstitutionellen Monarchie dieser Zeit war es Aufgabe der Verfassung, die — als vorgegeben angesehene — prinzipiell allumfassende monarchische Staatsgewalt zu beschränken und dem Bürger auf diese Weise selbstverantwortliche Freiheit zu gewährleisten. Dies geschah in erster Linie dadurch, daß Gesetzesbeschlüsse — einschließlich der Feststellung des Staatshaushaltsplanes — an die Zustimmung der Kammern gebunden wurden. Soweit Grundrechte für die Sicherung der Freiheit eine Rolle spielten, waren sie Abwehrrechte gegen die monarchische Staatsgewalt, die sie verpflichteten, Eingriffe in das geschützte Recht zu unterlassen. Grundrechtliche Freiheit war in dem gewährleisteten Umfang Freiheit vom Staat, Ausgrenzung einer staatlicher Einwirkung entzogenen Sphäre 50 . Im demokratischen Lenkungs-, Leistungs- und Vorsorgestaat der Gegenwart stellen sich die Aufgaben grundsätzlich anders 51 . Es geht nicht mehr um Beschränkung einer vorfindlichen unumschränkten staatlichen Gewalt, sondern die Aufgabe besteht darin, demokratisch legitimierte, von vornherein begrenzte staatliche Gewalt zu konstituieren und sie in der Ordnung des politischen Prozesses funktions- und leistungsfähig zu erhalten. Es geht ferner darum, auch unter den modernen Bedingungen Freiheit wirksam zu gewährleisten. Dazu bedarf es neben den organisatorischen Regelungen auch in der Demokratie der Grundrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe. Aber das Prinzip der Ausgrenzung reicht nicht mehr aus: Die Freiheit der Menschen hängt nicht nur vom Unterlassen solcher Eingriffe ab, sondern in weitem Umfang von staatlichem Tätigwerden, der Schaffung der Voraussetzungen eines freien und menschenwürdigen Lebens durch staatliche Planung, Lenkung und Vorsorge. Davon abgesehen vermag bloße Ausgrenzung einer staatlichen Eingriffen entzogenen Sphäre nicht vor den Gefährdungen menschlicher Freiheit durch nicht-staatliche Mächte zu bewahren, die in der Gegenwart bedrohlicher werden können als die Gefährdungen durch den Staat. Soll eine Verfassung angesichts dieser Sachlage Freiheit gewährleisten, so bedarf es weitergehender Vorkehrungen als der Normierung der Freiheit vom Staat. Es kommt darauf an, die Schaffung dieser Voraussetzungen und die Bereitstellung der dazu erforderlichen Leistungen zu sichern, ohne dabei durch eine übermäßige Ausdehnung zu allumfassender Fürsorge, Planung und Gestaltung selbstverantwortliche Lebensgestaltung aufzuheben. Es bedarf in zunehmendem Maße der Zuordnung miteinander kollidierender Freiheitsbereiche. Und es kommt endlich darauf an, Freiheit gegen die Ausübung gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Macht zu schützen, was ebenfalls staatliches Tätigwerden erfordert. Eine freiheitliche und gerechte Ordnung entsteht also nicht mehr — wovon die ältere Vorstellung ausging — gleichsam automatisch aus Zur damaligen Funktion der Grundrechte vgl. etwa U . SCHEUNER Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklungdes 19. Jahrhunderts, in: Festschrift für E. R. Huber, 1973, S. 1 3 9 f f ; E. R. HUBER Grundrechte im Bismarckschen

51

Reichssystem, in: Festschrift für U . Scheuner, 1973, S. 163 f f ; R. WAHL Rechtliche W i r kungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, Der Staat 18, 1979, S. 321 ff. Dazu unten S. 5 1 5 f f .

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung; Aufgabe und Funktion (HESSE)

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der Aufteilung staatlicher Gewalt und deren Abstinenz gegenüber einer autonomen gesellschaftlichen Sphäre, sondern sie muß aktiv bewirkt werden 52 . Die traditionellen Bestandteile der Verfassung behalten dabei wesentliche Funktionen. Soll jedoch die Verfassung ihre Gesamtfunktion im Leben des Gemeinwesens erfüllen, dann muß sie mehr leisten als Machtbeschränkung und Ausgrenzung. Diese Problematik mag bei der Schaffung des Grundgesetzes noch weniger deutlich zutage getreten sein. Sie ist inzwischen erkannt und hat zu wesentlichen Veränderungen im Verständnis der Verfassung und der Auslegung ihrer Regelungen geführt. Das gilt namentlich im Bereich der Grundrechte, deren Bedeutung heute weit über diejenige individueller Abwehrrechte gegen den Staat hinausgewachsen ist 5 3 . Die frühere Tragweite der Verfassung ist dadurch nicht nur erhalten, sondern trotz der veränderten Bedingungen der Gegenwart gesteigert, wobei zu den Inhalten der Verfassung, besonders in der Sozialstaatsklausel, programmatische Elemente hinzugetreten sind 54 . Zwar kann eine solche Programmatik nicht von gleicher unmittelbar rechtlicher Wirksamkeit sein wie die Begrenzung staatlichen Tätigwerdens; sie ist darauf angewiesen, daß sie vom Gesetzgeber aufgenommen und je nach den Problemlagen und Möglichkeiten der Zeit verwirklicht wird. Aber der Schaffung der Voraussetzungen freier Lebensgestaltung durch staatliches Tätigwerden kommt eine gewisse Zwangsläufigkeit des Sozialstaats zur Hilfe; dieser kann verfassungsrechtliche Garantien eher entbehren als andere Staatsziele, weil keine politische Leitung heute auf soziale Vorsorge und sozialen Ausgleich verzichten kann 5 5 . Wenn aber das Grundgesetz sich durch über 30 Jahre im ganzen bewährt hat, wenn es — vorbehaltlich einzelner auch weiterhin notwendig werdender Änderungen — trotz seiner Herkunft aus älteren historischen Schichten den gegenwärtigen Anforderungen des Lenkungs-, Leistungs- und Vorsorgestaates gerecht zu werden vermag, und wenn sich darin seine Fähigkeit dokumentiert, die Aufgaben der Verfassung auch unter gewandelten Verhältnissen zu erfüllen, so rechtfertigt das prinzipiell die Annahme, daß dies auch in der absehbaren Zukunft der Fall sein wird. 3. Voraussetzungen künftiger Funktionsfähigkeit Eine solche Annahme beruht allerdings auf zwei Voraussetzungen: daß die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Verfassung nicht überschritten werden und daß ihre (relative) „Offenheit" erhalten bleibt. Nach beiden Richtungen hin kommt es darauf an, in der Gegenwart bestehende Tendenzen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Die dargelegte Bedeutung, die das Grundgesetz gewonnen hat, ist gerade auch unter dem Blickwinkel seiner Funktionsfähigkeit nicht ohne Gefahr. Diese besteht in einer Uberanstrengung der Verfassung zu Lasten des politischen Prozesses. In einer Verfassungsordnung, die der Verfolgung alternativer politischer Richtungen Raum gibt, kann offensichtlich nicht alles bereits von der Verfassung vorentschieden sein. 52

D . GRIMM Verfassungsfunktion und Grund-

53

Vgl. unten S. 93ff.

gesetzreform,

54

GRIMM ( A n m . 52) S. 500.

55

GRIMM ( A n m . 52) S. 4 9 9 .

AöR

97,

1972, S. 500; VOR-

LÄNDER ( A n m . 3 1 ) S . 3 5 7 f f .

26

1. Kapitel. Grundlagen

Deshalb lassen sich politische Zielsetzungen oder Forderungen in aller Regel nicht mit Verfassungsgeboten identifizieren, wie dies heute verbreiteter Neigung entspricht und durch die große Bedeutung der Verfassung für alle Bereiche des Rechts nahegelegt erscheinen mag. Der Kampf und die Auseinandersetzung um politische Ziele und Forderungen müssen in einer funktionierenden demokratischen Ordnung grundsätzlich politisch geführt werden. Wird politische Auseinandersetzung und Entscheidung in das Gewand des Verfassungsrechts gekleidet, wird Politik gar auf Verfassungsrecht reduziert, so muß dies beide um ihre eigentliche Funktion bringen. Die Politik wird um das ihr wesentliche Element selbstverantwortlicher Entscheidung gebracht: Für diese bleibt kein Raum, wenn es nur darum geht, einen angenommenen Willen des Grundgesetzes nachzuvollziehen; politische Auseinandersetzung, Konfliktlösung und Entscheidung ändern damit wesentlich ihren Charakter, vollends, wenn sie zu einer Sache des Verfassungsgerichts werden, das den politischen Organen ihre Verantwortung abnimmt. Wo Initiative, wo neue und eigenständige Lösungen nicht mehr entwickelt und veranwortet werden, macht sich Immobilismus breit, der das schlechteste Rezept für die Bewältigung einer ungewissen Zukunft ist. Ebenso wird die Verfassung um ihre Funktion gebracht. Denn sie soll etwas leisten, was ihre Leistungsfähigkeit übersteigt56 und darum zu ihrer Entwertung führen muß. Eine Verfassung kann durch unmittelbar anwendbare Bestimmungen Bestehendes gewährleisten. Sie kann auch programmatisch die Ziele und Strukturen einer künftigen Ordnung vorzeichnen. Solche programmatischen Sätze können ihren guten Sinn darin finden, daß sie Zukunftsaufgaben bezeichnen, insofern legitimierend wirken und der Politik Richtung und Orientierung geben. Aber derartige Sätze enthalten keine bestimmten und detaillierten Maßstäbe oder Handlungsanweisungen, die der Gesetzgeber nur noch zu vollziehen hätte; werden ihnen solche Anweisungen entnommen, dann kann die Feststellung nicht ausbleiben, daß die Verfassung nicht „erfüllt" sei. Es besteht die Gefahr, daß Partikularinteressen in das Gewand eines — angeblichen — Verfassungsauftrags gekleidet werden, um diese wirksamer zur Geltung zu bringen. Damit wird die Legitimität und Integrationskraft der Verfassung aufs Spiel gesetzt, um so mehr, als eine Verfassungsinterpretation, die aus allgemeinen, unbestimmten Normen und Grundsätzen detaillierte Handlungsanweisungen ableitet, im Konfliktsfalle dem unterliegenden Teil nur bedingt überzeugend und einsichtig gemacht werden kann. Bleibt die Verfassung dagegen auf ihre Aufgabe als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens beschränkt, treffen die politischen Gewalten, namentlich der Gesetzgeber, ihre Entscheidungen eigenverantwortlich im Rahmen und nicht in Ausführung der Verfassung, dann kann diese leisten, was sie zu leisten bestimmt ist: dem Leben des Gemeinwesens festen Halt und Richtpunkte zu geben, die notwendig sind, um der Fülle der Probleme Herr zu werden. Nur das, was von der Verfassung noch nicht 56

Zu den durch Sachzwang, Systemschranken und Kooperationsbereitschaft der Beteiligten gezogenen Grenzen der Leistungsfähigkeit einer Verfassung: GRIMM (Anm. 52) S. 501 f f ;

vgl. auch STEINBERG (Anm. 29) S. 3 8 6 f f ; W . HENNIS Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem, 1968, S. 2 4 f f .

1. Abschnitt. Das Grundgesetz in der Entwicklung; Aufgabe und Funktion (HESSE)

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vorentschieden ist, braucht neu entschieden zu werden, und die Entscheidung wird möglich, weil sie um das bereits Vorentschiedene entlastet ist 57 . Nur auf diese Weise läßt sich der Komplexität heutiger und künftiger Problemstellungen gerecht werden. Zu dieser Notwendigkeit der Beschränkung auf das Grundlegende tritt als zweite Voraussetzung künftiger Funktionsfähigkeit des Grundgesetzes die Erhaltung seiner „Offenheit". Ebenso wie es darauf ankommt, die rechtlichen Fixierungen der Verfassung ernst zu nehmen und an ihnen festzuhalten, gilt es jenseits dieses Bereichs, verfassungsrechtliche Fixierungen zu vermeiden: Soll das Grundgesetz seine Aufgaben auch in der Zukunft erfüllen, muß die Möglichkeit offengehalten werden, bisherige Lösungen durch neue, den veränderten Gegebenheiten entsprechende zu ersetzen; es muß mit anderen Worten ein hinreichender Spielraum für Innovationen bleiben. Insofern besteht ein enger Zusammenhang mit der Notwendigkeit, politischer Entscheidung den gebührenden Raum zu lassen. Diesen wesentlichen Gesichtspunkt verkennt ein heute verbreitetes Denken, das die rechtsstaatliche Verfassung als an den gesellschaftlichen und ökonomischen status quo gebunden 58 und damit die Verfassung als dessen Gewährleistung versteht. Das gleiche gilt, wenn im Grundgesetz, namentlich in seiner Sozialstaatsklausel, ein verfassungsrechtlich „festgeschriebenes" Zukunftsprogramm erblickt wird 5 9 . In beiden Fällen geht die Fähigkeit zur Bewältigung künftiger Problemlagen, zur Anpassung und Fortentwicklung des Rechts verloren. Die Verfassung muß vor den neuen Anforderungen versagen; sie wird auch unter diesem Gesichtspunkt zu einem Element der Immobilität. Es kommt daher entscheidend auf ihre „Offenheit" an, in der unzweifelhaft auch ein Risiko liegt. Aber keine Verfassung vermag absoluten Schutz vor den Risiken der Geschichte zu gewähren. Bleibt ihr jene Offenheit nicht erhalten, so hat sie selbst keine Zukunft. Nötig ist die Bereitschaft, im Vertrauen auf die Tragfähigkeit der eigenen Grundprinzipien die Herausforderung neuer Lagen und Problemstellungen anzunehmen und ihnen mit Mut und Einfallsreichtum zu begegnen.

57

Zu dieser Entlastungsfunktion: (Anm. 52) S. 498.

GRIMM

58

59

So ausdrücklich E. FORSTHOFF Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 8. Dazu unten S. 520 f.

2. Abschnitt

Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins JOCHEN ABR.

FROWEIN

I. Einführung Deutschland hat nur kurze Zeit als völkerrechtlich und verfassungsrechtlich klar definierter Nationalstaat bestanden. Vor 1867/71 war der Deutsche Bund als Institution, die völkerrechtliche und staatsrechtliche Elemente verband, eine unter den damaligen Staaten Europas schwer einzuordnende Erscheinung 1 . Noch weit schwieriger war die Qualifizierung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das mit der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. 1806 ein Ende fand 2 . Bei seiner rechtlichen Würdigung gebrauchte S A M U E L P U F E N D O R F den berühmten Satz: „ E s bleibt uns also nichts anderes übrig, als das deutsche Reich, wenn man es nach den Regeln der Wissenschaft von der Politik klassifizieren will, einen irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper zu nennen, der sich im Laufe der Zeit . . . aus einer regulären Monarchie zu einer so disharmonischen Staatsform entwickelt hat, daß es nicht mehr eine beschränkte Monarchie, . . ., aber noch nicht eine Föderation mehrerer Staaten ist, vielmehr ein Mittelding zwischen beiden" 3 . Seit 1945 ist die Rechtslage Deutschlands erneut ein Problem, dessen Behandlung Bibliotheken füllt und das die Staatskanzleien nicht nur der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, sondern auch der vier Hauptsiegermächte des zweiten Weltkrieges, der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland, der Französischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vor schwierige Fragen stellt, bei denen oft politische und rechtliche Faktoren in einer schwer auflösbaren Gemengelage verbunden erscheinen. Der vorliegende Abschnitt macht den Versuch, die Rechtslage Deutschlands möglichst unvoreingenommen von den völkerrechtlich und staatsrechtlich erhebli1

2

Dazu E. R. HUBER Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I, 1957, S. 663 -670. Vgl.

A.

RANDELZHOFER

Völkerrechtliche

Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, 1967, insbes. S. 67-107.

3

Die Verfassung des Deutschen Reiches, 1667, deutsche Ubersetzung des lateinischen Originals, 1976, S. 106f.

30

1. Kapitel. Grundlagen

chen Fakten aus zu würdigen. Dabei wird bestehenden Streitigkeiten nachgegangen und ihre Bedeutung herausgestellt, ohne daß notwendig immer eine allein richtige Lösung angegeben wird. Schwierige völkerrechtliche Rechtsfragen können häufig nur angemessen gewürdigt werden, wenn die Rechtsauffassungen aller Beteiligten beachtet werden.

II. Die Kapitulation der deutschen Wehrmacht und die Besetzung des Reichsgebietes 1. Die Kapitulation Nachdem Generaloberst Jodl am 7. Mai 1945 in Reims für das Oberkommando der Wehrmacht eine einseitige Kapitulationserklärung gegenüber dem Oberkommandierenden der Alliierten Streitkräfte an der Westfront und gegenüber dem sowjetischen Oberkommando abgegeben und gleichzeitig vereinbart hatte, daß eine förmliche Ratifikation erfolgen sollte, wurde am 8. Mai 1945 eine Kapitulationserklärung in Berlin unterzeichnet 4 . Sie war allein auf die unter deutscher Kontrolle stehenden Streitkräfte bezogen und enthielt lediglich in Ziffer 4 folgenden Vorbehalt: „This act of military surrender is without prejudice to, and will be superseded by any general instrument of surrender imposed by, or on behalf of the United Nations and applicable to Germany and the German armed forces as a whole" 5 . 2. Die Besetzung Deutschlands Zum Zeitpunkt der Kapitulation war der größte Teil des Reichsgebietes von alliierten Streitkräften besetzt 6 . Bis zum 23. Mai 1945 bestand die von Hitler eingesetzte Reichsregierung unter Leitung des Großadmirals Dönitz, die an diesem Tage an ihrem Sitz in Flensburg von britischen Besatzungsstreitkräften aufgelöst wurde 7 . Gemäß dem Londoner Protokoll vom 12. 9. 1944 wurde Deutschland in seinen Grenzen vom 31. 12. 1937 besetzt 8 . Alle territorialen Veränderungen nach diesem Datum behandelten die Alliierten als nichtig oder nicht mehr gültig 9 . Deutschland wurde in drei Zonen und das Gebiet von Berlin geteilt. Je eine Zone sollte von den U S A , Großbritannien und der Sowjetunion besetzt werden, während Berlin danach 4

5

Dokumente in Faksimile: H . GEROLD (Hrsg.) Gesetze des Unrechts, 1979, S. 43-48. In der ausdrücklich nicht als authentisch bezeichneten deutschen Fassung lautete der Abschnitt: „ D i e s e Kapitulationserklaerung ist ohne Praejudiz fuer irgendwelche an ihre Stelle tretenden allgemeinen Kapitulationsbestimmungen, die durch die Vereinten N a tionen und in deren N a m e n Deutschland und der Deutschen Wehrmacht auferlegt werden m o e g e n . " , a a O S. 47.

6

7

8

9

Vgl. dazu W. PAUL Der Endkampf um Deutschland 1945, 1976, insbes. S. 422ff. Zur Regierung Dönitz: W. LÜDDE-NEURATH Regierung Dönitz, 3. Aufl., 1964; M. G . STEINERT Die 23 Tage der Regierung D ö nitz, 1967. U N T S Bd. 227 (1956), N r . 532, S. 279; I. v. MÜNCH (Hrsg.) Dokumente des geteilten Deutschland, B d . I, 1968, S. 25. J . A . FROWEIN Legal Problems of the German Ostpolitik, in: International and C o m parative Law Quarterly ( I C L Q ) 23 (1974) S. 105, 113.

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROMCEIN)

31

gemeinsames Besatzungsgebiet sein sollte. Ein Ergänzungsabkommen vom 26. 7. 1945 legte dann vier Zonen fest, wobei Frankreich die neugebildete Zone zugewiesen wurde 1 0 . Das Protokoll vom 12. 9. 1944 bezeichnete alles deutsche Gebiet östlich der genau festgelegten Grenze, die an der Lübecker Bucht beginnt, mit Ausnahme Berlins als „Besatzungsgebiet" der Sowjetunion, wobei Ostpreußen besonders genannt wird („including the province of East Prussia") 1 1 . Die dem Ergänzungsabkommen vom 26. 7. 1945 beigefügte Karte zeigt ebenfalls das gesamte deutsche Gebiet nach dem Stande vom 31. 12. 1937 östlich der Grenze der sowjetischen Zone außer Berlin als zu dieser Zone gehörig 1 2 . In dem „Protocol of the Proceedings of the Berlin Conference", meist kurz als Potsdamer Protokoll oder Abkommen bezeichnet, wird dann in Abschnitt VIII vereinbart, daß ein Gebiet östlich der später so genannten Oder-Neiße-Linie mit Ausnahme des nördlichen Ostpreußen unter der Verwaltung des polnischen Staates stehen und für diesen Zweck nicht als Bestandteil der sowjetischen Besatzungszone angesehen werden soll 1 3 . Das nördliche Ostpreußen wird danach unter die „Verwaltung" der Sowjetunion gestellt 14 . Für beide Gebiete zeigt der Text eine eigentümlich widersprüchliche Qualifizierung 1 5 , behält aber ausdrücklich die endgültige Regelung einem Friedensvertrag vor. Eine „Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin" wurde im Ergänzungsblatt zum Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland veröffentlicht 1 6 .

10

11

D . RAUSCHNING (Hrsg.) Die Gesamtverfassung Deutschlands. Nationale und internationale Texte zur Rechtslage Deutschlands, 1962, S. 80. U N T S B d . 227 (1956) N r . 532, S. 279, 2 8 0 f ; v. M Ü N C H D o k u m e n t e (Fn. 8) B d . I, S. 2 5 f .

12

13

Map „ D " , in Faksimile im Anhang zu: D o kumente zur Berlin-Frage 1944—1962, herausgegeben vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., Bonn, in Zusammenarbeit mit dem Senat von Berlin, 2. Aufl., 1962. Entsprechend die „Feststellung" der vier Regierungen „ ü b e r die Besatzungszonen in Deutschland" vom 5. 6. 1945, die offenbar als Bekanntmachung an das deutsche Volk gemeint war, ebenso wie die Erklärung über die Übernahme der obersten Regierungsgewalt unter demselben Datum. Text (englisch, französisch, russisch, deutsch): Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt N r . 1 v. 30 April 1946, S. 11 bzw. S. 7. Dieses „ P r o t o k o l l " wurde 1947 von den U S A und Großbritannien veröffentlicht. Text: U . S . Department of State Pressemitteilung N r . 238 v. 24. März 1947; Foreign Re-

14 15

16

lations of the United States — Diplomatie Papers, The Conference of Berlin (The Potsdam Conference) 1945, Bd. II, i960, S. 1478, 1490ff. Die 1946 veröffentlichte „Mitteilung" über die Konferenz (vgl. unten bei und in Fn. 16) enthält unter I eine zusätzliche Einleitung. So erklärt sich, daß der erwähnte Abschnitt VIII ( „ P o l e n " ) dort unter I X erscheint. Zur komplizierten Redaktionsgeschichte des „ P r o t o k o l l s " vgl. a a O S. 1477f, 1489 Fn. 42. „administration", a a O S. 1491. Es ist von „ f o r m e r German territories" die Rede, a a O . Ergänzungsblatt N r . 1 v. 30. April 1946, S. 13 ff. Diese „Mitteilung" enthält die wichtigsten Artikel in vollem Wortlaut. Weitere Fundstellen für die englische Fassung „ R e port on the Tripartite Conference of Berlin": v. MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 3 2 f f ; Foreign Relations a a O (Fn. 13) S. 1499ff; Department of State Bulletin Bd. X I I I , 1945, S. 153 ff. — Auf einer amerikanischen Karte, die am 15. 8. 1945 veröffentlicht worden ist, findet sich „Polish Administration" als Eintragung für die Gebiete östlich von O d e r und Neiße mit Ausnahme des nördlichen

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1. Kapitel. Grundlagen

Im Juli 1945 rückten Truppen der drei Westmächte in Berlin ein, und die Aufteilung der Besatzungszonen im übrigen wurde mit kleineren Abweichungen den besagten Abkommen entsprechend vorgenommen. Die Abweichungen, die vor allem aus technischen Gründen von den örtlichen Kommandeuren vereinbart wurden, so etwa die Übertragung des sogenannten Neuhauser Streifens östlich der Elbe an die sowjetische Besatzungszone, wurden meist formell durch den als oberstes Besatzungsorgan errichteten Kontrollrat bestätigt 17 . 3. Die Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die Erklärung vom 5. 6. 1945 Mit einer am 5. 6. 1945 in Berlin veröffentlichten Erklärung übernahmen die Regierungen der vier Besatzungsmächte die oberste Gewalt bezüglich Deutschlands („supreme authority with respect to Germany") einschließlich aller Staats-, Gemeindeoder sonstigen lokalen Gewalt. Es wurde ausdrücklich hinzugefügt, daß das nicht die Annektierung („annexation") Deutschlands bedeute 18 . Entsprechend einer Erklärung vom selben Tage wird die oberste Gewalt in Deutschland („supreme authority in Germany") von dem Oberkommandierenden jeder Besatzungszone für diese Zone ausgeübt und gemeinsam in Angelegenheiten, die Deutschland als Ganzes betreffen („in matters affecting Germany as a whole"). Die Oberkommandierenden bilden nach dieser Erklärung gemeinsam den Kontrollrat. Unter dem Datum des 30. 8. 1945 wurde die Proklamation Nr. 1 über die „Aufstellung des Kontrollrates" erlassen, die „An das deutsche Volk!" adressiert war und offenbar die Übernahme der Regierungsgewalt und die Einrichtung des Kontrollrates dem deutschen Volk förmlich zur Kenntnis bringen sollte 19 .

17

Ostpreußen, wo nur „ U S S R " eingetragen ist, Documents on Germany 1944—1961, Committee on Foreign Relations United States Senate, 1961, S. 18. Die von den Besatzungsmächten getroffenen Grenzregelungen sind noch heute vor allem für die Grenze zwischen Bundesrepublik Deutschland und D D R bedeutsam. Die nach dem Grundlagenvertrag eingesetzte Grenzkommission hat durch ein Protokoll vom 29. 11. 1978 die Grenze in ihrem überwiegenden Teil festgestellt (vgl. Die Grenzkommission, Eine Dokumentation über Grundlagen und Tätigkeit, herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 3. Aufl., 1980, S. 14). Offen ist vor allem die Regelung an der Elbe (dazu D. RAUSCHNING Die Grenzlinie im Verlauf der Elbe, in: Recht im Dienst des Friedens, Festschrift für

18

19

E. Menzel, 1975, S. 429, 437f). Das ergibt sich daraus, daß im Londoner Protokoll zwar eindeutig auf in der Mitte der Elbe verlaufende deutsche Verwaltungsgrenzen verwiesen wird, durch die Änderungen im Bereich des Neuhauser Streifens und an anderer Stelle aber Unklarheiten geschaffen worden sind, die bisher nicht beseitigt wurden. Eine Regelung des Grenzverlaufs in der Elbe ist von den Besatzungsmächten bei Vereinbarung der gesamten Änderungen des Grenzverlaufs gegenüber dem Londoner Protokoll offenbar nicht vorgenommen worden. Die Praxis ist kontrovers. Amtsblatt des Kontrollrats, Ergänzungsblatt N r . 1 v. 30. April 1946, S. 7; v. MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 19, 20. Amtsblatt des Kontrollrats Nr. 1 v. 29. Okt. 1945, S. 4.

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWEIN)

33

4. Würdigung Die Besetzung Deutschlands war jedenfalls 1944/45 eine kriegerische Besetzung im Sinne des Kriegs Völkerrechts. Ob sie in vollem Umfang an die in der Haager Landkriegsordnung (HLKO) enthaltenen Regeln über die Besetzung gebunden war, ist streitig. Von den Alliierten wurde häufig die Meinung vertreten, daß die H L K O nicht anwendbar sei 20 . Deutsche Stellungnahmen legten sie dagegen meist zugrunde 21 . Es ist sicher, daß die Ausübung der durch die Erklärung vom 5. 6. 1945 übernommenen Befugnisse weit über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 43 H L K O hinausging. Ob sich vor allem die Maßnahmen zur „Aufhebung von Nazigesetzen" durch das Gesetz Nr. 1 des Kontrollrats 22 und ähnliche Besatzungsrechtsakte als Ausübung einer besonderen, vom deutschen Volk konkludent gebilligten Zuständigkeit zur Wahrnehmung seiner Interessen rechtfertigen lassen, kann dahinstehen. Vieles dürfte in der Lage des Jahres 1945 dafür sprechen. Eine kriegerische Besetzung ändert an dem Fortbestehen des besetzten Staates nichts. Dennoch wurde vor allem mit Rücksicht auf die Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die Besatzungsmächte zum Teil die Meinung vertreten, der deutsche Staat habe aufgehört zu bestehen 23 . Diese Auffassung hat keine Anerkennung gefunden. Bereits 1946 gab das britische Außenministerium in einem Gerichtsverfahren die Erklärung ab, daß Deutschland als Staat weiter bestehe, und das Gericht entschied auf dieser Grundlage 24 . Ebenso urteilten Gerichte neutraler Staaten, etwa der Schweiz 25 . Trotz einiger abweichender französischer Erklärungen 26 kann die Meinung, daß der deutsche Staat nicht durch die Ereignisse von 1945 untergegangen ist, als der Staatspraxis der Alliierten und der wieder entstehenden deutschen Behörden zugrundeliegend angesehen werden 27 . Auf spätere Änderungen der Rechtsauffassung, vor allem der Sowjetunion, wird noch eingegangen werden 28 . 20

21

22

23

Vgl. Nachweise bei R . STÖDTER Deutschlands Rechtslage, 1948, S. 154 ff. STÖDTER a a O , S . 1 2 1 - 1 8 0 ; K . E . v. T U R E G G

Deutschland und das Völkerrecht, 1948, S. 60. Gesetz N r . 1 v. 20. 9. 1945, Amtsblatt des Kontrollrats Nr. 1 v. 29. O k t . 1945, S. 6. Vor allem H . KELSEN The Legal Status of Germany According to the Déclaration of Berlin, A J I L 39 (1945) S. 518; M . VIRALLY Die internationale Verwaltung Deutschlands, 1948, S. 96ff; DERS. L'administration internationale de l'Allemagne, 1948, S. 87; von deutscher Seite ebenso H . NAWIASKY Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 7ff; für die herrschende Ansicht vgl.: E. KAUFMANN Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung, 1948; W. GREWE Ein Besatzungsstatut für Deutschland — Die Rechts-

24

25

26

27

28

formen der Besetzung, 1948; STÖDTER aaO (Fn. 20). R . v. BOTTRILL, ex parte Kuechenmeister, (1946) 1 All England Reports 635; (1947) Kings Bench 41. Schweizerisches Bundesgericht B G E 78, I, 124. Nachweise

bei H .

MOSLER/K.

DOEHRING

Die Beendigung des Kriegszustandes mit Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 37 (1963) S. 47, 48. Die formellen Erklärungen über die Beendigung des Kriegszustandes (Angaben bei MOSLER /DOEHRING aaO) setzen den Fortbestand richtigerweise voraus. Vgl. für deutsche Entscheidungen aus der Frühzeit: Deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1945—1949, Fontes Iuris Gentium, A II 3 , 1 9 5 6 , S. 100ff. Dazu unten S. 36f.

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1. Kapitel. Grundlagen

Am Ende des Jahres 1945 stellte sich die Lage Deutschlands so dar: Sein Territorium war durch alliierte Maßnahmen auf den Stand vom 31. 12. 1937 verkleinert 29 . Das Gebiet bis zu Oder und Neiße unterlag der Besetzung durch die vier Mächte, die gemeinsam im Kontrollrat die oberste Verantwortung für Deutschland ausübten. Das Gebiet östlich von Oder und Neiße unterstand einer besonderen polnischen und für das nördliche Ostpreußen sowjetischen Verwaltung, die nach dem Wortlaut des Potsdamer Abkommens als Vorstufe für Gebietsveränderungen gedacht war 3 0 . Obwohl diese Gebiete aus der sowjetischen Zone ausgeschieden waren, zu der sie ursprünglich gehört hatten, erstreckte sich die Verantwortung des Kontrollrates für Deutschland als Ganzes auch auf sie 31 .

III. Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1. Allgemeines Mit der Entstehung der beiden deutschen Staatsordnungen im Jahre 1949 trat die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands in ein neues Stadium. Sowohl die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland als auch die der Deutschen Demokratischen Republik wurden von den jeweiligen Besatzungsmächten genehmigt und änderten an dem Fortbestehen des Besatzungsverhältnisses nach der Auffassung aller Beteiligten zunächst nichts 32 . Von Bedeutung für die Rechtslage Deutschlands mußte die Klärung des Verhältnisses der beiden bestehenden staatlichen Ordnungen zu dem 1945 nach allgemeiner Auffassung nicht untergegangenen deutschen Staat sein. 2. Das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zum Deutschen Reich Bei der Schaffung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat war die Meinung herrschend, daß der deutsche Staat fortbesteht und lediglich „neu organisiert" werden sollte 33 . Dies kommt vor allem in der Präambel eindeutig zum Ausdruck 29

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31

Dabei soll hier nicht weiter erörtert werden, welche Territorialveränderungen nach diesem Termin völkerrechtlich als gültig anzusehen wären und ob die alliierten Maßnahmen insoweit rechtmäßig waren. Ihre Wirksamkeit ist nie in Frage gestellt worden. Das kommt sowohl für Nord-Ostpreußen als auch für das übrige Gebiet in den Abschnitten V und VIII des Protokolls klar zum Ausdruck, wenn auch vor allem für das Polen zu übertragende Gebiet noch keine endgültige Klärung erfolgt war. Vgl. dazu im einzelnen S. KRÜLLE Die völkerrechtlichen Aspekte des Oder-Neiße-Problems, 1970, S. 66. R. SCHENK Die Viermächteverantwortung für Deutschland als Ganzes, insbesondere

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33

deren Entwicklung seit 1969, 1976, S. 69; vgl. oben S. 31. Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure zum Grundgesetz vom 12. 5. 1949, in: v. MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 130, und Besatzungsstatut v. 10. 4. 1949, in Kraft getreten am 21. 9. 1949, in: v. MÜNCH D o kumente (Fn. 8) B d . I, S. 71; für die D D R Erklärung des Vorsitzenden der sowjetischen Kontrollkommission zur Ubergabe von Verwaltungsfunktionen an deutsche Behörden, in: v. MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S . 325. D a z u eingehend CARLO SCHMID Erinnerungen, 1979, S. 318 ff; vgl. auch K . DOEHRING, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland 2. A u f l . , 1980, S. 55ff.

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins

(FROWEIN)

35

(„um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben"). Die Organe der Bundesrepublik Deutschland haben von Anfang an die Auffassung vertreten, daß die Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich identisch ist 34 . Sie hat auf dieser Grundlage völkerrechtliche Rechtspositionen des Deutschen Reiches fortgesetzt 35 . Vor allem hat sie Verträge wieder angewendet 36 , ist für Deutschland in internationalen Organisationen aufgetreten 37 und hat Reichsvermögen im Ausland übernommen 38 . Das Bundesverfassungsgericht als das höchste vom Grundgesetz konstituierte deutsche Gericht hat die Identität — später als „Teilidentität" bezeichnet — der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich in ständiger Rechtsprechung bestätigt 39 . Auch die Alliierten haben sich nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland in Erklärungn zu der Rechtslage geäußert, ohne freilich das Identitätsproblem eindeutig zu behandeln. Am 18. 9. 1950 haben die Regierungen der Drei Mächte bestätigt, daß sie „die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige deutsche Regierung ansehen, die frei und legitim gebildet und daher berechtigt ist, als Repräsentantin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten für Deutschland zu sprechen" 40 . Die Erklärung, die häufig wiederholt worden ist, stellt für die Auslegung nicht unerhebliche Probleme. Es dürfte kein Zufall sein, daß die Wortwahl rechtliche Konsequenzen hinsichtlich einer völkerrechtlichen Vertretungsbefugnis der Bundesregierung für das Deutsche Reich gerade nicht eindeutig ermöglicht. Wenn es dort heißt, daß die Bundesregierung als Repräsentantin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten für Deutschland sprechen könne, so deutet das eher auf das der Bundesregierung zugebilligte politische Mitspracherecht, nicht aber auf ein völkerrechtliches Vertretungsrecht hin 41 . Die beschränkte Bedeutung der Erklärung wird auch aus einem unveröffentlichten Auslegungsprotokoll deutlich, das der Bundesregierung gleichzeitig übermittelt worden ist. Darin ist ausgeführt, daß die Erklärung auf der fortdauernden Existenz des deutschen Staates beruhe, daß die Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland vorläufigen Charakter habe, indem sie lediglich bis zur friedlichen Wiedervereinigung

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Vgl. etwa das Memorandum des Auswärtigen Amtes von 1961, in: ZaöRV 23 (1963) S. 452. Allgemein dazu G. R E S S Die Rechtslage Deutschlands nach dem Grundlagenvertrag vom 21. Dez. 1972, 1978, S. 217f. A. B L E C K M A N N Die Wiederanwendung deutscher Vorkriegsverträge, ZaöRV 33 (1973) S. 607ff; R. SONNENFELD Succession and Continuation. A Study on Treaty-Practice in Post-War Germany, in: Netherlands Yearbook on International Law, 1976, S. 91, 112 ff, 116 ff. J. A. F R O W E I N Das de facto-Regime im Völkerrecht, 1968, S. 163f.

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G. R E S S Die Bergung kriegsversenkter Schiffe im Lichte der Rechtslage Deutschlands, in: ZaöRV 35 (1975) S. 364ff. BVerfGE 6, 309, 338, 363 f - Reichskonkordat — ; 36, 1, 15 ff - Grundlagenvertrag m.w.N. Memorandum des Auswärtigen Amtes, ZaöRV 23 (1963) S. 454; F. A. M A N N Deutschlands Rechtslage 1 9 4 7 - 1 9 6 7 , in: JZ 1967, 618 ff. Vgl. M. V I R A L L Y La condition internationale de la République fédérale d'Allemagne Occidentale après les Accords de Paris, in: Annuaire Français de Droit International 1955, S. 31, 43 ff.

1. Kapitel. Grundlagen

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Deutschlands Geltung besitze, und daß deshalb die Bundesregierung nicht als de jureRegierung Gesamtdeutschlands anerkannt sei 42 . Hieran hat sich durch den Abschluß des Vertrages über-die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland zu den Drei Mächten in der Fassung vom 23. 10. 1954 (Deutschlandvertrag) nichts geändert. Der am 5. 5. 1955 in Kraft getretene Vertrag führte zur Aufhebung des Besatzungsregimes. Gemäß Art. 1 Abs. 2 hat die Bundesrepublik „demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten". Diese Feststellung wird jedoch durch Art. 2 eingeschränkt, wonach die Drei Mächte „die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung" behalten 43 . Es zeigt sich, daß damit die durch die Erklärung vom 5 . 6 . 1945 von den Alliierten übernommenen Zuständigkeiten auch von den Drei Mächten insofern weiterhin ausgeübt werden können, als sie Berlin und Deutschland als Ganzes, damit also auch das Verhältnis zur Sowjetunion als der vierten an der Ubernahmeerklärung beteiligten Macht, betreffen 44 . Über die Ausübung der Vorbehaltsrechte haben die drei Westmächte in Paris am 23. 10. 1954 ein Abkommen abgeschlossen, aufgrund dessen die vorbehaltenen Rechte von ihren Missionschefs in der Bundesrepublik ausgeübt werden, die gemeinsam handeln, wenn sie die Angelegenheit als sie gemeinsam betreffend ansehen 45 . Soweit es um die Ausübung von Viermächtezuständigkeiten geht, ist der sowjetische Botschafter bei der D D R der Partner der Botschafter der Drei Mächte 46 . Insgesamt ist festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland sich als mit dem Deutschen Reich identische staatliche Körperschaft, freilich auf ihr Territorium begrenzt, versteht. Demgegenüber haben die Drei Mächte den provisorischen Charakter der Bundesrepublik als Teilorganisation im Rahmen des fortbestehenden Deutschen Reiches herausgestellt. 3. Das Verhältnis der Deutschen Demokratischen Republik zum Deutschen Reich Während nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik zunächst nicht klar war, wie ihre Staatsorgane das Verhältnis zum Deutschen Reich beurteilen, wurde nach einiger Zeit der Untergang des Rechtssubjektes Deutsches Reich, zumeist auf das Datum vom 8. 5. 1945 bezogen, zur herrschenden, in der Staatspraxis

42

M . BATHURST/J. L . SIMPSON G e r m a n y a n d

"

the North Atlantic Community, 1956, S. 1 8 8 ; MANN, J Z 1 9 6 7 , 6 2 2 ; E . M E N Z E L W i e

souverän ist die BRD?, in: ZRP 1971, 178, 1 8 8 ; J . A . FROWEIN Z u r v e r f a s s u n g s r e c h t l i -

chen Beurteilung des Warschauer Vertrages, in: Jahrbuch für Internationales Recht (JIR) 18 (1975) S. 11, 51 ff; vgl. auch M. WHITEMAN Digest of International Law, Bd. 2, 1963, S. 784 f.

B G B l . 1 9 5 5 I I , S. 3 0 5 , 3 0 6 ; v . MÜNCH D o -

kumente (Fn. 8) Bd. I, S. 229, 230; zu dem Vorbehalt J. A. FROWEIN „DeutschlandVertrag", in: Görres-Staatslexikon, Ergänzungsband, 1969, Sp. 576ff. 44

FROWEIN a a O .

45

Text in: Documents on Germany (Fn. 16) S. 172 f. Dazu unten S. 40.

46

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWEIN)

37

zugrundegelegten Haltung 47 . Danach sind in Deutschland auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches zwei selbständige Nachfolgestaaten entstanden 48 . Diese Ansicht wird von der Sowjetunion geteilt 49 . Das bedeutet freilich nicht, daß nach Auffassung der D D R und der Sowjetunion die durch die Besetzung Deutschlands und die Erklärung vom 5 . 6 . 1945 über die Übernahme der obersten Gewalt eingetretene Rechtslage heute bedeutungslos wäre. Der Vertrag zwischen der D D R und der Sowjetunion vom 12. 6 . 1 9 6 4 enthält in Art. 9 die Bestimmung, daß Rechte und Pflichten aus geltenden zweiseitigen und anderen Abkommen einschließlich des Potsdamer Abkommens nicht berührt werden 50 . Damit blieb eindeutig auch das Rechtsverhältnis der Sowjetunion zu den drei anderen Alliierten aus den Abkommen über Deutschland vorbehalten. In dem Vertrag zwischen der Sowjetunion und der D D R vom 7. 10. 1975 ist das Potsdamer Abkommen nicht erwähnt, im übrigen aber enthält Art. 10 dieselbe Schutzklausel für zwei- und mehrseitige Verträge 51 . Allein die Hinzufügung des Adjektivs „gültigen" könnte Anlaß für Spekulationen sein. Vor allem aber haben die Sowjetunion und die D D R bei dem Abschluß des Grundlagenvertrages mit der Bundesrepublik Deutschland am 21. 12. 1972 förmlich anerkannt, daß es weiterhin Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte gibt, die ihren Rechtsgrund nur in den Ereignissen des Jahres 1945 und den in diesem Zusammenhang stehenden Verträgen zwischen den vier Alliierten finden können. Ebenso wie die Bundesrepublik die Existenz dieser Rechte gegenüber den drei Westmächten bestätigt hat, übermittelte die D D R der Sowjetunion eine Note, wonach die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland feststellen, daß die „Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte und die entsprechenden diesbezüglichen vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken durch diesen Vertrag nicht berührt werden können" 5 2 . Die Bedeutung dieser Rechte wird später noch erörtert werden. An dieser Stelle ist wesentlich, daß trotz der Auffassung, das Deutsche Reich habe zu bestehen aufgehört, von Sowjetunion und D D R nicht mehr die Haltung eingenommen werden kann, der „Vier-Mächte-Status Deutschlands" sei völkerrechtlich nicht existent. Zumindest in Gestalt dieser Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte besteht vielmehr weiterhin ein Sonderstatus für Deutschland, auch nach Meinung der Sowjetunion und der D D R . 4. Die Rechtsbeziehungen zwischen Bundesrepublik Deutschland und D D R Die rechtlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht von denen, die Staaten miteinander unterhalten, selbst wenn diese in einem besonders geprägten nachbarlichen Verhältnis stehen. Es dürfte kein historisches Beispiel dafür geben, daß der Dissens über die nationale Frage in einem förmlichen Vertrag

47

Vgl. J . HACKER Der Rechtsstatus Deutschlands aus der Sicht der D D R , 1974, S. 137ff, 154 ff mit Nachweisen.

48

HACKER a a O , S .

137-139.

49

HACKER a a O , S . 1 3 9 .

50

v. MÜNCH D o k u m e n t e ( F n . 8) B d . I , S . 4 5 0 , 453.

51 52

GBl. D D R 1975 II, S. 238. B G B l . 1973 II, S. 429 (zum Inkrafttreten vgl. S. 559); vgl. unten S. 40f.

38

1. Kapitel. Grundlagen

zwischen den beiden Staaten, deren Bevölkerung sich nach allen Schätzungen und der täglichen Erfahrung in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit weiterhin einer Nation zugehörig fühlt, festgeschrieben worden ist. Gewiß kann die DDR darauf verweisen, daß nur der Dissens festgestellt sei. Aber demgegenüber läßt sich kaum leugnen, daß mit der Erwähnung in der Präambel ein Problem ausdrücklich genannt worden ist, dessen politischer Stellenwert in Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht von zentraler Bedeutung ist. Es kann kaum überraschen, daß ein genauer Kenner der Verhandlungen den Passus als einen der wichtigsten des ganzen Vertrages bezeichnet, der bis zuletzt umstritten gewesen sei 53 . Auf diesem Hintergrund gewinnt auch die an zwei Stellen der Präambel gebrauchte Bezeichnung „die beiden deutschen Staaten" eine rechtliche Bedeutung, die auf ihre gegenseitige Nähe hinweist und geradezu die Frage aufdrängt, wo die Beziehungen anders geregelt sind als zwischen beliebigen Staaten 54 . Fragt man, wo die besondere Rechtsqualität der Beziehungen konkret ihren Ausdruck findet, so ergibt auch hier der Grundlagenvertrag mit den ihn begleitenden Dokumenten mehr, als manchmal erkannt wird. So bestimmt das Zusatzprotokoll in seinem Abschnitt II zu Art. 7, der Handel zwischen beiden Staaten „wird auf der Grundlage der bestehenden Abkommen entwickelt". Diese Abkommen sind die „Interzonenhandelsabkommen", vor allem das Berliner Abkommen vom 20. 9. 1951 55 . Hiernach ist der Interzonenhandel für die Bundesrepublik kein Außenhandel 56 . Diese Qualifizierung ist durch ein Protokoll zum EWG-Vertrag und eine Ergänzung zum GATT auch gegenüber Drittstaaten wirksam 57 . Die Bestätigung in dem Zusatzprotokoll zum Grundlagenvertrag muß gerade dahin verstanden werden, daß die DDR diese Behandlung sowohl gegenüber der Bundesrepublik als auch gegenüber Drittstaaten ausdrücklich anerkennt. Daraus dürften sich Konsequenzen ergeben, die bisher nicht genügend beachtet worden sind. Die Bundesrepublik Deutschland behandelt das Gebiet der DDR auch sonst weitgehend als „Inland" im Rahmen ihrer Rechtsordnung 58 . Das wird von der DDR zum Teil angegriffen 59 . Soweit dieses ohne Beziehung zu Drittstaaten und ohne jede Auswirkung auf das Territorium der DDR geschieht, die naturgemäß unzulässig wäre und gegen Art. 6 des Vertrages verstieße, ist aus der Bestätigung des Interzonenhandels zu schließen, daß es der DDR an einem berechtigten Interesse fehlt, diese Qualifizierung in Frage zu stellen. Hat sie ihr für einen Fall, der auch Beziehungen zu Drittstaaten impliziert, was genau bekannt war, durch das Zusatzprotokoll zuge-

53

54

B. ZÜNDORF Die Ostverträge, 1979, S. 2 2 2 f f . Der Satz lautet: „ausgehend von den historischen Gegebenheiten und unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage". Vgl. H . - H . MAHNKE Die besonderen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten,

55 56

in: Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, 1979, S. 1 4 5 f f . Bundesanzeiger Nr. 186 v. 26. Sept. 1951. RESS Rechtslage Deutschlands (Fn. 35) S. 363 ff.

57

RESS a a O .

58

RESS aaO S. 3 1 3 f f ; B V e r f G E 36, 1, 17; 37, 57, 64. RESS aaO S. 2 4 7 f f .

59

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWF.IN)

39

stimmt, so kann sie nicht andererseits aus ihrer im Grundlagenvertrag anerkannten Qualität als unabhängiger Staat rechtliche Argumente gegen sie herleiten. Ein weiterer Hinweis auf die besonderen rechtlichen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten findet sich in dem „Vorbehalt zu Staatsangehörigkeitsfragen durch die Bundesrepublik Deutschland" und der darauf bezogenen Erklärung der DDR. Nach der Feststellung der Bundesrepublik sind Staatsangehörigkeitsfragen durch den Vertrag nicht geregelt worden. Die DDR geht nach ihrer Erklärung davon aus, daß der Vertrag eine Regelung der Staatsangehörigkeitsfrage erleichtern wird 6 0 . Diese Erklärungen sind auf dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, daß die Bundesrepublik Deutschland nach ihrem Selbstverständnis das Deutsche Reich fortsetzt und die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik mit der deutschen Staatsangehörigkeit übereinstimmt. Dieses Problem wird noch näher zu erörtern sein 61 . Hier kommt es darauf an, daß die Existenz besonderer staatsangehörigkeitsrechtlicher Probleme, die auf die Rechtslage Deutschlands zurückgehen, von beiden Staaten ausdrücklich anerkannt wurde. Schließlich ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, daß die beiden deutschen Staaten gemäß Art. 8 „ständige Vertretungen" austauschen, die gerade nicht den Charakter normaler diplomatischer Vertretungen haben 62 . Zwar ist bekannt, daß die DDR auch hier den Unterschied zum allgemeinen diplomatischen Verkehr verwischen möchte. Aber sie muß sich entgegenhalten lassen, daß nach dem Protokoll über die ständigen Vertretungen vom 14.3.1974 die Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen nur „entsprechend" gilt. Das kann auf dem bekannten Hintergrund der Beziehungen der beiden deutschen Staaten nur als Hinweis auf deren von sonstigen zwischenstaatlichen Beziehungen abweichende Qualität verstanden werden. Beide Staaten kennen im übrigen nur den Austausch normaler diplomatischer Vertretungen mit dritten Staaten. Zum Teil wird die Frage aufgeworfen, ob die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik dem Völkerrecht zuzurechnen sind oder einem davon zu trennenden „inter-se-Recht" unterstehen. Der Terminus stammt aus der Geschichte des britischen Commonwealth, für das die Geltung des allgemeinen Völkerrechts zwischen seinen Mitgliedern früher überwiegend abgelehnt wurde 63 . In der heutigen Rechtswissenschaft besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß es Situationen geben kann, wo völkerrechtliche und staatsrechtliche Beziehungen zwischen Staaten nebeneinanderstehen 64 . Das haben gerade die Auflösung des britischen Commonwealth und der Vorgang der Dekolonisierung allgemein gezeigt 65 . Nun spricht allerdings vieles dafür, daß die Beziehungen zwischen Staaten, die als unabhängige Völkerrechtssubjekte anerkannt 60

BGBl. 1973 II, S. 426; GBl. D D R 1973 II,

64

Nachweise bei RESS Rechtslage Deutschlands (Fn. 35) S. 1 7 0 - 1 7 4 .

65

RESS a a O S . 1 7 0 f f ; R . BERNHARDT D e u t s c h -

S . 2 7 ; RESS a a O S . 4 1 1 . 61

Vgl. unten S. 4 8 f f .

62

RESS a a O S . 2 7 2 f f ; P r o t o k o l l b e i v . M Ü N C H

63

Dokumente (Fn. 8) Bd. II, 1974, S. 394. J. E. S. FAWCETT The British C o m m o n wealth in International Law, 1963, S. 144 ff.

land nach 30 Jahren Grundgesetz, W D S t R L Bd. 38 (1979) S. 2 2 f f .

in:

40

1. Kapitel. Grundlagen

sind, dann als völkerrechtlich qualifiziert werden müssen, wenn nicht beide übereinstimmend von einer anderen Zuordnung ausgehen 66 . Die D D R will ihr Verhältnis zur Bundesrepublik ausschließlich dem Völkerrecht unterstellt sehen 67 . Aber es erscheint doch zweifelhaft, ob das voll gelingen kann, nachdem der Grundlagenvertrag die Beziehungen umfassend geregelt hat. Gewiß ist dieser Vertrag in den Formen des Völkerrechts abgeschlossen worden. Gewiß wird man ihn auch, wie es das Bundesverfassungsgericht tut, in erster Linie dem Völkerrecht zuzuordnen haben 68 . Aber er enthält eben zu viele Besonderheiten, als daß nicht die Unterschiede der Rechtsbeziehungen der beiden deutschen Staaten zu anderen zwischenstaatlichen Beziehungen unmittelbar ins Auge springen müßten. Diese Unterschiede können nicht dazu führen, daß eine völkerrechtliche Qualifizierung der Beziehungen ausscheidet. Andererseits findet die Aufrechterhaltung der Auffassung, es gebe im Verhältnis der beiden deutschen Staaten noch staatsrechtliche Restbestände, in diesen Regelungen eine Stütze. Für die Qualifizierung als „Nicht-Ausland" wurde darauf schon hingewiesen 69 . Aber auch die Erkenntnis, daß die Interzonenhandelsregelungen als solche aufrechterhalten worden sind, spricht dafür, daß diese Regelungen nicht etwa mit Abschluß des Grundlagenvertrags ihre Rechtsqualität völlig geändert haben 70 . Das ändert nichts daran, daß primär Völkerrecht zwischen den beiden deutschen Staaten zur Anwendung kommt 7 1 .

IV. Der Viermächtestatus Deutschlands 1. Die Existenz von Rechten und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte Formell haben die Vier Mächte gemeinsam einen actus contrarius zu der Ubernahmeerklärung vom 5. 6. 1945 bezüglich der obersten Regierungsgewalt nie gesetzt. Sie haben aber durch völkerrechtliche Verträge und sonstige Akte die Verpflichtung übernommen, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik als souveräne Staaten mit Ausnahme der erwähnten Vorbehalte zu behandeln 72 . Sie haben dem Beitritt der beiden deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen zugestimmt. Während das Fortbestehen von Vier-Mächte-Rechtspositionen für Deutschland als Ganzes längere Zeit von allen Beteiligten jedenfalls nicht betont worden war, hat die formelle Regelung der Verhältnisse zwischen den beiden deutschen Staaten und ihre Aufnahme in die Vereinten Nationen zu einer ausdrücklichen Bestätigung dieser Rechtslage durch die Vier Mächte und die beiden deutschen Staaten geführt. Am 66 67

68

69 70

RESS aaO S. 158f, insbes. Fn. 9. HACKER Rechtsstatus Deutschlands (Fn. 47). B V e r f G E 36, 1; vgl. auch BERNHARDT in: W D S t R L B d . 38 (1979) S. 15 und 22ff. Vgl. oben S. 38 f. Vgl. oben S. 38.

71

72

Das war bereits lange vor Abschluß des Grundvertrages s o ; vgl. FROWEIN D e factoRegime (Fn. 37) S. 34ff und passim. Vgl. dazu allgemein SCHENK Viermächteverantwortung (Fn. 31) und CHR. TOMUSCHAT Die rechtliche Bedeutung der Vier-MächteVerantwortung, in: Fünf Jahre Grundvertragsurteil (Fn. 54) S. 71 ff.

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWEIN)

41

9 . 1 1 . 1 9 7 2 gaben die Vier Mächte zusammen eine Erklärung ab, wonach der U N Beitritt der beiden deutschen Staaten in keiner Weise die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte und die entsprechenden diesbezüglichen vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken berühren solle 7 3 . Bei Unterzeichnung des Grundlagenvertrages übermittelten die Bundesrepublik an die Drei Mächte, die D D R an die Sowjetunion gleichlautende Noten, wonach die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte durch den Vertrag nicht berührt werden können 7 4 . Hiernach ist unzweifelhaft, daß nach Auffassung aller an dem Rechtsverhältnis Beteiligten nach wie vor Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte bestehen. Was diese Rechtsposition der Vier Mächte inhaltlich bedeutet, ist niemals klar umschrieben worden. Es erscheint sinnvoll, das am Beispiel einiger besonders wichtiger Rechtsfragen genauer zu behandeln.

2. Das Recht zu gewaltsamer Intervention Insbesondere in Zusammenhang mit dem Abschluß des Moskauer Vertrages im Jahre 1970 ist die Frage vielfach erörtert worden, ob es ein Recht der Vier Mächte gibt, einseitig oder kollektiv in Deutschland gewaltsam zu intervenieren 75 . Dafür konnten vor allem die Hinweise in Art. 107 und 53 der U N - C h a r t a angeführt werden, wenn auch überwiegend Einigkeit darüber besteht, daß hierin nicht der Rechtsgrund, sondern nur eine Außerkraftsetzung der Gewaltverbote der Charta liegen kann 7 6 . Der Rechtsgrund für eine gewaltsame Intervention könnte nur in dem im Jahre 1945 begründeten Rechtsverhältnis liegen. Die Sowjetunion hat vor 1970 mehrfach auf die Fortexistenz der in Art. 107 und 53 U N - C h a r t a Vorausgesetzen Rechtspositionen verwiesen 77 .

73

74 75

76

77

Englischer Wortlaut in: U . S . Department of State Press Release N o . 279, International Legal Materials X I I (1973) S. 217. B G B l . 1973 II, S. 429; vgl. oben S. 37. Vgl. etwa FROWEIN, I C L Q 23 (1974) S. 107; H . STEINBERGER Völkerrechtliche Aspekte des deutsch-sowjetischen Vertragswerks v. 12. Aug. 1970, in: ZaöRV 31 (1971) S. 63, 83ff; D . BLUMENWITZ Feindstaatenklauseln. Die Friedensordnung der Sieger, 1972, S. 39 ff. F R O W E I N u n d BLUMENWITZ a a O ; f e r n e r K .

KRAKAU Feindstaatenklauseln und Rechtslage Deutschlands nach den Ostverträgen, 1975. Vgl. das sowjetische Aide-Mémoire vom 5. Juli 1968: „ . . . Die Bestimmungen der UNO-Charta über Zwangsmaßnahmen ,im Falle einer erneuten Aggressionspolitik', auf die sich die Regierung der B R D beruft, behalten voll und ganz ihre Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland. Auch hier kann die B R D keinen Anspruch auf die glei-

che Stellung, wie sie die anderen europäischen Staaten haben . . ., erheben" (aus: Die Politik des Gewaltverzichts, Eine Dokumentation der deutschen und sowjetischen Erklärungen zum Gewaltverzicht, 1949 bis Juli 1968, veröffentlicht durch das Presseund Informationsamt der Bundesregierung, 1968, S. 36, 45). Dazu die Reaktion der U S A in einer Presseerklärung des Department of State vom 17. Sept. 1968: „ . . . The Government of the United States wishes to assure the Federal Republic of Germany that it is its considered view that (1) neither Article 107 nor Article 53 nor the two Articles together give the Soviet Union or other Warsaw Pact members any right to intervene by force unilaterally in the Federal Republic of Germany; (2) if, despite this, the Soviet Union or other Warsaw Pact members should intervene by force unilaterally in the Federal Republic of Germany, that act would lead to an immediate Allied response in the form of self-defense measures pursuant to the North

42

1. Kapitel. Grundlagen

Die Drei Mächte haben durch eine förmliche Erklärung vom 3 . 1 0 . 1954 gegenüber der Bundesrepublik Deutschland die Verpflichtung übernommen, Art. 2 der UN-Charta mit dem Gewaltverbot zu respektieren 78 . Die Sowjetunion hat im Moskauer Vertrag von 1970 die Geltung des Gewaltverbotes in ihrem Verhältnis zur Bundesrepublik bestätigt 79 . Insofern ist klar, daß keine rechtliche Möglichkeit zu einseitigen Maßnahmen einer der Vier Mächte besteht. Daraus folgt noch nicht, daß die erwähnten Bindungen auch Kollektivaktionen rechtlich eindeutig ausschließen. Kollektive Vier-Mächte-Rechte werden nirgendwo erwähnt. Wie der Notenwechsel der Bundesregierung mit den Drei Mächten zum Moskauer Vertrag zeigt, ist die „Frage der Rechte der Vier Mächte" auch im Moskauer Vertrag nicht berührt worden 80 , so daß sich ein kollektives Interventionsrecht durch diesen Vertrag nicht ausschließen läßt. Wohl aber müssen die Vier Mächte sich entgegenhalten lassen, daß ein Recht dieser Art obsolet geworden ist, nachdem die Beziehungen zu den beiden deutschen Staaten vertraglich geregelt und beide Mitglieder der Vereinten Nationen geworden sind 81 . Außerdem ergibt sich eine entscheidende Begrenzung aus der Verpflichtung der Drei Mächte, die Bundesrepublik bei Ausübung ihrer Vorbehaltsrechte zu konsultieren, die in Art. 7 Abs. 4 des Deutschlandvertrages enthalten ist. Damit ist ein Recht auf gemeinsame gewaltsame Intervention nicht vereinbar 82 . 3. Das Recht der Truppenstationierung Seit 1945 hatten die Vier Mächte immer Truppen in Deutschland stationiert. In Art. 12 der Erklärung vom 5. 6. 1945 hatten sie dieses Recht ausdrücklich für sich in Anspruch genommen 83 . Die Truppenstationierung ist für beide deutschen Staaten jetzt Gegenstand vertraglicher Regelungen. Gemäß Art. 4 des Deutschlandvertrages haben die Drei Mächte ein Stationierungsrecht im Rahmen der besonderen Abkommen, jetzt des NATO-Truppenstatuts, sowie zur Ausübung ihrer in Art. 2 vorbehal-

78

Atlantic T r e a t y ; (3) there can be no question

teln). W i r haben keinerlei A u s n a h m e n v o r -

of the validity o f the N o r t h Atlantic T r e a t y

gesehen. D a s ist unsere A n t w o r t auf Ihre in-

under the U n i t e d N a t i o n s C h a r t e r "

(aus:

nenpolitische Diskussion. Ich betone erneut

A J I L 69 ( 1 9 6 9 ) S. 1 2 1 ) . Vgl. FROWEIN a a O ;

das W o r t „ausschließlich". Glauben Sie, daß

STEINBERGER, Z a ö R V 31 ( 1 9 7 1 ) S. 6 3 , 9 1 .

das für uns nur ein F e t z e n Papier ist? D a s ist

BT-Drucks.

Bundesregierung 1 9 5 4 , S. 1 6 6 6 .

79

es n i c h t " .

1 1 / 1 0 6 1 , S. 6 6 f f ; Bulletin der Außerdem

80

Brief v. 2 6 . Mai 1 9 5 2 , w o n a c h die V o r b e -

81

B R - D r u c k s . 7 2 1 / 7 1 , S. 6 ff. Gesetz

zum

Beitritt

der

Bundesrepublik

haltsrechte nichts an den vertraglichen V e r -

Deutschland z u r C h a r t a der Vereinten N a -

pflichtungen

BT-

tionen: B G B l . 1 9 7 3 II, S. 4 3 0 ; B e k a n n t m a -

Drucks. 11/3500, S . 4 f .

chung über das Inkrafttreten der C h a r t a der

B G B l . 1 9 7 2 II, S. 3 5 3 f f ; vgl. dazu auch die

Vereinten N a t i o n e n für die Deutsche D e m o -

E r k l ä r u n g v o m 2 9 . Juli 1 9 7 0 ,

kratische Republik: G B l . D D R 1973 II, S.

ändern,

Anlage

3

zu

BT-Drucks.

145.

V I / 3 1 5 6 , S. 1 4 : „ W i r haben uns t r o t z d e m entschlossen,

mit Ihnen einen

Gewaltver-

82

Obsoletwerden

auch

BLUMENWITZ

Feindstaatenklauseln ( F n . 75) S. 9 0 f f .

zicht abzuschließen, d . h . die Verpflichtung zu übernehmen und sie zu ratifizieren. In

Zum

83

Amtsblatt des Kontrollrats, Ergänzungsblatt

d e m v o n uns a n g e n o m m e n e n T e x t steht das

N r . 1 v. 3 0 . April 1 9 4 6 , S. 7, 9 ; v. MÜNCH

W o r t „ausschließlich" (mit friedlichen M i t -

D o k u m e n t e ( F n . 8) B d . I, S. 19, 2 3 .

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWEIN)

43

tenen Rechte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes 8 4 . Entsprechend ist in Art. 4 des Vertrages vom 20. 9. 1955 zwischen der D D R und der Sowjetunion Einigkeit darüber hergestellt worden, daß die ,,in Übereinstimmung mit den bestehenden internationalen Abkommen auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik stationierten sowjetischen Truppen" zeitweilig in der D D R verbleiben 85 . Aus diesen vertraglichen Regelungen wird nicht gleich klar, ob das Stationierungsrecht noch auf die Rechtsposition der Vier Mächte zurückgeht. Wenn in Art. 4 Abs. 2 des Deutschlandvertrages die Truppenstationierung mit dem Vorbehalt von Rechten in Art. 2 verbunden wird, so zeigt das aber, daß hier die Vier-MächteRechtsbasis erhalten werden sollte. Zwar verpflichten sich die Drei Mächte ausdrücklich, ihr Stationierungsrecht auf dem Territorium der Bundesrepublik nur in vollem Einvernehmen mit ihr wahrzunehmen, aber die Bundesrepublik erklärt gleichzeitig ihr Einverständnis zur Stationierung, und zwar zur Stationierung auch aufgrund des Vorbehaltsrechts 86 . Insofern ist Rechtsgrund der Stationierung auf dem Gebiet der Bundesrepublik hier auch noch der Vier-Mächte-Status, wenn auch die Drei Mächte bestimmte Bindungen hinsichtlich der Anwendung gegenüber der Bundesrepublik eingegangen sind. Entsprechend ist die Regelung im Verhältnis von Sowjetunion und D D R ausgestaltet. Auch die D D R hat ihr Einverständnis zum weiteren Verbleib der Truppen auf ihrem Territorium erklärt, ohne daß damit der ursprüngliche Rechtsgrund beseitigt worden wäre. Ein wichtiger Hinweis darauf, daß auch die Sowjetunion die Rechtsgrundlage der Truppenstationierung in dem Rechtsverhältnis der Vier Mächte zu Deutschland sieht, ist in der Bezeichnung ihrer Streitkräfte als „Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland" zu sehen, die nach gewissen Schwankungen heute wieder allgemein gebraucht wird 87 . Auch ist die Existenz von Militärmissionen der Westmächte in Potsdam, der Sowjetunion in Bünde, Frankfurt/Main und Baden-Baden, jeweils bei dem Oberkommandierenden akkreditiert, ein deutlicher Beweis für das Fortbestehen des ursprünglichen Stationierungsrechts als erstem, wenn auch weithin überlagertem Rechtsgrund. Die Missionen waren schon in Art. 2 des Abkommens über die Kontrolleinrichtungen in Deutschland vom 14. 11. 1944 vorgesehen worden 88 . Daß sie noch heute weiter bestehen, ohne daß sie bei Behörden der beiden deutschen Staaten akkreditiert werden, ist nur damit zu erklären, daß die Rechtsgrundlage der ursprünglichen Truppenstationierung rechtlich noch fortbesteht 89 . 84

85 86

FROWEIN D e u t s c h l a n d - V e r t r a g ( F n . 43) S p .

578 f, dort auch zu den französischen Truppen (vgl. Bulletin der Bundesregierung 1966, Nr. 161, S. 1304). GBl. D D R 1955 I, S. 918. Vgl. RESS Rechtslage Deutschlands (Fn. 35)

87

88

S. 3 8 f mit A n m . 9 9 ; s. auch H . KUTSCHER/

W. GREWE Bonner Vertrag, 1952, Art. 4, 1/ II, S. 32, wo das vorbehaltene Stationierungsrecht als „nudum jus" bezeichnet wird, weil die Anwendung voll vertraglich gebunden ist.

89

HACKER Rechtsstatus Deutschlands (Fn. 47) S. 4 2 1 . Art. 2 lautet: „Each Commander-in-Chief in his zone of occupation will have attached to him military, naval and air representatives of the other two Commanders-in-Chief for liaison duties". Für Hinweise auf die bilateralen Vereinbarungen zur Errichtung der Missionen vgl. WHITEMAN Digest (Fn. 42) Bd. 2, S. 592. Vgl. oben S. 30 sowie H . Rumpf Land ohne Souveränität, 2. Aufl., 1973, S. 23.

44

1. Kapitel. Grundlagen

4. Die endgültige Regelung der deutschen Frage Die fortbestehende Vier-Mächte-Rechtsbasis für Deutschland ist Ausdruck dafür, daß die deutsche Frage rechtlich nicht gelöst ist. Die Vier Mächte haben sich darauf geeinigt, die Probleme, die Deutschland als Ganzes betreffen, gemeinsam zu behandeln 90 . Vor allem der Abschluß des Berlin-Abkommens und die Einigung über den Beitritt der beiden deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen sind Beispiele für die Wahrnehmung dieser Zuständigkeit aus der letzten Zeit 91 . Eine Verpflichtung zur Wiedervereinigung Deutschland in den Grenzen vom 31. 12. 1937 haben die Vier Mächte nicht übernommen. Wohl aber haben die Drei Mächte im Deutschlandvertrag gegenüber der Bundesrepublik ausdrücklich zugesagt, ihre Wiedervereinigungspolitik zu unterstützen. Dabei bleibt allerdings offen, wieweit diese territorial reichen würde 92 . Das Fortbestehen der Vier-Mächte-Rechtsposition hat in bezug auf die Möglichkeiten der Wiedervereinigung eine bedeutende Funktion der Offenhaltung. Jede einseitige Regelung, die die Wiedervereinigung ausschließen sollte, ist danach rechtlich unzulässig. Keine der Vier Mächte dürfte mit einem der deutschen Staaten eine die Wiedervereinigung ausschließende vertragliche Regelung treffen, solange nicht zwischen den vier am Deutschlandverhältnis außer den deutschen Staaten Beteiligten eine endgültige Regelung über Status und Zukunft Deutschlands getroffen ist 93 . Der Abschluß des Grundlagenvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik fiel als eine Deutschland als Ganzes betreffende Frage jedenfalls auch in den Zuständigkeitsbereich der Vier Mächte. Auch aus diesem Grunde ist es konsequent, daß im Zusammenhang mit seinem Abschluß beide deutschen Staaten den Vier Mächten gegenüber ihre Rechtsposition bekräftigt haben 94 . 5. Grenzfragen Die Vier Mächte haben durch die Erklärung vom 5. 6. 1945 und die Besetzung des Reichsgebietes in den Grenzen vom 31. 12. 1937 für dieses Territorium die noch

90

91

S. oben S. 3 2 ; vgl. dazu auch SCHENK Vier-

daß die endgültige Festlegung der Grenzen

mächteverantwortung ( F n . 3 1 ) S. 35 ff.

Deutschlands bis zu dieser Regelung aufge-

J . A . FROWEIN Buchbesprechung A ö R 1 9 7 0 ,

schoben werden m u ß . (2) Bis z u m Abschluß

S . 6 3 8 f ; DERS.

der friedensvertraglichen Regelung werden

Viermächte-Verantwortung

für Deutschland,

92

in:

Politik

und

Kultur

die Unterzeichnerstaaten zusammenwirken,

1 9 7 5 , H e f t 3 / 4 , S. 3 ff; ZÜNDORF Ostverträge

um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames

( F n . 5 3 ) S. 169 ff.

Ziel zu verwirklichen: Ein wiedervereinigtes

A r t . 7 Abs. 1 und 2 des Deutschlandvertra-

Deutschland, das eine freiheitlich-demokra-

ges lauten: „ ( 1 ) Die

tische Verfassung, ähnlich wie die Bundesre-

Unterzeichnerstaaten

sind darüber einig, daß ein wesentliches Ziel

publik, besitzt und das in die europäische

ihrer

Gemeinschaft integriert i s t " . Vgl. FROWEIN

gemeinsamen

Politik

eine

zwischen

Deutschland und seinen ehemaligen

J I R 18 ( 1 9 7 5 ) S. 4 4 ff.

Geg-

nern frei vereinbarte friedensvertragliche R e -

93

FROWEIN Politik und Kultur 1 9 7 5 , 3 / 4 , S. 8 ;

gelung für ganz Deutschland ist, welche die

RESS Rechtslage Deutschlands ( F n . 3 5 ) S.

Grundlage für einen dauerhaften Frieden bil-

226.

den soll. Sie sind weiterhin darüber einig,

94

Vgl. oben S. 4 1 .

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWEIN)

45

fortbestehende Vier-Mächte-Rechtsposition begründet. Nach dem Abschluß des Grundvertrages haben die beiden deutschen Staaten das Fortbestehen dieser Rechte bestätigt. Zweifelhaft könnte freilich sein, ob die Rechte der Vier Mächte sich auch noch auf die Regelung des Rechtsverhältnisses der Gebiete östlich von Oder und Neiße beziehen. Die D D R hat mit dem Görlitzer Vertrag vom 6. 7. 1950 die OderNeiße-Linie als Grenze vertraglich anerkannt 95 . Die Bundesrepublik Deutschland hat im Warschauer Vertrag vom 7. 12. 1970 die Qualität dieser Grenze als polnische Staatsgrenze bestätigt 96 . Durch derartige bilaterale Verträge der deutschen Staaten mit Polen konnte sich an den völkerrechtlich begründeten Rechtsverhältnissen der Vier Mächte nicht ohne weiteres etwas ändern. Das könnte nur dann anders sein, wenn irgendeine Beteiligung der Vier Mächte rechtliche Wirkungen hätte. Die drei Westmächte haben dem Vertragschluß zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen ihre förmliche Zustimmung gegeben, aber gleichzeitig betont, daß die Rechte der Vier Mächte damit nicht beeinträchtigt werden können 97 . Daraus muß geschlossen werden, daß nach Auffassung der Drei Mächte die im Potsdamer Abkommen vorbehaltene endgültige Regelung noch immer aussteht. Dafür spricht auch eine Erklärung des britischen Außenministers zum Warschauer Vertrag 98 . Die Sowjetunion sieht freilich die Zugehörigkeit dieser Gebiete zu Polen ebenso wie ihre Souveränität über das nördliche Ostpreußen als schon durch das Potsdamer Abkommen geklärt an 99 . Frankreich hat unterschiedliche Positionen eingenommen 100 . Immerhin ist deudich, daß mindestens nach Auffassung der USA und Großbritanniens eine endgültige Regelung für die sogenannten Ostgebiete des Deutschen Reiches nach wie vor aussteht. Eine andere Frage ist allerdings, welche Rechtsbindungen bereits heute für den Fall einer endgültigen Lösung existieren. Es dürfte polnische Ansprüche schon aus den Vereinbarungen in Yalta und Potsdam auf eine wesentliche Westverschiebung der polnischen Grenze gegen die Vier Mächte geben 101 , und es spricht viel dafür, daß diese Ansprüche nach der ausdrücklichen Zustimmung der Drei Mächte zum Warschauer Vertrag heute auf die Bestätigung der Oder-Neiße-Grenze bei einer friedensvertraglichen Regelung konkretisiert worden sind 1 0 2 . Soweit die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt an einer friedensvertraglichen Regelung beteiligt wäre, könnte sie zwar auf die Notwendigkeit einer endgültigen Regelung hinweisen, wäre aber in der Sache selbst durch den Warschauer Vertrag gebunden.

95

G B l . D D R 1950, S. 1205; v. MÜNCH D o k u -

mente (Fn. 8) Bd. I, S. 497. *> BGBl. 1972 II, S. 361 ff; dazu FROWEIN, J I R 18 (1975) S. 12f; BVerfGE 40, 141, 170ff. 9 7 Wortlaut der Note BR-Drucks. 722/71, S. 8. 9 8 Vgl. FROWEIN ICLQ 23 (1974) S. 112, Anm. 39: „ . . . but of course a final arrangement must await a final peace settlement of the German problem"; anders wohl TOMUSCHAT, in: Fünf Jahre Grundvertragsurteil (Fn. 54) S. 79ff.

99

100 101

102

Dazu KRÜLLE Oder-Neiße-Problem 30) S. 154 ff. aaO S. 245. So

schon

GREWE

in:

(Fn.

KUTSCHER/GREWE

Bonner Vertrag (Fn. 86) S. 14f; eingehend FROWEIN, JIR 18 (1975) S. 44 ff und ICLQ 23 (1974) S. 109ff. K. SKUBISZEWSKI Poland's Western Frontier and the 1970 Treaties, in: AJIL 67 (1973) S. 23, 30.

46

1. Kapitel. Grundlagen

Die Vier-Mächte-Rechtsposition in bezug auf die Oder-Neiße-Grenze entspricht im übrigen ganz der, die nach teilweise veröffentlichten Erklärungen der Westmächte für die unbedeutenden Grenzänderungen an der deutschen Westgrenze besteht. Auch hier hat etwa die amerikanische Regierung die Notwendigkeit einer Bestätigung in einer friedensvertraglichen Regelung herausgestellt 103 . Insofern erscheint es nicht zutreffend, wenn zum Teil die Auffassung vertreten wird, mit dem Abschluß des Warschauer Vertrages und der Zustimmung der Drei Mächte zu diesem Vertrag sei das Mitentscheidungsrecht der Vier Mächte über die deutsche Ostgrenze endgültig konsumiert 104 . 6. Vier-Mächte-Status von Berlin Der Status Berlins wird gesondert behandelt 105 . An dieser Stelle muß er deswegen erwähnt werden, weil er ein Bestandteil der Vier-Mächte-Rechtsposition in Deutschland ist, die auf das Jahr 1945 zurückgeht, und er Auswirkungen über das Gebiet von Berlin hinaus hat. Ein besonders guter Nachweis hierfür ist das Zugangsrecht für Militärpersonal nach Berlin, das von den Vier Mächten in Anspruch genommen wird. Dieses Zugangsrecht gründet sich auf die gemeinsame Besetzung Deutschlands und Berlins. Auch auf dem Territorium der beiden deutschen Staaten beruht es auf dem vorbehaltenen Besatzungsrecht. Aus diesem Grunde werden Angehörige der westlichen Streitkräfte auch auf ihrer Fahrt durch das Territorium der D D R nur durch sowjetisches Militärpersonal kontrolliert. Diese Rechtslage hat im Vier-Mächte-Abkommen über Berlin insofern eine Bestätigung erfahren, als die Zugangsregelung dort nur für Zivilpersonen gilt 106 . Aber auch die Bestimmungen des Vier-Mächte-Abkommens sind ein Nachweis dafür, daß den Vier Mächten noch eine völkerrechtliche Zuständigkeit für Deutschland als Ganzes über Berlin hinaus zukommt. Anders ist die Zuständigkeit der Vier Mächte zur Vereinbarung der Bestimmungen über den Transit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin nicht zu erklären. Nur die Verbindung der VierMächte-Rechtsposition in bezug auf Berlin mit der auf Deutschland als Ganzes machte es möglich, daß die Sowjetunion gegenüber den Drei Mächten eine ausdrückliche Garantieerklärung für den zivilen Verkehr nach Berlin abgab 1 0 7 . Sowohl der Vertragsgegenstand als auch die Übernahme von Verpflichtungen sind hier ein Ausdruck der Vier-Mächte-Rechte 108 . 103

Sehr vorsichtig die Formulierung des State Department bei WHITEMAN Digest (Fn. 42), Bd. 3, 1964, S. 423, zu deutsch-schweizerischen Grenzberichtigungen: „ I t would be the view of the Department that in as much as Article 7 (I) provides that final determination of the boundaries of Germany must await a peace settlement, as between the signatory states to the Bonn Conventions any rectification of the Swiss-German frontier cannot be considered as a final determination unless confirmed by the peace settlement".

104

105 106

107

108

So wohl TOMUSCHAT in: Fünf Jahre Grundvertragsurteil (Fn. 54) S. 71, 83. Vgl. unten S. 54. Beilage Bundesanzeiger N r . 174 v. 19. Sept. 1972, S. 44; dazu E. R. ZIVIER Der Rechtsstatus des Landes Berlin 3. Aufl., 1962, S. 164, 240; vgl. auch Dokumente zur BerlinFrage (Fn. 12) N r . 199, S. 240f. So schon FROWEIN Politik und Kultur, 1975, 3/4, S. 12. ZÜNDORF O s t v e r t r ä g e

(Fn. 53) S.

169

be-

zeichnet sogar das gesamte A b k o m m e n mit

47

2. Abschnitt. D i e Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWEIN)

V. Das Fortbestehen des Deutschen Reiches 1. Die offiziellen Rechtspositionen Die Bundesrepublik Deutschland sieht sich als mit dem Deutschen Reich identisch an. Sie setzt das Deutsche Reich auf ihrem Territorium fort 1 0 9 . Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet das Verhältnis als eines der „Teilidentität" 110 . Hieraus folgt, daß nach der Auffassung der Bundesrepublik Deutschland, die sich in einer Vielzahl von Staatsakten geäußert hat, das Deutsche Reich nicht untergegangen ist, sondern fortbesteht, und zwar in Gestalt der Bundesrepublik Deutschland 111 . Das besagt allerdings nicht, daß die Bundesrepublik das nicht zu ihr gehörende Territorium des Deutschen Reiches als ihr Staatsgebiet ansieht. Vielmehr hat sie sich insoweit der Bindung an die Vorbehaltsrechte der Drei Mächte unterworfen, wie sie in Art. 2 des Deutschlandvertrages zum Ausdruck kommen. Danach ist das politische Ziel der Wiedervereinigung, das für die Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland in der Präambel des G G enthalten ist 1 1 2 , von der Zuständigkeit der Vier Mächte umfaßt. Die Bundesrepublik Deutschland kann Zuständigkeiten für außerhalb ihrer Grenzen gelegenes deutsches Territorium nicht beanspruchen und hat das auch, entgegen anderslautenden Darstellungen, nie getan 113 . Es wurde bereits dargelegt, daß die Deutsche Demokratische Republik nach einer Periode der Unsicherheit offiziell den Untergang des Deutschen Reiches im Jahre 1945 annimmt 114 . Die Vier Mächte haben zu der Frage in letzter Zeit nie klar Stellung genommen. Man wird aber das Fortbestehen der Rechte der Vier Mächte, das, wie dargelegt wurde, von allen angenommen wird, so deuten müssen, daß die staatliche Ordnung auf deutschem Boden von den an dem Vier-Mächte-Rechtsverhältnis Beteiligten nach wie vor nicht als endgültig angesehen wird 1 1 5 . 2. Würdigung Die Frage, ob ein Staat fortbesteht, beantwortet sich nach dem Völkerrecht 116 . Die Normen sind freilich alles andere als klar 1 1 7 . Es zeigt sich auch, daß in der Staatenpraxis dem Selbstverständnis der möglicherweise identischen Rechtssubjekte nicht geringe Bedeutung zukommt 1 1 8 . Insofern ist die Behauptung der Bundesrepublik, sie setze das Deutsche Reich auf ihrem Territorium fort, ohne Zweifel bedeutsam 119 . den deutschen Ausführungsvereinbarungen als „ v o n den Vier Mächten gesetztes Besatzungsrecht". 1 0 9 B V e r f G E 36, 1, 16. 1 1 0 a a O S. 16. 1 1 1 a a O S. 16. a a O S. 17ff. i « FROWEIN J I R 18 (1975) S. 5 0 f f . 1 1 4 Vgl. oben S. 36f. 1 1 5 Vgl. oben S. 4 0 f . 1 1 6 D a z u allgemein W. FIEDLER D a s Kontinuitätsproblem im Völkerrecht, 1978; DERS. Staats- und völkerrechtliche Probleme des

Staatsuntergangs, in: Zeitschrift für Politik 1973, S. 1 5 0 f f ; vgl. ferner TOMUSCHAT, in:

Fünf Jahre Grundvertragsurteil (Fn. 54) S. 78. 1,7

Beispiele bei FIEDLER Kontinuitätsproblem

118

Siehe die Praxis im Falle Österreich, w o der Staatsvertrag in Art. 1 den österreichischen A n s p r u c h bestätigt, vgl. auch Präambel und

(Fn. 116) S. 4 5 f f .

A r t . 5 ( U N T S , Vol. 217, S. 299 =

119

BERBER

Völkerrecht, D o k u m e n t e n s a m m l u n g , II, 1967, S. 2227). B V e r f G E 36, 1, 16.

Bd.

48

1. Kapitel. Grundlagen

Die wichtigste Frage dürfte in diesem Zusammenhang die nach dem Verhältnis der Bundesrepublik zur D D R sein. Es könnte einmal angenommen werden, daß die D D R ein ebenfalls mit dem Deutschen Reich teilidentischer Staat auf deutschem Boden sei. Diese Vorstellung scheint der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde zu liegen 120 . Freilich liegt eine kaum überwindbare Schwierigkeit darin, daß hier eine Qualifizierung entgegen dem erklärten Selbstverständnis der D D R vorläge. Wenn ein Staat sich als sezedierender Neustaat versteht, so ist es nicht leicht, eine dem entgegengesetzte Auffassung völkerrechtlich ihm gewissermaßen überzustülpen. Möglich erscheint es dagegen, die Rechtslage Deutschlands als die einer rechtlich noch immer nicht endgültig abgeschlossenen Sezession zu qualifizieren, wie es vor allem R E S S getan hat 1 2 1 . Dabei würde auch die vollendete Sezession nichts an der Identität der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich ändern. Die Sezession der D D R kann aber so lange nicht völkerrechtlich als vollendet angesehen werden, wie die Vier Mächte nicht ihre gemeinsame Zustimmung zu der endgültigen Lösung der deutschen Frage in diesem Sinne gegeben haben. Damit würde dann auch die Vier-Mächte-Rechtsposition für Deutschland ihr Ende finden. Eine solche Zustimmung dürften die Drei Mächte gemäß ihren Verpflichtungen gegenüber der Bundesrepublik aus dem Deutschlandvertrag nur nach Konsultation mit der Bundesregierung und unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Wiedervereinigung erklären. Durch die Betonung des politischen Zieles der Wiedervereinigung bei Abschluß des Moskauer Vertrages und des Grundlagenvertrags ist von der Bundesrepublik klar gemacht worden, daß sie trotz „Anerkennung der Realität" diese auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes gegründete Forderung nicht aufgibt.

VI. Die deutsche Staatsangehörigkeit 1. Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland Gemäß Art. 116 G G knüpft das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland an das im Jahre 1949 geltende deutsche Staatsangehörigkeitsrecht an. Aufgrund der Identität zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Rechtssubjekt Deutsches Reich war es konsequent, daß alle deutschen Staatsangehörigen mit dem Entstehen der Bundesrepublik Deutschland ihre Staatsangehörigkeitsbeziehungen zu der Bundesrepublik als dem neuorganisierten deutschen Staatswesen fortsetzten. Ausnahmen galten allerdings für die früheren österreichischen Staatsangehörigen, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit mit dem Wiederentstehen der Republik Österreich jedenfalls grundsätzlich verloren 122 , sowie für einige Fälle als nichtig behandel-

120 121

aaO S. 16f. RESS Rechtslage Deutschlands (Fn. 35) S. 214f.

122

BVerfGE 4, 322, 327; vgl. ferner betr. C S S R : BVerfGE 1, 322, 328.

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWEIN)

49

ter Einbürgerungsmaßnahmen während des zweiten Weltkrieges 123 . Grundsätzlich ist die deutsche Staatsangehörigkeit, deren Erwerb und Verlust sich nach dem mehrfach geänderten Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 richtet, auch die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland 124 . Aus dieser Rechtslage folgt, daß diejenigen, die die Erwerbsgründe des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts erfüllen, auch dann nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland deutsche Staatsangehörige sind, wenn sie in Gebieten leben, die zum Deutschen Reich gehört haben, nicht aber zur Bundesrepublik gekommen sind. Das ist an sich nicht ungewöhnlich, da der Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Abstammung normalerweise von der Zugehörigkeit des Gebietes, in dem jemand geboren wird, unabhängig ist. Ungewöhnlich ist freilich, daß damit fast alle Bewohner der Deutschen Demokratischen Republik gleichzeitig deutsche Staatsangehörige im Sinne des Rechts der Bundesrepublik Deutschland und damit ihre Staatsangehörigen sind. Außerdem haben sie nach dem Recht der D D R auch deren Staatsbürgerschaft, wenn die Erwerbsvoraussetzungen insoweit vorliegen. Selbst eine Einbürgerung in der D D R nach dem Staatsbürgerschaftsgesetz wird in der Bundesrepublik Deutschland außer in Ausnahmefällen als Einbürgerung für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes anerkannt 125 . Allerdings bedeutet das nicht, daß Bewohner der Deutschen Demokratischen Republik im deutschen Recht automatisch mit staatsangehörigkeitsrechtlichen Rechten und Pflichten ausgestattet würden. Wehrpflicht, Wahlrecht und Steuerpflichten knüpfen durchweg an den Wohnsitz oder andere Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland an 1 2 6 . Das Bundesverfassungsgericht erkennt zutreffend an, daß es einen Unterschied zwischen dem „Bürger der Bundesrepublik Deutschland" und dem „deutschen Staatsangehörigen" geben kann 1 2 7 . Ein deutscher Staatsangehöriger, der bisher nicht Bürger der Bundesrepublik war, kann diese Eigenschaft freilich erwerben, indem er sich dem Schutz der Bundesrepublik unterstellt 128 . Auch wenn sonst ein deutscher Staatsangehöriger in den Schutzbereich der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Gesetze gelangt, so genießt er die vollen Garantien des Grundgesetzes und ihrer Rechtsordnung 129 . In der Praxis bedeutet das, daß Behörden der Bundesrepublik Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit auch dann zu berücksichtigen haben, wenn sich ein bisher in keiner Beziehung zur Bundesrepublik stehender Deutscher im Inland oder Ausland darauf beruft 1 3 0 . Dagegen folgt daraus nicht, daß 123 V g l . die Z u s a m m e n s t e l l u n g

bei G .

WOLF

Die Deutschen, Diss. jur. Mainz, 1978, S. 82 ff. 124

125 126

127

BVerfGE 36, l f , Leitsatz 8; vgl. jetzt auch

128

A.

Deut-

129

sches Staatsangehörigkeitsrecht, Kommentar, 3. Aufl., 1. Lfg. (Stand: Nov. 1981), Einleitung V, Rdn. 1 ff. Vgl. O V G Münster DVB1. 1979, 429, 430. Vgl. etwa § 12 I Nr. 2 BWahlG; § 1 I Nr. 1 WehrpflG; Darstellung der Einzelheiten bei G . ZIEGER Das Problem der deutschen

130

N.

MAKAROV/H.

v.

MANGOLDT

Staatsangehörigkeit, in: Fünf Jahre Grundvertragsurteil (Fn. 54) S. 189, 209. BVerfGE 36, 1, 30 f. aaO. aaO S. 31. Vgl. J .

A.

FROWEIN D a s I n d i v i d u u m

als

Rechtssubjekt im Konsularrecht. Zu den Konsularverträgen mit der D D R , in: Internationales Recht und Wirtschaftsordnung, Festschrift für F . A. Mann zum 70. Geburtstag, 1977, S. 367, 377.

50

1. Kapitel. Grundlagen

etwa die Normen des deutschen Strafrechts, soweit sie auf der Täter- oder Opferseite die deutsche Staatsangehörigkeit voraussetzen, auch dann anzuwenden wären, wenn die Tat keine Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland hat 131 . Hier sind vielmehr Einschränkungen unter Bezugnahme auf die Funktion des Strafrechts möglich und werden in der Rechtsprechung entwickelt 132 . Zweifelhaft erscheint es, ob Behörden der Bundesrepublik Deutschland nach deutschem Recht deutsche Staatsangehörige auch gegen ihren Willen als solche in Anspruch nehmen müssen, wenn diese Personen sich allein auf die Staatsbürgerschaft der DDR berufen wollen. Inwieweit das Bedenken aufgrund völkerrechtlicher Beschränkungen hervorrufen könnte, ist später zu untersuchen. Hier soll zunächst allein die deutsche Rechtslage geklärt werden. Normalerweise können sich Doppelstaater nach Völkerrecht und insoweit auch nach deutschem Recht nicht auf die andere Staatsangehörigkeit berufen, wenn sie deutsche Staatsangehörige sind 133 . Freilich könnte für DDR-Deutsche deswegen etwas anderes gelten, weil hier eine Inanspruchnahme der Personen als Deutsche auch gegen ihren Willen dazu führen könnte, daß der DDR grundsätzlich kein Staatsvolk zugeordnet würde. Daß die DDR ein Staat mit einem Staatsvolk ist, bestreitet die Bundesrepublik aber seit Abschluß des Grundlagenvertrages nicht mehr 134 . Anders als ins Ausland abgewanderte Staatsangehörige, die die Möglichkeit des freiwilligen Erwerbs einer fremden und damit des Verlustes der deutschen Staatsangehörigkeit nach § 25 RuStG oder der Entlassung nach §§ 18 ff RuStG hatten, konnten Bürger der DDR die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verlieren. Dem Sinne des Schutzes jedes einzelnen in seiner freien Willensentscheidung entspricht es nicht, Bürger der DDR gegen ihren Willen als deutsche Staatsangehörige in Anspruch zu nehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat denn auch ausdrücklich auf die Möglichkeit hingewiesen, daß ein Deutscher darauf verzichtet, in den vollen Schutz der deutschen Rechtsordnung zu gelangen 135 . Das muß dahin verstanden werden, daß nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland keinem Bürger der DDR die Rechte und Pflichten der deutschen Staatsangehörigkeit aufgedrängt werden. In der Praxis ist das auch nicht bekannt geworden, obwohl offenbar Journalisten der DDR in der Bundesrepublik zum Teil etwa Wahlbenachrichtigungen zugestellt werden 136 . Freilich bedeutet dies nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland nicht, daß die betreffende Person die deutsche Staatsangehörigkeit definitiv verliert. Wenn sie sich später gegenüber Staatsorganen der Bundesrepublik doch darauf beruft, so ist sie sofort als deutscher Staatsangehöriger zu behandeln 137 . Auch erwerben ihre Kinder ohne weiteres die deutsche Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes.

131

133

134

Dazu etwa O L G Düsseldorf N J W 1979, 59 und jüngst B G H S t . 30, 1, 3 ff. O L G Düsseldorf N J W 1979, 59, 62; B G H S t . 30, 1, 4. Vgl.

MAKAROV/ v.

MANGOLDT

Deutsches

Staatsangehörigkeitsrecht (Fn. 124) Einleitung II, Rdn. 4. So auch RESS Rechtslage Deutschlands (Fn.

35)

S.

127f;

vgl.

ferner

BERNHARDT,

in:

W D S t R L 38 (1979) S. 14. 1 3 5 B V e r f G E 36, 1, 30. 1 3 6 Laut Zeitungsberichten. 137 Vgl. etwa den Fall des Hausmeisters der Londoner DDR-Botschaft: Frankfurter A l l gemeine Zeitung, 4. 2. 1978, S. 4 ; Neue Zürcher Zeitung, 5./6. 2. 1978, S. 3.

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWEIN)

51

2. Die deutsche Staatsangehörigkeit im Verhältnis zur D D R Die dargestellte Rechtslage nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland könnte im Verhältnis zur D D R völkerrechtliche Probleme aufwerfen, wenn es an einem zulässigen Anknüpfungspunkt dafür fehlte, daß die Bundesrepublik auch nach Abschluß des Grundlagenvertrages daran festhält, daß Bürger der D D R gleichzeitig deutsche Staatsangehörige nach dem Grundgesetz sind. Es ist zwar unbedenklich, daß ein Staat Abkömmlinge seiner Staatsangehörigen, die immer im Ausland gelebt haben, weiter als seine Staatsangehörige ansieht, wenn sie die Staatsangehörigkeit mit der Geburt erworben haben. Das ist eine Folge des völkerrechtlich zulässigen Grundprinzips, wonach die Staatsangehörigkeit durch Abstammung erworben werden kann (jus sanguinis). Aber das könnte dann nicht mehr gelten, wenn ein Staat sich neu gebildet hat und sein Staatsvolk nun weiter von dem früheren Gesamtstaat oder dessen staatlicher Neuorganisation in Anspruch genommen wird. Um alle Mißverständnisse auszuschließen, hat die Bundesrepublik bei Abschluß des Grundlagenvertrages der D D R ausdrücklich erklärt, daß Staatsangehörigkeitsfragen durch den Vertrag nicht geregelt worden sind 138 . Das ist von der D D R hingenommen worden. Insofern ist eindeutig, daß sich aus dem Grundlagenvertrag kein Anspruch der D D R auf Änderung des Rechts der Bundesrepublik Deutschland ergeben kann. Das erübrigt aber nicht die Frage, ob die Rechtsordnung der Bundesrepublik in dieser Hinsicht mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts in bezug auf die Staatsangehörigkeit vereinbar ist. Weithin findet sich die Meinung, daß das Fortbestehen des Deutschen Reichs auch die Fortführung der deutschen Staatsangehörigkeit durch die Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen könne 139 . Teilt man nicht die oben als problematisch bezeichnete Ansicht, wonach die Bundesrepublik das Deutsche Reich auch außerhalb ihrer Grenzen fortsetzt, so läßt sich hieraus gerade kein Argument herleiten 140 . Der D D R gegenüber kann das Fortbestehen des Deutschen Reiches außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik nicht entgegengehalten werden. Andererseits heißt das nicht, daß die besondere Rechtslage Deutschlands bei dieser Frage unberücksichtigt bleiben könnte. Daß die Rechte der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes fortbestehen, bedeutet, wie gezeigt wurde, daß die deutsche Frage nicht gelöst ist 1 4 1 . Hierin liegt aber eine Rechtfertigung dafür, jedem, der bei einer Wiedervereinigung Deutschlands dessen Bürger wäre, bis zur Lösung dieser Frage die Wahl zwischen den deutschen Staatsangehörigkeiten offenzuhalten. Nichts anderes bedeutet die Rechtslage nach dem Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland 142 . Das findet eine zusätzliche Rechtfertigung im Selbstbestimmungsrecht, einem im heutigen Völkerrecht anerkannten Grundprinzip 143 . Solange eine Selbstbestimmungsentscheidung des deutschen Volkes insgesamt nicht möglich

138 139

140

Vgl. oben S. 39. Nachweise bei G . ZIEGER Die Staatsangehörigkeit im geteilten Deutschland, 1971, S. 34 ff. S o auch ZIEGER a a O .

141 142 143

Vgl. oben S. 44. Vgl. oben S. 48. D a z u statt aller VERDROSS/SIMMA Universelles Völkerrecht, 1976, S. 253ff m . N . in Fn. 12.

52

1. Kapitel. Grundlagen

war, ist es völkerrechtlich kein Mißbrauch, wenn die individuelle Selbstbestimmungsentscheidung zwischen den beiden deutschen Staaten durch das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland geschützt wird. Das wird, wie die sogleich zu würdigende Praxis von Drittstaaten zeigt, auch in der Völkerrechtsordnung anerkannt. 3. Die deutsche Staatsangehörigkeit im Verhältnis zu Drittstaaten Unproblematisch ist die Situation im Verhältnis zu Drittstaaten da, wo die Bundesrepublik Deutschland für deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Bundesrepublik völkerrechtliche Rechte wahrnimmt. Hier ist die deutsche Staatsangehörigkeit die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik, die von jedem Staat anerkannt werden muß und auch anerkannt wird. Dasselbe gilt, wo sich ein im Ausland lebender Deutscher dem Schutz der Bundesrepublik unterstellt hat, indem er etwa bei deutschen Auslandsvertretungen einen Paß beantragt oder sonst erklärt hat, daß er auch Bürger der Bundesrepublik Deutschland sein will. Wo dagegen ein deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Grundgesetzes als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik auf deren Territorium lebt, kann die Bundesrepublik Deutschland nicht alle Rechte geltend machen, die ein Staat hinsichtlich seiner Staatsangehörigen hat. Grundsätzlich versuchen das die Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland auch nicht. Die amerikanische Regierung hat bereits 1962 festgestellt, daß Konsuln der Bundesrepublik Deutschland für Deutsche in der D D R nicht ohne weiteres tätig werden können 144 . Staaten können sich hierfür jedenfalls auch auf die anerkannte Praxis berufen, wonach bei Doppelstaatern nur die sogenannte effektive Staatsangehörigkeit berücksichtigt zu werden braucht 145 . Es wäre aber auch völkerrechtlich unzulässig, wenn die Bundesrepublik etwa Rechte für den Schutz von DDR-Bürgern im Ausland gegen deren Willen in Anspruch nehmen würde, weil insofern ohne individuelle Anknüpfung in die Personalhoheit der D D R eingegriffen würde. Das folgt wieder daraus, daß im Gegensatz zur sonstigen Lage bei Doppelstaatern alle Bürger der D D R auch deutsche Staatsangehörige im Sinne des Grundgesetzes sind 146 . Anders ist die Rechtslage, sobald ein DDR-Bürger sich in einem Drittstaat auf seine deutsche Staatsangehörigkeit beruft und dem Schutz der Organe der Bundesrepublik Deutschland unterstellt werden will. Hier ist durch diese Entscheidung die individuelle Anknüpfung zur Bundesrepublik Deutschland vorhanden, die ein Drittstaat berücksichtigen darf. Das haben verschiedene Staaten bei Abschluß von Konsularabkommen mit der DDR deutlich gemacht, indem sie darauf hingewiesen haben, daß auf ihrem Territorium jeder deutsche Staatsangehörige im Sinne des Grundgesetzes sich auf diese Staatsangehörigkeit berufen könne 147 . Hierin liegt keine Völker-

144

AJIL 57 (1963) S. 410.

145

Vgl.

A.

N.

MAKAROV

146

„Staatsangehörig-

keit", in: STRUPP/SCHLOCHAUER Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Aufl., 3. Bd., 1962, S. 323, 327.

147

S. oben S. 50, und BERNHARDT, in: W D S t R L 38 (1979) S. 31. Dazu FROWEIN in: Festschrift für F. A. Mann (Fn. 130) S. 367, 377f; G . ZIEGER Das Problem der deutschen Staatsangehörigkeit

53

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWEIN)

rechtsverletzung gegenüber der D D R . Einmal dürfte die Regel der effektiven Staatsangehörigkeit für den Drittstaat ohnehin nicht zwingend sein 148 . Vor allem ist das Prinzip der effektiven Staatsangehörigkeit aber entwickelt worden, weil so der Entscheidung des einzelnen über seinen Lebensmittelpunkt Rechnung getragen werden konnte. War diese Entscheidung bisher faktisch nicht möglich, so ist ein Drittstaat berechtigt, sie nunmehr zu berücksichtigen, wenn sie auf seinem Territorium erkennbar getroffen wurde 1 4 9 . Fraglich kann sein, ob Bürger der D D R sich auf Verträge berufen können, die Deutschen Rechte gewähren. Die Bundesrepublik Deutschland hat in einer Vielzahl von Verträgen als ihre Staatsangehörigen die Personen bezeichnet, die Deutsche im Sinne von Art. 116 G G sind 1 5 0 . Freilich wird zum Teil hinzugefügt, daß der Nachweis durch Papiere der Bundesrepublik erfolgen muß 1 5 1 . Dann ist klar, daß es sich um Personen handelt, die sich mindestens zeitweise dem Schutz der Bundesrepublik Deutschland unterstellt haben 152 . Hier bestehen keine Bedenken dagegen, daß Drittstaaten sie entsprechend behandeln und dazu auch verpflichtet sind. Dagegen kann nicht angenommen werden, daß Drittstaaten verpflichtet wären, einem mit dem Paß der D D R eingereisten Deutschen, der sich nur auf seine Eigenschaft als Deutscher beruft, ohne eine Beziehung zur Bundesrepublik zu haben oder jetzt herstellen zu wollen, Rechte aus einem Vertrag mit der Bundesrepublik zu gewähren. Vor allem wäre es aber völkerrechtlich bedenklich, wenn die Bundesrepublik derartige Rechte geltend machen würde. Damit würde sie sich eine generelle Kompetenz anmaßen, für Deutsche aus der D D R völkerrechtlich vertretungsbefugt zu sein. Ohne daß eine Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland hergestellt worden ist, besteht ein derartiges Vertretungsrecht nicht. Das folgt daraus, daß die Bundesrepublik Deutschland in Art. 4 des Grundlagenvertrages das Recht der Vertretung für die D D R aufgegeben hat. Damit kann sie auch eine generelle Vertretung für die DDR-Bevölkerung nicht in Anspruch nehmen 153 . In dem Augenblick, in dem der Bürger der D D R sich gegenüber einer Auslandsvertretung der Bundesrepublik Deutschland auf seinen Status beruft und damit eine Anknüpfung für die Zuständigkeit der Organe der Bundesrepublik Deutschland herstellt, bestehen dagegen keine Bedenken gegen ein Tätigwerden dieser Organe 1 5 4 .

im Verhältnis zu Drittstaaten, ebenda, S. 505, 529f. 148

Dazu

FROWEIN a a O

S . 3 7 6 ; I.

152

Pässe der Bundesrepublik Deutschland werden auch zeitweise im Bundesgebiet befindlichen DDR-Bürgern für Reisen in das westliche Ausland ausgestellt.

153

ZÜNDORF O s t v e r t r ä g e ( F n . 53) S. 2 3 7 mit

SEIDL-HO-

HENVELDERN Völkerrecht, 4. Aufl., 1980, Rdn. 149

150

997;

MAKAROV,

in:

STRUPP/SCHLO-

CHAUER W ö r t e r b u c h ( F n . 145) a a O .

Anm.

FROWEIN a a O S. 3 7 6 .

W D S t R L 38 (1979) S. 32. - Vgl. auch die Erklärung von Bundeskanzler Schmidt, Deutscher Bundestag, Stenograph. Berichte, 146. Sitzung v. 30. Jan. 1975, S. 10034. So auch ZIEGER, in: Festschrift für F. A. Mann (Fn. 130) S. 505, 534ff, 540f; vgl.

FROWEIN D e f a c t o - R e g i m e ( F n . 37) S . 165

mit Anm. 310f; neuere Zusammenstellung bei D . BLUMENWITZ Die deutsche Staatsangehörigkeit und die Konsularverträge der D D R mit dritten Staaten, in: Politische Studien, 1975, S. 283 mit Anm. 3 und 4. 151

FROWEIN a a O S. 165, A n m .

312.

154

749

(S.

361);

BERNHARDT,

auch ZÜNDORF a a O , S . 2 8 4 .

in:

1. Kapitel. Grundlagen

54

4. W ü r d i g u n g Die Probleme im Zusammenhang mit der deutschen Staatsangehörigkeit gehören zu den schwierigsten Auswirkungen der noch nicht endgültig geklärten Rechtslage Deutschlands. Soweit es vorhersehbar ist, wird diese Problematik weiter bestehen. Daß die Bundesrepublik Deutschland bei der Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Rechtslage in keiner Weise die Absicht verfolgt, in den Rechtskreis der D D R einzudringen, dürfte sich bereits gezeigt haben. Es geht vielmehr allein darum, die Verantwortung für jeden Deutschen, die das Grundgesetz den Organen der Bundesrepublik auferlegt, wahrzunehmen, wenn dieser aus freien Stücken den Wunsch dazu äußert. Hiergegen bestehen keine völkerrechtlichen Bedenken. Art. 15 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen anerkennt das Recht auf Wechsel der Staatsangehörigkeit, und Art. 12 Abs. 2 des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der von der D D R ratifiziert worden ist, gewährleistet die Freiheit der Ausreise auch aus dem eigenen Land. Auch diese dem Willen des Individuums Rechnung tragenden Normen rechtfertigen die Haltung der Bundesrepublik Deutschland, jedem Deutschen die Option für die Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen. Eine derartige Handhabung, die die Staatsbürgerschaft der D D R keineswegs bestreitet, sie auch in den Rechtsbeziehungen des Kollisionsrechtes durchaus beachtet, andererseits aber die „offene T ü r " der deutschen Staatsangehörigkeit sichert, ist völkerrechtlich unproblematisch und wird, wie gezeigt wurde, von vielen Drittstaaten gebilligt und unterstützt 1 5 5 .

VII. Der Status Berlins 1. Der völkerrechtliche Status Wie in einem Brennpunkt sammeln sich in Berlin die Probleme der Rechtslage Deutschlands. Die völkerrechtliche Entwicklung, deren zum Teil unterschiedliche Beurteilung durch die Beteiligten, aber auch die Einwirkung des Rechts der beiden deutschen Staaten bedürfen der Berücksichtigung. Gemäß Art. 7 des Abkommens über die Kontrolleinrichtungen in Deutschland vom 14. 11. 1944 sollte das Gebiet von Berlin, das zu keiner Besatzungszone gehörte 1 5 6 , von einer Kommandantur bestehend aus drei Stadtkommandanten verwaltet werden 1 5 7 . Zur Einbeziehung Frankreichs wurde die Zahl später auf vier erhöht 1 5 8 . Für die gemeinsame Besetzung wurden in Berlin gemäß dem Londoner

lss

Vgl. U . SCHEUNER Die deutsche einheitliche Staatsangehörigkeit: ein fortdauerndes Problem der deutschen Teilung, in: Europa-Archiv 1979, 345, 351 ff; für das Kollisionsrecht A . HELDRICH Innerdeutsches Kollisionsrecht und Staatsangehörigkeitsfrage, in: N J W 1978, S. 2 1 6 9 f f ; vgl. auch die Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt

156 157 158

vor dem Bundestag vom 18. 12. 1981, Bulletin der Bundesregierung vom 21. 12. 1981, S . 1053, 1055. Vgl. oben S. 30. v. MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 31. Ergänzungsabkommen v. 1. 5. 1945, N r . X und X I , Documents on Germany (Fn. 16) S.

11.

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWEIN)

55

Protokoll vom 12. 9. 1944 mit Änderungen vom 26. 7. 1945 Sektoren festgelegt 159 . Die gemeinsame Verwaltung existierte bis zum 1.7. 1948, als die sowjetischen Vertreter sich aus der Kommandantur zurückzogen 160 . Seitdem setzen die Stadtkommandanten der drei Westmächte deren Arbeit fort 161 . Allerdings stellten sie bereits in ihrer Erklärung vom 21. 12. 1948 über die Fortführung der Tätigkeit der Kommandantur fest, daß es ihnen aufgrund der sowjetischen Obstruktion zur Zeit nur möglich sein werde, ihre Entscheidungen in den westlichen Sektoren durchzuführen. Diese Lage besteht seit 1948. Von allen vier Mächten wird dagegen noch die Luftsicherheitszentrale Berlin betrieben, die für den Luftraum von Berlin mit dem Radius von 20 Meilen um das Kontrollratsgebäude und das Regime in den Luftkorridoren zuständig ist 162 . Die Sowjetunion hat mit Noten in den Jahren 1958 und 1959 die Auffassung vertreten, daß die Abkommen über die gemeinsame Besetzung Berlins nicht mehr in Kraft seien 163 . Dies wurde von den Westmächten zurückgewiesen und hat in der Praxis, insbesondere hinsichtlich des Zugangs und der Kontrolle von Militär, zu keiner Änderung geführt 164 . Durch das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin von 1971 ist der status quo bestätigt worden. Die Präambel verweist ausdrücklich auf die Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten und die Vereinbarungen und Beschlüsse der Vier Mächte aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, die nicht berührt werden sollen. Freilich wird nirgendwo auf Groß-Berlin oder den Ostteil der Stadt ausdrücklich Bezug genommen, und es ist bekannt, daß sich das Abkommen nach Auffassung der Sowjetunion und der DDR nur auf West-Berlin bezieht 165 . Aber die bestätigten Vereinbarungen und die Systematik des Abkommens, das in Teil I „Allgemeine Bestimmungen" und in Teil II „Bestimmungen, die die Westsektoren Berlins betreffen" enthält, zeigt eindeutig, daß mit ihm der Vier-Mächte-Status von ganz Berlin bestätigt worden ist 166 . Ein anderes Ergebnis kann vor allem mit der Entstehungsgeschichte und der Formulierung „unbeschadet ihrer Rechtspositionen" in der

Protokoll v. 12. 9. 1944, in: v. MÜNCH D o kumente (Fn. 8) Bd. I, S. 2 5 ; Änderungsabkommen, Documents on Germany (Fn. 16) S. 20 f f , wobei der französische Sektor allerdings nicht klar abgegrenzt wurde. 1 6 0 Sowjetische Verlautbarung v. 1. Juli 1948, in: F. MATTHEY (Hrsg.) Entwicklung der Berlin-Frage (1944-1971), 1972, S. 3 9 f ; D. MAHNCKE Berlin im geteilten Deutschland, 1973, S. 43. 1 6 1 Dokumente zur Berlin-Frage (Fn. 12) Nr. 78, S. 105; ZIVIER Rechtsstatus Berlins (Fn. 106) S. 19, 7 0 f f . 1 6 2 Die Vorschriften über Gründung und A u f gaben in: Dokumente zur Berlin-Frage (Fn. 12) N r . 3 7 f f , S. 4 8 f f . 163 Vgl, Noten der Sowjetunion v. 27. N o v . 1958 an die Westmächte, an die Bundesrepublik und an die D D R : Dokumente zur 159

164

165

166

Berlin-Frage (Fn. 12) N r . 2 4 1 - 2 4 3 , S. 3 0 1 - 3 3 5 , sowie die Noten v. 10. Jan. 1959 an die U S A , aaO, Nr. 255, S. 373; vgl. ferner ZIVIER Rechtsstatus Berlins (Fn. 106) S. 34. Note der U S A v. 31. Dez. 1958, in: v. MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 377, sowie in: Dokumente zur Berlin-Frage (Fn. 12) S. 3 3 9 f f ; vgl. auch ZIVIER Rechtsstatus Berlins (Fn. 106) S. 3 4 f . ZÜNDORF Ostverträge (Fn. 53) S. 129; H. SCHIEDERMAIR Der völkerrechtliche Status Berlins nach dem Viermächte-Abkommen v. 3. Sept. 1971, 1975, S. 16; ZIVIER aaO S. 1 9 8 f ; TOMUSCHAT, in: Fünf Jahre Grundvertragsurteil (Fn. 54) S. 77. ZIVIER a a O S . 1 9 9 ; FROWEIN A Ö R 1 9 7 6 , S .

639.

56

1. Kapitel. Grundlagen

Präambel begründet werden 167 . Gegenüber Wortlaut und Systematik des Abkommens erscheint das aber juristisch unzutreffend 168 . Insofern ist festzustellen, daß neben der Vier-Mächte-Rechtsposition für Deutschland als Ganzes auch weiterhin ein besonderer Vier-Mächte-Rechtsstatus für ganz Berlin besteht. Sein Inhalt ist trotz der seit 1948 nicht mehr funktionierenden gemeinsamen Verwaltung rechtlich bedeutsam 169 . Aus ihm folgt das freie Bewegungsrecht von Militärpersonal der Vier Mächte in allen vier Sektoren Berlins, das regelmäßig in Anspruch genommen wird 1 7 0 . Die Luftsicherheitszentrale ist Ausdruck der gemeinsamen Zuständigkeit aller Vier Mächte für die Ausübung von Hoheitsrechten über den Luftraum von Berlin. Auch die Sonderregelungen für die Kontrollen von Militärtransporten nach Berlin knüpfen an den gemeinsamen Besatzungsstatus von Berlin an. Die Vier-Mächte-Verwaltung des Spandauer Gefängnisses ist mit dem Status von Berlin nicht unmittelbar verbunden, sondern als Ausdruck der Rechtsposition der Vier Mächte in Bezug auf Deutschland zu verstehen 171 . Die drei Westsektoren von Berlin befinden sich völkerrechtlich insofern in einer besonderen Lage, als im Vier-Mächte-Abkommen von 1971 detaillierte Bestimmungen über ihre Bindungen zur Bundesrepublik Deutschland, ihre Außenvertretung sowie den Zugang zu ihnen getroffen worden sind 172 . Das bedeutet nicht, daß sie aus dem Vier-Mächte-Status ausgeschieden wären, wohl aber, daß für sie Völkerrechtsnormen gelten, die nicht für die ganze Stadt anwendbar sind. Vergleichbar detaillierte Regelungen über Ostberlin bestehen nicht. Die Sowjetunion und die DDR betrachten Ostberlin als Bestandteil der DDR 1 7 3 . Auch die Westmächte und die Bundesrepublik anerkennen, daß Ostberlin Sitz der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik ist. Sie verweisen jedoch darauf, daß der Vier-Mächte-Status von Groß-Berlin damit nicht berührt worden ist. Die Westmächte haben immer wieder hervorgehoben, daß Ostberlin kein „integrierter Bestandteil der DDR" sei 174 . Die Botschaften der Drei Mächte und die Ständige Vertretung der Bundesrepublik sind „bei der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik" errichtet worden 175 .

167

168

Vgl. MAHNCKE Berlin (Fn. 160) S. 89 sowie SCHIEDERMAIR Völkerrechtlicher Status Berlins (Fn. 165) S. 15 ff. ZIVIER Rechtsstatus Berlins (Fn. 106) S.

bestehen aber Sonderregelungen (vgl. dazu MAHNCKE Berlin (Fn. 1 6 0 ) S. 5 3 f ) , die je-

1 9 8 f f ; FROWEIN A Ö R 1 9 7 6 , S . 6 3 9 . 169

ZIVIER a a O S . 5 9 f f .

170

O . HENNIG Die Bundespräsenz in WestBerlin, 1976, S. 1 5 2 f ; ferner MAHNCKE Berlin (Fn. 160) S . 53 mit Anm. 91. Ebenso ZIVIER Rechtsstatus Berlins (Fn. 106) S. 70. Für die Einzelheiten SCHIEDERMAIR Völkerrechtlicher Status Berlins (Fn. 165) S. 7 2 f f , 8 9 f f , 1 3 0 f ; sowie ZIVIER aaO S. 211 ff, 224ff und 23 8 ff. ZIVIER aaO S. 7 8 f f , 8 6 f f ; vgl. auch die Note der Sowjetunion v. 12. Mai 1975, in: Archiv der Gegenwart, S. 19440 (Jahrgang 1975). Es

171

172

173

174

175

doch in letzter Zeit mehr und mehr abgebaut werden: Juni 1974: Aufhebung des Genehmigungsverfahrens für Aufenthalt und Zuzug nach Ostberlin (Archiv der Gegenwart S. 2 0 7 0 0 (Jahrgang 1977)); 1. Jan. 1977: Einführung der Visapflicht für Ausländer in Ostberlin und Aufhebung der D D R - K o n trollstellen an der Stadtgrenze (Archiv der Gegenwart aaO); 1. Aug. 1979: Einführung der Direktwahl der Ostberliner Abgeordneten der Volkskammer, GBl. D D R 1979 I, Nr. 17 v. 2. Juli 1979. BK/O (76) 2 v. 28. Jan. 1975, GVB1. Berlin 1975, S. 708. ZIVIER Rechtsstatus Berlins (Fn. 106) S. 89.

57

2. Abschnitt. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (FROWEIN)

Völkerrechtlich besteht ein Status der Besetzung durch die Vier Mäche für Groß-Berlin fort. Auch sind die von den Vier Mächten vereinbarten und von allen deutschen Behörden zu beachtenden Sonderregelungen für die Westsektoren der Stadt von erheblicher Bedeutung 176 . 2. Die Rechtslage nach deutschem Recht Nach dem Wortlaut von Art. 23 G G gilt das Grundgesetz auch in „Groß-Berlin" und nach dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 der Berliner Verfassung ist Berlin ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Beide Verfassungsnormen werden aber nicht voll wirksam. Art. 87 der Berliner Verfassung legt fest, daß Art. 1 Abs. 2 in Kraft tritt, sobald die Anwendung des Grundgesetzes in Berlin keinen Beschränkungen mehr unterliegt. Zu Art. 23 G G haben die Militärgouverneure den berühmten Vorbehalt gemacht, wonach Berlin nicht vom Bund regiert werden wird 177 . Art. 144 Abs. 2 G G nahm diese Beschränkung bereits vorweg und legte fest, daß Länder Vertreter in Bundestag und Bundesrat entsenden können, auch wenn die Anwendung des Grundgesetzes Beschränkungen unterliegt. Von Anfang an war klar, daß die von den Alliierten angeordneten Beschränkungen auch in der deutschen Rechtsordnung zu beachten sind 178 . Das Bundesverfassungsgericht hat hieraus abgeleitet, daß Berlin nach deutschem Recht ein Land der Bundesrepublik Deutschland ist, dessen Status lediglich durch den Vorbehalt der Besatzungsmächte gemindert und belastet ist 179 . Zwar ist völkerrechtlich eindeutig, daß Berlin nach dem Vier-Mächte-Abkommen kein „constituent part" der Bundesrepublik ist, aber durch den in demselben Satz enthaltenen Verweis auf die bisherige Praxis ist gleichzeitig die Behandlung Berlins als deutsches Land in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland als nicht im Widerspruch hierzu stehend anerkannt worden 180 . Im übrigen haben die Drei Mächte die fast vollständige Einbeziehung Berlins in das Rechts-, Wirtschafts- und Finanzsystem der Bundesrepublik Deutschland zugelassen 181 . Bundesgesetze werden in einem besonderen Verfahren durch das Berliner Abgeordnetenhaus nach Berlin übernommen, völkerrechtliche Verträge der Bundesrepublik Deutschland auf Berlin ausgedehnt 182 . Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist allerdings eingeschränkt. Es kann Berliner Staatsakte nicht überprüfen 183 . Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland gilt auch für deutsche Bewohner des Landes Berlin. Die Sowjetunion hat im Vier-Mächte-Abkommen anerkannt, daß Bundespässe für Berliner ausgestellt werden 176

177

178

V g l . d a z u ZIVIER a a O S . 2 1 1 f f ; SCHIEDER-

MAIR Völkerrechtlicher Status Berlins (Fn. 1 6 5 ) S . 6 3 ff. Nr. 4 des Genehmigungsschreibens zum Grundgesetz v. 12. 5. 1949 (Fn. 32). Nachweise in BVerfGE 7, 1, 7 ff. BVerfGE 7, 1, 7ff; 19, 377, 388; 20, 257, 266; 36, 1, 17.

180

ZIVIER Rechtsstatus Berlins (Fn. 106) S. 216;

181

Dazu ZIVIER aaO S. 216ff.

182

Vgl.

FROWEIN A Ö R 1 9 7 6 , 6 4 3 . G.

PFENNIG/M. J .

NEUMANN

Verfas-

sung von Berlin, 1978, Art. 1, Rdn. 3 8 - 5 4 und 98. Vgl. BVerfGE 7, 1; 19, 377.

58

1. Kapitel. Grundlagen

und die Bundesrepublik Deutschland für Bewohner Berlins konsularischen Schutz ausüben kann 1 8 4 .

VIII. Schluß Die Rechtslage Deutschlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts knüpft, wie ULRICH SCHEUNER betont hat, an frühere Phasen an, als eine Einordnung Deutschlands in die europäische Gesamtordnung dadurch gesichert wurde, daß seine Verfassungsordnung durch die Verträge von 1648 völkerrechtlich gewährleistet war 1 8 5 . Diese Einbindung bringt besondere Probleme in einer Zeit, in der sich politische Ordnungsvorstellungen und gesellschaftliche Ideologien antagonistisch gegenüberstehen und die beiden deutschen Staaten wie die beiden Teile der alten Hauptstadt Berlin jeweils zu einem der Lager gehören. Es ist natürlich, daß sich Spannungen und Veränderungen des Gesamtklimas hier besonders bemerkbar machen. Die die Blockgrenzen überschreitende rechtliche Gesamtordnung Deutschlands und Berlins kann Ansatzpunkt für weitere Entwicklungen, aber auch immer wieder Gefahrenherd für Zusammenstöße sein. Nach dem österreichischen Staatsvertrag von 1955 war das Berlin-Abkommen von 1971 das nächste große Beispiel einer freilich nur begrenzten Regelung von Verhältnissen, die durch das Ende des Zweiten Weltkrieges offen geblieben waren, unter Beteiligung der drei Westmächte und der Sowjetunion. Es erscheint wohl möglich, daß das deutsche Volke das Opfer der Teilung als Preis für eine beispiellose und die Welt in eine Katastrophe stürzende Politik der nationalsozialistischen deutschen Reichsregierung noch lange wird tragen müssen. Viel wäre bereits gewonnen, wenn eine geregelte Nachbarschaft der beiden deutschen Staaten im Rahmen einer gesicherten Friedensordnung in Europa und der Welt den Deutschen individuell in West und Ost ein Maximum an Freiheit gewährleisten könnte. Auch das wird freilich immer nur dann möglich sein, wenn auf beiden Seiten elementare Sicherheitsinteressen nicht gefährdet werden. Die Bundesrepublik Deutschland bleibt verfassungsrechtlich verpflichtet und nach ihrem Selbstverständnis aufgefordert, Verantwortung für Deutschland und die Deutschen zu tragen und die Möglichkeit für die Wiedererlangung der Einheit in freier Selbstbestimmung zum Maßstab ihrer Politik zu machen.

184

185

SCHIEDERMAIR Völkerrechtlicher Status Berlins (Fn. 165) S. 138ff. U . SCHEUNER Der Gedanke der nationalen Einheit im Verhältnis der beiden deutschen

Staaten, in: Politik und Kultur, 1980, H e f t 1, S. 3, 6.

3. Abschnitt

Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration W E R N E R VON S I M S O N

I. Form und Umfang außerstaatlicher Hoheitsgewalt 1. Gemeinsame Ausübung staatlicher Hoheitsrechte Seit dem letzten Kriege sind bedeutungsvolle Schritte getan worden in Richtung auf eine Integration der zentraleuropäischen Staaten. Die angestrebte Form dieser Integration bleibt immer noch im Unklaren. Die einen denken an eine bundesstaatliche Union, auf die man sich hinbewegen müsse, die anderen an ein Europa der Vaterländer, welche, jedes für sich, weiterhin die hauptsächlichen staatlichen Verantwortlichkeiten auf sich nehmen müßten. Die bisher zustande gekommenen rechtlichen Gebilde belassen es einstweilen bei dem letzteren Konzept. Dennoch greifen diese Vertragswerke deutlich ein in die Selbstgenügsamkeit der verfassungsmäßigen Ordnung der beteiligten Staaten. Denn diese haben bestimmte Bezirke ihres politischen Handelns zu gemeinsamem, einheitlich programmiertem Handeln, und bestimmte Bezirke ihrer verfassungsmäßigen Selbstbeschränkung zu gemeinsamer Beschränkung zusammengefügt. Es zeigt sich dabei, daß die Verfassungszustände des einzelnen Staates nicht nur dessen eigene Wertbegriffe widerspiegeln, sondern zugleich ein europäisches gemeinsames Selbstverständnis. Dessen Bewahrung wird, in Form verschiedenartiger Verträge, zum gegenseitigen Anspruch. Der Staat, der an dieser Gemeinsamkeit teilnimmt, gewinnt neue, ihm bisher nicht zustehende Rechte. Auch der einzelne Bürger ist daran beteiligt. Zugleich unterwirft sich der Staat neuen, mit diesen Rechten unlösbar verbundenen Pflichten. Der Erwerb dieser Rechte und die Bindung an diese Pflichten beruht auf völkerrechtlichen Verträgen, sowie aus daraus hervorgegangenen Eigengesetzlichkeiten des werdenden Geschehens, auf das diese Verträge angelegt sind. 2. Konfliktmöglichkeiten mit verbliebener staatlicher Hoheitsmacht Auf diese Weise sind in der Bundesrepublik Entscheidungsbefugnisse außerdeutscher Stellen wirksam geworden, deren einige dem nationalen Gesetz, und, sollte ein Widerspruch entstehen, auch der Verfassung vorgehen. Umfang und Grenzen dieser europäischen Hoheitsgewalt lassen sich wie folgt umreißen.

60

1. Kapitel. Grundlagen

Als Schritte zur europäischen Integration gehören in diesen Zusammenhang: Die Europäische Menschenrechtskonvention (I), die Europäische Sozialcharta (II) sowie die Europäischen Gemeinschaftsverträge (III).

II. Europäische Menschenrechts-Konvention Die Konvention des Europarats zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten1 umfaßt heute alle „westlichen" Staaten Europas einschließlich der Türkei, aber mit Ausnahme Finnlands. Durch diese Konvention wurden, wie die Präambel sagt, „die ersten Schritte auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie gewisser in der Universellen Erklärung2 verkündeter Rechte" unternommen. 1. Deren rechtliche Wirkung Die rechtliche Wirkung der Konvention und der ihr folgenden Zusatzprotokolle, die sämtlich von der Bundesrepublik angenommen und ratifiziert worden sind3, ist nur die, daß eine Verletzung der in ihr garantierten, im wesentlichen dem Grundgesetz entsprechenden Rechte durch die Bundesrepublik den Bruch einer völkerrechtlichen Verpflichtung darstellt. Beteiligte Vertragsstaaten sowie die in der Konvention errichtete „Europäische Kommission für Menschenrechte" (Art. 19 MRK) können den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Art. 38 MRK) anrufen (Art. 48 MRK). Natürliche Personen oder nichtstaatliche Organisationen oder Personenvereinigungen können die Kommission angehen, wenn sie sich nach Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittelverfahren durch eine Verletzung der in der Konvention anerkannten Rechte beschwert fühlen (Art. 25, 26 MRK). Die Kommission soll sich zunächst um eine gütliche Regelung der Angelegenheit bemühen. Kommt diese nicht zustande, so kann sie die Beschwerde an den Ministerausschuß oder an den Gerichtshof des Europarats bringen. Dies geschieht allerdings in der Praxis nur in einer minimalen Anzahl der Fälle. Und all dies führt, selbst wenn es Erfolg hat, nur dazu, daß ein Verstoß gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung festgestellt wird. Eine direkte innerstaatliche Wirkung zugunsten des Verletzten tritt nicht ein, wenn auch die Erfahrung zeigt, daß die Staaten regelmäßig den vertragsgemäßen Zustand herstellen. Jedenfalls ist es nicht ohne Bedeutung, daß eine innerstaatliche verfassungsrechtliche Bindung durch ihre Aufnahme in die Konvention in gemeinsame völkerrechtliche Verantwortung genommen wird. Einmal entsteht das Recht der Bundesrepublik, sich um die Einhaltung derselben Bindung durch die anderen Vertragsstaaten zu kümmern, und insbesondere

1

Konventionen vom 4. November 1950, in der BRD vekündet „mit Gesetzeskraft" am 7. August 1952 BGBl. II 685, 953, in Kraft getreten am 3. September 1953 BGBl. II 14. Im folgenden: MRK.

2

3

Die Universelle Erklärung der Menschenrechte, die von der Allgemeinen Versammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündet wurde. Vgl. Beck-Texte im DTV 5531, Stand vom 1. September 1979.

3. Abschnitt. Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration (VON SIMSON)

61

eine öffentliche Untersuchung und Erörterung herbeizuführen. Der Einwand der Einmischung in fremde Angelegenheiten entfällt, eben weil diese Bezirke jetzt nicht mehr fremde Bezirke sind. Auch der Einzelne kann, wenn er die schwierigen, aber unentbehrlichen Verfahrenshindernisse überwindet, mit seiner Beschwer an die Öffentlichkeit gelangen. Das bietet einen zusätzlichen, in der Praxis nicht unbedeutsamen Schutz, über das hinaus, was das Grundgesetz gewährleistet. Der Staat kann, im Namen wer weiß welcher öffentlicher Interessen, den Einzelnen nicht mehr verletzen, ohne zugleich, und vor aller Augen, seine völkerrechtlichen Verpflichtungen zu brechen. Ferner erfahren wichtige Menschenrechte und Grundfreiheiten eine sachliche Erweiterung, indem sie dem Einzelnen nicht nur in seinem Land, sondern in allen Vertragsstaaten zustehen4. Schließlich ist zu erwähnen, daß durch die gemeinsame Gewährung dieser Rechte der Verzicht, den der Staat dabei auf sich nimmt, im Verhältnis zu den anderen Vertragsstaaten „wettbewerbsneutral" gemacht wird. Davon wird bei der Betrachtung der Europäischen Sozialcharta noch die Rede sein, da dieser Gesichtspunkt dort eine besondere Bedeutung hat. Auch vor den nationalen Gerichten kommt die MRK zur Anwendung. Zwar hat sie in der Bundesrepublik nicht, wie z.B. in Österreich, Verfassungsrang. Wohl aber läßt sich sagen, daß ihre Garantien als effektiv bindende Auslegungsregeln bei mehrdeutigem Gesetzestext gelten. Diese Auffassung folgt einem Gedanken, der besonders in der englischen Rechtsprechung hervorgehoben wird 5 . Es wird danach prima facie vermutet, der Gesetzgeber könne nicht beabsichtigt haben, gegen internationale Verpflichtungen zu verstoßen. Dasselbe Prinzip veranlaßt das BVerfG auf der verfassungskonformen Auslegung der Gesetze zu bestehen6. 2. Vorrang vor späteren einzelstaatlichen Gesetzen Ob, aus ähnlichen Erwägungen, die Normen der MRK von der Regel ausgenommen sind, nach der ein späteres Gesetz dem früheren vorgeht, und ob also spätere nationale Gesetze, die der Konvention widersprechen, ungültig sind, ist umstritten. Die herrschende Ansicht begnügt sich mit dem einfachen Gesetzesrang der Konvention. Andere wollen, teils unter Berufung auf den besonderen Rechtscharakter der Konvention 7 , teils wegen eines in ihr enthaltenen „dinglichen Verzichts" des Gesetzgebers auf widersprechende Gesetzgebung 8 der Konvention einen übergesetzlichen Rang zusprechen, der die lex posterior Regel ausschließe. G. RESS, der dieser Meinung folgt 9 , verweist auf eine ähnliche Bevorzugung völkerrechtlicher Abkommen gegenüber dem einfachen Gesetz in §2 der Abgabenordnung von 1977. Nach meiner Ansicht genügt dies nicht, solange eine verfassungsrechtliche Regelung nicht

4

Zu einem Vergleich der Europäischen und der Amerikanischen Menschenrechtskonvention

6 7

siehe JOCHEN A . FROWEIN E U G R Z 1980, S .

5

44 ff. Z.B. in: Salomon vs Commissioners Customs, 3 A 11 E. R. 871 (875).

8

of

9

So in Bezug auf die MRK: BVerfGE 31, 58ff. A. BLECKMANN Allgemeine Grundrechtslehren, Köln 1979, 24. R . HERZOG D Ö V 1959, 44 f f .

Die Eur. MRK und die Vertragsstaaten, Conseil d'Europe H/Coll 80 4, 32.

62

1. Kapitel. Grundlagen

ausdrücklich den Vorrang der MRK vor späteren deutschen Gesetzen anordnet, was allerdings wünschenswert wäre. Art. 25 GG umfaßt dies noch nicht, da die MRK nach herrschender Ansicht nicht zu den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts" gehört, trotz ihrer weitgehenden Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen. Wäre dies anders, so ginge die MRK den Bundesgesetzen und Landesgesetzen, einschließlich der Landesverfassungen, nicht aber dem Grundgesetz im Range vor. Immerhin hat aber die MRK, deren Einhaltung die Kommission nach Art. 19 sicherzustellen hat, einen effektiven Vorzug vor einfachen Gesetzen. Ihre Bestandskraft ist größer und stellt sie in dieser Hinsicht den Verfassungssätzen gleich. Der Staat kann ihr auf die Dauer nur ausweichen, wenn er sich zur Kündigung der Konvention entschließt. Im übrigen ist die ganze Frage fast ohne wirkliche Bedeutung, da der Schutz des Grundgesetzes kaum weniger weit reicht, als der, den die Konvention gewährt. 3. Faktische Präventivwirkung So liegt die Wirkung der Konvention mehr im Faktischen als im Rechtlichen. Dies muß vor allem gesagt werden, weil nicht nur, wie erwähnt, ein nur verschwindend kleiner Teil der bei der Kommission eingereichten Beschwerden zur Entscheidung kommt, sondern weil, selbst wo dies geschieht, der Gerichtshof in weitgehendem Maße die häufig vorgebrachte Einrede des überwiegenden Staatsinteresses gelten läßt. So drückt sich die Wirkung der MRK weniger in den zur Entscheidung kommenden Rechtsfällen als in ihrer Präventivfunktion aus. Sie verhindert in einzelnen Fällen ein Tun, welches vielleicht sonst von den heimischen Verfassungsgerichten hingenommen worden wäre. Es genügt hier, an die verschiedenen Gefängnisfälle 10 zu erinnern.

III. Die Europäische Sozialcharta 11 Diese ist, ähnlich wie der fünf Jahre später abgeschlossene Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 12 , eigentlich nur ein gemeinsamer Vorsatz, eine Absichtserklärung, deren Außerachtlassung keine Rechtsfolgen nach sich zieht. Sie betrifft daher die verfassungsmäßige Ordnung in der Bundesrepublik nur indirekt. Durch sie wird der Gedanke fortgesetzt, der schon der Einrichtung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf zugrunde lag 13 . Soziale Gewährleistungen erhöhen die Produktionskosten und verzerren dadurch den Wettbewerb, wenn der eine sie auf sich nimmt, der andere nicht. Damit, daß sie zur gemeinsamen Sache erkärt werden, wird diese Verzerrung aufgehoben. Zum Teil werden diese Gewährleistungen, wie übrigens auch viele Maßnahmen des Umweltschutzes, über10

Hierzu beispielsweise die Veröffentlichung des Europarats, Schwerpunkte der Rechtsprechung I „Menschenrechte im Gefängnis", Straßburg 1971.

11 12 13

V o m 18. Oktober 1961 BGBl. II 1262. V o m 19. Dezember 1966 BGBl. II 1570. Satzung in Teil XIII des Versailler Vertrages, mit zahlreichen späteren Änderungen.

3. Abschnitt. Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration (VON SIMSON)

63

haupt erst dadurch möglich. Da die Durchführung verfassungsrechtlicher Vorsätze, insbesondere aber die Erfüllung des sozialen Auftrags, in nicht geringem Maße von den wirtschaftlichen Möglichkeiten abhängt, sowie davon, wieweit andere Verfassungsgewährleistungen davon betroffen werden 14 , ergibt sich eine wesentliche verfassungsrechtliche Bedeutung der internationalen Vergemeinschaftung sozialer Lasten. Sie nimmt dem Staat die Einrede, die einseitige Auferlegung dieser Lasten sei ihm aus Wettbewerbsgründen nicht zuzumuten. Dadurch kann zum Verfassungsgebot werden, was vorher nur ein unverbindlicher Grundsatz war.

IV. Die Europäischen Gemeinschaftsverträge 15 1. Ihr Verhältnis zu einzelstaatlichen Verfassungsgeboten Eine weit erheblichere Bedeutung hat das Verhältnis von verfassungsmäßiger Ordnung und Europäischer Integration wo es sich um die Europäischen Gemeinschaften handelt. Dort sind, durch völkerrechtliche Verträge, bestimmte, bisher in die Allgemeinkompetenz der Mitgliedstaaten fallende Hoheitsrechte in gemeinsame Ausübung genommen worden und insoweit nicht nur der positiven Zuständigkeit, sondern auch den ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Beschränkungen entzogen worden, denen sie in den einzelnen Staaten unterlagen. Die Organe der Gemeinschaften sind ermächtigt, Verordnungen zu erlassen und Rechtsakte vorzunehmen, die unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelten (Art. 189 EWGV). Damit entstand die Frage, ob derartige Hoheitsakte nicht auch den Verfassungsanforderungen genügen müssten, denen die Hoheitsgewalt des Mitgliedstaats unterworfen ist. Hierunter sind zu verstehen: die demokratische Legitimation der Hoheitsgewalt, die Grenzen, die ihr durch die Verfassung gesetzt sind, und der Rechtsschutz, der diese Grenzen sichert. Dabei ist zu bedenken, daß der Staat nicht nur selbst von der Überschreitung dieser Grenzen ausgeschlossen ist, sondern auch die Verantwortung dafür trägt, daß kein anderer sie überschreitet. 2. Schrittweise Entwicklung des gegenseitigen Verhältnisses Daß ein derartiger Anspruch nicht der eigenmächtigen Definition und der Kontrolle durch die verschiedenen Mitgliedstaaten überlassen bleiben konnte, ohne die Einheitlichkeit der Gemeinschaft und damit deren Integration selbst zu gefährden, leuchtete ein. Deshalb war beim Abschluß der Verträge auch kaum von Verfassungsvorbehalten die Rede, und die Verträge selbst enthalten nur eine punktuelle Festlegung und keinen Katalog der Garantien. Dennoch bleibt die Frage, zunächst in der Verfassungstheorie, vor allem aber auch in der Praxis von laufender Bedeutung. Nur läßt sie

14

15

Vgl. hierzu die sorgsamen Unterscheidungen bei K . HESSE, Grundzüge des Verfassungsrechts der B R D , 13. Aufl., 19ff, mit wesentlichen Literaturhinweisen. (Pariser) Vertrag über die Gründung der Eu-

ropäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951; (Römische) Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25. März 1957.

64

1. Kapitel. Grundlagen

sich, wie so manche andere Frage der europäischen Integration, nicht im Wege einer einmaligen, ein für allemal geltenden Regelung lösen. Sie mußte einer schrittweisen Behandlung überlassen bleiben. Das ganze europäische Vertragswerk ist als ein wachsendes System mit sich wandelnden Anforderungen und Möglichkeiten angelegt. So mußte sich erst zeigen, wieweit mit der Wahrnehmung der an die Gemeinschaft gewiesenen Zuständigkeiten die im Grundgesetz enthaltenen Gewährleistungen überhaupt berührt wurden. Es mußte sich weiter zeigen, welche verfassungsrechtlichen Sicherungen sich in der Gemeinschaft selbst herausbildeten. Denn davon hing es ab, ob die Verlagerung der Hoheitsmacht auf die Gemeinschaft die Grundrechtsposition des von ihr Betroffenen schmälern oder ob sie sie in allem wesentlichen unverändert lassen oder sie gar stärken würde. 3. Streit um die verfassungsrechtliche Bedeutsamkeit der Verträge Die Geschichte der letzten 25 Jahre zeigt hier eine interessante Entwicklung. Zunächst war schon die Bedeutung des ganzen Problems umstritten. In der Bundesrepublik wurde einerseits die Ansicht vertreten, man brauche sich, im Hinblick auf die sachliche Beschränkung der Gemeinschaftskompetenzen (die sogenannte compétence d'attribution) um die Verletzung innerstaatlicher Verfassungsgarantien keine Sorge zu machen 16 : weder drohe eine solche von der Sache her, noch zeige die Erfahrung, daß sie jemals eingetreten sei. Aus dieser pragmatischen Sicht erklärt sich auch die deutliche Verwunderung, welche nicht-deutsche Autoren dem Streit um den Grundrechtsschutz in der Gemeinschaft entgegenbrachten17. Auch der Europäische Gerichtshof nahm zunächst an, eine Gefährdung gemeinschaftserheblicher Grundrechte komme nicht in Frage und bedürfe daher auch keiner Aufmerksamkeit seitens der Rechtsprechung 18 . Auf der anderen Seite sah man die wesentlichen bundesdeutschen Errungenschaften auf diesem Gebiet in Gefahr. Der deutsche Bürger sei schutzlos gegenüber der Gemeinschaftsgewalt 19 . So wenig diese Annahme der Wirklichkeit entspricht, so wichtig ist doch die ihr zugrunde liegende Fragestellung. Gewiß kann der Bund nach Art. 24 G G durch (einfaches) Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Es ist aber doch zu fragen, welche Anforderungen an derartige Einrichtungen gestellt werden müssen, damit von einer eigentlichen Übertragung die Rede sein kann. Art. 24 G G sagt darüber nichts: noch nicht einmal, daß der Bund

16

17

18

So vornehmlich H . P. IPSEN Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, 41 passim. S o P . PESCATORE D i e M e n s c h e n r e c h t e u n d

die europäische Integration, Integration 1969, 109, 126, der schon die Diskussion als Gefahr für die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts ansah. E u G H Rechtssache 1/58 Stork, Rsp. 1958/ 59, 43; Rs. 3 6 - 3 8 und 40/59 Ruhrkohlenverk. Ges., Rsp. 1960, 857.

19

S o H . H . RUPP D i e G r u n d r e c h t e u n d d a s E u -

ropäische Gemeinschaftsrecht, NJW 1970, 353 ff; DERS. Nationaler Grundrechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften, in: Die Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration e.V. Bd. 2, 1978, S. 9ff; f e r n e r MARTENS E u R

1970, 230;

MÖHRING

N J W 1965, 2 2 2 9 ; WOHLFARTH J I R 9, 30.

3. Abschnitt. Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration (VON SIMSON)

65

selbst Mitglied der empfangenden Einrichtung sein müsse. Dennoch wird man nicht nur dies verlangen müssen, sondern auch, daß die Einrichtung praktisch imstande sein muß, die ihr übertragenen Hoheitsrechte wahrzunehmen, und zwar in dem Sinne und mit der Einschränkung, wie der Begriff der Hoheitsrechte nach den Grundanschauungen unserer europäischen Gesellschaft verstanden wird. Das setzt ein Mindestmaß an Organisation voraus, in der demokratisch verantwortliche Verhältnisse bestehen, und ebenso ein Maß an „Freiheitsverbürgungen und -Sicherungen, die dem Gemeinschaftsrecht selbst innewohnen und deren Wirksamkeit seine Entbindung von nationalen Grundrechten erst vertretbar machen kann" 20 . 4. Tragweite der gemeinschaftsrechtlichen Garantien Ob diese Voraussetzung gegeben ist, hängt von keiner dogmatischen oder spekulativen Erwägung ab, sondern von den tatsächlichen Umständen. Bevor wir erörtern, wie es damit steht, ist zu erwähnen, daß das BVerfG gleichfalls diesen Standpunkt einnimmt und sich die Prüfung dieser Umstände ausdrücklich vorbehalten hat. Dabei ist eine Unterscheidung notwendig zwischen dem Recht, welches in den Verträgen selbst, und dem Recht, welches in Verordnungen der Organe dieser Gemeinschaft enthalten ist. Einer direkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle wären nicht die Verträge selbst, sondern nur die Zustimmungsgesetze zugänglich, mit denen die Verträge in das Recht der Bundesrepublik übernommen wurden 21 . Was eine solche Kontrolle im Fall einer Beanstandung durch das Bundesverfassungsgericht praktisch bewirken würde, ist schwer auszudenken. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, daß eine derartige Anfechtung praktisch nicht mehr in Betracht kommt. Man würde, ließe man sie zu, dasselbe von jedem anderen Mitgliedstaat hinnehmen müssen, mit Folgen, die sich nicht ausdenken und jedenfalls nicht mit dem Weiterbestehen der Gemeinschaft vereinen ließen. Was die von der Gemeinschaft vorgenommenen Rechtsakte betrifft, so fallen diese selbst nicht unter die verfassungsmäßige Kontrolle durch das BVerfG. Dieses beschäftigt sich daher nur mit der Frage, ob deutsche Rechtsakte, die in Ausführung von Anordnungen der Gemeinschaft ergehen, auf ihre Ubereinstimmung mit den Anforderungen des Grundgesetzes zu messen sind. Ein solches Prüfungsrecht nimmt das BVerfG in Anspruch, zunächst in umfassender 22 , dann in wesentlich eingeschränkter Ausdehnung 23 . Der erste, sogenannte ,,Solange"-Beschluß des Gerichts geht davon aus, daß Bürger der Bundesrepublik in ihren Grundrechten auch insoweit geschützt werden müssen, als diese Rechte durch Maßnahmen von Behörden oder Gerichten der Bundesrepublik verletzt werden, die sich ihrerseits auf Gemeinschaftsrecht stützen, ja nach diesem Recht nichts weiter als eine Pflichterfüllung darstellen. Auch die abweichende Meinung von drei Richtern verneint diesen Anspruch nicht.

20

H . P . IPSEN a a O 4 1 / 1 , S . 7 1 7 .

21

Hierzu BVerfGE 52, 187. „Solange"-Beschluß des 2. Senats, BVerfGE 37, 271 ff vom 29. Mai 1974.

22

23

Beschluß des 2. Senats vom 25. Juli 1979, EuGRZ 1979, 547ff. Dazu insbesondere CHRISTIAN

TOMUSCHAT

BVerfG

contra

EuGH - Friedensschluß in Sicht, NJW 1980, S. 2611 ff.

66

1. Kapitel. Grundlagen

Die eigentliche Frage, wenn man von dem theoretischen Vorrangsproblem absieht, besteht dann darin, ob angesichts der eigenen Garantien im Recht der Gemeinschaft selbst überhaupt ein Bedürfnis nach Rechtsschutz besteht im Verfahren vor dem BVerfG. Das ist eine Frage der Einschätzung dessen, was in der Gemeinschaft an tatsächlichem Rechtsschutz gewährt wird. Hier sind zu unterscheiden: die positiven Regelungen in den Verträgen und ihren Folgeeinrichtungen wie dem Europäischen Parlament, sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ( E u G H ) . 5. Demokratische Legitimation der Gemeinschaftsgewalt Fragen wir zunächst nach der demokratischen Legitimation der Gemeinschaftsgewalt, so ist nicht zu verkennen, daß diese erheblich hinter dem zurückbleibt, was das G G für die von deutschen Stellen ausgeübte Gewalt verlangt. Schon der Satz des Art. 20 G G , wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, muß sich, was das Gemeinschaftsrecht angeht, fortan auf ein europäisches Gesamtvolk beziehen, dessen entscheidungsfähige Repräsentation noch keine Lösung gefunden hat. Dieser Mangel an Legitimation ist aber unvermeidbar, solange es keinen europäischen Gesamtstaat gibt, solange man also genötigt ist, staatliche Aufgaben ohne Staat wahrzunehmen. Denn die Organe der Gemeinschaft mit Ausnahme des Parlaments können durch kein Volk bestellt werden, sondern müssen von den Regierungen benannt und gemeinsam eingesetzt sein, und diese Bestellung sowohl, als auch die von den Organen zu fassenden Beschlüsse setzen sehr oft politische Entscheidungen voraus, die der Natur der Sache nach nur von den politischen Instanzen der Mitgliedstaaten getroffen und verantwortet werden können, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen. Ein Verzicht auf die politische Entscheidungsmacht zugunsten einer direkten demokratischen Legitimation der Gemeinschaftsorgane käme, wenn ich es richtig sehe, einer Minderung der demokratischen Legitimation der nationalen Regierungen gleich. Das einzige durch direkte Wahl legitimierte Organ ist heute das Europäische Parlament, und seine Entscheidungskompetenzen sind, aus dem soeben genannten Grund, solche der Kontrolle, und nicht der tatsächlichen politischen Aktion. Der Ministerrat und die Kommission sind, ebenso wie der Gerichtshof, praktisch von den einzelnen Regierungen der Mitgliedstaaten berufen und insofern nur indirekt und aus der Ferne legitimiert. Das ist, wie gesagt, nichts anderes als die Folge der noch mangelnden und von vielen sogar für unerwünscht oder unerreichbar gehaltenen Gesamtstaatlichkeit der Gemeinschaft.

6. Die Grundrechte im Gemeinschaftsrecht Was die eigentlichen Grundrechte angeht, so wächst die Gemeinschaft den Anforderungen an ihren Schutz jetzt mehr und mehr entgegen. Schon die Verträge selbst enthalten nicht nur eine Anzahl konkret normierter Freiheiten, sondern sie öffnen, durch die Ausübung eigener selbstbeschränkender Verordnungsgewalt, sowie durch die Institution des Gerichtshofs und seiner Kontrollrechte, den Weg zu einer fortschreitenden Erweiterung und Artikulierung des Grundrechtsschutzes. Das Gesamtbild ist in dem gegenwärtigen Zustand der Gemeinschaft so befriedigend, daß das

3. Abschnitt. Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration (VON SIMSON)

67

BVerfG, selbst wenn ihm das von ihm beanspruchte Recht der Nachprüfung zusteht, wohl kaum Anlaß hätte, von der einzigen hier in Betracht kommenden Eingriffsmöglichkeit Gebrauch zu machen, also entweder einzelne Bestimmungen der Zustimmungsgesetze für nichtig zu erklären oder einzelne Maßnahmen für ungültig zu erklären, die eine deutsche Behörde oder ein deutsches Gericht in Anwendung des Gemeinschaftsrechts vornähme. Deswegen bezweifelt der schon erwähnte zweite Beschluß des BVerfG, wo er auf den ,,Solange"-Beschluß zurückkommt 24 , „ob, und gegebenenfalls inwieweit, etwa angesichts mittlerweile eingetretener politischer und rechtlicher Entwicklungen im europäischen Bereich, für künftige Vorlagen von Normen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts die Grundsätze des Beschlusses vom 29. Mai 1974 . . . weiterhin uneingeschränkt Geltung beanspruchen können". Damit wird der umstrittene Satz, dem der ,,Solange"-Beschluß seinen Namen verdankt, in entscheidender Weise eingeschränkt. „Solange", hieß es nämlich dort, „der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht soweit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen vom Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 des Vertrages geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und insoweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert". Dem Grundgedanken, daß nämlich der faktische Grundrechtsschutz, wie er in der Gemeinschaft gewährt wird, genügend ausgeprägt sein muß, um das BVerfG seines Wächteramts zu entbinden, ist zuzustimmen. Mit Recht ist aber in der gesamten einschlägigen Literatur 25 der Forderung widersprochen worden, es bedürfe zur Herstellung dieses Zustandes eines vom Parlament beschlossenen formulierten Katalogs, wie er doch z. B. in Großbritannien auch nicht existiert. Daß aber ein befriedigender tatsächlicher Grundrechtsschutz in der Gemeinschaft es dem BVerfG erst gestattet, der Gemeinschaft das Feld zu überlassen, trägt einem wichtigen Gedanken Rechnung. Einmal begründet dieser eine Verpflichtung der Gemeinschaft, als Vorbedingung für die eigene, ihr aufgetragene Zuständigkeit den Bürger im Gemeinsamen Markt dort in Schutz zu nehmen, wo diese Zuständigkeit ihm den Schutz des BVerfG entzieht. Ferner ist zu erwägen, daß die Gemeinschaft im Begriff steht, weitere Mitglieder aufzunehmen, deren verfassungsmäßige Zustände noch vor nicht langer Zeit von denen abwichen, die in der jetzigen Gemeinschaft als selbstverständlich gelten. Es besteht daher ein Bedürfnis, den ungeschmälerten Grundrechtsschutz als Bedingung für die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft zu

24 25

S. 551. Näheres bei E . - W . Fuss der Grundrechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften aus deutscher Sicht, Brüssel 1975. Hier auch eine ausführliche Kritik an dem „Solange"Beschluß (S. 126ff). A . BLECKMANN Europa-

recht, 2. Aufl. Köln 1978, 2 1 7 ist sogar der Meinung, das BVerfG habe sich durch den „Solange"-Beschluß „die Möglichkeit verbaut, noch frei über die Verfassungsmäßigkeit der Zustimmungsgesetze zu entscheiden".

68

1. Kapitel. Grundlagen

proklamieren. Auch das Selbstverständnis der Gemeinschaft als politischer Lebensform verlangt dies. 7. Einschlägige Vertragsnormen Die tatsächlichen Verhältnisse, auf die es danach ankommt, bestimmen sich in erster Linie durch die Grundrechtsverbürgungen, die in den Verträgen selbst enthalten sind. Sodann sind die Ergebnisse der bisherigen Rechtsprechung des E u G H konstitutiv. Wir verfügen hier über die hervorragend sachverständige, das wesentliche zusammenfassende Darstellung in dem Bericht, den der Richter am E u G H PIERRE PESCATORE im Namen dieses Gerichtshofs der IV. Konferenz der europäischen Verfassungsgerichte unter dem Titel „Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Recht der Europäischen Gemeinschaften" im Oktober 1978 vorgelegt hat 2 6 . Die im Vertrag enthaltenen Normen finden sich in Einzelbestimmungen, welche nicht Einschränkungen, sondern geradezu Sinnbestimmungen der gemeinschaftsrechtlichen Hoheitsgewalt darstellen. Sie sind darauf ausgerichtet, gewisse Rechte und Pflichten, die bisher Gegenstand der einzelstaatlichen Regelung waren, und die daher, in der Regelung, die sie erfahren hatten, den Bürgern des betreffenden Staates zukamen, auf die Gesamtbürgerschaft der Gemeinschaft auszudehnen. So verbietet jetzt für das ganze Gebiet der Gemeinschaft Art. 7 E W G V jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, soweit sie nicht im Vertrag vorgesehen ist. Der Ministerrat ist ermächtigt, mit qualifizierter Mehrheit Regelungen für das Verbot solcher Diskriminierungen zu treffen. Das ist in hohem Maße bereits geschehen. Es sei nur an die Ausdehnung der Berufs- und Niederlassungsfreiheit, z . B . für Ärzte und Rechtsanwälte erinnert. Auf vielen Gebieten, besonders in der Sozialfürsorge, wird den Mitgliedstaaten eine unterschiedslose Verantwortung für den Gemeinschaftsbürger auferlegt, der bei ihnen wohnt. Mit dem Hineinwachsen in überstaatliche Größenordnungen wächst auch der verfassungsrechtlich gesicherte Verantwortungsbereich über die Staatsgrenzen hinaus. 8. Fünf ausdrückliche Freiheiten In den fünf grundsätzlichen Freiheiten, die der EWG-Vertrag aufrichtet, ist weiteres grundrechtsmäßig verbürgt. Die Freizügigkeit der Arbeitskräfte innerhalb der Gemeinschaft, die Niederlassungsfreiheit, die Freiheit des Dienstleistungs-, des Kapitalund des Zahlungsverkehrs sind als verpflichtende, schrittweise zu erfüllende Programmpunkte in Teil II Titel III des Vertrages niedergelegt, und zahlreiche Richtlinien weisen die Mitgliedstaaten an, diesen Vorsätzen praktische Geltung zu verschaf-

26

Veröffentlicht in: E u R 1979, 1 ff. Umfassende Literaturangaben bei G . NICOLAYSEN Europäisches Gemeinschaftsrecht, Stuttgart 1979, 17, bei E . - W . F u s s a a O u n d BEUTLER/BIEBER/PIPKORN/STREIL D i e E u r o p ä i s c h e

Ge-

meinschaft — Rechtsordnung und Politik, 1979, S. 182 ff. Vgl. dazu auch die Auswahl-

bibliographie des Berichtes über das internationale Kolloquium über „Grundrechtsschutz in Europa, Europäische Menschenrechts-Konvention und Europäische Gemeinschaften" des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg 1976, Berlin 1977.

3. Abschnitt. Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration (VON SIMSON)

69

fen. Was die sozialen Verbürgungen betrifft, so soll nach dem Vertrag die erforderliche Angleichung „auf dem Wege des Fortschritts" (Art. 117) vor sich gehen, sodaß der jeweils höchste Stand den Maßstab der Angleichung abgibt. Eine besondere Rolle spielt der Grundsatz des gleichen Entgelts für gleiche Arbeit von Männern und Frauen (Art. 119). Ziemlich vage ist einstweilen die Regelung der Koalitionsfreiheit nach Art. 1 1 8 " . 9. Satzung des Europäischen Gerichtshofs In einem besonderen Protokoll haben die Mitgliedstaaten dem Gerichtshof eine Satzung gegeben, und der Gerichtshof selbst hat eine Verfahrensordnung mit einstimmiger Genehmigung des Rates erlassen. In diesen Regelungen ist erfolgreich versucht worden, den gemeinsamen rechtsstaatlichen Überzeugungen der Mitgliedstaaten zu folgen. Wo die Rechtsverfolgung enger ausgestaltet ist, als unser heimisches Rechtsleben es vorsieht, erklärt sich dies aus den unumgänglichen Notwendigkeiten des Funktionierens der Gemeinschaft. Zu denken ist hier hauptsächlich an das Fehlen einer Revisionsinstanz. 10. Wahrung „des Rechts" durch den Gerichtshof Neben diesen mehr oder weniger ins einzelne gehenden Schutzvorschriften steht nun die grundsätzliche Bestimmung in Art. 164 EWGV (sowie Art. 31 EGKSV und Art. 136 EAGV), wonach der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages sichert. Damit sah sich der Gerichtshof vor die Frage gestellt, was der Ausdruck „Recht" in diesem Zusammenhang bedeutete. Sollte nur das ausdrücklich in den Verträgen niedergelegte Recht, also das Gemeinschaftsrecht im engeren Sinne gemeint sein, oder gab es allgemeine Anforderungen, ohne deren Erfüllung nach gesamteuropäischer Auffassung kein Recht Recht sein konnte, Anforderungen also, auf deren Einhaltung der Gerichtshof zu achten hatte, sodaß bei einem Verstoß gegen diese Grundsätze ein Hoheitsakt der Gemeinschaft für nichtig erklärt werden mußte? 28 Bei einigen, dem Recht seit je vertrauten Grundsätzen ließ sich daran nicht zweifeln. Bei anderen war eine Abwägung nötig. Nicht alles, was in nationalen Verfassungen als Rechtsgrundsatz verkündet ist, eignet sich für die Gemeinschaft mehrerer Staaten, vor allem dann nicht, wenn diese erst im Werden begriffen ist. Wer, um es auf das einfachste auszudrücken, sollte bei der Vielfalt der zu treffenden Entscheidungen und bei der Schwierigkeit, hier unter den selbstbewußten Mitgliedstaaten überhaupt eine Einigung zu finden, denn dabei mitreden und die endlich möglich gewordenen Schritte im Namen individueller Rechtsansprüche noch in Frage stellen dürfen? Hier ließ sich nicht durch vorwegnehmende Kodifizierung solcher 27

Vgl. auch die in der Rs. 36/75 Rutiii Rsp. 1975, 1219 behandelte Verordnung N r . 1612/ 68 über die Gewährleistung der gewerkschaftlichen Rechte der Arbeitnehmer, der Freizügigkeit und des Aufenthalts.

28

Vgl. dazu L. J. CONSTANTINESCO Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, 1977, S. 807ff m.w.N.

70

1. Kapitel. Grundlagen

Rechte, sondern nur im Wege des von Fall zu Fall abwägenden Richterrechts 29 die Lösung suchen. Zwei Dinge galt es dabei zu bedenken: die gebotene Zurückhaltung, die es dem Richter versagt, Entscheidungen zu treffen, die der politisch verantwortlichen Regierung zukommen, und andererseits die Notwendigkeit, der Gemeinschaft diejenige Verwurzelung in einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung zu sichern, die sie zu ihrem Selbstverständnis braucht, und die es den Verfassungsorganen der Mitgliedstaaten erst gestattete, ihr Wächteramt insoweit der Gemeinschaft zu überlassen. Schon die allgemeine Erfahrung bei der „Wahrung des Rechts" hat gezeigt, daß der Gerichtshof ohne ein gewisses Maß an politischer Entscheidungsmacht trotz aller prinzipiellen Zurückhaltung nicht auskommt. Das Vertragswerk zeigt erhebliche Lücken. Die weiteren Entscheidungen, die danach von den Staaten getroffen werden müßten, kommen aus dem einen oder dem anderen Grund nicht zustande. Hier muß der Gerichtshof, wenn ein anstehender Fall eine Entscheidung verlangt, zurückgreifen auf den allgemeinen Satz des Art. 5 EWGV, wonach die Staaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung ihrer Vertragsverpflichtungen zu treffen haben. Auch die Duldung einer Rechtsprechung, die derartige Maßnahmen, wenn der Ausdruck erlaubt ist, als getroffen unterstellt, zählt danach zu den Vertragspflichten der Staaten. Ein Beispiel ist die Festsetzung von rechtlich erheblichen Fristen, wo der Vertrag nichts darüber enthält. Manche folgern diese Pflicht zur Gemeinschaftstreue aus einem der Gemeinschaftsgründung selbst implizierten, mitverstandenen Grundsatz 30 , andere aus Art. 5 selbst 31 . Das für den Rechtsschutz bemerkenswerteste Beispiel ist das Urteil vom 5. Februar 1963 32 , in dem der Gerichtshof gegen den Widerspruch der Gemeinschaftsorgane und dreier beteiligter Staaten feststellt, daß eine Vertragsverpflichtung der Staaten unmittelbare Rechte zugunsten des Einzelnen begründe, der sich durch die Nichteinhaltung dieser Verpflichtung beschwert fühle. Ein allgemeiner rechtsstaatlicher Grundsatz gebiete es, daß demjenigen, dem der Vertrag unmittelbar bindende Rechtspflichten auferlege, auch ein Anspruch gegeben sein müsse, vor Gericht geltend zu machen, daß staatliche, ihn beschwerende Maßnahmen gegen den Gemeinschaftsvertrag verstießen. 11. Wahrung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft Ferner nimmt der Gerichtshof eine Zuständigkeit zur vertragsergänzenden Entscheidung auch in Anspruch, wenn das Funktionieren der Gemeinschaft es verlangt. Die Lebensfähigkeit des Ganzen als ein dem Einzelinteresse vorgehendes Rechtsprinzip ist dem französischen Recht geläufiger als dem deutschen; die europäische Rechtspre-

29

3 0

Dazu mit umfassenden Nachweisen J. SCHWARZE Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1976, S. 1 0 5 ff. A.

BLECKMANN

Europarecht,

104,

105

mit

näheren Angaben über den Meinungsstand. 31

H . P . IPSEN a a O

217.

32

Rs. 2 6 / 6 2 van Gend en Loos Rsp. I X , 7ff. Zur weiteren Entwicklung des Prinzips, wonach der Einzelne sich auf Vertragspflichten der Mitgliedstaaten berufen kann: Rs. 5 7 / 6 5 Lütticke Rsp. X I I , 2 5 7 ; Rs. 1 3 / 6 8 Salgoil Rsp. X I V , 6 7 8 ff.

3. Abschnitt. Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration (VON SIMSON)

71

chung hat, im Hinblick auf die ungefestigte staatliche Qualität der Gemeinschaft, besonderen Anlaß, diesem Gedanken Raum zu geben. 12. Richterliche Anerkennung einzelner Grundrechte Darüber hinaus hat nun der Gerichtshof, nachdem er anfänglich die Berücksichtigung außervertraglicher Rechtssätze abgelehnt hatte, nach und nach ein Grundrecht nach dem anderen als für die Gemeinschaft verbindlich anerkannt. Zunächst findet sich in der Rechtssache „Stauder" 196 9 3 3 die Feststellung, wenn auch als obiter dictum, die Wahrung der Grundrechte gehöre zu den „allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung". In der Rechtssache „Internationale Handelsgesellschaft" 1970 34 heißt es dann, die Beachtung der Grundrechte gehöre zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern habe. Zwei Bedingungen aber müßten derartige Grundrechte erfüllen, wenn sie als Bestandteile des europäischen Gemeinschaftsrechts gelten sollten. Sie müßten, wie das Urteil sich ausdrückt, „von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein", also einer innerhalb der Gemeinschaft einheitlichen Rechtsüberzeugung entsprechen, und sie müßten sich „in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen". Schon ganz am Anfang, 1959, hatte der Grundsatz der Rechtssicherheit Anerkennung gefunden 3 5 , wobei der Gerichtshof besonders darauf hinwies, daß dieser Grundsatz nur in Verbindung mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung anzuwenden sei. In der Folge sind dann als zu dem in der Gemeinschaft zu wahrenden Recht gehörig bezeichnet worden: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit belastender Eingriffe (Ubermaßverbot) 36 , des Vertrauenschutzes 37 , des Schutzes wohlerworbener Rechte 3 8 , der Rechtssicherheit 39 , des guten Glaubens 4 0 und der Grundsatz des rechtlichen Gehörs 4 1 . Auch die Religionsfreiheit und der ihr zukommende Schutz hat im Prinzip gemeinschaftsrechtliche Anerkennung gefunden 4 2 . 13. Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention oder autonome Garantie Nachdem die Jahre 1973 bis 1975 diese Entwicklung gebracht hatten, schien der Zeitpunkt gekommen, die in der Gemeinschaft geltenden und deren Organe bindenden Grundrechte und Freiheiten in einem erschöpfenden Katalog zusammenzufassen. Dabei lag und liegt es nahe, auf die Konvention des Europarats zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zurückzugreifen. Alle jetzigen Mitglieder der Gemeinschaft gehören ihr an und haben ihre Gerichtsbarkeit anerkannt. Der Gerichtshof hatte diese Tatsache als Hinweis darauf angesehen, daß die dort niedergelegten Schutzrechte einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung entsprächen. So entstand

Rs. 29/69 Rsp. 1969, 419. Rs. 11/70 Rsp. X V I , 1125. 3 5 Rs. 42 und 49/59 Pontlieu Rsp. VII, 172. 3 « Rs. 5/73 Balkan Rsp. X I X , 1091 (1110). 3 7 Rs. 2/75 Einfuhr-Vorratstelle Rsp. 1975, 607 (617). 33

38

34

39 40

• 41 42

Rs. Rs. Rs. Rs. Rs.

28/74 Gillet Rsp. 1975, 463 (473). 78/74 Deuka Rsp. 1975, 421 (433). 21/74 Airola Rsp. 1975, 221 (229). 17/74 Transocean Rsp. 1975, 1063 (1081). 130/75 Prais Rsp. 1976, 1589.

72

1. Kapitel. Grandlagen

der Gedanke, ob nicht die Gemeinschaft als solche ebenfalls der M R K beitreten sollte. Andererseits läßt sich fragen, ob dafür überhaupt noch ein Bedürfnis besteht. Denn schon in ihrer Eigenschaft als völkerrechtliche Bindung der Mitgliedstaaten fand die Konvention Eingang in das Gemeinschaftsrecht. So erklärte P. PESCATORE 43 daß ,,es dem Gerichtshof obliegt, nicht nur das Gemeinschaftsrecht in seiner spezifischen F o r m , sondern das Recht schlechthin zu wahren; dazu gehören auch Bindungen, welche die Mitgliedstaaten im Bereich der ihnen verbliebenen Zuständigkeit gleichlaufend dritten Staaten gegenüber eingegangen s i n d " „ D a s w u r d e " , so fährt er fort, „ v o m Gerichtshof für verschiedene andere Verträge wirtschaftlicher N a t u r , wie etwa G A T T und gewisse Zollabkommen bestätigt; dasselbe gilt sicherlich auch für die Sozialcharta des Europarats und für die multilateralen Sozialabkommen der I L O " . Worauf es hier ankommt, ist die Gemeinsamkeit der Verpflichtung. D a s unterscheidet die M R K von den nationalen, möglicherweise unterschiedlichen und einseitig veränderlichen Bindungen, die in den einzelnen Verfassungen enthalten sind. Inzwischen hat das Europäische Parlament seinerseits, sowie, in ihrer Erklärung v o m 10. 4. 1979, die K o m m i s s i o n , den Beitritt der Gemeinschaft zur M R K befürwortet, und die Stimmen mehren sich, die diesen Schritt, nach anfänglichem Widerstand, nunmehr für geboten halten 4 4 . N a c h meiner Ansicht empfiehlt sich der Beitritt aber nicht. E s würden sich sehr erhebliche organisatorische Schwierigkeiten ergeben, sowohl was die Besetzung der Organe der M R K angeht, als auch hinsichtlich der Gerichtsbarkeit, bei der der Gerichtshof der M R K und derjenige der Gemeinschaft nebeneinander tätig sein würden. Die Verfahren vor dem E u G H würden sich, wenn sie der Kontrolle durch den Gerichtshof der M R K offen blieben, endlos hinschleppen, und es müßten schon sehr gewichtige G r ü n d e für diese Komplikationen sprechen, um sie ratsam erscheinen zu lassen. Solche G r ü n d e gibt es aber nicht, oder jedenfalls nicht mehr. Denn inzwischen haben die K o m m i s s i o n der Gemeinschaften, der Ministerrat und das Parlament eine ausdrückliche Erklärung verabschiedet (5. April 1977), in der sie „ d i e vorrangige B e d e u t u n g " unterstreichen, „ d i e sie der Achtung der Grundrechte beimessen, wie sie insbesondere aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten sowie aus der Europäischen Konvention z u m Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten hervorgehen". „ B e i der A u s ü b u n g ihrer Befugnisse und bei der Verfolgung der Ziele der Gemeinschaften", so heißt es weiter in der Erklärung, beachten sie diese Rechte

43 44

a a O S. 6. So mit eingehender, wenn auch m . E . nicht überzeugender Begründung der ehemalige Leiter der Menschenrechtsabteilung des Europarats, H . GOLSONG in: E u G R Z 1978, 3 4 6 f f , und 1979, 70ff. Vgl. auch die Stellungnahme des damaligen Präsidenten der E G K o m m i s s i o n ROY JENKINS zu einer Anfrage im Europäischen Parlament am 16. N o v e m ber 1978, E u G R Z a a O 19. Eine eingehende Darstellung der für und gegen den Beitritt ge-

äußerten Meinungen findet sich im Bericht über das Florentiner Kolloquium des Europäischen Parlaments „ B e s o n d e r e Rechte und Charta für Bürgerrechte der E G " vom 26. bis 28. O k t o b e r 1978 in: E u G R Z 1979, 2 3 f f . D a s höchst sachverständige und abgewogene, in dieser Hinsicht skeptische Urteil von H . KUTSCHER verdient besondere Beachtung: Der Schutz von Grundrechten im Recht der E G , in: Rechtsstaat in der Bewährung B d . 11 S. 3 5 f f , Heidelberg 1982.

3. Abschnitt. Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration (VON SIMSON)

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und werden dies auch in Zukunft tun" 4 5 . Ein Jahr später, am 7./8. April 1978, gaben die im Europäischen Rat vereinigten Regierungschefs der Mitgliedstaaten in Kopenhagen eine „Erklärung zur Demokratie" ab, in der es heißt: „Die Regierungen bekräftigen wie schon in der Kopenhagener Erklärung zur europäischen Identität ihren Willen, die Achtung rechtlicher, politischer und moralischer Werte, denen sie sich verbunden fühlen, zu gewährleisten und die Prinzipien der parlamentarischen Demokratie, des Rechts, der sozialen Gerechtigkeit und der Wahrung der Menschenrechte zu schützen". „Die Anwendung dieser Grundsätze setzt eine pluralistische Demokratie voraus, die die Vertretung der Meinungen im konstitutionellen Aufbau des Staates sowie die zum Schutz der Menschenrechte erforderlichen Verfahren garantiert . . . Sie erklären feierlich, daß die Achtung und die Aufrechterhaltung der parlamentarischen Demokratie und der Menschenrechte in allen Mitgliedstaaten wesentliche Elemente ihrer Zugehörigkeit zu den Europäischen Gemeinschaften sind". Diese Erklärungen, die zweifellos mit einem Blick auf die schwebenden Beitrittsverhandlungen neuer Mitgliedstaaten ergingen, haben nun durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs eine konkrete rechtliche Bedeutung gewonnen. Mehrfach, am deutlichsten aber in der Rechtssache 113/77 46 , hat der Gerichtshof entschieden, daß das Prinzip der Selbstbindung der Verwaltung auch im europäischen Gemeinschaftsrecht gilt. Wenn der Ministerrat, um den es sich in diesem Fall handelte, eine allgemeine Regelung erlassen habe zur Ausübung bestimmter vertraglicher Zuständigkeiten, dann dürfe er von dieser Regelung nicht in einzelnen Fällen abweichen. Sonst würde er dem Rechtssystem der Gemeinschaft zuwider handeln und die Gleichheit vor dem Gesetz aufheben, auf die die Betroffenen Anspruch hätten. Solange also die erwähnten Erklärungen der Gemeinschaftsorgane in Kraft sind (und es ist nicht vorstellbar, daß sie widerrufen werden könnten, da sie sich ausdrücklich auf die „Identität der Gemeinschaft" beziehen) sind diese Organe rechtlich daran gebunden, und ein Einzelner kann vor dem Gerichtshof ihre Verletzung rügen. 14. Deutsche Grundrechte praktisch gewahrt Vom deutschen verfassungsrechtlichen Standpunkt aus sind unsere wesentlichen Grundrechte zugleich bindend für die Gemeinschaft. O b die letzte Kontrolle dieser Bindung, wie es heute der Fall ist, bei dem Gerichtshof der Gemeinschaft liegt, oder ob sie, wie es nach dem oben gesagten auch befürwortet wird, durch formellen Beitritt dieser Gemeinschaft zur MRK der Kontrolle durch deren Organe zu unterwerfen wäre, ist eine interessante, aber im gegenwärtigen Zusammenhang nicht mehr wichtige Frage. Denn in keinem Fall kann ein Akt der Europäischen Gemeinschaft rechtmäßig sein, der gegen die MRK und ihre Gewährleistungen verstieße. Es läßt sich also sagen, daß die Übertragung der in gemeinsame Ausübung genommenen 45

Auf diese Gemeinsame Erklärung von Versammlung, Rat und Kommission zum Grundrechtsschutz in der Gemeinschaft hat der Gerichtshof jetzt in einem seiner neuesten

46

Urteile (Rs. 44/79, Hauer, Rsp. 1979, S. 3727ff, 3745) selbst Bezug genommen. Rs. 113/77 N T N Toyo Rsp. 1979, 1185 (1209).

74

1. Kapitel. Grundlagen

Zuständigkeiten auf die Organe der Gemeinschaft keine Hoheitsmacht ins Leben gerufen hat, die nicht, ebenso wie die verfassungsmäßigen Organe der Bundesrepublik selbst, an die wesentlichen Gewährleistungen der im Grundgesetz geschützten Rechte und Freiheiten gebunden wäre. 15. Ausdehnung der Reichweite auf die Gemeinschaft Wohl aber haben einige dieser Garantien auf den der Gemeinschaft zugewiesenen Gebieten eine gewisse Ausdehnung erfahren. Das demokratische Prinzip ist nunmehr zusätzlich geschützt dadurch, daß seine Aufrechterhaltung zur völkerrechtlichen Verpflichtung geworden ist, und damit zum Anspruch anderer Staaten an die Bundesrepublik. Die zentrale Diktatur ist, europäisch gesehen, unzulässig. Auch die Rechte des Einzelnen erweitern sich. Die Freizügigkeit erstreckt sich auf die ganze Gemeinschaft, und schon denkt man darüber nach, wie auch die politischen Teilhaberechte zu gemeinsamen, unterschiedslos gewährten Rechten aller „Marktbürger", oder, wie manche meinen, sogar dritter Staatsbürger werden könnten. Als Argument finden wir, daß dies eine Vorstufe zu einem europäischen Staatsbewußtsein bilden, daß es die Verbindung zwischen den Mitgliedstaaten fördern, daß es die Legitimation der Gemeinschaft verbessern würde. Das alles ist aber noch derart umstritten und ungewiß, daß konkrete Vorschläge einstweilen nicht zustande gekommen sind 4 7 . Auch sollte man nicht verkennen, daß bestimmte politische und soziale Rechte nicht auf eine beliebige Zahl Berechtigter ausgedehnt werden können, ohne in der Qualität zu leiden, die diesen Rechten nach der nationalen Verfassung eigentlich zukommen, ja sie überhaupt erst sinnvoll machen sollte. Deswegen wird auch teilweise das Wahlrecht für alle an einem Ort ansässigen Bürger, aus welchem Staat der Gemeinschaft sie auch kommen, nur für Kommunalwahlen erwogen, nicht aber für die gesetzgebenden Körperschaften. Auch bei den Sozialrechten spielt der Umstand eine Rolle, daß ihr Gegenstand nicht beliebig vermehrbar ist. Die unterschiedslose Ausdehnung dieser Rechte ist daher ein großes praktisches Problem. Es kann sehr wohl, indem die Gemeinschaft sich zuviel vornimmt, in Wirklichkeit eine Aushöhlung nationaler Möglichkeiten eintreten, die auf die Bewahrung der bisher bestehenden sozialen Sicherungen in einzelnen Mitgliedstaaten nicht ohne Einfluß bleiben könnte. 16. Gefahr einer verfrühten Gesamtstaatlichkeit Ähnliche Bedenken sind vom verfassungsrechtlichen Standpunkt aus zu erheben gegen die so freigebig proklamierte Schaffung eines europäischen Gesamtstaats, einer europäischen Union, oder wie der Plan sonst bezeichnet wird. Wir müssen uns darüber klar sein, daß keiner weiß, wie ein solches Gebilde soll demokratisch regiert werden können. Schon bei der gegenwärtigen Gestalt der europäischen Verwaltung ergeben sich hier fast unlösbare Schwierigkeiten. Es zeigt sich, daß die Demokratie, wie ja auch das Wirtschaftsunternehmen, an Grenzen ihrer Ausdehnungsfähigkeit

47

Vgl. auch hierzu den Bericht über das Florentiner Kolloquium (Anm. 44).

3. Abschnitt. Verfassungsmäßige Ordnung und europäische Integration (VON SIMSON)

75

stößt. Die gegenwärtige Situation der Europäischen Gemeinschaften gibt, wie ich meine, keinen Anlaß, unsere verfassungsmäßige Ordnung für gefährdet zu halten. Die Probleme in dieser Hinsicht sehe ich in der Ausdehnung auf der einen, in dem Versuch der organisatorischen Vereinheitlichung auf der anderen Seite. Diese Schritte mögen unabwendbar auf uns zukommen. Sie erfordern aber eine klare und weithin geteilte Einsicht in die verfassungsmäßigen Grenzen, die derartigen Vorhaben gesetzt sind, wenn nicht gerade diejenige Identität Europas wesenlos werden soll, welche die im Europäischen Rat vereinigten Regierungschefs so beredt beschworen haben.

2. Kapitel Grundrechte Ubersicht 1. Abschnitt.

Bestand

und

Bedeutung

( K O N R A D HESSE)

4. I. Die Grundrechte in der Welt von heute II. Zur Entwicklung der rechte in Deutschland

79

Grund-

III. Der Bestand der Grundrechte 1. Grundrechtsgewährleistungen im geltenden Recht 2. Ubersicht über die Grundrechte des Grundgesetzes a) Freiheitsrechte b) Gleichheitsrechte c) Weitere Grundrechte d) Der personelle Geltungsbereich der Grundrechte 3. Ausgestaltung, Begrenzung und Schutz der Grundrechte a) Ausgestaltung b) Begrenzung c) Schutz IV. Die Bedeutung der Grundrechte 1. Die Grundrechte als individuelle Abwehrrechte gegen den Staat . . 2. Neue Problemstellungen a) Die Bedeutung des Staates für die Freiheit b) Die Gefährdung von Freiheit durch nicht-staatliche Mächte c) Grundrechtsverwirklichung durch den Staat 3. Die Grundrechte als objektive Prinzipien der Gesamtrechtsordnung a) Geschichtliche Ansätze . . . .

80

5. 6.

7. 82 83 84 86 87 87 88 88 88 89

91 92 92 93 93

93 93

b) Das heutige Verständnis . . . . c) Auswirkungen Grundrechte als „Teilhaberechte" a) „Derivative" Teilhabeansprüche b) „Originäre" Teilhabeansprüche Soziale Grundrechte Grundrechtsverwirklichung und -Sicherung durch Organisation und Verfahren Die Bedeutung der Grundrechte für Rechtsbeziehungen, an denen der Staat nicht unmittelbar beteiligt ist a) Staatliche Schutzpflichten . . . b) „Drittwirkung" von Grundrechten

94 95 96 96 97 98

100

102 103 103

V. Zur Würdigung der Entwicklung . . 104

2. Abschnitt. Die Menschenwürde (ERNST BENDA)

I. Der absolute Eigenwert des Menschen 1. Die vorgegebenen Rechte des Menschen 107 2. Das Menschenbild des Grundgesetzes 109 3. Begriff und Inhalt der Menschenwürde 113 II. Schutz der Menschenwürde heute . . 1. Strafrecht und Strafverfahren . . . 2. Privat- und Intimbereich 3. Probleme der künstlichen Insemination 4. Probleme der elektronischen Datenverarbeitung

115 116 118 121 122

2. Kapitel. Grundrechte

78 III. Ausblicke 1. Technisierung der Staatstätigkeit . 124 2. Die Verplanung des Menschen . . 126

3. Abschnitt.

Freiheit

und

Gleichheit

(MARTIN K R I E L E )

I. Grundlagen 1. Rechtsprinzip und Menschenwürde 129 2. Andere Gründe für Freiheit und Gleichheit 130 3. Freiheit und Gleichheit als Leitprinzipien der Verfassungsinterpretation 132 II. Zum Verhältnis Gleichheit

von

Freiheit

und

III. Die staatsrechtliche Basis gleicher Freiheit 1. Gewaltmonopol 2. Gewaltenteilung 3. Bürgerliche und politische Rechte a) Rechtfertigungsbedürftigkeit der Freiheitsbeschränkung . . . b) Rechtfertigende Gesetzeszwecke c) Bürgerliche und politische Rechte als Menschenrechte . . 4. Demokratie

133 135 136 137 139 139 140 141 143

IV. Soziale Gerechtigkeit und formale Rechtsgeltung 1. Ist das allgemeine Gesetz ungerecht? 2. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte . . . . 3. Das Allgemeine Gesetz 4. Die Präjudizienvermutung in Rechtsprechung und Verwaltung 5. Das Ethos der Repräsentation . . 6. Der unendliche Kampf um Freiheit und Gleichheit

145 146 148 149 150 151

V. Aktuelle Beispiele für Privilegien und Diskriminierungen 1. Duldung von Widerstand . . . . 152 2. Verzicht auf Gesetzesvollzug . . . 153 3. Rollenorientierte Rechtsprechung 155 VI. Die „sozialistische" Alternative 1. Freiheit und Gleichheit durch „Absterben des Staates"? a) Entbehrlichkeit von Entscheidungen und Zwangsgewalt? . . b) Uberwindung antagonistischer Konflikte? 2. Der Umschlag in den Absolutismus

158 158 159 160

VII. Verfassungsverteidigung und Diskriminierungsverbot 1. Gleichberechtigung freiheitsfeindlicher Bestrebungen 163 2. Verfassungstreue der Beamten . . . 165

1. Abschnitt

Bestand und Bedeutung"' KONRAD HESSE

I. Die Grundrechte in der Welt von heute Ein wichtiges Kennzeichen der gegenwärtigen Weltentwicklung ist die wachsende Bedeutung der Grundrechte. Sie manifestiert sich in den Bemühungen der Vereinten Nationen, die zu der Deklaration der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 1 und in neuerer Zeit zu den Internationalen Pakten über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte geführt haben 2 . Sie zeigt sich in der Aufnahme von Grundrechten in die neuesten Staatsverfassungen wie etwa diejenigen Portugals und Spaniens. Sie wird deutlich in der Anerkennung von Grundrechten im Recht der Europäischen Gemeinschaften 3 sowie in dem steigenden Gewicht, das der Europäischen Konvention für Menschenrechte 4 und der Rechtspre* D e r folgenden Darstellung liegt der Bericht des Verfassers über Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland für die IV. Konferenz der europäischen Verfassungsgerichte vom 16. bis 18. O k t o b e r 1978 in Wien zugrunde ( E u G R Z 1978, 4 2 7 f f ) , der ergänzt und um einige A b schnitte erweitert worden ist. 1 Diese Deklaration enthält allerdings nur Richtlinien, nicht unmittelbar verpflichtendes Völkerrecht und ist darum auch innerstaatlich nicht gemäß Art. 25 G G verbindlich. 2 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 ( B G B l . 1973, II, S. 1534); Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 1966 ( B G B l . 1973 II, S. 1570). D i e Europäische Sozialcharta vom 18. 10. 1961 (Gesetz vom 19. 9. 1964, B G B l . II, S. 1201) begründet nur völkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten, nicht individuelle Rechte der Bürger. Zu den Internationalen Pakten: CHR. TOMUSCHAT D i e Bundesrepublik Deutschland und die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen, Vereinte N a -

3

tionen 1978, S. 1 ff; W . - K . GECK Der internationale Stand des Schutzes der Freiheitsrechte: Anspruch und Wirklichkeit, Z a ö R V 38, 1978, S. 182, bes. S. 2 0 5 f f ; M . ZULEEG D e r Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, R d A 1974, S. 321, 324. Zur Europäischen Sozialcharta: W. WIESE D i e Europäische Sozialcharta, J I R 16, 1973, S. 328ff. Vgl. dazu oben S. 66ff. Grundrechtsschutz in E u r o p a , hrsg. von H . MOSLER/R. BERNH A R D T / M . H I L F 1 9 7 6 , S. 51 f f ; P . PESCATORE

4

Bestand und Bedeutung der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften, E u G R Z 1978, S. 441 ff. Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11. 1950 ( B G B l . II, S. 686). Vgl. dazu K . J . PARTSCH Die Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: D i e Grundrechte, hrsg. von BETTERMANN/NEUMANN/ NIPPERDEY I, 1, 1 9 6 6 S. 2 3 5 f f ; H .

GURADZE

D i e Europäische Menschenrechtskonvention. Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nebst Zusatzproto-

2. Kapitel. Grundrechte

80

chung des zur Sicherung dieser Rechte geschaffenen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zukommt. Sie wird endlich sichtbar darin, daß auch die Verfassungen der sozialistischen Staaten den Gedanken der Grundrechte aufgenommen haben, wenngleich sie ihn prinzipiell anders verstehen als die westlichen Demokratien, so daß dieselbe Garantie im Kontext einer sozialistischen Verfassung etwas durchaus anderes bedeuten kann als im Text der Verfassung einer westlichen Demokratie 5 — die Schwierigkeiten, die sich hieraus ergeben, haben die KSZE-Konferenzen deutlich hervortreten lassen. Es gibt mithin nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Unterschiede, und dies gilt nicht nur für jene Grunddifferenz. Auch im engeren Bereich der westlichen Demokratien zeigen sich deutliche Verschiedenheiten. Sieht man auf die Art der Gewährleistung von Grundrechten, so reichen die Lösungen von der Normierung eines detaillierten Grundrechtskatalogs in der Verfassung (wie etwa in der Bundesrepublik) über die Bezugnahme auf eine historische Menschenrechtserklärung (so in Frankreich) bis hin zu einer Geltung der Grundrechte als ungeschriebene Gewährleistungen (so im wesentlichen in Großbritannien); in ähnlicher Weise unterscheiden sich die Ausgestaltung im einzelnen, das Ausmaß der Bindung des Gesetzgebers oder die richterliche Kontrolle der Einhaltung von Grundrechten. Diese Verschiedenheiten spielen freilich für die Beachtung der Menschenrechte in der Wirklichkeit des staatlichen Lebens oft keine ausschlaggebende Rolle: Länder wie Frankreich oder Großbritannien, in denen die Grundrechte eine weit weniger vollkommene juristische Ausgestaltung und Sicherung gefunden haben als in der Bundesrepublik, sind sicher nicht weniger freiheitlich als diese. Dort bewirken Tradition und politische Kultur, was hier Gegenstand sorgfältig ausgebauter institutioneller Sicherungen ist. Darin zeigt sich, daß die tatsächliche Wirksamkeit der Grundrechte nicht ohne weiteres von dem Grad ihrer rechtlichen Ausformung und Sicherung abhängen muß, daß es vielmehr verschiedene Wege gibt, derselben Aufgabe gerecht zu werden — die alle ihre Vorzüge und Nachteile haben. Welchen Weg ein staatliches Gemeinwesen einschlägt oder beibehält, ist in weitem Umfang von seiner Geschichte abhängig. Auch die besondere Art der Gewährleistung und Sicherung der Grundrechte im Verfassungsrecht der Bundesrepublik läßt sich nur verstehen, wenn man die Geschichte der Grundrechte und die Erfahrungen ins Auge faßt, welche sich mit dieser verbunden haben.

II. Zur Entwicklung der Grundrechte in Deutschland Die Grundrechte, die im ausgehenden 18. Jahrhundert mit den großen Erklärungen der Menschenrechte, den Bills of Rights in Amerika und den französischen Deklara-

kollen, 1968. H . GOLSONG Der Schutz der Grundrechte durch die E M R K und seine Mängel, in: MOSLER/BERNHARDT/HILF (Anm. 3) S. 7 f f .

5

Vgl. dazu etwa E.-W. BÖCKENFÖRDE Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, 1967, S. 43 ff.

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

81

tionen von 1789 bis 1795 ihren Siegeszug angetreten hatten 6 , haben im 19. Jahrhundert nur zögernd in die Verfassungen der deutschen Einzelstaaten Eingang gefunden, so etwa in die Verfassungen Bayerns und Badens von 1818, die Verfassung Württembergs von 1819 oder — wesentlich später — die preußische Verfassung von 1850. Aber auch dort, wo sie Bestandteil der Verfassung geworden waren, haben sie keine nennenswerte praktische Rolle gespielt 7 . Zu grundlegender Wirksamkeit sollten sie erstmals bei dem Versuch einer Reichsgründung nach der Revolution von 1848 gebracht werden. Die Frankfurter Nationalversammlung begann die Arbeit an der neuen Reichsverfassung mit der Beratung und Verabschiedung eines umfassenden Grundrechtsteils, der zur Grundlage der nationalen Einheit des Deutschen Volkes werden sollte. Dieser Versuch ist gescheitert. Das Deutsche Reich, das dann 1871 begründet wurde, beruhte nicht auf der Grundlage der Rechte des Volkes, sondern auf den Rechten der Fürsten; folgerichtig enthielt die Reichsverfassung von 1871 keine Grundrechte. Mit dem Übergang zur republikanischen und demokratischen Staatsform nach der Revolution von 1918 gewannen die Grundrechte erstmals Eingang in die Reichsverfassung. In der Nationalversammlung von 1919 wurde der Gedanke vertreten, daß ihnen nach dem Ende der Monarchie allem voran integrierende Bedeutung zukommen müsse; der auf diesem Gedanken fußende Entwurf F R I E D R I C H N A U M A N N S 8 hatte die Gestaltung des Grundrechtsteils der Reichsverfassung nicht unwesentlich beeinflußt. Aber zu umfassender Entfaltung und Wirksamkeit sind die Grundrechte auch während der Zeit der Weimarer Republik nicht gelangt. Zu stark wirkte die Vergangenheit nach, und für die vorherrschende Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum galt nichts anderes: Sie erblickte den rechtlichen Gehalt der Grundrechte — in Fortführung namentlich der Lehren G E O R G J E L L I N E K S , die das Wesentliche der Grundrechte in ihrer Eigenart als Ausformungen staatlicher Selbstbeschränkung und staatlich verliehener Willensmacht gesehen hatten 9 — in einer bloßen Modifikation des bestehenden spezialgesetzlichen Zustands und legte demgemäß die Grundrechte eher privat- und verwaltungsrechtlich als staatsrechtlich aus. Von hier aus wurden die Grundrechte im Prinzip als Ausdruck des Rechts auf Freiheit von ungesetzlichem Zwang angesehen. Rechtliche Sicherungen gegen eine Durchbrechung, Aushöhlung, Änderung oder Aufhebung fehlten; sie wären mit diesem Grundrechtsverständnis unvereinbar gewesen. Zwar wurde von einem Teil der deutschen Staatsrechtslehre die Bedeutung der Grundrechte in zunehmendem Maße erkannt und herausgearbeitet; aber diese gegen den herrschenden Formalismus und Positivismus sich wendenden Richtungen 10 haben sich bis zum Jahre 1933 nicht durchsetzen können. So konnten

6

7

Zur Geschichte der Grundrechte: G. OESTREICH Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in: Die Grundrechte (Arnn. 4) I, 1, S. 5ff.

8

Vgl. dazu R . WAHL Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, Der Staat 18, 1979, S. 321 ff.

9

Antrag N r . 82 — Versuch volksverständlicher Grundrechte

von

Abg.

D.

NAUMANN

handlungen der Nationalversammlung 336, S. 171 ff.

10

Ver-

Bd.

System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, bes. S. 81 ff. Zu nennen sind namentlich E . KAUFMANN Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des

2. Kapitel. Grandrechte

82

die Grundrechte die Beseitigung der demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsordnung durch den Nationalsozialismus nicht aufhalten, ja nicht einmal in nennenswertem Umfang hindern. Was folgte, war die beispiellose Mißachtung der Menschen- und Bürgerrechte in den 12 Jahren nationalsozialistischer Herrschaft bis zur bedingungslosen Kapitulation des Reiches im Jahre 1945. In dieser, hier nur in aller Kürze skizzierten Entwicklung unterscheidet sich Deutschland namentlich von den großen westlichen Demokratien. Sie erklärt die Besonderheit der Grundrechtssituation in der Bundesrepublik: Bei ihrer Entstehung fehlte das kostbare Gut einer Tradition, kraft deren der Gehalt der Grundrechte unanfechtbare Grundlage politischen Lebens ist und die das Bewußtsein von Regierenden und Regierten prägt. Dies und die Erfahrung eines totalitären, Humanität und menschliche Freiheit verachtenden Regimes haben nach 1945 zu dem Bestreben geführt, in der neuen Ordnung Humanität und Freiheit, die nicht als selbstverständliche Grundlage der Staatlichkeit betrachtet werden konnten, so zuverlässig wie möglich zu begründen und zu festigen. So ist diese neue Ordnung im Eingangsartikel des Grundgesetzes auf das unbedingte und unverfügbare oberste Prinzip der Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 G G ) und die Anerkennung unverletzlicher und unveräußerlicher Menschenrechte gegründet (Art. 1 Abs. 2 GG). Grundrechte und die Möglichkeiten ihrer Beschränkung sind im einzelnen durch positives Verfassungsrecht normiert; das Grundgesetz sucht die rechtliche Geltung der Grundrechte so fest wie möglich zu sichern, und es unterwirft ihre Beachtung einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle. Das, was im Text des Grundgesetzes angelegt ist, hat die Rechtsprechung, vor allem diejenige des Bundesverfassungsgerichts, in umfassender Weise entfaltet, ausgebaut und fortentwickelt. Der gleichen Aufgabe hat sich in wechselndem Geben und Nehmen mit der Rechtsprechung die deutsche Staatsrechtswissenschaft angenommen, die heute andere Wege geht als diejenige der Weimarer Zeit. Insgesamt hat dies zu einer Situation geführt, in der die Grundrechte nicht nur das staatliche, sondern das gesamte Rechtsleben in der Bundesrepublik bestimmen und prägen. Ihnen kommt eine in der deutschen Verfassungsgeschichte bisher unbekannte Bedeutung zu. Diese Lage ist im folgenden näher darzustellen.

III. Der Bestand der Grundrechte 1. Grundrechtsgewährleistungen im geltenden Recht Dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik entsprechend enthalten nicht nur das Grundgesetz, sondern auch die Mehrzahl der Landesverfassungen11 Grundrechte. Art. 109 der Reichsverfassung, W D S t R L 3, 1927, S. 2 ff; R. SMEND Das Recht der freien Meinungsäußerung, 1928, jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 91 ff; C . SCHMITT Verfassungslehre, 1928, S. 1 6 3 ff.

11

Namentlich in den vor dem Grundgesetz in Kraft getretenen Landesverfassungen (Bayern, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland) ist der Katalog der Grundrechte umfassender als derjenige des Grundgesetzes. Von den nach dem Grundgesetz entstandenen

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

83

Daneben ist innerstaatlich als Bundesrecht anwendbar die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950. Schließlich ist die Bundesrepublik der Europäischen Sozialcharta vom 8. Oktober 1961 und den Internationalen Pakten über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 beigetreten (vgl. oben S. 79). Das Nebeneinander aller dieser Gewährleistungen führt indessen zu keinen schwerwiegenden Problemen: Angesichts einer weitgehenden inhaltlichen Ubereinstimmung der Grundrechte des Grundgesetzes, der Grundrechte der Landesverfassungen und der Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention spielen die Kollisionsfragen, welche sich aus der gleichzeitigen, wenn auch abgestuften Geltung mehrerer Grundrechtsgewährleistungen ergeben können, in der Praxis kaum eine Rolle. Für den Bundes- und Landesgesetzgeber, die vollziehende und rechtsprechende Gewalt, aber auch in der wissenschaftlichen Bearbeitung und nicht zuletzt im Bewußtsein der Bevölkerung stehen die Grundrechte des Grundgesetzes weit im Vordergrund. Das rechtfertigt es, die Darstellung auf die Grundrechte des Grundgesetzes zu beschränken. 2. Übersicht über die Grundrechte des Grundgesetzes Als erste gesamtstaatliche Verfassung stellt das Grundgesetz den Katalog von Grundrechten an den Anfang der Verfassung (Art. 1 — 19); es verleiht damit einem Grundzug der neuen demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung Ausdruck: der konsti tu tierenden Bedeutung der Grundrechte für diese Ordnung nach der Zeit der Mißachtung und schwerer Verletzungen der Menschenrechte durch das nationalsozialistische Regime. Dieser Katalog ist freilich nicht abschließend. Auch in den weiteren Abschnitten des Grundgesetzes sind Rechte gewährleistet, die als Grundrechte anzusehen sind (z. B. Art. 33, 101 oder 103) und die im früheren deutschen Staatsrecht auch Aufnahme in die Grundrechtskataloge der Verfassungen gefunden hatten. In ihrer Gesamtheit beschränken sich die Grundrechte des Grundgesetzes jedoch im wesentlichen auf die klassischen Menschen- und Bürgerrechte. Die Schöpfer des Grundgesetzes haben bewußt davon abgesehen, über jene Rechte hinausgehende Regelungen des wirtschaftlichen, des sozialen und des kulturellen Lebens in der Form grundrechtlicher Gewährleistungen aufzunehmen, wie sie — nach der herrschenden Auffassung allerdings nur als unverbindliche, an den Gesetzgeber gerichtete Programme — in der Reichsverfassung von 1919 enthalten waren. Landesverfassungen haben diejenigen von Nordrhein-Westfalen (Art. 4) und BadenWürttemberg (Art. 2) die Grundrechte des Grundgesetzes im Wege einer Verweisung rezipiert; beide gewährleisten zugleich weitergehende Grundrechte. Keine Grundrechte enthalten die Verfassungen von Hamburg und Niedersachsen sowie die Landessatzung für Schleswig-Holstein. In diesen Ländern hat es bei der Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes sein Bewenden. Soweit die

Landesverfassungen in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz Grundrechte gewährleisten (Art. 142 G G ) oder auf die Grundrechte des Grundgesetzes verweisen, besteht kein U n terschied der materiellen Rechtslage. Soweit sie weitergehende Grundrechte als das Grundgesetz normieren, dürfen sie sich wegen Art. 31 G G nicht in Widerspruch zu der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes setzen.

2. Kapitel. Grundrechte

84

Neben dem Schutz der Menschenwürde 12 umfassen die grundrechtlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes Freiheitsrechte, Gleichheitsrechte sowie eine Reihe weiterer Verbürgungen, wie die Garantie des Eigentums und des Erbrechts (Art. 14 G G ) oder diejenige von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG). Die mit diesen Gewährleistungen zusammenhängenden Fragen werden im folgenden zu einem Teil in gesonderten Abschnitten behandelt. Für die übrigen Grundrechte ist, der Anlage dieses Handbuchs entsprechend, nur ein kurzer Uberblick über deren Bestand zu geben. Für weiteres muß auf die Lehrbücher des Staatsrechts 13 , die Kommentare zum Grundgesetz 14 und die dort nachgewiesene Rechtsprechung und Spezialliteratur verwiesen werden. a) Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes umfassen eine Reihe konkreter Grundfreiheiten sowie das allgemeine Freiheitsrecht der „freien Entfaltung der Persönlichkeit" (Art. 2 Abs. 1 GG). Die Gewährleistungen konkreter Grundfreiheiten beginnen mit Art. 2 Abs. 2 G G , der die elementaren rechtlichen Voraussetzungen menschenwürdiger Existenz zu schützen sucht: das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Satz 1) und die Freiheit der Person (Satz 2). In dem ersten dokumentiert sich die Abkehr von einer Vergangenheit, welcher der Respekt vor dem menschlichen Leben und vor der körperlichen Integrität des Menschen fremd war. Darüber hinaus ist es für die Beurteilung zahlreicher Einzelfragen von wesentlicher Bedeutung, unter denen gegenwärtig die Bedeutung bei einer Gefährdung oder Beeinträchtigung der Umwelt, namentlich durch technische Großanlagen wie Kernkraftwerke und Flugplätze, besonders hervortritt 15 . Das nicht minder bedeutsame Grundrecht der Freiheit der Person gewährleistet die körperliche Bewegungsfreiheit, die weder beschränkt noch durch Festnahme, Einschließung usw. entzogen werden darf. Verstärkt und gesichert wird dieses Grundrecht durch Art. 104 G G , der besondere formelle Voraussetzungen und Verfahrensgarantien für die nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 G G zulässigen Eingriffe normiert. In nahem Zusammenhang mit der Verbürgung der Freiheit der Person steht die Gewährleistung der Freizügigkeit durch Art. 11 Abs. 1 G G , die das Recht gewährleistet, frei über den eigenen Aufenthalt und Wohnsitz zu verfügen. Der Bereich der persönlichen Lebensführung wird schließlich durch das Grundrecht der

12

13

Vgl. dazu die weiteren Abschnitte dieses Kapitels. E . DENNINGER Staatsrecht 2, 1979, S. 135ff; K . DOEHRING Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1980, S. 2 8 0 f f ; K. HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 1982, S.

111 f f ; T H .

MAUNZ/R.

ZIPPELIUS

SCHMIDT-BLEIBTREU/F.

T H . MAUNZ / G . DÜRIG / R . HERZOG /

R.

SCHOLZ Grundgesetz, Kommentar, z. Zt. 19.

KLEIN

Kommentar

zum Grundgesetz, 4. Aufl. 1977; H . v. MANGOLDT/F.

Deut-

sches Staatsrecht, 24. Aufl. 1982, S. 130ff; E. STEIN Staatsrecht, 8. Aufl. 1982. S. 106ff, 161 ff. 14

L i e f e r u n g 1 9 8 1 ; K O M M E N T A R ZUM B O N N E R

GRUNDGESETZ (Bonner Kommentar); z. Zt. 43. Lieferung Oktober 1981; I. v. MÜNCH (Hrsg.) Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1981; Bds 3, l . A u f l . 1978; B.

15

KLEIN D a s Bonner

Grundgesetz,

2. Aufl. 1 9 5 7 - 1 9 7 4 ; G . LEIBHOLZ/H. J . RINCK Grundgesetz, 7. Aufl. 1981. Vgl. dazu B V e r f G E 53, 30 (57ff); 56, 54 (73 ff) m . w . N .

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

85

Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 G G ) 1 6 sowie die Garantie des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 G G ) geschützt. Grundvoraussetzungen geistiger Freiheit gewährleisten die Freiheitsrechte der Art. 4 und 5 G G . Durch das erste werden die Freiheit des Glaubens, des Gewissens, des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sowie die Kultusfreiheit geschützt (Art. 4 Abs. 1 und 2 G G ) 1 7 . Zu diesen tritt das Recht, den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern (Art. 4 Abs. 3 G G ) 1 8 . Die durch das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 G G gewährleistete Meinungsfreiheit umfaßt die Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit (Satz 1), die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film (Satz 2); diese Freiheiten werden durch das Verbot einer (Vor-) Zensur ergänzt (Satz 3). Dabei bilden die Grundrechte des Satzes 1 den menschenrechtlichen Kern der Meinungsfreiheit. Wenn neben ihnen die Pressefreiheit sowie die Freiheit von Rundfunk 1 9 und Film gewährleistet werden, so werden diese Freiheiten zu einem Teil bereits von der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit umfaßt. Soweit ihre Bedeutung über diejenige des Satzes 1 hinausreicht, dienen sie dem Schutz freier Meinungsäußerung und Information unter den besonderen Bedingungen der modernen Massenkommunikation 2 0 . Insgesamt sichert das Grundrecht einen freien und offenen Prozeß der Meinungsbildung, insbesondere die Entstehung und Wirksamkeit einer öffentlichen Meinung. Es ist darum für die demokratische Ordnung des Grundgesetzes „schlechthin konstituierend" 2 1 . Während die in Art. 5 Abs. 3 G G gewährleistete Freiheit von Kunst und Wissenschaft als gegenüber der Meinungsfreiheit selbständiges Grundrecht dem Schutz dieser Lebensbereiche in ihrer besonderen Eigengesetzlichkeit und Eigenständigkeit gilt 2 2 , stehen die Versammlungsfreiheit (Art. 8 G G ) und die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 G G ) in engem inneren Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit. „Versammlungen", zu denen auch Demonstrationen zu rechnen sind, sind ein wirksames Mittel, Meinungen zur Geltung zu bringen und zu bilden. Ebenso ist der Zusammenschluß zu Vereinigungen gerade unter den Voraussetzungen der Gegenwart ein unentbehrliches Mittel, Meinungen zu bilden, zu pflegen und zu verbreiten. Die Freiheit der Bildung und Tätigkeit der Verbände, ihr Einfluß auf die öffentliche Meinung und ihr Anteil an der „Vorformung des politischen Willens" finden in Art. 9 Abs. 1 G G ihre verfassungsrechtliche Grundlage und ihren Schutz 2 3 . Allerdings reicht die Tragweite der Vereinigungsfreiheit über ihren Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit hinaus. Sie enthält ein Grundprinzip des Aufbaus des Gemeinwe-

16

17

18

19 20

Vgl. dazu B V e r f G E 32, 54 (68ff) m. w. N . ; 51, 97 (105 ff). Für den Schutz der Religionsfreiheit durch Art. 4 G G vgl. unten S. 1064. Vgl. dazu B V e r f G E 12, 45 (53ff); 48, 127 (163 ff). Zu diesen unten S. 389ff. So für die Rundfunkfreiheit B V e r f G E 57, 295 (319 ff).

21 22

23

B V e r f G E 7, 198 (208). Praktische Bedeutung hat das Grundrecht in jüngerer Zeit vor allem für die Ordnung der inneren Struktur der Hochschulen gewonnen. Grundlegend dazu B V e r f G E 35, 79 (120 ff). Vgl. dazu unten S. 373ff und S. 632ff.

86

2. Kapitel. Grundrechte

sens, nämlich dasjenige freier sozialer Gruppenbildung: Das soziale System soll weder in ständisch-korporativen Ordnungen Gestalt gewinnen, wie sie namentlich das Kennzeichen älterer Sozialordnungen waren, noch in der planmäßigen Formung und Organisation durch den Staat nach den Maßstäben eines von der herrschenden Gruppe diktierten Wertsystems, wie sie den totalitären Staat der Gegenwart kennzeichnet 24 . Speziell für Zusammenschlüsse zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gewährleistet das Grundrecht der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) die freie Gründung und Tätigkeit dieser Organisationen 25 . Es enthält damit ebenso ein wichtiges Element der Ordnung des Wirtschaftslebens wie das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) 2 6 . Beide gelten zugleich und in erster Linie der Sicherung freier Lebensgestaltung. In diesem Sinne schützt Art. 12 Abs. 1 G G in unterschiedlicher Intensität 27 die freie Wahl und die freie Ausübung des Berufs sowie die freie Wahl von Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte28. Uber die hier im Umriß dargestellten einzelnen Grundfreiheiten hinaus gewährleistet das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Freiheit in einem allgemeineren Sinne: Das Grundrecht schützt die „allgemeine Handlungsfreiheit", freilich nur im Rahmen der „verfassungsmäßigen Ordnung", womit diese Freiheit unter den Vorbehalt jeder verfassungsmäßigen Rechtsnorm gestellt wird 29 . Ein intensiverer Grundrechtsschutz ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 G G in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 G G für den engsten persönlichen Lebensbereich, namentlich die Privat- und Intimsphäre. Insofern gewährleistet Art. 2 Abs. 1 G G in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 G G verfassungsrechtlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das sich als Recht auf Respektierung des geschützten Bereichs von dem „aktiven" Element der freien Entfaltung der Persönlichkeit, der „allgemeinen Handlungsfreiheit", abhebt 30 . b) Ähnlich wie die Freiheit ist auch rechtliche Gleichheit durch eine Reihe spezieller Gleichheitsrechte und durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) grundrechtlich geschützt. Die speziellen Gleichheitsrechte verbieten bestimmte Differenzierungen. So darf nach Art. 3 Abs. 3 G G niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Weittragende Auswirkungen hat in diesem Zusammenhang Art. 3 Abs. 2 G G , der die Gleichberechtigung von Männern und Frauen normiert, sowie Art. 6 Abs. 5 G G , auf dessen Grundlage die Gesetzgebung gleiche Bedingungen für die nichtehelichen Kinder geschaffen hat. 24 25 26 27 28

BVerfGE 50, 290 (353). Vgl. dazu unten S. 635 ff und 733 ff. Vgl. dazu unten S. 621 ff und 653ff. Dazu grundlegend BVerfGE 7, 377ff. Das Grundrecht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte hat bislang nur bei absoluten Zu-

29 30

lassungsbeschränkungen für den Zugang zum Hochschulstudium Bedeutung gewonnen. Vgl. dazu vor allem BVerfGE 33, 303 (329f). BVerfGE 6, 32 (36ff). Dazu BVerfGE 54, 148 (153f).

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

87

Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet als Gleichheit vor dem Gesetz die ausnahmslose Verwirklichung des bestehenden Rechts ohne Ansehen der Person. Darüber hinaus normiert er das Prinzip inhaltlicher Rechtsgleichheit, an das auch der Gesetzgeber gebunden ist (Art. 1 Abs. 3 GG): Wesentlich Gleiches ist gleich, wesentlich Ungleiches ist ungleich zu behandeln. Dieses Gebot ist (nur) verfehlt, wenn sich für eine Differenzierung oder Gleichsetzung „ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund nicht . . . finden läßt", wenn also eine Regelung als willkürlich bezeichnet werden muß 31 . Mit dieser in ständiger Rechtsprechung festgehaltenen Formel umschreibt das Bundesverfassungsgericht die Grenzen seiner Kontrollbefugnis gegenüber Rechtsnormen, insbesondere Gesetzen; sie beschränkt Eingriffe des Gerichts auf wenige äußerste Fälle. Gleichwohl ist die Behauptung eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG der häufigste Grund einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts. Schon dies zeigt die besondere praktische Tragweite des Grundrechts. c) Die weiteren Grundrechte des Grundgesetzes entziehen sich einer systematischen Ordnung; auf sie ist noch in der Reihenfolge der Zählung des Textes kurz einzugehen. Ehe und Familie werden in Art. 6 GG gewährleistet, der zugleich einige verfassungsrechtliche Grundregelungen vor allem familienrechtlicher Art trifft 32 . Der folgende Artikel enthält, obwohl er in den Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes aufgenommen ist, nur zu einem Teil eigentliche Grundrechte; in erster Linie regelt er von Bundes wegen einige Grundlagen des Schulwesens, während alles übrige Sache der Gestaltung der hierfür zuständigen Länder ist 33 . Art. 16 GG verbietet es, die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen und Deutsche an das Ausland auszuliefern. Von großer Aktualität ist in jüngerer Zeit Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG, der das Asylrecht für politisch Verfolgte gewährleistet34. Das Petitionsrecht des Art. 17 GG sichert das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. Hinzuweisen ist schließlich auf die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG sowie auf Art. 33 GG, der einige spezielle Gleichheitsrechte und Grundlagen für das Recht des öffentlichen Dienstes normiert35, sowie auf Art. 19 Abs. 4, 101 und 103, die Grundrechte im Bereich der Rechtsprechung gewährleisten und im Zusammenhang mit dieser behandelt werden36. d) Abgesehen von der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung sind alle diese Grundrechte entweder Menschenrechte, deren Geltung nicht auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt ist, oder Bürgerrechte, die nur Deutschen im Sinne des Grundgesetzes zukommen (vgl. Art. 116 Abs. 1 GG); dies ergibt sich unzweideutig aus der Textfassung der einzelnen Grundrechte. Diesen Kreis der Berechtigten dehnt Art. 19 Abs. 3 GG auch auf inländische juristische Personen aus,

31 32 33

BVerfGE 1, 14 (52). Vgl. unten S. 555. Dazu BVerfGE 34, 165 (181 ff). Vgl. auch unten S. 999ff.

34

35 36

Dazu BVerfGE 54, 341 (356ff); 56, (235 ff). Dazu unten S. 1160 ff. Unten S. 1219ff.

216

2. Kapitel. Grundrechte

88

soweit Grundrechte ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Das ist bei juristischen Personen des Privatrechts in weitem Umfang angenommen worden 37 . Dagegen können sich juristische Personen des öffentlichen Rechts, namentlich der Staat selbst oder seine Einrichtungen, nicht auf die Grundrechte berufen; denn die Grundrechte sollen nicht den Staat oder seine Einrichtungen, sondern gegen den Staat und seine Einrichtungen schützen. Ausnahmen gelten nur, wenn eine juristische Person des öffentlichen Rechts unmittelbar einem grundrechtlich geschützten Lebensbereich zugeordnet ist und als eigenständige, vom Staat unabhängige oder jedenfalls distanzierte Einrichtung Bestand hat, wie das bei Kirchen, Universitäten und Rundfunkanstalten der Fall ist 38 . 3. Ausgestaltung, Begrenzung und Schutz der Grundrechte a) Die im Vorangehenden dargestellten Grundrechte werden von der Verfassung nur in wenigen kurzen Sätzen normiert. Sie können praktische Wirksamkeit oft erst im Zusammenhang mit näheren rechtlichen Ordnungen der Lebensverhältnisse und Lebensbereiche gewinnen, die sie gewährleisten sollen: Sie bedürfen einer Ausgestaltung, die in erster Linie Aufgabe der Gesetzgebung ist. In mehreren Fällen gibt die Verfassung hierzu selbst einen Auftrag, indem sie den Gesetzgeber verpflichtet, „das Nähere" zu regeln (z. B. Art. 4 Abs. 3 Satz 2 G G für das Grundrecht, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern). Rechtliche Ausgestaltung kann sich aber auch unabhängig von einem solchen Auftrag als notwendig erweisen. Besonders deutlich wird dies bei Gewährleistungen wie denjenigen von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) oder der Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG); es gilt aber auch für Freiheitsrechte, wie z. B. die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG), die Vereinigungs- oder die Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG). b) Von solcher Ausgestaltung zu unterscheiden ist die Begrenzung von Grundrechten, die namentlich für die Freiheitsrechte eine wesentliche Rolle spielt. Unbeschränkte Freiheit oder unbeschränkter Gebrauch des Eigentums können dazu führen, daß andere Belange beeinträchtigt werden, seien es die Rechte Dritter, seien es wesentliche Belange der Allgemeinheit. Es bedarf daher einer Zuordnung von grundrechtlichen Gewährleistungen und anderen Rechtsgütern, durch welche ein Ordnungszusammenhang hergestellt wird, in dem sowohl die grundrechtlichen Gewährleistungen als auch jene anderen Rechtsgüter Wirklichkeit gewinnen. Zur Erfüllung dieser Aufgabe sieht jede Verfassung Begrenzungen von Grundrechten vor. Nach dem Grundgesetz können sich solche Begrenzungen zunächst aus der Verfassung selbst ergeben. Dies kann in der gewährleistenden Norm selbst, „immanent", geschehen (z. B. in der Beschränkung des Grundrechtsschutzes durch die Versammlungsfreiheit auf „friedliche Versammlungen" [Art. 8 Abs. 1 GG]) oder in anderen Verfassungsnormen, sei es ausdrücklich (z. B. Art. 9 Abs. 2 G G , nach dem 37

Die Rechtsprechung hat auch (zivilrechtlich) nichtrechtsfähige Personengruppen nach der Bedeutung des jeweiligen Grundrechts für diese Personengruppen und nach ihrer

Rechtsstellung im allgemeinen Recht als grundrechtsfähig angesehen, z. B . Offene Handelsgesellschaften ( B V e r f G E 4, 7 [12]). Vgl. dazu B V e r f G E 45, 63 (78ff).

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

89

Vereinigungen verboten sind, deren Ziele oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten), sei es der Sache nach, nämlich dann, wenn einem Grundrecht durch andere Grundrechte oder sonstige Normen der Verfassung Grenzen gezogen sind (z. B. der Meinungsäußerungsfreiheit [Art. 5 Abs. 1 GG] durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht [Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG]). Freilich kann die Verfassung nicht im voraus alle Grenzen der Grundrechte selbst festlegen. Sie überläßt diese Aufgabe daher vielfach nach Maßgabe der notwendigen Differenzierungsmöglichkeiten dem Gesetzgeber, indem sie der grundrechtlichen Gewährleistung einen Gesetzesvorbehalt anfügt, durch den der Gesetzgeber ermächtigt wird, Grundrechte selbst („durch Gesetz") zu begrenzen oder der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt durch Umschreibung tatbestandlicher Voraussetzungen eine Begrenzung zu ermöglichen (z. B. — hier in der Reichweite der Ermächtigung näher bestimmt — Art. 11 Abs. 2 GG für die Freizügigkeit oder — ohne eine solche Qualifizierung — Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG für die Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person)39. Da allerdings Gesetzesvorbehalte nur den Gesetzgeber zur Beschränkung von Grundrechten ermächtigen, ist eine selbständige Begrenzung von Grundrechten durch die vollziehende oder die rechtsprechende Gewalt unzulässig. Der Gesetzgeber muß die Voraussetzungen der Begrenzung so genau bestimmen, daß die Befugnis zur Begrenzung nicht ganz in das Verwaltungs- oder in das richterliche Ermessen gestellt wird 40 . c) In dem dargestellten Bestand, einschließlich der Möglichkeit einer Begrenzung, gleichen die heutigen Grundrechte im wesentlichen denjenigen früherer deutscher Verfassungen. Weit über diese hinaus geht das Grundgesetz in dem Bestreben, die rechtliche und tatsächliche Geltung der Grundrechte umfassend und wirksam zu sichern und damit Entwicklungen vorzubeugen, wie sie im Scheitern der Weimarer Republik und in den Jahren des Nationalsozialismus zutage getreten sind: Es bindet ausdrücklich alle staatlichen Gewalten, auch den Gesetzgeber, an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3). Es schließt eine legale Durchbrechung und eine Aushöhlung von Grundrechten aus; Gesetze dürfen von einem Grundrecht auch dann nicht abweichen, wenn sie mit den für Verfassungsänderungen erforderlichen Mehrheiten beschlossen werden (Art. 79 Abs. 1 GG); soweit Freiheitsrechte durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden können, darf das Gesetz das Grundrecht nicht in seinem Wesensgehalt antasten (Art. 19 Abs. 2 GG). Darüber hinaus ist die Änderung oder Aufhebung von Grundrechten im Wege der Verfassungsänderung begrenzt durch das Verbot verfassungsändernder Gesetze, welche die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berühren, also das oberste Konstitutionsprinzip der „Würde des Menschen", die Grundsätze der republikanischen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung und das Sozialstaatsprinzip (Art. 79 Abs. 3 GG). Soweit

39

Auch die Regelungsvorbehalte in A r t . 12 Abs. 1 Satz 2 und 14 Abs. 1 Satz 2 G G ermächtigen zur Beschränkung der gewährlei-

40

steten Grundrechte; sie enthalten aber in erster Linie einen Auftrag zur Ausgestaltung. Vgl. dazu etwa B V e r f G E 20, 150 ( 1 5 7 f f ) ; 52, 1 (41).

2. Kapitel. Grundrechte

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die Grundrechte solche Grundsätze oder wesentliche Elemente solcher Grundsätze enthalten, sind sie damit jeder Verfassungsänderung entzogen. Im Falle eines Staatsnotstands ist weder eine zeitweilige Außerkraftsetzung zulässig noch eine generelle Beschränkung von Grundrechten. Ein besonderes Element dieser umfassenden Sicherung und Durchsetzung ist der gerichtliche Schutz der Grundrechte. In der Zeit der Reichsverfassung von 1919 bestanden nur eingeschränkte Möglichkeiten der gerichtlichen Durchsetzung von Grundrechten, mit der Folge, daß die praktische Bedeutung der Grundrechte gering blieb. Nach dem Grundgesetz ist diese Durchsetzung eine lückenlose. Der Schutz der Grundrechte obliegt allen Gerichten; in letzter Verantwortung ist er Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, dem hierbei weitgehende Kompetenzen zukommen 4 1 . Hierfür ist vor allem das Verfahren der Verfassungsbeschwerde von Bedeutung, die jedermann mit der Behauptung erheben kann, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein (Art. 93 Abs. 1 N r . 4 a GG). Sie ist unter besonderen Voraussetzungen auch unmittelbar gegen ein Gesetz zulässig 42 . Besonderheiten gelten auch für Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen. Die Verfassungsbeschwerde eröffnet keinen weiteren Instanzenzug. Bei der Nachprüfung gerichtlicher Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht das Ineinandergreifen von einfachem Recht und Verfassungsrecht zu beachten. Die Feststellung des Tatbestandes, die Auslegung und Anwendung der Vorschriften des einfachen Rechts gehören grundsätzlich zur alleinigen Zuständigkeit der Fachgerichte. Das Bundesverfassungsgericht ist im Prinzip darauf beschränkt zu prüfen, ob bei der Anwendung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte Verfassungsrecht verletzt worden ist 43 .

IV. Die Bedeutung der Grundrechte Die Einsicht in die heutige Bedeutung der Grundrechte eröffnet sich erst, wenn die modernen Problemstellungen und im Zusammenhang damit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten in die Betrachtung einbezogen werden. Der Schutz der Grundrechte ist eine der wesentlichen Aufgaben des Gerichts. Dieser ist es durch eine weitreichende Rechtsprechung nachgekommen, in der Inhalt und Bedeutung der Grundrechte entscheidende Fortentwicklungen erfahren haben. Da die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden binden, in bestimmten Fällen sogar Gesetzeskraft haben (§31 BVerfGG), gelten die Grundrechte heute in der Bundesrepublik so, wie sie vom Bundesverfassungsgericht interpretiert werden. Bei der folgenden Darstellung ist daher von den Grundlinien dieser Rechtsprechung auszugehen.

41 42

Dazu näher unten S. 1264ff. BVerfGE 1, 97 (101 f), std. Rspr.

43

BVerfGE 18, 85 (92), std. Rspr.

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

91

1. Die Grundrechte als individuelle Abwehrrechte gegen den Staat Die für das Grundgesetz kennzeichnende rechtliche Ausgestaltung der Grundrechte und die besonderen Sicherungen ihrer Geltung, namentlich die Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts, haben vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung in Deutschland voran die Abwehr staatlicher Eingriffe in die individuelle Lebenssphäre zur Aufgabe (vgl. oben S. 81 und S. 88ff). Dies ist auch der Ausgangspunkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, den es bis in die Gegenwart festgehalten hat: Nach ihrer Geschichte und ihrem heutigen Inhalt sind die Grundrechte in erster Linie individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben 44 . Das Gericht hat sich von Anfang an den Ausbau eines effektiven Schutzes dieser Rechte zur Aufgabe gemacht. Durch die Klärung und Festlegung des normativen Inhalts und der Tragweite der einzelnen Grundrechte, ihres Verhältnisses zueinander und der Voraussetzungen ihrer Begrenzung hat es eine gegenüber der Vergangenheit wesentlich gesteigerte tatsächliche Wirksamkeit der Grundrechte durchgesetzt. Dabei hat es sich von der Einsicht leiten lassen, daß der Schutzumfang eines Grundrechts nur im Blick auf die Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit zu erfassen sei, daß mithin ein Wandel dieser Gegebenheiten bei der Auslegung nicht unberücksichtigt bleiben könne, ein Tatbestand, der etwa bei der Bestimmung der Tragweite der Eigentumsgarantie von Bedeutung ist 4S . Darüber hinaus hat das Gericht die Anforderungen konkretisiert, die an eine Einschränkung von Grundrechten zu stellen sind. Daß Grundrechte, die unter dem Vorbehalt gesetzlicher Beschränkung gewährleistet sind, in der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes nicht zur beliebigen Disposition des Gesetzgebers stehen, ergibt sich bereits aus der Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 G G (vgl. oben S. 89). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat jedoch, ohne ausdrücklich auf diese Garantie zurückzugreifen, die Möglichkeit einer Beschränkung von Grundrechten entscheidend eingeengt: Auch wenn Grundrechte unter dem Vorbehalt einer gesetzlichen Beschränkung stehen, sind Einschränkungen nur insoweit zulässig, als sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die Begrenzung muß also geeignet und erforderlich sein, um den mit ihr angestrebten Zweck zu erreichen, und sie muß dem Betroffenen zumutbar sein 46 . Dies gilt sowohl für die Normierung der gesetzlichen Voraussetzungen einer Beschränkung als auch für die Rechtsanwendung im Einzelfalle und beruht auf dem Gedanken, daß die Ermächtigung zur Begrenzung von Grundrechten niemals von der Gewährleistung des Grundrechts gelöst werden dürfe, daß sie vielmehr stets „im Lichte der Bedeutung des Grundrechts" gesehen werden müsse 47 und daß deshalb auch stets die Berücksichtigung des Grundrechts im Rahmen des Möglichen geboten sei 48 .

44 45

BVerfGE 50, 290 (337f). Vgl. dazu BVerfGE 53, 257 (289ff, bes. S. 294).

" Std. Rspr., z. B. BVerfGE 46, 120 (145). Z. B. BVerfGE 17, 108 (117f). 4 » Z. B. BVerfGE 15, 288 (295). 47

92

2. Kapitel. Grundrechte

Soweit Grundrechte ohne den Vorbehalt gesetzlicher Begrenzung gewährleistet sind, können sie nach der Rechtsprechung nicht gesetzlich, sondern nur durch andere Bestimmungen der Verfassung eingeschränkt werden 49 . Auch diese Beschränkungen sind keine einseitigen, so daß es darauf ankommt, einen Ausgleich zu finden, der den Schutz- und Regelungsgehalt beider Bestimmungen im Rahmen des Möglichen berücksichtigt 50 . Insoweit ist die Durchsetzung von Grundrechten oft auf organisations- oder verfahrensrechtliche Regelungen angewiesen, die geeignet sind, jenen Ausgleich herbeizuführen (vgl. unten S. 101 f). 2. Neue Problemstellungen Schon in dieser Verstärkung der Grundrechte als individueller Abwehrrechte gegen den Staat liegt eine Fortentwicklung ihrer Schutzfunktion. Die Verfassungsrechtsprechung ist jedoch auch nach anderen Richtungen weit über das traditionelle Verständnis hinausgegangen. So sind in den letzten Jahrzehnten zu der Bedeutung der Grundrechte als individueller Abwehrrechte gegen den Staat neue Bedeutungsschichten hinzugetreten. Deren Entwicklung ist veranlaßt durch die Veränderung der Bedingungen menschlicher Freiheit in der Gegenwart und der übersehbaren nahen Zukunft: den Wandel des modernen Staates zum Sozialstaat und den Umstand, daß menschliche Freiheit nicht nur durch den Staat, sondern auch durch nicht-staatliche Mächte gefährdet ist, die in der Gegenwart bedrohlicher werden können als die Gefährdungen durch den Staat. a) Die Freiheit des Bürgers ist unter heutigen Verhältnissen nicht allein eine Frage des Freiseins von staatlichen Eingriffen. Freie und autonome Lebensgestaltung hängt vielmehr von Voraussetzungen ab, über die der Einzelne nur zum Teil, oft sogar überhaupt nicht verfügt. Diese Voraussetzungen zu schaffen und zu erhalten ist heute weithin Aufgabe des Staates, der zum planenden, lenkenden, gestaltenden Staat, zum Staat der „Daseinsvorsorge" und der sozialen Sicherung geworden ist. Soweit daher menschliche Freiheit im Blick auf den Staat nicht mehr nur von einem Unterlassen staatlicher Eingriffe in die individuelle Sphäre, sondern von umfassendem staatlichen Tätigwerden abhängt, läßt sie sich durch Grundrechte als subjektive Abwehrrechte nicht mehr gewährleisten. Es erhöht diese Bedeutung des Staates für die Freiheit, wenn in der heutigen begrenzten und zunehmend komplexer werdenden Welt mit ihren knapper werdenden lebenswichtigen Ressourcen viele Freiheitsräume sich nicht erweitern lassen oder sogar dazu tendieren, enger zu werden. Denn in gleichem Maße droht die Freiheit der einen mit der Freiheit der anderen zu kollidieren: Weit mehr als früher bedarf es der Abgrenzung, Begrenzung und Zuordnung der Freiheitsbereiche, die ebenfalls zur staatlichen Aufgabe geworden sind. Besonders deutlich tritt das bei den wirtschaftlichen Freiheiten, aber auch etwa auf dem Gebiet des Bildungswesens hervor; ebenso führt im Bereich der Freiheit der Kommunikation die Entwicklung der modernen

" Z. B. BVerfGE 44, 37 (49f).

s® Z. B. BVerfGE 41, 29 (50f).

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

93

Medien, der Presse und des Rundfunks, zu der Notwendigkeit einer Abgrenzung und Zuordnung divergierender Freiheitsansprüche. b) Auch der zweite Grundtatbestand der Gefährdung menschlicher Freiheit durch nicht-staatliche Mächte führt zu neuen Problemstellungen. Freiheit läßt sich wirksam nur als einheitliche gewährleisten. Sofern sie nicht nur eine Freiheit der Mächtigen sein soll, bedarf sie des Schutzes auch gegen gesellschaftliche Beeinträchtigungen. Wird diese Fragestellung als eine grundrechtliche verstanden, so ermöglicht auch insofern eine Deutung der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat keine Lösung. c) Unter beiden Aspekten: der veränderten Problematik der Freiheit im Blick auf den Staat und auf gesellschaftliche Mächte, läßt sich daher grundrechtliche Freiheit nicht mehr nur als eine staatsfreie Sphäre des Individuums verstehen, die der Staat lediglich zu respektieren hat. Soll diese Freiheit reale Freiheit sein, so setzt sie in weitem Umfang Grundrechtsverwirklichung durch den Staat voraus. Der Staat erscheint damit nicht mehr nur als potentieller Feind der Freiheit, sondern er muß auch zu ihrem Helfer und Beschützer werden. Freilich ist diese Rolle ihrerseits nicht frei von Gefahr. Denn durch eine unbegrenzte Ausweitung staatlicher Verantwortung und staatlicher Aktivitäten, die in eine allumfassende staatliche Fürsorge, Planung und Gestaltung mündet, würde selbstverantwortliche Lebensgestaltung aufgehoben werden. Neben den geschichtlichen Erfahrungen sind es diese beiden Tatbestände, welche die heutige Grundrechtsproblematik in erster Linie kennzeichnen. Für deren Bewältigung durch die Rechtsprechung hat die Herausarbeitung der objektivrechtlichen Bedeutung der Grundrechte eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Auf diese Weise hat die Rechtsprechung neue Dimensionen des Grundrechtsschutzes entwikkelt. Freilich ist sie bisher noch nicht allenthalben zu abschließenden und gesicherten Lösungen gelangt. 3. Die Grundrechte als objektive Prinzipien der Gesamtrechtsordnung a) Der Gedanke, daß die Grundrechte nicht nur subjektive Rechte, sondern zugleich objektive Prinzipien der Verfassungsordnung enthalten, gehört von Anbeginn an zur Tradition der Menschenrechte. In Deutschland hat er indessen nur bei den Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 eine Rolle gespielt. Später ist er wieder verlorengegangen; das bis in die Zeit der Weimarer Republik vorherrschende formale Grundrechtsverständnis war nicht imstande, ihn zu erfassen. Anerkennung hatte nur die Lehre von den institutionellen und Institutsgarantien gefunden, die in Gewährleistungen wie denen der Ehe und Familie, des Eigentums, aber auch der Lehrfreiheit oder der kommunalen Selbstverwaltung nicht subjektive Rechte, sondern verfassungsrechtliche Garantien dieser Rechtsinstitute oder Institutionen als solchen erblickte 51 .

51

Insbesondere C . SCHMITT Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfas-

sung (1931), in: Verfassungsrechtliche A u f sätze, 1958, S. 1 4 0 f f .

2. Kapitel. Grundrechte

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b) Weit über solche Einzelansätze hinaus geht die schon in den Anfängen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte allgemeine Deutung der Grundrechte als objektiver Prinzipien nicht nur der Verfassungsordnung, sondern der gesamten Rechtsordnung schlechthin. Sie nimmt ihren Ausgang von den Unterschieden der Grundrechtsgewährleistung in der Weimarer Verfassung und im Bonner Grundgesetz. Ihre Ausformung hat sie in dem grundlegenden Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 erfahren 5 2 . Danach sind die Grundrechte zwar in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern. Zugleich habe das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein wolle, in seinem Grundrechtsabschnitt aber auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet, und hierin komme eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck. Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde finde, müsse als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfingen von ihm Richtlinien und Impulse. Mit diesem erweiterten Grundrechtsverständnis knüpfte das Bundesverfassungsgericht, wenn auch mit gewissen Modifikationen, an Gedankengänge an, wie sie vor allem von R U D O L F S M E N D als Minderheitsmeinung schon in der Weimarer Republik entwickelt worden waren 5 3 . Das Gericht nahm damit die Tradition der Menschenrechte wieder auf, die seit den frühen Proklamationen von Grundrechten durch ein zugleich subjektiv- und objektivrechtliches Verständnis gekennzeichnet ist. Das Entscheidende war die Abkehr von der bis dahin vorherrschenden formalen Grundrechtsauffassung und die Hinwendung zu einer inhaltlichen, welche die objektivrechtliche Dimension der Grundrechte umfaßt und diese insofern als oberste, einer Relativierung entzogene Prinzipien der Rechtsordnung begreift. Die Begründung dieser Auffassung hat Kritik gefunden 5 4 ; auch bestehen Differenzen in der Frage, wie 52

B V e r f G E 7, 198 (204ff).

53

SMEND a a O ( A n m . 1 0 ) ; DERS. V e r f a s s u n g u n d

54

Verfassungsrecht (1928) in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. A u f l . 1968, S. 2 6 0 f f . Es wird eingewendet, daß der Rekurs auf — in der pluralistischen Gesellschaft umstrittene — „ W e r t e " eine Interpretation der G r u n d rechte nach klaren und einsehbaren Regeln nicht ermögliche, zu einem Einfließen subjektiver Wertungen des Richters und damit zu Einbußen für die Rechtssicherheit führe (zusammenfassend und am eingehendsten: H . GOERLICH Wertordnung und G r u n d g e s e t z , 1973). D o c h hat die Rechtsprechung hier — unter dem lebendigen Eindruck der Erfahrungen der vorangegangenen Jahrzehnte — nur das ausgesprochen, was der historische Sinn und unverzichtbare Kern der durch die neue O r d n u n g konstituierten Grundrechte sein und bleiben mußte: den B e z u g dieser

Rechte auf die Menschenrechte als deren Grundlage und legitimierende Q u e l l e . Für die Interpretation einzelner Grundrechte war der G e d a n k e des „ W e r t s y s t e m s " ein (in gewisser Weise heuristischer) Ansatz angesichts einer Lage, in der es noch weitgehend an einer Erarbeitung des konkreten normativen Inhalts und der Tragweite der Einzelgrundrechte, ihres Verhältnisses zueinander und der Voraussetzungen ihrer Begrenzung fehlte. Diese Erarbeitung ist, wie gezeigt (oben 1), das Werk der seitherigen, im ganzen kontinuierlichen Rechtsprechung gewesen; sie hat einen festen Bestand von Gesichtspunkten und Regeln entwickelt, der es ermöglicht, einzelne Grundrechtsfragen mit Hilfe eines angemessenen juristischen Instrumentariums zu entscheiden und den unvermittelten Rückgriff auf „ W e r t e " weitgehend zu vermeiden.

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

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sich die beiden „Seiten" der Grundrechte zueinander verhalten. Der Gedanke jedoch, daß die Grundrechte oberste normative Prinzipien der Rechtsordnung enthalten, hat sich heute allgemein durchgesetzt. c) Diese Auffassung führt zu Auswirkungen von großer Tragweite, welche die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf dem Gebiet der Grundrechte allenthalben durchziehen. Die Grundrechte beeinflussen das gesamte Recht, einschließlich des Organisations- und Verfahrensrechts, nicht nur, soweit es die Rechtsbeziehungen des Bürgers zu den öffentlichen Gewalten zum Gegenstand hat, sondern auch, soweit es Rechtsbeziehungen von Privatpersonen untereinander regelt (vgl. unten S. 102ff). Insofern sind sie sowohl für den Gesetzgeber als auch für die rechtsanwendenden Instanzen maßgebend, die bei der Setzung, Auslegung und Anwendung der Rechtsnormen dem Einfluß der Grundrechte Rechnung zu tragen haben. Für das Privatrecht — für andere Rechtsgebiete gilt im wesentlichen entsprechendes — hat das Bundesverfassungsgericht diesen Einfluß dahin umschrieben, daß sich der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften entfalte. Diesen fließe von dem grundrechtlichen Wertsystem her ein spezifisch verfassungsrechtlicher Gehalt zu, der fortan ihre Auslegung bestimme. Ein Streit aus solchen grundrechtlich beeinflußten Verhaltensnormen des bürgerlichen Rechts bleibe materiell und prozessual ein bürgerlicher Rechtsstreit; ausgelegt und angewendet werde bürgerliches Recht, wenn auch dessen Auslegung der Verfassung zu folgen habe 5 5 . Verfassungsrecht und einfaches Recht greifen damit ineinander mit der Folge, daß der Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle der getroffenen Entscheidung zum Problem werden kann, weil die Feststellung des Tatbestandes, die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts den zuständigen Fachgerichten vorbehalten sind, während das Bundesverfassungsgericht darauf beschränkt ist zu prüfen, ob bei der Anwendung des einfachen Rechts Verfassungsrecht verletzt worden ist 5 6 . Über diese Auswirkungen hinaus ist das Verständnis der Grundrechte als oberster objektiver Normen der Rechtsordnung von grundsätzlicher, nicht nur theoretischer Bedeutung für die Aufgaben des Staates. Denn die Bindung der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 G G ) enthält von diesem Ausgangspunkt aus nicht nur eine (negative) Verpflichtung des Staates, Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche zu unterlassen, sondern auch eine (positive) Verpflichtung, alles zu tun, um Grundrechte zu verwirklichen, auch wenn hierauf ein subjektiver Anspruch der Bürger nicht besteht. Das gilt namentlich für den Gesetzgeber. Er empfängt von den Grundrechten „Richtlinien und Impulse" 5 7 . Diese können dort, wo grundrechtliche Freiheit ohne die Schaffung 55 56

B V e r f G E 7, 198 (205 f). Insofern muß das Ineinander von einfachem Recht und Verfassungsrecht sozusagen entflochten werden: Es ist zu entscheiden, ob die für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts wesentlichen verfassungsrechtli-

57

chen Elemente erkannt und zumindest vertretbar gewürdigt worden sind (vgl. oben S. 90). B V e r f G E 7, 198 (205). Vgl. auch U . SCHEUNER Die Funktion der Grundrechte im Sozialstaat. Die Grundrechte als Richtlinie und

96

2. Kapitel. Grundrechte

der notwendigen Voraussetzungen ihrer Wahrnehmung leerlaufen würde, eine Verpflichtung begründen, diese Voraussetzungen herzustellen58. Eine konkrete Verpflichtung der staatlichen Organe zu bestimmten Maßnahmen wird sich allerdings in der Regel aus den Grundrechten nicht ableiten lassen. Daran findet auch eine verfassungsgerichtliche Kontrolle ihre Grenzen. 4. Grundrechte als „Teilhaberechte" In dieser Funktion der Grundrechte als „Richtlinien und Impulse" der staatlichen Tätigkeit liegt bereits ein wesentliches Element ihrer Bedeutung im Leistungsstaat der Gegenwart. Die Frage, ob und inwieweit sie über ihre Bindungswirkung für die staatlichen Gewalten hinaus und ihr korrespondierend (subjektive) Rechte des Einzelnen auf staatliche Leistungen enthalten, ist in jüngerer Zeit eingehend diskutiert worden. Ein Verständnis der Grundrechte als „Teilhaberechte" schien nahe zu liegen angesichts der Entwicklung des Staates zum leistenden und fördernden Staat (oben 5. 92) sowie im Blick auf die umfassende Deutung der Grundrechte als oberster Prinzipien der gesamten Rechtsordnung: Wo Freiheit nicht mehr nur durch Abwehr staatlicher Eingriffe gesichert werden kann, wo sie vielmehr weitgehend von der Schaffung und Erhaltung ihrer Voraussetzungen durch den Staat abhängt, scheint sich als Lösung dieser Problematik eine Umdeutung oder Erweiterung der Freiheitsrechte zu Ansprüchen auf jene Schaffung und Erhaltung anzubieten. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich mit der Frage auseinandergesetzt. a) Keine Schwierigkeiten bietet dabei die Frage ,,derivativer" Teilhabeansprüche: Werden einzelne Personen oder Personengruppen in bestehenden Leistungssystemen, z. B. der Sozialversicherung, der Kriegsopferversorgung oder der Ausbildungsförderung, nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt und ist die darin liegende Differenzierung gegenüber den in das System einbezogenen Personengruppen mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 GG) nicht vereinbar, so kann sich aus diesem Grundrecht — gegebenenfalls in Verbindung mit einem einschlägigen Freiheitsrecht und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) — ein Anspruch auf gleiche Teilhabe ergeben. Die Realisierung dieser Ansprüche setzt grundsätzlich eine Ergänzung des maßgebenden Gesetzes voraus; der Bürger kann indessen erreichen, daß das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes feststellt und der Gesetzgeber insoweit verpflichtet wird, den Gleichheitsverstoß zu beseitigen. Solche derivative Teilhabeansprüche unterscheiden sich nicht wesentlich von den herkömmlichen Grundrechtsansprüchen: Es handelt sich um die geläufige Konstellation der „Abwehr" einer Ungleichbehandlung, die in der Sache auf ein Teilhaberecht hinauslaufen kann. Teilhabeansprüche dieser Art sind in Rechtsprechung und Schrifttum uneingeschränkt anerkannt59.

58

Rahmen der Staatstätigkeit, D Ö V 1971, 505 ff. So hat das Bundesverfassungsgericht z. B. im Blick auf das Grundrecht der freien Wahl der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 G G ) eine staatliche Verpflichtung zu kapazitätsverbes-

sernden Maßnahmen an den Hochschulen hervorgehoben (BVerfGE 43, 291 [326ff]). » Z. B. BVerfGE 45, 376 (386ff). W. MARTENS Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30, 1972, S. 21 ff.

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

97

b) Die eigentliche Problematik von Grundrechten als Teilhaberechten stellt sich erst bei der Frage, ob Grundrechte im Zeichen der erwähnten Veränderungen der Bedingungen menschlicher Freiheit als ,,originäre" Teilhaberechte verstanden werden können oder sogar müssen, ob sie also über die gleiche Zuteilung in bestehenden Leistungssystemen hinaus Teilhabeansprüche auch dann begründen, wenn die Voraussetzungen der Erfüllung dieser Ansprüche erst geschaffen werden müßten. Die grundsätzliche Möglichkeit eines solchen Verständnisses hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 18. Juli 1972 über die Zulässigkeit von Beschränkungen des Hochschulzugangs nicht ausgeschlossen 60 : Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwende, desto mehr trete im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen. Dies gelte besonders im Bereich des Ausbildungswesens; denn das Recht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 G G ) wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos. Ob bei dieser Sachlage aus den grundrechtlichen Wertentscheidungen und der Inanspruchnahme des Ausbildungsmonopols durch den Staat ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten folge und ob sich aus diesem Verfassungsauftrag unter besonderen Voraussetzungen ein einklagbarer Individualanspruch des Staatsbürgers auf Schaffung von Studienplätzen herleiten lasse, bedürfe im vorliegenden Falle indessen keiner Entscheidung. In jedem Falle stünden solche Teilhaberechte unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen könne. Hier wie auch in späteren Entscheidungen ist die Frage also in der Schwebe gelassen. Das Urteil vom 18. Juli 1972 hebt selbst die Einwände hervor, denen eine generelle Umdeutung von Freiheitsrechten in originäre Teilhaberechte begegnen muß. Die Regelung materieller Ansprüche auf Leistung und der mit ihnen verbundenen Fragen kann nach der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes nur eine Aufgabe des Gesetzgebers, nicht der rechtsprechenden Gewalt sein. Denn sie läßt sich namentlich unter Prioritäts- und Koordinierungsgesichtspunkten nicht aus der Einfügung in umfassendere Planungen und deren Durchführung lösen, und sie darf nicht ohne ihre Rückwirkungen auf diese beurteilt werden. Die unmittelbare Herleitung konkreter und einklagbarer Leistungsverpflichtungen des Staates aus Grundrechten würde an die Stelle von Politik — gerichtlich kontrollierten — Verfassungsvollzug treten lassen und damit den Bereich parlamentarischer Willensbildung als Grundbestandteil einer offenen demokratischen Ordnung entscheidend einengen. Der darin liegende systematische Widerspruch zwischen Grundrechten als originären Teilhaberechten und demokratischer Ordnung zieht infolgedessen der Annahme originärer Teilhaberechte in einer solchen Ordnung Grenzen. Das läßt diese Rechte nur bedingt

60

BVerfGE 33, 303 (330ff); vgl. auch BVerfGE 35, 79 (115f).

98

2. Kapitel. Grundrechte

geeignet erscheinen, der Problematik von Grundrechten im Leistungsstaat gerecht zu werden 61 . 5. Soziale Grundrechte Es ist deshalb kaum ein Zufall, wenn sich die neuere Diskussion in verstärktem Maße der Frage nach der Bedeutung und der möglichen Wirkungskraft „sozialer Grundrechte" im Sinne einer Gewährleistung der Grundlagen individueller menschlicher Existenz zuwendet 62 . Sie kann dabei freilich nur bedingt an ausdrückliche Normierungen des Verfassungsrechts anknüpfen. Das Grundgesetz hat seine grundrechtlichen Gewährleistungen im wesentlichen auf die klassischen Menschen- und Bürgerrechte beschränkt, zu denen einige besondere Garantien und Grundsatzregelungen hinzutreten; soweit soziale Grundrechte in einzelne Landesverfassungen aufgenommen worden sind 63 , haben sie wegen des Vorrangs des Bundesrechts kaum praktische Bedeutung erlangt. Der Verzicht des Grundgesetzes auf die ausdrückliche Normierung sozialer Grundrechte hängt nicht nur damit zusammen, daß es bei seiner Entstehung im Jahre 1949 als Provisorium verstanden worden ist. Wesentlicher ist vielmehr, daß solche Rechte von andersartiger Struktur sind als die herkömmlichen Grundrechte. Das begründet ihre Problematik und unterscheidet sie prinzipiell von den überkommenen Freiheits- und Gleichheitsrechten. Soziale Grundrechte, wie namentlich ein Recht auf Arbeit oder ein Recht auf Wohnung, lassen sich nicht schon dadurch realisieren, daß sie respektiert und geschützt werden, sondern verlangen von vornherein und jedenfalls im höheren Maße als die überkommenen Grundrechte staatliche Aktionen zur Verwirklichung des in ihnen enthaltenen Programms. Dies fordert regelmäßig nicht nur ein Tätigwerden des Gesetzgebers, sondern auch der Verwaltung; es kann zu einer Beeinträchtigung der Freiheitsrechte anderer führen. Soziale Grundrechte sind daher nicht in der Lage, im Sinne der Grundrechtsauffassung des Grundgesetzes unmittelbar gerichtlich verfolgbare Ansprüche des Bürgers zu begründen. Praktische und konkrete Bedeutung können sie nur insoweit erlangen, als sie den Staat verbindlich zu ihrer Realisierung verpflichten, wie dies z. B. Art. 26 des Entwurfs einer neuen Bundesverfassung der Schweiz vorsieht 64 . Erst nach einer Regelung durch den Gesetzgeber können sich aus

61

62

Vgl. dazu E. FRIESENHAHN Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, Verhandlungen des 50. DJT II, 1974, S. G 2 9 f f . Vgl. etwa G. BRUNNER Die Problematik der sozialen Grundrechte, 1 9 7 1 ; J . P. MÜLLER Soziale Grundrechte in der Verfassung?, 2. A u f l . , 1 9 8 1 ; P. BADURA Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschland, Der Staat 14, 1975, S. 1 7 f f ; J . ISENSEE Verfassung ohne soziale Grundrechte, Der Staat 19, 1980, S. 3 6 7 f f ; W . LORENZ Bundesverfassungsgericht und soziale Grundrechte, Jur. Blätter 103, 1 9 8 1 , 1 6 f f ;

63

64

E . - W . BÖCKENFÖRDE Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: Soziale Grundrechte. Von der bürgerlichen zur sozialen Rechtsordnung. 5. Rechtspolitischer Kongreß der SPD 1980, hrsg. von BÖCKENFÖRDE/JEKEWITZ/RAMM Dokumentation: Teil 2 S. 7 f f ; W . SCHMIDT Soziale Grundrechte im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Der Staat, Beiheft 5, 1 9 8 1 , S. 9 ff. Z. B. Bayerische Verfassung A r t . 1 6 6 f f ; Hessische Verfassung A r t . 2 7 f f . Vgl. dazu den Schlußbericht der Arbeitsgruppe Wahlen f ü r die Totalrevision der

99

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

dieser abgegrenzte und verfolgbare Rechtsansprüche ergeben. Soweit das Programm sozialer Grundrechte realisiert ist, können diese Rechte, vor allem auf dem Gebiet der sozialen Sicherung, die Wirkung einer Verfassungsgarantie des sozialen Besitzstandes erlangen. Über diese Besonderheiten besteht heute im wesentlichen Ubereinstimmung. Erörtert werden die Fragen, ob und inwieweit das geltende Verfassungsrecht des Bundes Ansätze zur Herausarbeitung von Inhalten bietet, welche in der Sache dasselbe bedeuten wie soziale Grundrechte 65 , und ob es rechtspolitisch angebracht erscheint, einzelne soziale Grundrechte wie ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf Wohnung oder ein Recht auf gesunde Umwelt in den Text des Grundgesetzes aufzunehmen66. In der Tat läßt sich nicht übersehen, daß Elemente „sozialer Grundrechte" in der Verfassungsrechtsprechung zum Hochschulzugang 67 , zur sozialen Sicherung68 oder zum Bau von technischen Großanlagen erkennbar werden, von denen Gefahren für die Umwelt ausgehen können 69 . Daß dagegen die Aufnahme von — wenn auch nur in Gestalt eines Verfassungsauftrags formulierten — sozialen Grundrechten in das Grundgesetz zur Lösung der insoweit bestehenden Probleme beitragen könnte, ist nicht anzunehmen, dies um so weniger, als das eine Grundrecht häufig nur auf Kosten eines anderen verwirklicht werden könnte, wie etwa das Grundrecht auf Arbeit einer-, dasjenige auf Umweltschutz anderseits70. Zudem würde eine solche Aufnahme wiederum, ähnlich wie die Konstruktion von Teilhaberechten, eine Einschränkung demokratischer Gestaltungsfreiheit bedeuten. Deshalb ist die bisherige Lösung des Grundgesetzes vorzuziehen, das in der Formel vom „sozialen Rechtsstaat" (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1) den Weg der Normierung eines allgemeinen Auftrags gegangen ist. Dieser begründet verbindlich die Pflicht der staatlichen Organe, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen 71 ; er überläßt jedoch die Zielsetzungen im einzelnen und die Art ihrer Realisierung der Entscheidung im demokratischen Prozeß 72 . Die Formel vom sozialen Rechtsstaat begründet von vornherein keine unmittelbaren Individualansprüche, ist aber, wie gezeigt, unter anderem für die Auslegung der Grundrechte von wesentlicher Bedeutung, die als derivative Teilhaberechte solche Ansprüche begründen können. Der 180ff

auf menschenwürdige U m w e l t " , D Ö V 1 9 7 5 ,

und den Bericht der E x p e r t e n k o m m i s s i o n für

5 8 8 ff; H . STEINER Mensch und U m w e l t . Z u r

die

F r a g e der Einführung eines

Bundesverfassung, Vorbereitung

Bd. VI, einer

1973,

S.

Totalrevision

der

65

D a z u LORENZ ( A n m . 6 2 ) S. 2 0 f f ; SCHMIDT

auf U m w e l t s c h u t z ,

( A n m . 6 2 ) S. 12ff, der in diesem Z u s a m m e n -

Staatsaufgabe U m w e l t s c h u t z , W D S t R L

hang darauf hinweist, daß auch Staatszielbe-

1 9 8 0 , S. 1 7 7 f f .

stimmungen oder Verfassungsaufträge unter

67

dem Grundgesetz in den verfassungsrechtli-

68

chen G r u n d r e c h t s s c h u t z einbezogen werden können. 66

Umweltgrund-

rechts, 1 9 7 5 ; M . KLOEPFER Z u m G r u n d r e c h t

Bundesverfassung, 1 9 7 7 , S. 5 9 f f .

1978; D.

RAUSCHNING 38,

B V e r f G E 3 3 , 3 0 3 ( 3 3 0 f f ) ; 4 3 , 291 ( 3 1 3 f f ) . Sehr deutlich etwa B V e r f G E 3 9 , 1 6 9 ( 1 8 5 ff, bes. 194 f).

69

B V e r f G E 4 9 , 89 (141 f); 5 3 , 3 0 ( 5 7 f f ) ; 5 6 , 54 (73 ff).

Vgl. e t w a H . H . KLEIN E i n G r u n d r e c h t auf saubere U m w e l t ? in: I m Dienste an R e c h t

70

und Staat, Festschrift für W e r n e r W e b e r z u m

71

Etwa B V e r f G E 2 2 , 180 (224).

7 0 . Geburtstag,

72

Vgl. dazu etwa B V e r f G E 18, 2 5 7 ( 2 7 3 ) ; 2 9 ,

1 9 7 4 , S. 6 4 3 f f ; H .

DELL-

MANN Z u r Problematik eines „ G r u n d r e c h t s

Vgl. SCHMIDT ( A n m . 6 2 ) S. 2 4 f f .

221 ( 2 3 5 ) .

100

2. Kapitel. Grundrechte

Vorteil dieser Lösung gegenüber einer enumerativen Normierung sozialer Grundrechte liegt in der größeren Offenheit und Elastizität des allgemeinen Sozialstaatsauftrags, die es ermöglicht, den jeweiligen Bedürfnissen und Koordinierungsaufgaben besser gerecht zu werden, und die zugleich die Freiheit demokratischer Entscheidung wahrt. 6. Grundrechts Verwirklichung und -Sicherung durch Organisation und Verfahren Können daher die Gedanken der Teilhaberechte und der sozialen Grundrechte nur begrenzte Bedeutung für die Wirksamkeit und den Schutz der Grundrechte in der Gegenwart gewinnen, so ist um so wichtiger ein anderer, bisher freilich weniger beachteter Zusammenhang: derjenige von Grundrechten, Organisation und Verfahren 7 3 . Dieser Zusammenhang, der in der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunehmende Betonung erfahren hat, ist nicht nur von allgemeiner Bedeutung für die Verwirklichung und Sicherung der Grundrechte; er enthält auch wesentliche Elemente, die es — eher als der Gedanke der Teilhaberechte — ermöglichen, der veränderten Problematik der Wirksamkeit der Grundrechte im modernen Staat gerecht zu werden. U m ihre Funktion in der sozialen Wirklichkeit erfüllen zu können, bedürfen Grundrechte in mehr oder minder großem Umfang der konkretisierenden Ausgestaltung durch die Rechtsordnung (oben S. 88). Beispiele bilden die grundrechtlich gewährleisteten Einrichtungen von Ehe und Familie, das Institut des Eigentums oder die Vereinigungsfreiheit: überall bedarf es nicht nur näher bestimmender inhaltlicher Normierungen, sondern auch der Bereitstellung von Organisationsformen und Verfahrensregelungen, um den grundrechtlich normierten Rechtszustand zu einem Zustand der sozialen Wirklichkeit werden zu lassen. Erhöhte Bedeutung gewinnt diese Notwendigkeit unter den Bedingungen der Gegenwart, unter denen menschliche Freiheit wesentlich auf staatliche Unterstützung, Vorsorge und Verteilung angewiesen ist und unter denen es in zunehmendem Maße der Abgrenzung, Begrenzung und Zuordnung der Bereiche menschlicher Freiheit bedarf (oben S. 92). Hier erweisen sich Organisation oder Verfahren oft als Mittel, ein grundrechtsgemäßes Ergebnis herbeizuführen und damit Grundrechte auch im Zeichen jener Bedingungen wirksam zu sichern 74 . Bedürfen damit die Grundrechte in weitem Maße der Organisation und des Verfahrens, so wirken sie zugleich ihrerseits auf das Organisations- und Verfahrensrecht ein, das auf diese Weise zur Grundrechtsverwirklichung und -Sicherung beiträgt. Dies ist ohne weiteres deutlich bei Grundrechten, deren unmittelbarer Gegenstand die Gewährleistung von Organisations- oder Verfahrensgrundsätzen ist, wie

73

Eine umfassende Untersuchung bietet H. GOERLICH Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981. Vgl. ferner etwa H. BETHGE Grundrechtsverwirklichung und Grund-

74

rechtssicherung durch Organisation und Verfahren, N J W 1982, I f f . Grundsätzlich hierzu: P. HÄBERLE Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30, 1972, bes. S. 8 6 f f , 121 ff.

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

101

etwa bei der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 G G ) , den Grundrechten auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G G ) , auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 G G ) oder bei den Voraussetzungen und Verfahrensgarantien, die Art. 104 G G für Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen normiert 7 5 . Aber auch die materiellen Grundrechte wirken auf das Verfahren ein. Deshalb besteht das Bundesverfassungsgericht auf einer grundrechtskonformen Anwendung des Verfahrensrechts. Darüber hinaus hat es im Interesse der Grundrechtsverwirklichung und -Sicherung aus materiellen Grundrechten besondere verfahrensrechtliche Anforderungen entwickelt, namentlich die Notwendigkeit eines effektiven (Grund-) Rechtsschutzes, auf den der Einzelne einen Anspruch hat 7 6 . Diese Aspekte greifen ineinander. Sie können hier nicht im einzelnen verfolgt werden. In aller Kürze ist nur noch auf einige Punkte hinzuweisen, die für die Problematik der Grundrechte im modernen Sozialstaat von Bedeutung sind. Organisation und Verfahren können sich unmittelbar als Mittel der Verwirklichung und Sicherung von Grundrechten erweisen. Sehr klar tritt das bei der Rundfunkfreiheit hervor: In ihren Schutzrichtungen als Freiheit der Sendeunternehmen im Verhältnis zum Staat sowie als Gewährleistung eines Angebots von Sendungen, das freie, wahrheitsgemäße und umfassende Information und Meinungsbildung ermöglicht, läßt diese sich ebenso wie in ihrer Bedeutung für die Frage des „ Z u g a n g s " zum Rundfunk und der Errichtung neuer Sendeunternehmen nicht ohne organisatorische und Verfahrensregelungen verwirklichen, deren Wirkungen zu einem dem Inhalt des Grundrechts gemäßen Ergebnis führen. Folgerichtig hat das Bundesverfassungsgericht die verfassungsmäßige Gewährleistung durch bestimmte Anforderungen an die Rundfunkorganisation konkretisiert und damit Grundlagen für die Gestaltung des Rundfunks in der Bundesrepublik festgelegt 7 7 . Ähnliches gilt unter modernen Verhältnissen für die Freiheit der Wissenschaft, die als Freiheit der Forschung weithin auf kostspielige, vom Staat bereitgestellte Einrichtungen angewiesen ist. Hier hat das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben, daß ein effektiver Grundrechtsschutz adäquate organisationsrechtliche Vorkehrungen erfordere, die sowohl dem Grundrecht des einzelnen Wissenschaftlers auf Freiheit der Forschung und Lehre als auch der Funktionsfähigkeit der Institution „freie Wissenschaft" hinreichend Rechnung tragen 7 8 . Organisations- und Verfahrensregelungen sind ferner ein geeignetes Mittel, widerstreitende Verfassungspositionen zum Ausgleich zu bringen. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel im Falle des Widerstreits zwischen „positiver" und „negativer" Religionsfreiheit ausgesprochen, daß eine Lösung sich

75

Uber die sich aus den Verfahrensgrundrechten ergebenden Anforderungen an die Gestaltung des gerichtlichen Verfahren hinaus hat das Bundesverfassungsgericht dem Rechtsstaatsprinzip den allgemeinen Anspruch auf ein faires Verfahren entnommen. Vgl. z. B . B V e r f G E 26, 66 (71 f); 38, 105 (111 f); 39, 156 (163).

76

77

78

Eine Ubersicht über die Rechtsprechung mit besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entscheidungen findet sich in B V e r f G E 53, 30 (72 ff) — abweichende Meinung. B V e r f G E 12, 205 (261 ff); 31, 314 (325ff); 57, 295 (319ff). B V e r f G E 35, 79 (120ff); 43, 242 (267).

102

2. Kapitel. Grundrechte

nur unter Würdigung der kollidierenden Interessen durch Ausgleich und Zuordnung der maßgeblichen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte finden lasse; diese obliege dem demokratischen Landesgesetzgeber im öffentlichen Willensbildungsprozeß 79 . Was hier allgemein gilt, muß in besonderem Maße gelten, wenn in der heutigen enger werdenden Welt die Freiheit der einen zunehmend mit der Freiheit der anderen in Konflikt zu geraten droht: Es müssen Regelungen getroffen werden, welche die Freiheitsbereiche einander sachgemäß zuordnen und sicherstellen, daß Grenzziehungen nicht nur zu Lasten einer Seite gehen. Das können im wesentlichen nur Verfahrensregelungen sein, wie sie sich namentlich in Rechtsbereichen finden, die den Gebrauch des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) betreffen. Erst Regelungen dieser Art ermöglichen und sichern einen angemessenen Ausgleich zwischen den verschiedenen Positionen und damit die Verwirklichung der betroffenen Grundrechte. Nicht anders verhält es sich schließlich in Lagen einer Verknappung von Freiheitsvoraussetzungen. Die damit sich verbindenden Verfassungsrechtsfragen sind bislang namentlich bei dem Mangel an Studienplätzen aufgetreten; es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß sie schon in naher Zukunft auch in anderen Bereichen Bedeutung gewinnen werden. Auch hier läßt sich nur durch geeignete Organisations- und Verfahrensregelungen sicherstellen, daß nicht die einen alles, die anderen nichts erhalten und daß die verbleibenden Freiheitschancen gerecht verteilt werden. Es kommt, wie das Bundesverfassungsgericht im Falle der Verteilung von Studienplätzen ausgesprochen hat, darauf an zu gewährleisten, daß jeder Berechtigte zumindest eine Chance hat, von seinem Grundrecht Gebrauch machen zu können und auf diese Weise der Gefahr einer inhaltlichen Entwertung des Grundrechts zu begegnen 80 . Insoweit dienen sachentsprechende organisations- und verfahrensrechtliche Regelungen der Verwirklichung von „Teilhabe". Sie erweisen sich als wirksame Mittel, einen chancengleichen Zugang oder eine chancengleiche Verteilung von Leistungen und die volle Ausschöpfung der vorhandenen Leistungsmöglichkeiten zu gewährleisten. 7. Die Bedeutung der Grundrechte für Rechtsbeziehungen, an denen der Staat nicht unmittelbar beteiligt ist Die im Vorangehenden dargestellte Entwicklung der Grundrechte betrifft deren Bedeutung für den Bürger in seinem Verhältnis zum Staat und ihre unmittelbare Bedeutung für die staatlichen Gewalten. Die Sicherung menschlicher Freiheit, um die es hierbei geht, wäre indessen unvollkommen, wenn sie nicht um den Schutz gegen Freiheitsgefährdungen durch nicht-staatliche Mächte ergänzt würde. Die Notwendigkeit eines solchen Schutzes bildet den zweiten grundlegenden Aspekt der modernen Grundrechtsentwicklung (oben S. 93). Insofern wird heute aus den Grundrechten eine Pflicht des Staates zu deren Schutz und, damit zusammenhängend, eine gewisse „Drittwirkung" abgeleitet. 79

80

B V e r f G E 41, 29 (50). Vgl. ferner etwa BVerfGE 34, 165 ( 1 8 2 f ) ; 47, 46 (80). B V e r f G E 33, 303 (345); 43, 291 (314, 3 1 6 f ) . Ähnliches gilt f ü r den Zugang zu der Veran-

staltung von Rundfunksendungen, solange nicht allen Bewerbern die gewünschte Sendekapazität zur Verfügung gestellt werden kann (BVerfGE 57, 295 [327]).

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

103

a) Die Sicherung von Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger gegen nichtstaatliche Beeinträchtigungen ist zwar seit jeher Aufgabe der Ordnung gesellschaftlichen Zusammenlebens durch den Staat. Sie ist aber früher ausschließlich als Gegenstand des einfachen Rechts, besonders des Zivil-, des Straf- und des zugehörigen Verfahrensrechts verstanden worden. Es kennzeichnet die neuere Entwicklung, daß diese Sicherung heute in einem stellenweise noch offenen Ausmaß als durch Grundrechte geboten angesehen, daß also aus Grundrechten eine staatliche Schutzpflicht hergeleitet wird. Ausgangspunkt hierfür ist wiederum das Verständnis der Grundrechte als objektiver Prinzipien, welche die gesamte Rechtsordnung beeinflussen und die den Staat verpflichten, alles zu tun, um Grundrechte zu verwirklichen (oben S. 95). So hat das Bundesverfassungsgericht aus dem objektiven Gehalt der Gewährleistung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) unmittelbar eine Pflicht des Staates erschlossen, diese Rechtsgüter vor rechtswidrigen Eingriffen anderer zu bewahren 81 . Wie der Staat diese Verpflichtung erfülle, sei in erster Linie von den zuständigen Organen zu entscheiden, denen hierbei ein weiter Gestaltungsspielraum zukomme 8 2 ; im äußersten Falle könne sich diese Freiheit freilich auf ein bestimmtes Mittel verengen, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf andere Weise nicht zu erreichen sei 83 . — O b der objektivrechtlich begründeten Pflicht des Staates ein subjektiver Individualanspruch der von dem Eingriff Betroffenen entspricht, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Problematik dürfte sich auf relativ seltene Fälle beschränken, da die bestehenden Regelungen, die auch (begrenzte) Ansprüche auf staatliches Eingreifen umfassen, der Schutzpflicht des Staates in der Regel gerecht werden. b) Deutlicher zeichnen sich auf Grund der bisherigen Rechtsprechung Bestand und Tragweite einer „Drittwirkung" der Grundrechte ab, also einer Wirkung von Grundrechten nicht nur gegenüber den öffentlichen Gewalten, sondern auch gegenüber Privaten, namentlich gegenüber Inhabern wirtschaftlicher oder sozialer Macht. Ausdrücklich hat das Grundgesetz nur der Koalitionsfreiheit Wirkung gegen Dritte beigelegt (Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG). In der Frage, ob und in welchem Umfang Grundrechten darüber hinaus „Drittwirkung" zukommt, fehlen spezielle verfassungsrechtliche Regelungen. Sie wird in Rechtsprechung und Schrifttum nicht einheitlich beantwortet. Die Problematik besteht darin, daß im Verhältnis Privater untereinander alle Beteiligten in gleicher Weise am Schutz der Grundrechte teilhaben, während den öffentlichen Gewalten in ihrem Verhältnis zum Bürger ein solcher Schutz nicht zukommt. Demgemäß kann es eine Beeinträchtigung grundrechtlicher Freiheit des einen bedeuten, wenn der andere ihm gegenüber in einem Grundrecht geschützt wird. Eine uneingeschränkte Bindung Privater an Grundrechte würde zu einer empfindlichen Einschränkung der Privatautonomie, mithin zu einer nicht unerheblichen Einschränkung selbstverantwortlicher Freiheit führen und damit Eigenart und 81

BVerfGE 39, 1 (42ff); 46, 160 (164); 49, 89 (142); 53, 30 (57); 56, 54 (73).

" BVerfGE 39, 1 (44); 46, 160 (164f); 56, 54 (80f). " BVerfGE 39, 1 (46 f).

2. Kapitel. Grundrechte

104

Bedeutung des Privatrechts prinzipiell verändern. Sie würde zudem den Zivilrichter im Einzelfall vor die äußerst schwierige Frage der Bestimmung der Tragweite der Grundrechte und ihrer Grenzen stellen und deshalb mit der Aufgabe eines rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Privatrechts in Konflikt geraten, nämlich der, die Gestaltung von Rechtsbeziehungen und richterliche Problemlösung grundsätzlich mit Hilfe hinreichend klarer, detaillierter und bestimmter Regelungen zu ermöglichen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vermeidet weitgehend die Auswirkungen einer solchen unmittelbaren „Drittwirkung"; sie beschränkt sich auf eine mittelbare „Drittwirkung". Sie geht davon aus, daß der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Gebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften entfaltet 84 . Die „Drittwirkung" der Grundrechte besteht in ihrem Einfluß auf die anzuwendenden Vorschriften des bürgerlichen Rechts, der bei deren Auslegung zu berücksichtigen ist. Der Richter hat kraft Verfassungsrechts zu prüfen, ob die für die Entscheidung maßgebenden Vorschriften des bürgerlichen Rechts in dieser Weise grundrechtlich beeinflußt sind. Trifft das zu, so hat er die hieraus sich ergebenden Modifikationen des Privatrechts zu beachten. Sofern er diese Maßstäbe verfehlt, verletzt er nicht nur objektives Verfassungsrecht; er verstößt als Träger öffentlicher Gewalt durch seinen Spruch gegen das Grundrecht, auf dessen Beachtung durch die rechtsprechende Gewalt der Bürger einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat 8 5 . Die Frage, ob ein solcher Verstoß vorliegt, unterliegt der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts (vgl. dazu oben S. 95). Mit dieser Ausdehnung der Schutzfunktion der Grundrechte auf Rechtsbeziehungen, die jenseits des Verhältnisses von Bürger und Staat liegen, sind die Grundrechte zu einem Mittel der Freiheitssicherung auch gegenüber nicht-staatlichen Mächten geworden 8 6 . Sie machen damit freilich spezielle gesetzliche Regelungen, die der Verhinderung wirtschaftlichen oder sozialen Machtmißbrauchs dienen, ebensowenig entbehrlich wie eine Privatrechtsgesetzgebung, die den Rechtsgehalt der Grundrechte in den Regelungen des bürgerlichen Rechts konkretisiert und grundgesetzlich verbürgte Positionen gegeneinander abgrenzt, so daß der Zivilrichter für die Einzelfallentscheidung nicht nur auf die weiten und unbestimmten Maßstäbe der Verfassung angewiesen ist.

V. Zur Würdigung der Entwicklung Insgesamt wird damit das Ausmaß deutlich, in dem die Grundrechte nicht nur das staatliche, sondern das gesamte Rechtsleben in der Bundesrepublik bestimmen und

84 85

BVerfGE 7, 198 (205f). BVerfGE 7, 198 (206f); vgl. auch 42, 143 (147f).

86

Vgl. BVerfGE 25, 256 (263ff).

1. Abschnitt. Bestand und Bedeutung (HESSE)

105

bis ins einzelne prägen: Zu keiner Zeit der deutschen Geschichte haben die Bürger des deutschen Staatswesens mehr individuelle Freiheit und Rechtsschutz gehabt als heute. Es mag fraglich sein, ob die Menschen in der Bundesrepublik deshalb in ihrer Gesamtheit glücklicher sind als ihre Eltern und Großeltern — manches spricht dafür, daß sie mit ihrer Freiheit nichts Rechtes anzufangen wissen, namentlich Teile der jüngeren Generation, die das Regime des Nationalsozialismus nicht mehr selbst erlebt haben, denen die Freiheit selbstverständlich geworden ist und die in ihr keine Antwort auf die Frage nach den Aufgaben und Zielen der gesellschaftlichen Entwicklung zu finden glauben. Das kann kein Grund sein, die neuere Grundrechtsentwicklung als eine Fehlentwicklung zu betrachten. D a s gleiche gilt für die Kritik, der diese Entwicklung begegnet ist. Sie läßt sich dahin zusammenfassen, daß die heutige Grundrechtsentwicklung die überkommenen und bewährten Bahnen verlassen habe und deshalb zu einer Schwächung, wenn nicht zur Auflösung des Staates führen müsse; dies ist vor allem das Bedenken Ernst Forsthoffs gewesen, der in diesem Zusammenhang vom „introvertierten Rechtsstaat" gesprochen hat 8 7 . Auch in der Tagesdiskussion begegnet häufig der Einwand eines Zuviel an Freiheit, das die Schwächung des Staates zur Folge habe und dazu führe, daß dieser seinen Aufgaben nicht mehr gerecht werden könne. Aber Grundrechte und ein starker Staat schließen einander nicht aus, sie sind im Gegenteil voneinander abhängig. Denn die Verwirklichung und die Sicherung der Grundrechte sind, wie gezeigt, unter den Bedingungen der Gegenwart auf den Staat angewiesen: Sie fordern einen starken funktions- und leistungsfähigen Staat, der zur Erfüllung seiner Aufgaben imstande ist. Diese Stärke ist indessen weniger eine Frage eines möglichst wirksamen staatlichen Machtapparats als vielmehr der freien Zustimmung einer möglichst großen Zahl von Bürgern, auf deren Gewinnung und Erhaltung es stets von neuem ankommt. Sie sind eine Frage der Integrationsfähigkeit der staatlichen Ordnung. Wenn die Grundrechte, wie es nach dem Grundgesetz der Fall ist, die legitimierende Grundlage dieser Ordnung sind, wenn sie freie Zustimmung anstreben und ermöglichen, dann sind sie ein entscheidender Faktor für den Bestand des Staates und seiner Ordnung, und eine Stärkung der Grundrechte kann letztlich nur dem Staat zugutekommen. Hier liegen also die Bedenken nicht. Gleichwohl wird nicht gesagt werden können, daß die heutige Entwicklung frei von Gefahren sei. Wie dargelegt, ist diese Entwicklung weit über die frühere hinausgegangen: Die Grundrechte binden auch den Gesetzgeber; sie enthalten umfassende Prinzipien für die gesamte Rechtsordnung und die Anwendung des Rechts; ihre Beachtung unterliegt in letzter Verantwortung der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts. J e mehr unter diesen Gegebenheiten der Anwendungsbereich der Grundrechte ausgedehnt wird, desto mehr muß sich der Be-

87

E. FORSTHOFF Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, Der Staat 2, 1963, S. 392 ff. In ähnlicher Richtung die Kritik H . H . Kleins, der in der Ausdehnung der Bedeutung der Grundrechte über die traditionelle Funk-

tion als individuelle Abwehrrechte gegen den Staat hinaus die Gefahr einer „Oberfracht u n g " und damit Entwertung der Grundrechte erblickt ( H . H . KLEIN Die Grundrechte im demokratischen Staat, Neudruck 1974).

106

2. Kapitel. Grundrechte

reich verbindlicher verfassungsrechtlicher Festlegung erweitern, in dem die Organe der politischen Leitung nicht mehr frei entscheiden können, sondern nur noch — unter der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts — Verfassungsrecht anzuwenden haben. Dies würde nicht nur einen freien und offenen politischen Prozeß, wie ihn die Demokratie voraussetzt, erheblich einschränken, wenn nicht aufheben; eine solche Entwicklung würde auch in einer Zeit grundlegender Wandlungen wie der unsrigen, in der neue Lösungen der Probleme zur Voraussetzung des Überlebens geworden sind, die Bewegung und das Fortschreiten unmöglich machen, auf die es entscheidend ankommt. Damit wäre den Menschen, die unter der Ordnung des Grundgesetzes leben, dem Staat und der normierenden Kraft der Verfassung ein schlechter Dienst erwiesen, vollends, wenn der Zwang der Verhältnisse schließlich dazu nötigen sollte, die zuvor ausgedehnten Grundrechte wieder zu verkürzen, zu relativieren oder sich über sie hinwegzusetzen. Grundrechte sind geschichtlich und ihrer heutigen Bedeutung nach in erster Linie Menschenrechte: Es geht in ihnen um Grundbedingungen individuellen und gemeinschaftlichen Lebens in Freiheit und menschlicher Würde, eine Aufgabe, die unter den Voraussetzungen der Gegenwart nichts von ihrer aktuellen Bedeutung eingebüßt hat. Sollen die Grundrechte diese Grundbedingungen wirksam sichern, so dürfen sie geschichtlichen Wandel nicht unterbinden; zugleich müssen sie indessen ohne Wenn und Aber in ihrer eigentlichen Substanz festgehalten und geschützt werden. Dies setzt voraus, daß sie nicht inflationär ausgedehnt und in allzu kleine Münze umgesetzt werden. So wesentlich und folgenreich daher die dargelegte Herausarbeitung der objektiven Bedeutungsschicht der Grundrechte ist: Die Funktion dieses neuen Verständnisses liegt in der Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte als Menschenrechte 8 8 ; deren Bedeutung als objektive Prinzipien darf nicht von jenem Kern gelöst werden. Sonst geriete sie in die Gefahr, einer Interpretation den Weg zu bereiten, welche den ursprünglichen und bleibenden Sinn der Grundrechte aus dem Auge verliert und die zentrale Aufgabe verfehlt.

88

Vgl. B V e r f G E 50, 290 (337f).

2. Abschnitt

Die Menschenwürde ERNST BENDA

I. Der absolute Eigenwert des Menschen 1. Die vorgegebenen Rechte des Menschen Das in Art. 1 Abs. 2 GG enthaltene Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräußerlichen" Menschenrechten knüpft schon dem Wortlaut nach deutlich an die Universal Declaration of Human Rights an, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. 12. 1948 beschlossen wurde: „Recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and peace in the world". Der Vorspruch der Menschenrechtsdeklaration erinnert zugleich an die Mißachtung der Menschenrechte und die Akte der Barbarei in der unmittelbar zurückliegenden Vergangenheit. So lag es für die Schöpfer des Grundgesetzes nahe, den Wunsch der Deutschen, wieder in die Gemeinschaft der Völker aufgenommen zu werden, durch das in Art. 1 Abs. 2 GG enthaltene Bekenntnis ethisch zu rechtfertigen 1 . Zugleich knüpft das Grundgesetz an die Erklärung der „natürlichen, unveräußerlichen und geheiligten Menschenrechte" der französischen Deklaration vom 26. August 1789 an, in gleicher Weise aber auch an die christliche Naturrechtstradition. Gegen die optimistische Vermutung, abendländisches Grundrechtsverständnis habe von Ewigkeit her bestanden, lassen sich kritische Einwände erheben. Die Menschenwürdegarantie ist entwicklungsgeschichtlich eng mit dem Christentum verbunden, die ihre Grundlage in dem Umstand findet, daß der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen ist; das antike Bild des Menschen als vernunftbegabtes und durch freien Willen gekennzeichnetes Wesen hat zur christlich-antiken Freiheitsidee des Menschen wesentlich beigetragen 2 , wenngleich Grundrechte im heutigen Verständnis der Antike unbekannt waren 3 . Die deutsche wie die abendländische Geschichte kann

1

2

Vgl. Protokoll des Ausschusses f ü r G r u n d satzfragen des Pari. Rats, 22. Sitzung vom 18. 11. 1948, S. 2. E. WOLF Die Freiheit und Würde des Menschen, Recht, Staat, Wirtschaft, Bd. IV (1953) S. 32 ff; VERDROSS Die Würde des Menschen

3

als Grundlage der Menschenrechte, E u G R Z 4 (1977) S. 207f; STARCK Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, J Z 1981, S . 459. FALLER Stichwortartikel Menschenrechte, Staatslexikon (1960) Sp. 659.

108

2. Kapitel. Grundrechte

im Hinblick auf die universelle Achtung der Menschenrechte ebensowenig hoffnungsvoll stimmen wie eine Würdigung der heute in weiten Teilen der Welt herrschenden Verhältnisse. Art. 1 Abs. 2 G G ist keine schönfärberische Verklärung der Wirklichkeit. Der Hinweis auf die vorgegebenen Rechte aller Menschen führt auf die zentrale verfassungsrechtliche Aussage des Art. 1 Abs. 1 G G zurück, nämlich die Forderung, die Achtung menschlicher Würde zum obersten Prinzip jeder staatlichen Tätigkeit zu machen. Die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte sind nicht erst durch das Grundgesetz geschaffen worden, sondern werden auch von diesem als Bestandteile einer vorgegebenen, überpositiven Rechtsordnung angesehen 4 . Damit werden letzte Grenzen anerkannt, die auch der Verfassungsgeber nicht überschreiten darf 5 . Art. 79 Abs. 3 G G sichert dies zusätzlich ab. Es handelt sich vor allem um den Schutz menschlicher Würde, um die als Urgrundrecht jedes Menschen verstandene Wahrung seiner Persönlichkeitssphäre. Das Grundgesetz „ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt" 6 . Diese Zielsetzung macht Art. 1 G G zu dem obersten Konstitutionsprinzip der Verfassung 7 . Aber es ist nicht selbstverständlich, daß die Verfassung überhaupt eine Aussage über die Stellung des Menschen in Staat und Gesellschaft aufnimmt. N a c h liberalem Staatsverständnis ging den Staat die Würde des Menschen nichts an; er ging davon aus, daß Freiheit und Würde des Menschen am ehesten durch die Garantie eines möglichst umfassenden staatsfreien Bereiches, in dem das Individuum sein Leben nach eigener Entscheidung gestalten kann, gewahrt werden könnten. Wenn diese Betrachtungsweise fragwürdig wird, ergibt sich für die Verfassungsordnung ein wesentliches Grundproblem menschlichen Zusammenlebens: Das Spannungsverhältnis zwischen der Eigenständigkeit des Individuums und den Bedürfnissen, Rechten und Pflichten, die sich aus dem Zusammenleben der Menschen unter den heutigen Verhältnissen ergeben, bedarf einer Klärung. Eine Verfassungsordnung, die weder dem schrankenlosen Individualismus noch dem die Freiheit mißachtenden Kollektivismus huldigt, muß die sich aus der Polarität von Freiheit und Zwang, der Achtung der Einzelperson und deren Eingliederung in die staatliche Gemeinschaft ergebenden Fragen beantworten. Die Qualität des Staatsgrundgesetzes hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, solche unvermeidlichen Konfliktsituationen zu bewältigen. Vollends unausweichlich werden solche Fragen in Staaten mit hochentwickelten Gesell-

4

5 6

7

GEIGER B V e r f G G , Kommentar (1952) S. 134; ZIPPELIUS B K , 17 L f g . (1966) Rdn. 43 zu Art. 1; DÜRIG Das Eigentum als Menschenrecht, ZStW 109 (1953) S. 327; sowie BVerfG E 1, 14 (17). B V e r f G E 3, 213 (233). B V e r f G E 12, 45 (51); Bezugnahme in BVerfG E 33, 1 (lOf); 37, 57 (65). WINTRICH Die Bedeutung der Menschenwürde für die Anwendung des Rechts, BayVBl. 3

(1957) S. 137; DÜRIG in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Rdn. 14 zu Art. 1 Abs. 1; zur zentralen Stelle der Menschenwürde in der verfassungsrechtlichen Wertordnung ferner ZIPPELIUS a a O (Anm. 4) Rdn. 26; MAIHOFER Rechtsstaat und menschliche Würde (1968) S. 102; gegen die Übersteigerung der Menschenwürde zum obersten Wert der Rechtsordnung GEIGER Grundrechte und Rechtsprechung (1959) S. 21.

2. Abschnitt. D i e Menschenwürde (BENDA)

109

schaftsordnungen, in denen sich der Staat durch immer wachsende Anforderungen seiner Bürger bedrängt sieht, die oft nur um den Preis einer Verringerung individueller Freiheit erfüllt werden können. Einzelfreiheit und Gemeinwohl soweit als möglich in Einklang zu bringen, ist die wesentliche Aufgabe jeder Politik. Wenn man nicht darauf vertrauen will, daß im freien Spiel der Kräfte sich die richtigen Lösungen ergeben werden, ergibt sich eine Grundfrage der Verfassungsordnung. Das Grundgesetz versucht, das Spannungsverhältnis Individuum-Gemeinschaft einerseits durch die Gewährleistung von Grundrechten, andererseits durch die Normierung von Schranken und Sozialpflichtigkeiten auszugleichen. Da das Bekenntnis zur Würde des Menschen die prinzipielle Auffassung des Grundgesetzes bestimmt, ergibt sich schon hieraus die Auswirkung der Vorschrift auf andere Grundrechte. Auch die Sozialstaatsklausel (Art. 20, 28 G G ) nimmt den Leitgedanken auf und verfolgt ihn weiter. Die Gesamtansicht aller dieser Normen, insbesondere der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 G G , ergibt das Bild des Menschen, wie ihn das Grundgesetz sieht 8 . 2. Das Menschenbild des Grundgesetzes „ D a s Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten" 9 . Diese Aussage des Bundesverfassungsgerichts hat weitreichende Konsequenzen: „ D e r Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt" 1 0 . Damit werden sowohl die individualistischen Auffassungen des klassischen Liberalismus als auch kollektivistische Bestrebungen abgelehnt; unter Verzicht auf Extremlösungen wird eine mittlere Linie gesucht. Damit ist für die Lösung der praktischen Konfliktsituation zwischen Individuum und Gemeinschaft kein fertiges, allgemeingültiges Rezept gefunden. Welche politisch mögliche Entscheidung für den Einzelnen zumutbar ist, muß von Fall zu Fall an Hand des Grundgesetzes entschieden werden. Auch die aus dem Gebot der Achtung der Menschenwürde entnommene „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen", d.h. die Vermutung zugunsten der Freiheitsgewährung und gegen die Freiheitsbeschränkung 11 befreit nicht von der Verpflichtung, zunächst die Antwort auf die Sachfrage unter Wahrung der nach beiden Richtungen bestehenden verfassungsrechtlichen Schranken zu suchen, also die Zweifel nicht nur mit Hilfe einer Vermutung zu beantworten. Zwar beruht die Idee des freiheitlichen Rechtsstaates

8 9

B V e r f G E 4, 7 (16). B V e r f G E 4, 7 (15F); 12, 45 (51); ähnlich D ü RIG a a O ( A n m . 7 ) R d n . 4 6 ; Z I P P E L I U S

10

( A n m . 4) R d n . 27 m . w . N . B V e r f G E 4, 7 ( 1 7 ) .

aaO

11

PETER

SCHNEIDER

In

dubio

pro

übertäte,

H u n d e r t Jahre deutsches Rechtsleben, F S Deutscher Juristentag 1960, B d . 2, S. 290; f e r n e r MAIHOFER a a O ( A n m . 7) S . 1 2 7 ; M A R -

CIC D e r unbedingte Rechtswert des Menschen, F S Voegelin (1962) S. 389.

2. Kapitel. Grundrechte

110

(Art. 20 GG) auf der „normativen Prämisse", „daß die Würde des Menschen in einer Ordnung größerer Freiheit eher gewährleistet ist als in einer Ordnung größerer Sicherheit" 12 . Aber das ebenfalls in Art. 20 G G enthaltene Sozialstaatsprinzip verhindert eine rein individualistische Handhabung der grundrechtlichen Normen 1 3 und bewahrt vor dem Mißverständnis, daß um der Würde des Einzelnen willen seine Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit übersehen werden dürfte. Der Sozialstaat bemüht sich um eine gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung; der Rechtsstaat verhindert, daß hierbei der Kernbereich personaler Freiheit gefährdet wird. Das Verfassungsrecht kann dem Gesetzgeber die Aufgabe nicht abnehmen, in der Spannung zwischen dem Freiheitsrecht des Einzelnen und den Anforderungen der sozialstaatlichen Ordnung eine sachgerechte Lösung zu finden. Zwischen beiden Polen muß der Gesetzgeber seine politische Entscheidung treffen 14 . Art. 1 Abs. 1 G G enthält nicht nur eine ethische Deklaration; vielmehr handelt es sich — mindestens — um eine aktuelle Norm des objektiven Rechts. Die rechtliche Tragweite der hier für alle staatliche Gewalt ausgesprochenen Verpflichtung wird durch Art. 79 Abs. 3 G G verstärkt; eine Norm, an der selbst der verfassungsändernde Gesetzgeber nichts ändern dürfte, kann nicht bloß als eine unverbindliche Aussage über ethisch Wünschenswertes verstanden werden. Gewiß ist die Würde des Menschen zunächst ein sittlicher Wert. Ihre Aufnahme in das Grundgesetz bedeutet, daß sie zum Rechtswert geworden ist, ihre rechtliche Erfassung also positiv-rechtliches, d.h. verfassungsrechtliches Gebot ist 1 5 . Jedenfalls der Staat ist rechtlich verpflichtet, die Menschenwürde zu wahren und nach Maßgabe seiner Möglichkeiten überall ihren Schutz zu übernehmen. Die Befugnisse des Staates sind dadurch begrenzt, daß mit dem Gebot auf Achtung der Menschenwürde eine absolute Schranke jeder Staatstätigkeit gesetzt wird. Zugleich erweitern sich seine Pflichten, da der Staat diesen Wert schützen, also den in ihrer Würde (von wem auch immer) bedrohten Menschen zu Hilfe kommen muß, also nicht in Untätigkeit verharren darf. Achtung und Schutz der Menschenwürde sind bindende Richtlinien für die gesamte Staatstätigkeit. Hiermit ist noch nicht entschieden, ob dem einzelnen in seiner Würde berührten Menschen ein Grundrecht, d.h. ein subjektiv öffentliches Recht zusteht, sich gegen derartige Angriffe zu wehren. Da aber die Menschenwürde der höchste von der Verfassung geschützte Rechtswert ist, erscheint mit diesem Verständnis schwerlich die Vorstellung vereinbar, daß der Betroffene von der Berufung gerade auf diese zentrale verfassungsrechtliche Gewährleistung ausgeschlossen sein soll. Dem System des Grundgesetzes, das gegen jede Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt den Rechtsweg eröffnet, entspricht es vielmehr, daß die Möglichkeit praktischer Wertverwirklichung umso mehr garantiert wird, je höher der Rang des Rechtsgutes in der Hierarchie der Verfassungswerte steht. Die Ausstrahlungen des Art. 1 Abs. 1 G G erfassen nicht nur alle das Verhältnis des Einzelnen zum Staat regelnden Normen, "

MAIHOFER a a O (Anm.

13

SCHEUNER Die Funktion der Grundrechte im Sozialstaat. Die Grundrechte als Richtlinie und Rahmen der Staatstätigkeit, D Ö V 24 (1971) S. 506.

7 ) S.

127.

»« B V e r f G E 10, 354 ( 3 7 1 ) ; 29, 221 (235). 1 5 HUBER Der Streit um das Wirtschaftsverfassungrecht, D Ö V 9 (1956) S. 2 0 3 .

2. Abschnitt. Die Menschenwürde (BENDA)

111

also den Bereich der Grundrechte, sondern wirken tief in die Grundfragen des Verständnisses des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates hinein. Auch die Annahme, daß ein staatlicher Angriff auf die Menschenwürde in jedem Falle durch die Berufung auf eines der speziellen Grundrechte (jedenfalls des Art. 2 Abs. 1 GG) aufgefangen werden könnte, die Ausgestaltung des Art. 1 Abs. 1 GG zu einem subjektiv-öffentlichen Recht also entbehrlich erscheine, muß zuvor Art. 1 Abs. 1 GG „als Wertmaßstab" in die Spezialinterpretation dieser Grundrechte einbeziehen16. Vor allem aber: die Menschenwürde selbst spricht dafür, daß dem Einzelnen eine reale Möglichkeit zugestanden wird, seine Würde selbst zu wahren. Vielfach wird aus Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet, daß der Mensch nicht zum bloßen Objekt staatlichen oder gesellschaftlichen Handelns gemacht werden dürfe. Warum sollte ihm dann gerade an der Stelle, wo ihm eben dies zugesichert wird, die Verantwortung abgenommen, er also zum „Objekt" einer nur als objektive Norm verstandenen Wertentscheidung gemacht werden? Art. 1 Abs. 1 GG begründet daher ein im Wege der Verfassungsbeschwerde durchsetzbares Grundrecht17. Hieraus folgt aber nicht ohne weiteres ein verfolgbarer Rechtsanspruch auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers in bestimmter Richtung. Dieser ist zwar durch die Wertentscheidung des Grundgesetzes im Ziel seiner Tätigkeit festgelegt, in der Wahl seiner Mittel jedoch — im Rahmen der Verfassung — frei. Nur eine willkürliche Pflichtversäumnis könnte zur Folge haben, daß dem Einzelnen ein Anspruch auf ein bestimmtes Handeln erwächst18. Solche extremen Situationen sind schon aus politischen Gründen nicht sehr wahrscheinlich. Menschenwürde kommt jedermann zu, ohne Rücksicht auf seine persönlichen körperlichen, geistigen oder seelischen Eigenschaften und auf seine sonstigen Verhältnisse, nach vorherrschender Ansicht auch dem Nasciturus und dem Toten 19 . Die Würde des Menschen wird nicht nur durch Art. 1 GG, sondern mit jeweils besonderer Blickrichtung auf einzelne Gefährdungsmöglichkeiten durch Art. 2 ff GG geschützt. Den Grundrechten ist gemeinsam, daß sie um der Menschenwürde willen erforderlich erscheinen, sich also dem ihnen gemeinsamen Grundgedanken nach bereits aus Art. 1 Abs. 1 GG ergeben. Sie sind „partiell verselbständigte Ausschnitte aus der Menschenwürde" 20 . Freilich verdanken die Grundrechte ihre Entstehung unterschiedlichen politischen und sozialen Ideen, und sie stellen jeweils eine Antwort auf die besonderen Herausforderungen der Zeit dar. Aber bei aller Wandelbarkeit des Begriffs der Gerechtigkeit hat diese noch einen überzeitlichen materialen Gehalt, der am ehesten mit der Würde des Menschen umschrieben werden kann.

16

17

DÜRIG Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, A ö R 81 (1956) S. 122; DERS. aaO (Anm. 7) Rdn. 13; zur vergleichenden Betrachtung der Würdebegriffe vgl. GIESE Das Würdekonzept (1975). Vgl. WERTENBRUCH Grundgesetz und Menschenwürde (1958) S. 163; ZIPPELIUS aaO ( A n m . 4) Rdn. 32, 33; a . A . z . B . DÜRIG a a O

(Anm. 7) Rdn. 4. O b das B V e r f G A r t . 1 Abs.

18 19

1 G G allein als subjektiv einklagbares Grundrecht ansieht, mag hier offenbleiben. B V e r f G E 1, 97 (105); 45, 187 (228). B V e r f G E 30, 173 (194); DÜRIG aaO (Anm. 7) Rdn.

20

1 8 f f ; ZIPPELIUS a a O

(Anm.

4)

Rdn.

2 2 f f ; v. MANGOLDT/KLEIN Das Bonner Grundgesetz Bd. I (1957) , S. 150. KÜBLER Über Wesen und Begriff der Grundrechte, Diss. Tübingen (1965) S. 151.

112

2. Kapitel. Grundrechte

Gegen die Vorstellung eines Systems der Grundrechte im Sinne einer logisch-systematischen Ordnung werden Bedenken erhoben, weil dies dazu führen könnte, in die Verfassung eine Hierarchie der Grundrechte hineinzudeuten etwa in dem Sinne, daß alle Einzelgrundrechte Ausfluß eines aus Art. 2 Abs. 1 G G entnommenen „Hauptfreiheitsrechts" seien 2 1 . D a aber jedenfalls durch Art. 1 Abs. 2, 79 Abs. 3 G G ein Grundbestand an Menschenrechten auch gegen eine Verfassungsrevision gesichert wird, muß der konkrete „Menschenwürdegehalt" 2 2 der einzelnen Grundrechte schon deshalb ermittelt werden, um die Grenze ihrer normativen Einschränkbarkeit zu bestimmen; dies setzt die Erfassung des rechtlichen Inhalts von Art. 1 Abs. 1 und 2 G G voraus. Eine ähnliche, aber schwächere (weil durch Art. 79 Abs. 3 G G nicht erfaßte) Sicherung gegen die Beseitigung oder Aushöhlung der Grundrechte ergibt sich aus der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 G G . Der Wesensgehalt eines Grundrechts muß nicht mit seinem „Menschenwürdegehalt" identisch sein 2 3 ; je stärker aber das jeweilige Grundrecht durch die Garantie der Menschenwürde geprägt, ja durch diese zwingend gefordert wird, desto mehr gelangen beide Gehaltsgewährleistungen zur Deckung. So ergibt sich ohne weiteres, daß die Menschen, denen die Menschenwürde ohne jede Ausnahme zukommt, auch die gleichen Rechte haben müssen. Art. 3 Abs. 1 G G ist daher eine selbstverständliche Konsequenz des Art. 1 Abs. 1 G G 2 4 . Auch die wesentlichen Leitgedanken des Art. 5 G G sind aus dem Grundrecht der Menschenwürde abzuleiten. Insbesondere die Informationsfreiheit enthält eine individualrechtliche, aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 G G herleitbare Komponente 2 5 , weil es zu den elementaren Bedürfnissen des Menschen gehört, sich frei und möglichst umfassend unterrichten zu können. Auch die Freiheit der geistigen Auseinandersetzung, die Art. 5 G G sichert, entspricht einem Grundbedürfnis der Persönlichkeit, die in einem freiheitlichen Gemeinwesen leben will 2 6 . Das Verhältnis des Art. 1 Abs. 1 G G zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 G G wird so beschrieben, daß Art. 1 Abs. 1 G G die Persönlichkeit statisch zeige, also aussage, wie sie „ i s t " , während Art. 2 Abs. 1 G G sie dynamisch auffasse, also so zeige, wie sie „handelt" 2 7 . Art. 2 Abs. 1 G G enthält den Grundgedanken des Art. 1 Abs. 1 G G als Motiv und Inhaltskern: die Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit ist dem Grunde nach um der Würde des Menschen willen geboten. D a Freiheit nicht unbegrenzt sein kann, sind die in Art. 2 Abs. 1 G G vorgesehenen Beschränkungen möglich. Sie

21

SCHEUNER a a O ( A n m . 13) S. 509; ähnlich

M B V e r f G E 5 , 8 5 ( 2 0 5 ) ; SCHMIDT-BLEIBTREU/

KLEIN Grundgesetz (5. Aufl.) Rdn. 2 zu Art.

ZIPPELIUS a a O ( A n m . 4 ) R d n . 2 7 ; WINTRICH

Zur Problematik der Grundrechte (1957) S. 26. 22

V g l . WINTRICH a a O ( A n m . 2 1 ) S . 19.

1 ; D Ü R I G a a O ( A n m . 16) S . 1 2 1 .

"

BVerfGE 27, 71 (81).

26

B V e r f G E 5 , 85 ( 2 0 5 ) ; SCHMIDT-BLEIBTREU/

23 NIPPERDEY Die Würde des Menschen in: Die

KLEIN a a O ( A n m . 24) R d n .

G r u n d r e c h t e , B d . 2 ( 1 9 5 4 ) S . 1 5 ; ZIPPELIUS

aaO (Anm. 4) Rdn. 48; LEISNER Grundrecht

27

1 6 ; WINTRICH

aaO (Anm. 2 1 ) S . 1 4 . DÜRIG Die Menschenauffassung des G G , J R

u n d P r i v a t r e c h t ( 1 9 6 0 ) S . 1 5 8 ; WINTRICH a a O

1 9 5 2 , S . 2 6 1 ; NIPPERDEY a a O ( A n m . 2 3 ) S .

( A n m . 2 1 ) S . 1 9 ; D Ü R I G a a O ( A n m . 7) R d n .

15.

8 1 ; D E R S . a a O ( A n m . 16) S . 1 3 6 .

2. Abschnitt. Die Menschenwürde (BENDA)

113

dürfen aber nicht weiter gehen, als der in der Norm enthaltene „Menschenwürdegehalt" zuläßt. Der Kernbereich personaler Freiheit kann demnach auch nicht aus den in Art. 2 Abs. 1 G G angegebenen Gründen angetastet werden. Deutlich ist der Zusammenhang der Menschwürde mit den Grundrechten der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Freiheit der Berufswahl, der Unverletzlichkeit der Wohnung; hier wie bei den anderen Grundrechten geht es darum, aus der Wertentscheidung für den Menschen als einer freien und sittlich verantwortlichen Persönlichkeit praktische Konsequenzen zu ziehen. Auch die Entscheidung des Grundgesetzes für die freiheitliche Demokratie und die rechtsstaatliche Ordnung ergibt sich nach westlichem, durch geschichtliche Erfahrung vertieftem Verständnis aus dem Bekenntnis zur Menschenwürde. Diese wird nur unter den Bedingungen politischer Freiheit konsequent verwirklicht. Freiheit bedeutet dabei nicht bloß Schutz vor der Staatsgewalt, sondern auch Chance zur Mitwirkung an der Staatswillensbildung für jeden Bürger als weiteres wesentliches Element des demokratischen Rechtsstaates 28 . 3. Begriff und Inhalt der Menschenwürde Wer Menschenwürde definieren will, knüpft an die Frage an, was denn das spezifische Wesen des Menschen ausmache. Das Grundgesetz selbst setzt die Würde des Menschen ohne nähere Erläuterung voraus. Eine aus der jeweiligen subjektiven weltanschaulichen oder ideologischen Position entnommene Inhaltsbestimmung des Art. 1 Abs. 1 G G sollte aber vermieden werden. Eine Interpretation, die der Funktion des Art. 1 Abs. 1 G G innerhalb der Verfassungsordnung entspricht, kann an die bei Verabschiedung des Grundgesetzes herrschenden rechtsethischen Vorstellungen anknüpfen, die unter dem Eindruck der vorgefundenen historischen Situation standen; andererseits sind die seitdem eingetretenen Wandlungen und Konkretisierungen der Auffassungen zu berücksichtigen. Zweifellos reagiert das Bekenntnis zur Würde des Menschen auf dessen Verachtung und Erniedrigung in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft; nach den Erfahrungen des „Dritten Reiches" sollte der Mensch niemals wieder zum Objekt eines Kollektivs erniedrigt werden dürfen 29 . Offenkundig mißachten z. B. Folter oder Sklaverei die Menschenwürde. Wenn das Bundesverfassungsgericht in einer frühen Entscheidung darlegte, daß Art. 1 Abs. 1 G G nicht eine Pflicht des Staates zum Schutz vor materieller Not meine, sondern die Menschenwürde vor Angriffen wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. schütze 30 , so entsprach das ganz dem Verständnis der Norm als einer Reaktion auf das erfahrene Unrecht der Gewaltherrschaft.

28

Zum Verhältnis des Grundrechts der Menschenwürde zu Demokratie und Rechtsstaat vgl. MARCIC Ein neuer Aspekt der Menschenwürde, Festgabe für E. v. Hippel zum 70. Geburtstag (1965) S. 200; ZIPPELIUS aaO (Anm.

4)

Rdn.

6;

SCHMIDT-BLEIBTREU/

KLEIN aaO (Anm. 24) Rdn. 15; BVerfGE 5, 85 (205). 29

DÜRIG a a O

(Anm.

27)

aaO (Anm. 7) S. 9. 3° BVerfGE 1, 97 (104).

S. 2 5 9 ;

MAIHOFER

2. Kapitel. Grundrechte

114

Eine rechtsstaatliche Ordnung schließt solche offenkundigen Verletzungsvorgänge aus; gleichwohl muß auch heute möglichen Willkürakten begegnet werden. Die Mißachtung der Menschenwürde ist das Wesensmerkmal des Unrechtsstaates; aber auch in einem Rechtsstaat bleibt es möglich, daß einzelne Amtsträger den an der Verfassung orientierten Staatszielen zuwiderhandeln könnten. A m ehesten gefährdet erscheinen Angehörige rassischer oder religiöser Minderheiten oder sonst am Rande der Gesellschaft Lebende, wie z . B . psychisch Kranke, Asoziale oder straffällig Gewordene. Art. 1 Abs. 1 G G reagiert auch auf diese Erfahrung 3 1 . Wenn man bei der Auslegung der Verfassungsnorm nicht von dem Menschen ausgeht, wie dieser in der Realität ist, sondern sich an einem sozialethischen Idealbild orientiert, dürften sich gerade solche besonders schutzbedürftigen Personengruppen eigentlich nicht auf Art. 1 Abs. 1 G G berufen. Ein Triebtäter oder oft auch ein Geisteskranker ist zu freier sittlicher Entscheidung nicht oder nur begrenzt fähig; eben diese macht aber nach oft geäußerter Meinung die Einzigartigkeit des Menschen aus 3 2 . Man muß sich daher, wenn man nicht solche am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen des verfassungsrechtlichen Schutzes berauben will, mit einer bescheideneren Definition begnügen, die von der potentiellen, abstrakten Fähigkeit des Menschen ausgeht, seinen Eigenwert zu verwirklichen 33 . Art. 1 Abs. 1 G G gilt für jeden Menschen ohne Rücksicht auf seinen individuellen sittlichen Entwicklungsstand, weil jeder Mensch wenigstens der Idealvorstellung nach zu sittlicher Selbstverwirklichung fähig ist. Dem Staat muß es verwehrt sein, Menschen nach ihrem vermeintlichen sittlichen Wert zu klassifizieren. Der Staat darf sich nicht anmaßen, über irgendeinen seiner Gewalt Unterworfenen ein abschließendes Urteil zu sprechen. Er achtet den Menschen, dessen Würde sich darin zeigt, daß er sich nach Maßgabe seiner Möglichkeiten bemüht. Selbst wenn solche Hoffnung vergeblich scheint, weil ihr schicksalhafte Anlagen und Entwicklungen oder eigene Schuld entgegenstehen, darf von Staats wegen ein abschließendes Unwerturteil über den Menschen nicht ausgesprochen werden. Wenn der Mensch als eine „mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte Persönlichkeit'" zu sehen ist, darf er nicht als Untertan einer noch so sehr um sein Wohl bemühten Obrigkeit behandelt werden 3 4 . Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen 3 5 . In der Herabwürdigung des Menschen zum Objekt, zur vertretbaren Größe wird die entscheidende Verletzung des Art. 1 Abs. 1 G G gesehen 3 5 . Aber diese Formel kann nur die Richtung andeuten, in welche die Konkretisierung des Inhalts und damit des Schutzbereiches der Menschenwürde zu gehen hat. Sie ist zumal deswegen noch zu allgemein und unscharf, weil im modernen Staatswesen der individuellen Freiheit im 31

V g l . a u c h D Ü R I G a a O ( A n m . 7) R d n .

32

NIPPERDEY a a O ( A n m . 2 3 ) S. 1; SCHMIDTBLEIBTREU/KLEIN

33

aaO

(Anm.

24)

19.

Rdn.

1;

34

B V e r f G E 5, 85 (204).

35

BVerfGE

27,

1 (6); DÜRIG

aaO

(Anm.

S. 3 4 ; WINTRICH a a O ( A n m . 21) S. 17;

7) zur

ähnlich DÜRIG a a O ( A n m . 27) S. 261.

Kritik dieser Definition LEISNER a a O (Anm.

D Ü R I G a a O ( A n m . 7) R d n . 18; a . A .

23) S. 140.

MANN

Grundrechtskommentar

( 1 9 6 7 - 6 9 ) Anm. I l b zu Art. 1.

BRINK-

zum

GG

2. Abschnitt. Die Menschenwürde (BENDA)

115

Interesse der Gemeinschaft Grenzen gesetzt werden müssen, und zwar gerade um der Erreichung menschenwürdiger Lebensbedingungen für alle willen. Die industrielle Massengesellschaft erfordert ein hohes Maß intensiver staatlicher Daseinsvorsorge, planender Eingriffe und lenkender Ordnungen. In ihr ist der Mensch unvermeidlich auch Objekt staatlicher Regelungen, so wie er in seinem beruflichen und privaten Leben weithin von anderen abhängig ist und vielfältigen Umwelteinflüssen unterliegt. Diese anscheinend unaufhebbare Objektstellung des Menschen, seine Entpersönlichung in Staat und Gesellschaft ist eine Hauptursache für die neueren Protestbewegungen und die vor allem in der jüngeren Generation unternommenen Versuche, alternative Lebensformen zu finden, um den Zwängen der Gesellschaft zu entgehen, bis hin zu den oft in persönlichen Katastrophen endenden Bemühungen, „auszusteigen". Auch wer einräumt, daß die meisten der bestehenden Sachzwänge unter den heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten zwar gemildert, aber nicht gänzlich beseitigt werden können, weil anders ein geordnetes Zusammenleben unmöglich wäre, sieht sich in seinem Lebensgefühl gekränkt. Wenn man sich darüber klar wird, warum die elementare Bedrohung des Menschen als Individuum besteht, dann ergibt sich, wo heute die Hauptfront liegt, an welcher die Würde des Menschen zu verteidigen ist: es geht nicht in erster Linie um den Einzelnen, der sich auf ihn gezielter individueller staatlicher Willkür ausgesetzt sieht; bedroht ist vor allem der Einzelne unter vielen, der den Staat nicht mehr als konkrete Persönlichkeit interessiert, sondern nur noch Zählwert hat. Dem Staat verbleibt aber die Aufgabe, die Menschenwürde des Einzelnen zu achten. Uber den Anspruch hinaus, keiner Willkür unterworfen zu werden, erwartet der Bürger vom Staat zunehmend die Gewährleistung auch seiner materiellen Existenz. Art. 1 Abs. 1 G G verlangt jedenfalls, daß dem Einzelnen die für ein menschenwürdiges Dasein unabweisbar notwendigen Güter zu belassen sind. Staatseingriffe insbesondere in das persönliche Eigentum, z. B . durch Steuern, dürfen nicht so weit gehen, daß auch die bescheidenste Existenzgrundlage entzogen wird. Bereits die in Art. 1 Abs. 1 G G normierte Verpflichtung der staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu „schützen" spricht darüber hinaus für eine positive Leistungspflicht des Staates, wenn anders eine menschenwürdige Existenz nicht geschaffen werden kann. Gegen die frühe Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, daß Art. 1 Abs. 1 G G nicht die Sicherung vor materieller N o t meine 3 6 , wird heute ganz überwiegend eine Pflicht des Staates zur Verschaffung des Existenzminimums bejaht; der ohne Schuld in N o t Geratene hat daher ein subjektives öffentliches Recht auf Hilfe; dies ist in § 1 Bundessozialhilfegesetz ausdrücklich ausgesprochen.

II. Schutz der Menschenwürde heute Es reicht nicht aus, wenn der Staat sich in seiner Tätigkeit so beschränkt, daß den Menschen ein genügend weiter individueller Freiheitsraum verbleibt. Art. 1 Abs. 1 36

B V e r f G E 1, 97 (104).

2. Kapitel. Grundrechte

116

S. 2 G G verlangt darüber hinaus, daß der Staat die Menschenwürde aktiv schützt. Er muß also ihren Bedrohungen dort entgegentreten, wo sie unter den sich ändernden Verhältnissen jeweils entstehen. Die im Nationalsozialismus erfahrenen Verletzungen der Menschenwürde bilden keine aktuelle Gefahr, wenn auch stets Wachsamkeit geboten ist. U m so wichtiger wird es, den in Gegenwart und Zukunft erkennbaren oder doch möglichen Gefährdungen zu begegnen. Die Grundwerte der menschlichen Existenz erhalten hierbei nicht einen je nach den Zeitverhältnissen unterschiedlichen Inhalt; aber ihre wesentlichen Aspekte lassen sich erst dann erkennen und juristisch erfassen, wenn sie aktuell oder doch potentiell bedroht werden. Auch die „Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 Abs. 3 G G ergibt, daß Menschenwürde stets, d.h. in Abwehr der jeweiligen sich wandelnden Gefahren zu achten und zu schützen ist. Dem Staat obliegt es auch, künftige Bedrohungen rechtzeitig zu erkennen und sich hierauf einzustellen, solange Abhilfe oder Vorsorge noch möglich ist. 1. Strafrecht und Strafverfahren Allgemein anerkannt ist, daß Art. 1 Abs. 1 G G im Bereich des Straf- und des Strafverfahrensrechts den einer strafbaren Handlung Beschuldigten davor bewahrt, zum bloßen Objekt staatlichen Strafanspruchs gemacht zu werden. Der in Art. 103 Abs. 1 G G enthaltene Grundsatz des rechtlichen Gehörs gilt im Straf- wie in jedem anderen Verfahren (einschließlich des Verwaltungsverfahrens) schon um der Wahrung der Menschenwürde willen. Wer durch eine Entscheidung in seinen Rechten betroffen wird, soll zu Wort kommen können, damit er auf das Verfahren und sein Ergebnis Einfluß nehmen kann. Dem Recht des Beschuldigten, sich durch aktives Eingreifen in das Verfahren verteidigen zu dürfen, entspricht es, ihn nicht gegen seinen Willen zum Reden zu zwingen. § 136a StPO ist die „Konkretisierung des Art. 1 Abs. 1 G G für das Gebiet des Strafprozesses" 3 7 . Dem gleichen Grundgedanken entspricht es, wenn jeder unmittelbare oder mittelbare Zwang zur Aussage ebenso als Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 G G angesehen wird wie psychologische oder technische Hilfsmittel jeder Art, die den Wahrheitsgehalt einer Äußerung des Beschuldigten anders als durch die unmittelbare Wahrnehmung des Vernehmenden ermitteln sollen, also insbesondere die Narkoanalyse oder der Lügendetektor 3 8 . Die Problematik eines ausnahmslosen Verbots solcher Hilfsmittel wird darin gesehen, daß ja auch die Würde des schuldlosen Opfers geschützt werden müsse; daher müßten „weitergehende Möglichkeiten der Wahrheitserforschung zu Gunsten des schuldlosen O p f e r s " ohne Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 G G geschaffen werden können 3 9 .

37

38

332 ff; a. A. hinsichtlich des Lügendetektors

NIPPERDEY a a O (Anm. 23) S. 30; ähnlich WINTRICH a a O ( A n m .

ZIPPELIUS a a O ( A n m . 4) R d n .

21).

Zu den Gefahren der praefontalen Lobotomie und Leuktomie im Bereich der Psychochirurgie vgl. schon FECHNER Die soziologische Grenze der Grundrechte (1954) S. 15 (Anm. 6 ) ; D Ü R I G a a O ( A n m . 7) R d n . 3 5 ; A r t . 2 A b s .

1 Rdn. 3 5 f f ; zum Lügendetektor B G H S t . 5,

39

18.

DÜRIG a a O (Anm. 16) S. 128; zustimmend RAMM Die Freiheit der Willensbildung. Zur Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte und der Rechtsstruktur der Vereinigung (1960) S. 16.

2. Abschnitt. Die Menschenwürde (BENDA)

117

Zweifellos gehört zu den legitimen Staatsaufgaben auch der Schutz der Bevölkerung vor Verbrechen. Aber im Strafverfahren geht es gerade erst um die Erforschung der Wahrheit. Solange sie nicht festgestellt ist, darf die Schuld des Verdächtigen nicht als vorhanden und nur noch zu beweisen unterstellt werden. Im übrigen geht es bei dem heutigen Strafensystem nur um die Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs, nicht um die Wiedergutmachung des Verbrechens gegenüber dem Opfer. Das verständliche Gefühl der Genugtuung, das dieses bei einer Bestrafung des überführten Täters empfinden mag, wird durch Art. 1 Abs. 1 G G nicht garantiert. Wenn einmal in besonders schweren Fällen oder gegenüber „ausgekochten Gewohnheitsverbrechern" das strenge Verbot derartiger Methoden der Wahrheitsermittlung gelockert würde, wäre bald jede klare Grenze verwischt und dürfte je nach den subjektiv beurteilten Umständen des Einzelfalles vorgegangen werden. Art. 1 Abs. 1 G G verbietet übermäßig hohe oder grausame Strafen 40 . Auch für den rechtskräftig bestraften Täter müssen die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz erhalten bleiben 41 . Die an sich zulässige Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe muß daher wenigstens dem Verurteilten eine Chance belassen, nach Verbüßung einer längeren Haftzeit im Wege bedingter Entlassung doch wieder die Freiheit erlangen zu können 4 2 . Erst recht würde eine im Wege der Änderung des Art. 102 G G bewirkte — gelegentlich auch im parlamentarischen Bereich wieder diskutierte — Wiedereinführung der Todesstrafe Art. 1 Abs. 2 G G verletzen. Hierdurch würde der Staat sich seiner Verpflichtung zur Resozialisierung jedes, auch des schwerster Straftaten überführten Täters entziehen, die sich aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 G G und dem Sozialstaatsgebot ergibt 43 . Strafe setzt Schuld voraus; auch die Höhe der Strafe wird wesentlich durch das Maß der Schuld bestimmt. Daneben dürfen aber auch andere Umstände die Strafzumessung mit beeinflussen, sofern der Täter hierdurch nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung gemacht wird. Art. 1 Abs. 1 G G verbietet weder die Mitberücksichtigung des eingetretenen Schadens noch die Abschreckung anderer als (Neben-)Strafzweck, sofern ein angemessenes Verhältnis zwischen Täterverantwortung und Strafmaß gewahrt bleibt. Bedenken gegen die Generalprävention bestehen dann, wenn diese die Strafe als Mittel sieht, den Rechtsbrecher als „Instrument der Polizeifunktion des Staates" zu behandeln 44 . Würde jede generalpräventive Überlegung unzulässig sein, ließe sich aber kaum begründen, weshalb der Staat auch bei feststehender Schuld aus Gründen der Staatsräson von der Strafverfolgung absehen darf (§ 153 c StPO). Auch die Individualprävention (Maßnahmen der Besserung oder Sicherung) setzt voraus, daß die Strafe sich im Rahmen der Schuld hält und der Täter nicht zum Objekt zweckmäßiger Behandlung entwürdigt wird.

40 N I P P E R D E Y a a O ( A n m .

2 3 ) S. 3 1 ;

KÜNKELE

Die positiv-rechtlichen Auswirkungen des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes, Diss. Tübingen (1958) S. 103; BVerfGE 1, 332 (348).

41 42

" 44

BVerfGE 45, 187 (228). BVerfGE 45, 187 (229). BVerfGE 45, 187 (238ff). BADURA Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, S. 344.

2. Kapitel. Grundrechte

118

2. Privat- und Intimbereich Wenn der Staat in den privaten Bereich des Einzelmenschen eindringen will, also Vorgänge oder Eigenschaften aufdecken möchte, die dieser für sich zu behalten wünscht, so bedarf er hierfür hinreichend rechtfertigender Gründe. Die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 G G ) beruht auf dem gleichen Gedanken: was im häuslichen Bereich vorgeht, geht niemanden etwas an; wenn allerdings dort Verbrechen verübt werden oder Gefahren für die Umgebung entstehen, können überwiegende öffentliche Belange sich als stärker erweisen (Art. 13 Abs. 3 G G ) . Wesentlich ist, wo die Grenze zwischen wirklich Privatem und solchen Vorgängen verläuft, welche die Interessen anderer berühren. Auch das persönliche Verhalten im intimsten Bereich kann soziale Relevanz haben; dagegen berührt die unzutreffende Feststellung ehewidriger Beziehungen in einem Scheidungsurteil die Ehre des genannten Dritten und damit sein Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 G G 4 S . Es kann gegen die Menschenwürde (und das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 G G ) verstoßen, wenn im Rahmen eines Disziplinarverfahrens Einsicht in Ehescheidungsakten genommen wird 4 6 ; aber wenn das Gebot der Verhältnismäßigkeit beachtet ist, kann der gleiche Eingriff zulässig sein. Solche Einzelentscheidungen deuten eine Entwicklung an, die sich erst in ihren Anfängen befindet und in Zukunft wahrscheinlich eine immer zunehmende Bedeutung erlangen wird. Die nicht nur als zwangsläufig hingenommene, sondern von vielen Menschen als ihr selbstverständliches Recht geforderte Daseinsgestaltung durch den Staat im Interesse seiner Bürger wird auch durch die Modernisierung und Technisierung der Verwaltung zunehmend vervollständigt und immer effektiver gestaltet. So wird der Mensch mit anscheinend unentrinnbarer Zwangsläufigkeit erfaßt und verplant. Dies alles geschieht zu seinem Wohl oder doch jedenfalls in bester Absicht; aber es stellt sich die Frage, ob angesichts dieser heute in vollem Gang befindlichen Entwicklungen ein menschenwürdiges Dasein überhaupt noch möglich ist. Dies ist die Verfassungsfrage der nahen Zukunft; hinter ihr werden alle anderen durch Art. 1 Abs. 1 G G aufgeworfenen Probleme an Bedeutung zurücktreten. MARCIC formuliert diese Aufgabenstellung so: „ D i e Freiheit von Lärm; das Recht auf ein innengeleitetes Leben, wo das Wesen des Menschen sozusagen gewaltsam nach außen gewendet wird . . .; das Recht auf Integrität der Psyche, auf die Unversehrtheit des Vernunftvermögens und der Willenskraft; das Recht auf innere Sammlung, auf Ruhe und Muße mitten in einer tobenden, tosenden, brüllenden Welt; ja selbst das Recht auf eigene Verantwortung, auf Nächstenliebe, auf Nächstenhilfe, welches dem Menschen zu nehmen der totale Rentnerstaat sich anschickt: all dies sind Seins werte der menschlichen Existenz, die man erst heute erkennt, weil sie erst heute bedroht werden, um deren , Artikulierung' und deren Schutz werden wir zu ringen haben" 4 7 . In der so gekennzeichneten Problematik ist zunächst das natürliche und durch Art. 1 Abs. 1 G G geschützte Recht jedes Menschen angesprochen, jedermann und auch dem Staat den Zutritt zu dem „Innenraum" seiner Persönlichkeit zu verweigern, 45 46

B V e r f G E 15, 283 (286). B V e r f G E 27, 344 ff.

47

MARCIC a a O ( A n m . 11) S. 392.

119

2 . Abschnitt. Die M e n s c h e n w ü r d e (BENDA)

also über eine ungestörte Intimsphäre zu verfügen. Dabei handelt es sich nicht lediglich um denjenigen Bereich, der wegen eines natürlichen Schamgefühls vor fremder Neugier bewahrt wird, also insbesondere nicht nur um die Sexualsphäre, sondern in gleicher Weise um das Recht, körperliche Mängel, Absonderheiten oder Gebrechen nicht ohne zwingenden Grund offenbaren zu müssen, ebenso aber um den Bereich von Glauben und Gewissen, darüber hinaus um alle Ausprägungen der Individualität des Menschen: Liebhabereien, Sammelleidenschaften oder andere persönliche Neigungen, Skurrilitäten, gefühlsbetonte Sympathien oder Antipathien, schließlich politische oder andere Uberzeugungen. All dies und anderes sind Eigenschaften, welche den Menschen zur unverwechselbaren Persönlichkeit machen. Eben diese Charakter- und Wesenszüge stehen im Mittelpunkt privater und öffentlicher Neugier; wo der Einzelne auf öffentliches Interesse stößt, bilden sich hieraus die Hauptthemen der Unterhaltungs- und Klatschindustrie. Der im amerikanischen Recht entwickelte Begriff der „Privacy" umfaßt das Recht, „von der Gesellschaft oder Beobachtung anderer getrennt oder frei zu sein, aber auch Abgeschlossenheit, Intimsphäre, häusliche Sphäre, (den) von der Öffentlichkeit verschiedene(n) Lebensbereich eines Menschen" 4 8 . Der Ausdruck „right to be let alone" sagt noch besser, daß es für das Verlangen, in Ruhe gelassen zu werden, überhaupt keiner Begründung bedarf. Der Schutz der Privat- oder Intimsphäre rechtfertigt sich aus dem Respekt vor dem „right of the individual to decide for himself, with only extraordinary exceptions in the interests of society, when and on what terms his acts should be revealed to the general public" 4 9 . Der Verfassungsrang des Individualrechts, in Ruhe gelassen zu werden, begründet sich daraus, daß ein solcher Schutz psychologisch und physiologisch unmittelbare Existenzvoraussetzung des Lebens in einer industriellen Massengesellschaft ist. Niemand kann die an ihn durch Beruf und Umwelt gestellten Anforderungen pausenlos erfüllen, ohne wenigstens die Chance zu haben, sich in sich selbst zurückzuziehen, ja auch sich gehen zu lassen. „Like actors on the dramatic stage . . . individuals can sustain roles only for reasonable periods of time, and no individual can play indefinitely, without relief, the variety of roles that life demands. There have to be moments ,off stage' when the individual can be ,himself': tender, angry, irritable, lustful or dream-filled . . . To be always ,on' would destroy the human organism" s 0 . In dieser Sicht bedarf das Recht auf die Privatsphäre keines geringeren Schutzes als der Anspruch auf die elementaren materiellen Existenzvoraussetzungen. Aber in dem gleichen Maße, in dem physische Not seltener wird und der Staat sich mit Erfolg um Existenz und Wohlstand seiner Bürger bemüht, wird der Schutz der Privat- und Intimsphäre vernachlässigt. Der Zusammenhang ist nicht bloß zufällig: der Staat muß in seiner auf die Sicherung der materiellen Existenz der Bürger gerichteten Planung

48

KAMLAH Right o f P r i v a c y . Das allgemeine

Law,

Persönlichkeitsrecht in amerikanischer Sicht

( 1 9 6 6 ) S. 2 5 4 .

unter

Berücksichtigung

neuer

Law

and

Contemporary

Problems

technologi-

49

WESTIN Privacy and F r e e d o m ( 1 9 7 0 ) S. 4 2 .

scher Entwicklungen ( 1 9 6 9 ) S. 5 7 ; ähnlich

50

WESTIN a a O ( A n m . 4 9 ) S. 3 5 .

BEANEY T h e Right to Privacy and A m e r i c a n

120

2. Kapitel. Grundrechte

zwangsläufig Informationen, Auskünfte und Daten beschaffen, die oft in den Bereich der Privatsphäre hineinreichen. Statistische und andere Erhebungen sind oft die Voraussetzung für die Planmäßigkeit staatlichen Handelns. Sie können aber die Menschenwürde gefährden, wenn sie den Bereich des individuellen Lebens erfassen wollen, der „von Natur aus Geheimnischarakter hat" 5 1 . Für das Verhältnis der Bürger zueinander, also vor allem im Bereich des Zivilrechts, hat sich mit der richterrechtlichen Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Anspruch auf eine Privatsphäre durchgesetzt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wie es unter dem Einfluß des verfassungsrechtlichen Menschenbildes gesehen wird, stellt ein sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar; es schützt im Zivilrechtsverkehr gegen rechtswidriges Eindringen in den Privatbereich. Auch hier geht es nicht nur um den Schutz des Intimbereichs, also vor allem der Sexualsphäre, sondern in gleicher Weise z.B. um Verletzungstatbestände wie heimliche Tonbandaufnahmen oder die unbefugte Offenbarung von Gesundheitszeugnissen 52 . Die Anerkennung des zunächst nur privatrechtlich bedeutsamen allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die deutsche Rechtsprechung hat die verfassungsrechtliche Diskussion in den USA beeinflußt 53 . Heute können wir von dort lernen. Frühere Entscheidungen des Supreme Court begnügten sich mit dem Schutz des ehelichen Intimbereichs (,,the sacred precincts of marital bedrooms" 54 ); heute wird dagegen erkannt, daß um der Menschenwürde willen der gesamte private Bereich gegen die immer verfeinerten technischen Möglichkeiten seiner Verletzung zu schützen ist 55 . Aber auch das Interesse des Staates, die ihm im Einklang mit der Verfassung obliegenden Aufgaben erfüllen zu können, ist schutzwürdig. Dabei sind Kollisionen mit dem Anspruch auf Schutz der Privatsphäre möglich. Wer einer Straftat verdächtig ist, muß eine Durchsuchung seiner Privaträume oder eine körperliche Durchsuchung hinnehmen, sofern diese unter den in der StPO normierten Voraussetzungen und in korrekter, die Menschenwürde achtender und verhältnismäßiger Weise erfolgt 56 . Statistische Erhebungen können als Vorbedingung für die Planmäßigkeit staatlichen Handelns erforderlich sein; sie dürfen aber nicht „den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit registrieren und katalogisieren" 57 . In die Privatsphäre darf mithin nur eingedrungen werden, wenn überwiegende Gründe des Gemeinwohls bei sorgfältiger Beachtung des Rechts auf Schutz dieser Sphäre den Eingriff (hinsichtlich des „ob" und des „wie") zwingend erforderlich machen 58 . Neuere Entwicklungen lassen befürchten, daß der Konflikt zwischen individuellen und Allgemeininteressen sich noch verschärfen wird. Terroristische Gewalttaten B V e r f G E 27, 1 (7). 52

53

54

Vgl.

die

Zusammenstellung

bei

ZIPPELIUS

aaO (Anm. 4) Rdn. 19. Vgl. z . B . KRAUSE The Right to Privacy in: German-Pointers for American Legislation? Duke Law Journal 1965, S. 4 8 1 ; BEANEY aaO (Anm. 48) ebenda. Vgl. Griswold v. Connecticut, 381 U . S . , 479 (485).

55

BEANEY a a O ( A n m . 4 8 ) S.

56

Zur Tatverhaftetheit von körperlichen Durchsuchungen KÜNKELE Die positiv-rechtlichen Auswirkungen des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 G G ; Diss. Tübingen (1958) S. 126. B V e r f G E 27, 1 (5); vgl. auch B V e r w G N J W 1953, S. 393. So f ü r die Rechtsprechung des US Supreme

58

264.

C o u r t , BEANEY a a O ( A n m . 4 8 ) S . 2 6 5 .

121

2. Abschnitt. Die Menschenwürde (BENDA)

haben eine erhebliche Erweiterung der polizeilichen Befugnisse bei der Durchsuchung von Wohnungen bewirkt (§103 n.F. StPO, insbes. Abs. 1 S. 2), und die körperliche Durchsuchung jedes einzelnen Flugreisenden, ohne daß dieser durch sein Verhalten irgendeinen Verdacht erregt hätte, ist mittlerweile zu einer — im allgemeinen als notwendig hingenommenen — Alltäglichkeit geworden. Der Fortschritt der Technik bewirkt erhöhte Gefährdungen, denen bislang nicht anders als durch den Rückgriff auf die primitive Vermutung begegnet werden kann, daß jedermann potentiell ein Flugzeugentführer oder ein Terrorist sei. Solange man von einer notstandsähnlichen Situation ausgehen muß, also einer ernsthaften Gefahrenlage, gegen die eine wirksame Abhilfe nicht gefunden ist, werden die Eingriffe in die Menschenwürde hinzunehmen sein. Die auch bei Veränderung der Verhältnisse nur durch Gewohnheit und — vielleicht — allgemeine Gewöhnung motivierte Fortsetzung solcher Praxis ließe sich aber nicht rechtfertigen. 3. Probleme der künstlichen Insemination Konkrete verfassungsrechtliche Probleme unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts wirft die medizinische Entwicklung im Bereich der künstlichen Samenübertragung beim Menschen auf. Der rasante Fortschritt der Medizin auf diesem Sektor hat nicht nur die künstliche Übertragung eines männlichen Spermas in die weibliche Gebärmutter, sondern auch die extra-uterale Befruchtung und eine Rückverpflanzung des befruchteten Eies ermöglicht. Ferner sind bereits Experimente über Embryoverpflanzungen — zunächst noch an Tieren — bekanntgeworden 59 . „Kinder aus der Retorte" könnten bald keine Seltenheit mehr sein. Daß dies wie auch die sich abzeichnende Möglichkeit von „Ersatzmüttern", die den Embryo für eine andere Frau austragen, nicht nur eminente moralische Probleme mit sich bringt, sondern auch die Frage nach Wahrung der Menschenwürde der an einem künstlichen Befruchtungsvorgang oder einer embryonalen Verpflanzung Beteiligten aufwirft, liegt nahe. Die äußerst komplexe Problematik kann hier nicht im einzelnen ausgeleuchtet werden. Was die künstliche heterologe Insemination, d.h. die Befruchtung einer Frau durch einen fremden Samenspender betrifft, so steht die Frage der Anonymität des Samenspenders im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Überlegungen 60 . Daneben wird auf die fehlende personale Gemeinschaft der Frau mit dem Samenspender, die Zurückdrängung des Ehemannes, die Herabwürdigung des Spenders als Mittel fremder Zwecke, die Gefahr der Kommerzialisierung durch geschäftsmäßige Samenbanken hingewiesen 61 . Das Meinungsbild hat sich in der jüngeren Zeit eher zugunsten einer eingeschränkten Zulässigkeit der künstlichen, heterologen Insemination gewandelt 62 , während nur vereinzelt die uneingeschränkte Zulässigkeit vertreten wird 6 3 . Als überwiegend dürfte heute die Ansicht vorherrschen, wonach eine absolute Anony59 60

Vgl. Der Spiegel vom 15. Juni 1981, S. 194ff. Vgl. auch BALZ Heterologe künstliche Samenübertragung beim Menschen (1980) S. 15 ff.

61 62 63

Weitere Nachweise bei BALZ (Anm. 60) S. 11. Nachweise bei BALZ ebenda. ZIPPELIUS a a O ( A n m . 4) R d n .

21.

122

2. Kapitel. Grundrechte

mität der Beteiligten abgelehnt wird, wie es etwa der Resolutionsentwurf des Europarates vom 30. 5. 1978 vorsieht 64 . Eine uneingeschränkte Anonymität berührt vor allem das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner eigenen Abstammung. Die Menschenwürde besteht in der Fähigkeit, sein Leben in eigener Selbstverantwortung zu bestimmen und zu gestalten. Zur Selbstbestimmung und Selbsterfahrung gehört auch das Wissen um die eigene Herkunft. Ist der Mensch als geschichtliches Wesen zu begreifen, ist die Kenntnis der eigenen Identität ebenso wichtig wie die Möglichkeit, für die Zukunft „Nachwuchs" zu planen. Dem Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung steht in gewissem Umfang das Interesse der Eheleute an Wahrung der Anonymität des Samenspenders entgegen, da sie die Familieneinheit fördern könnte. Dem wohl auch dem Persönlichkeitsrecht zuzuordnenden „Recht auf Nachkommenschaft", jedenfalls der grundgesetzlichen Garantie der Institution Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) steht andererseits das Interesse des Kindes an seiner eigenen Abstammung entgegen. Die Abwägung beider Komponenten des „Rechts auf Geschichtlichkeit" im Bereich der Menschenwürde läßt die Frage nach dem Vorrang einer grundrechtlichen Position als schwierig erscheinen, so daß dem Gesetzgeber hier ein gewisser Gestaltungsspielraum zustehen mag. 4. Probleme der elektronischen Datenverarbeitung Die fortschreitende Erweiterung der technischen Möglichkeiten, die menschlichen Fähigkeiten zu sinnlicher Wahrnehmung um ein Vielfaches zu verstärken, stellt einen revolutionären Schritt dar, an dessen Ende die völlige Schutzlosigkeit der Privatsphäre stehen könnte. Wie die Wirtschaft bedient sich auch die öffentliche Verwaltung zunehmend der Mittel der elektronischen Datenverarbeitung. Es gibt einleuchtende praktische Gründe dafür, die heute im herkömmlichen Verfahren an vielen Verwaltungsstellen geführten Akten und Karteien über personenbezogene Daten, die z.B. im Bereich des Sozial-, Versorgungs- oder Gesundheitswesens zur Gesetzesausführung erforderlich sind, in einer oder mehreren Datenbanken zu integrieren. Aber in dem Maße, in dem das geschieht, wird sich das öffentliche und private Leben grundlegend ändern. Die Gefährdung der durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Privatsphäre liegt vor allem darin, daß a) personenbezogene Daten, d. h. auch solche, die der Privatsphäre zuzurechnen sind (wie etwa Angaben über den Gesundheitszustand, körperliche und geistige Gebrechen, finanzielle Verhältnisse u. v. a.) aufgezeichnet und ohne Kenntnis oder Einwirkungsmöglichkeit des Betroffenen beliebig oft, mit großer Schnelligkeit und über weitere Entfernungen beliebig vielen interessierten Stellen übermittelt werden können, und daß b) die gespeicherten Daten, auch wenn sie an sich korrekt sind, isoliert, also ohne Zusammenhang mit anderen Informationen übermittelt

64

Draft Resolution on Artificial Insemination on human beings, Europarat CDJ (78) 19; CDSP (78) 23.

2. Abschnitt. Die Menschenwürde (BENDA)

123

werden, die zu ihrem richtigen Verständnis notwendig wären (technisch bedingte Verfälschungstendenz der EDV) 65 . Heute ist die Diskussion um den Datenschutz in vollem Gange. Sie ist auch durch das von vielen noch als unzureichend empfundene Bundesdatenschutzgesetz vom 27. 1. 1977 nicht beendet worden, das immerhin erste Kriterien für eine durch Art. 1 Abs. 1 GG gebotene Datensicherung erarbeitet hat. Registrierungs- und Meldepflichten, die Bestellung eines Bundesbeauftragten für den Datenschutz sowie Auskunfts-, Berichtigungs-, Fortschreibungs- und Löschungsansprüche bei falschen oder widerrechtlich gespeicherten Informationen und anderes sind notwendige und nützliche Maßnahmen. Sie können die Problematik der Datenverarbeitung mildern, aber nicht aufheben. Auch das neuerdings in der politischen Diskussion geforderte „Grundrecht auf Datenschutz" könnte allenfalls Zielvorstellungen rechtlich fixieren, in seinem verfassungsrechtlichen Gehalt aber kaum mehr geben, als sich aus Art. 1 GG bereits ergibt 66 . Der Grundkonflikt sollte nicht verdeckt werden; er wird uns für eine lange Zeit begleiten. Bloße Maschinenstürmerei wäre sinnlos. Es besteht auch ein legitimes Interesse des Bürgers an einer modern und kostensparend arbeitenden Verwaltung. Wenn diese weit hinter dem technischen Standard der Wirtschaft zurückbliebe, würde die auch aus anderen Gründen bestehende Instabilität im Verhältnis von Staat und Gesellschaft noch verschärft werden. Die Bedeutung des Datenschutzes für die Privatsphäre ist auch durch das „Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten" des Europarates vom 17. September 1980 und die von der OECD am 23. September 1980 beschlossenen „Leitlinien für den Schutz der Privatsphäre und den grenzüberschreitenden Verkehr personenbezogener Daten" im internationalen Bereich unterstrichen worden 67 . Die Gefährdung der Privatsphäre des Einzelnen ergibt sich nicht daraus, daß überhaupt Informationen über ihn gesammelt werden; sie liegt vielmehr darin, daß er die Verfügung darüber verliert, an wen und zu welchen Zwecken solche Informationen vermittelt werden. Nicht die Information an sich, sondern ihre dysfunktionale Weitergabe, auf die der Betroffene keinen Einfluß hat, zerstört die Privatsphäre 68 . Die sich hieraus ergebenden verfassungsrechtlichen Folgerungen lassen sich so zusammenfassen: amtliche Stellen, die zur Erfüllung der ihnen zugewiesenen und von der Rechtsordnung gebilligten Aufgaben personenbezogene Informationen sammeln, haben sich hierbei auf das zur Zweckerreichung erforderliche Minimum zu beschrän-

65

66

SEIDEL Persönlichkeitsrechtliche Probleme der elektronischen Speicherung privater Daten, N J W 1970, S. 1582; DERS. Datenbanken und Persönlichkeitsrecht unter bes. Berücksichtigung der amerikanischen Computer Privacy (1972) S. 123. Zum Grundrechtproblem des Datenschutzes vgl. KLOEPFER Datenschutz als Grundrecht (1980).

67

68

Convention for the protection of individuals with regards to automatic processing of personal data, Strasbourg Council of Europe, 1 9 8 1 , European Treaty Series Nr. 108, D U D 1 9 8 1 , 45. Vgl. BENDA Privatsphäre und Persönlichkeitsprofil, FS Geiger (1974) S. 2 3 f f .

124

2. Kapitel. Grundrechte

ken. Der Bürger muß wissen oder erfahren können, welche Informationen über ihn existieren; soweit er selbst zu Auskünften verpflichtet ist, muß sich erkennen lassen, zu welchem Zweck diese erfolgen und welche Stelle von ihnen Gebrauch machen darf. N u r in diesem Rahmen ist die Weitergabe von Informationen an andere Stellen zulässig. Das Prinzip der Einheit der Staatsgewalt bedeutet zwar, daß jede Behörde mit ihrer Arbeit einen Teilbetrag zu der einheitlichen staatlichen Aufgabe der Förderung des Gemeinwohls liefert; aber die Verpflichtung zur Amts- und Rechtshilfe (Art. 35 GG) befreit nicht von der Pflicht zur Beachtung von Grundrechten. Eine Informationsweitergabe von der einen an die andere staatliche Stelle bedarf entweder des Einverständnisses des Betroffenen oder einer besonderen materiellen Rechtsgrundlage, durch die dysfunktionale Weitergabe von Informationen ausgeschlossen wird. Wenn rechtlich definiert und entschieden ist, welche Art von Daten welchen Behörden zugänglich gemacht werden darf, weil sie diese zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen, weiß der betroffene Bürger, welchem Zweck die Informationen dienen, und er kann sich in seinem Verhalten hierauf einrichten. Der Schutz der Privatsphäre des Bürgers vor den Gefahren der elektronischen Datenverarbeitung kann nur relativ sein. Ein freilich nur schmaler Bereich privater Lebensgestaltung muß unantastbar bleiben; es gibt keine Staatszwecke, die das Eindringen in diesen Raum erlauben könnten. Uber vieles, was die Persönlichkeit der Bürger betrifft, muß sich der Staat aber schon nach heute geltendem Recht unterrichten dürfen, um die ihm übertragenen Aufgaben erfüllen zu können: so z.B. über die UnZuverlässigkeit, Ungeeignetheit oder Unwürdigkeit zur Einstellung und Ausbildung von Lehrlingen (vgl. § 11 Bundeszentralregistergesetz), über die Persönlichkeit von Jugendlichen, die der Fürsorgeerziehung unterliegen (§ 66 JWG), oder über nach dem Bundesseuchengesetz (§§ 3 ff) oder dem Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten (§ 10) zu meldende Erkrankungen. Hier kommt es darauf an, die Weitergabe solcher Informationen an solche Stellen zu verhindern, die ein rechtlich geregeltes Interesse hieran nicht nachweisen können. Schließlich dient eine möglichst weitgehende Transparenz des neuen Instruments der EDV wenigstens dem Ziel, verständliche Befürchtungen abzubauen und Mißbräuchen durch Kontrolle zu begegnen.

III. Ausblicke 1. Technisierung der Staatstätigkeit Die fortschreitende Technisierung der modernen Industriegesellschaft eröffnet die Chance wachsenden Wohlstandes für alle Teile der Bevölkerung, birgt aber zugleich die Gefahr zunehmender Abhängigkeit von technisch bedingten und gesteuerten Prozessen. Auch der Staat bedient sich zunehmend der Möglichkeiten der Technisierung und der Automatisierung, um die vielfältig gesteigerten Anforderungen an seine Leistungskraft erfüllen zu können. Die hiermit verbundene Versuchung, immer tiefer in die Privatsphäre einzudringen, ist nur ein Aspekt des Problems. Der zur Daseinsvorsorge verpflichtete Staat muß planend vorausdenken. Staatliche Planung kann den

2. Abschnitt. Die Menschenwürde (BENDA)

125

Raum individueller Lebensentscheidungen einengen, während Technisierung der Verwaltung den Einzelnen zu ihrem Objekt machen kann. Beide Vorgänge berühren die Würde des Menschen. Der Einzelne sieht sich dem weitgehend hilflos ausgeliefert. Die als Folge der Erschütterungen und Katastrophen dieses Jahrhunderts verbreitete Sehnsucht nach Sicherheit und zugleich das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Gefährdungen des Lebens im technischen Zeitalter verstärken noch die Bereitschaft, sich der Fürsorge des Staates anzuvertrauen. Die Technisierung des Lebens vollzieht sich zunächst im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich. Der Staat hat sich nur zögernd mit in der Wirtschaft längst bekannten modernen Arbeitsmethoden vertraut gemacht. Eine Rückkehr zu den Verhältnissen des vortechnischen Zeitalters wäre kaum vorstellbar, wenn auch manche Zukunftsutopien eine Wiederherstellung der natürlichen Umweltbeziehungen des Menschen anstreben 69 . Die Rückkehr zu bereits überwundenen Formen einer Gefährdung der Menschenwürde, etwa der Ausbeutung des arbeitenden Menschen und der Armut breiter Bevölkerungskreise, kann gewiß nicht erstrebenswert erscheinen. Wenn aber der Staat im Interesse des materiellen Wohlstandes und der sozialen Sicherheit seiner Bürger die industrielle Entwicklung duldet und fördert, ist er umso mehr verpflichtet, den sich hieraus ergebenden besonderen Gefährdungen entgegenzuwirken. Arbeitsrecht und Umweltschutz konkretisieren den Schutz der Menschenwürde für die heute gegebene Situation. Auch das bei der Verkürzung des natürlichen Lebensraumes immer dringlicher werdende Problem der räumlichen Enge bedarf einer Antwort: Je enger die Menschen aneinander rücken müssen, desto stärker wird der Anspruch des Einzelnen auf Schutz seiner Privatsphäre. Die Staatstätigkeit kann nicht hinter der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung zurückbleiben; sonst würden in dem Maße, in dem der Staat auf die Entwicklung und Realisierung zukunftsorientierter Konzepte verzichtet, gesellschaftliche Kräfte den Leerraum ausfüllen und den Herrschaftsanspruch des Staates gefährden. Auch die Indienstnahme der Technik zu einer Modernisierung der Verwaltung ist nicht schon an sich bedenklich. Viele Staatsaufgaben, die Massen- oder Routinefragen betreffen, können anders als mit Hilfe der Technik nicht mehr bewältigt werden. Hiergegen ist jeder Protest sinnlos. Da im Straßenverkehr oder bei anderen Erscheinungsformen des technischen Zeitalters Leben, Gesundheit und Eigentum aller nur mit Hilfe einer allgemeinverbindlichen Ordnung geschützt werden können, ist es abwegig, in dem durch die Straßenverkehrsordnung erzwungenen Gehorsam gegenüber automatischen Verkehrssignalanlagen einen Angriff auf die Menschenwürde zu sehen, weil diesen eine „Roboter"-Eigenschaft zugeschrieben wird 7 0 . Hieraus folgt aber nicht, daß der Staat seine Beziehungen zu den Bürgern nach Belieben technisieren dürfte. Die in der Technik schlummernden und oft heute erst in Ansätzen zu erahnenden Möglichkeiten bedeuten Versuchungen, denen nicht unge-

69

Vgl. z . B . das bei KLAGES dargestellte environment game von Calder (Planungspolitik. Probleme und Perspektiven zur umfassenden Zukunftsgestaltung, 1971).

70

Z . B . SCHREITER Gehorsam für automatische Farbzeichen, D Ö V 1956, S. 693; a. A . die Erwiderung von Schirrmacher, D Ö V 1957, S. 146.

2. Kapitel. Grundrechte

126

prüft nachgegeben werden darf. So scheint es, um das Problem an einem extremen Beispiel zu illustrieren, technisch heute schon möglich zu sein, bestimmte Straftäter mit Hilfe von „Gehirnmonitoren" zu überwachen und die auf diese Weise erkannten schädlichen Neigungen rechtzeitig mit Hilfe von Elektroschocks zu bekämpfen 7 1 . Diese vermeintlich humanere Spezialprävention macht Strafhaft überflüssig und spart möglicherweise Geld. Die gute Absicht mag unterstellt werden. In anderen Ländern werden aber heute schon politisch unbequeme Bürger nicht mehr als Kriminelle, sondern als Geisteskranke behandelt. Am Ende des Weges stünde die Zerstörung der Menschenwürde unter der Fahne der Humanität. Ein auf die Achtung der Menschenwürde verpflichteter Staat muß sich bei der Beurteilung neuer technischer Möglichkeiten, von denen oft eine große Faszinationskraft ausgehen mag, des nur sehr schmalen Grades bewußt bleiben, der zwischen solchen offenkundigen Verletzungen des Art. 1 Abs. 1 G G und den vielleicht noch zulässigen, heute leider alltäglichen Überwachungsmethoden liegt. Die Kontrolle von Kaufhausbesuchern durch versteckte Fernsehkameras, die durch Automaten gesteuerte Torkontrolle in Großbetrieben oder die routinemäßige körperliche Durchsuchung aller Fluggäste gehören zur heutigen Lebenswirklichkeit. Manches mag notwendig sein; erfreulich ist es nicht, wenn der „mündige Bürger" als potentieller Dieb oder Terrorist behandelt wird. 2. Die Verplanung des Menschen Die künftige Staatstätigkeit wird zunehmend von der Planung beherrscht werden. Planung als der „systematische Entwurf einer rationalen Ordnung auf der Grundlage alles verfügbaren einschlägigen Wissens" 7 2 ist eine an sich nicht zu beanstandende Tendenz vorausschauender Staatstätigkeit 73 ; ihre Verketzerung als Mittel der Unfreiheit wäre ebenso sinnlos wie die Forderung, daß der Staat sich nicht moderner technischer Hilfsmittel bedienen dürfe. Aber hier wie dort ergeben sich Gefahren, wenn auch die teilweise vorhandene Planungseuphorie, die „modern sein" und „mit der Zeit gehen" will, dazu neigt, jedes Bedenken als Zeichen geistiger Erstarrung zu bewerten. Staatliche Planung darf nicht zu einer Verplanung des Menschen führen. Die Menschenwürde wird verletzt, wenn der Mensch zum reinen Objekt staatlicher Planung gemacht wird. Die größte Gefahr liegt in der Versuchung, anzunehmen, daß eine mit wissenschaftlich bestätigten Methoden unter Verwendung von unbeirrbaren Hilfsmitteln z . B . der Computertechnik entwickelte Planung eigentlich nicht falsch sein kann; sie muß den Anspruch beinhalten, die technisch-wissenschaftlich garantierte Wahrheit zu sein. Dagegen ist jede Opposition unvernünftig. Wer sich dem Plan nicht unterwirft, ist bei wohlwollender Betrachtung ein Teil der „Humanbarrie-

71

KAMLAH aaO (Anm. 48) S. 37; Einzelheiten in: Anthropotelemetry: D r . Schwitzgebel's Machine, Harvard Law Review Bd. 80 (1966/67) S. 403 ff.

J . H . KAISER in: Planung I, S. 7; grundlegend zu den Fragen der Planung das von Kaiser herausgegebene Sammelwerk, insbes. Planung I—III, (1965 ff). " B V e r f G E 27, 1 (7).

72

2. Abschnitt. Die Menschenwürde (BENDA)

127

re", d.h. derjenigen „Bewegungen" und „Verhärtungen" 74 , also der menschlichen Unvernunft, die es wagt, eigene Gedanken gegen die Logik des Plans zu setzen. Wer dem Plan nicht gehorcht, zeigt böse Absichten, er wird zum „Planungsfeind", um den man sich kümmern muß, weil die Verletzung der Planverpflichtung ein schweres Verbrechen darstellt 75 . Eine solche Entwicklung muß nicht die Folge eines bewußten Rückfalls in totalitäre Tendenzen sein, also von der Absicht getragen werden, sich die Menschen mit Hilfe der Technik zu unterwerfen. G E O R G E ORWELL'S „ 1 9 8 4 " mag eine unrealistische Vision sein 76 . Die wirkliche Gefahr ist weniger die Unterwerfung der Menschen durch Menschen, also die subjektive Despotie mit Hilfe der Technik, als vielmehr die politische Herrschaft der Technik selbst, die freilich ihre Nutznießer finden wird. Schon jetzt besteht in jeder parlamentarischen Demokratie ein Konflikt zwischen dem freien, die Möglichkeit von Irrtümern und Fehlentscheidungen einkalkulierenden Prozeß der Staatswillensbildung und der zunehmenden Bürokratisierung des Staates. Bürokratisierung trägt die notwendige Sachkunde bei, aber bei extremer Entwicklung begrenzt sie die Möglichkeit zu spontanem Verhalten und zu autonomer Entscheidung. Die Entscheidungen der Machtinhaber werden entpersönlicht; der wachsenden Kontrollierbarkeit der Menschen entspricht eine zunehmende Unkontrollierbarkeit der Bürokratie 77 . Je mehr die Staatstätigkeit geplant, also mit Hilfe von Wissenschaft und Technik rational zielorientiert und vollzogen wird, desto weniger Bedarf besteht für Diskussion und Kampf um den richtigen politischen Weg. Dieser wird nicht mehr aus mehreren miteinander konkurrierenden, prinzipiell gleichwertigen Alternativen gefunden, sondern ergibt sich aus der wissenschaftlich einwandfreien Ermittlung der einzig richtigen Entscheidung. Es wird sinnlos, über Alternativen zu streiten, wenn es nur eine Wahrheit gibt; allenfalls die Qualität der Methode, also die Seriosität der Arbeit, nicht aber ihr Ziel darf in Zweifel gezogen werden. Bisher hat nur der totalitäre Staat die Wahrheit für sich beansprucht und vorgegeben, genau zu wissen, worin das Gemeinwohl besteht und wie es zu verwirklichen ist. Der Demokratie ist ein absoluter Wahrheitsanspruch fremd; sie ist „zugleich zuversichtlicher und unsicherer" 78 . Menschenwürde ist verantwortungsbewußte Entscheidung zwischen Alternativen 79 . Auch der Irrtum ist ein Schritt auf dem Wege zur Wahrheit. Er wird nicht nur toleriert, sondern auch respektiert, weil es so sicher nicht ist, wo der Irrtum und wo die Wahrheit liegt. Planungspolitik steht demgegenüber in der Gefahr, über das „beschränkte Einsichtsniveau des Menschen" hinwegzuentschei-

74

KLAGES a a O ( A n m . 6 9 ) S.

75

KLAGES a a O ( A n m . 6 9 ) S. 1 0 3 ; WITTKÄMPER

liberal 1 9 6 9 , S. 60 (zur G e f a h r der „Totalitären Planmystik"); SCHELSKY Die soziale Folge der A u t o m a t i o n (1957) S. 19. 76

KLAGES a a O ( A n m .

6 9 ) S.

D e r Staat der Industriegesellschaft ( 1 9 7 1 ) S. 79.

23.

102;

77

R . F . BEHRENDT M e n s c h e n w ü r d e

78

blem der sozialen Wirklichkeit (1967) S. 3 6 f f . RIEDEL G e m e i n w o h l und Person, Politische Vierteljahresschrift J g . 1/2 (1961/62) S. 224.

79

BEHRENDT a a O ( A n m . 7 7 ) S .

FORSTHOFF

42.

als

Pro-

128

2. Kapitel. Grundrechte

den, ja diese einer Umprogrammierung zu unterziehen, also den Menschen an den Plan anzupassen 8 0 . All dies sind nicht bloß Befürchtungen für die Zukunft. Auch schon heute ergeben sich Gefahren. So könnte der Staat im Bereiche des Schulwesens die ihm nach Art. 7 G G übertragene Aufgabe dahin mißverstehen, daß er den Schüler auf Grund von Begabungsdiagnosen allein oder in Verbindung mit volkswirtschaftlichen Bedarfsrechnungen auf seine künftige Berufsrolle festlegt: die Vernunft des Bildungsplanes beansprucht den Vorrang vor individuellen Wünschen, zumal wenn deren Unvernunft nachgewiesen wird. Solche „staatliche Verplanung des ,ganzen Menschen' unter dem Aspekt und der Verantwortung der ,Bildung' und der ,sozialen Gerechtigkeit'", die „Pädagogisierung des Menschen" und die „staatliche Bewirtschaftung der B e g a b u n g " 8 1 widersprechen Art. 1 Abs. 1 G G . Die Unverfügbarkeit der Person verbietet es, den Menschen zum reinen Objekt staatlicher Planung zu machen. Daher ist im Schul- oder Hochschulwesen eine staatliche Lenkung untersagt, die das Recht des Bildungswilligen oder das Elternrecht zugunsten von Bedarfsprognosen beiseiteschiebt. Zwar muß nicht jede nur denkbare oder gewünschte Schulform zur Verfügung gestellt, aber doch ein Mindestangebot bereitgehalten werden, damit sich das Selbstbestimmungsrecht des Kindes und das Erziehungsrecht der Eltern verwirklichen können 8 2 . Gleiche Erwägungen würden, abgesehen von Art. 12 G G , schon um der Würde des Menschen willen eine staatliche Berufslenkung verhindern. Damit sind wenigstens die äußersten Grenzen staatlicher Planungsbefugnis markiert. Die zunehmende Bedeutung, die der Planung als einer zeitgemäßen Methode staatlichen Handelns beigemessen wird, läßt sich durch die Komplexität und den wachsenden Umfang der Aufgaben rechtfertigen. So wie der Einzelne seine Lebensgestaltung vorausschauend vorbereitet, darf und soll auch der Staat künftige Probleme erforschen und sein Handeln an den Ergebnissen wissenschaftlich fundierter Untersuchungen orientieren. Aber es besteht die Gefahr, daß in der Sicht des Planenden, der sich im Besitz der Wahrheit meint, die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung als ein eher lästiges Hindernis auf dem Wege zur Perfektion des Staatshandelns erscheint. So entsteht die Versuchung, die Planung totalitär zu übersteuern. Achtung und Schutz der Menschenwürde müssen auch künftig oberste Leitlinie staatlichen Handelns sein. Sie haben Vorrang vor der Perfektionierung des Planens. Auch das Recht ist „Vorgriff auf die Zukunft der Gesellschaft" 8 3

80

KLAGES a a O ( A n m . 69) S.

110.

Fuss Verwaltung und Schule, W D S t R L 23 (1966) S. 205. « BVerfGE 34, 165 (184). 81

83

SCHELSKY Soziologisches Planungsdenken über die Zukunft, Universitas 25 (1970) II, S. 1251.

3. Abschnitt

Freiheit und Gleichheit MARTIN KRIELE

I. Grundlagen 1. Rechtsprinzip und Menschenwürde Die sogenannten „Grundwerte" des Grundgesetzes — Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit — stehen in einem inneren Zusammenhang, der in dem Grundsatz zum Ausdruck kommt: „Jeder hat gleichen Anspruch auf Freiheit und Menschenwürde" 1 . Dieser Grundsatz ist das Rechtsprinzip schlechthin: Leitidee und Ziel der neuzeitlichen demokratischen Rechts- und Verfassungsentwicklung, Grundlage und Bedingung des inneren und äußeren Friedens, letzter Maßstab aller Gerechtigkeit und Unparteilichkeit. Die Alternative zum Rechtsprinzip ist das Machtprinzip der Parteilichkeit, das die Gesellschaft in eine rechtlich nicht gebundene und kontrollierte Herrschaftselite und die ihrem Belieben ausgelieferten Machtunterworfenen spaltet. Genauer wäre es, statt „jeder hat gleichen Anspruch auf Freiheit und Würde" zu sagen: Daß jeder gleichen Anspruch auf Freiheit hat, folgt aus der Menschenwürde. Die Anerkennung der Menschenwürde ist ein konstitutiver Grund für den gleichen Anspruch eines jeden auf Freiheit2. Dieser Anspruch folgt schon aus der Tatsache, daß der Mensch Mensch ist: Es kommt weder auf die in Art. 3 III genannten Eigenschaften wie Geschlecht, Herkunft usw. an, noch auf andere Eigenschaften wie Beruf, Einkommen, Alter, Begabung und Tugend, ja nicht einmal auf die Eigenschaft als Staatsbürger. Das Menschsein des Menschen als solches begründet die Würde. Da jedem Menschen einschließlich des Kleinkindes, des Geisteskranken, des Verbrechers Menschenwürde zukommt, hat jeder Mensch Anspruch darauf, als Rechtssubjekt respektiert zu werden, denn dieser Anspruch macht den Kern der Menschenwürde aus. Um so mehr hat der mündige Mensch Anspruch darauf, sich selbst bestimmen und seine Persönlichkeit frei entfalten, aufrecht gehen und ohne Angst mit sich selbst

1

Zum naturrechtlichen Hintergrund dieses Satzes näher KRIELE Befreiung und politische Aufklärung, Plädoyer für die Würde des Menschen, 1980, 2. Kap. §§ 9 - 1 1 und 6. Das Thema dieses Beitrages ist so umfassend, daß es sich hier nur skizzieren läßt und den Ver-

1

fasser zwingt, darlegungsbedürftige Thesen, die er an anderen Orten begründet hat, hier nur knapp zu umreißen. Deshalb bittet er um Verständnis für häufigere Verweisungen auf eigene Schriften. Dazu E. BENDA oben S. 107.

130

2. Kapitel. Grundrechte

identisch sein zu können, zu sagen, was er denkt, zu bekunden, was er glaubt, aufrichtig und vertrauenswürdig sein, anderen im Regelfall vertrauen und auf der Grundlage von Aufrichtigkeit und Vertrauen eine freie rechtlich geordnete Gemeinschaft bilden zu können. — Die Alternative wäre, durch ein fremden Zwecken dienendes Herrschaftssystem genötigt zu sein, an der öffentlichen Lüge teilzuhaben, sich listig zu verstellen, seinen Mitmenschen als möglichen Denunzianten zu mißtrauen — oder Verschleppung, Verbannung, Folter und Mord fürchten zu müssen. Der Begriff der Menschenwürde hat seinen Ort nicht in der empirischen Naturwissenschaft — in Biologie, Anthropologie, Evolutionslehre usw. Vielmehr orientiert sich der Begriff der Natur des Menschen an den Idealen menschlicher Selbstverwirklichung, also an dem, was die Menschen als gut, schön, wahr, heilig, gerecht ansehen, als im Menschen liegende Möglichkeit, deren Aktualisierung erstrebenswert ist 3 . Es geht um die rechtlichen Bedingungen, unter denen die Menschen die Chance haben, die jeweils besten in ihnen liegenden Möglichkeiten zu entfalten, und unter denen sie in gegenseitiger Ergänzung eine soziale Gemeinschaft bilden können. Diese Bedingungen der Menschenwürde sind es, die in dem Satz zusammengefaßt sind: Jeder hat gleichen Anspruch auf Freiheit 4 . Es liegt in der Natur der Freiheit, daß diese mißbraucht werden kann und mißbraucht wird, bis hin zur planmäßigen Destruktion der Freiheit selbst 5 . Aber es liegt zugleich in der Natur der Ideale menschlicher Selbstverwirklichung, daß diese sich nur in Freiheit entfalten können. Deshalb folgt aus der Natur des Menschen, daß er auf Freiheit angewiesen ist und das Risiko der Freiheit eingehen muß, wenn er nicht von vornherein die Chance auf Selbstverwirklichung verspielen will. Und deshalb ist mit der Anerkennung der Würde des Menschen zugleich die Anerkennung eines gleichen Anspruchs auf Freiheit mitgegeben.

2. Andere Gründe für Freiheit und Gleichheit Es ist allerdings hinzuzufügen, daß es für den gleichen Anspruch auf Freiheit noch weitere Gründe außer der Menschenwürde gibt. So ist z. B. die geistige Freiheit jedes Menschen nicht nur Bedingung seiner individuellen Aufrichtigkeit, sondern auch

3

Befreiung und politische Aufklärung (Fn. 1)

4

Es gibt eine ehrwürdige Tradition des Freiheitsdenkens, die dies grundsätzlich verkennt: die utilitaristische Theorie, die die Begründung der Freiheit unabhängig vom naturrechtlichen Axiom der Menschenwürde versucht; von John Stuart MILL O n Liberty (deutsch: Die Freiheit, Darmstadt 1967) vor allem Kap. 2 bis hin zur zeitgenössischen „Diskurstheorie", dazu KRIELE Recht und praktische Vernunft, 1979, §§ 6 - 1 4 und Einführung in die Staatslehre, Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 2. Aufl. 1981, § 5.

5

Wird der Wert der Freiheit nur in dem N u t zen ihrer Betätigung gesehen — etwa: die Freiheit der Meinungsäußerung nutzt dem Fortschritt des Wissens —, dann läge es ja an sich nahe, diese Freiheit nur demjenigen zuzugestehen, der von ihr zweckentsprechend Gebrauch machen kann. Die utilitaristische Freiheitstheorie, jedenfalls in der Mill'schen Fassung, hat diese Folgerung freilich nicht gezogen, ist darin aber inkonsequent. Deshalb tarnen sich totalitäre Denkansätze gerne mit dem Vorwand, es gehe ihnen nur darum, einen „ M i ß b r a u c h " von Freiheit zu verhindern.

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

131

Bedingung objektiver Wahrheitsfindung, da diese auf den freien und offenen Austausch von Argumenten angewiesen ist 6 . Das gilt nicht nur für den Bereich der wissenschaftlichen Wahrheitssuche, sondern auch für den Bereich der politischen Vernunft 7 . Denn Vernunft ist ihrem Wesen nach dialektisch und auf ständige Korrektur durch Erfahrung und Erfahrungsaustausch angewiesen. Niemand kann je von sich sagen, die Vernunft objektiv und absolut zu vertreten, ohne damit seinen Anspruch auf Vernünftigkeit selbst in Frage zu stellen. Deshalb hängt die Vernünftigkeit des politischen Entscheidungsprozesses davon ab, daß jeder die gleiche Freiheit zur politischen Mitwirkung hat. Auf dieser Einsicht beruht die parlamentarische Demokratie mit ihrem Recht auf freie Parteienbildung, auf Opposition, auf Chancengleichheit der Parteien, auf öffentliche Diskussion. Es handelt sich um einen Versuch, den dialektischen Prozeß in friedliche, auf geistige Mittel beschränkte Bahnen zu zwingen 8 . Auf dieser Einsicht beruht ferner der Anspruch auf Teilhabe am Entscheidungsprozeß durch aktives und passives Wahlrecht, durch Mitwirkung in Parteien, Gewerkschaften und anderen Vereinigungen, durch Versammlung, öffentliche Meinungsbekundung, Petition usw. Darauf beruht weiterhin die Kontrolle aller Staatsorgane durch die demokratische Öffentlichkeit. Und darauf beruht ferner die Chance für die Gerechtigkeit der Rechtsordnung; denn diese Chance gibt es nur, wo sich Empörung gegen Unrecht öffentlich äußern kann, nicht nur, wenn Gesetze ungerecht angewandt werden, sondern auch, wenn die Gesetze selbst ungerecht sind. Und es gibt diese Chance nur, wo Mittel zur öffentlichen Bewußtseinsbildung zur Verfügung stehen und wo es Verfahren zur Uberwindung des Unrechts gibt. Diese Chance für die Gerechtigkeit ist je größer, je breiter die Schicht derer ist, die Erfahrungen des Unrechts zur Geltung bringen können, am größten also in einer Demokratie, die jedermann gleiche Freiheit und die gleiche Chance auf demokratische Mitwirkung einräumt 9 . Und schließlich: Wo demokratische Verfahren und gleiche Freiheit schon eine Zeitlang Geltung hatten, ist das Vertrauen begründet, daß schon in der Vergangenheit die Gesetze überprüft und verbessert worden sind. Dieses Vertrauen stützt die Legitimität der Rechtsordnung. Unter dieser Voraussetzung besteht die Chance, daß das schon an Gerechtigkeit Erreichte in einer Balance von Stabilität und Wandel bewahrt wird, und daß deshalb Reformen weitere Verbesserungen bringen und nicht etwa unter das schon erreichte Niveau der Rechtskultur zurückfallen. Kurz: Der gleiche Anspruch auf Freiheit beruht nicht nur auf der Menschenwürde, die die Rechtssubjektivität jedes Menschen begründet, sondern auch auf der

6

7

8

Diese Wahrheit hat die utilitaristische Freiheitstheorie fälschlich verabsolutieren und gegen die naturrechtliche Begründung der Freiheit aus der Menschenwürde stellen wollen. Befreiung und politische Aufklärung (Fn. 1) 3. Kap. Hierzu und zum folgenden näher: Einführung in die Staatslehre ((Fn. 4) §§ 42 ff.

9

Demokratie als Chance für die Verwirklichung der Gerechtigkeit im Recht: das ist der Grundtenor im Beitrag des Verfassers: Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 29, S. 46ff, abgedruckt auch im Sammelband „Legitimitätsprobleme der Bundesrepublik", 1977, S. 17 ff.

132

2. Kapitel. Grundrechte

Einsicht in die verhältnismäßig günstigsten Bedingungen von Wahrheit, Vernunft, Friede, sozialer Gemeinschaft, demokratischer Mitwirkung sowie in die Bedingungen der Gerechtigkeit des Rechts, des Fortschritts und der Bewahrung des Erreichten. In der modernen wissenschaftlich-technischen Zivilisation kann nur dieses ethische Grundprinzip des Rechts den Menschen davor bewahren, bloß funktionaler Bestandteil zentraladministrierter Großorganisationen und Objekt zweckrationaler Manipulation zu sein und im Falle eigenständigen Denkens und Handelns eliminiert zu werden. Ohne diesen Grundsatz bestünde kein Hindernis für Systeme der Konzentrationslager, der Rassen- oder Klassenverfolgung, der Religionsausrottung, der Verschleppung, der Folter oder des organisierten Mordes, des Ausreiseverbots und der totalen geistigen und moralischen Beherrschung des Menschen, wie wir sie in den rechten und linken Diktaturen der Welt erlebt haben und nach wie vor in vielen Teilen der Welt erleben und noch erleben werden. 3. Freiheit und Gleichheit als Leitprinzipien der Verfassungsinterpretation Die Rechtsprinzipien des demokratischen Verfassungsstaates der Neuzeit sind Ausfächerungen dieses Grundsatzes 1 0 . Das Grundgesetz bildet eine Variante des aus dem aufgeklärten Naturrecht hervorgegangenen Typus des demokratischen Verfassungsstaates, eine Variante neben anderen, wie etwa der englischen oder französischen. Der Satz „Jeder hat gleichen Anspruch auf Freiheit und Würde" ist das vom demokratischen Verfassungsstaat vorausgesetzte und garantierte Grundprinzip. Die Legitimität der Verfassungsordnung steht und fällt mit dem Konsens über seine Geltung. Diesen Konsens kann das Recht nicht bewahren: hier stößt es an die Grenze seiner Möglichkeiten. Wo dieser Konsens zusammenbricht, bricht die Verfassungsordnung zusammen und damit der Schutzwall für die gleiche Freiheit und Würde des Menschen — ein Schutzwall, der an vielen Stellen brüchig ist und dessen Erhaltung unserer Aufmerksamkeit bedarf. Angriffe auf diesen Grundsatz sind zugleich Angriffe auf den demokratischen Verfassungsstaat, und Angriffe auf den demokratischen Verfassungsstaat führen letztlich in ein politisches System, in dem der Mensch der Würde, der Freiheit und der Gleichheit beraubt ist. Die Feststellung, das Grundgesetz sei aus dem Grundsatz „Jeder hat gleichen Anspruch auf Freiheit und Würde" legitimiert, bezieht sich keineswegs nur auf den Katalog der Grundrechte, seine normative Verbindlichkeit (auch für den Gesetzgeber) oder die gerichtliche Einklagbarkeit der Grundrechte. Nicht nur die Grundrechte, sondern auch die organisatorischen Vorschriften des Grundgesetzes sind von diesem Grundsatz her auszulegen. Zwar lassen sie sich nicht aus diesem Grundsatz in ihren Einzelheiten zwingend „ableiten": gegen diese Annahme spricht schon die Tatsache, daß das Staatsrecht in verschiedenen Varianten des demokratischen Verfassungsstaates der westlichen Welt verschieden gestaltet ist. Wohl aber läßt sich sagen, 10

Z u m Typus des demokratischen Verfassungsstaates und zu den nationalen Ansätzen seiner Verwirklichung

vgl.

C.

J.

FRIEDRICH

Der

Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, S. 2 6 f f ;

F. A . VON HAYEK Die Verfassung der Freiheit, deutsch 1971, sowie KRIELE Einführung in die Staatslehre (Fn. 4).

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit

133

(KRIELE)

daß die Grundprinzipien, die zusammen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausmachen, dem Zweck dienen, politische Bedingungen herzustellen, unter denen jeder gleichen Anspruch auf Freiheit und Würde haben und bewahren kann. Deshalb wäre eine Grundgesetzauslegung jedenfalls falsch, wenn sie dazu führte, daß dieser Grundsatz verletzt wird; sie kann nur richtig sein, wenn sie mit ihm im Einklang bleibt. Das Grundgesetz läßt sich auch an seinem organisatorischen Teil — mit parlamentarischer Demokratie, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte usw. — verstehen als ein Versuch, die politischen Bedingungen herzustellen, unter denen wir der Verwirklichung dieses Grundsatzes möglichst nahekommen. Die letztlich entscheidende Frage bei der Interpretation einer Verfassungsregel ist die nach der ratio legis: warum ist dies so und nicht anders geregelt? Die Antwort lautet bei den Grundrechten unmittelbar, bei den grundlegenden Regeln der Staatsorganisation mittelbar, d. h. über eine Kette von weiteren Warum-Fragen: weil jeder gleichen Anspruch auf Freiheit und Würde hat. Im folgenden geht es nicht um eine Kommentierung der Art. 2 und 3 G G , sondern um den Versuch einer Skizze der prinzipiellen Bedeutung von Freiheit und Gleichheit für alle Grundrechte und vor allem für die grundgesetzliche Staatsorganisation.

II. Zum Verhältnis von Freiheit und Gleichheit Es wird immer wieder die These vertreten: Zwischen den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit bestehe ein unüberbrückbarer Gegensatz. Freiheit könne es nur auf Kosten der Gleichheit, Gleichheit nur auf Kosten der Freiheit geben 11 . Diese Annahme kann schon aus logischen Gründen nicht richtig sein. Sie beruht auf einem doppelten Trugschluß: 1. Gibt man der Freiheit auf Kosten der Gleichheit den Vorzug, so stellt man zugleich die Freiheit in Frage. In einem politischen System weitgehender Freiheit ohne Rücksicht auf Gleichheit hätten die Stärkeren, Tüchtigeren, Kampfbereiteren, die mit den günstigeren Startchancen freie Bahn, um Macht und Reichtum auf 11

So meint z. B. Gerhard L E I B H O L Z : „Liberale Freiheit und demokratische Gleichheit stehen zutiefst zueinander im Verhältnis einer unaufhebbaren Spannung, Freiheit erzeugt zwangsläufig Ungleichheit und Gleichheit notwendig Unfreiheit. Je freier die Menschen sind, um so ungleicher werden sie. Je mehr die Menschen dagegen im radikalen-demokratischen Sinne egalisiert werden, um so unfreier gestaltet sich ihr Leben" (Strukturwandel der modernen Demokratie, 2. Aufl. 1964, S. 88f). Vgl. ferner den Sammelband „Freiheit und Gleichheit" mit dem bezeichnenden Untertitel „Die Quadratur des Kreises", Hrsg. L. REINISCH,

1974.

Zu Unrecht wird oft T O Q U E V I L L E für die These angeblicher Unvereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit in Anspruch genommen. In Wahrheit unterscheidet T O Q U E V I L L E begrifflich Freiheit und Gleichheit, zeigt zwar, daß „die Vorliebe, welche die Menschen für die Freiheit hegen, und die, welche sie für die Gleichheit empfinden, in der Tat zwei verschiedene Dinge" sind, weist aber gerade auf die wechselseitige Abhängigkeit von Freiheit und Gleichheit hin: Freiheit kann ohne Gleichheit nicht verwirklicht werden (Uber die Demokratie in Amerika, 2. Teil, II, 1. Kap.).

134

2. Kapitel. Grundrechte

Kosten anderer zu erlangen. Am Ende stünde Ungleichheit, nämlich Abhängigkeit der Schwächeren von den Stärkeren. Das aber bedeutete mit dem Verzicht auf Gleichheit zugleich das Ende der Freiheit, nämlich der Freiheit für die Abhängigen und Unterdrückten. So führte z. B. der sogenannte Manchester-Liberalismus des 19. Jhs., der dem Modell „Freiheit vor Gleichheit" vergleichsweise am nächsten kam, breite Schichten in Arbeitsbedingungen und Abhängigkeiten, die nicht nur auf Kosten der Gleichheit, sondern auch der Freiheit gingen. 2. Und umgekehrt: Gibt man der Gleichheit auf Kosten der Freiheit den Vorzug, so muß man die freie Entfaltung des Kräftespiels unterbinden, also die Freiheit einschränken und im Grenzfall opfern. Das aber ist nur möglich in einem System rigoroser politischer Macht. Ein solches System aber hebt nicht nur die Freiheit, sondern zugleich die Gleichheit auf. Der Extremfall wird uns in den Staaten Osteuropas anschaulich, wo im Namen der Gleichheit die Freiheit unterdrückt wird. Damit wird zugleich die Gleichheit aufgehoben: Es herrscht ein Zweiklassensystem von Parteielite einerseits und dem ihr rechtlos ausgelieferten Volk andererseits. Freiheit und Gleichheit sind also aufeinander angewiesen, ja sie sind zwei Seiten ein und derselben Sache. Sie können beide nur bestehen, wenn die rechte Balance zwischen ihnen getroffen wird. Wo diese Balance verloren geht, gleichgültig ob nach der Seite der Freiheit oder nach der Seite der Gleichheit hin, so sind Freiheit und Gleichheit zusammen gefährdet. Wie das Grundgesetz diesem Zusammenhang Rechnung trägt, wird anschaulich, wenn man sich die beiden Art. 2 I und 3 GG vergegenwärtigt. Es ist üblich, den Grundsatz der Freiheit in Art. 2 I, den Grundsatz der Gleichheit in Art. 3 niedergelegt zu finden. Man kann es aber ebensogut auch andersherum ansehen: Der Gleichheitssatz findet seinen grundlegenden Ausdruck in Art. 2 I, der Freiheitssatz in Art. 3. Art. 2 I sagt: „Jeder" hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Dieses „Jeder" bringt den Gedanken der Gleichheit zum Ausdruck: Jeder hat das gleiche Recht. Niemand ist rechtlos, niemand ist bloß Objekt der Staatsgewalt, sondern jedermann ist Rechtssubjekt. Wäre es nicht jedermann, wären es vielmehr nur einige, so wäre damit die Gleichheit aufgehoben, die Art. 2 I somit also schützt. Die Grenze dieses Rechts für jedermann bildet die verfassungsmäßige Ordnung, worunter die gesamte im Einklang mit dem Grundgesetz stehende Rechtsordnung zu verstehen ist 12 . Art. 3 I fügt hinzu: Alle Menschen sind vor dem Gesetz — gemeint ist ebenfalls vor der gesamten verfassungsmäßigen Rechtsordnung 13 — gleich. Das bedeutet zunächst einmal, die Rechtsordnung soll aus allgemein geltenden Rechtssätzen bestehen und keine willkürlichen Differenzierungen vornehmen. Mit Recht hat das BVerfG Art. 3 zusammenfassend als „Willkürverbot" bezeichnet 14 . Die klassische Definition der Freiheit lautet in einer Formel Immanuel Kants: „Unabhängigkeit von " Vgl. B V e r f G E 6, 32 („Elfes"). " Vgl. B V e r f G E 4 1 , 72 f.

14

Nachweise bei LEIBHOLZ/RINCK Kommentar zum Grundgesetz, A r t . 3 Rdn. 2.

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

135

eines anderen nötigender Willkür" 1 5 . Das Willkürverbot des Gleichheitssatzes bedeutet also Schutz der Freiheit. Gewiß ist auch die übliche Redeweise richtig, wonach Art. 2 die Freiheit und Art. 3 die Gleichheit gewährleisten. Das macht anschaulich, daß die Gleichheit in der Freiheit und die Freiheit in der Gleichheit steckt: Rechtlosigkeit einiger hebt nicht nur die Freiheit, sondern auch die Gleichheit auf, und Willkür beseitigt nicht nur die Gleichheit, sondern auch die Freiheit 16 . Gleichheit ist nicht ein Gegenbegriff zu Freiheit, sondern zu Privilegien und Diskriminierungen, d. h. zu Ungleichheiten, für die es keinen sachlich rechtfertigenden Grund gibt und die insofern willkürlich sind. Gleichheit bedeutet nicht freiheitsbeeinträchtigende Gleichmacherei, sondern Gleichberechtigung der freien Entfaltung der Persönlichkeit: ein Prinzip, das die ganze Vielgestaltigkeit menschlicher Anlagen, Neigungen, Berufe, Interessen, Ideale, Engagements gewährleistet: Recht auf Ungleichheit für alle und nicht nur für einige 17 — im Rahmen allgemein geltender Regeln, die die Freiheit vor allem deshalb beschränken, damit die freie Entfaltung des einen mit der freien Entfaltung des anderen zusammen bestehen kann. Sie können nur zusammen bestehen im Rahmen einer demokratischen Verfassungsordnung, die zugleich eine von Willkür freie Bildung und Durchsetzung dieser Regeln gewährleistet. So bedeutsam die Art. 1 bis 3 G G und überhaupt der Grundrechtskatalog, seine unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit, auch für den Gesetzgeber, und der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht für die Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit in der praktisch-politischen Wirklichkeit sind — der Schwerpunkt der Sicherung von Freiheit und Gleichheit liegt im organisatorischen Teil des Grundgesetzes, der die staatsrechtliche Basis für die demokratische und soziale Entwicklung gleicher Freiheit legt.

III. Die staatsrechtliche Basis gleicher Freiheit Freiheit und Gleichheit kann es also weder unter den Bedingungen einer Diktatur noch unter denen eines freien Spiels der gesellschaftlichen Kräfte geben. Diktatur bedeutet Privilegierung der Machthaber und Diskriminierung der Machtunterworfenen; das freie Spiel der Kräfte mündet in ein Recht des Stärkeren, das die Schwächeren in Abhängigkeit stürzt — in beiden Fällen sind sowohl Freiheit als auch Gleichheit illusorisch. Freiheit und Gleichheit können vielmehr nur auf der Grundlage einer gewaltenteilenden, demokratischen Verfassungsordnung bestehen und fortentwickelt werden, einer Verfassungsordnung, die sich als ein vierstöckiger pyramidenförmiger Stufenbau beschreiben läßt.

15

Immanuel KANT Metaphysik der Sitten, hrsg. von K. VORLÄNDER 4. Aufl. 1922 S. 43.

16

Vgl. G . DÜRIG in MAUNZ/DÜRIG/HERZOG/

SCHOLZ, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Rdn. 134 („Freiheit - Gleichheit"). 17

O . MARQUARD H e g e l u n d Sollen, P h i l o s o -

phisches Jahrbuch 1972 (79) S. 103ff, 113.

136

2. Kapitel. Grundrechte

Diese vier Stufen sind von unten nach oben: 1. Gewaltmonopol, 2. Gewaltenteilung, 3. bürgerliche und politische Rechte, 4. Demokratie. Die Demokratie bildet keineswegs das Fundament, sondern setzt die bürgerlichen und politischen Rechte schon voraus. Diese aber sind „Rechte" nur unter der Voraussetzung der Gewaltenteilung, die ihrerseits das Gewaltmonopol voraussetzt. Dieser Stufenbau ist aus sachlichen und logischen Gründen zwingend und in keinem seiner Bauelemente verzichtbar, wenn man nicht bereit ist, sowohl auf Freiheit als auch auf Gleichheit zu verzichten. Dieser Stufenbau bietet zwar noch keine Gewähr dafür, daß sich Freiheit und Gleichheit auch wirklich entfalten und daß soziale Gerechtigkeit entsteht. Er ist also keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung dafür. Das gilt für den Stufenbau im ganzen, aber auch für das Verhältnis der vier Stufen untereinander. Die jeweils fundamentalere Stufe bietet zwar keine Gewähr dafür, daß auf ihr die höheren Stufen aufgebaut werden: Sie ist aber eine unerläßliche Voraussetzung für die höheren Stufen.

1. Gewaltmonopol Das Fundament bildet das Gewaltmonopol des Staates. Es ist Bedingung des inneren Friedens. Die Sicherung des inneren Friedens aber ist die Grundlage von Freiheit und Gleichheit. Denn ohne sie ist der Unbewaffnete und Friedliche gegenüber dem Bewaffneten und Gewaltbereiten im Nötigungszustand, also unfrei. Und zwischen beiden, dem Nötigenden und dem Genötigten, gibt es keine Gleichheit, noch weniger zwischen Tötendem und Getötetem, zwischen Marterndem und Gemartertem. Das Fehdewesen des Mittelalters und die konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jhs. haben die Menschen gelehrt, daß der durch das Gewaltmonopol des Staates gesicherte innere Friede die erste Grundbedingung für die Uberwindung dieser grausamsten Form von Unfreiheit und Ungleichheit bildet. Diese Erfahrung hat sich seither immer wieder bestätigt, wenn es gewalttätigen Gruppen gelang, das Monopol zu durchbrechen — durch Verbrechen aller Art, durch politisch motivierten organisierten Terrorismus mit Geiselnahme, Folter und Mord, durch einander bekriegende politische oder ideologische Kampfbünde oder auch durch „Gegengewalt" gegen die Staatsgewalt. Widerstand gegen die Staatsgewalt kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn die Staatsgewalt selbst nicht dem Recht unterworfen, sondern Instrument einer Freiheit und Gleichheit mißachtenden Gewaltherrschaft ist — gerechtfertigt dann als der einzige Weg, der zur Herstellung der rechtlichen Bedingungen von Freiheit und Gleichheit führen kann. Das Gewaltmonopol ist nur eine notwendige, aber selbstverständlich keine hinreichende Bedingung für Freiheit und Gleichheit. Es ist aber insofern eine notwendige Bedingung, als nur in einer äußerlich befriedeten Welt Argumente überhaupt Bedeutung gewinnen können. Erst dann wird der dialektische Prozeß der

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

137

öffentlichen Diskussion möglich, erst dann können die Interessen eines jeden, auch des Schwächeren, in die Diskussion eingehen 18 . 2. Gewaltenteilung Die zweite Stufe bildet die Gewaltenteilung. Sie ist die Voraussetzung dafür, daß die Staatsgewalt den Bürgern gegenüber Rechtspflichten haben kann, und überhaupt nur unter dieser Voraussetzung kann es Freiheit und Gleichheit geben. Eine Staatsgewalt, die nicht aus dem Recht abgeleitet und nicht in Rechtspflichten eingebunden ist, kann ihre Macht zwar milde, tolerant, großmütig ausüben und sich an selbst erlassene Gesetze halten, aber sie kann von ihrer Macht ebensogut grausamen, törichten, menschenfeindlichen Gebrauch machen, die selbst erlassenen Gesetze willkürlich interpretieren, beseitigen oder sich über sie hinwegsetzen — je nach ihren Zwecken, ihrer Willkür, ihrer subjektiven Meinung. Der Untertan ist ihrem Belieben ausgeliefert. Er ist im Verhältnis zu ihr also weder frei noch gleich. Seine Situation ist vergleichbar der einer von Terroristen gefangenen Geisel — er kann eine Zeitlang schonend behandelt, aber auch erniedrigt, mißhandelt oder ermordet werden. Das war die historische Erfahrung, die Europa nach der Uberwindung von Fehde und konfessionellen Bürgerkriegen mit dem Absolutismus gemacht hat. Gewaltenteilung ist die historische Antwort auf die Herausforderung durch den Absolutismus. Sie ist die Voraussetzung für jeden Versuch, die Ideale von Freiheit und Gleichheit in politische Wirklichkeit umzusetzen. „Absolutismus" — das Gegenstück zu Gewaltenteilung und „Rule of L a w " — bedeutet: Die Staatsmacht ist im Herrscher konzentriert und „legibus absolutus", vom Recht unabhängig. Der Wille des Herrschers gilt als Quelle allen Rechts, dieser steht deshalb selbst nicht unter, sondern über dem Recht, er kann keine Rechtspflichten haben. Er kann deshalb nicht zur Verantwortung gezogen werden und ist keine Rechenschaft schuldig. Seine Entscheidung ist schlechthin verbindlich, wie immer sie ausfällt: sie ist in sein Belieben gestellt. Die Dekrete der absolutistischen französischen Könige pflegten mit der Formel zu schließen: „ C a r tel est notre plaisir". Wenn man den absoluten Herrscher als verantwortlich ansprach, dann vor Gott oder vor sittlichen, religiösen, naturrechtlichen Regeln, die aber nur den Charakter moralischer Appelle hatten, wie sie sich etwa in den Fürstenspiegeln niederschlugen, denen keine rechtliche Verbindlichkeit zukam. Zwar erschien es als eine Frage der politischen Klugheit, die Untertanen nicht zu überfordern und nicht zum Widerstand zu provozieren. Aber auch insofern handelte es sich nicht um eine rechtliche Verpflichtung, sondern um ein machiavellistisches Kalkül der Herrschaftserhaltung. Die absolute Herrschaft konnte tolerant gebraucht werden, sie konnte aber auch in Terror umschlagen. So konnte z. B. ein französischer König — Heinrich IV. — durch das Toleranzedikt von Nantes 1598 den konfessionel18

Vgl. hierzu D . MERTEN Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975. Das staatliche Gewaltmonopol bedeutet keine Leugnung der geschichtlichen Dialektik, wie von manchen be-

hauptet wird, sondern bietet die Basis dafür, daß geschichtliche Dialektik sich demokratisch, also unter Einschluß aller, und ohne Blutvergießen entwickeln kann.

2. Kapitel. Grundrechte

138

len Bürgerkrieg beenden 19 . Ebensogut konnte aber hundert Jahre später — 1685 — ein anderer König (Ludwig XIV.) das Toleranzedikt wieder aufheben. Auch dieses Aufhebungsedikt schloß mit der Formel ,,Car tel est notre plaisir". Die Forderung nach konfessionellem Übertritt wurde mit Methoden vollzogen, die man heute brainwashing durch Folter und Morddrohung nennen würde. Auch Emigration war verboten und stand unter Galeerenstrafe (die Hugenotten flüchteten in nächtlichen Zügen über die grüne Grenze). Fluchthilfe stand unter Todesstrafe 20 . Angesichts dieser Erfahrung drängte sich die Frage auf, wie es überhaupt eine rechtliche Bindung der Staatsgewalt geben kann, die die Bedingung für Freiheit und Gleichheit ist. Die Antwort, die die Aufklärer des 18. Jhs. gaben, war: durch Gewaltenteilung. Wenn die Aufklärer von Freiheit und Gleichheit und überhaupt von Menschenrechten sprachen, so in der Regel zugleich von Gewaltenteilung 21 . Denn nur wenn die Staatsgewalt überhaupt an Recht gebunden ist, kann sie auch an die Rechtsprinzipien von Freiheit und Gleichheit gebunden sein. Ans Recht aber kann sie nur gebunden sein, wo ihr das Recht durch einen von ihr unabhängigen Gesetz- und Verfassungsgeber vorgegeben ist und unabhängige Richter die Beachtung des Rechts kontrollieren. Deshalb führte die Idee der Gewaltenteilung über mancherlei Varianten im 17. und 18. Jh. schließlich zu der prinzipiellen Dreiteilung der Gewalten in Exekutive, Legislative und Rechtsprechung. Diese Dreiteilung orientierte sich am englischen Modell der Gewaltenteilung zwischen König, Unter- und Oberhaus und Richter. Sie wurde zum Modell für die Verfassungen der amerikanischen Staaten seit 1776, die amerikanische Bundesverfassung von 1787 und die Verfassung der Französischen Revolution von 179 1 22 . Die Verfassungen wurden — wenn auch in allerlei Varianten, so doch unter Beibehaltung des Grundprinzips — zum Modell für die Verfassungsbewegung des 19. und 20. Jhs. Eine solche Verfassung garantiert nicht schon aus sich heraus die Realisierung der Menschenrechte, (es gab in den amerikanischen gewaltenteilenden Demokratien sogar Sklaverei). Aber sie ist eine Mindestvoraussetzung für die Bindung der Staatsgewalt an Recht (und war deshalb die Grundlage für die Überwindung der Sklaverei).

19

20

21

Hierzu LECLER Geschichte der Religionsfreiheit, Bd. 2, 1965, S. 1 7 7 f f . Näher hierzu: KRIELE Die Herausforderung des Verfassungsstaates, 1970 (jetzt unter dem Titel: Hobbes und englische Juristen), S. 5 0 f f ; Joseph CHAMBON Der französische Protestantismus, 4. A u f l . 1939, insbes. S. 152. Es gab Ausnahmen: V o r allem ROUSSEAU übersah die Bedeutung der Gewaltenteilung. Sein Demokratiebegriff war absolutistisch. Demokratie unterschied sich von Monarchie nur darin, daß an die Stelle des souveränen Fürsten das souveräne Volk trat. ROUSSEAUS Terminologie veranlaßte Immanuel KANT,

22

gewaltenteilende Demokratien als „Republiken" zu bezeichnen und den Begriff „ D e m o kratie" nur im RoussEAu'schen Sinne zu verwenden. Das ist der Grund, weshalb das W o r t „Demokratie" bei KANT nur im abfälligen Sinne vorkommt. KANT unterschied „Republiken" von „Despotien". Deren Kennzeichen ist nicht Grausamkeit, sondern Gewaltenkonzentration und damit absolutistische Unabhängigkeit von rechtlicher Bindung. „Demokratie" verstand KANT im Sinne ROUSSEAUS und bezeichnete sie deshalb als Variante der Despotie. Hierzu: Einführung in die Staatslehre (Fn. 4) §68.

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

139

Sie ist keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung der Geltung des Rechtsprinzips gleicher Freiheit. Gewaltenteilung bedeutet, daß jedes Staatsorgan nur im Rahmen rechtlich zugewiesener Kompetenzen und nach vorgegebenen Rechtsregeln handeln, nicht aber über das Recht im Ganzen verfügen oder es durchbrechen kann. Innerhalb des gewaltenteilenden Verfassungsstaats gibt es verschiedene Staatsorgane, aber keines von ihnen ist souverän 23 . Die Souveränität des Volkes erschöpft sich im Akt der Verfassunggebung; alsdann hat auch das Volk nur die ihm von der Verfassung oder verfassungsmäßigen Gesetzen zugewiesenen Kompetenzen, z. B. bei Wahlen und Abstimmungen. Das Recht ist zwar abänderbar, aber auch nur nach vorgegebenen Verfahrensund Kompetenzregeln. Das ist, was man unter dem Begriff der „rule of law", der Herrschaft des Rechts verstand, im Gegensatz zur „rule of men", der Herrschaft von am Belieben orientierten, absoluten Machthabern. 3. Bürgerliche und politische Rechte Erst mit der Gewaltenteilung vermögen sich bürgerliche und politische Rechte durchzusetzen.

a) Rechtfertigungsbedürftigkeit

der

Freiheitsbeschränkung

Zunächst ging es um den Grundsatz, daß Freiheitseinschränkungen rechtfertigungsbedürftig sind. Welche weitreichende Bedeutung dieser Grundsatz hat, wird sichtbar, wenn man sich die Zeiten vergegenwärtigt, in denen er nicht galt, in denen gerade umgekehrt die Herstellung eines freien Standes im einzelnen begründungsbedürftig war; durch Berufung auf Privilegien, Regalien, altüberlieferte Rechte, Erhebung in den freien Stand, Wechsel vom Land zur Stadt („Stadtluft macht frei") usw. Und welche aktuelle Bedeutung dieser Grundsatz hat, wird anschaulich an der Tatsache, daß er auch heute in der „sozialistischen" Welt wiederum nicht gilt, dort bedarf vielmehr einer besonderen Erlaubnis, wer ausreisen, studieren, publizieren, sich politisch oder religiös betätigen will, und diese Erlaubnis wird nur unter besonderen, eng umgrenzten Bedingungen erteilt: Nicht die Freiheitsbeschränkung, sondern die Freiheitsgewährung ist dort begründungsbedürftig. Das Verhältnis von Regel und Ausnahme ist zugunsten der Verfügungsmacht des Staates über den Menschen umgekehrt 24 . Der Grundgedanke, daß die Freiheitsbeschränkung rechtfertigungsbedürftig ist, fand im 19. Jh. seine staatsrechtliche Ausprägung im „Vorbehalt des Gesetzes" — 23

24

Dazu im einzelnen: Einführung in die Staatslehre (Fn. 4) insbesondere §§ 28, 57, 66, 69. C . J. FRIEDRICH Verfassungsstaat der-Neuzeit, (Fn. 10) S. 2 6 f f . Die Ausübung von „Freiheitsrechten", wie sie die sozialistischen Staaten garantieren, ist von vornherein in die Staatszielbestimmung „Errichtung des Sozialismus" eingebunden;

so muß sich die Ausübung von Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw. daran messen lassen, ob sie dieser Zielbestimmung entspricht; auf diese Weise wird Freiheit begründungsbedürftig gemacht. Vgl. z. B. A r t . 2 7 f f der DDR-Verfassung. Dazu KRIELE Die Menschenrechte zwischen Ost und West, 2. A u f l . 1979, S. 2 9 f .

2. Kapitel. Grundrechte

140

Eingriffe in Freiheit und Eigentum bedürfen gesetzlicher Grundlage 2 5 . Unter dem Grundgesetz findet er seine Ausprägung im Grundrechtskatalog, insbesondere in Art. 2 I. Dieser unterscheidet sich vom Vorbehalt des Gesetzes in zweierlei Hinsicht: Einerseits steht die Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will, unter dem Vorbehalt nicht nur des Gesetzes, sondern der gesamten verfassungsmäßigen Rechtsordnung (wobei freilich „wesentliche" Grundrechtseinschränkungen dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben) 2 6 . Andererseits ist der Rechtsetzer selbst an die Grundrechte gebunden und muß Freiheitseinschränkungen verfassungsrechtlich rechtfertigen können. Der Grundsatz, daß die Freiheitseinschränkung rechtfertigungsbedürftig ist, bedeutet nicht darüber hinaus auch ein Auslegungsprinzip von Gesetzen und anderen Rechtsnormen im Sinne einer Vermutungsregel „ i m Zweifel für die Freiheit". Einen derartigen Auslegungsgrundsatz gibt es nur im Rahmen des Straf- und Strafprozeßrechts in Gestalt der Regel „in dubio pro r e o " , nicht aber darüber hinaus als allgemeine Regel der juristischen Interpretation. Vielmehr sind im Zweifel der Wille des Gesetzgebers und Sinn und Zweck des Gesetzes zu ermitteln. Das Gesetz kann ja gerade auf Freiheitsbeschränkung gerichtet sein. In diesem Falle könnte eine solche Auslegungsregel auf Zweckverfehlung und damit auf einen Übergriff der rechtsprechenden in die rechtsetzende Gewalt hinauslaufen. b) Rechtfertigende

Gesetzeszwecke

Wenn die Freiheitsbeschränkung rechtfertigungsbedürftig ist, so stellt sich die Frage: wie kann man sie rechtfertigen? Die klassische Antwort der politischen Aufklärung lautete zunächst nur: Der Zweck der Freiheitsbeschränkung sei die Freiheit — nämlich die Freiheit der anderen. Nach der Formel Kants kommt es darauf an, daß die Freiheit des einen mit der Freiheit eines jeden anderen zusammenbestehen kann 2 7 . Freiheitsbeschränkungen galten also soweit als gerechtfertigt, als sie um der Freiheit selbst willen erforderlich erschienen. Wir haben inzwischen hinzugelernt, daß die Freiheit des anderen zwar einer der wesentlichsten Zwecke, aber nicht der einzige Zweck ist, der Freiheitsbeschränkungen zu rechtfertigen vermag. Erstens kann auch die Erhaltung des Staatsganzen ein rechtfertigender Zweck sein. Dabei handelt es sich allerdings noch um eine mittelbare Rechtfertigung aus dem individuellen Freiheitszweck, dann nämlich, wenn der Staat ein demokratischer Verfassungsstaat ist und sich selbst aus dem Zweck der Freiheit legitimiert. Zweitens ist aber auch die Überwindung von Hunger, N o t und Analphabetentum ein Zweck, der die Beschaffung der erforderlichen Mittel (Steuern, Sozialabgaben) rechtfertigen kann. Die Verfolgung dieser Zwecke dient zwar auch der Freiheit; denn in Hunger, N o t und Unwissenheit zu leben bedeutet Unfreiheit. Aber hier handelt es sich um einen weiteren Begriff der Freiheit als den Kant'schen der 25

Hierzu D . JESCH Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl. 1968, S. 4 7 f f ; E.-W. BÖCKENFÖRDE Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, insb. S. 323ff.

26 27

Vgl. B V e r f G E 49, 89ff, 126. KANT Uber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Werke Bd. VI, 1968, S. 127ff, 144.

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

141

„Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür". Freiheit wird jetzt verstanden als die Chance des einzelnen, gemäß seiner Begabung und Neigung leben und arbeiten zu können und nicht nur um die elementarste Lebensbasis besorgt sein zu müssen; mit anderen Worten als die Chance, an den Errungenschaften der modernen Zivilisation teilzuhaben und nicht von ihren Gütern und Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen zu bleiben. Drittens kann auch die Rücksicht auf Ehre, Integrität, Gepflogenheiten, Sittlichkeit, Familienzusammenhang, religiöse Uberzeugungen, aber auch auf Besitz und Eigentum die Freiheitsbeschränkung rechtfertigen, also die Rücksicht auf Rechtsgüter, die unter den Begriff der „Freiheit" zu subsumieren nicht ohne weiteres überzeugend erscheinen mag. Und viertens schließlich kann die Freiheitsbeschränkung auch der Rücksicht auf die Umwelt des Menschen dienen: z. B. im Naturschutz, im Tierschutz, im Umweltschutz überhaupt. Dieser Schutz vermag zwar oft auch menschlichen Freiheitsinteressen zugute kommen. Oft aber läßt sich dieses Interesse nur recht künstlich konstruieren (z. B. wenn man sagt: Der Tierschutz diene dem Schutz des Menschen vor Verrohung oder dem Schutz des mitleidigen Menschen: der Tierschutz dient diesen Zwecken auch, aber er dient unabhängig davon unmittelbar dem Schutz der Tiere vor vermeidbaren Qualen). Es ist Sache des Gesetzgebers, Zwecke zu bestimmen. Die Legitimität der Zweckbestimmung hängt davon ab, daß die Freiheitsbeschränkung nicht außer Verhältnis zum Zweck steht. Dieser Grundsatz findet seinen verfassungsrechtlichen Niederschlag in dem alle Grundrechtsauslegung durchziehenden Verhältnismäßigkeitsprinzip: Freiheitsbeschränkungen bedürfen eines legitimen Zwecks und müssen zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich sein und nicht außer Verhältnis zu ihm stehen 28 . Nicht jeder beliebige Zweck ist legitim, sondern es bedarf im Konfliktfall der Begründung, daß es sich um vernünftige, sachlich sinnvolle Zwecke handelt. Daß es sich um solche Zwecke handelt, kann zwar im Regelfall bei vom demokratischen Gesetzgeber beschlossenen Gesetzen vermutet werden, wenn nicht das Gegenteil dargetan werden kann. Doch je intensiver Gesetze Grundrechte einschränken, desto höhere Anforderungen bestehen sowohl an das Gewicht des öffentlichen Zwecks als auch an die Beweisbedürftigkeit der Eignung und Erforderlichkeit des Gesetzes zur Erreichung dieses Zweckes.

c) Bürgerliche

und politische Rechte als

Menschenrechte

Der Grundsatz, daß die Freiheit durch die Rücksicht auf die Freiheit eines jeden anderen begrenzt ist, war bei Kant noch dadurch eingeschränkt, daß nicht „jeder" gemeint war, sondern nur der Staatsbürger („citoyen"), von dem Kant sagte: „Die dazu erforderliche Qualität ist, außer der natürlichen (daß er kein Kind, kein Weib

28

Hierzu zusammenfassend K. STERN Staatsrecht I, 1977, § 4 III 8 e; § 20 IV 4 b.

142

2. Kapitel. Grundrechte

sei), die einzige: daß er sein eigener Herr (sui juris) sei". Als „sein eigener Herr" verstand Kant, in juristische Termini übersetzt, nur den, der sich nicht durch Dienst-, sondern durch Werkverträge ernährt: „der Hausbediente, der Ladendiener, der Tagelöhne, selbst der Friseur", seien nicht ihr eigener Herr, wohl aber der Perückenmacher 29 . Diese Beschränkung der staatsbürgerlichen Qualität auf Männer und Selbständige wird man mit Nachsicht beurteilen, wenn man sich die historischen Gegebenheiten des 18. Jhs. vergegenwärtigt, an denen gemessen sie noch verhältnismäßig fortschrittlich war. Es gab in der Geschichte des Staatsrechts der Neuzeit vielfältige andere Bedingungen für die staatsbürgerliche Qualität: man mußte Grundbesitzer oder Familienhaupt sein, später zumindest Steuerzahler, durfte nicht auf Fürsorge angewiesen sein, mußte der Staatskonfession angehören oder durfte zumindest bestimmten Konfessionen, vor allem der jüdischen, jedenfalls nicht angehören, durfte weder Farbiger noch Mischling sein, mußte lesen und schreiben können usw. Vor diesem Hintergrund versteht man die revolutionäre Wirkung der naturrechtlichen Begründung der bürgerlichen und politischen Rechte als Menschenrechte aus der Würde eines jeden, der Menschenantlitz trägt; der entscheidende Durchbruch zur gleichen Freiheit eines jeden 30 . Der revolutionäre Impuls dieser naturrechtlichen Idee konnte sich nur schrittweise durchsetzen: in der Abschaffung der Sklaverei, in der Aufhebung der Leibeigenschaft, in der Emanzipation der Juden, in der allgemeinen Schulpflicht, in der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Arbeiter und anderer in Dienstverhältnissen stehenden Personen, in der sozialen Bewegung überhaupt, in der Chancengleichheit der Parteien, in der religiösen, weltanschaulichen, politischen Neutralität des Staates und — der jüngste Schritt in dieser Entwicklung — in der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wie gefährdet der Grundsatz, daß jeder Mensch Rechtssubjekt ist, nach wie vor ist, zeigt sich wiederum vor allem in der Welt der „sozialistischen" Staaten, die keine sie selbst bindenden Rechtspflichten anerkennen, denen Menschenrechte entsprechen könnten: Dort gibt es Diskriminierung von Nichtparteimitgliedern, von politischen Dissidenten, von Christen, von Juden, von ethnischen Gruppen; es gilt überhaupt das Prinzip der Parteilichkeit allen Rechts. So ist ein neues Zweiklassensystem von Privilegierten und Unterdrückten geschaffen worden. Die lapidaren Formen des Art. 3 II und III sind ein Niederschlag jahrhundertelanger geistesgeschichtlicher und politischer Kämpfe um die prinzipielle Gleichbe29

30

KANT G e m e i n s p r u c h

(Fn. 2 7 ) , S. 1 5 1 .

Ein-

schränkungen dieser A r t finden sich freilich nicht nur bei KANT, sondern nahezu bei allen Vorkämpfern des Konstitutionalismus; die Idee des Verfassungsstaates war zunächst nicht demokratisch, sondern aristokratischbesitzbürgerlich geprägt. Vgl. C . J . FRIEDRICH Verfassungsstaat der Neuzeit, (Fn. 10) S. 33 ff. Dies Durchsetzen gleicher Freiheit eines jeden war vor allem ein Sieg der naturrechtli-

chen Freiheitstheorie über utilitaristische Gesichtspunkte, wie etwa ,welchen Nutzen soll es haben, denjenigen Freiheit zu gewähren, die mit ihr nichts anzufangen wissen?'. Auch hierin zeigt sich, daß Freiheit immer im Kern als naturrechtliches Postulat begriffen werden muß. Die Verfassung der Freiheit mußte gegen die „ungleiche" Freiheit durchgesetzt werden.

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

143

rechtigung der Geschlechter, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat, der Herkunft, des Glaubens, der religiösen und politischen Anschauungen — ein nur mit größter Mühe erreichter und nach wie vor von Rückschlägen bedrohter Fortschritt in der Geschichte gleicher Freiheit. Hinzuzufügen ist, daß der naturrechtliche Charakter der Menschenrechte den Unterschied zwischen Menschen- und Bürgerrechten nicht aufhebt. Zwar ist jeder Mensch, auch der Ausländer, ein in seiner Freiheit und Menschenwürde geschütztes Rechtssubjekt. Aber damit ist nicht ausgeschlossen, daß der Staat besondere Rechte seinen Staatsangehörigen vorbehält oder sie Ausländern nur nach seinem Ermessen gewährt: z. B. das Recht, im Gebiet des Staates seinen Wohnsitz zu nehmen, seinem Erwerb nachzugehen, sich politisch zu betätigen oder gar öffentliche Ämter innezuhaben, zu wählen oder sich sonst an der Willensbildung des Staatsvolkes zu beteiligen. 4. Demokratie Erst auf der Grundlage einer rechtlich gesicherten Freiheit des Menschen kann es Demokratie geben. Denn nur auf dieser Grundlage kann der Mensch aufrecht gehen, auch im übertragenen Sinn der Aufrichtigkeit seines Denkens und Wollens. Ohne rechtlich gesicherte Freiheit lebt er in Unsicherheit und Furcht: er muß auf die jeweiligen Wünsche des jeweiligen Machthabers schielen und sich ihnen anpassen, wenn er nicht willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Ausweisung, Folter oder Ermordung riskieren will. Demokratie als politische Selbstbestimmung des Volkes hängt ab von der Selbstbestimmung der Mitglieder des Volkes. Wer vom Selbstbestimmungsrecht der Völker spricht, ohne das bürgerliche und politische Selbstbestimmungsrecht des Menschen einzuschließen und vorauszusetzen, betrügt sich und andere. Er meint dann in Wirklichkeit die Fremdbestimmung des Volkes durch eine Parteiführung oder sonstige Herrschaftselite, die sich als Repräsentantin des Volkes ausgibt, ohne dazu demokratisch legitimiert zu sein. Demokratie kann es also nur geben im Rahmen von rechtlichen Regeln, die die ständig sich erneuernde demokratische Meinungs- und Willensbildung offenhalten, so, daß jeder Bürger gleiche und freie Chancen auf Mitwirkung an der Gestaltung der öffentlichen Verhältnisse hat. Deshalb gehören zur Demokratie die Pluralität und Gründungsfreiheit der Parteien, die demokratische Struktur der Parteien (Art. 21 I), die Chancengleichheit der Parteien (Art. 3 I) und die Grundrechte auf Vereinigungsfreiheit (Art. 9), auf Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 5), auf Petitionen (Art. 17) und in weiteren Zusammenhängen alle politischen und bürgerlichen Rechte 3 1 . Deshalb hat die Demokratie die bürgerlichen und politischen Rechte zur Voraussetzung, die ihrerseits die Gewaltenteilung zur Voraussetzung haben. Ohne Gewaltenteilung keine Rechtsbindung des Staates, ohne Rechtsbindung des

31

D a z u : Einführung in die Staatslehre (Fn. 4) §§ 7 9 - 8 3 .

144

2. Kapitel. Grundrechte

Staates keine gesicherte Freiheit. Ohne gesicherte Freiheit aber können die im Volk lebendigen Meinungen, Interessen und sittlichen Werturteile nicht zur politischen Geltung kommen. Herrscht aber nicht das Volk, so besteht keine Demokratie. Darüber hinaus bedarf die Demokratie rechtlicher Organisations-und Verfahrensregeln, z . B . über die gesetzgebenden Körperschaften, ihre Bildung und Zusammensetzung (z. B . Wahlrecht), ihr Zusammenwirken, die Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder, die Zusammensetzung und Kompetenzen ihrer Unterorgane (Ausschüsse), die Öffentlichkeit oder NichtÖffentlichkeit ihrer Beratungen, das Rederecht, die Redezeit, das Q u o r u m , die erforderlichen Mehrheiten (absolute, relative, einfache, qualifizierte), die Abstimmungsmodalitäten, die Voraussetzungen des Inkrafttretens ihrer Beschlüsse usw. Man kann also nicht etwa so, wie man die konstitutionelle von der absolutistischen Monarchie unterschied, eine konstitutionelle von einer absolutistischen Demokratie unterscheiden. Eine absolutistische Demokratie ist unmöglich, ein Widerspruch in sich. Absolutistisch herrschen heißt: nicht ans Recht gebunden sein, nicht unter, sondern über dem Recht stehen. Ohne Rechtsbindung fehlen nicht nur die bürgerlichen und politischen Rechte, die die Demokratie erst möglich machen. Ohne Rechtsbindung läßt sich auch ein demokratisches Entscheidungsverfahren nicht organisieren. Ein absoluter Monarch ist präsent und handlungsfähig, nicht aber das Volk als solches: dieses wird politisch erst handlungsfähig mittels rechtlich verbindlicher Organisation. Wegen dieser Angewiesenheit der Demokratie auf bürgerliche und politische Rechte und auf eine verfassungsrechtliche Organisation kann die Demokratie nicht das Fundament des demokratischen Verfassungsstaates bilden. Sie hat vielmehr eine rechtlich verbindliche Verfassung schon zur Voraussetzung. Wenn wir in diesem Sinne von Demokratie sprechen, so meinen wir nicht den einmaligen, ursprünglichen Akt der Verfassungsschöpfung, sondern die ständige und fortdauernde politische Organisationsform, m. a. W. nicht den pouvoir constituant, sondern den pouvoir constitué. Dem demokratischen Verfassungsstaat kann oder muß je nach der historischen Situation ein revolutionärer Akt der Verfassungsschöpfung vorausgehen, sei es in der Gestalt von Wahlen zu einer Versammlung, die durch diese Wahlen zur Verfassunggebung ermächtigt ist, sei es durch eine Volksabstimmung über einen Verfassungsentwurf. Auch diese beiden Formen der Betätigung des pouvoir constituant bedürfen einer vorläufigen Organisation und der Anerkennung ihrer Verbindlichkeit als legitim durch das Volk. Der pouvoir constituant erschöpft sich aber in der Verfassunggebung und hebt sich damit auf: fortan gilt als rechtlich legitim nur noch die auf diese Weise verbindlich zustande gekommene Verfassung. Deshalb ist es eine für die Zukunft der Demokratie gefährliche Irreführung, den Begriff der Demokratie allein auf den pouvoir constituant zu beziehen, wie es die meisten der sogenannten revolutionären Befreiungsbewegungen tun: das Volk ist nicht schon durch Entkolonialisierung oder sonstige Abschüttelung von Fremdherrschaft befreit, wenn diese in eine neue Form der Despotie mündet. Es ist nur befreit, wenn der pouvoir constituant eine Verfassungsorganisation mit Gewaltenteilung, bürgerlichen und politischen

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

145

Menschenrechten und Demokratie schafft. N u r ein so verstandener Begriff der „Befreiung" steht in der Tradition der politischen Aufklärung 3 2 .

IV. Soziale Gerechtigkeit und formale Rechtsgeltung 1. Ist das allgemeine Gesetz ungerecht? Das demokratische Instrument zur Herstellung gleicher Freiheit ist das allgemeine Gesetz. In dem Gedanken der Allgemeinheit des Gesetzes kommt der Gedanke der Gleichheit am unmittelbarsten zum Ausdruck. Doch bedarf diese Feststellung einer Einschränkung: Die Allgemeinheit des Gesetzes begründet nur dann Gleichheit, wenn sie eingebunden ist in die Rechtstradition, die die Freiheitsbeschränkung von allgemeinen Gesetzen abhängig macht 3 3 . Es sind auch allgemeine Gesetze denkbar, die die Freiheit nicht sichern, sondern unterdrücken — wofür die „sozialistische Gesetzlichkeit" anschauliche Beispiele in Fülle liefert. Solche Gesetze unterdrücken aber nicht nur die Freiheit, sondern verleugnen zugleich die Gleichheit, und zwar in doppelter Hinsicht: Einmal, weil sie die Machthaber privilegieren, sodann aber auch, weil zur Gleichheit notwendigerweise das Recht eines jeden auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit gehört. Allgemeine Gesetze, die dieses Recht mißachten, unterdrücken die Menschen ungleich: die moralisch Sensiblen, die intellektuell Aufrichtigen, die religiös Aufgeschlossenen, die künstlerisch Schöpferischen, die Begabten aller Art werden im Kern ihrer Persönlichkeit getroffen, während die Stumpfen, Feigen, Beschränkten, Gleichgültigen, Lügebereiten und auch sonst Anpasserischen durch solche Gesetze nicht berührt werden. Solche Gesetze wirken also zugleich privilegierend und diskriminierend. Die Allgemeinheit des Gesetzes kann nur dann Gleichheit herstellen, wenn sich die durch sie begründeten Freiheitsbeschränkungen an den Maßstäben einer freiheitssichernden demokratischen Verfassungsordnung legitimieren lassen. Wie aber, wenn die formale Gleichheit des allgemeinen Gesetzes mit materialer Ungleichheit zusammentrifft — mit dem Unterschied zwischen Arm und Reich, mit ungleichen Bildungs- und Startchancen? Man hat oft die soziale Gerechtigkeit gegen die formale Rechtsgeltung ausgespielt und in diesem Zusammenhang Anatole France's Satz zitiert: „ D a s Gesetz in seiner erhabenen Majestät verbietet es Armen und Reichen gleichermaßen, unter Brücken zu schlafen, Brot zu stehlen und an Ecken betteln zu gehen" 3 4 . Das erscheint wie eine schreiende Ungerechtigkeit. Die Ungerechtigkeit liegt aber nicht in der Allgemeinheit des Gesetzes, sondern in dem sozialen Elend, das Arme zu solchen Handlungen treibt, und darüber hinaus in dem Bagatellcharakter des Betteins und Unter-Brücken-Schlafens — was beides nicht strafwürdig

32

33

Vgl. (Fn. Des (Fn.

Befreiung und politische Aufklärung 1) passim. näheren: Recht und praktische Vernunft 4) § 9.

34

ANATOLE FRANCE Die rote Lilie, deutsch München 1925, S. 116.

2. Kapitel. Grundrechte

146

ist. Wäre aber das Brotstehlen nicht generell verboten, so dürfte auch den Armen das Brot, das sie durch Betteln erlangt haben, wieder gestohlen werden: daran können auch die Armen kein Interesse haben. Das Problem liegt in der Uberwindung der Armut, und es ist nicht zu sehen, inwiefern die Durchbrechung der Allgemeinheit der Gesetze dazu etwas beitragen könnte. Im Gegenteil: nur allgemeine Gesetze haben die allgemeine Schulpflicht, das Verbot der Kinderarbeit, die Gleichberechtigung der Frau, die progressive Besteuerung, die Sozialversicherungsgesetze, die Rechtsansprüche auf Sozialleistungen usw. begründen können. Der soziale Fortschritt steht zur Allgemeinheit der Gesetze nicht nur nicht im Widerspruch, sondern ist darauf angewiesen. Er muß in erster Linie dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben, oder sich, wenn er richterrechtlich erfolgt — wie z. B. im Arbeitsrecht —, in Entscheidungen vollziehen, die geeignet sind, präjudizielle Wirkung zu entfalten, die sich also an Regeln orientieren, von denen man wollen kann, daß sie zur allgemeinen Regel werden. 2. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte Mit allgemeinen Gesetzen ist also in der Tat noch keine gleiche Freiheit hergestellt. Die formale Freiheit des Gesetzes ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Freiheit. Wer in Armut und Elend lebt, ist nicht frei, sondern gezwungen, ständig und ausschließlich um die Erhaltung seiner Lebensbasis besorgt zu sein. Die Überwindung der Not ist nicht nur eine elementare Forderung der Gleichheit, sondern auch der Freiheit, denn in Not leben bedeutet unfrei sein. Freiheit bedeutet mehr als Abwehr staatlicher Eingriff; sie bedeutet auch die Herstellung von sozialen Bedingungen der Entfaltung der Persönlichkeit für jedermann 3 5 . Das ist der Grundgedanke der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, der nicht etwa im Gegensatz zur Idee der Freiheit steht, sondern eben aus den rechtlichen und philosophischen Wurzeln der Freiheitsidee selbst sich mit innerer Zwangsläufigkeit ergibt 3 6 . Es ist keine Rede von einem Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit, sondern von einem ständigen Prozeß der Uberwindung von Unfreiheiten, worin immer sie begründet sein mögen: in der Angst vor staatlicher Willkür, im Ausgeliefertsein an ein fremdbestimmtes Recht, oder in Hunger und Not. Nicht nur die bürgerlichen und politischen 3 7 , sondern auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte 3 8 sind also Elemente der Freiheit, darauf gerichtet, gleiche Freiheit für alle zu schaffen. Zwischen diesen beiden Typen von Menschenrechten gibt es allerdings einen Unterschied: Während die bürgerlichen und politischen Freiheiten unmittelbar geltendes, gerichtlich einklagbares Recht sind 3 9 ,

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36

37

Hierzu und zum folgenden: Befreiung und politische Aufklärung (Fn. 1) S. 6 6 f und § 12. Vgl. S. MILLER Das Problem der Freiheit im Sozialismus, 1974. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, BGBl. 1976, II, S. 1068, ab-

38

39

gedruckt in: Die Menschenrechte zwischen Ost und West (Fn. 24) S. 9 6 f f . Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, BGBl. 1976 II, S. 428, abgedruckt in: Die Menschenrechte zwischen Ost und West (Fn. 24) S. 1 1 7 f f . A r t . 2 Ziff. 1—3 des Bürgerrechtspaktes.

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

147

können die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte nur Pflichten des Staates sein, denen subjektiv-öffentliche Rechte nicht gegenüberstehen 4 0 , von Ausnahmen in Grenzfällen abgesehen. Denn ihre Verwirklichung setzt politische, wirtschaftliche, organisatorische, budgetmäßige Programme voraus, über die nur Gesetzgeber und Regierung, nicht aber die Gerichte entscheiden können. Sie können deshalb von Demokratien und Diktaturen gleichermaßen verwirklicht oder vernachlässigt werden. Sie formulieren nur, um was sich nicht nur demokratische Gesetzgeber und Regierung, sondern auch Diktaturen aller Couleur in der Regel ohnehin bemühen. Die Vertreter der sozialistischen Diktaturen und anderer nach dem absolutistischen Modell gestalteter Staaten bei den Vereinten Nationen betonen deshalb mit Vorliebe die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte und stellen die bürgerlichen und politischen Menschenrechte als einen individualistischen Luxus hin, der ihrer Verwirklichung eher hinderlich erscheint. Aber warum muß man die Menschen entrechten, um ihnen Brot zu geben? In Wirklichkeit sind die bürgerlichen und politischen Menschenrechte der Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte nicht hinderlich, sondern förderlich. Denn die bürgerlichen und politischen Freiheiten sind die Voraussetzung dafür, daß Verletzungen von Menschenrechten aller Art öffentlich zur Sprache kommen, daß sie politische Kritik und Kontrolle auslösen, daß unfähige Regierungen abgewählt werden und daß demokratische Initiativen sich in Regierungsprogrammen und Gesetzen niederschlagen können 4 1 . Die Erfahrung lehrt, daß der Sozialstaat nirgendwo so stark entwickelt ist wie in demokratischen Verfassungsstaaten. Für diese ist aber die Allgemeinheit des Gesetzes unentbehrlich — sie allein vermag den Bürger vor willkürlichen Verhaftungen und anderen Freiheitsbeeinträchtigungen zu schützen. Schon deshalb ist sie Bedingung für den demokratischen Kampf, der allein mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen vermag. Aber auch die Herstellung sozialer Gerechtigkeit selbst ist auf das Instrument der allgemeinen Gesetze angewiesen. Kurz, das Ausspielen sozialer Gerechtigkeit gegen das allgemeine Gesetz, das auf den ersten Blick als soziales Engagement im Dienst von Freiheit und Gleichheit erscheint, erweist sich bei näherem Zusehen als unverantwortlich nicht nur im formalen, sondern auch im moralischen Sinn des Wortes, als Mangel an demokratischem Amtsethos und auf einer Unterschätzung der Bedeutung der formalen Geltung des Gesetzes, die zwar keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für die inhaltliche Verwirklichung gleicher Freiheit eines jeden ist.

40

41

A r t . 2 Ziff. 1 des Sozialrechtspaktes: H i e r z u :

So ist z. B . das allgemeine und gleiche W a h l -

KRIELE, ( F n . 2 4 ) S. 15 ff.

recht eine logische F o l g e r u n g aus dem verfas-

Befreiung und politische Aufklärung ( F n . 1)

sungsstaatlichen Repräsentationsprinzip. N ä -

§ 12. D i e F o r d e r u n g e n der sozialen

Bewe-

her hierzu: D a s demokratische Prinzip im

gung waren nichts anderes als Konsequenzen

G r u n d g e s e t z ( F n . 9) S. 4 6 f f , 61 f. Vgl. dazu

aus der Idee gleicher Freiheit, die dem d e m o -

LASSALLE A r b e i t e r p r o g r a m m , Ausgabe 1 9 7 3 ,

kratischen

S. 3 6 ff, 4 0 f f .

Verfassungsstaat

zugrunde

liegt.

2. Kapitel. Grandrechte

148

3. Das Allgemeine Gesetz Ein Gesetz ist „allgemein", wenn es abstrakt (auf unbestimmt viele Fälle bezogen) und generell (an unbestimmt viele Adressaten gerichtet) ist. Abstraktheit bedeutet aber nicht, daß es unbestimmt viele Fälle der geregelten Art in der Lebenswirklichkeit tatsächlich geben müsse, sondern nur, daß die Bestimmung der möglichen Fälle von sachlichen Gründen getragen wird 42 , und das kann auch dann der Fall sein, wenn es tatsächlich nur einen in Betracht kommenden Fall gibt. Ebenso bedeutet Generalisierbarkeit nicht, daß es unbestimmt viele Adressaten geben müsse, sondern nur, daß die Gruppe sachgerecht abgegrenzt ist, und das kann sie auch dann sein, wenn tatsächlich nur ein einziger Adressat in Betracht kommt. Selbst die Gesetze mit dem größten und umfassendsten Adressatenkreis, z. B. die Strafgesetze, gelten nicht für Kinder. Der Gesetzgeber kann aber aus sachlichen Gründen auch Gesetze erlassen, die z. B. nur für Kaufleute oder nur für Einzelhandelsgeschäfte oder nur für Apotheken oder nur für Bahnhofsapotheken gelten — letzteres auch dann, wenn es im Bundesgebiet nur eine einzige Bahnhofsapotheke gibt 43 . Die Allgemeinheit des Gesetzes beruht auf der „Sachlichkeit" der Bestimmung von Fall und Adressat, und das bedeutet: diese Bestimmung muß sich aus generalisierbaren Gründen rechtfertigen lassen 44 . Wenn es tatsächlich nur einen in Betracht kommenden Fall oder Adressaten gibt, so liegt das dann an der Zufälligkeit der Situation. Gesetze werden erlassen, wenn tatsächlich vorhandene oder erwartete Vorkommnisse Anlaß zu der Regelung geben, daß „immer dann", wenn ein solches Vorkommnis gegeben ist, die „jeweils Betroffenen" so und so berechtigt oder verpflichtet sein sollen; und es sind vorsorgliche Regelungen denkbar, die durch ihre Sanktionsandrohung bewirken, daß kein einziger Fall der geregelten Art eintritt. Ob die rechtfertigenden Gründe von Regelungen generalisierbar sind, hängt zumindest davon ab, ob — bei einer belastenden Regel — jeder in Betracht kommende denkbare Adressat ihre Berechtigung zugestehen könnte, oder — bei einer begünstigenden Regel — ob alle anderen diese zugestehen können. „Die Berechtigung zugestehen können" heißt: anerkennen können, daß die Regel aus objektiven Gründen als geeignet und erforderlich angesehen werden kann, einem Zweck zu dienen, der sich seinerseits an den Maßstäben einer freiheitsschützenden demokratischen Verfassungsordnung legitimieren läßt (oben S. 140 f). Gewiß bedeutet das nicht, daß tatsächlich jedermann die getroffene Regel überzeugend finden müsse, sondern nur, daß die das Gesetz beschließende parlamentarische Mehrheit sie so finden müsse — mit Gründen, die mindestens vertretbar und nicht evident sachwidrig sind 45 , die bei intensiveren Grundrechtseinschränkungen aber einen höheren Grad an Uberzeugungskraft entfalten müssen 46 . Diese Grundsätze finden ihren verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt in Art. 3 I „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich", der im Zusammenhang mit 42 43 44

BVerfGE 8, 361; 25, 397. BVerfGE 13, 225. Dazu: Recht und praktische Vernunft (Fn. 4) §13.

Zur Rechtsprechung des BVerfG vgl. Leibh o l z / R i n c k (Fn. 14) Art. 3 Rdn. 10. " BVerfGE 7, 377ff, LS 6.

45

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

149

Art. 2 I und den übrigen Grundrechten auszulegen ist und alle drei Gewalten bindet (Art. 1 III, 20 III), sowie für grundrechtseinschränkende Gesetz in Art. 19 I. 4. Die Präjudizienvermutung in Rechtsprechung und Verwaltung Der Grundsatz von der Rechtfertigungsbedürftigkeit einer Regel an generalisierbaren Prinzipien gilt nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für den Richter. Deshalb ist der Richter dem Gesetz unterworfen (Art. 97 I) — das notwendige Korrelat seiner Unabhängigkeit. Aber auch in dem Spielraum, den ihm das Gesetz zur Interpretation und zur Rechtsfortbildung überläßt, entscheidet er nicht nur einen Einzelfall, sondern schafft ein Präjudiz. Das bedeutet: er orientiert die konkrete Entscheidung an einer Regel — der „ratio decidendi" —, von der er wollen kann, daß sie zur allgemeinen Regel werde, und von der er das deshalb wollen kann, weil diese Regel dem Prinzip der gleichen Freiheit aller Rechnung trägt. Diesem Vorausblick auf künftige gleich liegende Fälle entspricht der Rückblick auf frühere Präjudizien, an denen er sich im Zweifel orientiert, d. h. dann, wenn er nicht in der Auseinandersetzung mit ihren Entscheidungsgründen bessere Gründe findet, um davon abzuweichen. Weicht er ab, so wiederum nicht nur im Hinblick auf den zu entscheidenden Einzelfall, sondern zugleich im Hinblick auf die künftige präjudizielle Ausstrahlung seiner neuen Entscheidung. Ebenso wie die Gesetzesänderung durch den Gesetzgeber Ungleichbehandlung für die Betroffenen vor und nach der Gesetzesänderung schafft, ohne den Gleichheitssatz deshalb zu verletzen, so auch die Abweichung von früheren Präjudizien — vorausgesetzt in beiden Fällen, generalisierbare Gründe rechtfertigen die Annahme, die neue Regel trage der gleichen Freiheit aller besser Rechnung als die alte. Der Grundsatz der „Präjudizienvermutung" hat zwar in die traditionelle juristische Methodenlehre noch nicht überall Eingang gefunden. Er leitet aber weitgehend die richterliche Praxis und ist ein aus dem Willkürverbot des Art. 3 folgendes Verfassungsgebot (von anderen Gründen, die für diese Praxis sprechen, abgesehen) 47 . Entsprechendes gilt für die Verwaltung, die im gesetzesfreien Raum durch ihre Praxis eine „Selbstbindung" schafft 4 8 . Auch diese Selbstbindung steht lediglich unter dem Vorbehalt, daß eine neue Praxis „von nun an" generell Anwendung finden soll. Aber auch hier gilt schon für den ersten Fall einer neuen Praxis, daß diese im Hinblick auf ihre künftige präjudizielle Wirkung von einer mit generalisierbaren Gründen rechtfertigungsfähigen Regel geleitet sein muß (sogenannte „antizipierte Selbstbindung") 4 9 . Ebenso kann die Verwaltungspraxis zwar von der Verwaltungsrechtsprechung abweichen, aber ebenfalls nur, wenn sie sich in der Auseinandersetzung mit ihren Gründen auf bessere Gründe berufen kann, von denen sie erwartet, daß ihre Uberzeugungskraft die künftige Rechtsprechung beeinflussen kann 5 0 .

47

48

Näheres hierzu: KRIELE Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, §§ 69—71; zusammenfassend: Recht und praktische Vernunft (Fn. 4) 4. Kap. Vgl. neuestens PIETZCKER Selbstbindung der Verwaltung, N J W 1981, S. 2087ff.

49

Dazu OSSENBÜHL Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 518 m. w. N .

50

OSSENBÜHL in: Erichsen/Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl., 1981, S. 55ff, 104.

2. Kapitel. G r u n d r e c h t e

150

5. Das Ethos der Repräsentation Wenn jeder gleiches Recht auf Freiheit hat, so verlangt dieser Grundsatz unparteiliche, gerechte Abwägung der Interessen des einen mit denen jedes anderen und der Gemeinschaft. Eine solche Abwägung setzt als erstes voraus, daß sich jeder Amtsinhaber als Repräsentant des ganzen Volkes versteht 51 . Auch der Abgeordnete, der als Kandidat einer Partei gewählt ist und innerhalb dieser vielleicht als Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, Interessengruppierung oder Region, soll dennoch zugleich Repräsentant des ganzen Volkes und nur seinem Gewissen unterworfen sein (Art. 38 I 2). Ebenso unterliegt jeder Beamte und Richter dem ethischen Anspruch der Repräsentation. So heißt es in § 35 Beamtenrechtsrahmengesetz: „Der Beamte dient dem ganzen Volk. Er hat seine Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen und bei seiner Amtsführung auf das Wohl der Allgemeinheit Bedacht zu nehmen". Die Richter urteilen „Im Namen des Volkes" und schwören, bei der Anwendung von Verfassung und Gesetz „nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Partei zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen" (§ 38 I Richtergesetz). Auch der Bundespräsident und die Mitglieder der Bundesregierung schwören u. a., daß sie ihre Kraft „dem Wohle des deutschen Volkes widmen . . . und Gerechtigkeit gegen jedermann üben" werden (Art. 56, 64 II GG). Und für die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten gilt der Grundsatz, daß „alle in Betracht kommenden politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen Einfluß haben, im Gesamtprogramm zu Wort kommen können und daß Leitgrundsätze verbindlich sind, die ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten" 52 . Zwar kann es in politischen Meinungsverschiedenheiten keinen „neutralen" Standort geben — jeder Amtsträger ist in Interessen, Ideologien, Traditionen und politischen Anschauungen verstrickt und daher notwendigerweise Partei. Das Ethos der Repräsentation verlangt nicht, die eigene Meinung aufzugeben — das wäre unmöglich — aber ihnen in der Amtsausübung nicht ohne weiteres unvermittelte Geltung zu verschaffen. Es geht darum, der Verwurzelung in Tradition, Leidenschaft, Vorurteil und Eigeninteresse soviel sachliche, unparteiliche, verantwortliche Meinungsbildung wie möglich abzuringen 53 . Die Organe der Exekutive und der Rechtsprechung sind deshalb dem Gesetz unterworfen und haben insofern nicht ihre Meinung, sondern die im Gesetz zum Ausdruck kommende Meinung des gesetzgebenden Repräsentationsorgans des ganzen Volkes zur Geltung zu bringen. Die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften ihrerseits sind zwar legitimerweise Partei und zu einseitigen Beiträgen zur Meinungsbildung berechtigt. Der Anspruch auf Repräsentation geht aber über das

51

LEIBHOLZ D a s W e s e n der Repräsentation un-

parlamentarischen

ter besonderer Berücksichtigung des R e p r ä -

1 9 7 5 , S. 7 6 3 f f .

sentativsystems, 1 9 2 9 ; DERS. Das W e s e n der Repräsentation Demokratie

und der Gestaltwandel

im 2 0 .

Jahrhundert,

3.

«

der

Aufl.

1 9 6 6 ; OPPERMANN Z u m heutigen Sinn der

BVerfGE

12, 205ff,

Repräsentation, LS 10; BVerfG

1 9 8 1 , S. 1 7 7 4 f f . 53

H i e r z u näher KRIELE ( F n . 9) S. 6 8 f f .

DÖV NJW

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

151

Standesethos des Rechtsanwalts, dem Einseitigkeit erlaubt ist, hinaus und verlangt, der Meinungsbildung und den Interessen des ganzen Volkes Rechnung zu tragen. Dieser Anspruch kann die unausweichliche Einseitigkeit immerhin mäßigen und in Grenzen halten. Er ist die Bedingung dafür, daß es bei Zersplitterung in eine Pluralität von Meinungen und Interessen überhaupt zur sachlichen Diskussion und zur Bildung von entscheidungsbildenden Mehrheiten kommen kann. Darüber hinaus ist aber auch die Mehrheit an die verfassungsmäßige Ordnung und damit an bestimmte Grundsätze der Unparteilichkeit gebunden, nämlich an den Schutz der Chancengleichheit der Parteien, an die minderheitenschützenden Grundrechte und an den Grundsatz der Nichtidentifikation 5 4 . Der Grundsatz der Nichtidentifikation ist als objektive N o r m den Grundrechten der Art. 3, 4, 5 I und III zu entnehmen. Er besagt, daß weder politische, noch religiöse, noch weltanschauliche oder künstlerische Anschauungen, noch irgendein „Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse" für andere verbindlich gemacht werden darf 5 5 . Unparteilichkeit ist mehr als nur ein ethisches Postulat oder eine Konventionairegel: sie ist der Verfassungsgrundsatz, mit dessen Geltung die gleiche Freiheit eines jeden steht und fällt 5 6 .

6. Der unendliche Kampf um Freiheit und Gleichheit Die demokratische Herstellung von Freiheit und Gleichheit ist ein unendlicher Prozeß, der niemals abgeschlossen sein kann. Die Balance zwischen Freiheit und Gleichheit muß in jeder Generation neu getroffen werden, weil die Freiheit immer neue Ungleichheiten produziert und die Versuche zu deren Überwindung immer von neuem Freiheit und Gleichheit gefährden. Die Balance zwischen Freiheit und Gleichheit treffen, heißt, das jeweils erreichbare Optimum an gleicher Freiheit zu finden. Dieses Optimum aber bedeutet immer zugleich Inkaufnahme von ungleicher Freiheit. Es kommt dann darauf an, daß so wenig wie möglich an ungleicher Freiheit in Kauf genommen werden muß, daß also nicht die Korrektur zu einem noch höheren Grad an ungleicher Freiheit führt. Die Suche nach der Balance zwischen Freiheit und Gleichheit ist ein ständiger Prozeß von Korrekturen, von Korrekturen der Korrekturen und so fort, in den Erfahrungen, Theorien, ideologische Einseitigkeiten, Leidenschaften und Versachlichungen eingehen, ohne daß jemals ein Ende absehbar wäre. So schafft z . B . das Erbrecht ungleiche Startchancen. Schafft man aber das Erbrecht ab, so greift man in den Zusammenhang der Familie, in das Fürsorgedenken des Erwerbstätigen, in seine Leistungsmotivation und in sein Verfügungsrecht über das Erworbene ein. Man schafft Ungleichheiten ab, greift aber in die Freiheit ein, und zwar in einer Weise, die zugleich neue Ungleichheiten schafft: nämlich eine Benachteiligung derjenigen, deren Neigung und Veranlagung sich auf Erwerb und auf Sicherung der Angehörigen richten. Eine weitere Frage ist dann, ob die anderen,

54

55

Hierzu H . KRÜGER Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 178. D a z u KRIELE „ S t a n d der medizinischen Wissenschaft" als Rechtsbegriff, N J W 1976, S. 355 ff, 357.

56

Vgl. hierzu, in dem Problembereich des öffentlichen Dienstes, G . DÜRIG (Fn. 16) Art. 3 III, Rdn. 11, 15.

152

2. Kapitel. Grandrechte

deren Lebensgestaltung sich an anderen Werten und Zielen orientiert, davon einen Vorteil haben, oder ob nicht vielmehr die Abschaffung des Erbrechts sich nachteilig auf die wirtschaftliche Produktivität, damit auf die Steuereinkünfte und die Sozialleistungen des Staates auswirken würden. Kurz: absolute Freiheit und Gleichheit sind weder durch die Herstellung noch durch die Abschaffung des Erbrechts erreichbar, die Frage kann nur sein, wo das Optimum liegt. Ähnlich liegt es mit Fragen wie denen nach dem Eigentum an Produktionsmitteln oder der progressiven Besteuerung oder der unentgeltlichen Inanspruchnahme von Bildungsinstitutionen oder Rechtsanwälten oder was sonst die politischen Kontroversen in der Demokratie ausmacht. Jedenfalls kann die Tatsache, daß es ungleiche Freiheit gibt, nicht schon für sich ohne weiteres ein Argument für ihre Überwindung sein, sondern nur dann, wenn es Alternativen gibt, die nicht andere und schlimmere Ungleichheiten und Unfreiheiten schaffen. Und die Tatsache, daß Freiheit und Gleichheit im demokratischen Verfassungsstaat nie endgültig erreichbar sind, daß es vielmehr immer nur um optimale Annäherung geht, kann kein Argument gegen den demokratischen Verfassungsstaat sein, weil jede denkbare Alternative dazu verurteilt ist, Freiheit und Gleichheit vollständig aufzuheben.

V. Aktuelle Beispiele für Privilegien und Diskriminierungen Privilegien und Diskriminierungen sind Verletzungen des Rechtsgrundsatzes, daß jeder gleichen Anspruch auf Freiheit hat. Sie sind Begünstigungen und Benachteiligungen ohne sachlich rechtfertigenden Grund, d. h. sie sind nicht durch eine Maxime bestimmt, die sich am Zusammenbestehen der gleichen Freiheit aller orientiert. Sie liegen immer vor, wenn ein staatliches Tun oder Unterlassen überhaupt nicht durch eine allgemeine Maxime zu rechtfertigen ist, also jedenfalls immer dann, wenn es allgemeine Gesetze von Fall zu Fall willkürlich verletzt. Es gibt in der Bundesrepublik Tendenzen zu privilegierenden und diskriminierenden Gesetzesverletzungen, die mit Gründen der Klugheit oder der sozialen Gerechtigkeit gerechtfertigt werden — jedoch zu Unrecht.

1. Duldung von Widerstand So gibt es Tendenzen, Widerstand gegen die rechtmäßig ausgeübte Staatsgewalt zu tolerieren, sei es, weil die verantwortlichen Amtsinhaber mit den politischen Motiven des Widerstands sympathisieren, sei es, weil sie einem von einflußreichen Medien oder Parteiorganisationen ausgeübten Druck nachgeben, sei es einfach, weil die Widerstandleistenden der jüngeren Generation angehören. Die Anordnung etwa eines Innenministers oder eines Polizeipräsidenten, daß die nachgeordneten Beamten Widerstand zu dulden hätten, stellt nicht nur die Grundlage aller Freiheit und Gleichheit, das staatliche Gewaltmonopol, in Frage. Sie bedeutet auch eine Privilegierung der Begünstigten und eine Diskriminierung sowohl der Bürger, deren Rechte ungeschützt bleiben, als auch der Beamten. Die Zumutung, unrechtmäßige Gewalt

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

153

erdulden zu sollen, setzt die Beamten dem Risiko zum Teil schwerster Körperverletzungen aus, ohne daß es dafür einen sachlich rechtfertigenden Grund gäbe. Das gleiche gilt, wenn die Duldung des Widerstandes zwar nicht ausdrücklich angeordnet ist, wenn aber die Ausstattung der Polizei so unzureichend ist, daß sich der Widerstand zu behaupten vermag. Das Gewaltmonopol kehrt sich dann um in das Monopol der Polizeibeamten, Gewalt schutzlos erdulden zu müssen. Diese Zumutung wird häufig mit dem Zweck gerechtfertigt, Eskalationen der Gewalt und Solidarisierungen weiterer Bevölkerungskreise mit den Widerstandleistenden zu vermeiden. In der Tat mag im Einzelfall ein befriedender Effekt erzielt werden. Diese Tatsache vermag jedoch weder die Diskriminierung noch die Infragestellung des Gewaltmonopols zu rechtfertigen. Das Argument berücksichtigt auch nicht die aufs Ganze gesehene verhängnisvollen Fernwirkungen. Die Unterscheidung von rechtmäßiger Staatsgewalt und unrechtmäßigem Widerstand wird im öffentlichen Bewußtsein eingeebnet. Ferner werden die Autorität der Staatsorgane, die Geltung der Gesetze, ja die Legitimität der verfassungsmäßigen Ordnung beeinträchtigt. Der Zusammenhang von Schutz und Gehorsam ist aber unaufhebbar. Wie kann sich der Bürger durch eine Polizei geschützt fühlen, die sich nicht einmal selbst gegen Tätlichkeiten zu schützen vermag? Überdies wird ein Anreiz zu neuen und vielleicht intensiveren Widerstandshandlungen geschaffen, denen dann nur mit entsprechend intensiverem Einsatz von staatlichen Gewaltmitteln begegnet werden kann. Das Ausweichen vor dem Einsatz staatlicher Gewaltmittel im Einzelfall kann auf längere Sicht die Summe und Intensität der Gewalt erheblich vermehren. Sollte dann auch intensivierter Widerstand wiederum aus gleichen Motiven geduldet werden, so könnte dies im Extremfall einen Flächenbrand entzünden, in dem das Gewaltmonopol des demokratischen Verfassungsstaats — die „größte Zivilisationsleistung der Neuzeit" (Norbert Elias) — endgültig verloren ginge. Zwangsläufige Folge wäre der Untergang von Freiheit und Gleichheit in Bürgerkriegen, die schließlich in neue Despotie umschlagen. Wenn die Entwicklung weniger dramatisch verläuft, dann, weil die Duldung des Widerstandes nicht allgemein üblich geworden ist. Im großen und ganzen überwiegt die Zahl der pflicht- und verantwortungsbewußten Politiker und Beamten. Opportunistisches Verhalten lebt von der Ausnutzung des Ethos der anderen. Es verschafft sich auch darin ein Privileg. 2. Verzicht auf Gesetzesvollzug Häufig setzen sich die zum Gesetzesvollzug berufenen Staatsorgane dem Risiko eines Widerstandes von vornherein nicht aus, sondern unterlassen das pflichtmäßige Einschreiten gegen Unrecht. Auch damit schaffen sie Diskriminierungen und Privilegien. Der Verzicht auf Gesetzesvollzug bedeutet eine Diskriminierung der gewalterleidenden Personen oder Personengruppen (z. B. Kraftwerkbetreiber, Hausbesitzer, Hochschulangehörige) sowie eine ebensowenig gerechtfertigte Privilegierung (z. B. von Jugendlichen oder von Personen mit bestimmten, etwa auf Umweltschutz oder Sozialismus ausgerichteten Engagements). Die Gesetze, die private Gewalt verbieten,

154

2. Kapitel. Grundrechte

schützen aber alle Bürger gleich und sind gegenüber allen mündigen Bürgern gleich durchzusetzen, unabhängig von Alter, Beruf, Besitz oder politischer Ausrichtung. Auch diese Diskriminierungen und Privilegien stellen zugleich das staatliche Gewaltmonopol infrage. Den Staatsbürgern, die Unrecht erleiden, wird der Schutz der Staatsgewalt verweigert. Ein Staat aber, der seine Bürger gegen Unrecht nicht schützt, lädt zu Gesetzesbrüchen ein und bringt sich um seine Autorität 5 6 2 . A m Ende eines solchen Prozesses verliert er den Anspruch auf Anerkennung und Gesetzesgehorsam. Veranlaßt er die Bürger, ihren Selbstschutz zu organisieren, so kann er eine Eskalation von illegaler Gewalt auslösen. Zur Rechtfertigung der Diskriminierungen und Privilegien wird häufig das polizeiliche Opportunitätsprinzip herangezogen, das ein Einschreiten und die Auswahl der Mittel in das pflichtmäßige Ermessen der Behörden stellt 5 7 . Das Opportunitätsprinzip ist verfassungsmäßig nicht zu beanstanden und seine Beibehaltung rechtspolitisch notwendig, weil es den Behörden erlaubt, ihre Maßnahme nach Vordringlichkeit und Tunlichkeit abzustufen und den bestgeeigneten Zeitpunkt zum Einschreiten zu wählen. Wenn jedoch in die Ermessenserwägungen das öffentliche Interesse an der Durchsetzung der Rechtsordnung nicht seinem Gewicht gemäß berücksichtigt wird, so ist das ein Mißbrauch des Ermessensspielraums 5 8 . Das Gleichbehandlungsgebot ist z. B. verletzt, wenn Rechtsbrecher deshalb privilegiert werden, weil ihre politische Ausrichtung die Sympathie der Behörden findet. Art. 3 III verbietet ausdrücklich, jemand wegen seiner politischen Anschauungen zu bevorzugen. Auch die Rücksicht auf das jugendliche Alter der Rechtsbrecher verletzt Art. 3. Das Polizei- und Ordnungsrecht dient dem Schutz gegen objektives Unrecht, ganz unabhängig von Schuld und Schuldfähigkeit des Rechtsbrechers und von der strafrechtlichen Privilegierung Heranwachsender. Zwar enthält Art. 3 III nicht ausdrücklich den Satz: Kein Erwachsener darf wegen seines Alters bevorzugt oder benachteiligt werden. Dem Grundgesetzgeber lag noch nicht die Erfahrung vor, die dazu hätte Anlaß geben können. Aber Art. 3 III konkretisiert und veranschaulicht nur an einigen historisch besonders brisant gewesenen Beispielsfällen das Willkürverbot, das schon nach Art. 3 I — Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich — gilt 5 9 . Der Minderjährigkeit oder Strafunmündigkeit ist zivil- und strafrechtlich angemessen Rechnung zu

56a

57

58

Als z . B . der Berliner Senat illegale Hausbesetzungen zu dulden beschloß, stieg deren Zahl in wenigen Wochen von 28 auf 170. Mit Hinweis auf diese Duldung rechtfertigten andere Bürger andere Gesetzesverletzungen. Hierzu K . VOGEL Gefahrenabwehr, Bd. 1, 8. Aufl., 1975, § 6. Die traditionelle Lehre von den Ermessensfehlern konnte sich weitgehend auf Fälle konzentrieren, in denen individuellen Interessen zu wenig Gewicht gegenüber den öffentlichen Interessen beigemessen wurden. Es ist ein neueres Problem, daß die Staatsor-

gane das öffentliche Interesse nicht hinreichend zur Geltung bringen und durchsetzen. Der einzelne Bürger ist dann nicht in seinen Rechten betroffen und deshalb nicht klagebefugt. Die dadurch entstehende Rechtsschutzlücke ist nur hinzunehmen, solange man im großen und ganzen auf das Amtsethos der Repräsentation vertrauen kann. Zu diesem Problemkreis am Beispiel des vernachlässigten Umweltschutzes siehe A. RANDELZHOFER und D . WILKE Die Duldung als Form flexiblen Verwaltungshandelns, 1981. 59

B V e r f G E 23, 107.

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

155

tragen. Aber es ist rechtswidrig, wenn Bürger gegen rechtswidrige Handlungen Minderjähriger und Strafunmündiger auch öffentlich-rechtlich schutzlos gestellt werden, um so mehr gegenüber jungen Erwachsenen über 21 Jahre. Ein zusätzlicher Ermessensmißbrauch läge vor, wenn sich Beamte von dem Gesichtspunkt motivieren ließen, daß Diskriminierungen und Privilegierungen ihnen Beifall in Medien und Parteiorganisationen einbrächten und lästige Auseinandersetzungen ersparten. Derartige Motivationen werden sich zwar im konkreten Fall nur schwer beweisen lassen. Um so dringender aber gebietet das Amtsethos der Unparteilichkeit, den Eindruck zu vermeiden, den Verletzten werde die Verweigerung des Schutzes durch die Staatsgewalt unter Berechnung dieser Beweisschwierigkeit zugemutet und das Opportunitätsprinzip habe einem Opportunismusprinzip Platz gemacht. Auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip wird häufig zur Rechtfertigung der Duldung von Rechtsbrüchen mißbraucht. Dieses Prinzip bestimmt aber lediglich die Obergrenze für das Maß des Einschreitens: die Behörde darf nicht über das hinausgehen, was nötig, geeignet, erforderlich und im Verhältnis zum Zweck angemessen ist. Aber es rechtfertigt keineswegs, hinter dem Nötigen zurückzubleiben 60 . Vielmehr haben die Behörden ihre gesetzliche Pflicht mit ausreichenden Mitteln zu erfüllen. Es ist deshalb auch die Pflicht der zuständigen Verfassungsorgane, die Vollzugsbehörden mit ausreichenden Mitteln auszustatten. Es bleibt hinzuzufügen, daß Gerichte, die derartige Diskriminierungen und Privilegierungen billigen oder gar eine Verpflichtung der Behörden dazu aussprechen, Art. 3 verletzen. Auch Staatsanwaltschaften haben in Fällen, in denen eine öffentliche Klage vom Vorliegen eines öffentlichen Interesses abhängig ist, bei der Auslegung des Begriffs des öffentlichen Interesses alle auf dem Spiel stehenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Wenn sie sich hingegen von diskriminierenden oder privilegierenden Rücksichten leiten lassen, so verletzen sie das Prinzip gleicher Freiheit eines jeden. 3. Rollenorientierte Rechtsprechung In der jüngeren, von der Jugendbewegung von 1968 beeinflußten Richtergeneration zeigt sich gelegentlich eine Neigung, der sozialen Gerechtigkeit gegen das Gesetz unmittelbar zum Siege zu verhelfen. Die Entscheidung eines Rechtsfalles hängt dann nicht von allgemein geltenden Regeln, sondern von der sozialen Rolle von Kläger und Beklagtem ab. Den Prozeß gewinnt im Zweifel der sozial Schwächere, Abhängige, Unterlegene: Der Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber, der Mieter gegen den Vermieter, der Verbraucher gegen den Produzenten, der Kreditnehmer gegen die Sparkasse, der Versicherte gegen die Versicherungsanstalt, der Jugendliche gegen die

60

Man hat im Gegenteil innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung stärker darauf zu achten, ob ein gewähltes Mittel zur Herbeiführung des Erfolges auch ausreichend und nicht etwa zu schwach gewählt worden ist (statt

diese Stufe der Prüfung zu überspringen und nur auf eine ganz verschwommen gefaßte „Angemessenheit" abzustellen); das setzt freilich voraus, daß überhaupt ein Mittel gewählt, daß also gehandelt worden ist.

2. Kapitel. Grundrechte

156

Eltern, der Auszubildende gegen den Meister, der Schüler gegen die Schulbehörde, der Asylant gegen die Ausländerbehörde, der Demonstrant gegen den Polizeipräsidenten, der Beamtenbewerber gegen die Einstellungsbehörde usw. 6 1 . Diese Tendenz wird mit dem Grundsatz gerechtfertigt, daß jeder gleichen Anspruch auf Freiheit hat. Es heißt, gesellschaftliche Diskriminierungen müßten durch juristische Privilegierung, gesellschaftliche Privilegien durch juristische Diskriminierung kompensiert werden. Privilegierung und Diskriminierung seien gerechtfertigt, wenn sie die gesellschaftliche Gleichheit förderten. Die durch die sozialen Rollen bedingte Ungleichheiten müßten ausgeglichen, der konkreten Gerechtigkeit gegen die abstrakte Gesetzesgeltung zum Siege verholfen, der Sozialstaat gegen den bloß formalen Rechtsstaat durchgesetzt werden. Der Gesetzgeber hat zwar im Laufe des 20. Jhs. das Recht unter dem Gesichtspunkt der Sozialstaatlichkeit in vieler Hinsicht ergänzt und wesentlich umgestaltet. D e r neueren „Rollenrechtsprechung" ist diese durch Verfassung und Gesetz begründete Sozialorientierung jedoch nicht genug; sie will die Umorientierung vielmehr beschleunigen und vorantreiben, in dem sie sich über die geltende Rechtsordnung hinwegsetzt. Eine solche umgestülpte Klassenjustiz kann ihr Ziel nur über eine von Fall zu Fall — je nach der sozialen Konstellation — anders vorzunehmende Abweichung von den geltenden Rechtsregeln erreichen. Sie ersetzt die allgemeinen Gesetze durch eine Grundregel, wonach der sozial Schwächere im Zweifel den Prozeß gewinnt. Eine solche Grundregel kann man nur unter einer Bedingung wollen: wenn man nämlich eine grundstürzende Umgestaltung der Rechtsordnung und der durch sie bedingten sozialen Rollengestaltung durch die Rechtsprechung will. Dann weicht z. B. das ausbalancierte System des Arbeitsrechts neuen Rechtsverhältnissen, in denen der Arbeitgeber nicht mehr die in allgemeinen Regeln festgelegten Rechte hat. Im Schuldrecht verlieren Vermieter, Produzent, Kreditgeber u. a. die ihnen gesetzlich zugewiesenen Rechte. Im Familienrecht werden das Mündigkeitsalter von Fall zu Fall bestimmt und Erziehungsrechte der Eltern auf staatliche Organe übertragen. Im Polizeirecht geht das Gewaltmonopol des Staates verloren usw. Derartige Konsequenzen schlagen gegenwärtig noch nicht voll durch, einmal, weil die rollenorientierte Rechtsprechung im großen und ganzen noch die Ausnahme bildet, zum andern, weil sie sich überwiegend noch auf erstinstanzliche Gerichte beschränkt und durch eine regelorientierte Rechtsprechung der Obergerichte korrigiert wird. U m aber die möglichen Konsequenzen des Ubergangs von der regelorientierten zur rollenorientierten Rechtsprechung zu überschauen, lohnt es sich, in einem Gedankenexperiment zu Ende zu denken, was geschieht, wenn diese Korrektive zunehmend entfallen. 61

Es gibt sogar Anzeichen dafür, daß eine derartige, nicht am allgemein geltenden Recht, sondern an der sozialen Rolle orientierte Rechtsprechung gelegentlich durch Personalpolitik bei der Einstellung des Richternachwuchses gefördert wird, insbesondere im Be-

reich der Arbeitsgerichtsbarkeit. Maßgebend für die Auswahl des Bewerbers um das Richteramt ist dann dessen politische und soziale Ausrichtung und nicht die durch Staatsexamina und universitäre Leistungen ausgewiesene fachlich-juristische Qualifikation.

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

157

Die rollenorientierte Rechtsprechung könnte dann einen Minderheitswillen gegen den Willen der demokratischen Mehrheit durchsetzen. Der demokratische Gesetzgeber wäre dagegen ohnmächtig, will er die richterliche Unabhängigkeit nicht antasten. Gem. Art. 97 I ist der Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen; Unabhängigkeit und Gesetzesunterworfenheit gehören zusammen, beide entsprechen und ergänzen einander 62 . Wenn sich der Richter nicht dem Gesetz unterworfen fühlte, so mißachtete er die ihn betreffende grundlegende Bestimmung der Verfassung. Stattdessen verstünde er sich als unabhängig von Gesetz und Verfassung und mißbrauchte seine Unabhängigkeit zur Durchsetzung politischer Ziele. Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung verlagerte sich vom demokratisch gewählten Gesetzgeber auf die Gerichte. Diese wären keine Rechenschaft schuldig; sie sind nicht abwählbar und unterliegen keiner demokratischen Kontrolle. Der demokratische Gesetzgeber wäre entmachtet. Die wesentlichen rechtspolitischen Entscheidungen fielen nicht mehr im Parlament, sondern in den Gerichten. Der politische Meinungskampf vollzöge sich weder in parlamentarischen Gremien, noch in Wahlkämpfen und öffentlicher Diskussion, sondern in der Auswahl und Beeinflussung der Richter. Die Richter müßten Entscheidungen treffen, deren Komplexität sie gar nicht übersehen könnten. Ihre Rechtsprechung könnte verhängnisvolle Fern Wirkungen auslösen, für die die Verantwortung zu tragen der Richter weder berufen noch in der Lage ist. Wenn „progressiv" gesinnte Richter sich über die Gesetze hinwegsetzen dürften, dann könnten dies auch konservative Richter tun. Nicht nur die Demokratie wäre ausgehöhlt, auch dem sozialen Fortschritt wäre der Boden entzogen. Denn dieser hat sich nur dank der Verbindlichkeit demokratischer Gesetze vollziehen können. Eine „soziale Progressivität", die diese Verbindlichkeit infrage stellte, würde die Grundlage ihrer politischen Wirksamkeit zertrümmern (vgl. oben S. 145ff). Nicht nur Demokratie und Sozialstaat wären infrage gestellt, sondern auch die Rechtssicherheit. Es gäbe kein verbindlich feststehendes Recht; weder der Bürger noch die Verwaltung wüßten, an welchen Regeln sie sich zu orientieren hätten. Gerichtliche Entscheidungen wären nur insoweit vorhersehbar, als die Kenntnis der zufälligen personellen Besetzung des zuständigen Gerichts Rückschlüsse erlaubt. Maßgebenden Einfluß hätte die publizistische Elite, die über die Medien verfügt. Sie könnte gefällige Richter loben, mißliebige Richter anprangern. Nicht nur politische

62

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die vom VERF. an anderer Stelle ausführlich begründete „Folgenverantwortung" des Richters (Theorie der Rechtsgewinnung, Fn. 47, § § 4 5 ff) mitunter in der Weise mißverstanden worden ist, dem Richter werde damit einfach die Wahl der von ihm gewünschten und von ihm zu verantwortenden Folgen seiner Rechtsprechung freigestellt. Die Folgenverantwortung darf als Steuerung nur in dem Bereich dienen, wo

Dezisionen des Gesetzgebers fehlen; dort ist sie in der Tat unentbehrlich, muß sich aber auch dort an den Folgen der präjudiziellen Geltung der Entscheidung und also an einer als allgemeine Regel gedachten ratio decidendi orientieren. Siehe hierzu die Erwiderung des Verfassers auf K. LARENZ in: Recht und praktische Vernunft, S. 141 f, Note 38. Siehe neuerdings auch G . LÜBBE-WOLFF: Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981.

2. Kapitel. Grundrechte

158

Gesinnung, sondern auch menschliche Schwäche und Manipulierbarkeit der Richter könnten über den Ausgang von Rechtsstreitigkeiten entscheiden.

VI. Die „sozialistische" Alternative 1. Freiheit und Gleichheit durch „Absterben des Staates"? Die heute wirkungsmächtigste Herausforderung der Legitimierungswirkung des Rechtsprinzips von Freiheit und Gleichheit für die Verfassungsordnung besteht in der Idee, daß der Staat absterben oder abgeschafft werden könne, und daß erst dann Freiheit und Gleichheit hergestellt wären. Freiheit und Gleichheit seien auf die Verfassungsordnung nicht angewiesen, ja diese stehe der vollen Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit im Wege. Denn, so lautet das Argument, diese Verfassungsordnung konstituiere einen Staat, der Macht ausübe. Macht aber beschränke die Freiheit und schaffe Ungleichheit zwischen Machthabern und den der Macht Unterworfenen. Dieses Argument wäre freilich nur dann gültig, wenn der Staat abgeschafft werden oder absterben könnte und die Menschen alsdann friedlich, frei und gleich miteinander leben würden. Das Argument läuft also auf die Alternative hinaus: Staat oder Nicht-Staat. Wenn es den Staat nicht mehr gibt, gibt es allerdings die Ungleichheit zwischen Inhabern von Staatsämtern und den übrigen Bürgern nicht mehr. Ein solcher Zustand verwirklicht allerdings Freiheit und Gleichheit nicht schon aus sich heraus. Er täte es nur dann, wenn auch ohne Staatsgewalt sichergestellt wäre, daß nicht im gesellschaftlichen Raum Unfreiheit und Ungleichheit entstünden. Das hätte zur Voraussetzung, daß jeder sein Handeln an moralischen Normen orientieren könnte, die seine Freiheit mit Rücksicht auf die gleiche Freiheit jedes anderen begrenzen. Die marxistische Theorie nimmt an, daß sich die Menschen nur unter marktwirtschaftlichen Verhältnissen egoistisch verhielten, während sozialistische Produktionsverhältnisse einen „neuen Menschen" erzeugten. Jeder wäre dann guten Willens, die Rechte jedes anderen zu achten. Deshalb werde der Staat nach dem globalen Sieg des Sozialismus absterben. Diese Theorie beruht auf zwei Prämissen.

a) Entbehrlichkeit von Entscheidungen

und

Zwangsgewalt?

Die erste Prämisse lautet: Was Recht und Unrecht ist, verstehe sich von selbst; wenn wir alle guten Willens wären, die Rechte jedes anderen zu achten, wüßten wir auch, wie wir uns zu verhalten hätten. Es bedürfte weder gesetzgeberischer noch behördlicher und richterlicher Entscheidungen noch einer staatlichen Zwangsgewalt zur Durchsetzung von Entscheidungen. Die Frage ist indessen, ob allseitiger guter Wille, seine Möglichkeit in einer sozialistischen Welt einmal unterstellt, den Staat schon entbehrlich machen würde. Man muß auch wissen, was rechtens ist. Welche allgemeinen Regeln aber gerecht wären, das ist auch unter Menschen guten Willens umstritten, im Grundsätzlichen und im Einzelnen. Die Frage ist zwar

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

159

sachlich diskutierbar, ohne indessen in absehbarer Zeit zu einem allgemeinen Konsens führen zu können. Also bedarf es der verbindlichen Entscheidung darüber, welche Regeln gelten sollen. Deshalb bedürften wir des Gesetzgebers auch, wenn wir alle guten Willens wären. Auch konkrete Rechtsstreitigkeiten entstehen meistens nicht daraus, daß sich jemand weigert, zu tun, was das Recht offenkundig von ihm fordert, sondern entweder daraus, daß die Rechtslage umstritten ist oder daraus, daß beide Parteien verschiedene Versionen des Sachverhalts haben. Soll dieser Streit nicht mit Gewalt ausgetragen werden, dann muß ein unparteilicher Richter das Recht auslegen und Beweis erheben. Auch behördliche Verwaltungsakte sind unentbehrlich, weil selbst allseits guter Wille nicht über Zweifel und Meinungsverschiedenheiten sowohl über die Rechtslage als über die Sachverhaltseinschätzung hinweghilft. Und schließlich bedürften wir der staatlichen Zwangsgewalt in Gestalt von Polizei, Gerichtsvollzieher, Strafvollzug usw. auch dann, wenn wir alle guten Willens wären, den Gesetzen, Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen zu folgen. Der staatliche Zwangsapparat muß bereit stehen, auch dann, wenn er nicht eingesetzt zu werden braucht. Denn wir können vom Bürger nur erwarten, daß er das Recht respektiert, wenn wir ihm garantieren können, daß auch die Achtung seiner Rechte sichergestellt ist. b) Überwindung

antagonistischer

Konflikte?

Die zweite Prämisse der marxistischen Theorie vom Absterben des Staates liegt in der Annahme, antagonistische Konflikte entstünden aus dem Klassenkampf um den Besitz materieller Güter. Mit der Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln seien sie überwunden. Indessen entstehen sie auch aus zahlreichen anderen Motiven: aus Gruppenrivalitäten aller Art, die ihre Wurzel auch in verschiedenen politischen und sozialen Ideen, Religionen und Moralvorstellungen haben, aber auch einfach aus Eifersucht, Ehrgeiz, Haß, Mißverständnis, Rivalität und Machtstreben. Daran ändern sozialistische Produktionsverhältnisse überhaupt nichts. Aber auch soweit die Konflikte aus dem Kampf um materielle Güter entstehen, wäre dieser Kampf nur zu befrieden, wenn diese Güter im Uberfluß bereitstünden. Daß Überfluß herstellbar wäre, diese marxistische Prämisse hat sich als einstweilen illusorisch erwiesen. Aber selbst ferner, wenn es Uberfluß gäbe, so könnte dieser doch nur für Gattungswaren („ein Auto") in Betracht kommen, nicht aber für nur einmal vorhandene Güter (das Grundstück in dieser Lage, dieses Kunstwerk usw.). Konflikte, die gegebenenfalls nur mittels der Staatsgewalt befriedet werden können, wird es deshalb auch unter sozialistischen Produktionsbedingungen immer geben 6 3 . Darüber hinaus würde selbst die Uberwindung antagonistischer Konflikte, ihre Möglichkeit einmal theoretisch unterstellt, nur dann zu Freiheit und Gleichheit

63

Befreiung und politische Aufklärung (Fn. 1) §26.

2. Kapitel. Grundrechte

160

führen, wenn es nur Einzelindividuen und keine Organisationen gäbe, die untereinander und im Verhältnis zu den einzelnen Ungleichheit und Unfreiheit begründen könnten. Die marxistische Annahme lautet: unter sozialistischen Produktionsbedingungen werde es nur noch Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen, nicht mehr aber die Herrschaft von Menschen über Menschen geben 6 4 . Indessen gehören zu den Sachen, die verwaltet werden müssen, die Organisationen, die in der wissenschaftlich-technischen Industriewelt unvermeidlich sind. Unter sozialistischen Produktionsverhältnissen werden alle Organisationen zu Untergliederungen einer einzigen Großorganisation des Staates. Die Menschen schrumpfen zu Bestandteilen dieser Großorganisation, in deren Funktionsmechanismus sie sich reibungslos einzufügen haben. Insofern sind sie zwar untereinander gleich, doch sind sie ungleich im Verhältnis zu denjenigen, die die Großorganisationen leiten und verwalten. N u r wenn der Staat nicht selbst eine funktionale Großorganisation ist, sondern eine an den Rechtsprinzipien von Freiheit und Gleichheit orientierte, gewaltenteilende rechtliche Organisation, gibt es eine Pluralität von ihm untergeordneten Organisationen, die freien Eintritt und Austritt ermöglichen und die in sich so strukturiert sind, daß sich die auf Freiheit und Gleichheit beruhenden Rechtsprinzipien gegenüber den Funktionsbedingungen der Organisation zu behaupten vermögen. Die sozialistische Wirtschaftsform hingegen kann deshalb niemals zu einer Aufhebung der Staatsmacht führen, sondern im Gegenteil nur zu ihrer Konzentration und äußersten Steigerung 6 5 . 2. Der Umschlag in den Absolutismus Aber selbst wenn es denkbar wäre, Freiheit und Gleichheit absolut, d. h. ohne Staatsgewalt herzustellen, so müßte doch sichergestellt werden, daß die natürlichen Ungleichheiten des Menschen nicht alsbald zu erneuten gesellschaftlichen Ungleichheiten und Abhängigkeiten führen. Das Versprechen der Herrschaftsfreiheit ist deshalb an die Voraussetzung gebunden, daß der Mensch so verändert werde, daß die natürlichen Ungleichheiten möglichst vermindert und irrelevant gemacht werden. Es muß ein „neuer Mensch" entstehen 66 . Dazu genügt freilich die sozialistische Wirtschaftsform nicht, vielmehr bedarf es der geistigen Umerziehung des Menschen mit

64

Vgl. F . ENGELS Zur Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in MARX/ENGELS Werke, B d . 19, 1978, S. 124. Zwar ist die klassische Formel vom „Absterben des Staates" aus der sozialistischen Verfassungstheorie immer mehr verschwunden (so wird sie z. B . im offiziösen D D R - K o m mentar von 1969 nicht einmal erwähnt); es handelt sich aber hierbei um eine eher vordergründige, taktisch motivierte Anpassung der Begrifflichkeit an die Realität immer stär-

65

66

ker anwachsender Staatsmacht. Im Kern ist die marxistische Lehre nach wie vor nur als eine Lehre vom künftigen Absterben des Staates zu verstehen. Warum das so sein muß, versucht VERF. ZU erklären in: Befreiung und politische Aufklärung (Fn. 1) § 35. Zum „sozialistischen Menschen" vgl. den offiziösen Kommentar zur Verfassung der D D R , Autorenkollektiv ARLT u . a . , 1969, Bd. 1 Art. 19 Erl. 6.

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

161

dem Ziel der Identität gesellschaftlicher und individueller Interessen 6 7 . Das setzt totale Herrschaft voraus, die Freiheit und Gleichheit aufhebt. „Freiheit" wird dann umgedeutet in Einsicht in die Notwendigkeit dieser Totalherrschaft, und „Gleichheit" bedeutet dann vor allem: Beseitigung der Verschiedenheiten der geistigen und moralischen Orientierung. Diese Beseitigung wird möglich durch Reduktion des Menschen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, der nur in den physischen Grundbedürfnissen des Menschen gefunden werden kann. Deshalb gehört zur „vollen Emanzipation" des Menschen im marxistischen Sinn die restlose Ausrottung aller Religion und aller idealistischen Philosophie und Moral. Diese müssen schon deshalb abgeschafft werden, weil sie eine Wurzel von Verschiedenheiten in der geistigen und moralischen Orientierung bilden und weil diese Verschiedenheiten zu antagonistischen Konflikten führen können. Diese Verschiedenheiten können freilich nicht in einem vorübergehenden revolutionären Prozeß endgültig beseitigt werden. Denn um sie zu beseitigen, muß man die Natur des Menschen vergewaltigen. Deshalb muß ihr Aufleben in jeder Generation von neuem durch dauerhafte Totalherrschaft niedergehalten werden. Es wird also in marxistisch orientierten Staaten immer diejenigen geben müssen, die die Totalherrschaft ausüben, und diejenigen, die ihr unterworfen sind. Insofern kann dort niemals Freiheit oder Gleichheit hergestellt werden. Es gibt nur den ideologischen Schein, daß um der Herbeiführung von Freiheit und Gleichheit willen Totalherrschaft ausgeübt werden müsse. Deshalb bildet das absolutistische Modell — oder im Sprachgebrauch Kants: der Despotismus — das Grundprinzip des Staatsaufbaus in den marxistisch orientierten Staaten — wirkungsmächtig und mit missionarischem Expansionsdrang. Alle staatliche und gesellschaftliche Tätigkeit steht unter der Führung und Leitung der kommunistischen Partei, und das heißt, unter Führung und Leitung der obersten Gremien dieser Partei. Zwar unterscheiden auch die Verfassungen der marxistisch orientierten Staaten gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt, aber es handelt sich nicht um Gewaltenteilung, sondern um organisatorische Untergliederung eines der zentralen Führung unterworfenen Staatsapparates 6 8 , wie es sie selbstverständlich auch in den absolutistischen Fürstentümern gab. Gewiß gibt es wesentliche Unterschiede zur absolutistischen Monarchie: Die absolutistische Herrschaft gründete sich damals auf dynastische Legitimität oder auf Gottesgnadentum, heute auf den Theoriefanatismus der Partei. Die Macht lag damals beim Fürsten, heute bei einem Führungsgremium, in dem Abberufung und Ersetzung des Vorsitzenden möglich ist. Sie kannte damals die Gewissensbindung an eine

67

Vgl. Art. 2 IV Verfassung der D D R : „ Ü b e r einstimmung der politischen, materiellen und kulturellen Interessen der Werktätigen und ihrer Kollektive mit den gesellschaftlichen Erfordernissen ist die wichtigste Triebkraft der sozialistischen Gesellschaft". Hierzu und zum folgenden des näheren Befreiung und

68

politische Aufklärung (Fn. 1) § 5 und das 5. K a p . Die Verfassungstheorie der „sozialistischen" Staaten lehnt ausdrücklich jedwede Gewaltenteilung ab; vgl. etwa den offiziösen K o m mentar zur Verfassung der D D R (Fn. 66) Art. 5 Erl. 1; Bd. 2, Art. 48 Erl. 2.

162

2. Kapitel. Grundrechte

religiös geprägte Sittlichkeit, heute ist sie an funktionalen Zwecken orientiert. Zu den Stützen der Macht gehörten damals Landbesitz und die Treuebindung von Beamten und Heer, heute sind es Parteiapparat und Geheimpolizei. Der Staatsapparat respektierte damals meistens die Eigenständigkeit traditionaler Institutionen, heute ist er nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten organisiert. Damals begnügte er sich mit der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, heute nimmt er das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in den Griff. Damals kannte er noch die geistige Toleranz, mit der die absoluten Königtümer die politische Aufklärung in ihrem Schöße sich haben entwickeln lassen. Heute beherrscht er die modernen Methoden der totalen Beherrschung alles geistigen, moralischen und politischen Lebens. Aber alle diese Unterschiede, so gewichtig sie sind, verblassen doch vor der einen entscheidenden Gemeinsamkeit: Der Machthaber ist nicht in eine Rechtsordnung eingebunden, er steht nicht unter, sondern über dem Recht. Ist er aber nicht an Recht gebunden, so kann er auch an Menschenrechte nicht gebunden sein und es kann weder Freiheit noch Gleichheit geben. Freiheit und Gleichheit gelten lediglich als Fernziele der Herrschaftsausübung, deren Bedingung, das Absterben des Staates, durch die unumschränkte Herrschaftsausübung herbeigeführt werden soll: Sie begründen nicht Rechte des Bürgers, sondern dienen im Gegenteil dazu, seine Rechtlosigkeit gegenüber der Herrschaftsmacht zu rechtfertigen. Die Alternative zur gewaltenteilenden Macht des demokratischen Verfassungsstaates ist nun einmal das Recht des Stärkeren, des Schlauesten, des Zynischsten, des Geschicktesten und Schnellsten. Das Recht des Stärkeren zeigt sich im Extrem, wenn alle wirtschaftliche, politische und geistige Macht in der Hand einer Parteiführung konzentriert ist, die durch keine von ihr unabhängige Gesetz- oder Verfassunggebung verpflichtet werden kann. Die Selbstprivilegierung der Machthaber und die Diskriminierung der anderen ist dann bis ins Äußerste getrieben. An die Stelle des Rechtsprinzips tritt das Machtprinzip, an die Stelle der Unparteilichkeit die Parteilichkeit. Die Hoffnung auf die Herstellung von Freiheit und Gleichheit in einer staatsfreien Welt legitimiert die unentwegte Fortdauer unumschränkter Herrschaftsmacht in den marxistischen Staaten so, wie die an die Spitze der Deichsel eines Eselskarrens gebundene Mohrrübe den Esel zur Fortbewegung motiviert. Die Hoffnung ist so unerfüllbar, wie die Mohrrübe unerreichbar ist. Wenn die marxistische Theorie das Absterben des Staates in Aussicht stellt, so weckt sie eine trügerische Illusion, die keinem anderen Zweck dient, als die unumschränkte Machtausübung zu legitimieren. Indem das Grundgesetz Freiheit und Gleichheit aus der Würde des Menschen begründet, bedeutet Gleichheit nicht Einebnung der Verschiedenheiten, sondern Gleichberechtigung der Menschen unabhängig von ihren jeweiligen Verschiedenheiten, und bedeutet Freiheit in erster Linie geistige Freiheit und damit Offenheit für verschiedene geistige Orientierungen des Menschen. Man kann den Staat dann einem Gärtner vergleichen, der einen üppig blühenden, vielgestaltigen Garten soweit ordnet, wie erforderlich ist, damit sich alle Blumen ihrer Eigenart gemäß entfalten können und nicht die Stärkeren die Schwächeren erdrücken. Der marxistische Staat wäre vergleichbar einer Mähmaschine, die alle Blumen gleichermaßen bis auf ihre grünen Stengel abschneidet, so daß sie einem geschnittenen Rasen gleichen.

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

163

Staatsgewalt wird in beiden Fällen ausgeübt: Die Alternative ist also nicht etwa Staat oder Nicht-Staat, sondern absolute oder rechtlich beschränkte Staatsgewalt, m . a . W.: entweder absolute Beseitigung von Freiheit und Gleichheit durch die Herrschenden, oder aber zwar Inkaufnahme der relativen Ungleichheit zwischen Amtsinhabern und anderen, die aber ihren Stachel verliert durch gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 II GG), Bindung der Amtsausübung an das Gesetz (Art. 20 III), allgemeine und gleiche Wahl des Gesetzgebers (Art. 38 I) und die übrigen Prinzipien der Demokratie, und schließlich durch die Bindung aller Staatsgewalt einschließlich der Gesetzgebung an die Rechtsprinzipien von Freiheit und Gleichheit (Art. 1 III).

VII. Verfassungsverteidigung und Diskriminierungsverbot 1. Gleichberechtigung freiheitsfeindlicher Bestrebungen Starke Strömungen in der Bundesrepublik richten sich prinzipiell gegen die der Verfassungsverteidigung dienenden Institutionen, sei es, weil sie mit verfassungsgefährdenden Krisensituationen nicht rechnen und Vorsorge deshalb für entbehrlich halten, sei es, weil sie der Verfassungsordnung indifferent und relativistisch gegenüberstehen, sei es, weil sie prinzipiell für Wehrlosigkeit plädieren, sei es, weil sie die Duldung des Verfassungsumsturzes für ein Erfordernis des demokratischen Prinzips halten (so wie es schon Anschütz und Thoma in der Weimarer Zeit taten) 69 . Auf diese Gesichtspunkte ist an dieser Stelle nicht einzugehen 70 . Unter dem Aspekt von Freiheit und Gleichheit verdient jedoch ein gegen die Verfassungsverteidigung gerichteter Einwand die Erörterung: Das Verbot der Benachteiligung politischer Anschauungen (Art. 3 III GG) erstrecke sich auch auf Gruppierungen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen. Dem Einwand liegt ein prinzipielles Mißverständnis des Diskriminierungsverbots politischer Anschauungen zugrunde. Die klarste Antwort darauf findet sich in Art. 30 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. 12. 1948, wo es heißt: „Keine Bestimmung der vorliegenden Erklärung darf so ausgelegt werden, daß sich daraus für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht ergibt, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, welche auf die Vernichtung der in dieser Erklärung angeführten Rechte und Freiheit abzielen 7 1 ." Fast gleichlautende Bestimmungen finden sich auch in den beiden internationalen Pakten der Vereinten Nationen vom 19. 12. 1966 über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, jeweils in Art. 5 7 2 . G. ANSCHÜTZ Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8. 1919, 1933, Art. 76 Erl. 3, K. THOMA Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. II, S. 108, 154, 193. Dazu: Recht und praktische Vernunft (Fn. 4) § 30 .

70

71

72

Dazu: Befreiung und politische Aufklärung (Fn. 1) §§ 3 7 - 4 0 . Abgedruckt in: Die Menschenrechte zwisehen Ost und West (Fn. 24) S. 69. Ebenda S. 98, 119.

164

2. Kapitel. Grundrechte

Die Logik dieses Satzes ist: Wenn jeder gleiches Recht hat, so kann folglich niemand das Recht beanspruchen, andere dieses Rechts zu berauben. Wer einen solchen Anspruch für sich aus dem Gleichheitssatz ableitet, leugnet eben damit die Gültigkeit des Gleichheitssatzes, auf den er sich beruft. Sein Anspruch ist ein Widerspruch in sich selbst. Und umgekehrt: wer sich auf den Rechtssatz beruft, daß jeder gleiches Recht hat, spricht diesem Satz damit Verbindlichkeit zu. Er muß dann also folgerichtig auf den Anspruch verzichten, andere dieses Rechts berauben zu dürfen. Wer der simplen Logik dieses Gedankens nicht zu folgen vermag, ist mittels Rechtszwang in die Schranken seines Rechts zu verweisen. Zwar genießt er auch für Anschauungen, die absurd und dem Recht gegenüber verständnislos sind, Meinungsfreiheit. Er darf also der Meinung Ausdruck geben, daß er zu einer Elite gehöre, die berufen sei, alle anderen zu entmündigen und ihrer unumschränkten Herrschaft zu unterwerfen. Aber er muß dann gehindert werden, sein Verhalten nach dieser Meinung auszurichten. Der Grundsatz, daß niemand wegen seiner politischen Anschauung benachteiligt werden darf, steht also der Verfassungsverteidigung nicht im Wege, er fordert diese vielmehr geradezu kraft des ihm innewohnenden Geltungsanspruchs. Dieser Geltungsanspruch folgt unmittelbar aus dem Rechtssatz, daß jeder gleichen Anspruch auf Freiheit hat. Dieser Rechtssatz drückt das Rechtsprinzip schlechthin aus; er ist deshalb unumstößlich und einer mißbräuchlichen Ausnutzung zu seiner eigenen Relativierung nicht zugänglich. Er ist weder transitorischer noch funktionaler Natur; er dient nicht dazu, seine eigene Abschaffung zu ermöglichen. Freiheit und Gleichheit kann es nun einmal nur im Rahmen der Grundordnung des demokratischen Verfassungsstaates geben. Aus dieser Einsicht folgt, daß die Verteidigung dieser Verfassungsordnung Bedingung für die Bewahrung von Freiheit und Gleichheit ist. Es handelt sich also um mehr als um das jeder Staatsordnung immanente Prinzip der Selbsterhaltung. Wenn nämlich der gleiche Anspruch auf Freiheit ein naturrechtliches Prinzip ist, so ist der Kampf für die Verfassungsordnung der Freiheit und Gleichheit ein naturrechtliches Gebot. Denn die Alternative zum demokratischen Verfassungsstaat wäre ein am absolutistischen Modell orientiertes System, das Freiheit und Gleichheit vollständig beseitigt. So ist z. B. in den sogenannten sozialistischen Staaten die Selbstprivilegierung der Machthaber und die Diskriminierung der anderen ins Äußerste getrieben. Dort gibt es weder gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern unabhängig von der politischen Anschauung, noch eine Bindung der Machthaber an eine ihnen von außen vorgegebene Rechts- und Verfassungsordnung, noch eine Kontrolle der Machtausübung durch unabhängige Richter. Die Teilhabe an der Macht ist ein Privileg derer, die bereit sind, sich vorbehaltlos dem Prinzip der Parteilichkeit zu unterwerfen. Wer ein solches System ohne Freiheit und Gleichheit anstrebt, kann sich dafür nicht auf Freiheit und Gleichheit berufen. Den Schöpfern des Grundgesetzes standen in den Jahren 1948/49 sowohl die Erfahrung der Zerstörung der Weimarer Republik als auch die des kommunistischen Umsturzes in Polen, der Tschechoslowakei und anderen osteuropäischen Ländern sowie der sowjetische Expansionsdrang im Kampf um Berlin vor Augen. Sie versuch-

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

165

ten, in die Verfassung selbst Instrumente zu ihrer Verteidigung gegen ähnliche totalitäre Zerstörungstendenzen einzubauen: Die Grundsätze des Art. 1 und 20 — Menschenwürde, Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit — sind, ebenso wie der Föderalismus, der legalen Verfassungsänderung entzogen (Art. 79 III); Parteien, die darauf ausgehen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, sind verfassungswidrig (Art. 21 II); Vereinigungen, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten, sind verboten (Art. 9 II); die Grundrechte aus Art. 5, 8, 9, 10, 14 oder 16 II verwirkt, wer sie zum Kampf gegen die freiheitlichdemokratische Ordnung mißbraucht (Art. 18); zur Abwendung einer drohenden Gefahr für die freiheitlich-demokratische Ordnung kann die Verteidigung abweichend von der üblichen Kompetenzverteilung von Bund und Ländern erfolgen (Art. 91) 73 . Wenn die erforderlichen Anträge auf Parteiverbot nicht gestellt und verfassungsrechtliche Vereinsverbote nicht ausgesprochen werden, so liegen dem hauptsächlich Gründe polizeilicher Opportunität — insbesondere effektivere Beobachtung und Bekämpfung — zugrunde. Dieser Verzicht bedeutet solange keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz, als er nicht mit Diskriminierungen und Privilegierungen je nach der politischen Richtung, aus der der Angriff auf die Verfassungsordnung erfolgt, verbunden ist. Eine Bevorzugung von Angriffen aus einer Richtung — etwa mit Rücksicht auf politisch einflußreiche Fürsprecher im In- oder Ausland — wäre nicht von einem sachlich rechtfertigenden Grund getragen und daher eine Privilegierung. 2. Verfassungstreue der Beamten Besonderen Anstoß haben die Vorschriften erregt, daß sich der Beamte durch sein gesamtes Verhalten zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen und für deren Erhaltung eintreten muß, und daß Beamter nur werden darf, wer die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintritt (§§ 35 I 2, 4 I 2 BRRG und die entsprechenden Vorschriften in den Beamtengesetzen des Bundes und aller Länder) 74 . Diese Regelung gilt als Diskriminierung von nicht verfassungstreuen Beamten oder Bewerbern um eine Beamtenstelle 75 . Sie findet sich zwar nicht ausdrücklich im Grundgesetz. Daß ihr Rechtsgedanke aber in dieser oder ähnlicher Ausformung dem Grundgesetz immanent ist, ergibt sich schon daraus, daß der öffentliche Dienst als „öffentlich-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis" verstanden wird (Art. 33 IV) und daß der Grundgesetzgeber bei der sonst schrankenlos gewährten Lehrfreiheit den Vorbehalt angebracht hat: „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung" (Art. 5 III 2), wobei er offenbar voraussetzt, daß Inhaber öffentlicher Lehrämter zur Verfassungstreue verpflichtet sind. Rechtspolitische Erwägungen zur Änderung der Beamtenge73

Zur abwehrbereiten und wehrhaften Demokratie s. 3. K. STERN Staatsrecht I (Fn. 28) S.

che Spielraum einer Liberalisierung der Einstellungspraxis im öffentlichen Dienst, N J W 1 9 7 9 , S. l f f .

416. 74

Hierzu zusammenfassend: K. STERN (Fn. 28) S. 282 (m. w. N.), sowie KRIELE Der rechtli-

75

D a z u : G . DÜRIG ( F n . 16) A r t . 3 III R d n . 15.

166

2. Kapitel. Grundrechte

setze müssen diesen Verfassungsrahmen — also den Grundsatz der Verfassungstreue — beachten. „Gewähr der Verfassungstreue" bedeutet soviel wie „Zuverlässigkeit" im Hinblick auf die spezifischen Erfordernisse des Beamten: man muß sich darauf verlassen können, daß sich der Beamte auch in Krisenzeiten weder neutral verhält noch gar auf die Seite der Gegner des demokratischen Verfassungsstaates schlägt, daß er vielmehr die Verfassung verteidigt. „Zuverlässigkeit" ist zwar ein unbestimmter Rechtsbegriff, aber bestimmt genug, um rechtsstaatlichen Anforderungen zu genügen. Er findet sich auch in vielen anderen Verwaltungsgesetzen, etwa in § 57 I 1 Gewerbeordnung, §§ 8, 5 Waffengesetz, § 4 I 1 Gaststättengesetz, § 10 I 1 Güterkraftverkehrsgesetz, § 13 I 2 Personenbeförderungsgesetz u. a. Wer schon immer der Meinung war, der Begriff „Zuverlässigkeit" sei zu unbestimmt, um in Verwaltungsgesetzen vorkommen zu sollen, der vertritt zwar eine verfassungsrechtliche unrichtige und rechtspolitisch unpraktische Auffassung. Er handelt aber konsequent, wenn er dann auch gegen das Erfordernis einer „Gewähr der Verfassungstreue" des Beamten Bedenken erhebt. Wer jedoch das Erfordernis der Zuverlässigkeit ausgerechnet nur bei Beamten anstößig findet, und dies erst, seitdem das politisch opportun geworden ist, entwertet seine Meinung schon durch ihren Mangel an Folgerichtigkeit. Richtig ist, daß auf fehlende Gewähr der Verfassungstreue aus rechtsstaatlichen Gründen nur aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte geschlossen werden darf. Gelegentliche Meinungsäußerungen sollten unbeachtlich bleiben, weil sonst die in Art. 5 I gewährleistete geistige Freiheit im Kern getroffen, ein Klima der Unaufrichtigkeit erzeugt und künftigen Beamtenbewerbern die Möglichkeit genommen würde, verschiedene politische Standorte gemäß ihrer geistigen Entwicklung „durchzuprobieren" 7 6 . So wie der Vernunftfortschritt insgesamt seinem Wesen nach dialektisch ist, d . h . aus der Konfrontation von These und Antithese entsteht, so ist auch der geistige Reifungsprozeß des jungen Menschen dialektisch. Es gehört dazu, daß man Meinungen, denen man konfrontiert war und die aus irgendeinem Grund überzeugend erschienen, in Diskussionen selbst vertritt und sich sogar eine Zeitlang ernsthaft auf sie einläßt. So kann man erfahren, ob die vertretenen Argumente stichhaltig sind und ob sich die Gegenargumente nicht doch mit langfristiger Tiefenwirkung durchsetzen. Erst wenn sich die Meinung, man sei berufen, andere Menschen ihrer Rechte zu berauben, zu einer ständigen, festen und nach außen kundgegebenen Überzeugung verdichtet hat oder gar, wenn man sich mit anderen gleicher Uberzeugung zu politisch handelnden Organisationen zusammengeschlossen hat, sind tatsächliche Anhaltspunkte dafür gegeben, die Frage nach der Gewähr der Verfassungstreue zu verneinen. Selbstverständlich sind Beitritt und Mitgliedschaft in Organisationen, die darauf ausgehen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, unvereinbar mit der Annahme, der Betreffende biete die Gewähr dafür, jederzeit für die 76

Näher hierzu: KRIELE, Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst — ein unlösbares Pro-

blem? in: Legitimitätsprobleme der Bundesrepublik (Fn. 9) S. 1 4 6 f f , 148.

167

3. Abschnitt. Freiheit und Gleichheit (KRIELE)

freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten. Die Frage kann nur sein, ob die Einstellungsbehörden befugt sind, die Feststellung zu treffen, eine Organisation gehe darauf aus, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen. Dagegen wird eingewandt, daß nach Art. 21 II nur das Bundesverfassungsgericht die mit der Verbotsfolge verbundene Feststellung treffen kann, eine Partei sei verfassungswidrig, und daß bei den übrigen Vereinigungen das Verbot nur von der nach § 3 des Vereinsgesetzes zuständigen Verbotsbehörde ausgesprochen werden kann. Aus dem Verbotsmonopol des Bundesverfassungsgerichts bzw. der Verbotsbehörde folge, daß nur Mitgliedern „verbotener" 7 7 Vereinigungen die Zuverlässigkeit abgesprochen werden dürfe. Doch verbotene Parteien und Vereinigungen sind im Rechtssinne nicht mehr existent; man kann ihnen nicht beitreten und in ihnen nicht mehr Mitglied sein, sondern höchstens in Ersatzorganisationen, die aber nach diesem Einwand bis zu ihrem formellen Verbot ebenfalls nicht als verfassungswidrig sollen gelten dürfen. Der Einwand läuft also auf einen Sophismus hinaus, demzufolge die Mitgliedschaft in verfassungsbekämpfenden Organisationen niemals eine Rolle zum Nachteil des Bewerbers spielen könne. Bei der Einstellung des Bewerbers geht es aber nicht um das Verbot der Organisation, sondern um eine Meinungsbildung der Behörde über die individuelle Verläßlichkeit des Beamtenbewerbers. Bei dieser Meinungsbildung sind alle relevanten Faktoren zu berücksichtigen, und also auch die Frage, ob die Organisation, der er angehört, darauf ausgeht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu bekämpfen. Wenn die Einstellungsbehörde irgendwelche relevanten Faktoren unberücksichtigt ließe oder sich künstlich unwissend stellte, so könnte dies dazu führen, daß sie einen Bewerber einstellt, den sie nach dem Gesetz nicht einstellen darf. Damit würde sie ihre Amtspflicht verletzen. Selbstverständlich ist, daß sich eine Behörde, so wie sonst, so auch hier, an nachprüfbaren Tatsachen orientieren muß und ihren Beurteilungsspielraum nicht dazu mißbrauchen darf, die Gleichberechtigung aller Organisationen im Rahmen des Art. 3 und das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern nach Art. 33 Abs. 2 zu unterlaufen. Das Vorliegen der angenommenen Tatsachen und die Richtigkeit der Rechtsauslegung unterliegen der gerichtlichen Überprüfung einschließlich der Verfassungsbeschwerde 78 . Durch die in den Entscheidungsgründen getroffene Feststellung, eine Partei oder Organisation bekämpfe die Verfassung oder sei nicht verfassungstreu, wird diese nicht verboten. Das Parteiverbot kann nur auf besonderen Antrag im Rahmen der besonderen Verfahrensregeln der §§ 43ff BVerfGG ausgesprochen werden. Das Verbotsmonopol des Bundesverfassungsgerichts bzw. der Innenminister wird durch Implizit-Feststellungen im individuellen Verfahren gar nicht berührt. Es wäre offenkundig wahrheitswidrig, wenn man behaupten wollte: Mitglieder einer Vereinigung, die zwar beweisbar die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpft, die aber aus Gründen polizeilicher Opportunität nicht verboten ist, böten 77

So RUPP in seiner abweichenden Meinung BVerfGE 39, 378, 382; hierzu KRIELE (Fn. 76) S. 151 ff.

78

BVerfGE 38, 334ff, 353; BVerfG DVB1. 1975, 824ff.

168

2. Kapitel. Grundrechte

ohne weiteres die Gewähr dafür, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten. Eine Einstellungsbehörde, die sich diese Unwahrheit im konkreten Fall zueigen machte, bräche das Gesetz, verletzte ihre Amtspflicht und verleitete den Beamten wissentlich zu einem geheuchelten Diensteid. Ein Gericht, das solche Verhaltensweisen der Einstellungsbehörde billigte oder gar forderte, verletzte Verfassung und Gesetz und beginge, sollte es dies vorsätzlich tun, Rechtsbeugung. Darüber hinaus würden solche Behörden und Gerichte Mitglieder verfassungsbekämpfender Organisationen unter Verletzung des Art. 3 privilegieren, und zwar sowohl gegenüber anderen die Verfassung bekämpfenden Personen, die sich nicht auf das Argument des „Verbotsmonopols" berufen können, als auch gegenüber verfassungstreuen Beamtenbewerbern. Wenn sich Organisationen, die ihre Mitbürger der verfassungsmäßigen Rechte — einschließlich des Rechts aus Art. 3 auf Gleichbehandlung der politischen Anschauungen — berauben wollen, auf eben diesen Gleichheitssatz berufen, so ist das nur natürlich. Ihre Durchschlagskraft erhöht sich beträchtlich, wenn sie von ihren Mitgliedern aus einer Amtsstellung heraus begünstigt werden können. Behörden und Gerichte, die diese Begünstigungschance begünstigen, verkennen die Unumstößlichkeit des Gleichheitssatzes. Der Grundsatz, daß jeder gleichen Anspruch auf Freiheit hat, ist das aus der Würde des Menschen unmittelbar folgende Rechtsprinzip schlechthin. Er hat deshalb an der in Art. 79 III gewährleisteten Unaufhebbarkeit des Art. 1 G G teil. Er ist für jeden Amtsinhaber gleichermaßen verpflichtend. Diese Verpflichtung steht nicht zur Disposition. Sie ist Gegenstand des Amtseids, dessen Ernsthaftigkeit keine Frage der Opportunität sein kann. Letztlich geht es darum, ob der Mensch überhaupt im Rechtszustand leben kann. Treue zur Verfassung folgt aus der Einsicht, daß die Würde des Menschen die Beständigkeit einer Verfassungsordnung fordert, in der jeder gleichen Anspruch auf Freiheit hat.

3. Kapitel

Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes Übersicht 1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher D e m o k r a t i e (WERNER MAIHOFER)

Einleitung: Begriff und Sache der Demokratie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 173 I. Geschichtliche Grundlagen und geistige Wurzeln der liberalen und sozialen Demokratie des Grundgesetzes 1. Das Prinzip der Freiheit und die Konzeption einer liberalen Demokratie 2. Das Prinzip der Rechtmäßigkeit und das Problem einer Legitimation der Demokratie aus dem Gesetz gewordenen allgemeinen Willen 3. Das Prinzip der Gleichheit und die Konzeption einer sozialen Demokratie 4. Das Prinzip der Gewaltenteilung das Problem einer Perversion der Demokratie in den Despotismus Aller

177

178

Einzelnen bei notwendiger Gerechtigkeit für Alle 212 4. Demokratie als Ordnung der Brüderlichkeit in Freiheit und das Problem einer humanen Demokratie: Mitmenschlichkeit des Einzelnen, Menschlichkeit der Verhältnisse und Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft? 224

2. Abschnitt. Das parlamentarische S y s t e m (HANS-PETER SCHNEIDER)

Vorbemerkung 180

183

186

II. Verfassungsmäßige Voraussetzung und oberste Zielsetzungen der liberalen und sozialen Demokratie des Grundgesetzes 194 1. Freiheitliche Demokratie als Verfassung der Menschenwürde und der Menschenrechte 195 2. Demokratie als Ordnung der Freiheit und das Prinzip einer liberalen Demokratie: größtmögliche und gleichberechtigte Freiheit bei notwendiger Sicherheit Aller 205 3. Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit und das Prinzip einer sozialen Demokratie: größtmögliche und gleichberechtigte Wohlfahrt des

I. Eigenart und Wirkungsweise des parlamentarischen Systems 1. Begriff und Formen a) Varianten des parlamentarischen Systems b) Determinanten des parlamentarischen Systems c) Gegensätze zum parlamentarischen System 2. Institutionelle Merkmale a) Ein- oder Zweikammersystem . b) Doppelköpfige Exekutive . . . c) Verbindung von Parlament und Regierung d) „Gewaltenteilung" zwischen Regierung und Opposition . . . . 3. Soziokulturelle Bedingungen . . . a) Homogene Sozialstruktur . . . b) Bipolares Parteiensystem . . . c) Pluralistisches Verbändewesen . d) Kooperative Staatsleitung . . . 4. Historische Entwicklung a) Konstitutionelle Monarchie . .

239

240 240 241 242 243 243 243 244 244 245 245 246 247 247 248 248

170

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes b) Weimarer Republik c) Bundesrepublik Deutschland

249 . 250

II. Ausgestaltung des parlamentarischen Systems im Grundgesetz 1. Parlamentarische Demokratie . . . a) Parlament und Repräsentativsystem b) Parlament und Parteienstaat . . c) Parlamente im Bundesstaat . . 2. Der Deutsche Bundestag a) Aufgaben b) Zusammensetzung c) Organisation d) Arbeitsweise 3. Parlament und Regierung a) Parlamentarische Bildung und Auflösung der Regierung . . . b) Parlamentarische Kontrolle der Regierung c) Parlamentarische Opposition . III. Idee und Wirklichkeit des parlamentarischen Systems in der Gegenwart 1. Theorie und Kritik des Parlamentarismus a) Parlamentarismus und Liberalismus b) Parlamentarismuskritik . . . . c) Parlamentarismus und Rätesystem d) Ursachen und Kritik des Parlamentspessimismus 2. Moderne Probleme des Parlamentarismus a) Parlament und Planung . . . . b) Informationsdefizit der Parlamente c) Funktionsmängel des Parlamentsbetriebs d) „Parlamentsverdrossenheit" . . 3. Reformen des parlamentarischen Systems a) Geschäftsordnungsänderungen 1969 b) Vorschläge der EnquêteKommission Verfassungsreform c) Notwendigkeit von Strukturreformen 4. Zukunftsfragen des Parlamentarismus a) Probleme der Parteienrepräsentation b) „Regierbarkeit" im parlamentarischen System

c) Zukunftsregelung des Parlamentarismus 292 3. Abschnitt. Wahlrecht

251 252 256 258 260 261 263 264 267 269 270 273 276

(ECKART SCHIFFER)

I. Die Wahl in der Verfassungsordnung 1. Wesen und Funktion der W a h l . . . 295 2. Wahlrechtsgrundsätze und Wahlsystem 296 3. Wahlgebiet, Wahlorganisation . . 304 II. Wahlrecht und Wahlvorschlagsrecht 1. Wahlrecht und Wählbarkeit . . . . 2. Wahlvorschlagsrecht

306 309

III. Wahlhandlung, Wahlprüfung, Wahlanfechtung 1. Wahlhandlung 311 2. Wahlanfechtung, Wahlprüfung . . 313 4. Abschnitt. Die politischen Parteien (DIETER G R I M M )

I. Parteien und Verfassung 278 278 279 280 281 283 283 284 285 286 287 287 288

II. Die Parteien im Grundgesetz 1. Funktion und Position der Parteien a) Das Demokratie-Verständnis des Grundgesetzes b) Die Funktion der politischen Parteien c) Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft d) Der Standort der Parteien . . . 2. Die Parteien gegenüber dem Staat . a) Die äußere Freiheit der Parteien b) Innerparteiliche Demokratie . . c) Die Gleichheit der Parteien . . d) Parteienfinanzierung 3. Die Parteien im Staat a) Das parteigebundene Mandat . b) Regierung und Regierungspartei c) Parteiendemokratie und Gewaltenteilung d) Parteien und autonome Kontrolleinrichtungen

289

III. Staatsrechtslehre und Parteienproblematik

290

5 . A b s c h n i t t . V e r b ä n d e (DIETER GRIMM)

290 291

I. Verbände als Verfassungsproblem 1. Die Bedeutung der Verbände im demokratischen System

317 319 319 323 327 331 335 335 339 343 348 352 352 357 360 365 369

373

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes 2. Die Entwertung der Verfassung im Korporatismus 377 II. Die Konstitutionalisierung der Verbände 1. Möglichkeiten und Grenzen einer Konstitutionalisierung 380 2. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Binnendemokratisierung . 384

6. Abschnitt. Massenmedien (WOLFGANG

HOFFMANN-RIEM)

I. Grundkonzept der Medienfreiheit 1. Entfaltung in der Kommunikation und Entfaltung durch Kommunikation 2. Das liberale Konzept der Freiheit als rechtlich gesicherte reale Möglichkeit subjektiver Entfaltung . . 3. Kommunikative Entfaltung mit Hilfe der Massenmedien in allen Lebensbereichen 4. Der personale und soziale Bezug der Kommunikationsfreiheit . . . 5. Kommunikative Chancengleichheit — Legitimierung von kommunikativen Privilegien 6. Kommunikationsfreiheit als „Rundumfreiheit" 7. Zur „öffentlichen Aufgabe" der Medien 8. Art. 5 G G als Grundlage unterschiedlicher kommunikativer Freiheiten a) Meinungs- und Informationsfreiheit b) Medienfreiheit 9. Meinungsfreiheit und Medienfreiheit a) Die besondere Funktion und die Möglichkeit des Machteinsatzes als Ansatzpunkte der Differenzierung b) Medienfreiheit als Aliud gegenüber der Meinungsfreiheit . . c) Objektiv-rechtlicher Gehalt . d) Subjektiv-rechtlicher Gehalt; insbesondere: die Träger des Grundrechts der Medienfreiheit 10. Gegenpositionen a) Art. 5 Abs. 1 Satz 2 G G als individual-rechtliches Grundrecht unter Einschluß der Veranstalterfreiheit?

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b) Privatwirtschaftliche Struktur als verfassungsrechtliche Normalform? 11. Gesetzliche Ausgestaltung der Medienstruktur 12. Beschränkungen der Medienfreiheit 13. Zur Einschätzungskompetenz des Gesetzgebers II. Bausteine einer verfassungsmäßigen Medienpolitik 1. Freiheitssicherung durch Unabhängigkeit des Medienwesens a) Staatsfreiheit b) „Rundumfreiheit" 2. Freiheitssicherung durch Abwehr von Eingriffen a) Schutz der Vorbereitung, Herstellung, Verbreitung und Nutzung des massenmedialen Produkts b) Zensurverbot 3. Medienpolitische Grundmodelle (Überblick) a) Markt-/Konkurrenzmodell . . b) Integrationsmodell c) Misch- und Kombinationsmodelle d) Zum weiteren Vorgehen . . . 4. „Publizistische Gewaltenteilung" als Ausprägung des Grundsatzes struktureller Diversifikation . . . 5. Ausgestaltung des arbeitsteiligen Zusammenwirkens im Binnenbereich der Medienorgane . . . . a) Arbeitsteilige Ausübung der Medienfreiheit b) Unterschiedliche medienpolitische Konzeptionen c) Zur Umsetzbarkeit solcher Konzepte 6. Zugangsrechte und Öffnungspflichten a) Medieninhalt b) Vertrieb und Netz 7. Sonderprobleme des Markt-/Konkurrenzmodells und seiner Weiterentwicklung a) Verklammerung von ökonomischem Wettbewerb und publizistischer Leistung . . . b) Finanzierung c) Absicherung ökonomischen Wettbewerbs

171

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes d) Sicherung publizistischer Vielfalt e) Insbesondere: Tendenzfreiheit f) Bindungen für Medieninhalte g) Ermöglichung externer Transparenz — Datenschutz . . . . h) Insbesondere: Das Marktmodell im Rundfunk . Sonderprobleme des Integrationsmodells und seiner Weiterentwicklung a) Finanzierung

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b) Treuhänderischer Programmauftrag — Programmbindungen c) Pluralistische Binnenorganisation d) Ermöglichung externer Transparenz — Datenschutz . . . . 9. Möglichkeiten für eine duale Rundfunkverfassung 10. Anforderungen der Medienpolitik in Anbetracht neuer Kommunikationstechnologien

461 463 465 465

467

1. Abschnitt

Prinzipien freiheitlicher Demokratie WERNER MAIHOFER

Einleitung: Begriff und Sache der Demokratie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Das Grundgesetz enthält keine ausdrückliche Bestimmung des in unserer Verfassung vorausgesetzten Begriffes der Demokratie. Er wird gebraucht ausschließlich in adjektivischen Wendungen wie in der Bezeichnung der Bundesrepublik Deutschland als „demokratischer und sozialer Bundesstaat" (Art. 20 Abs. 1 GG), oder der Forderung, daß demzufolge die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen „des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes" entsprechen müsse (Art. 28 Abs. 1 GG). Auch der Gebrauch des Wortes demokratisch in dem zusammengesetzten Begriff „freiheitliche demokratische Grundordnung" im Zusammenhang mit Parteiverbot (Art. 21 Abs. 2 GG) oder Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) gibt zwar einen Fingerzeig, daß das Grundgesetz unsere Demokratie nicht als irgendeine, sondern als eine freiheitliche Demokratie verstanden wissen will. Denn damit sollte nach dem Willen der Väter unserer Verfassung zum Ausdruck kommen, daß die Begriffe „freiheitlich" und „demokratisch" nicht „antithetisch gesehen" sind, vielmehr „im Volksbewußtsein in eines zusammenfließen" sollen, wie der damalige Abgeordnete Theodor Heuss in den Beratungen des Parlamentarischen Rates feststellt1. Die zur Ausfüllung dieser Begrifflichkeit einer „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" entwickelten materialen und formalen Prinzipien betreffen jedoch nur einen bestimmten, wenn auch wesentlichen, für unantastbar und unabänderbar erklärten Kernbestand, aber nicht den Gesamtbereich unserer nach ihrer materialen Konstitution freiheitlichen und nach ihrer formalen Organisation konstitutionellen

1

J ö R , Neue Folge, Bd. 1 (1951), S. 173; dazu auch: K . D. BRACHER Theodor Heuss und die Wiederbegründung der Demokratie in Deutschland, 1965; zum Begriff der freiheit-

lichen demokratischen Grundordnung einführend: K . STERN Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1 (1977), S. 4 1 4 f f mit weiterer Literatur.

174

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Demokratie: einer auf die Freiheit als obersten Wert verpflichteten und durch die Verfassung eingeschränkten Mehrheitsherrschaft 2 . Was danach freiheitliche Demokratie als das Schlüsselwort für die Staatsform unserer Bundesrepublik bedeutet und fordert, kommt auch in den weiteren Beratungen des Grundgesetzes eher in negativen Distanzierungen zum Ausdruck, so der ausdrücklichen und einhelligen von der sog. Volksdemokratie wie von der sog. Rätedemokratie. Wobei man sich allerdings auf Feststellungen wie die Hermann von Mangoldts zurückzieht: „ E s gibt eine demokratische Ordnung, die weniger frei ist, die volksdemokratische, und eine die frei ist" 3 . Auch wo es zu einem positiven Votum für eine andere Demokratie des Grundgesetzes kommt, beschränkt es sich auf Feststellungen wie die Carlo Schmids: „Mir persönlich liegt es, wenn von Demokratie gesprochen wird, eher dabei an die klassische Demokratie zu denken, für die bisher die Völker Europas gekämpft haben. Wenn wir das so Erkämpfte betrachten, dann finden wir, daß offenbar einige Merkmale erfüllt sein müssen, wenn von einer demokratischen Verfassung soll gesprochen werden können" 4 . Ohne daß es dann zu einer systematischen Definition dieser demokratischen Prinzipien kommt, die unser durch die vorausgehenden Erfahrungen erhärtetes Verständnis klassischer Demokratie ausmachen. Ähnlich lautet schon die prinzipielle Option im Verfassungsausschuß der Weimarer Nationalversammlung, die Friedrich Naumann in die Worte faßt: „Entweder wir werden hineingezogen in die russische Sowjeträte-Auffassung oder wir werden herangegliedert an die westeuropäisch amerikanische Form" 5 . Eben diese klassische Verfassungsform der Demokratie, die aus einer Verbindung westeuropäischer und nordamerikanischer Verfassungstraditionen hervorgeht, die sich von Anfang an wechselseitig beeinflußt und aus den beiderseitigen Erfahrungen bis heute fortentwickelt haben, ist die einer freiheitlichen konstitutionellen Demokratie. Eine Verfassungsform, die wir gelegentlich auch als „westliche Demokratie" 6 zu bezeichnen pflegen. Im Unterschied zu all jenen Ausprägungen unfreiheitlicher Demokratien, deren Vorzeichen ein anderes ist als das Prinzip der Freiheit, und zugleich im Unterschied zu allen absoluten Demokratien der uneingeschränkten Mehrheitsherrschaft oder gar Minderheitsherrschaft im Einparteienstaat, ohne jegliche oder doch nur scheinbare Einschränkungen solcher absoluter Herrschaft.

2

3

Zum Begriff der freiheitlichen Demokratie einführend: H . ZACHER Freiheitliche D e m o kratie, 1969, insbes. S. 81 ff. J ö R (Fn. 1) und S. 193. Zum Begriff der Volksdemokratie insbes.: R. ZIPPELIUS Allgemeine Staatslehre, 7. Aufl., 1980, S. 143ff; zum Begriff der Rätedemokratie: M. KRIELE Einführung in die Staatslehre, 2. A u f l . , 1981, S. 247 ff.

4

5

6

Stenographische Berichte des Parlamentarischen Rats, 2. Sitzung, S. 13; Hervorhebung von mir. Verfassungsausschuß der Weimarer Nationalversammlung, Aktenstück Nr. 391, S. 176 ff der Verfassungsgebenden Nationalversammlung. So besonders E. FRAENKEL Deutschland und die westlichen Demokratien, 7. Aufl., 1979, S. 3 2 f f ; vgl. dazu auch K. STERN Staatsrecht (Fn. 1) S. 447ff.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

175

Was ist diese „klassische Demokratie westlicher Prägung" so fragen wir, die von den Verfassungsvätern mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzt und nur in einzelnen Hinsichten ins Grundgesetz übersetzt worden ist? Welches sind ihre Prinzipien von Demokratie? Was für eine Demokratie ist die, die sie meinen? „Es gibt kaum einen verfassungsrechtlichen Begriff" so stellt Konrad Hesse fest, „dem so unterschiedliche Deutungen gegeben werden wie dem der Demokratie. Obwohl das demokratische Prinzip die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes primär bestimmt, besteht darüber, was ,Demokratie' ist, eine Fülle verschiedener, oft gegensätzlicher Auffassungen" 7 . Dies hat schon darin seinen Grund, daß auch der klassische Begriff der Demokratie, wörtlich: Herrschaft des Volkes, unterschiedliche Bedeutungen hat, je nachdem auf welche der verschiedenen Seiten der Sache der Demokratie er bezogen ist: auf den Träger der Herrschaft im Staat: das Volk (Demokratie als Herrschaft durch das Volk), oder aber auf den Zweck dieser Herrschaft in der Gesellschaft: das Wohl des Volkes (Demokratie als Herrschaft für das Volk), aber auch auf das Verfahren zur Bestimmung des Willens des Volkes: die Mehrheit (Demokratie als Herrschaft der Mehrheit), oder gar auf den Maßstab bei der Gestaltung des Wohles des Volkes: die Gleichheit (Demokratie als Herrschaft der Gleichheit). Entsprechend bezeichnet nach diesem klassischen Begriff: Demokratie von der griechischen Antike an eine der drei möglichen Verfassungen des Staates. Die, in der das Volk Träger der Herrschaft ist, im Unterschied zur Herrschaft der Besten: der Aristokratie und zur Herrschaft eines Einzelnen: der Monarchie. Alle drei Herrschaftsformen, und so auch die Demokratie, haben in sich, wie schon Aristoteles und mit ihm noch Rousseau annimmt, eine „natürliche Tendenz" zum Verfall, die aus der menschlichen Neigung folgt, den eigenen Vorteil über den anderer zu stellen. Und die so auch die jeweiligen Träger einer Herrschaft früher oder später nahezu zwangsläufig dahin bringt, den wahren Zweck jeder solcher Herrschaft von Menschen über Menschen: das allgemeine Wohl aller Bürger einer Polis aus dem Auge zu verlieren. Mit dieser Entartung in eine willkürliche Herrschaft zum einseitigen Vorteil: besonderen Wohl der jeweiligen Träger dieser Herrschaft verkehrt sich die Demokratie zur Ochlokratie, die Aristokratie zur Oligarchie und die Monarchie zur Tyrannis (Despotie), die sich nach der berühmten Lehre in der Politik des Aristoteles über ihre jeweiligen Verfallsformen durch einen dialektischen Prozeß in einem steten Verfassungskreislauf auseinander hervortreiben 8 .

7

K . HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl., 1982, S. 5 0 ; zur heutigen Unterscheidung des Begriffes der Demokratie von dem auf die unmittelbare oder mittelbare Volkswahl des Staatsoberhauptes beschränkten engeren Begriffe der Republik auch: aaO S. 4 8 f f ; und besonders K . STERN (Fn. 1) S. 4 2 9 f f .

8

Vgl. zum folgenden ARISTOTELES Politik, Ausgabe E . ROLFES bei Meiner, 1965, S.

90 ff; und zur „Tendenz zum Verfall" aller Regierungsformen: ROUSSEAU Der Gesellschaftsvertrag, Ausgabe WEINSTOCK bei Reclam, 1963, S. 129ff; zur Geschichte der Staatsformenlehre auch: R. ZIPPELIUS Staatslehre (Fn. 3) S. 91 ff, und K. STERN Staatsrecht (Fn. 1) S. 429ff, mit weiterer Literatur.

176

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Dieser theoretischen Begrifflichkeit liegt zugrunde die praktische Erfahrung der „Attischen Demokratie", die selbst zwischen wirklicher Volksherrschaft und bloßer „Pöbelherrschaft" schwankt. Was Aristoteles veranlaßt, seine solchem zwangsläufigen Verfall nicht mehr ausgesetzte, aus den besten Bestandteilen der drei Herrschaftsformen gemischte Verfassung nicht als Demokratie, sondern als Politie zu bezeichnen. Womit der Begriff der Demokratie von Anfang in das Zwielicht einer zum Verfall geneigten instabilen Form der Herrschaft des Volkes gerückt ist. An seine Stelle tritt darum nicht zufällig in der römischen Antike der Begriff der Republik, wörtlich: res publica, gemeines Wesen, um diese Form der Herrschaft durch alle Bürger von der durch einige Wenige oder einen Einzigen zu unterscheiden. In diesem ebenso vom Träger der Herrschaft her gedachten Begriff der Republik, als eine von Aristokratie wie Monarchie unterschiedene Herrschaftsform, geht jedoch zugleich die in der Idee der Demokratie von Anfang an mitgedachte Bestimmung des Zweckes solcher Herrschaft durch alle Bürger und für alle Bürger, als eines „gemeinen Wesens" zum „Wohle des Volkes", in die neue Begrifflichkeit ausdrücklich ein. Auch für die römische Republik wird so nach einem Diktum Ciceros das „Wohl des Volkes zum obersten Gesetz". Diese verschlungene Entwicklung beider Begriffe und teilweise Verbindung ihrer Inhalte führt zum Ende der Neuzeit, in der sich auch die geschichtliche Entwicklung auf die politische Alternative König oder Volk: Monarchie oder Republik zuspitzt und sich darum auch von der Staatsformenlehre Macchiavellis an auf diese Zweiteilung verengt, zu einer weitgehenden Gleichsetzung beider Begriffe oder gar zur Ersetzung des Begriffes der Demokratie durch den der Republik, unter Übertragung auch der inhaltlichen Bestimmungen des Prinzips der Demokratie auf die neue Begrifflichkeit. Daß dabei ausgerechnet die beiden geistigen Väter der modernen Demokratie: Montesquieu und Rousseau zu einem entgegengesetzten Begriffsgebrauch gelangen, hat nicht wenig zu den bis heute fortbestehenden Unklarheiten über den Begriff und die Sache der Demokratie beigetragen. Die Antwort auf unsere Frage ist so nicht im einfachen Rückgriff auf die in sich selbst zwiespältige und widersprüchliche klassische Tradition des Begriffes Demokratie in Antike und Neuzeit oder gar auf den der Republik zu gewinnen, die zudem nur einen Teil der Fragestellungen betrifft, um die es uns heute in der Sache geht, die wir Demokratie nennen. Die nähere Bestimmung des Begriffs der „klassischen Demokratie westlicher Prägung", der auch unserem Grundgesetz zugrundeliegt, läßt sich vielmehr nur auf einem zweifachen Wege erreichen. Einmal dadurch, daß aus der Fülle verschiedener, oft gegensätzlicher, Auffassungen, was Demokratie ist, „die verfassungsrechtlich maßgebliche Bedeutung des Begriffs" anhand „der konkreten Ausformung der Demokratie durch die Verfassung" gewonnen wird, sofern und soweit das Grundgesetz hierfür zureichende Anhaltspunkte hergibt. Zum andern dadurch, daß unter Festhalten dieses „normativen Ausgangspunktes" bei der Bestimmung der Prinzipien der Demokratie auch die „historischen, politischen und ideengeschichtlichen Zusammenhänge des demokratischen Prinzips" in eine „ Gesamtinterpretation" des Verfassungskontextes mit einbezogen werden, insofern und insoweit unser Grundgesetz erkenn-

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

177

bar auf bestimmten theoretischen Voraussetzungen beruht, „ohne deren Aufdeckung sich die Verdeutlichung der grundgesetzlichen Vorstellung nicht vornehmen läßt" 9 . Dieser Rückgang auch auf die sog. ideengeschichtlichen Voraussetzungen der verfassungsrechtlichen Ausprägung der freiheitlichen Demokratie unseres Grundgesetzes erscheint gerade beim Prinzip der Demokratie nicht nur deshalb erforderlich, weil „verfassungsrechtliches Verstehen sich von den geschichtlichen Bedingungen und den konkreten Problemen seines Gegenstandes" nicht ablösen läßt, sondern weil sich in solcher Rückbesinnung auf die geschichtlichen Grundlagen und geistigen Wurzeln der Theorie der Demokratie in unserer Epoche der Moderne auch verfassungsrechtliche Einsichten erschließen könnten, die nicht nur der geschichtlichen Erinnerung wert sind, sondern aus denen sich höchst gegenwärtige Forderungen ergeben könnten, an ein auch und gerade nach den Prinzipien der Demokratie noch unerfülltes Grundgesetz. Vielleicht ist in diesem ersten Ansatz auch unseres heutigen Denkens der Sache der Demokratie manches gesehen und gesagt, manches in Gedanken gefaßt und auf den Begriff gebracht, was uns als späten Nachfahren inzwischen aus dem Blick geraten, aus dem Bewußtsein entschwunden ist. Vier Grundgedanken: Prinzipien machen für das an der Schwelle der Epoche der Moderne anbrechende Rechts- und Staatsdenken die Konstitution: die Verfassung aus, die wir heutt freiheitliche Demokratie nennen: Die Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit, und die Prinzipien der Rechtmäßigkeit und der Gewaltenteilung, die sich in ihm auf eine wahrhaft Epoche machende Weise zu einer modernen Theorie der liberalen und sozialen Demokratie verbinden.

I. Geschichtliche Grundlagen und geistige Wurzeln der liberalen und sozialen Demokratie des Grundgesetzes „Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten. Mancher hält sich für den Herrn seiner Mitmenschen und ist trotzdem mehr Sklave als sie. Wie hat sich diese Umwandlung zugetragen? Ich weiß es nicht. Was kann ihr Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können." So umschreibt Rousseau in jenen berühmten Einleitungsworten den „Inhalt des ersten Buches" seines Contrat social 10 .

9

Vgl. dazu grundsätzlich: K. HESSE Grundzüge (Fn. 7) S. 50; und K . STERN Staatsrecht (Fn. 1) S. 441; zu den Irritationen der Gegenwart um den Begriff der Demokratie besonders: C . E. BARSCH Die Gleichheit des Ungleichen. Zur Bedeutung von Gleichheit, Selbstbestimmung und Geschichte im Streit um die konstitutionelle Demokratie, 1979.

10

ROUSSEAU G e s e l l s c h a f t s v e r t r a g ( F n . 8) S. 3 0 ;

dazu einführend: O . VOSSLER Rousseaus

Freiheitslehre, 1964; hierzu auch: H . RYFFEL Rousseau als Philosoph der modernen Gesellschaft, in: Studia Philosophica, Bd. X X I V (1964), S. 2 2 2 f f ; sowie besonders I. FETSCHER Rousseaus politische Philosophie, 2. A u f l . , 1968; und jetzt sein Nachwort in: ROUSSEAU, Sozialphilosophische und politische Schriften, Ausgabe E . KOCH bei Winkler, 1981, S. 905ff, insbes. S. 920ff.

178

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

1. Das Prinzip der Freiheit und die Konzeption einer liberalen Demokratie Gefragt ist damit, damals wie heute, nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Herrschaft von Menschen über Menschen, die sich als „frei geboren" erkennen und verstehen. Diese Bedingungen, von denen die Rechtmäßigkeit einer Herrschaft von Menschen über Menschen unter der Voraussetzung ihrer Freiheit abhängt, auch der Herrschaft eines Volkes über sich selbst, die wir Demokratie nennen, umschreibt Rousseau in dem, was er den ,,Gesellschaftsvertrag" nennt. Dieser ist nicht etwa verstanden als ein irgendwann in einem historischen Akt geschlossener Vertrag, sondern als der prinzipielle Konsens, auf den die Vereinigung von Bürgern unter Gesetzen in einem Staat gegründet ist, auch wenn dessen Bedingungen („Klauseln") „vielleicht nie ausdrücklich ausgesprochen wären, doch überall gleich, stillschweigend angenommen und anerkannt sind" 1 1 . Erkennen wir so, daß, was hier Gesellschaftsvertrag genannt ist, nichts anderes meint als die Grundsatzübereinstimmung: den heute sogenannten Grundkonsens, der jeder Begründung und Rechtfertigung von Herrschaft über Menschen vorausgesetzt ist und bleibt, dann stellt sich die Frage, deren Antwort der Gesellschaftsvertrag darstellt, nicht als eine längst erledigte, sondern als eine immer erneute auch an uns, unter welchen Bedingungen wir eine solche Herrschaft in Freiheit für legitim halten. Welche materiale Konstitution und formale Organisation also auch und gerade in einer Demokratie gefordert ist, um die Rechtmäßigkeit von Herrschaft über Menschen unter Voraussetzung ihrer Freiheit zu verbürgen? Diese „Hauptfrage" läßt sich nach Rousseau in die Worte zusammenfassen: „Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt und Kraft dessen jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?"12 Wie kann dies geschehen? Der Einzelne, „obgleich er sich mit allen vereint", „bleibt so frei wie bisher", weil er zwar seine natürliche Freiheit verliert, „die nur in den Kräften der einzelnen ihre Schranken findet", aber dafür die bürgerliche Freiheit gewinnt, die nur durch den allgemeinen Willen, also das Gesetz beschränkt werden kann. Mit Rousseaus Worten: „Der Verlust, den der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag erleidet, besteht in dem Aufgeben seiner natürlichen Freiheit und des unbeschränkten Rechtes auf alles, was ihn reizt und er erreichen kann. Sein Gewinn äußert sich in der bürgerlichen Freiheit und in dem Eigentumsrecht auf alles, was er besitzt." Es ist also in dieser Theorie der Demokratie aus dem Prinzip der Freiheit keine Rede davon, daß der Einzelne in einer solchen bürgerlichen Vereinigung unter allgemeinen Gesetzen alle seine Rechte an die Gesamtheit hingibt und verliert. Er

11

ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 43; um die Aufdeckung und Erhellung eben dieses stillschweigend vorausgesetzten Grundkonsenses, auf dem unsere Demokratie

12

gründet, dreht sich auch die heute sogenannte Grundwertediskussion. ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) a a O ; vgl. zum „staatsbürgerlichen Z u s t a n d " im folgenden auch S. 48 f.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

179

gewinnt im Gegenteil überhaupt dadurch erst ein „Eigentumsrecht auf alles, was er besitzt". Ebenso verliert er mit der nunmehr „durch den allgemeinen Willen beschränkten, bürgerlichen Freiheit" nicht jede natürliche Freiheit überhaupt. Denn der Gesetz gewordene allgemeine Wille kann auch bei Rousseau folgerichtig nur die Freiheit des Einzelnen beschränken, die „der eines anderen schaden kann", wie es in der Politischen Ökonomie hierzu wörtlich heißt 13 . Wie schon bei Hobbes kann so vermittels des Gesetzes von Staats wegen nur die der eines Anderen schädliche Freiheit, nicht aber die „unschädliche Freiheit" des Einzelnen eingeschränkt werden, mit allen daraus sich ergebenden Folgerungen für die Kriterien der Legalität: die Notwendigkeit wie die Deutlichkeit von Gesetzen 14 . Das Gesetz verwandelt jedoch nicht nur die uneingeschränkte natürliche Freiheit des Einzelnen in eine allein durch den allgemeinen Willen: das Gesetz einzuschränkende bürgerliche Freiheit. Es verwandelt, wie schon für Montesquieu auch für Rousseau die natürliche Ungleichheit, die aus der ungleichen körperlichen und geistigen Kraft des Einzelnen, wie die gesellschaftliche Ungleichheit, die aus der fehlenden Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen folgt, in die bürgerliche Gleichheit. Deshalb kann Rousseau in seiner heute nahezu vergessenen Politischen Ökonomie vom Gesetz geradezu sagen: „Allein ihm verdanken die Menschen Gerechtigkeit und Freiheit." Weil die Menschen „trotz offensichtlicher Unterwerfung" unter das Gesetz „um so freier sind, als jeder nur soviel Freiheit verliert, wie der eines anderen schaden kann", und zugleich durch „dieses heilsame Instrument des Willens aller", „die natürliche Gleichheit der Menschen im Recht wieder hergestellt" wird 15 . Aber auch weil nur unter dieser Voraussetzung der Gleichheit, wie sie das Gesetz darstellt, Gerechtigkeit zwischen den Menschen herrschen kann. Wozu Rousseau höchst bedenkenswert feststellt: „Ohne Zweifel ist eine allgemeine Gerechtigkeit vorhanden, die nur von der Vernunft ausgeht; allein um bei uns anerkannt zu werden, muß die Gerechtigkeit gegenseitig sein." Denn: „Betrachtet man die Dinge nur vom menschlichen Gesichtspunkte aus, so sind die Gesetze der Gerechtigkeit in Ermangelung einer natürlichen Bestätigung derselben unter den Menschen nicht verbindlich; sie dienen nur zum Besten des Bösen und zum Nachteil des Rechtschaffenen, wenn letzterer sie gegen jedermann beobachtet, während niemand sie ihm gegenüber befolgt" 1 6 . 13

ROUSSEAU Politische Ökonomie, H.-P.

SCHNEIDER

bei

Ausgabe

Klostermann,

15

So ROUSSEAU Politische Ökonomie (Fn. 13) S. 41 (Hervorhebung von mir); aber auch schon: MONTESQUIEU, V o m Geist der Gesetze, Ausgabe WEIGAND bei Reclam, 1965, S. 183, wo es hierzu heißt: „ Z w a r kommen im Naturzustand die Menschen in Gleichheit zur Welt, doch können sie nicht darin verbleiben. Durch die Gesellschaft verlieren sie ihre Gleichheit. Erst durch die Gesetze werden sie wieder gleich".

16

ROUSSEAU G e s e l l s c h a f t s v e r t r a g ( F n . 8 ) S. 6 8 .

1977,

S. 4 1 ; was in ROUSSEAUS späterem Contrat social nicht überall durchgehalten ist. 14

Zu diesen erstmals von HOBBES erfaßten Kriterien der Legalität im einzelnen: W . MAIHOFER Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, S. 122ff; vgl. dazu jetzt auch grundlegend: H . SCHELSKY Thomas H o b bes, Eine Politische Lehre, 1981.

180

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Hier bricht so bei Rousseau eine erste Ahnung auf, daß zu den Prinzipien der Legalität: der Gesetzmäßigkeit in einer modernen Demokratie nicht nur das Prinzip der Allgemeinheit gehört, wie es in dem Gesetz gewordenen Willen für alle Bürger unter den gleichen Voraussetzungen Geltung hinsichtlich der Rechte wie der Pflichten beansprucht, sondern auch das Prinzip der Gegenseitigkeit, ohne das Gesetze in einer Gesellschaft der Freien und Gleichen nicht dem Anspruch der Gerechtigkeit genügen können 17 . 2. Das Prinzip der Rechtmäßigkeit und das Problem einer Legitimation der Demokratie aus dem Gesetz gewordenen allgemeinen Willen Was solche Gerechtigkeit bedeutet, die allererst das Gesetz mit dem Anspruch auf Allgemeinheit und Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten herstellt, ist allerdings bei Rousseau nicht, wie später bei Kant, aus dem bloßen Verhältnis der Freiheit des Einen und der des Andern gedacht, auch nicht bloß aus der Gleichheit der Freiheit des Einen mit der des Andern in diesem Verhältnis. Vielmehr ist hier erstmals gesehen, daß der Gesetz gewordene allgemeine Wille nicht aus einer bloßen Zusammenstimmung der Freiheit hervorgeht, sondern auf eine Ubereinstimmung von besonderen Interessen des Einzelnen und gemeinsamen Interessen Aller abzielt. Denn: „In der Tat kann jeder einzelne als Mensch einen besonderen Willen haben, der dem allgemeinen Willen, den er als Staatsbürger hat, zuwiderläuft oder mit dem er doch nicht überall in Einklang steht. Sein besonderes Interesse kann ganz andere Anforderungen an ihn stellen als das gemeinsame Interesse." Deshalb strebt, wie Rousseau bemerkt: „seiner Natur nach der Wille des einzelnen nach Vorzügen, der allgemeine dagegen nach Gleichheit" 18 . Folgerichtig ist damit der „allgemeine Wille", der das „gemeinsame Interesse" zum Ausdruck und zur Geltung bringt, nicht einfach ein dem besonderen Willen und dem besonderen Interesse des Einzelnen entgegengesetzter Wille, wie dies aus einer mißverstandenen Deutung der volonté générale als Gemein willen, bestimmt vom Gemeinwohl im Sinne eines überindividualistischen bonum commune, herausgelesen wird 19 . Wenn darum Rousseau erklärt, daß allein „der allgemeine Wille die Kräfte des Staates dem Zwecke seiner Einrichtung gemäß, der in dem Gemeinwohl besteht,

17

Zu diesen später auch bei Kant wiederkehrenden Prinzipien der Legalität als formaler Legitimation jedes „Rechtsgesetzes" jetzt: W . MAIHOFER Die Legitimation des Staates aus der Funktion des Rechts, in: A R S P , Beiheft N r . 15, 1981, S. 32ff.

18

ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 47 und S . 5 4 . Wenn ROUSSEAU darum im Contrat social (Fn. 8) S. 58 den „Willen aller" (volonté de tous), der auf das „Privatinteresse", vom „allgemeinen Willen" (volonté générale) un-

19

terscheidet, der „auf das allgemeine Beste ausgeht" und letzteren dadurch aus der bloßen „Summe der einzelnen Willensmeinungen" ausscheidet, daß er von diesen „das Mehr oder Minder" (divergierender Privatinteressen) „abzieht, das sich gegenseitig aufhebt", dann bleibt in der Tat „als Differenzsumme der allgemeine Wille übrig", in dem diese verschiedenen Privatinteressen als einem gleichen: gemeinsamen Interesse übereinstimmen.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

181

leiten kann", dann denkt er und glaubt er nicht an irgend ein jenseits des Privatinteresses liegendes höheres Gesellschaftsinteresse oder gar Staatsinteresse. Vielmehr fährt er höchst bezeichnend fort: „Denn wenn der Gegensatz der Privatinteressen die Errichtung der Gesellschaft nötig gemacht hat, so hat sie doch erst die Übereinstimmung der gleichen Interessen ermöglicht. Das Gemeinsame in diesen verschiedenen Interessen bildet das gesellschaftliche Band; und gäbe es nicht irgendeinen Punkt, in dem alle Interessen übereinstimmen, so könnte keine Gesellschaft bestehen. Einzig und allein nach diesem gemeinsamen Interesse muß die Gesellschaft regiert werden" 20 . Mit anderen Worten, also nicht aus einem über allen Privatinteressen schwebenden bonum commune, sondern nach der alle diese Privatinteressen vermittelnden utilitas civium. Deshalb kann Rousseau von dem Gesetz gewordenen allgemeinen Willen, der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft stiftet, auch sagen: „Man muß verstehen, daß weniger die Anzahl der Stimmen den Willen verallgemeinert, als vielmehr das allgemeine Interesse, die sie vereinigt, denn bei dieser Einrichtung unterwirft sich jeder den Bedingungen, die er den andern auferlegt. Es herrscht ein bewundernswerter Einklang des Interesses und der Gerechtigkeit, der den gemeinsamen Beschlüssen einen Charakter der Billigkeit verleiht" 21 . Entkleiden wir so Rousseaus Theorie der Demokratie aus dem allgemeinen Willen aller ihrer durch die zeitgenössische und nachfolgende Gattungsmetaphysik und Gattungsethik angehefteten spekulativen Elemente, dann wird in ihr mit einer bis heute nicht überholten Hellsicht das Prinzip deutlich, von dem die Legitimität jeder Herrschaft von Menschen über Menschen abhängt, die sich rational legitimiert aus den realen Interessen der in einer Gesellschaft lebenden, in einem Staat vereinigten Menschen. Eben diese rationale Legitimität von Herrschaft, im Unterschied zur vorausgehenden und fortwirkenden charismatischen und traditionalen Legitimation von Herrschaft, ist das sie von allen früheren und anderen Formen der Herrschaft auszeichnende und abhebende Fundament der modernen Demokratie22. Mit der unabweisbaren, wenn auch in Reinheit unerfüllbaren Folge, daß solche Herrschaft in einer Demokratie, die sich material legitimiert aus dem identischen Interesse: dem „gemeinsamen Nutzen", dem „allgemeinen Besten", wie es auch bei Rousseau heißt, sich auch formal legitimieren muß eben dadurch, daß bei der Schaffung des Gesetzes, in dem dieser allgemeine Wille zum gemeinsamen Nutzen Ausdruck finden soll, die danach diesem Gesetz Unterworfenen selbst als die Urheber des Gesetzes beteiligt sein müssen. Jene andere Feststellung soll nicht ein leeres Wort bleiben, von der die Rechtmäßigkeit der Herrschaft auch und gerade in einer Demokratie bedingt ist und bleibt, daß in dieser Gesellschaftsform „jeder einzelne,

20

ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 54; Hervorhebungen von mir.

21

ROUSSEAU G e s e l l s c h a f t s v e r t r a g ( F n . 8) S . 6 3 .

22

Dazu W. MAIHOFER Legitimation des Staates (Fn. 17) S. 15ff.

182

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

obgleich er sich mit allen vereint", gleichwohl nur sich selber gehorcht und so frei bleibt wie vorher. Wie schon für Montesquieu, so muß darum auch für Rousseau ein „von Gesetzen regierter Staat" nach seinem organisatorischen Prinzip davon ausgehen, daß „das Volk, das Gesetzen unterworfen ist, auch ihr Urheber sein muß". Da Gesetze nach ihrer materialen Legitimation „eigentlich nur die Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft" sind, unter denen sich Freie und Gleiche ohne Verlust ihrer Freiheit in Gleichheit zusammenschließen, so „liegt es auch nur denen ob, die sich verbinden, die Bedingungen der Vereinigung zu regeln" 23 . Ihre formale Legitimation setzt so die Urheberschaft aller Bürger, die einer solchen Herrschaft des Gesetzes unterworfen sind, im Grundsatz voraus, so sehr dieses organisatorische Prinzip sich in einer realen Demokratie auch Einschränkungen und Abstriche gefallen lassen muß. Wie sie schon Montesquieu, anders als Rousseau, zumindest für alle „großen Staaten" für unabweislich hält, wozu es bei ihm, von denselben Voraussetzungen aus, kurz und bündig heißt: „In einem freien Staat soll jeder Mensch, dem man eine freie Seele zugesteht, durch sich selbst regiert werden: daher müßte das Volk als Gesamtkörper die legislative Befugnis innehaben. Da dies in den großen Staaten unmöglich ist und in den kleinen Staaten vielen Nachteilen unterliegt, ist das Volk genötigt, all das, was es nicht selbst machen kann, durch seine Repräsentanten machen zu lassen." Diese „Repräsentanten sind in der Lage, die Angelegenheiten zu erörtern. Das ist ihr großer Vorteil. Das Volk ist dazu durchaus nicht geeignet. Das ist eines der großen Gebrechen der Demokratie" 24 . Dennoch bleibt, bei aller notwendigen Anpassung der Organisation einer Demokratie an die gegebene Realität, das Prinzip einer solchen formalen Legitimation unaufgebbar. Auch wenn es sich unter den gegebenen Umständen einer sog. Massendemokratie nurmehr in einem „Repräsentativsystem" verwirklichen läßt. Auch in ihm bleibt der ursprüngliche Anspruch auf eine Beteiligung Aller an dieser Herrschaft Aller bestehen, die wir Demokratie nennen. Ohne eine Organisation der Demokratie nach dem Prinzip der größtmöglichen und gleichberechtigten Teilhabe und Mitbestimmung aller Bürger reduzierte sich die formale Legitimation einer solchen Herrschaft des Gesetzes aus der Urheberschaft ihrer Bürger zu einer bloßen Fiktion. Ohne eine, entsprechend den gegebenen Umständen jedenfalls größte mögliche und gleich berechtigte Teilhabe zu Mitbestimmung aller Bürger ist jedoch auch die materiale Legitimation einer solchen Herrschaft des Gesetzes aus dem Nutzen der Bürger nicht zu leisten. Setzt diese doch die gesetzgeberische Vermittelung der realen Interessen der existierenden Individuen in einem allgemeinen Willen zum gemeinsamen Nutzen voraus, ohne die eine rationale: formale und materiale Legitimation von Herrschaft von Menschen über und für Menschen nicht gelingen kann.

23

ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 70f u n d S . 92 f.

24

MONTESQUIEU Geist der Gesetze (Fn. 15) S. 215 f.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher D e m o k r a t i e (MAIHOFER)

183

Dieses Prinzip der Rechtmäßigkeit, das sich schon in Rousseaus Lehre vom Gesellschaftsvertrag mit dem Prinzip der Freiheit verbindet, entfaltet, was heute weithin übersehen oder doch vergessen ist, seine grundsätzliche Bedeutung und Wirkung allererst im Blick auf den Zustand einer Gesellschaft, wie er aus solcher Herrschaft des Gesetzes hervorgeht.

3. Das Prinzip der Gleichheit und die Konzeption einer sozialen Demokratie Es ist heute üblich, die Demokratie auf bestimmte konstitutionelle Prinzipien, wie das der Freiheit und der Gleichheit als Voraussetzungen und Zielsetzungen einer Ordnung des Staates, und zugleich auf bestimmte organisatorische Prinzipien, wie das der Mittelbarkeit und der Mehrheit einer solchen Herrschaft des Volkes zu beschränken. Wobei in einer solchen Theorie der Demokratie der Zustand der Gesellschaft allenfalls insoweit in den Blick kommt, als von ihm die Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger etwa als Wahlberechtigte und Stimmbürger abhängt. Verlangt doch das Prinzip der Rechtmäßigkeit und Herrschaft, wie wir sahen, in der Tat eine größtmögliche und gleichberechtigte Teilhabe und Mitbestimmung aller Bürger an ihrer Vereinigung unter Rechtsgesetzen. Nur so wird auch und gerade ein politisches System wie die Demokratie für die ihm Zugehörigen, seinen Gesetzen Unterworfenen, im Prinzip akzeptabel. Diese Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Herrschaft von Menschen über und für Menschen hat aber schon immer auch eine andere Seite, von der die Legitimität einer Demokratie nicht weniger abhängt, als von der Teilhabe und Mitbeteiligung aller Bürger an der politischen Organisation des Staates. Nämlich: von der ebenso größtmöglichen und gleichberechtigten Teilhabe und Mitbeteiligung aller Bürger an den „Vorteilen des gesellschaftlichen Zusammenschlusses", bei ihrer Verteilung im sozialen System der Gesellschaft. Mit anderen Worten: Ob aus dem Gebrauch der Freiheit in einer Vereinigung von Bürgern unter der Herrschaft von Gesetzen auch eine Gleichheit der Wohlfahrt folgt, das setzt nicht zuletzt voraus, daß diese Gesetze selbst den gleichen, angemessenen und verhältnismäßigen Vorteil aller Bürger anstreben und nicht einen Teil der Bürger unangemessen und unverhältnismäßig zugunsten oder zulasten der anderen begünstigen oder benachteiligen. Dies wird immer dann geschehen, wenn in einem solchen „Gemeinwesen" der Gesetz gewordene allgemeine Wille nicht Ausdruck und Werkzeug des „Gemeinwohls" im oben dargestellten Sinne ist, sondern in ihm und mit ihm der „Privatwille" und das „Privatwohl" eines Einzelnen oder einiger Weniger über alle andern in einer Gesellschaft herrscht. Darin liegt für Rousseau das kardinale Problem schon der feudalen Monarchie, daß in ihr der „Privatwille mehr Macht hat und die übrigen Willen leichter zu beherrschen vermag" als in irgend einer anderen. Und so zwar „alles demselben Ziele entgegenschreitet": „allein dieses Ziel ist nicht das allgemeine Wohl" aller Bürger, sondern der „persönliche Vorteil" eines Einzelnen, da die „Fürsten stets dem Satze den Vorzug geben, bei dem sie am ersten auf Nutzen rechnen können", wie

184

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

„Macchiavelli mit größter Klarheit bewiesen hat". Oder wie Rousseau mit Macchiavelli drastisch formuliert: „Die besten Könige begehren böse sein zu können, sobald es ihnen beliebt, ohne deshalb ihrer Macht beraubt werden zu können" 2 5 . Darin aber liegt, wie uns die Folgezeit überdeutlich belehrt hat, nicht minder auch das Kardinalproblem der modernen Demokratie, bis hin zu den Parteiendemokratien unseres heutigen Industriezeitalters. Denn auch in ihr stellt sich dieselbe Frage: ob die Herrschaft des Gesetzes eine solche zum Nutzen aller Bürger ist, ob also der tatsächliche Nutzen, den einzelne Bürger aus dem gesellschaftlichen Zusammenschluß ziehen, dem Prinzip der Gleichheit entspricht oder widerspricht. Gehört doch zum unaufgebbaren Grundprinzip der Demokratie, daß die durch sie hergestellte Gleichheit der Rechte nicht durch den „Lauf der Dinge" in der Wirklichkeit der Gesellschaft in ihr Gegenteil verkehrt wird. Das heißt schon für Rousseau nicht, daß solche Gleichheit verlange, „daß alle eine durchaus gleich große Kraft und einen genau ebenso großen Reichtum" besitzen. Aber es heißt für ihn, wie für uns heute: „daß kein Staatsbürger so reich sein darf, um sich einen anderen kaufen zu können, noch so arm, um sich verkaufen zum müssen" 2 6 . Deshalb bezieht sich für ihn die Frage, zu welchen „Gunsten" sich die „öffentliche Gewalt", zu wessen „Nutzen" sich der „gesellschaftliche Zusammenschluß" auswirkt auf einen „Umstand, den man als ersten berücksichtigen müßte". Folglich besteht für ihn auch „eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung darin, einer übermäßigen Ungleichverteilung der Güter vorzubeugen, nicht indem sie den Reichen ihren Besitz entzieht, sondern allen die Mittel nimmt, Reichtum anzuhäufen; nicht indem sie Armenhäuser baut, sondern die Bürger vor Verarmung bewahrt" 2 7 . Für Rousseau macht es darum geradezu „die wahre Wirksamkeit eines Staates aus", wie er sagt: „allmählich alle Vermögen jener Ausgewogenheit" anzunähern, in der nicht nur eine scheinbare, sondern eine wirkliche Gleichheit der Wohlfahrt aller Bürger herrscht. Denn ist der „Zweck der politischen Vereinigung" nichts anderes „als die Erhaltung und Wohlfahrt ihrer Glieder", dann hängt die Rechtmäßigkeit der Herrschaft von Menschen über und für Menschen nicht zuletzt davon ab, welchen Zustand der Gesellschaft sie unter solcher Herrschaft des Gesetzes herbeiführt 2 8 . Auch und gerade für eine Regierung der Demokratie muß gelten, was Rousseau zu seiner Zeit im Blick auf die Monarchie feststellt: „Unter schlechten Regierungen ist diese Gleichheit nur scheinbar und trügerisch; sie dient nur dazu, den Armen in seinem Elend und den Reichen in seinem widerrechtlich erlangten Besitz zu erhalten. 25

ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 11 Off; w o z u es mit einer erstaunlichen Wendung, in der sich das ganze Verhältnis Rousseaus zu Macchiavelli offenbart, abschließend heißt: Indem sich Macchiavelli „den Anschein gab, als ob er den Königen Lehren erteilen wollte, gab er den Völkern die aller-

26 27

28

wichtigsten. Macchiavellis ,Fürst' ist das Buch der Republikaner". ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 87. ROUSSEAU Politische Ökonomie (Fn. 13) S. 95 und S. 65; Hervorhebung von mir. Vgl. ROUSSEAU Politische Ökonomie (Fn. 13) S. 109; und Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 126.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie

(MAIHOFER)

185

In Wahrheit sind die Gesetze immer nur für diejenigen wohltätig, die etwas besitzen, und den Besitzlosen schädlich, woraus folgt, daß den Menschen der gesellschaftliche Zustand nur solange vorteilhaft ist, als jeder etwas und keiner zuviel hat" 2 9 . Daß eine solche „übermäßige Ungleichverteilung der Güter" ständig droht, damals wie heute, hat nicht nur damit zu tun, daß es „großer Unsinn wäre zu hoffen", wie Rousseau mit Macchiavelli sagt: „daß die, welche faktisch die Herrschenden sind, ein anderes Interesse dem ihrigen vorzögen." Es hat auch unter einer demokratischen Regierung damit zu tun, daß die Realität in sich seihst eine Tendenz hat, die, wenn man ihr nur ihren freien Lauf läßt, den Reichen unverhältnismäßig begünstigt, den Armen umgekehrt benachteiligt. „Das Geld ist die Saat des Geldes und die erste Mark ist meistens schwieriger zu verdienen als die zweite Million. Mehr noch: Was auch der Arme bezahlt, geht ihm immer verloren und verbleibt oder kehrt wieder in den Händen der Reichen" heißt es dazu auch bei Rousseau in seinem Enzyklopaedieartikel über die Politische Ökonomie 30 . In ihr findet sich an eben dieser Stelle auch die drastische Karrikatur des sozialen Kontraktes wie er zu einer Zeit der feudalen Gesellschaft, aber auch in der folgenden Zeit der kapitalistischen Gesellschaft unter ähnlichen Vorzeichen bestand. „Fassen wir (so sagt er) in wenigen Worten den Sozialvertrag" zwischen Reichen und Armen zusammen: „Ihr seid auf mich angewiesen, denn ich bin reich und ihr seid arm. Schließen wir also ein Abkommen miteinander: Ich werde euch die Ehre gewähren, mir zu dienen unter der Bedingung, daß ihr mir das wenige gebt, was euch bleibt, für die Mühe, die ich auf mich nehme, euch zu befehlen." Demgegenüber ist der Sozialkontrakt oder Basiskonsens wie er einer Demokratie zugrunde liegt, die mit dem Prinzip der Freiheit wie dem Prinzip der Gleichheit als ihren Voraussetzungen gleichermaßen Ernst macht, von der genau entgegengesetzten Zielsetzung eines ständigen Ausgleichs aller unverhältnismäßigen Ungleichgewichte der Macht aber auch der Vorteile bestimmt, aus denen nicht nur die Verknechtung, sondern auch die Ausbeutung des Einen durch den Andern, oder gar der einen Klasse durch die andere Klasse in einer Gesellschaft droht, die das politische System insgesamt für die in ihm Übervorteilten und Benachteiligten prinzipiell inakzeptabel macht. Auch die politische Organisation einer Demokratie, deren öffentliche Gewalten oder staatliche Gesetze diesem Trend der Realität zur gesellschaftlichen Ungleichheit nicht durch einen ständigen Ausgleich entgegenwirken oder ihn gar begünstigen. Deshalb schließt Rousseau seine Betrachtung zur Gleichheit mit der für seine Zeit wie die unsere gültigen Forderung: „Diese Gleichheit halten nun einige für eine politische Träumerei, die nicht in der Praxis existieren könne. Wenn jedoch der Mißbrauch unvermeidlich ist, folgt daraus, daß man ihn nicht wenigstens einschränken muß? Weil der Lauf der Dinge stets auf die Zerstörung der Gleichheit ausgeht, deshalb muß gerade die Kraft der Gesetzgebung stets auf ihre Erhaltung ausgehen" 31 .

29

ROUSSEAU

Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 53

Anm. 4. 30

ROUSSEAU

37 und 99.

Politische Ökonomie (Fn. 13) S.

31

Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 88; Hervorhebungen von mir.

ROUSSEAU

186

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Diese zugleich egalitäre und evolutionäre Konzeption der Demokratie auch in bezug auf die Gleichheit der Wohlfahrt der Bürger in einer Gesellschaft ist auch noch die unsere. Sie ist zu erreichen nur durch eine Gleichheit der Beteiligung eben dieser Bürger mit ihren realen Interessen an der politischen Organisation des Staates, der allein aus dem „gemeinsamen Interesse", in dem diese verschiedenen Interessen übereinstimmen oder doch sich vereinbaren lassen, regiert werden kann und soll, und nichts sonst. Die Krise der Demokratie, in die sie mit dem Heraufkommen des Industriekapitalismus aus liberalem Mißverständnis geraten ist, ist mit eine Folge davon, daß diese Seite der Demokratie, die für Rousseau noch im Zentrum steht, in der nachfolgenden Theorie und Praxis in fast völlige Vergessenheit geraten ist. Und daß so erst die sozialistische Bewegung eben diese Fragestellung in ihr zugleich egalitäres und revolutionäres Konzept wieder aufnimmt, welche in der Demokratie nach ihrem eigenen ursprünglichen Anspruch unerledigt und unerfüllt geblieben ist. 4. Das Prinzip der Gewaltenteilung und das Problem einer Perversion der Demokratie in den Despotismus Aller In ähnlicher Weitsicht über den Horizont der damals beginnenden Epoche hinaus hat schon Montesquieu das andere zentrale Problem der modernen Demokratie erkannt und bedacht, das in der nachfolgenden Zeit zum Angelpunkt jener ganz anderen Krise der Demokratie wird, wie sie in der französischen Revolution sich offenbart. Sie entsteht nicht aus dem Problem der Legitimation von Herrschaft, das Rousseau als zentrales Thema beschäftigt, sondern aus dem Problem der Kontrolle von Herrschaft, das auch und gerade in einer Demokratie nach ihrem eigenen Prinzip: einer Herrschaft Aller über Alle, des ganzen Volkes über das ganze Volk, in ganz anderem Umfang und Ausmaß sich stellt, als in irgend einer anderen Form der Regierung von Menschen über Menschen. Montesquieu gilt heute fast ausschließlich als der Denker, der in die moderne Demokratie den Gedanken der Gewaltenteilung eingebracht hat, somit als ein Antipode zu Rousseau. Weithin vergessen ist, daß wir Montesquieu eine erstmalige Herausarbeitung des Prinzips der Demokratie aus dem Geist der Gleichheit verdanken, dessen rigorose Konsequenz selbst Rousseau nicht aufzunehmen gewagt hat. Auch Montesquieu geht zunächst, der aristotelischen Tradition folgend, von drei möglichen Regierungsformen aus: der Demokratie, der Aristokratie und der Monarchie. Er sieht diese jedoch nicht mehr nur nach der klassischen Konzeption als verschiedene Formen der Regierung, in denen das Volk, die Besten oder ein Einzelner Träger der Herrschaft ist, sondern er sieht sie nach ihrem ,,Regierungsprinzip" auf einen je verschiedenen „Geist (ésprit général)" gegründet, der sich auch im Geist eines solchen Staates ausdrückt und im „Geist seiner Gesetze" wiederkehrt: die Tugend, die Selbstzucht, die Ehre 32 .

32

Geist der Gesetze (Fn. 15) S. 117ff; als „Gesetze" bezeichnet Montes-

MONTESQUIEU

quieu „die notwendigen Bezüge, wie sie sich aus der Natur der Dinge ergeben", als

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie

(MAIHOFER)

187

Eine Demokratie hat nach der Einsicht Montesquieus als ein „Volksstaat" ganz anders als die übrigen Regierungsprinzipien „Tugend nötig" als eine „zusätzliche Triebkraft". Denn in ihr herrscht nicht ein Einziger oder einige Wenige über das Volk, dem sie, selbst „über den Gesetzen stehend", „seine" Gesetze geben, und so als Herren über die Anderen auch ihren Gehorsam gegen diese „ihre" Gesetze erzwingen können 3 3 . Ganz anders in der Demokratie, in der das Volk sich zum Herren über sich Selbst macht. Und so keinen fremden Herren mehr über sich hat, sondern sein eigener Herr bleibt. Der so auch, wo er sich Gesetze gibt, durch sie nur sich Selbst zum Herren hat. Mit anderen Worten: die Autorität, die in einer Demokratie den Gehorsam des Volkes gegenüber seinen Gesetzen erzwingen kann, ist keine ihm auferlegte fremde, der es unterworfen ist, sondern eine vom Volke selbst seinem Staat verliehene eigene. Denn: nicht Fremdherrschaft und Fremdbeherrschung ist so, im Unterschied zu den anderen Regierungsformen, das Prinzip der Demokratie, sondern Selbstherrschaft und Selbstbeherrschung. Das aber hat zur Konsequenz, daß in einem solchen Staat, in dem nach seinem Prinzip Alle über sich Selbst herrschen und sich Selbst die Gesetze geben, nicht die Autorität eines fremden Herrn, sondern die Autorität des eigenen Gesetzes über allem stehen muß. Eben zu dieser Achtung und Beachtung der für alle Bürger gleichen Gesetze im eigenen Staat bedarf es für Montesquieu dessen, was er die „Kraft der Tugend" aus dem „Geist der Gleichheit" nennt. Wenn darum in einer „Volksregierung" diese „Tugend schwindet" und man nicht mehr „mit den Gesetzen frei" sein, sondern „gegen die Gesetze frei sein will", die Gesetze also „zu herrschen aufhören, ist der Staat bereits verloren". Folglich wird diese „Tugend der Bürger" aus dem „Geist der Gleichheit" zum eigentlichen Fundament der Demokratie, mit dem diese steht und fällt, und so auch die Erziehung der Bürger in einem solchen „Bürgerstaat" zu dieser Tugend der Gleichheit zum zentralen Thema dessen, was wir heute politische Bildung in einer Demokratie nennen. Diese „Tugend im Bürgerstaat", auf der für Montesquieu vor allem anderen Demokratie basiert, fordert darum zunächst „Liebe zu den Gesetzen", ohne die ein Staat der Bürger nicht bestehen kann. Und mit der er nur entstehen kann, wenn in ihm eben dieser Geist der Gleichheit herrscht, der sich in gegenseitig und allseitig verbindlichen Gesetzen ausspricht, die von allen Freien und Gleichen, den gleichen freien Gehorsam gegen die eigenen Gesetze verlangt. Die eben dadurch in einer Demokratie Achtung verdienen, weil in einer solchen zur Selbstherrschaft und Selbstbeherrschung errichteten Herrschaft des Gesetzes selbst der Geist der Gleichheit herrscht, ohne alle die früheren Privilegierungen oder Diskriminierungen, die

„Geist der Gesetze" die „verschiedenartigen Bezüge, in denen die Gesetze zu den verschiedensten Dingen stehen können", so die „Bezüge der Gesetze" zum „Prinzip jeglicher Regierung"; „dieses Prinzip hat auf die

33

Gesetze den letztlich bestimmenden Einfluß" (S. 95f). Vgl. im besonderen M O N T E S Q U I E U Geist der Gesetze (Fn. 15) S. 118 f und zum folgenden S. 210.

188

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

den „Geist der Gesetze" der anderen Regierungsformen ausmacht, aus dem „Geist der Ungleichheit", der den „Geist der Gesetze" der anderen Regierungsformen bestimmt. Deshalb kann Montesquieu von der „politischen Freiheit" in einer Demokratie unter einer solchen Herrschaft des Gesetzes aus dem Geiste der Gleichheit auch sagen: „Es stimmt, daß in den Demokratien das Volk scheinbar machen kann, was es will. Jedoch bedeutet politische Freiheit nicht, daß man machen kann, was man will." Man muß sich vielmehr „vor Augen halten, was Unabhängigkeit ist und was Freiheit ist. Freiheit ist das Recht, all das zu machen, was die Gesetze gestatten. Wenn ein Staatsbürger machen könnte, was sie untersagen, so gäbe es keine Freiheit mehr, denn die andren hätten diese Möglichkeit dann ja ebensogut." Diese Tugend der Gleichheit, die in einem Bürgerstaat „nötig ist", weil sonst diese „Regierungsform nicht ganz realisiert" werden kann, ist jedoch schon für Montesquieu nicht einfach nur „Liebe zu den Gesetzen", in denen sich in einer Demokratie der „Geist der Gleichheit" als ihr „Geist der Gesetze" ausdrückt. „Liebe zur Demokratie bedeutet Liebe zur Gleichheit" heißt seine Antwort auf die Frage: „Was die Liebe zur Republik in der Demokratie bedeutet" 34 . Das aber heißt nunmehr auch im Bezug auf den Zustand der Gesellschaft, daß in einer Demokratie die Tugend der Gleichheit vom Bürger verlangt, sich mit den gleichen Vorteilen zu begnügen, die auch alle anderen haben können, die gleichen Ansprüche zu stellen, die auch alle anderen stellen können. Montesquieu benennt diese Tugend des Bürgers, auf die eine Demokratie bauen muß und ohne die sich dieses Regierungsprinzip „nicht ganz realisieren" läßt, mit einem in der Übersetzung eher befremdenden Wort: die „Liebe zur Genügsamkeit", d. h. sich mit dem Gleichen wie alle Anderen genügen zu lassen. In der Tat liegt hier, wie uns auch die Gegenwart belehrt, ein fundamentales Problem, das uns auch im heute sog. „Anspruchsdenken" begegnet, wo es unangemessen und unverhältnismäßig auf Kosten und zu Lasten Anderer Vorteile beansprucht, die es Andern nicht zugesteht und so Ansprüche stellt, die es Andern in vergleichbarer Rolle und Lage verweigert. So wie schon liberale Demokratie im Bezug auf die Gesetze des Staates ohne den „Geist der Gleichheit" als „Geist der Gesetze" und so die „Tugend der Gleichheit" von Demokraten als Gesetzgeber nicht realisierbar ist, so auch eine soziale Demokratie im Bezug auf den Zustand der Gesellschaft nicht ohne Demokraten als Gesellschaftsglieder, in denen und unter denen der „Geist der Gleichheit" herrscht, in ihrem Verhältnis und Verhalten zueinander. Von ihm sagt Montesquieu damals so gültig wie heute: Da in einer Demokratie „jedermann das gleiche Wohlergehen und die gleichen Vorteile finden soll, soll er auch die gleichen Annehmlichkeiten genießen und die gleichen Erwartungen hegen" 35 . Rousseau, der andere große Theoretiker der modernen Demokratie, ist für seine eigene Theorie der Demokratie zwar Montesquieus Bestimmung dieser Regierungs-

34

MONTESQUIEU Geist der Gesetze (Fn. 15) S. 129 und 139; Hervorhebung von mir.

35

MONTESQUIEU Geist der Gesetze (Fn. 15) S. 139.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

189

form aus dem Prinzip der Gleichheit gefolgt, aber er setzt sich an eben diesem entscheidenden Punkte, auf den bei Montesquieu alles ankommt, mit der erstaunlichen Wendung ab: „Aus diesem Grunde hat ein berühmter Schriftsteller die Tugend für das Prinzip der Republik erklärt: denn ohne die Tugend könnten alle die angegebenen Bedingungen nicht bestehen". Dieser „große Geist hat nicht eingesehen, daß die oberherrliche Gewalt überall dieselbe ist und folglich in allen wohlorganisierten Staaten das Prinzip mehr oder weniger, je nach Regierungsform, das gleiche ist" 3 6 . Das aber heißt: daß es nicht einen je verschiedenen „Geist" (ésprit général) und darum ein jeweils unterschiedliches „Prinzip" der Regierung in den verschiedenen Regierungsformen gibt, sondern in ihnen allen derselbe „Geist" herrschen und von der Regierung zum „Prinzip" ihrer Herrschaft von Menschen über Menschen gemacht werden muß: das Prinzip der Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaft durch den Gesetz gewordenen allgemeinen Willen (volonté générale) zum gemeinsamen Nutzen. Eben in der Verwirklichung dieses Prinzips einer jeden rechtmäßigen Regierung sieht Rousseau in der Demokratie das Problem, das er mit einer Herrschaft der Tugend im Geiste der Gleichheit nicht für lösbar hält. Rousseaus Argumente zeigen in äußerster Zuspitzung eine Frage auf, die auch noch die unsere ist. Auch Rousseau gilt in seiner Theorie die Demokratie als das Ideal einer Regierung von Menschen über und für Menschen: „Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht". Den entscheidenden Grund sieht er darin, daß in einer Demokratie eben diese Gleichheit, die er wie Montesquieu für ihr eigentümliches Prinzip hält, nicht wirklich verwirklicht werden kann. Denn: solche Gleichheit der Herrschaft und Herrschaft der Gleichheit eines sich Selbst regierenden und durch sich Selbst regierten Volkes könnte sich, als Herrschaft durch das Volk als seinen Träger nach dem Grundsatz der Gleichheit, und als Herrschaft für das Volk nach dem Maßstab der Gleichheit, nur verwirklichen, wenn in beiden Hinsichten Gleichheit tatsächlich voraussetzbar und wirklich erreichbar wäre. Dies aber hält Rousseau in beiden Hinsichten für unmöglich. Deshalb erklärt er schon zu dieser ersten Voraussetzung und Zielsetzung einer Herrschaft durch Alle für Alle: „Wenn man das Wort in der ganzen Strenge seiner Bedeutung nimmt, so hat es noch nie eine wahre Demokratie gegeben und wird es auch nie geben. Es verstößt gegen die natürliche Ordnung, daß die größere Zahl regiere und die kleinere regiert werde. Es ist nicht denkbar, daß das Volk unaufhörlich versammelt bleibe, um sich den Regierungsgeschäften zu widmen, und es ist leicht ersichtlich, daß es hierzu keine Ausschüsse einsetzen kann, ohne die Form der Verwaltung zu ändern". Rousseau fordert damit also nicht, wie die Rousseauisten gerne bis heute aus ihrem Rousseau herauslesen, im grundsätzlichen Unterschied zu Montesquieu, eine

36

Vgl. dazu und zum folgenden ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 104 ff.

190

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

verfassungsmäßige Ordnung der direkten Demokratie. Er erklärt eben sie, im Gegenteil, unter Menschen in Reinheit für unverwirklichbar, schon in dieser ersten Hinsicht. Eine solche Regierung nicht nur durch das Volk, sondern auch für das Volk nach dem Prinzip der Gleichheit setzte zugleich aber auch eine „fast vollkommene Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen" voraus, „ohne die auch die Gleichheit der Rechte und der Macht keinen langen Bestand haben könnte". Rousseau fordert darum auch nicht, in grundsätzlichem Unterschied zu Montesquieu, eine gesellschaftliche Ordnung der egalitären Demokratie. Er erklärt im Gegenteil auch sie unter Menschen in Reinheit für unerreichbar. Rousseau hält damit jedoch nicht nur das Prinzip der Gleichheit in einer „bloßen Demokratie" für unverwirklichbar. Es wird für ihn ebenso die Verwirklichung des Prinzips der Freiheit in einer solchen Demokratie fraglich, „weil die Freiheit ohne die Gleichheit nicht bestehen kann", wie Rousseau mit unmißverständlicher Klarheit von den „zwei Hauptgegenständen" sagt, auf die der „Zweck eines jeden Systems der Gesetzgebung": „das höchste Wohl aller", „hinausläuft, Freiheit und Gleichheit" 37 . Womit auch die Legitimation einer Regierung aus dem Prinzip der Rechtmäßigkeit in Frage gestellt ist, die, wie wir sahen, allein im Prinzip der Freiheit ihren Ursprung und Urgrund haben kann. Aus dieser Unerreichbarkeit der Gleichheit in einer „bloßen Demokratie" zieht Rousseau darum die entscheidende Schlußfolgerung: Also muß durch eine gemischte Verfassung die Demokratie, wie auf ihre Weise auch jede andere der Regierungsformen, mit einer politischen Konstitution verbunden werden, die zwei prinzipielle Optionen enthält. Einmal die materiale Option für das Prinzip der Rechtmäßigkeit: also eine Regierungsform zu sein, „in der alles den gemeinsamen Nutzen bezweckt". Zum andern die damit notwendig verbundene formale Option für das Prinzip der Gesetzmäßigkeit: „eine vom allgemeinen Willen, d.h. vom Gesetz geleitete Regierung" zu sein 38 . Rousseau nennt diesen auf das Prinzip der Freiheit gegründeten Staat einen ,,Freistaat": eine Republik, wie nach ihm noch Kant und Hegel in demselben Sinne 39 . Nicht als Ausdruck einer politischen Option dieses Staates für diesen oder jenen Träger der Staatsgewalt: König oder Volk. Sondern als Ausdruck jener ganz anderen prinzipiellen Option für eine vom Prinzip der Freiheit ausgehende Regierung des Volkes nach dem Prinzip der Rechtmäßigkeit: also durch den zum Gesetz gewordenen allgemeinen Willen zum Zwecke des gemeinsamen Nutzens. Woraus da eine „rechtmäßige oder volksnahe Regierung" entsteht, wo Regierung und Volk nicht

37 38

39

ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 87. Vgl. dazu auch ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 120 und 71 Anm. 9; Hervorhebungen von mir. D a r u m kann ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 71 f auch erklären: „Republik nenne ich deshalb jeden von Gesetzen regierten

Staat", und zugleich: „ J e d e rechtmäßige Regierung ist republikanisch"; er kann sogar sagen: „ D i e Regierung darf, um rechtmäßig zu sein, nicht mit dem Staatsoberhaupte (dem Volk) zusammenfallen, sondern muß die Dienerin desselben sein; dann ist sogar die Monarchie selbst Republik".

1. A b s c h n i t t . P r i n z i p i e n freiheitlicher D e m o k r a t i e (MAIHOFER)

191

„verschiedene Interessen und demgemäß gegensätzliche Willen haben", sondern wo „zwischen Volk und Regierenden Interessen- und Willenseinheit besteht" 4 0 . Damit vollzieht Rousseau nicht eine Abkehr vom Prinzip Demokratie: dem Prinzip der Gleichheit. Wohl aber ergänzt er und berichtigt er die „bloße Demokratie" aus solchem „Geiste der Gleichheit" durch ihre Einbringung in eine gemischte Verfassung unter dem Vorzeichen und Vorrang des Prinzips der Freiheit, aus dem sich allein, wie wir sahen, eine Rechtmäßigkeit der Herrschaft von Menschen über Menschen begründen und rechtfertigen läßt, die für eine Vereinigung von Freien und Gleichen unter allgemeinen Gesetzen der gleichen Freiheit im Prinzip akzeptabel ist. Unter diesem Anspruch einer Legitimation aus dem Prinzip der Freiheit: aus dem „allgemeinen Willen" zum „gemeinsamen N u t z e n " der als Freie und Gleiche in einem Staate unter Gesetzen vereinigten Bürger, steht auch für uns heute der Bürgerstaat, den wir Demokratie nennen. In ihm wirkt unverändert und unvermindert jene Fragestellung fort, die mit Rousseau in den Mittelpunkt des Rechts- und Staatsdenkens unserer Epoche der Moderne tritt: die nach den stets neu zu bedenkenden und zu vereinbarenden Bedingungen der Rechtmäßigkeit einer Herrschaft von Menschen über Menschen, die Rousseau die stillschweigend vorausgesetzten „Klauseln des Gesellschaftsvertrages" genannt hat und die wir heute den Grundkonsens der Demokraten nennen, auf den sich unsere Demokratie gründet. Auf dessen Voraussetzungen und Zielsetzungen wir neu heute zurückkommen mit dem, was wir als Grundwertediskussion zu bezeichnen pflegen; über dieselben Werte und ihr Verhältnis, denen wir hier schon im ersten Ansatz der Theorie der Demokratie unserer Epoche der Moderne begegnen 4 1 . Und deren unabdingbaren und unveränderbaren Bestand wir heute durch die Verfassung unserer konstitutionellen Demokratie festzuschreiben suchen. Aus der durch die nachfolgenden Erfahrungen erhärteten Einsicht, die sich schon in Rousseaus Theorie der Demokratie findet: daß keine Regierung in so hohem Grade „inneren Erschütterungen ausgesetzt ist als die demokratische oder Volksregierung, weil keine andere so heftig und so unaufhörlich nach Veränderung der Form strebt und keine mehr Wachsamkeit und Mut zur Aufrechterhaltung ihrer bestehenden Form verlangt" 4 2 . Weshalb Rousseau schon den Verfassungsvätern seiner Heimatstadt in seinen „Briefen vom Berge" als „Bürger von G e n f " den ungebetenen Rat erteilt: „Seitdem die Verfassung eures Staates eine feste und beständige Form erhalten hat, sind eure Aufgaben als Gesetzgeber beendet. Die Sicherheit des Gebäudes erfordert nun, daß man seiner Zerstörung so viele Hindernisse entgegensetzt als man vorher Erleichterungen brauchte, um es zu errichten" 4 3 . Dieses Werk der Zerstörung im Gebäude eines Staates kann aber noch auf eine ganz andere Weise geschehen, als dadurch, daß die Rechtmäßigkeit einer Herrschaft 40

ROUSSEAU

Politische

Ökonomie

( F n . 13)

42

S. 39. 41

V g l . d a z u W . MAIHOFER G r u n d w e r t e h e u t e in S t a a t u n d G e s e l l s c h a f t , in: G r u n d w e r t e in Staat u n d Gesellschaft, herausgegeben G . G o r s c h e n e k , 1977, S. 8 8 f f .

ROUSSEAU

Gesellschaftsvertrag

( F n . 8)

S. 106.

von

43

ROUSSEAU S. 4 5 1 .

Politische

Schriften

( F n . 10)

192

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

zerbricht, weil der ungeschriebene Grundkonsens auf dem sie beruht zerfällt, und auch durch eine geschriebene Verfassung nicht mehr festgeschrieben und sichergestellt werden kann. Dieses Gebäude eines Staates kann auch von innen heraus erschüttert oder gar zum Einsturz gebracht werden durch den Machtmißbrauch einer Herrschaft von Seiten der jeweiligen Träger der Staatsgewalt. Dadurch droht auch und gerade der Demokratie, in der das ganze Volk Träger der Herrschaft ist und so auch das ganze Volk zum Machtmißbrauch der Staatsgewalt befähigt ist, die doch allein von ihm ausgeht, die Perversion in die Despotie, wie schon Montesquieu in seiner Theorie der Demokratie mit einer unerbittlichen, von Rousseau übersehenen oder doch unterschätzten Folgerichtigkeit dargetan hat, die über zwei Jahrhunderte hinweg dann als bittere Wahrheit sich bestätigt hat. Montesquieu geht, wie wir sahen, von der Voraussetzung aus, daß jede der Regierungsformen: die Demokratie, die Aristokratie wie die Monarchie nur realisiert werden kann, wenn der ihrem „Regierungsprinzip" entsprechende Geist: der Tugend, der Selbstzucht und der Ehre in ihr herrscht. In jeder dieser Regierungsformen droht darum bei Verfall solches Geistes die Entartung in eine als Gewalt- und Willkürherrschaft beschriebene Despotie, deren „Geist" er als den des Terrors bezeichnet. Auch die Demokratie entartet so in die Despotie eines Terrorregiments, wenn dieser ihr Geist verfällt, der ihre Tugend ausmacht, und den Montesquieu wie wir sahen als den „Geist der Gleichheit" bezeichnet. Wozu es bei ihm über seine Zeit hinausweisend heißt: „Das Prinzip der Demokratie entartet nicht allein, wenn der Geist der Gleichheit abhanden kommt, sondern auch wenn der Geist übertriebener Gleichheit einreißt. Jeder will dann denen gleich sein, die er zum Befehlen gewählt hat. Von da an vermag das Volk die Macht, die es verleiht, selbst nicht mehr zu ertragen; es will alles selber machen" 44 . Damit aber stellt sich folgerichtig auch für die Demokratie, wie auch für jede andere dieser „Regierungsformen", die entscheidende Frage, wie durch eine „gemäßigte Verfassung" die sonst drohende Perversion in den Terror einer Despotie zu verhindern ist. Seine Antwort, die er auf diese Frage zuletzt nach seinem Englandaufenthalt im XI. Buche des „Geistes der Gesetze" entwickelt: durch eine gewaltenteilende Verfassung45. Denn die Demokratie ist, sowenig wie die anderen Regierungsformen, ein „freier Staat": ein Freistaat auf „Grund seiner Natur". Die „politische Freiheit" ist darum „nur unter maßvollen Regierungen anzutreffen. Indes besteht sie selbst in maßvollen Staaten nicht immer, sondern nur dann, wenn man die Macht nicht mißbraucht. Eine ewige Erfahrung lehrt jedoch, daß jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt. Wer hätte das gedacht: Sogar die Tugend hat Grenzen nötig". Daraus zieht Montesquieu die Folgerung: „Damit die Macht nicht mißbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, daß die 44

MONTESQUIEU Geist der Gesetze (Fn. 15) S. 180; Hervorhebungen von mir.

4S

MONTESQUIEU Geist der Gesetze (Fn. 15) S. 2 1 1 ; Hervorhebungen von mir.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

193

Macht die Macht bremse. Ein Staat kann so aufgebaut werden, daß niemand gezwungen ist etwas zu tun, wozu er nach dem Gesetz nicht verpflichtet ist, und niemand gezwungen ist, etwas zu unterlassen, was das Gesetz gestattet". Diese Anordnung der Dinge beim Aufbau des Staates, durch die die Macht die Macht zu bremsen vermag, ist die verfassungsmäßige Gewaltenteilung. Ohne sie ist politische Freiheit nicht möglich. Sobald in ein und derselben Person „die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden ist, gibt es keine Freiheit". Freiheit aber „gibt es auch nicht, wenn die richterliche Befugnis nicht von der legislativen und von der exekutiven Befugnis geschieden wird". Denn: „Wenn jene mit der legislativen Befugnis gekoppelt wäre", wäre „der Richter Gesetzgeber". „Wenn jene mit der exekutiven Gewalt gekoppelt wäre", hätte „der Richter die Zwangsgewalt eines Unterdrückers". Deshalb wäre für Montesquieu überhaupt „alles verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft" alle „drei Machtvollkommenheiten ausübte". Dann hätte „die gleiche Beamtenschaft als Ausführer der Gesetze alle Befugnisse, die sie sich als Gesetzgeber selber verliehen hat". Sie vermöchte also nicht nur „den Staat durch ihren Gemeinwillen (volontés générales!) zu verheeren", sie vermöchte auch „jeden Bürger durch ihre Sonderbeschlüsse zugrunde zu richten", „da sie auch noch die richterliche Gewalt innehat" 46 . Der Begriff, den Montesquieu für diese Sache hat, heißt Despotie. Sie ist für ihn nicht nur die Verfallsform jeder der drei Regierungsformen, sondern zugleich eine neben Demokratie, Aristokratie und Monarchie eigenständige und unabgeleitete vierte Regierungsform, der wir in der Welt überall da begegnen, wo im Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten der Terror zum Prinzip wird, wie ihm dies zu seiner Zeit am „Asiatischen Despotismus" anschaulich wird. Montesquieus Theorie der Demokratie ist somit aus diesem Gegenbild eines „Despotismus aller" entwickelt, wie er ohne verfassungsmäßige Gewaltenteilung auch in einer Demokratie droht und in der zweiten Phase der französischen Revolution auch tatsächlich geschichtsmächtig geworden ist. In dieser Gefahr des Verfalls auch und gerade einer „Tugendherrschaft" der Demokratie in die „Schreckensherrschaft" einer Despotie, die wir heute „Gewalt- und Willkürherrschaft" nennen, liegt das von Montesquieu mit unüberholter Schärfe erkannte Problem der Demokratie. Aber er sieht ebenso auch die andere Gefahr einer Perversion der Demokratie nach der genau umgekehrten Seite. Nicht durch den „Despotismus aller", sondern durch den „Despotismus eines einzelnen", von dem er sagt, daß er nicht nur aus einer Übertreibung des „Geistes der Gleichheit", sondern aus seinem genauen Gegenteil: dem „Geist der Ungleichheit" hervorgeht, der „zur Aristokratie oder zur Ein-MannRegierung führt" 47 . Diesen „zwei Ausartungen", die eine Demokratie und der in ihr herrschende „Geist der Gleichheit" zu vermeiden hat, die einer Übertreibung des „Geistes der Gleichheit", in der „das Volk alles selber machen will", aber auch die eines 46

MONTESQUIEU Geist der Gesetze (Fn. 15) S. 212f.

47

MONTESQUIEU Geist der Gesetze (Fn. 15) S. 182.

194

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Umschlages in den „Geist der Ungleichheit": der Menschenverachtung und Menschenvernichtung, der Menschen aus solchem Ungeist zu Nichtmenschen erklärt und mit dem Prinzip des Terrors gegen sie verfährt, sucht die freiheitliche Demokratie von heute als zugleich konstitutionelle Demokratie durch eine verfassungsmäßige Verpflichtung aller Staatsgewalt auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde als höchster Zweck des Staates und oberste Tugend seiner Bürger für alle Zeiten zu begegnen. In diese freiheitliche Demokratie gehen darum nicht nur die entscheidenden Grundzüge der politischen Konzeption einer liberalen und zugleich sozialen Demokratie mit ein, die sich aus der vollen Erfüllung der Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit im Bezug ebenso auf die Rechtmäßigkeit der Herrschaft der Gesetze wie die Rechtmäßigkeit des Zustandes der Gesellschaft ergeben. Sie macht in ihrer heutigen Ausprägung als konstitutionelle Demokratie sich eben diese von Rousseau erkannte Verpflichtung der Staatsgewalten zur Legitimation ihrer Herrschaft, wie die von Montesquieu vorgesehene Aufteilung der Staatsgewalten zur Kontrolle ihrer Macht zur verfassungsmäßigen Aufgabe. Wie dies zunächst für die erste der beiden Seiten der Sache: die freiheitliche Demokratie, nun in Hinsicht auf die verfassungsmäßigen Voraussetzungen und Zielsetzungen der liberalen und sozialen Demokratie unseres Grundgesetzes aus den gewonnenen Einsichten in deren ideengeschichtliche Grundlagen und geistige Wurzeln im einzelnen weiter verfolgt werden soll.

II. Verfassungsmäßige Voraussetzung und oberste Zielsetzungen der liberalen und sozialen Demokratie des Grundgesetzes Der Begriff der „klassischen Demokratie westlicher Prägung", wie er dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zugrunde liegt, hat seine geschichtlichen Grundlagen und geistigen Wurzeln in der zu Beginn der Epoche der Moderne sich herausbildenden Vereinigung verschiedener, scheinbar widersprechender Prinzipien der Demokratie. Er entsteht aus der gedanklichen Verbindung des schon bei Locke vorgebildeten Prinzips der Volkssouveränität48 mit einer weiter fortgebildeten Lehre vom Gesellschaftsvertrag bei Rousseau einerseits, aus der dieser die Konzeption einer auf das Prinzip der Rechtmäßigkeit gegründeten freiheitlichen liberalen und sozialen Demokratie entwickelt, und des ebenfalls von Locke vorgedachten Prinzips der Volksrepräsentation mit einer weiter ausgebildeten Lehre der Gewaltenteilung bei Montesquieu andererseits, aus der sich die Konzeption einer durch das Prinzip der Gewaltenteilung bestimmten konstitutionellen Demokratie ergibt.

48

LOCKE Zwei Abhandlungen über die Regierung, Ausgabe W . EUCHNER bei Suhrkamp, 1977, insbesondere S. 2 6 0 f f und S. 291 ff; vgl. dazu jetzt die bemerkenswerte Würdigung dieses „ D e n k e n s des politisch siegrei-

chen B ü r g e r t u m s " durch H . KLENNER in seiner Ausgabe von LOCKE Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt, Sozialphilosophische Schriften, bei Reclam, Leipzig, 1980, S. 2 9 5 ff.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

195

Diese bei allen diesen Denkern auf das Prinzip der Freiheit, aber auch das Prinzip der Gleichheit begründete Staatsform der Demokratie wird geschichtsmächtig in der amerikanischen Revolution durch Verbindung mit der Verfassungsgarantie der Menschenrechte und für den europäischen Kontinent durch die daran sich anschließende Verbindung mit den Verfassungspostulaten der Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit der französischen Revolution. Alle diese im heutigen Begriff einer freiheitlichen und konstitutionellen Demokratie sich verbindenden Prinzipien bilden so den Verfassungskontext, von dem wir bei der näheren Bestimmung zunächst der verfassungsmäßigen Voraussetzungen und Zielsetzungen der liberalen und sozialen Demokratie des Grundgesetzes als Verfassung der Menschenwürde und der Menschenrechte und als Ordnung unseres Staates nach den Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit auszugehen haben. 1. Freiheitliche Demokratie als Verfassung der Menschenwürde und der Menschenrechte „(1) Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. (2) Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen" heißt es im Herrenchiemseer Entwurf zu Art. 1 unseres Grundgesetzes49. Darin drückt sich im Einleitungssatz die grundlegende Wende unseres Staatsverständnisses aus, die den Staat des Bonner Grundgesetzes bewußt und gewollt schon in seinem Fundamentalprinzip von allen seinen Vorgängern in der deutschen Geschichte, zumal die der jüngsten Vergangenheit unterscheiden und abheben soll. Mit einer geradezu ,,kopernikanischen Wende" wird erklärt, daß dieser Staat um des Menschen willen da ist und nichts sonst. Nicht mehr wie im früheren Staatsdenken der vergangenen Epoche liegt so im Staate selbst sein Zweck: in einem wie immer gedachten ,,Staatsorganismus" oder gar in einer wie immer begründeten „Staatsraison". Zweck des Staates ist allein der Mensch. Und so der Staat bloßes Mittel zum Zwecke des Menschen. Dieser Zweck: dieses Umwillen, dessentwegen hiernach der Staat da ist, wird im Folgesatz als „die menschliche Persönlichkeit" bezeichnet. Sie wird damit in den Mittelpunkt aller Staatsordnung und Staatstätigkeit gerückt. Um sie geht es im Staat des Grundgesetzes, für sie allein ist er da. Von dieser menschlichen Persönlichkeit wird zugleich ausgesagt, daß ihr eine ,,unantastbare Würde" zukommt und daraus gefolgert: daß die , , ö f f e n t l i c h e Gewalt" in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet ist, diese „Menschenwürde zu achten und zu schützen".

49

Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, herausgegeben vom Verfassungsausschuß der Ministerpräsidenten-

konferenz der westlichen Besatzungszonen, 1948, S. 61.

196

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Besser als in der Endfassung des Artikels 1 unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt", werden hier so in der Ursprungsfassung die einzelnen Gedankenschritte und der gesamte Begründungszusammenhang sichtbar, die am Ende zu einer Staatsverpflichtung auf den Verfassungsgrundsatz der Menschenwürde führen. Mit ihr wird die Menschenwürde zur letzten Voraussetzung: zum Fundament, und die aus ihr gefolgerte Staatsverpflichtung zur höchsten Zielsetzung: zum Prinzip einer freiheitlichen Demokratie erklärt. So klar dieser Zusammenhang erscheint, so unklar bleibt, was diese von den Verfassungsvätern in den Text unseres Grundgesetzes eingebrachte „nicht interpretierte These": von der Menschenwürde des Menschen und ihrer Unantastbarkeit für den Staat eigentlich bedeutet und fordert 5 0 . Diese bewußte Offenheit, was „Menschenwürde" meint und heißt, ist in einem säkularen und pluralen Staat wie dem unseren durch keine noch so „authentische" und „autorisierte Interpretation" unseres Grundgesetzes in endgültige Eindeutigkeit zu verwandeln. Auch nicht durch die des Bundesverfassungsgerichts, das diese „nicht interpretierte These" der Menschenwürde nicht unmittelbar dadurch „interpretiert", daß erklärt wird, was Würde des Menschen ist, sondern mittelbar dadurch, daß diese auf ein Bild des Menschen zurückgeführt wird. Das als „Menschenbild des Grundgesetzes" wie folgt bestimmt wird: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten" 5 1 . Daraus ergeben sich für unseren Zusammenhang zwei Begriffe und ihre Gegensätze, die erhellen können, was danach der Mensch ist und seine Würde. Der Mensch ist hiernach gemeinschaftsbezogene und gemeinschaftsgebundene Person, kein „isoliertes souveränes Individuum"; dessen Würde mit dem Begriff des „Eigenwertes" umschrieben und als die ,,Eigenständigkeit der Person" bezeichnet wird, begabt mit der „Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung", wie es an anderer Stelle heißt 52 . Sicher weisen diese mittelbaren Bestimmungen des Begriffs der Menschenwürde in die richtige Richtung, aber in ihnen bleibt zweierlei weiterhin ungeklärt: wie denn eine Person Eigenwert und Eigenständigkeit haben kann, von der gerade gesagt wird, daß sie kein souveränes Individuum sei; und worin denn dieser doch offenbar aus „Eigenständigkeit" stammende „Eigenwert" seinen Grund hat, aus dem eine Würde des Menschen entspringen und hervorgehen kann, die für andere Menschen unantastbar sein soll. Das wäre doch nur dann zu begründen, wenn diese Würde aus der

50

Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Art. 1 G G und seiner von Theodor Heuss stammenden Auffassung als „nicht interpretierte These": JöR (Fn. 1) S. 48ff.

51 52

BVerfGE 4, 15f; 5, 203; 12, 53 u.a. BVerfGE 5, 203 f.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

197

„Eigenständigkeit" entspringt, aus der sie als ein „Eigenwert" hervorgeht, was jedoch eben die gerade ausdrücklich abgelehnte Souveränität des Individuums voraussetzte? Was aber ist diese denn eigentlich anderes als die gerade zum „Menschenwürdeschutz" viel bemühte Autonomie der Person?53 Würde des Menschen (dignitas humana) ist schon für die Naturrechtslehre ein Schlüsselwort für die Bestimmung der Wesensausstattung des Menschen, wie sie ihm nach der älteren korporativen Naturrechtslehre von Gott im Akt der Schöpfung als seine Ihm: dem Schöpfer gottebenbildliche Wesensnatur eingestiftet ist. Und die so als seine „angeborene Würde" unantastbar ist, weil mit der Antastung eines solchen Geschöpfes Gottes der Schöpfer selbst angetastet wird 54 . Dieser Begriff der Menschenwürde wird zuletzt bei Pufendorf zum Zentralbegriff seiner Naturrechtslehre. Auch er hält noch die ihr zugrundeliegende zugleich „rationale und soziale Natur" des Menschen als eine „Schöpfung göttlichen Willens" für „ewig" und „unveränderlich" 55 . Diese Lehre, daß schon „das Wort Mensch, eine gewisse Würde in seinem Klang hat", geht über John Wise, einen begeisterten Anhänger Pufendorfs und einen „der ersten großen amerikanischen Demokraten und Vater der amerikanischen Demokratie" mit in den Menschenwürdegedanken der Verfassungsväter der amerikanischen Revolution ein und verbindet sich dabei mit dem ganz anderen Ansatz solchen Denkens John Lockes beim „natürlichen Freiheitsrecht des Eigentums", das mit Gut und Besitz auch Leib und Leben als „angeborenes Menschenrecht" mit umfaßt. Diese Begründung der Würde des Menschen und ihrer Unantastbarkeit aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen wirkt auch heute noch fort. Sie ist eine Sache des Glaubens und nicht des Wissens. Darum nur für den verbindlich und verpflichtend, der diesen Glauben teilt. In dessen Namen jedoch dennoch, wie die Geschichte lehrt, eben diese Menschenwürde, jedenfalls der Heiden, der Ketzer, ja ganz einfach der Andersgläubigen Hunderttausendfach mißachtet und zernichtet worden ist. Weshalb schon Hans Welzel seine Erörterungen zur Menschenwürde in die Worte zusammenfaßt: „Schief ist darum auch die heute weitverbreitete Auffassung, daß die Humanitätsidee des neueren Naturrechts mitsamt den Menschen- und Freiheitsrechten nur eine Säkularisierung des christlichen Menschenbildes sei": „Der Gedanke der Menschenwürde mußte gerade gegen diese im christlichen Namen betriebene Theorie und Praxis durchgesetzt werden" 56 . 53

Zu der grundsätzlichen Fragwürdigkeit des Ausgangspunktes einer solchen Verfassungsinterpretation von den Kategorien „Individuum" und „Gemeinschaft" her und damit von der „sterilen Konfrontation" „Individuum" und „Staat" schon: E. DENNINGER Staatsrecht, Einführung in die Grundprobleme des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1973, S. 1 9 f f ; und grundlegend: Rechtsperson und Solidarität, 1967, S. 6 4 f f und S. 2 1 2 f f .

54

55

56

Vgl. zu der in der katholischen wie protestantischen Naturrechtslehre bis heute fortwirkenden Begründung der Menschenwürde aus der Gottesebenbildlichkeit, R. ZIPPELIUS Zweitbearbeitung B K , A r t . 1, Rdn. 2 f . Vgl. dazu H . WELZEL Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. A u f l . , 1962, S. 1 3 8 f f und zum folgenden S. 142 f f . H. WELZEL Naturrecht (Fn. 55) S. 144f A n m . 56; vgl. dazu auch F. WIEACKER Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. A u f l . , 1967, S. 266 A n m . 72.

198

3 . Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Die hierbei ins Feld geführte ganz andere Begründung der Würde des Menschen bildet sich in der individualistischen Naturrechtslehre aus, die unmittelbar in die bürgerliche Aufklärung an der Schwelle der Epoche der Moderne hineinführt. Und deren Gedanken Kant in einer bis heute gültigen Begründung der Würde des Menschen aus der menscheneigenen Vernunftnatur zusammenfaßt. Es ist hier die Vernunft des Menschen, die im Unterschied zum Instinkt des Tieres „keine Grenzen ihrer Entwürfe kennt", durch die der Mensch „als das einzige Geschöpf auf Erden" mit „Freiheit begabt" ist: Mit der Freiheit zur Selbstbestimmung als „Zweck an sich selbst". Er sieht dabei den Menschen, anders als die frühere Naturrechtslehre, als ein Wesen, dem über seine „tierische Ausstattung hinaus" weder durch Gott noch von Natur irgend eine Zweckbestimmung eingestiftet oder angeboren ist. Weshalb Kant in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" geradezu von einer „Leere der Schöpfung angesichts des Zweckes des Menschen" sprechen kann 5 7 . Diesen seinen Zweck hat der Mensch selbst auszufüllen und zu erfüllen, in der Entwicklung aller seiner Naturanlagen und Geisteskräfte zu größter dem Menschen möglichen Vollkommenheit. So daß das Wesen, das der Mensch durch die Kultur seiner Natur in freier Selbstbestimmung und eigenverantwortlicher Selbstbezweckung aus sich Selbst hervorbringt, sein eigenes Werk ist, das seine Würde ausmacht. Diese Würde des Menschen tastet darum jeder an, der ihm die Freiheit der Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit benimmt oder verweigert, womit er ihm eben das nimmt, wodurch er sich einen „eigenen Wert verschafft", der seine Würde ausmacht. Was Kant für seine Zeit des ,,Feudalwesens" beispielhaft mit den Worten erläutert: daß ein solches „Wesen", wenn man es durch seinen Stufenbau hindurch verfolgt, nach und nach den Menschen immer mehr seiner Würde entkleidet: „Von der königlichen Würde an durch alle Abstufungen bis dahin, wo die Menschenwürde gar aufhört und bloß der Mensch bleibt": der „Leibeigene" 5 8 . Menschenwürde hat nach diesem auch im Verfassungskontext unseres Grundgesetzes fortwirkenden Ansatz der bürgerlichen Aufklärung, aus dem die demokratischen Revolutionen gegen das Feudalsystem zu Beginn der Epoche der Moderne hervorgehen, auch für uns heute mit dem Sichselbstgehören und Übersichselbstverfügen des Menschen zu tun. Vom jeweils Andern her gesehen und gesagt also: mit der prinzipiellen Unverfügbarkeit des Menschen für andere Menschen in seinem Wollen und seinem Wohl59. 57

KANT Schriften zur Anthropologie, G e schichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Ausgabe W . WEISCHEDEL bei Wissenschaftliche Buchgesellschaft, B d . V I (1964), S. 38; dieser Gedanke bricht bereits auf in der E p o che

der

Renaissance

mit

GIOVANNI

PICO

DELLA MIRANDOLAS Rede über die Würde des Menschen, in den er G o t t zu Adam im A k t der Schöpfung sagen läßt: „ D i e beschränkte Natur der übrigen Wesen wird von Gesetzen eingegrenzt, die ich gegeben

habe. D u sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst b e s t i m m e n " ( D e dignitate hominis, Ausgabe Garin bei G e h len, 1968, S. 29). 58

59

KANT Schriften zur Politik ( F n . 56) S. 4 1 2 ; Hervorhebungen von mir. Vgl. dazu im einzelnen: W . MAIHOFER Rechtsstaat ( F n . 14) S. 17ff und S. 29 ff; aber auch: Rechtsstaat und Sozialstaat, in: Rechtsstaat und Sozialstaat, herausgegeben

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

199

Garantie der Menschenwürde heißt darum Gewährleistung der Autonomie der Person. Eben jener Souveränität des Individuums, aus der es auch im Zusammenleben mit Andern in einer Gesellschaft, als gerade nicht „isoliertes", sondern „soziales Individuum", ebenso aber auch in der Vereinigung mit Andern zu einem Staat: die Möglichkeit behalten und die Bedingungen finden muß, sich Selbst zu gehören und über sich Selbst zu verfügen, in freier Selbstbestimmung und eigenverantwortlicher Selbstverwirklichung, wie wir heute sagen60. Aber Menschenwürde hat nicht nur mit prinzipieller Selbstbestimmung des einzelnen Menschen und darum prinzipieller Unverfügbarkeit für andere Menschen zu tun. Also mit Garantie der Personalität des Menschen, auch in seinem Zusammenleben in der Gesellschaft und seiner Vereinigung in einem Staat mit anderen Menschen. Die Fundamentalgarantie der Menschenwürde hat ebenso zu tun mit der Garantie der Solidarität zwischen Menschen61. Die für den Menschen überall da im Wortsinne notwendig werden kann, wo er im Zusammenleben und Zusammenwirken mit Anderen in der Dimension der Sozialität auf Andere grundsätzlich angewiesen, von Anderen entscheidend abhängig ist, in dem was er Selbst ist als Solcher. Er also überhaupt erst durch und mit dem Anderen werden und bleiben kann, was er als Solcher ist: als Lehrer oder Schüler, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, als Vater oder Sohn, Mann und Frau. Der Mensch also erst mit einem „entsprechenden Andern" zusammen sich als das konstatiert und kodeterminiert, was er für sich selbst allein als „isoliertes Individuum" niemals ist und sein kann, sondern nur als „gegenständliches Gattungswesen", wie es schon bei Ludwig Feuerbach heißt, als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", wie Karl Marx danach in seinen „Thesen ad Feuerbach" dieses „gesellschaftlich lebende Individuum" nennt, als ein autonomes und soziales Individuum also, wie wir heute sagen62.

jeder Mensch frei" und insoweit „gleich" ist, „sich und die Umwelt zu gestalten". Vgl. zum ganzen auch: H . C . NIPPERDEY, D i e Würde des Menschen, in: NEUMANN/ NIPPERDEY/SCHEUNER ( H r s g . ) Die G r u n d rechte, 2 . B d . (1954), insbes. S. 7 f .

von W . W e y e r , 1972, S. 1 9 f f ; dazu grundsätzlich auch: H . RYFFEL Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, Philosophische Anthropologie des Politischen, 1969, S. 314 ff. 60

Wobei

R.

ZIPPELIUS B K ,

Art.

1, R d n .

9 ff

den „ B e g r i f f s k e r n " im „sittlichen Eigenw e r t " und entsprechend in der Fähigkeit zu „sittlicher Selbstbestimmung" sieht; wogegen R . HERZOG in der zweiten Aufl. von MAUNZ/DÜRIG Grundgesetz, Art. 1 Abs.

1,

Rdn. 1 7 f diesen aus der Selbstbestimmung gewachsenen Eigenwert seinerseits auf die dem Menschen „kraft seines G e i s t e s " verliehene Fähigkeit „ z u r Selbst- und Umweltgestaltung" zurückführt, und diese wiederum mit den davon „nicht zu trennenden Teilgegebenheiten" verbindet, „denen dann normativ in Art. 2 I und 3 I G G durch .Hauptgrundrechte' Rechnung getragen w i r d " , daß

61

62

Vgl. dazu schon: W . MAIHOFER Rechtsstaat ( F n . 14) S. 2 2 f f und S. 4 0 f f ; aber auch: Rechtsstaat und Sozialstaat ( F n . 59) S. 2 7 f f . Vgl. dazu im einzelnen: W . MAIHOFER Freiheit, in: Politik für Nichtpolitiker. Ein A B C zur aktuellen Diskussion, herausgegeben von H .

H.

SCHULTZ B d .

1, 1 9 7 2 , S. 171 ff;

und: Demokratie im Sozialismus, R e c h t und Staat im Denken des jungen Marx, 1968, insbes. S. 2 4 f f ; aber zur Dimension der Sozialität oder des „ A i s s e i n s " zwischen M e n schen auch schon: V o m Sinn menschlicher O r d n u n g , 1956.

200

3. Kapitel. D i e demokratische O r d n u n g des G r u n d g e s e t z e s

In allen diesen Verhältnissen des „Aisseins" zwischen Menschen, denen wir vielfältig in der Geschlechterteilung wie der Arbeitsteilung in der häuslichen wie öffentlichen Welt jeder Gesellschaft begegnen, hängt die Frage, ob der Eine oder Andere als Solcher seine Würde wahren kann, nicht einfach nur von seiner Freiheit zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit ab, sondern ebenso auch von dem Fürmichdasein und Fürmicheinstehen des Andern als Solcher, wo ich auf sein Wohl wollen angewiesen, gar seinem Übel wollen ausgeliefert bin. Wo also vom Verhalten des Andern in seinem Verhältnis zu mir „alles abhängen" kann, ich ohne den entsprechenden Anderen „verloren bin", mitsamt meiner Würde und Freiheit zur Selbstbestimmung. Ich also etwa nach einem Unglücksfalle am Straßenrand in meinem Blute umkomme, wenn mir der Andere nicht als Nächster in Not aus der mein Leben bedrohenden Lage hilft. Aus dieser ganz anderen Erkenntnis und bleibenden Erfahrung von Menschsein hat Menschenwürde für uns heute immer auch mit dem Aufeinanderangewiesensein und Einanderausgeliefertsein des Menschen zu tun. Vom „entsprechenden Anderen" her betrachtet und gedacht also, auf den ich angewiesen, dem ich ausgeliefert bin, den ich deshalb brauche, um überhaupt ein „ganzer Mensch" zu werden oder zu bleiben: mit dem prinzipiellen Fürandere dasein und Fürandereeinstehen des Menschen mit seinem Wollen zu ihrem Wohl63. Wie sich darum aus dem prinzipiellen Sichselbstgehören des Menschen als „Zweck an sich selbst" die Forderung ergibt nach Gewährleistung der Menschenwürde durch freie Selbstbestimmung aus der Eigenverantwortung jedes Menschen, so aus dem prinzipiellen Aufeinanderangewiesensein des Menschen die Forderung nach Gewährleistung der Menschenwürde durch entsprechendes Füreinandereinstehen aus der Mitverantwortung des Menschen für die „Menschheit in jedermanns Person", von der schon Kant sagt: „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein" 64 . Macht man damit nicht nur für die eigene Person, sondern für „jedermanns Person" ernst, dann bedeutet und fordert dies Mitverantwortung auch für die Wahrung und Bewahrung der Menschenwürde des Andern, wo diese vom Verhältnis und Verhalten: Tun wie Lassen anderer Menschen abhängt. Erkennen wir so, daß der Mensch seine Würde nur erreichen und bewahren kann, wo die Personalität des Menschen, aber auch die Solidarität zwischen Menschen im Zusammenleben mit Andern in einer Gesellschaft und in der Vereinigung mit Andern in einem Staat prinzipiell garantiert sind, dann muß auch die Verpflichtung des Staates auf deren Achtung und Schutz gleicherweise auf beide Grundbedingungen der Menschenwürde bezogen werden. Sie ist damit ebenso Verpflichtung zur Gewährleistung der freien Selbstbestimmung aus der Eigenverantwortung jeder menschlichen Person in ihrer Personalität, wie Gewährleistung des notwendigen Füreinandereinstehens aus der Mitverantwortung der menschlichen Person aus ihrer

63

Vgl. d a z u auch: W . MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. 41; u n d : Rechtsstaat u n d SozialStaat ( F n . 59) S. 29.

64

KANT Kritik der praktischen Vernunft, A u s gäbe Vorländer bei Meiner 1929, S. 102.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

201

Solidarität mit jeder anderen menschlichen Person; „mit allem, was Menschenantlitz trägt", mit der „Menschheit in jedermanns Person", oder wie sonst die Worte lauten, in denen sich der Gedanke des „Menschenwürdeschutzes" als Personalitätsachtung und Solidaritätsgebot zugleich ausspricht 65 . In beiden Hinsichten liegen die Voraussetzungen und Zielsetzungen eines auf den Menschen als seinen Zweck verpflichteten Staates, wie der in unserer Verfassung auf die Menschenwürde verpflichteten freiheitlichen Demokratie außerhalb des Staates seihst. Ebenso wie die der hieraus folgenden Menschenrechte der Freiheit oder der Gleichheit, die wir als die ideengeschichtlichen Grundlagen und geistigen Wurzeln der auch in unserem Grundgesetz verwirklichten Prinzipien einer liberalen und sozialen Demokratie erkannt haben. Wie die Menschenwürde, so sind auch die Menschenrechte nicht vom Staat dem Menschen gegebene Rechte, wohl aber dem Staat um des Menschen willen zur positiven Realisierung aufgegebene Rechte. Sie sind damit zwar nicht Naturrecht im Sinne der klassischen Tradition: zeitlos geltender und ewig unwandelbarer Rechte, wohl aber Naturrecht im Sinne der modernen Konzeption: als für den Menschen als unverzichtbar und unabänderbar erkannte Bedingungen menschenwürdigen und menschengerechten Daseins, hinter die es nach unseren geschichtlichen Erfahrungen kein Zurück geben kann 6 6 . Dies gilt zumindest für die konstitutiven Prinzipien, die uns in den ,,Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte", von den demokratischen Revolutionen in Amerika und Frankreich an, als unveränderter und gleichlautender Kernbestand begegnen. Zu diesen „angeborenen Rechten", wie das der gleichen Freiheit und Unabhängigkeit jedes Menschen, heißt es beispielgebend für alle nachfolgenden Menschenrechtserklärungen schon in Art. 1 der „Bill of Rights of Virginia" von 1776: „Alle Menschen sind von Natur gleich frei und unabhängig (all men are by nature equally free and independent) und besitzen gewisse angeborene Rechte, deren sie, wenn sie den Status der Gesellschaft annehmen, ihre Nachkommenschaft durch keine Abmachung berauben oder entkleiden können, und zwar auf Genuß des Lebens und der Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu besitzen und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen" 67 .

65

Entsprechend erklärt jetzt § 1 des Bundessozialhilfegesetzes, unter betonter Anknüpfung an Art. 1 Abs. 1 G G es für die Aufgabe der Sozialhilfe, dem Empfänger „die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht"; zu dieser Auffassung auch materieller Notlagen als Beeinträchtigung der Menschenwürde, weil Bedrohung der „Selbstbestimmung in fundamentaler Weise": R. ZIPPELIUS BK (Fn. 60) Art. 1 Abs 1, Rdn. 17; zur grundsätzlichen Deutung der Menschenwürdegarantie

66

67

als „ein Mindestmaß sozialer Sicherheit" und ihre Verknüpfung mit der Sozialgestaltungspflicht des Staates: O . BACHOF in: W D S t R L , 12 (1954) S. 42; zur früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch: W. MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. 38f. Dazu W. MAIHOFER Naturrecht als Existenzrecht, 1963, insbes. S. 40ff. Vgl.

R . ZIPPELIUS Staatslehre ( F n . 3) S.

236 ff; zur amerikanischen Verfassungsentwicklung auch: M. KRIELE Staatslehre

202

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

In der geistigen Nachfolge dieser amerikanischen Bills of Rights bekennt sich auch die französische „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789 zu „Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung" als ,,natürlichen., unveräußerlichen und geheiligten Menschenrechten '; ebenso wie die spätere von 1793, die für die zweite Phase der französischen Revolution „Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Eigentum" als solche Menschenrechte bezeichnet. Womit schon äußerlich im Verfassungstext, wie später auch in der Verfassungsrealität, die Freiheit hinter die Gleichheit zurücktritt 6 8 . An diese Auffassung der Menschenrechte als vorstaatliche und überstaatliche Rechte knüpft auch die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 an, wenn sie: „Die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte jedes Mitglieds der menschlichen Gesellschaft (of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of the human family) als die Grundlage der Freiheit, Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt" bezeichnet 69 . Dem folgt in der Sache erkennbar Art. 1 Abs. 2 unseres Grundgesetzes von 1949, wenn er ausgehend von der in Abs. 1 vorausgesetzten Staatsverpflichtung auf die Menschenwürde feststellt: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Ebenso wie die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950, die es in ausdrücklicher Anknüpfung an die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen als ihr Ziel erklärt, „die ersten Schritte auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie gewisser in der Allgemeinen Erklärung verkündeten Rechte unter den Mitgliedsstaaten des Europarats zu unternehmen" 7 0 . Dieselbe positive Garantie überpositiver Normen-, „der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte" (Art. 1 Abs. 2 GG) auch als innerstaatlich gelten-

68

69

(Fn. 3) S. 149ff; und grundlegend: G. OBSTREICH Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl., 1978, mit weiterer Literatur. Vgl. dazu E. DENNINGER Staatsrecht (Fn. 53) Bd. 2, S. 136ff; zur französischen Verfassungsentwicklung auch: M. KRIELE Staatslehre (Fn. 3) S. 259ff; zum inneren Zusammenhang der amerikanischen und europäischen Entwicklung grundsätzlich schon: O . VOSSLER Die amerikanischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen, 1929. Darin liegt ein eindeutiges Bekenntnis zum vorstaatlichen Charakter („inherent" dignity, „inalienable" rights) wie zum überstaatlichen Charakter („rights of the human family"), die ihre prinzipielle rechtliche Anerkennung und Geltung von der Frage ihrer jeweiligen konkreten staatlichen Positivierung unabhängig macht. Eine andere Frage ist, ob

70

und wie diese somit vorpositiven und überpositiven Rechte im jeweiligen Staat durch die Verfassung verbürgt, durch die Gesetze gesichert und durch die Gerichte durchsetzbar sind, also in ihrer Anerkennung und Wirkung innerstaatlich garantiert, oder gar „kollektiv garantiert" sind durch zwischenstaatliche oder überstaatliche Positivierungen. Vgl. dagegen: R. ZIPPELIUS Staatslehre (Fn. 3) S. 242ff; aber auch: E. DENNINGER Staatsrecht (Fn. 53) S. 136f, und jetzt: Uber das Verhältnis von Menschenrechten zum positiven Recht, JZ 1982, S. 225 ff. Vgl. dazu H . SCHORN Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1965, S. 33 ff; und: K. J. PARTSCH Die Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Die Grundrechte, herausgegeben

von

BETTERMANN/NEUMANN/NIPPER-

DEY, Bd. I 1, 1966, S. 235ff.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

203

de und von staatswegen gewährleistete Grundrechte vollzieht auch Art. 1 Abs. 3 unseres Grundgesetzes, wenn er anknüpfend an die voraufgehende Herleitung der Menschenrechte aus der Menschenwürde in demselben Gesamtzusammenhang des Art. 1 nun erklärt: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht". Womit schon die Verfassungsväter unseres Grundgesetzes durch diese bewußte Abfolge die „Freiheits- und Menschenrechte" des Abs. 2 zur Menschenwürde „in das rechte Verhältnis" setzen wollen, der zugleich die „Uberleitung zu den Grundrechten" sei und zeige, „daß diese Grundrechte, die in den Art. 2—20 niedergelegt sind, eine Niederschrift dieser alten, unverletzlichen und unveräußerlichen Freiheitsund Menschenrechte aus unserer Zeit darstellen" 71 . Weshalb folgerichtig aus Art. 1 Abs. 3 G G ausdrücklich der in der ursprünglichen Fassung vorgesehene Einschub herausgenommen wurde, der diese Grundrechte als „für unser Volk aus unserer Zeit geformt und niedergelegt" bezeichnet hatte. Mit der Begründung: „dies treffe nicht ganz zu; sie seien im wesentlichen eine Wiederholung dessen, was sich seit Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet habe und in fast allen Verfassungen wiederkehre" 72 . Diesen „festen Bestand", den „die Arbeit der Jahrhunderte" herausgearbeitet und „in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Ubereinstimmung gesammelt" hat, daß „in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrecht erhalten kann", bezeichnet zuletzt selbst Gustav Radbruch als „das Naturrecht oder das Vernunftrecht". Als Rechtsgrundsätze also, „die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so daß ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist" 7 3 . Woraus sich dementsprechend die bis heute fortwirkende Formel vom „gesetzlichen Unrecht und übergesetzlichen Recht" ergibt, mit der Radbruch die Korrektur seines eigenen früheren Gesetzespositivismus in einen Rechtspositivismus einleitet, wie er jetzt auch Art. 20 Abs. 3 G G zugrundeliegt, der vollziehende Gewalt und Rechtsprechung ausdrücklich an „Gesetz und Recht gebunden" erklärt 74 . Aus diesem überpositiven Charakter jedenfalls des Kernbestandes der in den Grundrechten positivierten Normen erklärt sich ebenso die sog. Ewigkeitsgarantie des Menschenwürdegehalts unserer Verfassung durch Art. 79 Abs. 3 GG, wie die sog. Wesensgehaltsgarantie auch und gerade des Menschenrechtsgehalts aller Art. 1 „nachfolgender Grundrechte" unserer Verfassung durch Art. 19 Abs. 2 G G (auch der hinter Art. 19 stehenden), die hierdurch „vor einer staatlichen Totaldisposition mittels des jeweils zulässigen Gesetzesvorbehalts", selbst durch eine verfassungge-

71

72 73

74

S o H . v. MANGOLDT i n : J ö R ( F n . 1) S.

52;

vgl. auch: E. DENNINGER Staatlehre (Fn. 53) S. 137. J ö R (Fn. 1) S. 53. G . RADBRUCH Rechtsphilosophie, 8. Aufl., 1973, S. 328; vgl. zur früheren „relativistischen Auffassung" dagegen aaO S. 102 ff. G . RADBRUCH R e c h t s p h i l o s o p h i e ( F n . 7 3 ) ;

zu einer solchen

„rechtspositivistischen",

d.h. immer auch überpositivistischen Rechtskonzeption schon: W. MAIHOFER Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, in: Annales Universitatis Saraviensis, Bd. VIII (1960), S. 5ff; zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung im besonderen: H . - P . SCHNEIDER Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969.

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

204

bende Mehrheit in Hinsicht auf die Antastung dieses „absoluten Wesenskerns" geschützt werden 75 . Nach dieser positivrechtlichen Absicherung des Menschenwürdegehalts wie des Menschenrechtsgehalts der Grundrechte unserer Verfassung insgesamt erfolgt mit Art. 2 beginnend folgerichtig deren positivrechtliche Ausgestaltung durch die Hauptgrundrechte der Freiheit und der Gleichheit. Dabei wird, wie Roman Herzog ausführt: „der Wertanspruch auf Menschenwürde gemäß Art. 1 I, der in Art. 1 II rein formal in Einzelrechte" (die Menschenrechte) „aufgelöst und in Art. 1 III ebenso formal adressiert wurde" (als alle Staatsgewalten bindende Grundrechte), „nun inhaltlich näher präzisiert in die Teilrechte der Freiheit (Art. 2 I) und auf die Gleichheit, die — wiederum positivrechtlich konsequent — auch formal als ,jedem' (Art. 2 I) und ,allen' (Art. 3 I) zustehende Rechte" (also als allgemeine Menschenrechte und nicht bloße Bürgerrechte) „anerkannt sind" 76 . Entsprechend werden diese beiden Grundrechte darum auch als das „Hauptfreiheitsrecht" (Art. 2 I) und als das , , H a u p t g l e i c h h e i t s r e c h t " (Art. 3 I) unserer Verfassung bezeichnet. Beide sind damit nicht nur durch ihren Rang als allgemeine Menschenrechte von anderen Grundrechten abgehoben, sondern auch geradezu als die beiden Hauptgrundrechte angesprochen, von denen es in einer früheren Fassung des Art. 1 Abs. 2 noch heißt: „Die Freiheit und die Gleichheit des Menschen, seine Verpflichtung gegenüber dem Nächsten und gegenüber der Gesamtheit sind die Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" 77 . Ebenso bezeichnet auch das Bundesverfassungsgericht „Freiheit und Gleichheit als dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit" und erklärt hierzu: „Die freiheitliche Demokratie ist von der Auffassung durchdrungen, daß es gelingen könne, Freiheit und Gleichheit der Bürger trotz der nicht zu übersehenden Spannungen zwischen diesen beiden Werten allmählich zu immer größerer Wirksamkeit zu entfalten und bis zum überhaupt erreichbaren Optimum zu steigern" 78 . Was bedeutet und fordert dies, daß die Verfassung der Menschenwürde und der Menschenrechte, auf die sich eine freiheitliche Demokratie begründet, vom Prinzip 75

R.

HERZOG

Grundgesetz

(Fn. 60)

Art.

1

Abs. 1, Rdn. 8; dazu grundlegend: P. HÄBERLE D i e W e s e n s g e h a l t s g a r a n t i e d e s A r t . 1 9

Abs. 2 Grundgesetz: zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, 2. A u f l . , 1972, S. 7 0 f f . 76

77

S o R . HERZOG G r u n d g e s e t z ( F n . 6 0 ) A r t . 1

Abs. 1 Rdn. 1 0 . J ö R (Fn. 1) S. 5 1 ; womit in dieser Fassung des allgemeinen Redaktionsausschusses von 1948 höchst bedenkenswert als „die Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" nicht nur „die Freiheit und die Gleichheit des Menschen" bezeichnet wird, sondern

78

auch die „Verpflichtung" des Menschen „gegenüber dem Nächsten und gegenüber der Gesamtheit"; zuende gedacht also gegenüber seinem Mitmenschen wie der Menschheit insgesamt, aus der Brüderlichkeit der Menschen als einer ebenso notwendigen „Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Vgl. dazu B V e r f G E 2, 12 und 5, 85; zu „ G e rechtigkeit und Gleichheitssatz" grundlegend jetzt: G. ROBBERS Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, Uber den Begriff der Gerechtigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1980, insbes. S. 8 7 f f .

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

205

der Freiheit wie vom Prinzip der Gleichheit bestimmt sein muß, denen wir als ideengeschichtlichen Grundlagen und geistigen Wurzeln der Konzeption der Demokratie in der Epoche der Moderne begegnet sind? Was ist das für eine Freiheit, was für eine Gleichheit, die hier gemeint ist. In welchem Verhältnis stehen diese beiden „Menschenrechte" oder auch „Grundwerte" zueinander: einem gleichgewichtigen „Spannungsverhältnis" wie das Bundesverfassungsgericht meint, oder in einem eindeutigen Rangverhältnis ? Und in welchem Verhältnis stehen die beiden Prinzipien der Freiheit und Gleichheit zur Brüderlichkeit, als dem dritten Postulat der demokratischen Revolution? Und was meint und heißt es, wenn heute von eben diesem Kernbestand der Menschenrechte oder gar Menschenpflichten: Der Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit behauptet wird, sie lägen als sog. „Grundwerte" der „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität" der Konstitution einer Demokratie überhaupt zugrunde, die wir eine freiheitliche nennen; und machten darum auch den sog. Grundkonsens der Demokraten aus, der unsere freiheitliche Demokratie auch heute trägt und prägt? 2. Demokratie als O r d n u n g der Freiheit und das Prinzip einer liberalen Demokratie: größtmögliche und gleichberechtigte Freiheit bei notwendiger Sicherheit Aller Gefragt ist in unserem Zusammenhang nicht nach einem philosophischen Begriff vom Wesen menschlicher Freiheit. Gefragt ist, wie schon bei Rousseau, nach dem politischen Begriff der Freiheit, als Bedingung der Möglichkeit menschenwürdiger und menschengerechter Ordnung des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft und der Vereinigung von Menschen in einem Staat 7 9 . Von welchen Voraussetzungen geht eine solche Ordnung der Freiheit aus, die wir Demokratie oder auch Republik im Sinne eines Freistaates oder auch Bürgerstaates nennen? Und auf welche Zielsetzung führt eine solche Demokratie hinaus, die nach dem Prinzip der Freiheit als liberale Demokratie verfaßt ist? Das sind die beiden Fragen, denen wir im folgenden nachgehen wollen. Freiheit wird von unserer Verfassung, wie wir sahen, als ein aus der Menschenwürde folgendes „unverletzliches und unveräußerliches", weil dem Menschen innewohnendes und angeborenes Menschenrecht aufgefaßt. In eben diesem Sinne bestimmt schon Kant in der Rechtslehre seiner Metaphysik der Sitten das jedem Menschen „angeborene Recht" der Freiheit als die „Unabhängigkeit von eines andren nötigender Willkür", „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann". Er nennt diese hier vorausgesetzte Freiheit das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht" 8 0 .

79

Vgl. dazu einführend: W. MAIHOFER Freiheit (Fn. 62) S. 171 ff; aber auch: Demokratie und Sozialismus, in: Ernst Bloch zu ehren, Beiträge zu seinem Werk, herausgegeben v o n S. UNSELD, 1965, S. 31 ff.

80

D a z u KANT Metaphysik der Sitten, Ausgabe Vorländer bei Meiner, 4. Aufl., 1922, S. 43, in der bewußten Nachfolge ROUSSEAUS, bei dem es schon in seinem Contrat social von der „sittlichen Freiheit" heißt, daß sie

206

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Damit aber denkt er die Freiheit, auch und gerade die „angeborene", nicht einfach als eine Eigenschaft oder Fähigkeit des Menschen für sich genommen, sondern als eine Bedingung der Ordnung und Regelung des Verhältnisses und Verhaltens zwischen Menschen, unter der Voraussetzung der Freiheit jedes Menschen. Deshalb verbindet sich ihm dieses angeborene Menschenrecht der Freiheit schon im Ansatz mit der ,,angeborenen Gleichheit, d . i . die Unabhängigkeit nicht zu mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden k a n n " 8 1 . Ordnung der Freiheit ist so in diesem Denkansatz, der auch der unsere ist, von vornherein gedacht aus der Gleichheit der Freiheit des Einen und des Anderen bei der wechselseitigen Betätigung und allseitigen Zusammenstimmung ihrer Freiheit. Daraus ergibt sich ein Begriff des Rechts, wie er noch heute hinter dem Hauptfreiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 G G sichtbar ist, als „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" 8 2 . Daraus aber folgt zugleich ein entsprechender Begriff des Staates als „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" 8 3 . „Rechtmäßigkeit" hat ein solcher Staat für Kant wie schon für Rousseau darum nur, wenn er der „ I d e e " des „ursprünglichen Kontrakts", also einer Vereinigung von Freien und Gleichen zu einem Staat unter wechselseitig und allseitig gleichen Bedingungen der Freiheit und zugleich Abhängigkeit jedes Menschen entspricht, wie sie durch ein solches Rechtsgesetz hergestellt wird, das als ein „allgemeines Gesetz der Freiheit" für einen jeden Menschen annehmbar ist. Von einem solchen Staate kann man auch nach Kant nicht mehr sagen: „der Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden; weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt." Daraus ergibt sich für die Legitimation des Staates aus dem Prinzip der Freiheit, wie sie für eine freiheitliche Demokratie gefordert ist, eine zweifache Folgerung 8 4 .

81

82

„allein den Menschen erst in Wahrheit zum Herren über sich selbst macht", weshalb er auch sagen kann: „ A u f seine Freiheit verzichten, heißt auf seine Menschheit, die Menschenrechte" verzichten (Gesellschaftsvertrag Fn. 8 S. 49 und S. 36). KANT Metaphysik der Sitten (Fn. 80) S. 43, womit Kant die Argumentationsfigur der Goldenen Regel mit der seines Kategorischen Imperativs verbindet; vgl. zum ganzen auch: G . LUF Freiheit und Gleichheit, Die Aktualität im politischen Denken Kants, 1978. Zum Begriff des Rechts: KANT Metaphysik der Sitten (Fn. 80) S. 34 f; vgl. dazu im ein-

83

84

zelnen: W. MAIHOFER (Hrsg.) Begriff und Wesen des Rechts, 1973, Vorwort S. X V I I I f f ; und dazu jetzt: Europäisches Rechtsdenken heute, in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, herausgegeben von N . HORN Bd. 1, 1982, S. 579ff. Zum Begriff des Staates: KANT Metaphysik der Sitten (Fn. 80) S. 135 und zum folgenden auch S. 138f und S. 64; und dazu jetzt: W. MAIHOFER Legitimation des Staates (Fn. 17) S. 32 ff. Vgl. dazu im einzelnen: W. MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. 61 ff und S. 72 ff; aber auch: Rechtsstaat und Sozialstaat (Fn. 59) S. 19 ff.

1.

Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie

(MAIHOFER)

207

Formale Legitimität oder Legalität hat danach die Ordnung eines Staates unter der Voraussetzung eines angeborenen Rechtes der Freiheit und der Gleichheit nur, wenn der eine dadurch „nicht zu mehrerem von anderen verbunden" wird, „als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann"; sie also dem Prinzip der Gegenseitigkeit (Goldene Regel) entspricht und nicht widerspricht. Aber auch, daß in ihr „die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann"; sie also zugleich auch dem „Prinzip der Allseitigkeit" (Kategorischer Imperativ) entspricht und nicht widerspricht. Woraus schon Kant folgert: „Ich bin also nicht verbunden, das äußere Seine des anderen unangetastet zu lassen, wenn mich nicht jeder andere dagegen auch sicher stellt, er werde in Ansehung des Meinigen sich nach eben diesem Prinzip verhalten." Eine Ordnung der Freiheit ist so schon von ihrer Voraussetzung her im angeborenen Recht der Freiheit und Gleichheit jedes Menschen formal legitimiert nur, wenn sie den beiden Prinzipien der Gegenseitigkeit und Allseitigkeit entspricht, die allein in einer freiheitlichen Demokratie jenes allgemein „verbindende Wollen" begründen und rechtfertigen können, das wir Gesetz nennen. Ordnung der Freiheit heißt jedoch nicht nur, wie die üblichen Zusammenfassungen dieses Denkansatzes annehmen, Zusammenstimmung der Freiheit durch „allgemeine Gesetze", unter der Voraussetzung der „gleichen Freiheit" eines Jeden. Schon der Ansatz Kants geht in der Nachfolge Rousseaus über eine solche Verkürzung der Freiheit und Gleichheit weit hinaus, wie sie im Neukantianismus bis heute vorherrscht. Denn materiale Legitimität hat schon für Kant der Staat als Vereinigung von Menschen unter Rechtsgesetzen nur, wenn damit nicht irgendeine noch so gleiche Freiheit gewährleistet ist, sondern er sich die „Erreichung" einer Ordnung der größtmöglichen und gleichberechtigten Freiheit Aller zum Ziele setzt 85 . Diese Zielsetzung einer Ordnung der Freiheit, „in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen in größtmöglichem Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird" ist aber schon für Kant nicht einfach nur die Frage des größten möglichen Raumes für die „freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit" eines Jeden, worauf auch die üblichen Deutungen des Hauptfreiheitsrechtes des Art. 2 Abs. 1 G G gerne sich beschränken. Die Zielsetzung einer solchen Ordnung der Gesellschaft: „die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder, und doch die genaueste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne", ist vielmehr darüber hinaus schon für Kant wie noch für uns heute die: damit den größten möglichen Freiheitsraum für die Entfesselung des Widerstreits und Wettstreits der Freiheit in einer Gesellschaft zu eröffnen. Denn für Kant liegt eben darin „das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt", diesen Antagonismus, wir würden heute

85

Vgl. zum folgenden: K A N T Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher

Absicht, in: Schriften zur Politik (Fn. 39; Hervorhebungen von mir.

57)

S.

208

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

sagen, diese Dialektik der Freiheit in größtem möglichen Umfange in einer Gesellschaft zur Geltung und Wirkung zu bringen, ohne daß sie sich in „wilde Freiheit" verkehrt und damit selbst zerstört. Um so den Menschen immer „wieder zur neuen Anspannung seiner Kräfte, mithin zu mehrerer Entwickelung der Naturanlagen" und Geisteskräfte herauszufordern und anzutreiben 86 . Geistige Auseinandersetzung, wirtschaftlicher Wettbewerb sind in diesem Ethos und Pathos eines Staates angelegt, der auf die schöpferische Kraft der Dialektik der Freiheit im Widerstreit und Wettstreit der Ideen wie der Interessen im sog. geistigen Uberbau, wie in der ökonomischen Basis der Gesellschaft setzt, den Kant eine „vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung" und den wir heute eine freiheitliche Demokratie nennen. So grundlegend diese im Denken der Aufklärung aufkommende Neubegründung des Staates auf die Voraussetzung einer angeborenen Freiheit und Gleichheit jedes Menschen und damit auch die Neubestimmung seiner Zielsetzung aus der größten und gleichen Freiheit zur Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit, wie zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auch immer sind und bleiben, als ein nicht mehr rücknehmbarer „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" (Hegel), so unzureichend bleibt diese Begründung des Staates aus dem Gedanken der Freiheit in zweifacher Hinsicht: der von Freiheit und Sicherheit, und von Freiheit und Gesellschaft. Die Freiheit des Einen hat nicht nur Bezug, steht nicht nur in „Wechselwirkung" mit der Freiheit des Andern, wie es bei Kant erscheint. Freiheit des Einen bedeutet immer auch Möglichkeit des Mißbrauchs seiner Freiheit. Dieser aber wirkt sich nicht nur aus als Eingriff in die Freiheit des Andern. Er hat Auswirkung auch auf die Sicherheit des Andern, als Gefährdung oder gar Verletzung seines Lebens, seiner Gesundheit oder anderer heute sog. Rechtsgüter 87 . Damit aber bedeutet zu große Freiheit des Einen nicht nur zu geringe Freiheit des Andern, ja aller Andern. Größere Freiheit und damit auch größere Möglichkeit des Mißbrauchs der Freiheit des Einen bedeutet regelmäßig geringere Sicherheit der Andern. Das politische Problem der Freiheit ist deshalb nicht einfach nur, wie dies bei Kant gesehen ist, mit dem Problem der Sicherheit in einem Staat dadurch verwoben, weil es in einer Ordnung der Freiheit immer auch um die Sicherheit der Freiheit geht. Mit Kants Worten: die „Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne"; also um eine begrenzte und gesicherte Freiheit, umwillen der größten und gleichen Freiheit des Einen wie des Andern.

86

Zu dieser die freiheitliche Demokratie von allen anderen Staatsformen unterscheidenden und auszeichnenden „Dialektik der Freiheit" grundsätzlich: W . Maihofkr Rechtsstaat (Fn. 14) S. 156ff; aber auch in Auseinandersetzung mit der des Sozialis-

87

mus: Demokratie und Sozialismus (Fn. 79) S. 31 ff. Zur Sicherheit als Bedingung der Erhaltung des Einzelnen wie der Bewahrung der Gesellschaft grundsätzlich: W . Maihofer Rechtsstaat (Fn. 14) S. 82ff, S. 98ff und S. 118 ff.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

209

Freiheit und Sicherheit sind vielmehr in jeder Ordnung für Menschen, für deren „ungesellige Geselligkeit" im Verhältnis und Verhalten zueinander jener alte Satz des Hobbes in Geltung bleibt: „homo homini deus, et homo homini lupus est", grundsätzlicher noch als zwei Seiten derselben Sache voneinander unabtrennbar, weil größere Freiheit des Einzelnen von ihrer Kehrseite her betrachtet, wie die Erfahrung lehrt, regelmäßig geringere Sicherheit der Andern bedeutet. Damit aber stellt sich für eine Ordnung der Freiheit die entscheidende Frage, nach welchem Prinzip dieser Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit ausgetragen und gelöst werden soll, der ein anderer ist als der zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, dem wir als Problem des Rechtsstaates begegnen88. An ihrer Beantwortung entscheidet und unterscheidet sich, wie zuvor an der Frage: „irgendeine Freiheit" oder die „größte Freiheit", der Charakter einer Demokratie als wahrhaft liberale Demokratie, für die das Prinzip der Freiheit allen anderen Prinzipien voransteht und vorgeht, die eine Demokratie konstituieren, also unter bestimmten Voraussetzungen auch Priorität im Konflikt haben und behalten muß. Diese Priorität, nach der die Lösung des Konflikts zwischen Freiheit und Sicherheit in einer wahrhaften Ordnung der Freiheit erfolgen muß, ist schon im Denken des Hobbes vorgezeichnet, nach dem der Staat durch Gesetz nicht jegliche, sondern nur die für die Sicherheit der Anderen ,,schädliche Freiheit", nicht aber die unschädliche Freiheit des Einzelnen einschränken kann und darf. Auch für Rousseau verliert, wie wir sahen, jeder durch Gesetz „nur soviel Freiheit, wie der eines andern schaden kann"; nicht nur der Freiheit des Anderen jedoch, sondern, wie wir erkannten, auch der Sicherheit des Anderen: seines Lebens, seiner Gesundheit usw. Daraus aber folgt: Einschränkungen der Freiheit sind in einer liberalen Demokratie nur gerechtfertigt, wo für die Sicherheit der Andern notwendig. Falls diese Notwendigkeit zweifelhaft ist, gilt daher: Im Zweifel für die Freiheit! (in dubio pro libertate). Deshalb liegen folgerichtig der Begründungszwang und die Beweislast für diese Notwendigkeit in einer solchen liberalen Demokratie nicht bei dem, der die Freiheit aufrechterhalten will, sondern bei dem, der die Freiheit einschränken will 89 . Somit läßt sich das Prinzip einer freiheitlichen Demokratie in dieser ersten Hinsicht einer Ordnung der Freiheit insgesamt bestimmen als: Ordnung größtmöglicher und gleichberechtigter Freiheit des Einzelnen bei notwendiger Sicherheit Aller. Diese größtmögliche und gleichberechtigte Freiheit des Einzelnen ist jedoch nicht nur, wie es noch dem klassischen Begriff der politischen Freiheit erscheint, eine Frage allein der Freiheit des persönlichen Verhaltens und seiner gesetzlichen Sicherung,

88

Zu diesem im Staatsdenken des Hobbes' erstmals erfaßten Prinzip der Rechtssicherheit und seine Ubersetzung in die heutige Garantie der Gesetzesbestimmtheit der Strafbarkeit durch A. v. FEUERBACH im einzelnen: W. MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. 1 3 8 ff.

89

Dazu grundlegend: P. SCHNEIDER In dubio pro libertate, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, FS Deutscher Juristentag 1960 Bd. 2, S. 263ff; und: W. MAIHOFER Bittburger Gespräche, 1976, S. 150; vgl. dagegen: K. STERN Staatsrecht (Fn. 1) S. 109f.

210

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

in einem gegenseitig und allseitig verbindenden Wollen, die den Einzelnen in einer Ordnung der Freiheit grundsätzlich unabhängig stellt von jeder anderen Bestimmung seiner Freiheit als der durch den Gesetz gewordenen allgemeinen Willen. Ob der Einzelne somit eine bestimmte Freiheit hat oder nicht hat hängt in solcher Sicht einzig davon ab, ob er die entsprechende durch Gesetz gesicherte Freiheit des persönlichen Verhaltens hat oder nicht hat. So grundlegend diese formale Garantie gesetzlich gesicherter Freiheiten für unser heutiges Verständnis eines Staates der Freien und Gleichen auch ist und bleibt, so unzureichend erscheint uns ein solches FreiheitsVerständnis heute. Hängt doch offenkundig die Freiheit des Einzelnen nicht nur von solchen Gesetz gewordenen Bedingungen des persönlichen Verhaltens ab, sondern ebenso auch davon, welche Möglichkeiten die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst, für eine bestimmte Betätigung der Freiheit geben, aber auch nicht geben. Durch sie wird mit bestimmt, ob der Einzelne die reale Chance gesellschaftlich erfüllter Freiheit hat oder nicht hat. Aus dieser Einsicht und Unterscheidung folgt der heutige moderne Begriff der politischen Freiheit, die diese nicht mehr als bloß formale Freiheit: als gesetzlich gesicherte Freiheit versteht, sondern als materiale Freiheit: als gesellschaftlich erfüllte Freiheit begreift. Und darum Freiheit nur da im vollen Sinne gewährleistet sieht, wo diese nicht nur in einem Recht der Freiheit besteht: als formale Garantie des Gesetzes, sondern auch in der Wirklichkeit der Freiheit besteht: als reale Chance in der Gesellschaft. Aus diesem gegenüber der klassischen Tradition veränderten und erweiterten Freiheitsverständnis ergeben sich für die liberale Demokratie von heute weitreichende Folgerungen. In ihr kann sich der Staat nicht mehr damit begnügen, durch formale Garantien des Gesetzes die größte und gleiche Freiheit des persönlichen Verhaltens aller Bürger zu verbürgen. Er ist darüber hinaus verpflichtet, für gesellschaftliche Verhältnisse vorzusorgen, die eine reale Chance zur Wahrnehmung solcher größter und gleicher Freiheit eröffnen. Die rechtlichen Folgerungen aus diesem grundlegenden Wandel unseres Freiheitsverständnisses werden in der heutigen Verfassungsinterpretation dieser Freiheitsrechte nicht mehr nur als subjektive Abwehrrechte, sondern auch als objektive Wertentscheidungen gezogen; mit neuartigen Leistungsverpflichtungen des Staates zur Gewährleistung dieser Freiheiten und Rechte durch eine dementsprechende Gestaltung der Gesetze des Staates, wie der Verhältnisse der Gesellschaft 90 . Dasselbe gilt in einer liberalen Demokratie als Ordnung größtmöglicher und gleichberechtigter Freiheit des Einzelnen, bei notwendiger Sicherheit Aller, auch für die Sicherheit.

90

Dazu rechte (1972) ze der

grundsätzlich: P. HÄBERLE Grundim Leistungsstaat, VVDStRL 30 S. 112ff; zur gesellschaftlichen GrenFreiheit: E. FECHNER Die soziologi-

sche Grenze der Grundrechte, 1954; zur „sozialen Erfüllung der Freiheit" auch: H . ZACHER Freiheitliche Demokratie (Fn. 2) S. 113 ff.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie

(MAIHOFER)

211

Denn auch für das Hauptsicherheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 G G gilt dieselbe Erkenntnis: daß diese Sicherheit, wie schon die Freiheit, nicht nur von Bedingungen des persönlichen Verhaltens abhängt, auf die sich die üblichen Gewährleistungen der Sicherheit durch formale Garantien des Gesetzes gegen einen Mißbrauch der Freiheit richten. Auch die Sicherheit des „Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit" hängt ab ebenso von den Bedingungen der gesellschaftlichen Verhältnisse: den Verkehrsverhältnissen, der Unfallrettung, der Gesundheitsversorgung usw. Darum entscheidet sich die Frage der notwendigen Sicherheit nicht allein danach, ob ausreichende formale Garantien der Sicherheit im Gesetz geschaffen und im persönlichen Verhalten (etwa der Verkehrsteilnehmer) auch tatsächlich eingehalten und damit „erfüllt" werden. Die reale Chance der Sicherheit des Bürgers ist auch hier ebenso eine Frage der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst (etwa der Straßenverhältnisse, aber auch der Rettungsdienste), die mit darüber entscheiden, ob der Bürger bei üblichem Verhalten unter solchen Verhältnissen die notwendige Sicherheit hat oder nicht hat. Weil von einem behebbaren Mißstand solcher Sicherheit in der Gesellschaft seine wirkliche: reale Sicherheit nicht weniger beeinträchtigt sein kann als von einem persönlichen Mißbrauch der Freiheit des Einzelnen. Daraus ergeben sich für eine liberale Demokratie unseres heutigen Verständnisses, die auf die Gewährleistung der notwendigen Sicherheit gegenüber den vom Verhalten des Einzelnen, aber auch von den Verhältnissen der Gesellschaft ausgehenden Gefährdungen dieser Grundrechte verpflichtet ist, ähnlich grundsätzliche Folgerungen. Sie gebieten die Verfassungsinterpretation auch dieser Sicherheitsrechte als nicht nur subjektive Abwehrrechte, sondern ebenso als objektive Wertentscheidungen, mit entsprechenden Leistungspflichten des Staates zur Gewährleistung dieser Sicherheiten und Rechte auch in den Verhältnissen der Gesellschaft. Alle diese Seiten der Sache der Demokratie haben mit ihrer ersten Ausprägung als liberale Demokratie zu tun: als eine Ordnung nach dem Prinzip der größten und gleichen Freiheit aller Bürger, die im Verhältnis von Freiheit und Sicherheit die Priorität der Freiheit behauptet, wie im Verhältnis von Freiheit und Gesellschaft die Realität der Freiheit fordert; ebenso wie im Verhältnis von Sicherheit und Gesellschaft. Erst diese ganze Wirklichkeit und umfassende Verwirklichung des Vorzeichens und Vorrangs der Freiheit macht aus der bloß formalen eine liberale Demokratie nach dem Prinzip und der Priorität wie der Realität der Freiheit. Auch eine solche Ordnung der Freiheit ist auf Gleichheit als ihre Voraussetzung und Zielsetzung gegründet, wie wir sahen. Sie erkennt und anerkennt diese in einer Konzeption der Demokratie aus dem Prinzip der Liberalität als Recht des Bürgers und Pflicht des Staates auf die Gewährleistung größter und gleicher, somit und insoweit gleichberechtigter Freiheit, aber auch Sicherheit. Ganz anders bei der zweiten Ausprägung der freiheitlichen Demokratie als soziale Demokratie nach dem Prinzip der Egalität, die nun in ihren Voraussetzungen und Zielsetzungen näher zu bestimmen ist.

212

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

3. Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit und das Prinzip einer sozialen Demokratie: größtmögliche und gleichberechtigte Wohlfahrt des Einzelnen bei notwendiger Gerechtigkeit für Alle In der Theorie der Demokratie der Epoche der Moderne ist, wie uns die Rückbesinnung auf ihre ideengeschichtlichen Grundlagen und geistigen Wurzeln gelehrt hat, der Gedanke der Gleichheit von Anfang unauflöslich mit dem der Freiheit verwoben, wie dies noch in Kants Begründung von Recht und Staat aus dem angeborenen Recht der Freiheit und Gleichheit jedes Menschen nachklingt. Mehr noch: Wir finden bei Montesquieu wie bei Rousseau das „Regierungsprinzip" oder die „Regierungsform" der Demokratie, der aristotelischen Tradition folgend, schlechthin als Ausprägung des Gedankens der Gleichheit aufgefaßt. Eben deshalb tauge, wie Rousseau in seiner Auseinandersetzung mit Montesquieu erklärt, eine solche „demokratische Regierung" zwar für ein „Volk von Göttern" aber nicht für ein Volk von Menschen. Da eben diese Gleichheit der Bürger, wie wir sahen, im Bezug auf die Herrschaft im Staate wie den Zustand der Gesellschaft nicht wirklich vorausgesetzt werden kann. Dieser auch zu seiner Zeit verbreiteten Behauptung, ein solches Gemeinwesen der Freien und Gleichen „müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menchen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären", setzt Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" die berühmte Feststellung entgegen: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ,Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber im Geheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten'" 9 1 . Das gilt nicht nur für eine freiheitliche Demokratie in ihrer ersten Ausprägung als Ordnung der Freiheit, mehr noch in ihrer zweiten als Ordnung der Gleichheit. Führen und verführen doch diese seine ,,ungesellige Geselligkeit" mit konstituierenden egoistischen oder doch egozentrischen Neigungen und Begehrungen den Menschen dazu, aus solcher „Privatgesinnung" alles „nach seinem Sinne" zu richten, die Freiheit sich zu nehmen, die ihm beliebt, ohne Rücksicht auf die der Andern, aber auch von der Gleichheit sich auszunehmen, wo es ihm paßt, diese Gleichheit jedoch in Hinsicht auf Andere überall da in Anspruch zu nehmen, wo es ihm Vorteil bringt. Eben der Verhinderung dieser einseitigen Freizeichnung und zugleich Einforderung der Gleichheit dient schon für Rousseau das Gesetz als ein gegenseitig und allseitig verbindendes und vermittelndes allgemeines Wollen zum gemeinsamen Nutzen, mit dem sich Gerechtigkeit zwischen Menschen auch da herstellen läßt, wo der Einzelne die Kraft oder Macht hat, die Gleichheit zwar für sich gegen Andere geltend zu machen, aber von Anderen nicht gegen sich gelten zu lassen. 91

KANT Schriften zur Politik (Fn. 57) S. 224.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

213

Es ist offenkundig, daß solche Ungleichheit zwischen dem Einen und Andern auch deren ungleiche Freiheit, und damit die Unfreiheit des Einen im Vergleich zum Andern zur Folge hat. Weshalb Gleichheit als Voraussetzung einer freiheitlichen Demokratie schon deshalb unverzichtbar und unabdingbar ist, weil ohne sie „die Freiheit nicht bestehen kann", wie schon Rousseau gesagt hat. Damit aber stehen in einer freiheitlichen Demokratie nicht Freiheit und Gleichheit nebeneinander als zwei erst nachträglich zu vermittelnde Forderungen an die Ordnung eines solchen Staates. Vielmehr geht in ihm die Forderung nach Gleichheit aus der vorgängigen Ordnung der Freiheit hervor, unter deren Vorzeichen und Vorrang die freiheitliche Demokratie westlicher Prägung, im Unterschied zu anderen als Demokratie bezeichneten Formen der Volksherrschaft steht. Das aber heißt für eine auf die Prinzipien der Liberalität wie der Egalität begründete liberale und zugleich soziale Demokratie: daß diese nicht einfach als eine Ordnung der Freiheit und daneben als Ordnung der Gleichheit verfaßt ist, sondern auch in dieser zweiten Ausprägung einer freiheitlichen Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit aufgefaßt werden muß, unter demselben umfassenden Vorzeichen und Vorrang der Freiheit. Dabei erschöpft sich die Forderung nach Gleichheit in Freiheit nicht in einer bloßen Gleichheit der Staatsbürger, wie sie etwa im Wahlrecht unserer heute insoweit egalitären Demokratie zum Ausdruck kommt 9 2 . Gleichheit in Freiheit beschränkt sich auch nicht einfach auf die Forderung nach Gleichheit vor dem Gesetz oder auf Gleichbehandlung durch den Gesetzgeber, auf die das in der Demokratie steckende Postulat der Gleichheit heute weithin reduziert ist 9 3 . Um Gleichheit geht es nicht nur, wie es danach erscheinen könnte, bei der Gleichheit des Staatsbürgers im Bezug auf seine Stellung im Staat9*. Um Gleichheit geht es auch bei der Gleichheit der Gesellschaftsglieder im Bezug auf den Zustand der Gesellschaft, also — wie schon bei Rousseau gesehen — der Gleichheit oder Ungleichheit der Vorteile, die bestimmte Einzelne oder Gruppen „aus dem gesellschaftlichen Zusammenschluß ziehen"; ebenso wie die Nachteile, die sie aus ihm erleiden. So bleibend wichtig darum auch immer die Errungenschaften sind, welche heute die Gleichheit der Bürger im Staat verbürgen, so unzureichend bleibt ein solcher auf das Verhältnis zum Staat beschränkter Gedanke der Gleichheit in zweifacher Hinsicht: in

92

So auch B V e r f G E 4 0 , 2 9 6 (317f), wenn es das Wahlrecht als Entwicklung zum „ D e mokratisch — Egalitären" bezeichnet.

93

Zum Prinzip der Gleichheit im Grundgesetz: H . P. IPSEN Gleichheit: Die Grundrechte, herausgegeben von NEUMANN/NIPPERDEY/SCHEUNER,

94

Bd.

II,

1954,

S.

120ff;

dazu umfassend: K . HESSE Der Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht, A ö R Bd. 77, 1 9 5 1 f, S. 172 ff. Der Erinnerung wert ist, daß schon für KANT aus der „Idee der Gleichheit der Menschen im gemeinen W e s e n " die Formel her-

vorgeht: „jedes Glied desselben muß zu jeder Stufe eines Standes in demselben (die einem Untertan zukommen kann) gelangen dürfen. W o z u ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können", was die zumindest egalitäre Chance jedes „ U n t e r t a n e n " in einer solchen Gesellschaft der Freien und Gleichen einschließt, die „Glücksgüter" und „ W o h l f a h r t " sich zu verschaffen, nach denen sein Bedürfnis verlangt und die er nach seinen Fähigkeiten erlangen kann, vgl. Schriften zur Politik (Fn. 57) S. 146 ff.

214

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Hinsicht auf das Verhältnis von Gleichheit Gleichheit und Gesellschaft.

und Wohlfahrt

und damit zugleich von

So wie der Gedanke der Freiheit in Wirklichkeit nicht gedacht werden kann, ohne den der Sicherheit, so auch der Gedanke der Gleichheit nicht ohne den der Wohlfahrt. Dabei ist Wohlfahrt verstanden als die aus der Betätigung der Freiheit des Einen wie des Andern hervorgehende Befriedigung der Bedürfnisse und Entfaltung der Fähigkeiten des Menschen, der materiellen wie der immateriellen, der leiblichen wie der geistigen 95 . In einer Ordnung der Gleichheit in Freiheit folgt daraus für das persönliche Verhalten des Einzelnen nicht weniger und nicht mehr, als daß „jeder seine Wohlfahrt nach seinen Begriffen suchen kann und nicht einmal als Mittel zum Zweck seiner eigenen Glückseligkeit von andern nach deren ihren Begriffen gebraucht werden kann, sondern bloß nach den seinigen". Freiheit des Einzelnen bei dieser Suche nach seiner Wohlfahrt ist so der entscheidende Unterschied einer freiheitlichen Demokratie zu allen unfreiheitlichen Wohlfahrtsstaaten älterer und neuerer Prägung. Diesen Grundunterschied hat schon Kant, in Auseinandersetzung mit dem frühen Wohlfahrtsstaat des aufgeklärten Absolutismus seiner Zeit mit unüberholter Klarheit in die Worte gefaßt: „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann (d. i. diesem Rechte der andern) nicht Abbruch t u t " 9 6 . Eine solche freiheitliche Demokratie schließt darum jede Fremdbestimmung und Zwangsbeglückung des Einzelnen bei seiner „pursuit of happiness" aus. Wie später auch Alexis de Tocqueville in seinem Aufsatz über den „Etat social", ,,an der Stelle seiner größten Annäherung an die Ideen von 1789", es in Aufnahme amerikanischer Verfassungsgedanken zur Voraussetzung und Zielsetzung einer solchen Demokratie erklärt, daß in ihr „nach der richtigen Auffassung der Freiheit jedermann, in der Annahme, daß er von der Natur den für seine Lebensführung notwendigen Verstand erhalten habe, von Geburt das gleiche und unveräußerliche Recht besitzt, von seinesgleichen unabhängig zu leben in allem, was nur ihn selbst betrifft, und sein Schicksal nach seinem Sinne zu gestalten" 9 7 . In einer solchen Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit ist der äußere Rahmen für diese Suche des Einzelnen nach seiner Wohlfahrt allein das Gesetz des Staates. Es gewährleistet größtmögliche Freiheit des Einzelnen nicht nur, wo sie

95

Demokratie

und

5 9 ) S. 145.

Sozialismus

( F n . 79) S. 31 ff, insbesondere S. 5 0 f f ; und

96

2 2 5 f f ; u n d : KANT Schriften z u r Politik ( F n .

Z u m Begriff der Wohlfahrt im einzelnen: W . MAIHOFER

97

TOCQUEVILLE Œ u v r e s complètes,

Ausgabe

zur Wohlfahrt als Bedingung m e n s c h e n w ü r -

J . P. MAYER, 1 9 5 1 , B d . 2, S. 6 2 ; zu T o c q u e -

digen Daseins auch: Rechtsstaat und Sozial-

ville grundlegend:

staat ( F n . 5 9 ) S. 2 7 f f .

Tocqueville, Freiheit und Gleichheit, 1 9 7 3 ,

KANT Metaphysik

der Sitten ( F n .

8 0 ) S.

O.

VOSSLER Alexis

de

insbes. S. 1 6 8 f f und S. 2 4 4 f f , d e m auch die U b e r s e t z u n g e n t n o m m e n ist.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

215

mit der gleichberechtigten Freiheit und notwendigen Sicherheit aller Anderen vereinbar ist, sondern auch, wo die daraus folgende größtmögliche Wohlfahrt des Einzelnen mit der gleichberechtigten Wohlfahrt und notwendigen Gerechtigkeit für alle Anderen vereinbart werden kann. Was heißt dies? Schon in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles ist der Gedanke der Gleichheit von Anfang gedacht als die „richtige Mitte" zwischen einem Zuviel und Zuwenig an Vorteilen und Nachteilen für den Einen und Andern, im Verhältnis und Verhalten zwischen Menschen. Schon bei Aristoteles findet sich auch die Einsicht, daß das Wesen der Gerechtigkeit die Gleichheit ist: Gleiches gleich und Ungleiches gleich ungleich; also angemessen und verhältnismäßig gleich zu behandeln98. Auch im Verhältnis von Wohlfahrt und Gleichheit, wie oben schon im Verhältnis von Freiheit und Sicherheit stoßen wir dabei auf denselben eigentümlichen Sachverhalt: Daß ein Übermaß an Vorteil für den einen regelmäßig ein Übermaß an Nachteil für den Andern bedeutet. Daß also, entgegen dem liberalen Credo, nicht prästabilierte Harmonie zwischen dem Vorteil des Einen und des Andern in dieser Welt besteht; noch gar zwischen dem persönlichen Vorteil des Einzelnen und dem allgemeinen Wohl der Gesellschaft. Vielmehr im Gegenteil ein präformierter Konflikt zwischen dem Einen und Andern auch und gerade in Hinsicht auf ihre Wohlfahrt und deren Gleichheit dadurch entsteht, daß so „wie die Verhältnisse nun einmal sind" in dieser Welt, das Zuviel an Vorteil des Einen ein Zuwenig an Vorteil des Andern, ja aller Andern zur regelmäßigen Folge hat. Dies hat seinen zureichenden Grund nicht einfach, wie dies noch bei Kant erscheint, in ¿.er antagonistischen Natur des Menschen-, seiner „ungeselligen Geselligkeit", die den Menschen seinen Vorteil und Nachteil als wichtiger schätzen und nehmen läßt als den anderer Menschen. Es hat seinen tieferen Grund in der antagonistischen Struktur der Gesellschaft selbst, wie sie in der öffentlichen Sphäre auf die Arbeitsteilung und in der häuslichen Sphäre auf die Geschlechterteilung gegründet ist". Danach folgt schon beim einfachen Tausch oder Kauf, unabhängig von gutem Willen oder böser Absicht, aus einem Zuviel an Vorteilen oder Nachteilen für den Einen ein Zuwenig für den Andern. Wodurch aus solchem Verhalten eine Ungleichheit der Wohlfahrt entsteht, wo immer der Eine seine Bedürfnisse auf Kosten und zu Lasten des Andern befriedigt und sich so übermäßigen Vorteil im Verhältnis zum Andern verschafft, somit diesem regelmäßig übermäßigen Nachteil verursacht. Dem wirkt der Staat durch Vorgabe des äußersten Rahmens für das persönliche Verhalten bei der Suche des Wohles entgegen; durch Gesetze, die nicht nur als verbindendes Wollen, sondern als vermitteltes Wohl gedacht und gestaltet sind. Aber 98

ARISTOTELES Nikomachische Ethik, Ausgab e B I E N bei M e i n e r , 1 9 7 2 , S. 101 ff; v g l . z u m

Recht als einem „Mittleren" jetzt: W . MAIHOFER Europäisches Rechtsdenken (Fn. 82) S. 5 8 6 f f ; zu den verschiednen Kriterien, nach denen Differenzierungen des Gerechten etwa nach Bedürfnis oder Leistung ge-

99

rechtfertigt sein können: CH. PERELM AN Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 16ff. Zur antagonistischen Struktur der Gesellschaft des näheren: W . MAIHOFER Naturrecht (Fn. 66) S. 3 0 f f ; und jetzt: Legitimation des Staates (Fn. 17) S. 2 7 f .

216

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

auch durch Gesetze, die den notwendigen Ausgleich von eingetretenen Ungleichgewichten der Vorteile und Nachteile im Verhältnis und Verhalten der Einzelnen zu bewirken vermögen 100 . Solchen vorbeugenden oder nachträglichen „Ausgleich" unangemessener und unverhältnismäßiger Ungleichgewichte von Vorteilen und Nachteilen des Einen und Anderen in einem „Mittleren" nennen wir individuelle Gerechtigkeit. Wie schon bei Freiheit und Sicherheit stellt sich auch im Verhältnis von Wohlfahrt und Gerechtigkeit die Frage, ob Gerechtigkeit hierbei im Zweifel Gleichheit oder Ungleichheit bedeutet und fordert? In einer auf das angeborene Recht der Freiheit und Gleichheit begründeten Ordnung der Gleichheit in Freiheit kann die Antwort nur lauten: Im Zweifel für die Gleichheit]101 Daraus folgt auch für die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichbehandlung durch das Gesetz, wie sie das Hauptgleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 G G als ein Menschenrecht verbürgt, daß derjenige den Begründungszwang hat und die Beweislast trägt, der Ungleichheit behauptet und Ungleichbehandlung fordert, nicht umgekehrt 1 0 2 . Gerechtigkeit in einem Staat, zu dem sich ein Volk „nach den alleinigen Rechtsbegriffen der Freiheit und Gleichheit" vereinigt, den Kant eine „republikanische Verfassung" 1 0 3 und den wir heute eine freiheitliche Demokratie nennen, heißt so im Zweifel Gleichheit, wo nicht die Ungleichheit außer Zweifel steht, die Notwendigkeit der Ungleichbehandlung sachlich zweifelsfrei ist. Somit läßt sich das Prinzip einer solchen freiheitlichen Demokratie in dieser zweiten Hinsicht einer Ordnung der Gleichheit in Freiheit bestimmen als: Ordnung größtmöglicher und gleichberechtigter Wohlfahrt des Einzelnen, bei notwendiger Gerechtigkeit für Alle. Diese größtmögliche und gleichberechtigte Wohlfahrt des Einzelnen ist jedoch auch hier nicht, wie es nach dem klassischen Begriff der Gleichheit erscheinen könnte, 100

101

102

Zum Recht als „Ausgleich", auch in ideologiekritischer Perspektive, im einzelnen: W. MAIHOFER Ideologie und Recht, in: Ideologie und Recht, hrsg. von W. MAIHOFER, 1969, S. 9ff; zur dementsprechenden Auffassung des Gesetzes als „vermitteltes Wohl" jetzt: Legitimation des Staates (Fn. 17) S. 36 f. Zur Formel: Im Zweifel für die Gleichheit! jetzt: W. MAIHOFER Europäisches Rechtsdenken (Fn. 82) S. 588 f; und zur Begründung aus der Funktion des Rechts in der Epoche der Moderne: Legitimation des Staates (Fn. 17) S. 29ff, insbesondere S. 34f. Demgegenüber hält das Bundesverfassungsgericht innerhalb der Grenzen des Obermaßund Willkürverbots das Prinzip inhaltlicher Rechtsgleichheit durch den Gesetzgeber nur

für verfehlt, wenn für eine Identifizierung als gleich oder Differenzierung als ungleich „ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender G r u n d " nicht finden läßt (so schon BVerfGE 1, 52, ständige Rechtsprechung); eine allzu elastische Formel, die sich schwer mit dem kategorischen Diktum vereinbaren läßt: „Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie" (BVerfGE 40, 317f). 103 VGL d a Z u nochmals KANTS in der Frage der Rechtsgleichheit prinzipielle Position, in deren Vorstellung einer „vollkommen gerechten bürgerlichen Verfassung" der Gedanke der Gerechtigkeit überhaupt anders denn als Gleichheit nicht vorkommt (Schriften zur Politik, Fn. 57, S. 145ff, S. 223 und S. 241).

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

217

allein eine Frage der Gleichheit vor dem Gesetz oder der Gleichbehandlung durch das Gesetz. So grundlegend diese formale Garantie gesetzlich gesicherter Gleichheit für unser heutiges Verständnis eines Staates der Freien und Gleichen auch immer ist und bleibt. Hängt doch offenkundig auch die Gleichheit des Einzelnen nicht nur von solchen Gesetz gewordenen Bedingungen des persönlichen Verhaltens ab, sondern ebenso auch davon ab, welche Möglichkeiten die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst für die Erreichung oder Aufrechterhaltung solcher Gleichheit geben, aber auch nicht geben. Durch sie wird auch hier entscheidend mit bestimmt, ob der Einzelne die reale Chance gesellschaftlich erfüllter Gleichheit hat oder nicht hat. Diese aber ist in Hinsicht auf die Gleichheit der Wohlfahrt des Einzelnen in der Befriedigung seiner individuellen Bedürfnisse und Entfaltung seiner persönlichen Fähigkeit, noch offenkundiger als schon beim Gebrauch oder auch Mißbrauch der Freiheit, vorbedingt oder doch mitbedingt durch natürliche Ungleichheiten der Bedürfnisse wie der Fähigkeiten, aber auch durch gesellschaftliche Ungleichheiten der beruflichen Stellung wie des wirtschaftlichen Vermögens. Wie ist unter diesen Voraussetzungen der Ungleichheit die Zielsetzung einer Ordnung der Gleichheit zu verwirklichen? Für eine Ordnung der Gleichheit in Freiheit, die der freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung des Einzelnen den größten und gleichen Entfaltungsraum auch in der Arbeitsteilung und Geschlechterteilung der öffentlichen wie häuslichen Welt der Gesellschaft gewährleisten will, kann deren Prinzip nur lauten: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" Dies schließt jede Ordnung der Gleichheit in Unfreiheit aus, die nicht mehr die größte und gleiche Wohlfahrt des Einzelnen in der Befriedigung seiner individuellen Bedürfnisse und Entfaltung seiner persönlichen Fähigkeiten zum Ziele hat, sofern und soweit diese sich mit der auch aller Andern vereinbaren läßt, sondern nurmehr die gleiche Wohlfahrt nach den gleichgemachten Bedürfnissen und gleichgesetzten Fähigkeiten eines Jeden sich zum Ziele setzt. Deshalb gerät der orthodoxe Sozialismus, der so das Prinzip der Gleichheit auf dem Wege einer Amputation der Freiheit verwirklichen will, nicht nur mit seinen eigenen Voraussetzungen und Zielsetzungen in Widerspruch: eine „nurmehr durch die Bedürfnisse selbst beschränkte Befriedigung aller Bedürfnisse des Menschen" in einer wahrhaft „menschlichen Gesellschaft" zu ermöglichen. Er verleugnet damit auch das geistige Erbe der Demokratie, daß er doch in ein endlich erreichtes „Reich der Freiheit" mit einbringen will 1 0 4 . 104

Zu diesem Selbstwiderspruch von Politökonomie und Demokratietheorie des orthodoxen Sozialismus im einzelnen: W . MAIHOFER Demokratie und Sozialismus (Fn. 79) S. 5 0 f f ; zu demselben Ergebnis kommt schon die höchst bedeutsame Untersuchung H. KELSENS zur politischen Theorie des Sozialismus (Sozialismus und Staat, 3. A u f l . 1965,

herausgegeben von N. LESER), die den W i derspruch in der Unvereinbarkeit der ökonomischen Theorie, in der „von einer Zentralstelle aus der Produktionsprozeß" nach einem „gigantischen Einheitsplane geordnet und geleitet werden soll" mit einer politischen Theorie sieht, die sich mit ihrer V o r stellung: „ A n die Stelle der Regierung über

218

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Auf diesen Widerspruch des zeitgenössischen Sozialismus zur Demokratie zielt schon Tocquevilles schonungslose Entgegensetzung der Prinzipien einer Ordnung der Gleichheit in Freiheit und einer der Gleichheit in Unfreiheit, wozu er in seiner berühmten Rede vor der Assemblée Constituante von 1848 ausführt: „Die Demokratie erweitert den Bereich der Unabhängigkeit des Individuums, der Sozialismus verengt ihn. Die Demokratie verleiht jedem Menschen seinen höchstmöglichen Wert, der Sozialismus macht aus jedem Menschen einen Beamten (agent), eine Nummer. Demokratie und Sozialismus hängen nur mit einem Wort zusammen, Gleichheit. Aber achten Sie auf den Unterschied: Demokratie will Gleichheit in Freiheit, Sozialismus will Gleichheit im Zwang, in der Knechtschaft" 1 0 5 . Das Problem der Gleichheit ist aber auch nach der anderen Seite hin nicht dadurch aufzulösen, daß man das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit ganz einfach leugnet oder dadurch umgeht, daß man die Forderung nach Gleichheit auf die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichbehandlung durch das Gesetz zurücknimmt, die Forderung nach Gleichheit der Wohlfahrt jedoch aus den Prinzipien der Demokratie ausklammert. Auch der klassische Liberalismus, der das Prinzip der Freiheit auf dem Wege einer Reduktion der Gleichheit verwirklichen will, gerät so nicht minder mit seinen eigenen Voraussetzungen und Zielsetzungen in Widerspruch, die eine Gewährleistung der Menschenwürde und der Menschenrechte von Freiheit und Gleichheit, nicht nur als Bedingungen der Vereinigung von Menschen in einem Staat, sondern auch des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft fordern. Er verleugnet damit Erbe und Auftrag der Demokratie auf seine Weise ebenso, die sich in ihren Prinzipien, wie wir sahen, nur als zugleich liberale und soziale Demokratie entfalten und vollenden kann. Wenn so für eine diesen Prinzipien genügende Ordnung der Gleichheit in Freiheit diese beiden einfachen Lösungen um der größten möglichen Freiheit wie Gleichheit der Menschen willen ausgeschlsosen sind, wie ist das hier liegende Problem ohne solche terriblen Simplifikationen überhaupt zu lösen? Wenn nicht dadurch, daß einfach, um der Gleichheit willen, die Freiheit des Menschen verkürzt wird auf ein von Staats wegen nach ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit bemessenes und zugestandenes Maß an für alle gleichen Möglichkeiten zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Entfaltung ihrer Fähigkeiten? Wenn nicht dadurch, daß einfach um der Freiheit willen, die Gleichheit des Menschen zerstört wird, durch ein von Staats wegen zugelassenes unbegrenztes Ausmaß an für Einzelne ungleichen Möglichkeiten zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Entfaltung ihrer Fähigkeiten nach reiner

Personen tritt die Verwaltung von Sachen, die Leitung von Produktionsprozessen" zu einem „ausgesprochen anarchistischen Ideal bekennt" und sich „über die Notwendigkeit des Zwanges zur Verwirklichung der kommunistischen Wirtschaftsordnung getäuscht h a t " (aaO, S. 88f).

105

TOQUEVILLE Œuvres complètes, hrsg. von G . DE B E A U M O N T , 1 8 6 4 - 1 8 6 6 , B d . I X ,

S.

546; zitiert nach der Ubersetzung bei O . VOSSLER T o c q u e v i l l e ( F n . 97) S. 169,

vorhebungen von mir.

Her-

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie

(MAIHOFER)

219

persönlicher Nützlichkeit, auch auf Kosten und zu Lasten der aller Anderen? Wie aber dann, wenn nicht durch eine dieser Vereinfachungen, ist dieses Problem zu lösen, das man als die „Quadratur des Kreises" bezeichnet und das Gerhard Leibholz dahin umschrieben hat: „Liberale Freiheit und demokratiche Gleichheit (stehen) in Wirklichkeit zutiefst zueinander im Verhältnis einer unaufhebbaren Spannung. Freiheit erzeugt zwangsläufig Ungleichheit und Gleichheit notwendig Unfreiheit. Je freier die Menschen sind, um so ungleicher werden sie. Je mehr die Menschen dagegen im radikal-demokratischen Sinne egalisiert werden, um so unfreier gestaltet sich ihr Leben" 1 0 6 . Dieses Problem wird in seiner ganzen Schärfe erst sichtbar, wenn wir den Zusammenhang von Gleichheit und Wohlfahrt auch für das Verhältnis von Gleichheit und Gesellschaft herstellen. Erkennen wir doch alltäglich, daß in einer Gesellschaft der Freiheit aus der Gleichheit der Chancen eines Jeden, auch da wo sie nicht nur formal garantiert, sondern ohne jegliche Diskriminierung oder Privilegierung auch material realisiert sind in entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen, keinesfalls auch schon eine Gleichheit der Resultate folgt, im Gegenteil. Daß daraus vielmehr regelmäßig eine Ungleichheit der Resultate schon an größerer oder geringerer Wohlfahrt des Einzelnen, aber auch an unangemessener und unverhältnismäßiger Verteilung der Wohlfahrt einer Gesellschaft entsteht. Dies hat zweifache Gründe. Dies folgt in jeder Ordnung der Gleichheit in Freiheit zum einen unvermeidlich aus der in sie eingehenden Ungleichheit der Prämissen: den verschiedenen Bedürfnissen und unterschiedlichen Fähigkeit der Einzelnen, die in einer auf die Menschenwürde zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gegründeten freiheitlichen Demokratie auch die eigene Wahl der ungleichen Möglichkeiten mit bestimmen, welche die Arbeitsteilung der Gesellschaft für die Befriedigung dieser individuellen Bedürfnisse und Entfaltung dieser persönlichen Fähigkeiten eröffnet. Diese eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Einzelnen wirken sich so jedoch nicht nur verschieden in seiner „freien Wahl" einer dementsprechenden Ausbildungsstätte, eines Arbeitsplatzes oder gar Berufes aus, die Art. 12 unseres Grundgesetzes als ein Bürgerrecht verbürgt. Sie wirken sich entsprechend aus auch auf die Wohlfahrt, die sich der Einzelne so auf „seinem Wege" suchen und schaffen kann, mit seinen körperlichen Kräften und geistigen Anlagen, aber auch mit seiner beruflichen Stellung und seinem wirtschaftlichen Vermögen. Daß dies selbst bei gesellschaftlich vollständig gleichen Chancen des Einzelnen zu ungleichen Resultaten der Wohlfahrt führt ist offensichtlich. Sie sind letztlich nur um den Preis einer Unterdrückung oder doch Verkürzung eben der Freiheit zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung des Einzelnen überhaupt zu verhindern, welche die Menschenwürde des Menschen ausmacht. Eine freie Gesellschaft, die diesen Preis einer Abschaffung der Freiheit des Einzelnen zur Verhinderung der Ungleichheit seiner Wohlfahrt nicht zu zahlen bereit 106

G. L E I B H O L Z Strukturwandel der modernen Demokratie, in: Strukturprobleme der modernen Demokratie, 2. Aufl., 1964, S. 88f;

vgl. dazu auch: L . R E I N I S C H (Hrsg.), Freiheit und Gleichheit oder Die Quadratur des Kreises, 1974.

220

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

ist, steht damit dennoch vor der Frage, wie sie die Erlangung unangemessener und unverhältnismäßiger Vorteile, aber auch Macht, auf Kosten und zu Lasten Anderer, oder gar aller Anderen ausschließt. So richtig es darum ist, daß „die Alternative Freiheit oder Gleichheit" eine „Scheinalternative" ist, wie Martin Kriele feststellt, weil: „Wer glaubt, zwischen Freiheit und Gleichheit wählen zu müssen und sich für die Freiheit entscheidet", „in Wirklichkeit die Freiheit für einige und Unfreiheit für andere" wählt; ebenso aber auch: „Wer sich für die Gleichheit entscheidet", „nicht nur die Freiheit, sondern zugleich auch die Gleichheit" opfert für eine neue Klassengesellschaft von „Machthabern und Unterdrückten". So zutreffend das ist, so falsch wäre es, in diesem Gegensatz nur ein Scheinproblem sehen zu wollen, das sich mit der schlichten Behauptung aus der Welt schaffen läßt: „daß die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit nicht gegensätzliche, sondern identische Forderungen sind" 1 0 7 . Eine solche „politische Aufklärung" führt nicht, wie es in Krieles Absicht liegt, auf einen „dritten Weg quer zu allen politischen Strömungen sowohl des konservativen Liberalismus, als auch des progressiven Egalitarismus", er führt hinter den in der bürgerlichen Aufklärung bereits erreichten Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit wie der Gleichheit zurück, dessen bei Montesquieu wie Rousseau, bei Kant wie bei Hegel bereits zu ihrer Zeit gefaßter Gedanke heute eher in Vergessenheit versunken und von der Wirklichkeit bis Heute nicht eingeholt und erfüllt ist. Darin liegt nun einmal das Kardinalproblem unserer Epoche der Moderne, die man in ökonomischer Bornierung beiderseits gerne als die des Kapitalismus bezeichnet, wie Hans Kelsen mit schonungsloser Deutlichkeit nach der Seite der Demokratie wie des Sozialismus feststellt: „Daß die Emanzipation, die mit der Demokratie verbunden ist, daß die formelle politische Gleichheit aller Bürger an und für sich keineswegs die wirtschaftliche Gleichheit, das heißt den Ausgleich der wirtschaftlichen Gegensätze, im Gefolge haben m u ß . " Daß vielmehr „in einem Zustand der Freiheit von jedem staatlichen Zwange", „die natürliche Ungleichheit des Menschen hemmungslos zur Geltung kommt", die Kelsen zurecht „die letzte subjektive Quelle aller, nicht bloß der wirtschaftlichen Ausbeutung" nennt. Deshalb gelangt er im Blick auf den Staat der Demokratie wie des Sozialismus seiner Zeit zu der grundsätzlichen Feststellung: Während „im kapitalistischen Klassenstaate sich hinter der formalen Rechtsgleichheit die wirtschaftliche Ungleichheit, die wirtschaftliche Ausbeutung verbirgt, entspricht im proletarischen Klassenstaate der formalen auch die wirtschaftliche Gleichheit. Zumindest ist dies der eigentliche Zweck dieser Zwangsordnung. Wenn die kapitalistische Staatsordnung ein Werkzeug der Unterdrückung 1 ist, so ist sie es nicht darum, weil sie den Besitzlosen etwa keine politischen Rechte gibt; sie ist es vielmehr, trotzdem sie dies tut" 1 0 8 .

107

M. KRIELE Befreiung und politische Aufklärung, Plädoyer für die Würde des Menschen, 1980, S. 59f; vgl. auch schon: Staatslehre (Fn. 4) S. 331 ff; und aus soziologischer Perspektive auch: R. DAHRENDORF

108

Uber den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 2. Aufl., 1966. H . KELSEN Sozialismus und Staat (Fn. 104) S. 51, S. 46, und S. 88f; Hervorhebungen hinzugefügt.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

221

Zu diesem „Ausgleich" der „wirtschaftlichen Ungleichheiten" bedarf es in einer freiheitlichen Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit der ständigen Gegensteuerung gegen die aus dem „Lauf der Dinge" drohende „Zerstörung der Gleichheit", also die dauernde Erhaltung der Gleichheit durch die „Kraft der Gesetzgebung", die schon Rousseau gefordert hat. Diese hierzu geforderte „Wirksamkeit des Staates" muß auf zwei Ebenen oder in zwei Stufen geschehen: zur Aufrechterhaltung der individualen Gerechtigkeit zwischen den Einzelnen, und der sozialen Gerechtigkeit in der Gesellschaft überhaupt. Dazu bedarf es auf der ersten Ebene im Verhältnis und Verhalten der Einzelnen der gesetzmäßigen Vorkehrungen zur „Steuerung" von Ubermaß und Mißbrauch, der bei einem unangemessenen und unverhältnismäßigen Ungleichgewicht der Vorteile, aber auch der Abhängigkeiten des Einen und Andern droht, wie wir sie von den frühen Wuchergesetzen an bis in die heutige Wettbewerbsgesetzgebung hinein kennen. Wie sie sich aber auch in der Rechtsprechung nach bestimmten „Generalklauseln" unserer Gesetze in ständiger Fortbildung und Verfeinerung des Gedankens der individualen Gerechtigkeit etwa als Leistungsgerechtigkeit, aber auch der Billigkeit als „Gerechtigkeit des Einzelfalles", sowie im Zurückgreifen auf „Verkehrssitten", aber auch aus der Einräumung von „Vertrauensschutz" entwickelt haben 109 . Nicht nur um der Wahrung der Gerechtigkeit zwischen den Einzelnen willen, sondern auch um der Erhaltung eines Gleichgewichtes der Abhängigkeiten in einer freien Gesellschaft, die es nicht zulassen kann, wie schon Rousseau bemerkt, daß in ihr Einzelne so reich und mächtig und Andere so arm und ohnmächtig werden, daß der Eine den Andern „kaufen" kann und der Eine dem Andern sich „verkaufen" muß. Diese Ungleichheit der Wohlfahrt des Einzelnen stellt die Voraussetzungen und Zielsetzungen einer liberalen und zugleich sozialen Demokratie dann nicht in Frage, wenn dem Ubermaß und Mißbrauch von Vorteil und Macht durch einen Gesetz gewordenen allgemeinen Willen gesteuert wird, der dem „Privatinteresse" des Einzelnen da Schranken setzt, wo es mit dem auch aller Andern, d. h. mit dem „gemeinsamen Nutzen" nicht mehr vereinbar ist. Womit eben jener „Einklang des Interesses und der Gerechtigkeit" hergestellt ist, der schon für Rousseau jede Herrschaft der Gesetze zum Wohle der Bürger auszeichnet, auch die zur Gewährleistung der zwar größten möglichen aber doch gleich berechtigten Wohlfahrt des Einzelnen, bei notwendiger Gerechtigkeit für Alle. Das eigentliche Problem einer solchen Ordnung der Gleichheit in Freiheit beginnt da, wo diese in einmaligen Akten sich äußernde Ungleichheit der Wohlfahrt des Einzelnen in ständiger "Wiederholung der gleichen Ungleichheiten in einen gesellschaftlichen Prozeß einmündet und so in eine Ungleichheit der Wohlfahrt in der Gesellschaft überhaupt umschlägt, die auch mit noch so strenger Einzelfallgerechtig-

109 VGL

(JAZU ¡

m

e i n z e l n e n : J . SCHMIDT R e c h t

der Schuldverhältnisse, §242, in: Staudingers Kommentar z u m B G B , 12. Aufl., 2. Buch, 1981, Rdn. 9 8 f f ; und zu einer sol-

chen „Verrechtlichung der Interaktionsmoral" auch: G. TEUBNER Allgemeines Schuldrecht, §242, in: Alternativkommentar B G B , 1 9 8 0 , S. 3 2 f f .

zum

222

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

keit nicht mehr zu steuern ist. Woraus eine unangemessene und unverhältnismäßige Verteilung der Vorteile wie der Macht in der Gesellschaft überhaupt entsteht, die diese aus einer Ordnung der Gleichheit in Freiheit zu einer Ordnung der Ungleichheit, und damit auch der Unfreiheit verändert. Dieser Zustand einer Gesellschaft tritt schon für Rousseau dann ein, wenn „der Nutzen, den jeder aus dem gesellschaftlichen Zusammenschluß zieht", danach für gewisse Einzelne, aber auch Gruppen fortwährend unangemessen und unverhältnismäßig ungleich wird. Wodurch eine gesellschaftliche Struktur entsteht, die durch eine „übermäßige Ungleichverteilung" gekennzeichnet ist, von Einkünften wie von Gütern. Zwischen den Einen, die ein Zuviel und den Andern, die ein Zuwenig an Vorteilen aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und in der ihr nachfolgenden Besitzverteilung erlangt haben. Dabei ist es für die soziale Ungerechtigkeit einer solchen Gesellschaft verhältnismäßig gleichgültig, ob diese Ungleichheit der Wohlfahrt ihren zureichenden Grund in einer „übermäßigen Ungleichverteilung" der erzielten oder erarbeiteten Vorteile zwischen Grundeigentümern und Nichteigentümern, zwischen Geldbesitzenden und Nichtbesitzenden, oder wie heute zwischen Kapital und Arbeit, oder gar zwischen Produzenten und Konsumenten überhaupt hat. Die entscheidende Frage allein ist, ob durch eine Unausgewogenheit und Ungleichgewichtigkeit von Vorteilen und Nachteilen bestimmte Einzelne oder Gruppen als Solche in einer Gesellschaft grundsätzlich und fortlaufend begünstigt und andere als Solche entsprechend benachteiligt werden, wobei es auf bösen Willen und schlechte Absicht allemal nicht ankommt. Denn damit entsteht, gewollt oder ungewollt, eine einseitige Ansammlung und Verlagerung der Vorteile auf grundsätzlich Begünstigte: prinzipiell Privilegierte, mit entsprechend Benachteiligten: prinzipiell Diskriminierten auf der Kehrseite und Schattenseite einer solchen Gesellschaft der Ungleichheit. Ein solcher Verlust des Gleichgewichts in der Verteilung der Vorteile wie der Nachteile auf alle Seiten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird damit zunehmend bedrohlich, ja verhängnisvoll für den Fortbestand nicht nur der Gleichheit, sondern auch der Freiheit in einer Gesellschaft. Wird er doch, damals wie heute, durch einen Trend der Realität verstärkt, der schon Rousseau in seiner Politischen Ökonomie beschäftigt: daß Reichtum aus sich selbst heraus weiteren Reichtum zeugt, aber auch Armut aus sich selbst heraus zu weiterer Verelendung hinführt. Die Armut also aus der Pauvreté folgt, wie es in dem saloppen Diktum heißt. Altertümlich, aber doch auch gegenwartsbezogen ausgedrückt: weil deshalb die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer werden, oder modern formuliert: weil der Trend, den wir in der Entwicklung der Eigentums- und Vermögensverteilung noch heute beobachten, zur Ansammlung des Produktivitätszuwachses beim Produktiveigentum hinführt. Womit auch heute eben jener „Lauf der Dinge" in vollen Gang kommt, der auf die „Zerstörung der Gleichheit ausgeht". Grundsätzlicher noch wird eine solche Ordnung der Gleichheit in Freiheit bedroht, wenn in ihr, nach „Zerstörung der Gleichheit" nicht nur Ungleichheit der Wohlfahrt herrscht, sondern eine aus dieser folgende Ungleichheit der Freiheit droht:

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher D e m o k r a t i e (MAIHOFER)

223

durch die einseitige, mehr oder weniger vollständige Abhängigkeit des Einen vom Andern in der Gesellschaft, die Verknechtung und Ausbeutung von Menschen durch Menschen zur regelmäßigen Folge hat. Das Postulat, das schon Rousseau diesem Trend entgegensetzt, ist bei allem inzwischen erreichten Fortschritt im Bewußtsein auch der Gleichheit immer noch das unsere: „Weil der Lauf der Dinge stets auf die Zerstörung der Gleichheit ausgeht, deshalb muß gerade die Kraft der Gesetzgebung stets auf ihre Erhaltung ausgehen." Durch eine Gesetzgebung der Gegensteuerung, die, anders als damals, nicht nur den Hebel der notwendigen Umverteilung zum Vorteilsausgleich in einer Gesellschaft durch Besteuerung kennt, sondern auch andere moderne Instrumente: wie allgemeine Vermögensbildung und Sparförderung, aber auch betriebliche oder gar überbetriebliche Vermögensbeteiligung, zum Ausgleich der Ungleichgewichte der Vorteile zwischen Kapital und Arbeit im Unternehmen, oder gar zwischen Produzenten und Konsumenten in der Gesellschaft überhaupt 1 1 0 . Wie wir sahen, besteht schon für Rousseau deshalb eine der ,,wichtigsten Aufgaben der Regierung" darin, einer ,¡übermäßigen Ungleichverteilung der Güter vorzubeugen, nicht indem sie den Reichen ihren Besitz entzieht, sondern allen die Mittel nimmt Reichtum anzuhäufen; nicht indem sie Armenhäuser baut, sondern die Bürger vor Verarmung bewahrt". Diese Aufgabe macht für ihn geradezu „die wahre Wirksamkeit eines Staates" aus, „allmählich" alle Vermögen jener Ausgewogenheit anzunähern", in ,,der Jeder Etwas und Keiner Zuviel hat". Die Legitimität einer freiheitlichen Demokratie, die wir heute als liberale und soziale Demokratie begreifen und bezeichnen, fordert so eine andere Wirksamkeit des Staates als die der liberalen Demokratie früheren Verständnisses, deren „Grenzen der Wirksamkeit" auf die Sphäre des Staates und die in ihr verwirklichte Freiheit und Gleichheit beschränkt sind, und die so die Sphäre der Gesellschaft, mitsamt „ökonomischer Basis" und „geistigem Uberbau", den gesellschaftlichen Kräften und den sog. wirtschaftlichen Eigengesetzlichkeiten überantwortet. Demgegenüber steht es für uns heute außer Frage, daß die Verpflichtung des Staates auf die Menschenwürde und die Menschenrechte der Freiheit und Gleichheit nicht allein eine Wirksamkeit des Staates fordert, die diese Würde und Rechte, über formale Garantien des Gesetzes hinaus auch durch reale Chancen der Gesellschaft verbürgt. Vielmehr stellt sich für uns heute genau umgekehrt die Grundsatzfrage, ob diese Wirksamkeit nicht auch die Verpflichtung des Staates mitumfaßt, die reale Struktur der Gesellschaft so zu gestalten und notfalls umzugestalten, daß sie diesen Prinzipien der Menschenwürde und der Freiheit und Gleichheit entspricht, und nicht schon im Prinzip widerspricht 111 .

10

Dies ist der bleibende bisher weithin unerfüllte Sinn der sog. Freiburger Thesen und ihrer F o r d e r u n g nach „ D e m o k r a t i s i e r u n g der Gesellschaft" u n d folglich zugleich „ R e f o r m des Kapitalismus"; vgl. dazu im einzelnen: W . MAIHOFER Liberale Gesell-

111

schaftspolitik, in: Die Freiburger Thesen der Liberalen, hrsg. von K. H . FLACH u . a . , 1972, S. 2 7 f f , insbes. S. 40ff. Entsprechend der auch von ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE bekräftigten „Erhalt u n g s f u n k t i o n " des freiheitlichen Staates f ü r

224

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Dies müßte auch für den Fall Geltung erlangen, wenn bei der in Gang befindlichen zweiten technischen Revolution, aus dem Selbstlauf der Wirtschaft die reale Chance eines Jeden, seine Selbstverwirklichung und Wohlfahrt auf dem Wege der Arbeit zu suchen, für einen erheblichen oder gar den größeren Teil der Gesellschaft, so wie der „Lauf der Dinge einmal ist", ökonomischer Rentabilität und industrieller „Rationalität" zum Opfer fiele. Dadurch würde ein allein auf den Menschen als seinen Zweck verpflichteter Staat gefordert, alle „Kraft der Gesetzgebung" wie der Staatstätigkeit überhaupt gegen eine solche grundlegende „Zerstörung der Gleichheit" einzusetzen und deshalb mit allen Mitteln und auf allen: notfalls neuen Wegen eine „Erhaltung der Gleichheit" realer Chancen der Selbstverwirklichung in Arbeit und Beruf für alle Bürger zu erreichen. Die Frage nach der Realität der Prinzipien der Freiheit und Gleichheit stellt sich für eine Ordnung der Gleichheit in Freiheit grundsätzlich anders als für andere „Regierungsformen": der Freiheit in Ungleichheit oder der Gleichheit in Unfreiheit. Setzt eine freiheitliche Demokratie als zugleich liberale und soziale Demokratie doch schon nach Rousseaus Einsicht eine „fast vollkommene Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen voraus, ohne die auch die Gleichheit der Rechte und der Macht keinen langen Bestand haben könnte." Dies aber heißt auf den Grundsatz gebracht nichts anderes als dies: Ohne soziale Demokratie keine liberale Demokratie! Aber auch: Ohne liberale und soziale Demokratie keine freiheitliche Demokratie!112

4. Demokratie als Ordnung der Brüderlichkeit in Freiheit und das Problem einer humanen Demokratie: Mitmenschlichkeit des Einzelnen, Menschlichkeit der Verhältnisse und Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft? Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit! lauten die politischen Postulate der demokratischen Revolution in Frankreich, wie sie auch noch in den späteren Verfassungsbewegungen in unserem Lande nachklingen.

eine „freie Gesellschaft", die fordert: „daß der Staat nicht untätig zusieht, wie die von ihm gewährleistete rechtliche Freiheit und Gleichheit für eine wachsende Zahl seiner Bürger zur leeren Form wird, sondern der gesellschaftlichen Ungleichheit entgegenwirkt, sie durch sozialen Ausgleich und soziale Leistungen relativiert, um dadurch individuelle Freiheit und rechtliche Gleichheit für alle real zu erhalten" (Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973, S. 38). 112

Ähnlich gelangt auch E. BLOCH von Seiten des Sozialismus, nach Einholung und Wie-

dergewinnung des „naturrechtlichen Erbes der bürgerlichen A u f k l ä r u n g " und der „ d e mokratischen Errungenschaften der französischen Revolution" in die politische Theorie des Marxismus, zu der Forderung: „ K e i ne Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie!" vgl. dazu W. MAIHOFER Ernst Blochs Evolution des Marxismus, in: Uber Ernst Bloch, 1968, S. 112ff insbes. S. 126f; vgl. im besonderen auch zum „ E r b e an der Trikolore: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit": E. BLOCH N a turrecht und menschliche Würde, 1961, S. 175 ff.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

225

Schon um die Gleichheit ist es in den Demokratien und Republiken danach still geworden, auch wo sie auf Montesquieu und Rousseau sich als ihre geistigen Väter berufen. Sie schränkt sich ein auf die Gleichheit vor dem Gesetz, die Gleichbehandlung als Verfassungsgebot. Gänzlich verklungen ist lange Zeit das politische Postulat der Brüderlichkeit, auch in den auf christliche Glaubensüberzeugungen sich berufenden Staaten. Für sie gelten zwar Nächstenliebe und Nächstenhilfe des „Christenmenschen als Weltperson" (Luther) weiter, aber doch nur als moralisches Postulat für das persönliche Handeln des Einzelnen, das sich auch in organisierter Aktivität der Kirchen als Caritas oder Diakonie, Nothilfe und Lebenshilfe leistend äußert. Solche persönliche oder gemeinsame Nächstenhilfe für die „Mühseligen und Beladenen" aber auch die „Erniedrigten und Beleidigten" in einer Gesellschaft, stellt die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst nicht in Frage; es setzt sie vielmehr geradezu voraus. Demokratie als Ordnung der Brüderlichkeit geht von anderen Voraussetzungen aus und auf andere Zielsetzung hinaus. Sie hat ihr existentielles Fundament, wie wir sahen, in der Menschenwürde selbst: in der aus der Personalität der eigenen Person erwachsenden und sie überschreitenden Solidarität mit der anderen Person, „mit allem, was Menschenantlitz trägt", mit der „Menschheit in jedermanns Person". Brüderlichkeit ist so der Begriff für das prinzipielle Füranderedasein und Fürandereeinstehen, dem wir als die andere Seite der Menschenwürde unter der Kategorie der Solidarität begegnet sind. Sie hat genauer betrachtet verschiedene personale Dimensionen. Dasein und Einstehen kann der Eine für den Andern zunächst als dieser Selbst-. dieses Individuum mit dem ich mich identifiziere, ja mit dem ich mich solidarisiere in einer Weise, die wir individuale Solidarität nennen können. Sie begegnet uns als Liebe zu Allernächsten, zu Angehörigen, zu Freunden oder zu sonst Nahestehenden, die Einander annehmen und Füreinander da sind als ein anderes Selbst, das sie nicht nur lieben, wie sich Selbst, sondern für das sie auch sorgen und sich besorgen, wie um sich Selbst. Eine solche „Nächstenliebe" ist auch im Zustand der Gesellschaft in der Dimension der Individualität zwischen Allernächsten möglich in „höchstpersönlichen Verhältnissen". Jede Uberanstrengung dieser individualen Solidarität über das eigenste „Selbstsein und Mitsein" hinaus, führte zu einer Auflösung und Zerstörung zugleich auch der „ureigensten Beziehungen" zu diesen Nächststehenden des persönlichen Lebensumkreises. Sie haben mit dem zu tun, was wir von Rechts wegen nur achten und von Staats wegen schützen können als zum Persönlichkeitskern, als in die sog. Intimsphäre gehörige Beziehungen von Menschen zu Menschen. Die nicht zuletzt Ausdruck der Menschenwürde als Freiheit der Selbstverwirklichung und Daseinsgestaltung aus der Eigenverantwortung der Person und darum zu Recht Gegenstand auch des Kernbereichs des Menschenwürdeschutzes sind 1 1 3 .

113

Zu dieser Dimension der Individualität höchst persönlicher Beziehungen zwischen

Menschen schon: W . MAIHOFER V o m Sinn menschlicher Ordnung (Fn. 62) S. 4 2 f f ;

226

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Der Mensch ist eben nicht nur „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", ein „Arbeitsmensch", der als ein „arbeitendes Wesen" in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung aufgeht. Er ist immer auch ein Individuum der höchstpersönlichen Verhältnisse in der ganzen „Summe der Beziehungen, in der er lebt" 1 1 4 . Aber als Solcher steht der Mensch auch in jenen ganz anderen alltäglichen Beziehungen, denen wir in der Dimension der Sozialität begegnet sind, und die Theodor Geiger in seiner „Demokratie ohne Dogma" in den Mittelpunkt seiner Definition der Person aus ihren Kontakten der Sozialität gerückt hat, die wir heute Sozialkontakte nennen 115 . Mit ihnen konstituiert sich die Person als ein bestimmter Jemand: als Käufer oder Verkäufer, als Lehrer oder Schüler, als Arzt oder Patient, als der sie sich Selbst als Solcher mit und durch den „entsprechenden Andern" zu dem macht und gemacht wird, was der Mensch als ein „gegenständliches Gattungswesen" immer nur zusammen mit einem solchen Andern sein und werden kann, wie Ludwig Feuerbach erstmals in ganzer Klarheit gesehen und gesagt hat; als ein „ H o m o soziologicus" in je bestimmter „sozialer Rolle" und Lage, wie wir in der Diktion der Soziologie heute sagen 116 . Auch in solchem alltäglichen Zutunhaben und Miteinanderumgehen gibt es so etwas wie „soziale Solidarität", die mit „gegenseitiger Rücksichtnahme", aber auch mit „wechselseitiger Unterstützung", also mit dem einvernehmlichen Zusammenwirken der sog. „Interaktionspartner" zur beiderseitigen Zielerreichung zu tun hat, die ohne eine Abstimmung des Wollens miteinander und Zusammenstimmung des Wohls aufeinander nicht möglich ist; auf einen „gemeinsamen Nenner", auf dem alle Beteiligten auf ihre Kosten kommen, also sich die Interessen und Erwartungen aller von den Auswirkungen eines solchen Lebenssachverhaltes und Rechtsverhältnisses Betroffenen vereinbaren: identifizieren und solidarisieren lassen 117 .

114

und: Naturrecht (Fn. 66) S. 2 7 f f ; dazu grundsätzlich auch: H . HENKEL Recht und Individualität, 1958. Dies ist die unverlierbare Einsicht des modernen Existenzialismus von Nietzsche an bis zu Heidegger und Sartre, aber auch des modernen Personalismus von Ludwig Feuerbach bis zu Martin Buber. Vgl. dazu des näheren: W. MAIHOFER Recht und Sein, Prolegomena zu einer Rechtsontologie, 1954, S. 17ff und: Konkrete Existenz, Versuch über die Philosophische Anthropologie Ludwig Feuerbachs, in: Existenz und Ordnung, FS für E . Wolf, hrsg. von TH. WÜRTENBERGER u. a., 1962, S. 2 4 6 f f ; über Marx' Thesen ad Feuerbach als den „genialen K e i m " der „marxistischen Weltanschauu n g " : W. SCHUFFENHAUER Feuerbach und der junge Marx, 2. Aufl., 1972, S. 132ff.

115

116

117

TH. GEIGER Demokratie ohne D o g m a , Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, 1950, insbes. S. 75ff und S. 211 ff. Zu dieser Dimension der Sozialität alltäglicher Verhältnisse zwischen Menschen im einzelnen: W. MAIHOFER Anthropologie der Koexistenz, in: Mensch und Recht, FS für E. Wolf, hrsg. von A . HOLLERBACH u . a . , 1972, S. 163 ff; und aus rechtsphilosophischer Perspektive: L. PHILIPPS Zur Ontologie der sozialen Rolle, 1963; dazu aus soziologischer Perspektive auch: R. DAHRENDORF H o m o sociologicus, Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, jetzt in: Pfade aus Utopia, 1968, S. 128 f. In dieser Selbstregulierung des Gesellschaftsprozesses aus dem Prinzip der „sozialen Solidarität" sieht H . HENKEL (Einführung in

1. A b s c h n i t t . P r i n z i p i e n freiheitlicher D e m o k r a t i e (MAIHOFER)

227

Dabei findet die soziale Solidarität ihren fortdauernden Niederschlag in den dabei als Recht befundenen und als gerecht und billig empfundenen „Verkehrssitten" und auch „Geschäftsbedingungen", deren heute sog. „Interaktionsmoral" auf die Privatautonomie der Person zurückgeht, und aus den wiederkehrenden Willensübereinkünften sich herausbildet, aus und mit denen im alltäglichen Treiben des gesellschaftlichen Verkehrs der rechtliche Ausgleich der jeweils auf dem Spiele stehenden Interessen und Erwartungen der „Sozialpartner" zu Stande gebracht und auf Dauer gestellt wird. Damit geht aus solcher sozialer Solidarität eine der Gesetzgebung des Staates von Oben vergleichbare Rechtssetzung von Unten aus der Gesellschaft selbst hervor, die an demselben Prinzip der Legitimität: dem eines zumindest gegenseitig, wenn nicht allseitig verbindenden Wollens und vermittelten Wohls orientiert ist, das auch den Gesetz gewordenen allgemeinen Willen zum gemeinsamen Nutzen legitimiert, wie wir sahen. In eben diesen alltäglichen Verhältnissen, in denen aus solcher sozialer Solidarität ein zwischenmenschliches Verhalten der Interaktion und Kooperation zu Stande kommt, oder doch kommen könnte, besteht und entsteht in unserer Zeit das eigentliche Problem der Solidarität, um dessen Lösung es in dem geht, was wir eine Ordnung der Brüderlichkeit nennen 118 . In derselben Epoche der Moderne, die uns mit der demokratischen Revolution der Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit! selbst in unserem Lande danach die als große Errungenschaften begrüßte Bauernbefreiung von Grundherrlichkeit und Leibeigenschaft, aber auch die Gewerbebefreiung von Genossenwesen und Zunftzwang gebracht hat, entsteht aus dem durch eben diesen unbezweifelbaren Fortschritt ausgelösten weiteren „Lauf der Dinge" in der Folgezeit eine Industriezivilisation des „Fabrikwesens" und der „Konsumgesellschaften", die, bei aller wachsenden Wohlfahrt einer immer größeren Zahl, die sie in unseren sog. Industriegesellschaften und Massendemokratien, entgegen der ursprünglichen Kritik des Sozialismus an diesem heute Kapitalismus genannten System heraufführt, dennoch diese freiheitlichen Gesellschaften in eine zunehmende Tendenz der Perversion hineinführt. Sie wirkt in dieser von Prinzipien der ökonomischen Rentabilität und der technischen Effektivität beherrschten industriellen Zivilisation, auch nach Uberwindung der Jugendkrankheiten dieses Systems, die noch Marx bei seiner Kritik vor Augen hat, in Richtung auf eine auch danach nicht abnehmende, sondern überhaupt erst auf die Gesamtgesell-

die

Rechtsphilosophie,

2. A u f l . ,

1977,

S.

118

Dieser Z u s a m m e n h a n g steht auch im Mittel-

4 6 6 f f ) , in d e r N a c h f o l g e L e o n D u g u i t s , z u -

p u n k t d e r B e t r a c h t u n g v o n M . KRIELE ü b e r

recht „ e i n e der wesentlichen G r u n d l a g e n des

die

Gemeinwohls",

b l e m " (Politische A u f k l ä r u n g , Fn.

Produktion

von

in

einer

auch

juridischen

Rechtsgewohnheiten,

auf

„Brüderlichkeit

und

das

soziale

Pro-

107, S.

6 7 f f ) , in d e r d i e „ B r ü d e r l i c h k e i t als p o l i t i -

deren Verhaltensmuster der „billig und ge-

sches P r i n z i p "

r e c h t D e n k e n d e n " w i r i m S t r e i t f a l l e a u c h in

Teilaspekt

unserer Judikative rekrurieren.

auf der G r u n d l a g e der

einer

allerdings

allein a u f

diesen

„Kooperationsbereitschaft Gleichberechtigung

u n d F r e i h e i t " v e r k ü r z t ist.

228

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

schaft durchschlagende Übermaterialisierung und zugleich Enthumanisierung der auf dieser ökonomischen Basis organisierten Sozietät. Die „Entfremdung des Menschen" und zugleich ,,Entmenschlichung der menschlichen Verhältnisse", die „Vergegenständlichung des Menschen" in den fremdbestimmten Verhältnissen der Arbeit, die Versachlichung und zugleich Entpersönlichung der alltäglichen Verhältnisse des Verkehrs von Menschen mit Menschen in solchen Gesellschaften, haben zu einer schon bei Rousseau bis hin zu Kant und Hegel sich vorbereitenden geistigen Gegenbewegung geführt, die in die Forderung auch an Staat und Gesellschaft nach einer „Vermenschlichung der menschlichen Verhältnisse" mündet, wie es zuletzt bei Karl Marx heißt 1 1 9 . Auch in der Folgezeit wächst das Bewußtsein, daß in einem ökonomischen System und einer technischen Zivilisation, in dem die Prinzipien der Rentabilität und Effektivität regieren, auch und gerade das zum Problem wird, was diese Epoche an ihrem geistigen Ursprung wie nichts sonst als eine „drängende Sehnsucht" erfüllt hat: nicht nur der Kampf für die endlich erreichte Freiheit und Gleichheit des Menschen, sondern die nunmehr verheißene Brüderlichkeit zwischen Menschen. Am Anfang dieser Jetztzeit, die auch noch unsere Gegenwart ist, erklingt ja nicht nur das „Schmettern des gallischen Hahnes", an das Marx immer wieder erinnert, sondern auch jene Ode an die Freude, mit ihrem Taumel der Worte: „Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt. Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!" 1 2 0 Das mag uns späten Nachfahren dieses „Aufstandes des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit" zum „aufrechten Gang" eines freien Bürgers heute vordergründig als überlebter Schwulst vorkommen. Aber es mag uns, nach der in der Folgezeit eingetretenen Ernüchterung solchen Ethos und Pathos der Brüderlichkeit in der darauffolgenden zweiten Ernüchterung über die in dieser freien Gesellschaft eingetretenen Verhältnisse, auch die wachsende Ahnung erfassen, daß in eben dieser humanen Solidarität etwas angeklungen ist, was als eine „unerfüllte Sehnsucht" wie nichts sonst den Menschen heute zuinnerst bewegt. Auch und gerade, weil er im Lebensalltag bei allem Gewinn an Effektivität unserer materiellen Zivilisation immer deutlicher den Verlust an Humanität zu spüren beginnt, die doch für das Zeitalter der politischen Aufklärung und des neuen Humanismus einer Gesellschaft der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit allen anderen Zielsetzungen voranstand. In dieser Rückbesinnung oder auch Vorausbesinnung eines heute in und um uns aufbrechenden, endlich erreichten Fortschritts auch im Bewußtsein der Brüderlichkeit, der mehr oder weniger deutlich auch hinter und in all den geistigen Bewegungen 119

Dazu grundlegend: F. MÜLLER Entfremdung, Zur anthropologischen Begründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel und Marx, 1970, insbes. S. 6 0 f f ; und auch: W . MAIHOFER Demokratie und Sozialismus (Fn. 79) S. 31 f f ; und aus makrosoziologischer Perspektive umfassend: J . ISRAEL Der

120

Begriff der Entfremdung, 1972, mit weiterer Literatur. Zum „Frieden der Brüderlichkeit" als die „dritte Farbe der Trikolore": E. BLOCH Naturrecht und menschliche Würde (Fn. 112) S. 1 9 2 f f ; vgl. dazu auch: W . MAIHOFER Ernst Blochs Evolution des Marxismus (Fn. 112) S. 1 1 2 f f .

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

229

spürbar wird, die seit der sog. Studentenrevolte 1968 für größere Gerechtigkeit, aber auch für mehr Menschlichkeit dieser Gesellschaft eintreten, kündigt sich ein neuer moralischer Rigorismus an, der in der logischen Konsequenz der ureigensten Forderungen der demokratischen Revolution liegt, von der auch unsere Zeit noch oder wieder neu bewegt ist, nicht zuletzt der nach Brüderlichkeit zwischen Menschen, nach humaner Solidarität oder wie immer wir heute dazu sagen 121 . Was bedeutet und fordert dies auf den heutigen Lebensalltag und die allgemeinen Lebensverhältnisse in unserer freiheitlichen Demokratie gewendet und angewendet? Damit wird, bei aller Zugabe einer in bestimmten Grenzen notwendigen, weil in der Tat auch Not wendenden ökonomischen Rationalität und technischen Effektivität unserer Industriezivilisation: das Humanitätsproblem zur vordringlichen Sicht und zur vorrangigen Frage, aus der wir, über die im Grundsatz erreichte Freiheit und die jedenfalls im Ansatz verwirklichte Gleichheit hinaus, die Verhältnisse des Lebensalltags unserer Gesellschaft als grundsätzlich fragwürdig ansehen müssen. In dem die „Verhältnisse eben so sind", daß es in ihnen zwar sachlich, aber wenig menschlich, eher unmenschlich zugeht. Wenn Menschen sich in ihnen nicht mehr „mit menschlichen Augen sehen" und sich „als Menschen" verstehen und begegnen, sondern eher als Sachen sich „ansehen": als bloße Objekte oder Funktionen, an denen ein bestimmtes Interesse für den besteht, der bestimmte Intentionen hat, die er nicht „realisieren" kann, ohne daß andere auf bestimmte Weise,,funktionieren". In denen Menschen sich mit anderen Worten nurmehr „mit nationalökonomischen Augen sehen", als bloße Ware: „als Ware Arbeitskraft", wie jene provokante Formel bei Karl Marx heißt; oder auch als bloße „Verbraucher": Verbraucher am Warenmarkt, von denen heute so viel die Rede ist. Was keinen Unterschied macht nach dem Prinzip der Humanität für den, der den Menschen mit den „nationalökonomischen Augen" persönlichen „Profits" oder denen gesellschaftlicher „Nützlichkeit", hier im sog. Privatkapitalismus, dort in einem Staatskapitalismus sieht. Dem Andern als Bruder, als Nächsten, als Mitmenschen zu begegnen und sich auf ihn einzulassen, meint demgegenüber schlicht, daß es im Verhältnis und Verhalten zwischen Menschen zu allererst menschlich zugeht. Daß wir den Andern so nicht als Nebenmenschen oder gar Gegenmenschen sehen und verstehen, sondern als Mitmenschen. Ob es dementsprechend im unmittelbaren Verhältnis und persönlichen Verhalten zwischen Menschen in einer Gesellschaft menschlich: moralisch zugeht, hält auch Jean-Paul Sartre am Ende seines Lebens, entgegen eigener früherer Einschätzung, für die wichtigste Frage an eine Gesellschaft überhaupt, wichtiger als alle Veränderungen einer Gesellschaft sonst: „Wesentlich ist die Moral der Beziehung zum Andern". Sie ist als eine der „beiden Seinsweisen der Menschen": „die Art durch sich Selbst zu sein" und „die Beziehungen zu seinem Nächsten", die wir mit den Begriffen der

121

Vgl. d a z u : W. MAIHOFER Die Revolte der J u g e n d für die Evolution der Gesellschaften in O s t und West, in: C l u b Voltaire, B d . III

(1968) S. 9 4 f f ; und dazu jetzt: H . E . RICHTER Lernziel Solidarität, 1974, insbes. S. 11 ff.

230

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Personalität und der Solidarität der Person umschrieben haben, auch für ihn zuletzt „durchaus Gegenstand dessen, was sich Humanismus nennen läßt" 1 2 2 . Danach läßt sich in dieser ersten Hinsicht Demokratie als Ordnung der Brüderlichkeit bestimmen als eine solche der Menschlichkeit des persönlichen Verhaltens: der Mitmerischlichkeit. Diese Brüderlichkeit oder Mitmenschlichkeit des persönlichen Verhaltens des Einzelnen kann der Staat nicht unmittelbar selbst in der Gesellschaft herstellen und schon gar nicht anordnen oder erzwingen, bis auf Grenzfälle etwa der Nächstenhilfe in Not angesichts eines Unglücksfalls, in denen wir solche praktizierte Solidarität auch von Strafrechtswegen verlangen. Aber eine Demokratie, die sich als eine nicht nur liberale und soziale, sondern auch als humane Demokratie versteht, muß jedenfalls die gesellschaftlichen Verhältnisse so gestalten und notfalls umgestalten, daß sie solcher praktischen Solidarität auf allen Ebenen und in allen Bereichen einen äußersten Spielraum humaner Toleranz freiläßt, auch wo eine solche Suche, zu mehr Brüderlichkeit, zu mehr Mitmenschlichkeit in den gesellschaftlichen Verhältnissen und im persönlichen Verhalten zwischen und mit Menschen zu gelangen, sich zwangsläufig in unorthodoxen Experimenten äußert. Sie sind auf ihre: andere Weise, nicht minder als die orthodoxen Konventionen der erprobten und „eingefahrenen" Lebensweisen und Verhaltensmuster, Ausdruck eben der sonst so vielberufenen Menschenwürde zur Selbstverwirklichung aus Eigenverantwortung, und der aus ihr entstammenden Freiheit des Geistes und sich eröffnenden Suche nach einer „Art des Wohlseins, wie man sie sich Selbst denkt", in persönlicher „Vollkommenheit", in menschlicher „Glückseligkeit", wie einmal die Begriffe für diese Sache lauteten, die jeder „auf seinem Wege suchen darf, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann (d. i. diesem Rechte des anderen) nicht Abbruch tut", um es nochmals mit Kant zu sagen. Dennoch ist auch hier die Mitmenschlichkeit des persönlichen Verhaltens nur die eine Seite der Sache, um die es in dem geht, was wir Brüderlichkeit nennen. Selbst die Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit persönlichen Verhaltens hängt zugleich entscheidend immer auch ab von den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst. Demokratie als Ordnung der Brüderlichkeit bedeutet und fordert so zuletzt die Menschlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Dies meint nicht, wie es später bei Marx heißt: „Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist", getreu dem von Feuerbach übernommenen kategorischen Imperativ: „Daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist!" Denn damit sind vielleicht unmenschliche Verhältnisse beseitigt, aber nicht notwendig menschlichere Verhältnisse hergestellt. Dies aber fordert in einer freiheitlichen Demokratie, die sich auch und gerade als humane Demokratie versteht, wie schon Rousseau erkannt hat, schlicht die Erfüllung 122

Vgl. dazu schon: J . P. SARTRE L'existentialisme est un humanisme, 1946; aber auch: M . HEIDEGGER U b e r den Humanismus, 1949.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

231

ihrer eigenen noch unerfüllten Zielsetzungen: die gesellschaftlichen Verhältnisse so umzuschaffen, daß es in ihnen von ihren „Mitmenschen" Erniedrigte oder Geknechtete, Verlassene oder Ausgebeutete nicht mehr geben kann. Und doch ist der Gedanke der Brüderlichkeit mit solchen Forderungen nach Mitmenschlichkeit im persönlichen Verhalten und nach Menschlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht erschöpft. Daß wir dem Andern als Bruder, als einem Nächsten, einem Mitmenschen begegnen sollen, hat sicher mit der Moralität unseres persönlichen Verhaltens zu tun, mit der Achtung der Menschheit in des anderen Person in der ihr eigenen Würde123. Aber auch mit der Liebe zum Nächsten124, der mir in des anderen Person zugleich mit dem ihm zukommenden eigenen Recht begegnet 125 . Schon Kant führt entsprechend „alle moralischen Verhältnisse" auf diesen zweifachen „Bestimmungsgrund des Willens" im Verhältnis und Verhalten zum Andern zurück: Auf die Achtung vor der Menschheit in des anderen wie in „jedermanns Person", die sich in ihrer „eigenen Vollkommenheit" und damit stetigen Vervollkommnung selbst Zweck ist, woraus ihre Würde folgt; und auf die Liebe zum Menschen in des anderen Person, dessen für die eigene Person „fremde Glückseligkeit" dadurch für die andere Person zu ihrem Recht gelangt, daß sich die Menschen in der Liebe oder gar „Wechselliebe" zueinander und füreinander des anderen Glückseligkeit Selbst zum Zwecke und damit zum „Prinzip der Übereinstimmung des Willens des einen mit dem des andern machen" 1 2 6 . Mit Moralität haben aber in unserem heutigen Verständnis auch zu tun die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Sie können nicht nur dadurch unmoralisch: unmenschlich sein, daß sie moralisches mitmenschliches Verhalten zwischen Men-

123

124

Zu dieser Dimension der Humanität menschlicher Beziehungen heißt es schon in Kants Erörterung „Von Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung": „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dann auch gegen jeden anderen verbunden", denn: „die Menschheit selbst ist eine Würde" (Metaphysik der Sitten, Fn. 80, S. 320 f). Diese Begründung der Brüderlichkeit aus der geschuldeten Nächstenliebe, weil Gottesliebe, klingt selbst bei ROUSSEAU noch nach, wenn er sagt: „Mithin bleibt nur noch die Religion des Menschen oder das Christentum übrig, nicht das jetzige, sondern das des Evangeliums, das davon wesentlich verschieden ist. Durch diese heilige, erhabene, wahre Religion erkennen sich die Menschen, die alle Kinder eines und desselben Gottes sind, als Brüder an" (Gesellschaftsvertrag,

125

126

Fn. 8, S. 188f). Vgl. zu der damit sich berührenden Fragestellung einer „religion civile" jetzt: H . LÜBBE Staat und Zivilreligion, Ein Aspekt politischer Legitimität, in : Legitimation des modernen Staates (Fn. 17) S. 40ff. Zur theologischen Begründung des Rechtes des Nächsten grundsätzlich: E. WOLF Recht des Nächsten, Ein rechtstheologischer Entwurf, 1957; und zur rechtsphilosophischen Begründung eines „Nächstenrechts": W. MAIHOFER Anthropologie der Koexistenz (Fn. 116); zu der „allgemeinen Menschenlieb e " auch: A. PLACK Die Stellung der Liebe in der materialen Wertethik, 1962, S. 71 ff. Vgl. dazu KANT Metaphysik der Sitten (Fn. 80) insbes. S. 225ff und S. 320ff; zur Begründung des „sittlichen" wie des „rechtlichen Prinzips der Solidarität" als „Oberstes Axiom aller Sozialphilosophie und Sozialethik"

(M.

Rechtsperson 212 ff.

SCHELER):

E.

DENNINGER

und Solidarität (Fn. 53)

S.

232

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

sehen schlechthin unmöglich machen. Sie können auch selbst unmoralisch: unmenschlich sein, in ihrer Auswirkung und Einwirkung auf die Würde und das Recht des Menschen. Nicht nur ein Verhalten, auch Verhältnisse können den Menschen in seiner Würde und seinem Recht erniedrigen oder beleidigen, zukurzkommen oder gar zugrundegehen lassen. Auch die Frage, ob wir Menschen bestimmten Verhältnissen aussetzen oder nicht aussetzen, hat so mit Brüderlichkeit zu tun. In solcher Fragwürdigkeit von Verhältnissen klingt zugleich jene ganz andere Seite der Brüderlichkeit an, die wir eingangs mit Solidarität bezeichnet haben. Brüderlichkeit hat, über die Mitmenschlichkeit im persönlichen Verhalten hinaus und die Menschlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst, immer auch zu tun mit Mitverantwortlichkeit für Menschen: mit Mitverantwortlichkeit des Einzelnen und darum Mitdasein und Miteinstehen für den „entsprechend Anderen", aber auch mit Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft. Wie es in einer freiheitlichen Demokratie jedoch auch als soziale Demokratie nicht um Gleichheit für sich genommen, sondern um Gleichheit in Freiheit geht, so geht es in ihr auch als eine humane Demokratie nicht einfach um Brüderlichkeit für sich gesehen, sondern um Brüderlichkeit in Freiheit. Was Gleichheit in Unfreiheit durch freiheitszerstörende Gleichmacherei ebenso ausschließt wie Brüderlichkeit in Unfreiheit durch freiheitsvernichtende Zwangsverbrüderung, nach der historischen Parole: „Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag' ich Dir den Schädel ein!" Aus einer solchen Ordnung der Brüderlichkeit, die in einer freiheitlichen Demokratie somit immer schon eine Ordnung der Gleichheit, wie diese eine Ordnung der Freiheit voraussetzt127, ergeben sich weitreichende Folgerungen für die Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft, der heute so genannten Allgemeinheit. Andere als die, denen wir in jener Ordnung der Gleichheit in Freiheit begegnet sind. Aus dem Prinzip der Gleichheit in Freiheit ergeben sich, wie wir sahen, vor allem Forderungen der individualen Gerechtigkeit, zum Ausgleich der Ungleichgewichte von Vorteilen und Nachteilen im persönlichen Verhalten der Einzelnen; aber auch Forderungen der sozialen Gerechtigkeit nach Gegensteuerung gegen einen ungleichgewichtigen Zuwachs von Vorteilen und damit auch von Macht in Wirtschaft und Gesellschaft; sowie gegen eine „übermäßige Ungleichverteilung" von Einkommen und Besitz in unserer Gesellschaft überhaupt. Diesen Forderungen einer sozialen Demokratie entsprechen wir durch Begünstigung der Vermögensbildung bisher Unvermögender, aber auch durch Förderung der Vermögensbeteiligung der Arbeitnehmer oder gar aller Bürger an Wirtschaftsunternehmen. Also durch das, was heute allgemein Gesellschaftspolitik genannt wird, zu der schon für Rousseau auch die Besteuerung zur Umverteilung von Einkommen und Vermögen, als Gegensteuerung gegen eine unangemessene und unverhältnismäßige Einkommens- und Vermögensentwicklung in der Gesellschaft gehört128. So auch schon M. KRIELE Politische Aufklärung (Fn. 107) S. 67. 128 Vgl. zum Begriff der Gesellschaftspolitik in der politischen Perspektive einer „Demokra127

tisierung der Gesellschaft aus demselben Gedanken der ,Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!', aus dem auch die Demokratisierung des Staates ihren Ursprung nahm":

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

233

Aus dem Prinzip der Brüderlichkeit in Freiheit ergeben sich dagegen Forderungen einer ganz anderen Art sozialer Gerechtigkeit, die auf den solidarischen Ausgleich von individuellen Benachteiligungen gerichtet sind, die bestimmte Einzelne oder auch Gruppen auf Grund körperlicher Behinderungen, geistiger Minderbegabungen, seelischer Störungen oder dauerhafter Schädigungen erleiden. In diesen Forderungen, die den Kernbereich einer über die Gesellschaftspolitik der hinausgehenden Sozialpolitik ausmachen, kommt eben die Mitverantwortlichkeit Gesellschaft für grundsätzlich Benachteiligte zu ihrem reinsten Ausdruck, die nach unserem heutigen Verständnis überall da jedenfalls gefordert ist, wo diese Benachteiligung durch engere „Solidargemeinschaften", wie die Familie, nicht mehr ausgeglichen werden kann 129 . Eine Ordnung der Brüderlichkeit in Freiheit versteht diese Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft für Benachteiligte nicht als bloße Unterbringung oder Versorgung von „Sozialfällen". Sondern begreift diese von der Gesellschaft, aus ihrer Mitverantwortung für den Einzelnen geforderte besondere Anstrengung der Lebenshilfe, die allein dem besonders Benachteiligten die faire Chance eines menschenwürdigen Daseins verschaffen kann, ihrem Grundprinzip entsprechend als Hilfe zur Selbsthilfe. Sie soll den Benachteiligten soweit irgend möglich zu eigenem Gebrauch seiner Freiheit befähigen oder wiederbefähigen: zum Erwerb von Bildung, zur Erlangung von Arbeit, zur Gestaltung seines Lebens, und nicht zuletzt zur Führung eines soweit menschenmöglich menschenwürdigen Daseins. O b und wie diese besondere Anstrengung für besonders Benachteiligte durch die staatliche Solidargemeinschaft oder unmittelbar über gesellschaftliche Sozialeinrichtungen erbracht und geleistet wird, entscheidet nicht zuletzt über den „Geist", der in ihr als Ordnung der Brüderlichkeit herrscht. Hans Zacher verdanken wir in diesem Zusammenhang die geschärfte Einsicht, daß es nicht genügen kann, auf die „ökonomischen Defizite" unserer Marktwirtschaft einfach nur durch „materielle Kompensationen" des Sozialsystems unserer Gesellschaft zu reagieren, worauf Sozialpolitik und Sozialrecht heute weithin konzentriert und reduziert sind 1 3 0 . Schon für diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, sind die Mangel- und Ausfallerscheinungen unseres ökonomischen Systems, das grundsätzlich nach Lei-

129

meine Einführung und Einleitung zu den Freiburger Thesen (Fn. 110) S. 27ff und S. 57ff. Zum Begriff der Sozialpolitik umfassend: H . ZACHER Sozialpolitik und Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland, 1968; aber auch: Der Sozialstaat als Prozeß: in: ZgS Bd. 134 (1978) S. 15ff; und: Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980; zum Verhältnis von Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik grundlegend: E. LIEFMANN-KEIL

130

ökonomische Theorie der Sozialpolitik, 1961. Zum Begriff der Sozialpolitik und nicht der Gesellschaftspolitik gehören darum auch die ebenso aus dem Prinzip der Solidargemeinschaft und darum aus der Mitverantwortung der Gesellschaft begründeten Bereiche der sozialen Sicherheit und der sozialen Fürsorge. Zum folgenden im einzelnen: H. ZACHER Sozialrecht und soziale Marktwirtschaft, FS für G. Wannagat, hrsg. von W. GITTER u. a „ 1981, S. 715ff, insbes. S. 759ff.

234

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

stungsgerechtigkeit der Arbeitsentlohnung zumißt, regelmäßig der Bedürfnisgerechtigkeit nur unvollkommen und umständlich von Staats wegen über Steuervergünstigungen oder Kindergeldzahlungen, dem Familienstand und Kinderreichtum entsprechend anzugleichen. Noch viel mehr betrifft und trifft diese strukturelle Disparität von Leistung und Bedürfnis denjenigen aber, der keinen Arbeitsplatz erlangen kann oder zur Arbeit unfähig ist, und so an den Segnungen dieser Wirtschaftsordnung keinen unmittelbaren Anteil hat. Dem ist mit Geld allein nicht immer „geholfen", das der Staat ihm aus abgeschöpften Einkommen und sonstigen Steueraufkommen zur Befriedigung seiner drängensten Bedürfnisse zuteilt. Deshalb geht die Gleichung, auf die Zacher unsere Fragestellung zuspitzt: Marktwirtschaft beschafft, was man kaufen kann, Sozialpolitik verschafft dem, der Nichts oder Zuwenig hat, Geld, damit er sich das Notwendige kaufen kann, überall da in der Tat nicht auf, wo das, was „fehlt" nicht einfach käuflich ist: ,,Zuwendung des Menschen zum Menschen läßt sich nicht kaufen und nicht reglementieren". An ihr fehlt es gerade Denen am Meisten, die das Wenigste haben und denen mit Geld oft überhaupt nicht mehr zu helfen ist. Solche über bloße Geldleistungen hinausgehende Lebenshilfe ist aus der Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft für die Benachteiligten gefordert, die durch ihre Natur, aber auch ihr Schicksal geschlagen, ohne solche „Hilfe zur Selbsthilfe" ohne soziale Chance wären 1 3 1 .

Praktizierte Solidarität ist erforderlich gerade in einer freiheitlichen Gesellschaft aber auch für die in die Gesellschaft nicht Eingegliederten und Eingliederbaren, die heute sog. Nichtseßhaften, die man früher einmal „Asoziale" genannt und vor der Strafrechtsreform weithin der Strafrechtspflege, bis hin zu ihrer Unterbringung im Arbeitshaus, überantwortet hatte 132 . Mit dieser Entkriminalisierung der „Asozialen" hat sich in unserer wie anderen Gesellschaften um die Mitte dieses Jahrhunderts ein grundlegender „Wandel der Denkungsart" vollzogen, der auch unser Strafrechtsdenken, in der späten Nachfolge der Modernen Schule Franz von Liszts, vom klassischen Vergeltungsstrafrecht in ein modernes Resozialisierungsstrafrecht verwandelt hat, das sich 1975 in einem neuen Strafgesetzbuch durchsetzt. Dieses sieht Sinn und Zweck der Strafe nicht mehr als ein Mittel der Übelzufügung, sondern der Wiedereingliederung des Rechtsbrechers in die Gesellschaft 133 .

131

132

Zu Recht bezeichnet H. RYFFF.L Die „Brüderlichkeit, die in der Französischen Revolution neben die abstrakte Freiheit und Gleichheit gestellt wurde", geradezu „als eine globale Vorwegnahme der Konkretisierung der abstrakten Entfaltungschance", „die sich noch nicht in institutionellen Vorkehren niedergeschlagen hat" (Rechts- und Staatsphilosophie, Fn. 59, S. 313). Zum „Abbau der kriminalistischen Hypertrophie" in der vom Alternativ-Entwurf ei-

nes Strafgesetzbuches in Gang gebrachten Grossen Strafrechtsreform: W . MAIHOFER Die Reform des Besonderen Teils des Strafrechts, in: Die deutsche Strafrechtsreform, hrsg. von L. REINISCH, 1967, S. 7 2 f f . 133 Vgl z u m Prinzip eines Resozialisierungsstrafrechts den Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, hrsg. v o n J . BAUMANN u . a . , 1 9 6 6 ; z u m d a h i n t e r

stehenden Menschenbild im einzelnen: W . MAIHOFER Menschenbild und Strafrechtsre-

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

235

Auch das Resozialisierungsstrafrecht ist aus dem Gedanken einer Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft für den Straffälligen erwachsen. Es sieht die Straftat als einen, zumindest überwiegend persönlich verschuldeten Mißbrauch der Freiheit des Einzelnen, der die Sicherheit der Rechtsgüter Anderer beeinträchtigt. Folglich die „ethische Begründung der Strafe" nunmehr vorrangig in der Befähigung zum gesetzmäßigen Gebrauch der Freiheit und zur damit möglichen Wiedereingliederung in die Gesellschaft" 4 . Auch ein solches Strafrecht ist praktizierte Solidarität mit dem „Antisozialen": dem Verbrecher, wie es früher hieß, dem Rechtsbrecher oder auch dem Straffälligen, wie wir heute sagen. Um was es dabei geht, hat Franz von Liszt in zwei entscheidende Gedanken gefaßt, in denen dieser neue Geist des Strafrechts, auch für uns heute gültig, erstmals sich ausspricht: 1. Das Strafrecht ist die „Magna Charta des Verbrechers" 2. Das Strafrecht ist die ,,Ultima Ratio der Sozialpolitik"135. Als ein so immer durch das Gesetz gebundenes äußerstes Mittel der Sozialpolitik ist und bleibt damit das Strafrecht immer auch, und immer noch: Sozialpolitik. Es ist als Resozialisierungsstrafrecht in seinem Geist Ausdruck eben dessen, was wir die Brüderlichkeit in Freiheit genannt haben. Auch und gerade von dieser Kehrseite einer Gesellschaft her betrachtet, die das Strafrecht im Blick hat, bekräftigt und erhärtet sich so die zunächst in eine Frage gefaßte Antwort: daß eine freiheitliche Demokratie, als eine auf Menschenwürde und Menschenrechte begründete Ordnung unter dem Vorzeichen und Vorrang der Freiheit, darum als Ordnung auch der Gleichheit in Freiheit und der Brüderlichkeit in Freiheit aufgefaßt, somit als liberale, soziale und humane Demokratie verstanden werden muß. Erst Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit zusammen verbürgen eine solche menschenwürdige und menschengerechte Ordnung auch des Staates. So wie schon Freiheit ohne Gleichheit nicht dauerhaft bestehen kann, so kann auch Gleichheit ohne Brüderlichkeit nicht wirklich entstehen. Dies erkennt schon Rousseau, wenn er die Gleichheit als notwendige Bedingung der Möglichkeit einer Ordnung der Freiheit bezeichnet, „weil Freiheit ohne sie nicht bestehen kann", weshalb für ihn Demokratie als eine Ordnung der Gleichheit in Freiheit nur bei „fast vollkommener Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen" zu verwirklichen ist, „ohne die auch die Gleichheit der Rechte und der Macht keinen langen Bestand haben kann". Was hier im Rückbezug der Gleichheit auf die Freiheit gesagt ist, gilt ebenso aber auch für das Verhältnis von Gleichheit und Brüderlichkeit.

form, in: Gesellschaftliche Wirklichkeit im 2 0 . Jahrhundert und Strafrechtsreform, 1964, S. 5 f f ; zur kriminalpolitischen K o n zeption im besonderen: C . ROXIN Franz von Liszt und die kriminalpolitische Konzeption des Alternativentwurfs, ZStrW Bd. 81 (1969) S. 613 ff. 134

Zur Mitverantwortung der Gesellschaft im Strafrecht grundsätzlich: P. NOLL Die ethi-

sche Begründung der Strafe, 1962, insbes. S. 15 ff. 135

D a z u F R A N Z VON L I S Z T S t r a f r e c h t l i c h e

Auf-

sätze und Vorträge, Bd. 1 (1905), insbes. S. 126 ff; zur Modernen Schule des Resozialisierungsstrafrechts zuletzt: W . NAUCKE Die Kriminalpolitik des Marburger Programms 1882, ZStrW, Bd. 94 (1982) S. 525ff.

236

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Auch die Brüderlichkeit ist auf ihre Weise die notwendige Bedingung der Möglichkeit einer Ordnung der Gleichheit in Freiheit. Weil, unter der faktischen Voraussetzung der Ungleichheit der Menschen, sich die in einer Demokratie geforderte normative Ordnung der Gleichheit des Menschen in Gesellschaft und Staat nicht von selbst herstellt, sondern durch die Menschen Selbst erst, vermittels Gesetz und Recht, hergestellt werden muß. Daß aber die bisher Machthabenden den Ohnmächtigen, die bisher Bevorzugten den Benachteiligten, Gleichheit der Beteiligung an der Macht im Staate, und der Teilhabe an den Vorteilen der Gesellschaft einräumen und gewähren, das setzt entweder einen revolutionären Akt der bisher Ohnmächtigen und Benachteiligten, oder aber einen evolutionären Prozeß voraus, der aus der humanen Solidarität der jeweils Machthabenden und Bevorzugten mit vollbracht werden muß. In der normativen Entscheidung des Verfassunggebers für die Gleichheit der Menschen und „für die Gleichbehandlung aller Staatsbürger angesichts (und trotz) der klaren Einsicht in die grundsätzliche Verschiedenheit der Menschen" steckt darum schon immer eine „humanitäre Komponente dieses Gleichheitsverständnisses", wie Herzog zurecht feststellt. „Erst wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, legt man auch die zentrale ethische Komponente dieser Verfassungsgrundsätze frei: Gleichheit der Menschen bzw. Gleichheit der Staatsbürger ist dann nämlich eine normative Entscheidung, die letzten Endes auf dem Gedanken der Humanität aufbaut. Nur der Gedanke der Humanität (man kann auch sagen: der Solidarität oder der Brüderlichkeit) kann den Stärkeren, Intelligenteren, Leistungsfähigeren veranlassen, seinen schwächeren Mitbürger im gleichen Ausmaß an der Staatsgewalt zu beteiligen" 136 . Wir fügen mit Rousseau, auf den Gesellschaftszustand gewendet, für eine wahrhaft liberale, soziale und humane Demokratie hinzu: Und so auch alle Staatsbürger angemessen und verhältnismäßig „an den Vorteilen des gesellschaftlichen Zusammenschlusses zu beteiligen". Sie wird sich in dieser letzten Hinsicht vollenden erst, wenn der Gedanke Kants, daß dieses „moralische Ganze", das eine „Republik unter Tugendgesetzen" darstellt, nicht mehr, wie bei Rousseau, in seiner „Menschlichkeit sich auf Mitbürger beschränkt und daraus neue Kraft gewinnt, nämlich durch den täglichen Umgang und das gemeinsam verbindende Interesse" 1 3 7 , sondern als ein „ethisches gemeines Wesen immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen" ist, und eben darin sich unterscheidet „von dem eines politischen" 138 . Auch wenn dieses „Ideal" einer solchen jeden Einzelnen erfassenden und alle Gesellschaften übergreifenden moralischen Mitverantwortung für die Menschheit im Ganzen, heute erst in zögernden Annäherungen an den noch unerfüllten Gedanken eines „weltbürgerlichen Zustandes der öffentlichen Staatssicherheit" und eines nur so

136

R . HERZOG G r u n d g e s e t z ( F n . 60) A r t . 2 0 ,

II. A., Rdn. 13. 1 3 7 ROUSSEAU Politische Ökonomie (Fn. 13) S. 55. 138 VGL KANT Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Schriften zur

Ethik und Religionsphilosophie, Ausgabe WEISCHEDEL bei Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Bd. IV (1966) S. 577ff; aber auch: Schriften zur Politik (Fn. 57) S. 44 und 217ff.

1. Abschnitt. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

237

für die Menschheit erreichbaren „ewigen Friedens" am Horizont unserer Epoche aufzudämmern beginnt. Auch unser Grundgesetz ist erfüllt von diesem Geist der Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit! dem die Verfassungsväter noch in der Vorfassung der Menschenwürdegarantie des Art. 1 in Abs. 2 mit den Worten Ausdruck geben: „Die Freiheit und die Gleichheit des Menschen, seine Verpflichtung gegenüber dem Nächsten und gegenüber der Gesamtheit sind die Grundlage der menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Dieser Geist erfüllt unser Grundgesetz als die materialen Prinzipien einer freiheitlichen: liberalen, sozialen und humanen Demokratie. Aus ihm erfüllt sich unser Grundgesetz zugleich in seinen organisatorischen Prinzipien als eine konstitutionelle und föderative: freiheitliche Demokratie, denen die folgenden Erörterungen nun im einzelnen sich zuwenden.

2. Abschnitt

Das parlamentarische System HANS-PETER SCHNEIDER

Vorbemerkung Wenn vom parlamentarischen System gesprochen wird, ist damit zunächst weder eine politische Theorie (Parlamentarismus) noch eine staatliche Praxis (Parlamentsherrschaft) gemeint, sondern eine bestimmte Regierungsform, bei der das Parlament maßgeblichen Anteil an der Staatsleitung hat. Zwar sind Volksvertretungen schon im Altertum, Ständeversammlungen seit dem Mittelalter bekannt; auch wurden bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts die Bezeichnungen „parlement" in Frankreich (Gerichtshof) und „parliament" in England (königlicher Rat) gebräuchlich. Von Parlamenten im modernen Sinn als obersten Repräsentativorganen eines parlamentarischen Regierungssystems kann jedoch erst seit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts im 19. Jahrhundert die Rede sein. Heute ist das parlamentarische System weltweit verbreitet, und zwar unabhängig von der jeweiligen Staatsform: Es gibt parlamentarische Monarchien (Großbritannien, Belgien, Niederlande, Schweden, Spanien) ebenso wie parlamentarische Republiken und Demokratien (Italien, Österreich, Bundesrepublik Deutschland, Indien; de facto auch Kanada und Australien). Auf der Formenvielfalt und Anpassungsfähigkeit des parlamentarischen Systems beruht ein Großteil seiner Lebenskraft und Integrationswirkung, die zwar immer wieder bezweifelt und kritisiert wird, sich aber für viele Staaten auch und gerade unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft nach wie vor als alternativlos1 erweist.

1

So übereinstimmend die beiden Referate von T H . OPPERMANN u n d H . MEYER D a s parla-

mentarische System des Grundgesetzes, in: W D S t R L Bd. 33 (1975) S. 8ff, 69ff. Weitere Literaturnachweise zu diesem Abschnitt

finden sich in der „ H a m b u r g e r Bibliographie" zum Parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von U . BERMBACH

1980.

1973;

Erg.

Bde.

1-4,

1975-

240

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

I. Eigenart und Wirkungsweise des parlamentarischen Systems 1. Begriff und Formen Als „parlamentarisches System" bezeichnet man in der Verfassungslehre diejenige Regierungsform, bei welcher der Bestand einer Regierung (Zustandekommen und Fortbestand) vom Vertrauen des Parlaments, genauer: von der ausdrücklichen Zustimmung (Wahl) oder stillschweigenden Billigung (Duldung) der Parlamentsmehrheit, abhängt. Wo der Einfluß des Parlaments nicht mindestens so weit geht, daß es den Regierungschef (Kanzler, Ministerpräsident) wählt, ist kein parlamentarisches System vorhanden. a) Varianten des parlamentarischen

Systems

Dabei läßt die Art und Weise, wie die Regierung gebildet und das Vertrauen des Parlaments zum Ausdruck gebracht wird, mehrere Systemvarianten zu2, welche teils verfassungsrechtlich verankert, teils aber auch nur in der politischen Kultur eines Landes verwurzelt sind. Im Normalfall setzt das Zustandekommen der Regierung eine positive Loyalitätserklärung des Parlaments voraus (Vertrauensvotum), die in der Wahl des Regierungschefs, bisweilen auch der Minister, oder in sonstiger Zustimmung zu einer meist vom Staatspräsidenten vorgeschlagenen Regierung besteht. Ist eine solche Vertrauenserklärung abgegeben, wird die parlamentarische Unterstützung solange vermutet (Loyalitätsfiktion), bis das Parlament der Regierung ausdrücklich das Vertrauen entzieht (Mißtrauensvotum). Umgekehrt kann der Regierungschef das Parlament jederzeit zu einer Abstimmung über den Fortbestand der Regierung veranlassen (Vertrauensfrage), deren negatives Ergebnis dieselben politischen Konsequenzen nach sich zieht wie ein erfolgreiches Mißtrauensvotum: Die Regierung ist „abgesetzt" oder zum Rücktritt verpflichtet, auch wenn sie bis zur Bildung einer neuen Regierung noch weiter amtiert (geschäftsführende Regierung). Obgleich mit dem Ablauf einer Legislaturperiode regelmäßig auch die Amtszeit der Regierung endet, jedes neugewählte Parlament also eine eigene Regierung bilden oder die frühere im Amt bestätigen muß (Diskontinuitätsprinzip), ist eine solche Koppelung mit dem parlamentarischen System nicht begriffsnotwendig verbunden, wenn nur jederzeit die Möglichkeit eines Mißtrauensvotums besteht3. Ebensowenig verliert ein Regierungssystem seinen parlamentarischen Charakter allein schon dadurch, daß in Ermangelung des Mißtrauensvotums die Amtszeit der Regierung lediglich an die Wahlperiode des Parlaments geknüpft ist (Regierung auf Zeit) 4 . Die eine oder andere Variante: das Mißtrauensvotum oder die Bindung des Regierungsamts an die Legislaturperiode gehören jedoch zu den funktionellen Mindestvorausset-

2

3

R. HERZOG (Art. „Parlamentarisches System", in: EvStL, 1966, Sp. 1479) spricht von „Spielarten". Vgl. BVerfGE 27, 44 (56).

4

So die Regelung in Art. 44 der Bayerischen Verfassung; allerdings ist danach der Ministerpräsident zum Rücktritt verpflichtet, wenn eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Landtag nicht mehr möglich ist.

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

241

Zungen des parlamentarischen Systems. Die Bildung der Regierung sowie ein Vertrauensentzug durch Mißtrauensvotum oder Ablehnung der Vertrauensfrage bedürfen einer ausdrücklichen Willenskundgebung des Parlaments durch Mehrheitsbeschluß; ansonsten genügt für den Fortbestand der Regierung stillschweigende Duldung, auch wenn eine Regierung nicht (mehr) über die absolute Majorität im Parlament verfügt (Minderheitsregierung) oder einzelne Abstimmungsniederlagen erlitten hat. b) Determinanten

des parlamentarischen

Systems

Innerhalb dieses Rahmens existieren zahlreiche Formen des parlamentarischen Systems, deren konkrete Ausprägung jeweils von verschiedenen politischen Faktoren innerhalb und außerhalb des Parlaments abhängt 5 . Wichtigster Faktor ist das Verfahren der Regierungsbildung: Sie kann durch parlamentarische Wahl oder Bestätigung nur des Regierungschefs oder auch der Minister erfolgen. Je nachdem, ob der Staatspräsident nur den Regierungschef oder auch die Minister vorschlägt, ob ein solches Vorschlagsrecht bei den Fraktionen liegt, ob der Staatspräsident nach erfolgter Wahl oder Bestätigung den Regierungschef und die Minister zu ernennen hat, sind die politischen Gewichte im Verfahren der Regierungsbildung unterschiedlich verteilt. Weiteren Einfluß auf das Zustandekommen der Regierung hat der parlamentarische Wahl- oder Bestätigungsmodus (eine oder mehrere Abstimmungen, absolute oder einfache Mehrheit). Darüber hinaus wird das parlamentarische System auch durch die Formen der Regierungskontrolle geprägt, welche eine Vielzahl von alternativ oder kumulativ zusammengefügten Elementen und Instrumenten aufweist, z . B . das konstruktive oder einfache Mißtrauensvotum allein gegen den Regierungschef oder auch gegen einzelne Minister, die Vertrauensfrage des Regierungschefs oder einzelner Minister an das Parlament, das parlamentarische Vertrauensfrageersuchen, das Selbstauflösungsrecht des Parlaments, die Präsidenten- oder Ministeranklage sowie Umfang und Tragweite der Untersuchungs-, Anfrage-, Auskunfts- oder Zitierungsrechte des Parlaments. Generell gilt der Satz: je stärker die Regierungskontrolle, desto wirksamer das parlamentarische System. Einen maßgeblichen Faktor außerhalb des Parlaments stellt ferner die Parteienstruktur dar. Das politische Machtpotential des Parlaments ist im Vielparteiensystem ebenso wie im Einparteienstaat erfahrungsgemäß geringer einzuschätzen als im Zweioder Dreiparteiensystem. Für den Einparteienstaat liegt auf der Hand, daß die Entscheidungsprozesse zwischen den Machteliten in Partei und Regierung am Parlament vorbeilaufen. Aber auch das Vielparteiensystem schwächt das Parlament insofern, als die oft langwierigen Prozesse der Einigung und Kompromißfindung dem Regierungsapparat ein natürliches Ubergewicht verleihen, bis hin zur völligen Handlungsunfähigkeit heterogener Abstimmungsminderheiten. Deshalb vermag ein Parla-

5

D a z u grundlegend U . SCHEUNER Uber die verschiedenen Gestaltungen des parlamenta-

rischen Regierungssystems, in: A ö R N F 13 (1922), S. 209—233; 337—380.

242

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

ment noch die relativ größte politische Wirkung zu entfalten, wenn die Zahl der Parteien begrenzt und ihre wechselseitige Bündnisfähigkeit garantiert ist. In unmittelbarem Zusammenhang damit steht schließlich eine vierte Komponente, die das parlamentarische System strukturell determiniert: der Prozeß innerparWillensbildung. Ist eine geschlossene Mehrheit vorhanden, sorgt lamentarischer schon das klare Gegenüber von Regierung(skoalition) und Opposition für eine höhere Transparenz der Entscheidungsfindung als bei brüchigen, unübersichtlichen Mehrheiten. Andererseits ist die Effizienz des Parlamentsbetriebs — gemessen an der Entscheidungsleistung — größer, wenn das Schwergewicht parlamentarischer Tätigkeit stärker bei Ausschußberatungen (Arbeitsparlament) als bei Plenardebatten (Redeparlament) liegt. Knappe Mehrheiten erhöhen die Partizipationschancen des Parlaments, während eine breite Regierungsbasis sie eher verringern. Generell gilt der Satz: ein Parlament ist politisch um so einflußreicher, je dauerhafter es zur Mehrheitsbildung in der Lage ist, um dadurch dem parlamentarischen System insgesamt Stabilität zu verleihen. c) Gegensätze zum parlamentarischen System Die Existenz eines Parlaments erweist sich zwar als notwendige, nicht aber als zureichende Bedingung für das Vorhandensein eines parlamentarischen Systems. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, ob die Regierung allein dem Parlament oder auch anderen Organen bzw. Personen verantwortlich ist. Deshalb bildete im vergangenen Jahrhundert den Gegensatz zum parlamentarischen das „monarchische Prinzip" 6 des konstitutionellen Fürstenstaates, demzufolge die Regierung unabhängig vom Parlament durch den Landesherrn eingesetzt und abberufen werden konnte. Bis heute steht dem parlamentarischen System vor allem das Präsidialsystem gegenüber, welches durch die mittelbare oder unmittelbare Volkswahl eines Präsidenten gekennzeichnet ist, der als Spitze der Exekutive entweder direkt (USA) oder auf Vorschlag eines von ihm zu berufenden Regierungschefs (Frankreich, V. Republik) die Minister ernennt und entläßt, ohne daß ein Parlament hierauf Einfluß nehmen kann. Vom parlamentarischen System weicht ferner das Direktorialsystem ab, bei dem die Mitglieder einer Regierung zwar vom Parlament „benannt" werden, aber nicht von dessen Vertrauen abhängig sind (Schweiz). Der parlamentarischen Regierungsweise widerspricht schließlich das Rätesystem, welches mit dem imperativen Mandat und der jederzeitigen Abberufbarkeit von Regierungsmitgliedern das Repräsentationsprinzip verläßt (vgl. unten S. 280f). Darüber hinaus können zahlreiche plebiszitäre (Volksbefragung, Volksbegehren, Volksentscheid) oder korporative (Wirtschaftsund Sozialrat) Elemente zu erheblichen Modifikationen, wenn nicht gar zu einer politischen Schwächung des parlamentarischen Systems führen, ja es partiell lähmen und konterkarieren.

6

F. J. STAHL Das monarchische 1845.

Prinzip,

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

243

2. Institutionelle Merkmale a) Ein- oder

Zweikammersystem

Im Mittelpunkt des parlamentarischen Systems steht naturgemäß die Institution des Parlaments. Unter verschiedenen Bezeichnungen (Bundestag, Parliament, Congress Assemblée Nationale, Cortes etc.) ist es entweder nach dem Ein- oder Zweikammersystem organisiert7. Letzteres 8 vereinigt im Parlament als dem repräsentativen Gesamtorgan zwei parlamentarische Körperschaften (Kammern), die unabhängig voneinander über Regierungsvorlagen entscheiden (z. B. England: House of Lords/ House of Commons; Österreich: Nationalrat/Bundesrat). In den meisten parlamentarisch regierten S t a a t e n mit einem Zweikammersystem bildet die erste Kammer das demokratisch gewählte Organ der eigentlichen Volksvertretung, während sich die zweite Kammer entweder als mehr oder weniger repräsentatives Relikt des Ständestaates erhalten hat oder in Bundesstaaten das föderative Vertretungsorgan darstellt (Österreich), wobei freilich darauf hinzuweisen ist, daß auch in Staaten ohne parlamentarische Regierungsform Zweikammersysteme existieren (Schweiz, USA). Die Bundesrepublik Deutschland besitzt ein eingeschränktes Zweikammersystem, bei dem der Bundestag als zentrale Gesetzgebungsinstanz und politisches Forum der Nation eine klare Vorrangstellung einnimmt, während über den Bundesrat die Länder lediglich an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken (vgl. unten S. 259). Unter dem Bonner Parlament im institutionellen Sinn wird daher immer nur der Bundestag verstanden. b) Doppelköpfige

Exekutive

Ein weiteres typisches Merkmal parlamentarischer Systeme bildet die „doppelköpfige" Exekutive: neben und getrennt von der Regierung ist meist ein Staatsoberhaupt (Präsident, Krone) vorhanden, welches den Regierungschef (Kanzler, Ministerpräsident) dem Parlament zur Wahl vorschlägt und anschließend ernennt. Dabei ist die Ernennung des Regierungschefs in keinem Falle gegen den Willen der Parlamentsmehrheit möglich. Dem Regierungschef seinerseits obliegt die Auswahl der Minister, auf die das Parlament wiederum je nach der konkreten Ausgestaltung des Systems unterschiedlich starken Einfluß nehmen kann (Wahl des Regierungschefs erst nach Vorstellung des Kabinetts, Bestätigung des Kabinetts insgesamt, Ministerwahl auf Vorschlag des Regierungschefs). Um trotz doppelter Spitze im Bereich der Exekutive eine kohärente und einheitliche Politik zu gewährleisten, bedürfen Anordnungen und Verfügungen des Staatsoberhaupts (wozu auch Reden gehören) stets der Gegenzeichnung durch den parlamentarisch verantwortlichen Kanzler. Auf diese Weise wird eine mittelbare Bindung auch des Staatsoberhaupts an das Parlament herbeigeführt. In der Bundesrepublik ist die Stellung des Regierungschefs allerdings nicht nur gegenüber dem Staatsoberhaupt, sondern auch im Verhältnis zum Parlament noch dadurch 7

Vgl. K. VON BEYME Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, 1970, 572 ff, 690 ff, 860 ff.

8

Dazu TH. STAMMEN Art. „Zweikammersystem", in: Handbuch des Deutschen Parlamentarismus, hrsg. von H . - H . RÖHRIG und K . SONTHEIMER, 1970, Sp. 5 4 4 - 5 4 7 .

244

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

erheblich verstärkt, daß er gemäß Art. 65 Satz 1 G G allein die Richtlinien der Politik bestimmt (Kanzlerprinzip). In der Regel kann der Regierungschef vom Staatsoberhaupt auch jederzeit die Auflösung des Parlaments und die Ausschreibung von Neuwahlen verlangen (England). Dieses Recht ist jedoch in der Bundesrepublik auf Ausnahmefälle beschränkt (z. B. abgelehnter Vertrauensantrag) und in einigen parlamentarisch regierten Staaten überhaupt nicht vorgesehen oder durch das Selbstauflösungsrecht des Parlaments ersetzt. c) Verbindung von Parlament und

Regierung

Charakteristisch für das parlamentarische System ist weiterhin die enge institutionelle und funktionelle Verbindung von Parlament und Regierung, welche T H O M A im Hinblick auf die dadurch bewirkte Konnexität legislativer und exekutiver Organe als „Gewaltenmonismus" bezeichnet hat 9 . Da zwischen Regierungsamt und Parlamentsmandat keine Inkompatibilität besteht, sind die Mitglieder des Kabinetts in der Regel zugleich auch Abgeordnete. Durch das dem englischen „junior minister" nachgebildete Institut des „parlamentarischen Staatssekretärs", der als besonders sachkundiger Abgeordneter „seinen" Minister bei der Erfüllung von Regierungsaufgaben zu unterstützen, namentlich im Parlament zu vertreten hat 10 , wird die institutionelle Verflechtung von Regierung und Parlament noch erheblich verstärkt. Ferner nehmen Mandatsträger mit besonderen Funktionen (Fraktions-, Ausschuß- und Arbeitskreisvorsitzende) nicht selten an Kabinettssitzungen teil. Umgekehrt wirken Regierungsvertreter nicht nur in den Ausschüssen, sondern auch im Ältestenrat mit. Zugespitzt formuliert, stellt somit die Regierung im parlamentarischen System theoretisch nichts anderes als einen „Ausschuß der Parlamentsmehrheit" dar. In der Staatspraxis führt diese Konnexität allerdings nicht zu einer weitgehenden Unterwerfung der Regierung unter die Suprematie des Parlaments, sondern verstärkt eher umgekehrt die politische Abhängigkeit des Parlaments vom Regierungsapparat, welche sich ohnehin schon aus Informationsvorsprüngen, spezialisiertem Sachverstand und langfristigen Planungen der Ministerialbürokratie ergibt. Somit besteht nicht nur die formelle Organtrennung zwischen Legislative und Exekutive auch im parlamentarischen System fort (mit allen organisatorischen und verfahrensrechtlichen Konsequenzen), sondern auch ein politisches Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Regierung, das gelegentlich selbst die Mehrheitsfraktion(en) einschließt. d) ,,Gewaltenteilung"

zwischen Regierung und

Opposition

Deshalb wäre es verfehlt, in der engen Verflechtung von Parlament und Regierung unter den institutionellen Gegebenheiten des parlamentarischen Systems eine Durchbrechung oder gar Beseitigung des Gewaltenteilungsprinzips zu erblicken. Hier stehen sich zwar nicht mehr wie im konstitutionellen Staat Exekutive und Legislative,

9

R. THOMA Das Reich als Demokratie, in: HdStR I, 1930, S. 196.

10

Vgl. § 1 des Gesetzes über die Rechtsstellung der Parlamentarischen Staatssekretäre vom 24. Juli 1974 (BGBl. I, S. 1538).

2. Abschnitt. D a s parlamentarische System (SCHNEIDER)

245

sondern Regierung und Opposition gegenüber. Während auf der einen Seite Regierung und parlamentarische Mehrheit zumindest nach außen hin eine weitgehende Handlungseinheit bilden, entzündet sich im parlamentarischen System der politische Konflikt zwischen der Regierung(skoalition) einschließlich der Mehrheitsfraktionen auf der einen Seite und der parlamentarischen Opposition andererseits. Die Spaltung der Machtblöcke geht also mitten durch das Parlament hindurch 11 . Man hat diesen Mechanismus der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition vielfach als „Wechselspiel" bezeichnet und darin eine moderne Form funktioneller Gewaltenteilung gesehen 12 . Richtig an dieser These ist zweifellos die Erkenntnis, daß die Aufgaben der Regierung(smehrheit) andere sind als die der Opposition: Während eine Regierung in der parlamentarischen Demokratie berufen ist, den Staat als Handlungs- und Wirkungseinheit vorübergehend zu leiten, und darin wegen ihres Vertrauensbedarfs im Interesse politischer Stabilität und Kontinuität notwendigerweise von den Mehrheitsfraktionen unterstützt werden muß, obliegen der parlamentarischen Opposition in erster Linie Kritik und Kontrolle der Regierung sowie die Präsentation personeller und sachlicher Alternativen mit dem Ziel der Herbeiführung eines Machtwechsels (Alternanzsystem) 13 . Weil in dieser Bipolarität zugleich ein Stück Mäßigung, Hemmung und Kontrolle politischer Macht realisiert wird (checks and balances), kann man durchaus von einer neuen Form demokratischer „Gewaltenteilung" im funktionellen Sinn sprechen. Andererseits übersieht diese These jedoch, daß sich erstens die Aufgaben der Mehrheitsfraktion(en) keineswegs in einer bedingungslosen Unterstützung der Regierung erschöpfen und zweitens bei manchen Agenden durchaus noch das Gesamtparlament gegenüber der Regierung eigenständig in Erscheinung tritt ( z . B . Finanzkontrolle, Rechnungsprüfung, Erledigung von Petitionen). So wird man insgesamt mit M E Y E R die parlamentarische Regierungsform als ein „gewaltenverschränkendes, unvollkommen zweipoliges System" 1 4 verstehen können. 3. Soziokulturelle Bedingungen a) Homogene

Sozialstruktur

Das parlamentarische System des „responsible government" 15 ist eine in hohem Grade rationale Herrschaftsform 16 , die erhebliche Anforderungen an die Einsichtsfähigkeit, das Abstraktionsvermögen und die Kompromißbereitschaft der politisch

11

So bereits W. KÄGI V o n der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Festschrift für H . HUBER, 1961, S.

13

Op-

151 f f ; H . PETERS D i e G e w a l t e n t r e n n u n g in

14

S o H . M E Y E R ( F n . 1) S . 1 1 1 .

moderner Sicht, 1954; neuerdings auch OP-

15

Vgl. W . HENNIS A m t s g e d a n k e und D e m o kratiebegriff, in: Politik als praktische Wissenschaft, 1968, S. 4 8 f f (54). D a z u M . WEBER Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1918.

PERMANN ( F n . 1 ) S . 6 4 , m i t d e r W a r n u n g v o r

12

H . - P . SCHNEIDER D i e p a r l a m e n t a r i s c h e

position im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1974, S. 403 ff, 4 0 7 f f .

einer „theoretisierenden U b e r s t e i g e r u n g " dieses B e f u n d s . N . GEHRIG Gewaltenteilung zwischen Regierung und parlamentarischer O p p o s i t i o n , in: DVB1. 1971, S. 6 3 3 f f .

16

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

246

aktiven Teile in der Bevölkerung stellt. Deshalb setzt sein Funktionieren eine relativ homogene Sozialstruktur voraus, d. h. gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingungen, die einerseits nicht zum Kampf um das Existenzminimum nötigen (Entwicklungsländer), also einen gewissen Wohlstand der Bevölkerung garantieren, zum anderen aber weder die Verfestigung des sozialen status quo noch die Austragung von Konflikten im Wege antagonistischer „Klassenkämpfe" begünstigen. Vielmehr beruht das parlamentarische System wesentlich auf dem Umstand, daß die unterschiedlichen Interessen und Bestrebungen innerhalb des Volkes prinzipiell ausgleichsfähig bleiben und aktuell über längere Zeit hinweg nach dem Mehrheitsprinzip eine verschieden starke Förderung durch die jeweilige Regierung vertragen. Nur so ist zu gewährleisten, daß die Vorstellung vom Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes" (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G ) glaubwürdig bleibt und sich nicht zur bloßen Fiktion verflüchtigt. Tendenziell verlangt dies eine annähernd gleichmäßige Repräsentanz aller gesellschaftlichen Gruppen im Parlament, wo der Interessenausgleich verbindlich stattfinden soll, wenigstens aber die parlamentarische Minderheit (Opposition) Mehrheitsentscheidungen respektiert. Als wichtiger Bestandteil der politischen Kultur eines Volkes lebt das parlamentarische System schließlich von der Vorstellung, daß gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur reformbedürftig sind, sondern im Wege der gewaltfreien geistig-politischen Auseinandersetzung auch tatsächlich verändert werden können. Dies wiederum bedingt eine freiheitliche Verfassungskultur, in der sich die Abneigung der Bevölkerung gegen bürokratisch-autoritäre Herrschaftsformen mit der Bereitschaft zur aktiven Teilnahme am politischen Geschehen auf demokratischem Wege verbindet.

b) Bipolares

Parteiensystem

Geradezu unentbehrliche Sozialfaktoren, von deren Existenz und Effizienz die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems wesentlich abhängt, sind diz politischen Parteien. Sie wirken nicht nur an der Willensbildung des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, sondern gleichen unterschiedliche Interessen und Bestrebungen bereits im vorparlamentarischen Raum aus, tragen die Ergebnisse dieses demokratischen Prozesses über ihre Fraktionen in das Parlament als dem Ort parteibezogener staatlicher Willensbildung hinein und vermitteln schließlich die Entscheidungen der Staatsorgane durch politische Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit den betroffenen Bürgern. Darüber hinaus sind sie maßgeblich an der Kandidatenaufstellung zu den Parlamentswahlen beteiligt. Nach der Wahl erleichtern sie unter den Bedingungen der Massendemokratie die parlamentarische Mehrheitsbildung und nehmen insbesondere auf das Zustandekommen der Regierung Einfluß. Soweit die Parteien an der Regierung beteiligt sind (Mehrheitsparteien), stellen sie ein wichtiges Bindeglied zwischen Legislative und Exekutive dar, welches die Regierungspolitik vorbereiten und koordinieren hilft. Als Parteien der Minderheit (Opposition) sind sie Hauptträger der parlamentarischen Kritik und Regierungskontrolle. Im Zweiparteiensystem erfolgt die Mehrheitsbildung und damit zugleich die Entscheidung über das Schicksal der Regierung bereits durch die Parlamentswahl

2 . Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

247

(Mehrheitswahlrecht), während im Vielparteiensystem zur Regierungsbildung noch nachträgliche Koalitionsverhandlungen notwendig sind. Der Streit darüber, ob das Zwei-, Mehr- oder Vielparteiensystem der parlamentarischen Regierungsform besser entspricht, ist müßig: bei sämtlichen Varianten kann — je nach der inneren Struktur der Parteien und dem politischen Gewicht ihrer Mandatsträger — das Parlament mehr oder weniger im Zentrum staatlicher Willensentschließung stehen17. Es kommt allein auf die Fähigkeit der Parteien zur Mehrheitsbildung an, welche allerdings durch das Zweiparteiensystem begünstigt wird. Insgesamt sind also die unterschiedlichen Erscheinungsformen des parlamentarischen Systems durch die jeweilige „Parteienkultur" maßgeblich mitbestimmt. c) Pluralistisches

Verbändewesen

Zur gesellschaftlichen Ambiance des parlamentarischen Systems gehören ferner die Verbände und Interessengruppen18. Ähnlich wie die Parteien, allerdings beschränkt auf ein partikulares Anliegen, nehmen auch sie auf die staatliche Willensbildung Einfluß, und zwar entweder direkt durch ihnen nahestehende Abgeordnete oder — weit häufiger — indirekt über die Ministerialbürokratie. Voraussetzungen einer wirksamen parlamentarischen oder außerparlamentarischen Interessenvertretung sind jedoch ein relativ hoher Organisationsgrad und das pluralistische Gleichgewicht der Verbände. Werden bestimmte Gruppen privilegiert, hingegen andere, schwer organisierbare Interessen strukturell benachteiligt, kann das parlamentarische System insgesamt erheblichen Schaden nehmen. Die gleichen desintegrierenden Wirkungen treten auf, wenn sich innerhalb der Verbände die Funktionärseliten verselbständigen und gemeinsam mit bürokratischen Oligarchien in Parlament und Regierung ein undurchdringliches Machtkartell bilden, dessen Bestreben vorwiegend auf Herrschaftssicherung und Besitzstandswahrung ausgerichtet ist. Nicht zuletzt kann die Herauslösung der Interessengruppen aus dem politischen Willensbildungsprozeß und ihre Ausstattung mit autonomen Entscheidungsbefugnissen (Wirtschafts- und Sozialräte) zu schweren Beeinträchtigungen des parlamentarischen Systems führen, bis hin zu seiner Aufhebung durch eine ständestaatliche Ordnung (z. B. Österreich im Jahre 1934). Unter diesem Gesichtspunkt wird man neuerliche Tendenzen zum „Neokorporatismus" in der Bundesrepublik (dazu unten S. 262) sehr sorgsam beobachten müssen. d) Kooperative

Staatsleitung

Mit Recht wird eine Regierungsform nicht nur daran gemessen, wieweit sie sozialen Anforderungen zu entsprechen und wieviel Konfliktpotential sie zu verarbeiten imstande ist, sondern vor allem, welche Integrationsleistungen und Konsensresultate sie zu erbringen vermag. Deshalb muß sich eine Analyse der soziokulturellen 17

So auch VON BEYME ( F n . 7) S. 4 3 .

gruppen in der D e m o k r a t i e , 1 9 6 9 ; R . STEIN-

18

Grundlegend T H . ESCHENBURG H e r r s c h a f t

BERG D a s Verhältnis der Interessenverbände

der Verbände? 2 . A u f l . , 1 9 6 3 ; J . H . KAISER

zu Regierung und Parlament, in: Z R P 1 9 7 2 ,

Repräsentation

S. 2 0 7 f f .

2. A u f l . ,

organisierter

Interessen,

1 9 7 5 ; K . VON BEYME Interessen-

248

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Bedingungen des parlamentarischen Systems auch auf die Verhaltensweisen und Entscheidungsmuster der Staatsleitung (government) erstrecken. Charakteristisch für die Leitungsstruktur einer parlamentarischen Demokratie ist zwar die zentrale Stellung des Parlaments als politisches Forum der Nation, nicht aber dessen Allmacht oder Allzuständigkeit. Vielmehr korrespondiert mit diesem Parlamentszentrismus, der keineswegs „Parlamentsherrschaft" bedeutet, in der Regel die herausgehobene Position des Regierungschefs, welcher zugleich eine Führungsrolle in der stärksten Parlamentspartei spielt und die Richtlinien der Politik bestimmt (vgl. Art. 65 GG). Auf der anderen Seite ist der Oppositionsführer meist auch Vorsitzender der Minderheitspartei. Für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems, insbesondere für seine Integrationswirkung und Uberzeugungskraft, kommt es entscheidend auf die Homogenität und Solidarität innerhalb der Staatsleitung an. Diese Voraussetzungen sind im Einparteienkabinett eher vorhanden oder leichter zu schaffen als bei Koalitionsregierungen in Vielparteiensystemen, wo die Einigkeit durch mühsame Verhandlungen außerhalb des Parlaments immer neu hergestellt werden muß. Allerdings tendieren Einparteienregierungen auch stärker zu „Flügelbildungen" in Partei und Fraktion, während Koalitionskabinette in der Regel auf eine strengere Fraktionsdisziplin vertrauen können. Daher treffen häufig homogene Kabinette mit inhomogenen Verhältnissen in den Mehrheitsfraktionen zusammen und umgekehrt. Schließlich hängen die Integrations- und Konsenswirkungen des parlamentarischen Systems wesentlich von der Existenz einer loyalen, konstruktiven und prinzipiellen Opposition ab, die mit allen ihr zu Gebote stehenden rechtlichen und politischen Mitteln den Machtwechsel anstrebt und sich nicht — wie im Falle Großer Koalitionen — auf eine bloße „Bereichsopposition" 19 beschränkt. 4. Historische Entwicklung a) Konstitutionelle

Monarchie

Während sich in England die Form der Kabinettsregierung (Wahl des Premierministers durch das Parlament) schon im späten 18. Jahrhundert entwickelt hat, konnte sich das parlamentarische System in Deutschland erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchsetzen. Der Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts stand einer allmählichen Parlamentarisierung der Fürsten- bzw. Reichsgewalt zwar nicht prinzipiell entgegen; die Einführung des parlamentarischen Systems scheiterte jedoch im Vormärz an staatstheoretischen Grundüberzeugungen („monarchisches Prinzip"), im Kaiserreich an verfassungsrechtlichen Hindernissen (föderatives System, Personalunion von Reichskanzler und preußischem Ministerpräsidenten). Gleichwohl legte BISMARCK besonderen Wert auf die Zustimmung der bürgerlichen Parteien im Reichstag zu seiner Innen- und Außenpolitik, verhandelte darüber immer häufiger mit den Partei -

19

Dazu O . KIRCHHEIMER Wandlungen der politischen Opposition, in: Politik und Verfassung, 1964, S. 123ff (135).

2. Abschnitt. D a s parlamentarische System (SCHNEIDER)

249

führern und „regierte", zunächst von einem Bündnis aus Nationalliberalen, Altliberalen und Freikonservativen unterstützt, seit 1878 „mit wechselnden Mehrheiten" 20 . Trotz solcher verfassungskulturell günstigen Bedingungen (Mehrheitswahlrecht, Parteienbildung, Parlamentarisierung der Kabinettspolitik) und einem Reichskanzler mit besonderer Sensibilität für parlamentarische Verfahrensweisen blockierten ein tiefverwurzeltes Mißtrauen aller Reichstagsfraktionen gegenüber dem kaiserlichen Machtkartell von Militär und Bürokratie sowie — entsprechend der antagonistischen Sozialstruktur — die Existenz einer heterogenen Fundamentalopposition jede Entwicklung zur parlamentarischen Regierungsform in der Staatspraxis. Auch die konstitutionelle Staatstheorie widersetzte sich teils aufgrund von Fehldeutungen des englischen Parlamentarismus, teils aus systematischen Erwägungen (Gewaltenteilung =Organtrennung) dem Gedanken einer politischen Verbindung von Regierung und parlamentarischer Mehrheit im Wechselspiel mit der Opposition und beschränkte sich auf die Forderung nach erweitertem Minderheitenschutz. Dennoch begegnet man schon im Kaiserreich parlamentarischen Vorgängen: sowohl der Sturz B I S M A R C K S (1890) als auch der Rücktritt v. B Ü L O W S (1909) wurden unvermeidlich, nachdem eine bestimmte Politik im Reichstag keine Mehrheit gefunden hatte. Schließlich wurde noch kurz vor der Abdankung des Kaisers zum Ende des Ersten Weltkrieges von der Regierung des Prinzen M A X V O N B A D E N ein letzter politischer Rettungsversuch unternommen und, um die Parteiführer an der Regierung beteiligen zu können, am 28. Oktober 1918 das parlamentarische Regierungssystem in Deutschland durch Reichsgesetz eingeführt. b) Weimarer Republik Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 hat — ebenso wie die Verfassungen der deutschen Einzelstaaten — das parlamentarische System erstmals konstitutionell verankert. Gemäß Art. 54 WRV bedurften der Reichskanzler und die Reichsminister zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags; jeder von ihnen mußte zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß das Vertrauen entzog. Allerdings sah die Weimarer Verfassung neben dem parlamentarischen Weg der Regierungsbildung über Reichstagswahlen und Fraktionsmehrheiten einen zweiten Legitimationsstrang vor: die plebiszitär begründete Regierungsmitverantwortung des Staatsoberhaupts. Der vom Volk direkt gewählte und von Regierung wie Parlament unabhängige Reichspräsident war als Gegengewicht zu dem ebenfalls aus Volkswahlen hervorgegangenen Reichstag und der von der Mehrheit des Reichstags getragenen Reichsregierung konzipiert. Der Reichskanzler wurde nach Art. 53 WRV vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen. Darüber hinaus benötigte er nach Art. 54 WRV das Vertrauen des Reichstags, den wiederum der Reichspräsident nach Art. 25 WRV auflösen konnte. So bezeichnete bereits T H O M A das parlamentarische System der Weimarer Republik als ein „hinkendes", welches unter einer doppelten Behinderung leide: 20

E.

R.

HUBER

Deutsche

Verfassungsge-

schichte seit 1 7 8 9 , B d . 4, 1 9 6 9 , S. 1 4 9 f f .

250

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

unter einer legislativen Lähmung, insofern dem Parlament die Gesetze durch den Einspruch des Reichsrats zerschlagen werden könnten, sowie unter einer administrativen Lähmung, wenn der Reichspräsident im Konfliktfall der Reichsregierung die Unterzeichnung der von ihr vorgeschlagenen Präsidialakte verweigern sollte21. Deshalb konnte das Gegengewichtsmodell der Weimarer Verfassung, das aus einer Mischung von Elementen der parlamentarischen Regierungsform und des Präsidialsystems bestand, nur solange funktionieren, wie sich der Reichspräsident und die Reichstagsmehrheit (sofern eine solche überhaupt zustande kam) auf die Person des Reichskanzlers und dessen Politik einigten. Starke soziale und ideologische Spannungen, eine durch konstitutionalistische Gleichgewichtsvorstellungen fehlgeleitete Parlamentarismustheorie sowie das in der Parlamentspraxis dominierende Proporzdenken der Parteien und Fraktionen ließen jedoch eine uneingeschränkte Parlamentarisierung der Reichsgewalt noch immer nicht zu. Das „hinkende" parlamentarische System begünstigte seinerseits in Verbindung mit dem Verhältniswahlrecht das Entstehen und Anwachsen extremistischer Massenparteien auf dem linken und rechten Flügel, welche sich lediglich in der Ablehnung des demokratischen Staates einig waren und die Mehrheitsbildung im Reichstag zunächst erschwerten, später unmöglich machten. Von da an war der Dauerkonflikt zwischen dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung unvermeidbar — eine Auseinandersetzung, die der Reichspräsident aufgrund seiner Befugnis zur Parlamentsauflösung und mit Hilfe des Notverordnungsrechts (Art. 48 WRV) letztlich für sich entscheiden konnte, die dann allerdings über jene Formen autoritärer Herrschaft („Pseudoparlamentarismus") nach 1930 unmittelbar in den totalitären Staat mündete. c) Bundesrepublik

Deutschland

Diese in der Weimarer Verfassung angelegten „Konstruktionsfehler" sollten im Interesse größerer Regierungsstabilität für die Bundesrepublik vermieden werden. Deshalb befürwortete zunächst eine starke Gruppe von Mitgliedern sowohl des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee als auch später im Parlamentarischen Rat das bayerische Modell der „Regierung auf Zeit". Damit hätte man freilich, zumindest vom praktischen Ergebnis der Unabsetzbarkeit der Regierung her, die Machtwechselchance der Opposition auf Parlamentswahlen beschränkt, was zweifellos zu einer weitgehenden Erstarrung des parlamentarischen Lebens hätte führen können. Um hingegen das parlamentarische Prinzip voll zu verwirklichen, d. h. um zu gewährleisten, daß die Bundesregierung nicht nur auf parlamentarischem Wege zustandekommt, sondern ebenso auch wieder abberufen werden kann, lehnte der Verfassungskonvent den Vorschlag einer „Regierung auf Zeit" ausdrücklich ab und entschied sich für die Einführung des sog. „konstruktiven Mißtrauensvotums" (Art. 90 Abs. 1 des Herrenchiemseer Entwurfs, Art. 67 GG). Für die Berufung zum Bundeskanzler

21

R . THOMA Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems, in: H d S t R I, 1930, S. 503 ff.

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

251

sollte also grundsätzlich das Vertrauen der Parlamentsmehrheit z w a r „ausreichen, aber auch unerläßlich" sein 2 2 . N a c h d e m im Prozeß der Verfassunggebung die Vorentscheidung für ein parlamentarisches System mit konstruktivem Abberufungsvorbehalt bereits auf H e r r e n chiemsee gefallen war, blieb f ü r den Parlamentarischen Rat im Organisationsbereich neben bundesstaatlichen Fragen praktisch nur noch das künftige Wahlrecht zu regeln übrig. Z w a r hatte sich insbesondere der A b g . ZINN ( S P D ) schon im Organisationsausschuß noch einmal nachdrücklich f ü r ein Regierungssystem mit funktionsfähiger parlamentarischer O p p o s i t i o n ausgesprochen; ähnlich waren später im Ausschuß für Wahlrechtsfragen auch die A b g . SCHRÖTER ( C D U ) und KROLL ( C S U ) unter Hinweis auf die N o t w e n d i g k e i t einer starken konstruktiven und homogenen O p p o s i t i o n in der parlamentarischen D e m o k r a t i e für die Ü b e r n a h m e des englischen Mehrheitswahlrechts eingetreten. D e n n o c h glaubte man im H a u p t a u s s c h u ß ebenso wie im Plenum des Parlamentarischen Rates überwiegend, alle der Weimarer Verfassung angelasteten Schwierigkeiten damaliger Regierungsbildung allein durch die , , E n t m a c h t u n g " des Bundespräsidenten s o w i e durch die E i n f ü h r u n g des „ k o n s t r u k t i v e n Mißtrauensvot u m s " (beschränkt auf den Bundeskanzler) behoben z u haben, und lehnte im E r g e b nis nicht nur das relative Mehrheitswahlrecht ab, sondern verzichtete sogar auf die ursprünglich vorgesehene Verankerung des parlamentarischen Regierungssystems in A r t . 20 A b s . 1 G G 2 3 . D a ß sich gleichwohl der Parlamentarismus in der B u n d e s r e p u blik rasch festigte und inzwischen zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Verfassungskultur des Grundgesetzes geworden ist, beruhte nicht nur auf jenem nach Weimarer Erfahrungen überraschenden M a ß an Regierungsstabilität, welches er zu erzeugen vermochte, sondern auch auf d e m loyalen Verhalten einer in den ersten Jahren des Staatsaufbaus durchaus prinzipiellen parlamentarischen O p p o s i t i o n , die den Bundestag rasch in den Mittelpunkt des politischen Geschehens rückte.

II. Ausgestaltung des parlamentarischen Systems im Grundgesetz 1. Parlamentarische Demokratie O b w o h l das G r u n d g e s e t z den Begriff „parlamentarisches R e g i e r u n g s s y s t e m " nicht verwendet und nur an einer Stelle eher beiläufig von „parlamentarischer K o n t r o l l e " spricht (vgl. A r t . 45 b G G ) , sind in der Sache mit der Wahl des Bundeskanzlers durch den B u n d e s t a g (Art. 63 G G ) , dem Ministerernennungsrecht und der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers (Art. 64, 65 G G ) sowie vor allem mit der politischen Verantwortlichkeit der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag (Art. 67, 68 in

22

So der Bericht des Verfassungsausschusses der Ministerpräsidentenkonferenz über den „Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee", 1948, S. 36.

23

D a z u H . - P . SCHNEIDER (Fn. 13) S. 6 5 f ; vgl. insbes. S. 66, A n m . 85.

252

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Verb, mit Art. 69 Abs. 1 GG) die wichtigsten Elemente des parlamentarischen Systems verfassungsrechtlich verankert. Weil danach die Existenz der Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängt, wird die Volksvertretung als oberstes Verfassungsorgan betrachtet, das sich zugleich im Gravitationszentrum des politischen Kräftespiels befindet. Insofern die Volksvertretung ihrerseits aus unmittelbaren Wahlen hervorgeht, durch die sich das Prinzip der Volkssouveränität realisiert (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG), ist das parlamentarische Regierungssystem so eng mit der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) verknüpft, daß man die Bundesrepublik Deutschland ihrer Staatsform nach zusammenfassend als parlamentarische Demokratie bezeichnet24. Damit stellt sich das Problem, ob dem Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG zugleich auch das parlamentarische System dergestalt innewohnt, daß es an der Unveränderlichkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG teilhat. Unter Hinweis auf die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten demokratischer Herrschaftsorganisation (Parlaments-, Präsidial-, Direktorialsystem) sowie mit Rücksicht auf den zulässigen Einbau plebiszitärer Formen der Willensbildung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2: „Abstimmungen"; vgl. auch Art. 29 GG) wird diese Frage jedoch zu Recht verneint. Weder die Idee der Volkssouveränität noch das Repräsentationsprinzip verlangen sachnotwendig die Bindung der Regierung an das Vertrauen des Parlaments25. Allerdings muß der unmittelbar demokratisch legitimierten Volksvertretung ein Kernbestand an originären Entscheidungs- und Kontrollbefugnissen erhalten bleiben. Darüber hinaus gehört auch die politische — nicht zwingend parlamentarische — „Verantwortlichkeit der Regierung" zu den fundamentalen Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung26. a) Parlament und

Repräsentativsystem

aa) Das parlamentarische System des Grundgesetzes beruht auf dem Gedanken der Repräsentation insofern, als die vom Volk ausgehende Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird (Art. 20 Abs. 2 GG). Das Handeln dieser Organe, insbesondere des unmittelbar gewählten Parlaments, erfolgt „in Vertretung" oder „im Namen des Volkes" dergestalt, daß deren Maßnahmen dem Volke zugerechnet, von ihm als legitim anerkannt und für es mit Verbindlichkeit ausgestattet werden27. Dieser „Legitimität" erzeugende Zurechnungsvorgang hat seine Grundlage in Wahlen und Abstimmungen, wobei die plebiszitären Formen der Willensbildung im Grundgesetz auf ein Minimum reduziert sind28. Da die Aussage, 24

25

Vgl. W . VON SIMSON/M. KRIELE Das d e m o -

26

B V e r f G E 2, 1 ( 1 3 ) ; 5, 85 ( 1 4 0 ) .

kratische

27

M.

Prinzip

im

Grundgesetz,

in:

WEBER

W D S t R L B d . 2 9 , 1 9 7 1 , S. 3 f f , 4 6 f f .

B d . I, 4 .

R.

171 ff.

HERZOG

in:

MAUNZ/DÜRIG/HERZOG/

SCHOLZ Grundgesetz

(Kommentar),

Rdn.

28

Wirtschaft

Aufl.,

1956,

und Kap.

Gesellschaft, III,

§21,

S.

Vgl. E . FRAENKEL D i e repräsentative und die

8 1 / 8 2 zu A r t . 2 0 ( 1 9 7 8 ) ; vgl. auch MAUNZ/

plebiszitäre K o m p o n e n t e im demokratischen

DÜRIG ebenda, R d n . 4 7 ( F n . 1) zu A r t . 79

Verfassungsstaat, 1 9 5 8 .

Abs. 3 (1960).

2. Abschnitt. D a s parlamentarische System (SCHNEIDER)

253

das Parlament „repräsentiere" das Volk, bilde die „Volksvertretung", lediglich einen politischen und nicht einen rechtlichen Sachverhalt bezeichnet29, war das Repräsentationsprinzip als Bestandteil des modernen Demokratiebegriffs stets ideologischen Deutungsversuchen ausgesetzt. Im Anschluß an B U R K E S Idee der „nation" als einer Honoratiorengemeinschaft von Besitz und Bildung erblickte man das „Wesen der Repräsentation" in einer Art „höherem geistigen Sein", das in der Wertsphäre verhaftet sei und die wahre Natur eines Volkes zur Erscheinung bringe30. Da der Repräsentant nicht nur bloßer „Vertreter" des Volkes sei, sondern in einem werthaften Sinne dessen politische Gesamtexistenz verkörpere, müsse er seine Entscheidungen völlig frei und unabhängig von bestimmten Aufträgen oder Interessen treffen können. Dies aber sei nur im liberalen Honoratiorenparlament des 19. Jahrhunderts möglich gewesen; mit dem Auftreten von Parteien in der modernen Massendemokratie werde der Repräsentationsgedanke durch das Element der plebiszitären Identität von Regierenden und Regierten verdrängt31, so daß letztlich auch das Parlament zu einem bloßen Hilfsorgan der Parteien verkümmere. Diese scharfe Entgegensetzung des liberalen Prinzips der Repräsentation und des demokratischen Prinzips der Identität entspricht jedoch weder der politischen Wirklichkeit, noch findet es im Verfassungstext des Grundgesetzes eine Stütze. Demokratische Herrschaft bedarf stets erneuter Legitimation durch periodische Wahlen, die maßgeblich von den Parteien organisiert werden und bei denen die verschiedenen politischen Gruppen und Interessen um die Mehrheit der Stimmen konkurrieren. Dieser Vorgang und sein Ergebnis, die Kreation von Abgeordneten und die Schaffung des Parlaments, können mit einem mystifizierenden Repräsentationsbegriff ebensowenig erklärt werden wie mit einer weitgehend fiktiven Identitätsvorstellung. Parlamentarische Herrschaft bedarf auch und gerade in der Massendemokratie einer legitimations- wie kontrollfähigen, d.h. politisch begrenzten und gebundenen „Repräsentation" organisierter Parteiinteressen32. In diesem Sinne besitzt die Bundesrepublik noch heute den Charakter einer repräsentativen Demokratie. bb) Nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz GG sind die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes" und nicht dessen Repräsentanten in jenem oben beschriebenen geistig-existenziellen Verständnis, das allenfalls dem Honoratiorenparlament des 19. Jahrhunderts entsprochen haben mag. Während mit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts das System der Nationalrepräsentation (Parlamentssouveränität) durch die egalitären Formen der Parteienrepräsentation (Volkssouveränität) abgelöst worden ist, hat sich auch das parlamentarische System gewandelt: die Parlamente stellen demokratische „Volksvertretungen", die Kabinette „Parteiregierungen" dar. Dabei wird schon mit der Parlamentswahl zugleich auch über die 29

P.

BADURA in: K o m m e n t a r

zum

Bonner

wandel der D e m o k r a t i e im 2 0 . J a h r h u n d e r t ,

G r u n d g e s e t z , R d n . 2 3 zu A r t . 38 (Zweitbearbeitung v o n 1 9 6 6 ) . 30

G.

LEIBHOLZ A r t .

3. A u f l . , 1 9 6 6 . 31

„Repräsentation",

in:

E v S t L 1 9 6 6 , Sp. 1 8 5 9 ; vgl. auch DERS. D a s W e s e n der Repräsentation und der Gestalt-

C.

SCHMITT

Verfassungslehre,

5. A u f l . ,

1 9 7 0 , S. 2 3 4 f . 32

In Anlehnung an den Titel von J . H . KAISER ( F n . 18).

254

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

künftige Regierung entschieden. Freilich erlaubt gerade die Eigenart des Parlaments als „Volksvertretung" dem einzelnen Abgeordneten nur sehr begrenzt die Wahrnehmung partikularer (privater oder gar eigener) Interessen. Die auch in der Parteiendemokratie keineswegs völlig sinnentleerte Formel von der Vertretung „des ganzen Volkes" verpflichtet ihn vielmehr, bei seinen Entscheidungen stets auf das Wohl der Allgemeinheit, d . h . aller gesellschaftlichen Gruppen und Schichten in der Bevölkerung, Bedacht zu nehmen und gegebenenfalls sogar unter Zurückstellung von Parteizielen einem vertretbaren Kompromiß zuzustimmen. N u r so läßt sich letztlich die Vorstellung rechtfertigen, daß der Abgeordnete sein Mandat weder kraft Vollmacht besitzt, noch im Wege der Delegation erlangt hat, sondern als Volksvertreter aus eigenem, mit dem Wahlakt originär begründeten Recht wahrnimmt. cc) Bei der Ausübung ihres Mandats sind die Abgeordneten „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 , 2 . Halbsatz GG). Man entnimmt dieser Regelung vielfach den Grundsatz des „freien Mandats", welcher zugleich ein Verbot des „imperativen Mandats" enthalte und damit etwa der Einführung des Rätesystems prinzipiell entgegenstehe. Hierbei wird häufig übersehen, daß nicht nur der Freiheitsbegriff vieldeutig ist, sondern sich auch der Abgeordnete selbst einer Vielzahl persönlicher und sachlicher Zwänge ausgesetzt sieht, die ihm eine beliebige Mandatsführung nach eigenem Gutdünken nahezu unmöglich machen 33 . Im Vordergrund steht hier die politische Bindung des Abgeordneten an „seine" Partei und Fraktion (Fraktionsdisziplin) nicht weniger als dessen rechtliche Mediatisierung durch Fraktionssatzungen und parlamentarische Geschäftsordnung, die beispielsweise das Antragsrecht in allen wichtigen Fragen dem Quorum der Mindestfraktionsstärke unterwirft (vgl. §§ 75, 76 GO-BT). Ist aber das „freie Mandat" heute weitgehend zur Fiktion geworden, sollte auch der mißverständliche Begriff vermieden und lediglich vom parlamentarischen Mandat gesprochen werden. Dennoch hat damit die Vorschrift des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G auch in der modernen Parteiendemokratie keineswegs ihre Bedeutung verloren. Als spezifische Schutznorm sichert sie in erster Linie die Unabhängigkeit und Unverantwortlichkeit des Abgeordneten gegenüber parlamentsfremden politischen Einflüssen, gleichgültig ob sie aus dem Bereich der Exekutive herrühren, von Verbänden oder Interessengruppen stammen oder durch die Parteien geltend gemacht werden. Keinem Abgeordneten darf aus seinem Verhalten im Parlament ein politischer Nachteil erwachsen (z. B. Mandatsverlust). Insofern führt die Unabhängigkeit des Mandats zu einer Verstärkung des parlamentarischen Repräsentativstatus und verbürgt sogar gegenüber Mehrheitsentscheidungen in den Fraktionen ein Stück demokratischen Minderheitsschutzes 34 . Selbst Regierungsmitglieder, die zugleich Abgeordnete sind, können in ihrer parlamentarischen Stimmabgabe nicht durch Kabinettsbeschlüsse gebunden werden. Vor allem aber setzt Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G einer weiteren parteipolitischen 33

So mit Recht N . A C H T E R B E R G Das rahmengebundene Mandat, 1975, S. 16ff.

34

So K . H E S S E Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, in: VVDStRL Bd. 17 (1959), S. 31 f.

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

255

„Übermächtigung" des Mandats, dessen zunehmend imperativer Charakter wenigstens de facto kaum mehr zu übersehen ist, auch in der Verfassungspraxis unüberwindliche Schranken. Wenn sich Abgeordnete nach eigenem Bekunden immer häufiger genötigt sehen, aus bloßer Partei-, Fraktions- oder gar nur Regierungsräson gegen ihre Überzeugung zu stimmen, ist diese verfassungsrechtliche Grenze bereits überschritten. Damit wird dem Abgeordneten jedoch kein Freibrief für willkürliches Handeln erteilt. Denn obwohl ihm weder das Volk als ganzes noch der einzelne Wähler Weisungen erteilen können, ist er jeweils seiner „Bezugsgruppe", welcher er das Mandat verdankt (Parteien, Wählervereinigungen, Verbände, Bürgerinitiativen, sonstige „Hausmacht"), für dessen sach- und interessengerechte Wahrnehmung zweifellos politisch verantwortlich. So kann ihn beispielsweise auch die Berufung auf das Gewissen nicht von der Pflicht zur öffentlichen Rechtfertigung seiner Entscheidungen, zumindest gegenüber der ihn tragenden Klientel, entheben. Im Sinne eines solchen „gruppengebundenen Mandats" dient die Abgeordnetenfreiheit letztlich der Intensivierung pluralistischer Interessenrepräsentation — auch gegenüber gruppenfremden Partei- oder Fraktionseinflüssen — und wirkt durch Kräftigung der unmittelbaren Politiker-Wähler-Beziehungen zugleich jener oft beklagten „Parteiverdrossenheit" ebenso wie der Realitätsferne des parlamentarischen Betriebs entgegen. dd) Kraft der Unabhängigkeit des parlamentarischen Mandats, das im Grundgesetz auch „ A m t " genannt wird (vgl. Art. 48 Abs. 2 Satz 1 G G ) , besitzt der Abgeordnete einen „eigenen verfassungsrechtlichen Status" und ist zugleich ein „mit eigenen Rechten ausgestatteter Teil des Parlaments" 3 5 . Die verfassungsrechtliche Stellung des Abgeordneten betrifft neben den sich aus Art. 38 Abs. 1 G G ergebenden Befugnissen den Schutz des Mandats bei seiner Erlangung, während seiner Ausübung und in seinem Bestand gegen unfreiwilligen Verlust. Wer sich um ein Parlamentsmandat bewirbt, darf daran nicht gehindert werden, ist gegen Kündigung oder Entlassung geschützt (Art. 48 Abs. 2 G G ) und hat Anspruch auf den zur Vorbereitung seiner Wahl erforderlichen Urlaub (Art. 48 Abs. 1 G G ) . O b diese Regelung auch für Hafturlaub gilt, ist umstritten, im Prinzip aber zu bejahen, weil sonst das passive Wahlrecht eines Strafgefangenen unverhältnismäßig beschränkt wäre. Als gewählter Mandatsträger hat der Abgeordnete Anspruch auf eine angemessene, seine Existenz sichernde Entschädigung (Art. 48 Abs. 3 G G ) , deren Höhe sich heute am Leitbild des „Berufspolitikers" zu orientieren hat 3 6 . O b allerdings die verfassungsgerichtliche Vorstellung vom Mandat als „füll time j o b " auf jede Abgeordnetentätigkeit zutrifft, darf füglich bezweifelt werden. Hier ist im Unterschied zum Bundestag für die Länder- und Stadtparlamente je nach dem konkreten Zeitaufwand zu differenzieren, und zwar auch mit diätenrechtlichen Konsequenzen. Ferner genießt der Abgeordnete die Rechte der Indemnität und Immunität, d. h. er darf weder wegen einer Abstimmung oder Äußerung im Parlament gerichtlich oder dienstlich zur Rechenschaft gezogen, noch ohne Genehmigung des Parlaments M Vgl. B V e r f G E 2, 143 (164); 4, 144 (148f) in std. Rspr.

So B V e r f G E 40, 296 (312ff).

256

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

überhaupt strafrechtlich verfolgt werden (Art. 46 GG). Schließlich wird jedem Mandatsträger ein Zeugnisverweigerungsrecht bezüglich der Personen und Tatsachen eingeräumt, mit denen er in amtlicher Eigenschaft befaßt worden ist (Art. 47 GG). Während diese Rechte im konstitutionellen Fürstenstaat für die Sicherung des Mandats von geradezu existenzieller Bedeutung waren, haben sie heute unter den Bedingungen des demokratischen Parlamentarismus erheblich an Gewicht verloren. Darüber hinaus ergeben sich weitere Rechte des Abgeordneten als Teil des Parlaments aus der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, darunter vor allem das Stimm-, Rede- und Antragsrecht (vgl. §§ 2 7 - 3 7 , 4 5 - 5 3 , 7 5 - 7 7 GO-BT). Eine Verletzung seines verfassungsrechtlichen Status sowie der parlamentarischen Rechte kann der Abgeordnete im Wege des Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG). b) Parlament und

Parteienstaat

aa) Als moderne Massendemokratie ist die Bundesrepublik zugleich egalitärer Parteienstaat31, welcher notwendig der Organisation politischer Prozesse und deren Transformation in staatliche Entscheidungen bedarf. Zu diesem Zweck wirken die Parteien „bei der politischen Willensbildung des Volkes mit" (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG). Als Integrationsfaktoren, die in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben worden sind38, bereiten sie die Parlamentswahlen vor, sammeln und formen die unterschiedlichen Meinungen und Interessen, gleichen sie aus und suchen ihnen im Bereich der staatlichen Willensbildung Geltung zu verschaffen, indem sie auf die Beschlüsse von Parlament und Regierung sowie auf die Besetzung der obersten Staatsämter Einfluß nehmen39. Dieser verfassungsrechtlich legitimierte Auftrag der politischen Parteien, welcher letztlich im Demokratieprinzip gründet (Art. 20 Abs. 1 GG), kann nicht ohne Auswirkungen auf das Verständnis des parlamentarischen Mandats bleiben. Denn wenn man von der Vorstellung ausgeht, daß in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG das „freie Mandat" verankert sei, müssen parteipolitische Einflußnahmen auf den Abgeordneten schlechthin unzulässig und daher die Vorschriften des Art. 21 Abs. 1 und des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG widersprüchlich erscheinen. Die Rechtsprechung hat diesen möglichen Normenkonflikt zu einem „Spannungsverhältnis" abgemildert, bei dem nur im konkreten Einzelfall zu entscheiden sei, welches der beiden Prinzipien jeweils das höhere Gewicht habe 40 . Damit wird jedoch weder der Einheit des Verfassungsrechts noch der politischen Wirklichkeit des modernen Parteienstaats hinreichend Rechnung getragen. Eine sachgerechte Zuordnung beider Bestimmungen führt um ihrer optimalen Wirksamkeit willen zu der Erkenntnis, daß der Abgeordnete nicht auch, sondern nur und gerade als Exponent einer Partei „Vertreter des ganzen Volkes" ist, also niemals ein „freies", vielmehr

37

G. LEIBHOLZ Parteienstaat und repräsentative Demokratie, in: DVB1. 1951, S. lff; vgl. auch DERS. Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl., 1967.

38

39 40

BVerfGE 5, 85 (388) in std. Rspr.; vgl. insbesondere BVerfGE 20, 56 (100). BVerfGE 20, 56 (101). BVerfGE 2, 1 (72ff); vgl. auch BVerfGE 4, 144 (148f); 5, 85 (233).

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

257

stets ein parteibezogenes, wenn auch unabhängiges Mandat ausübt 41 . Aus dem Umstand, daß demnach parteipolitische Einwirkungen auf den Abgeordneten anders zu beurteilen sind als sonstige Einflußnahmen, ergeben sich für das parlamentarische System eine Reihe von Konsequenzen. bb) Aus Art. 38 Abs. 1 G G folgt zunächst, daß die Innehabung des Parlamentsmandats nicht von der Partei- oder Fraktionszugehörigkeit des Abgeordneten abhängig gemacht werden darf. Selbst wenn ein Abgeordneter aus Partei oder Fraktion austritt, bleibt sein Mandat bestehen 42 ; er ist weder verpflichtet, noch kann er rechtsverbindlich gezwungen werden, das Mandat niederzulegen (Unentziehbarkeit des Mandats). Entsprechende Verzichtserklärungen gegenüber der Partei sind unwirksam, ein hierauf gerichtetes Ansinnen bereits verboten. Darüber hinaus ist auch der Gesetzgeber gehindert, das Parlamentsmandat mit einer Partei- oder Fraktionszugehörigkeit zu verknüpfen. Lediglich ein verfassungsrechtliches Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 G G hat auch den Mandatsverlust zur Folge (vgl. § 49 BWahlG). Diese Regelung steht jedoch mit Art. 38 Abs. 1 G G nicht in Widerspruch, weil sie die Unabhängigkeit des parlamentarischen Mandats gegenüber fremden Einflüssen unberührt läßt, vielmehr nur die Fortsetzung einer verfassungswidrigen Politik im Parlament unterbinden will 43 . cc) Durch Art. 38 Abs. 1 G G sind die Parteien auch gehindert, auf ihre Abgeordneten im Parlament einen Fraktionszwang etwa in der Weise auszuüben, daß unbotmäßiges Verhalten mit bestimmten Sanktionen bedroht wird. Andererseits stellen die Fraktionen jedoch notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens dar, die den technischen Ablauf der Parlamentsarbeit in gewissem Grad zu steuern und damit zu erleichtern haben 44 . Als verlängerter Arm der Parteien im Parlament („Parlamentsparteien") bedürfen sie zur Erfüllung dieser Aufgaben: sowohl zur Unterstützung der Regierungspolitik wie zur Ausübung einer wirksamen Opposition, eines Mindestmaßes an Stabilität und Geschlossenheit. Deshalb wird im Rahmen der Vorbereitung parlamentarischer Entscheidungen die Bindung des Abgeordneten an Parteistatute und Fraktionsgeschäftsordnungen für zulässig gehalten (Fraktionsdisziplin). Will er beispielsweise von der Mehrheitsmeinung abweichen, so muß er in der Regel die Fraktion davon informieren und seine Gegenansicht begründen. Verstöße gegen die Fraktionsdisziplin können mit dem Entzug von parlamentarischen Ämtern, ja letztlich sogar mit dem Ausschluß aus Fraktion oder Partei geahndet werden. Da diese Mittel äußerst wirksam sind, weil sie de facto die Wiederwahl des Abgeordneten in Frage stellen, sind vom praktischen Ergebnis her unzulässiger Fraktionszwang und erlaubte Fraktionsdisziplin im Einzelfall kaum zu unterscheiden, so daß der Streit über Art und Umfang einer Partei- oder Fraktionsbindung des

41

S o BADURA ( F n . 2 9 ) R d n .

72 z u A r t .

38;

ähnlich auch ACHTERBERG Das rahmengebundene Mandat, 1975, S. 36ff, der hierfür allerdings auf die Notwendigkeit einer Rechtsänderung hinweist.

42

43

BVerfGE 2, 1 (74). Vgl. auch LEIBHOLZ (Fn. 3 7 ) S. 1 1 5 . So auch BADURA (Fn. 29) Rdn. 82 zu Art. 38.

44

BVerfGE 10, 4 (14); vgl. auch BVerfGE 2, 143 (160, 167).

258

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

parlamentarischen Mandats, durch Art. 21 Abs. 1 G G grundsätzlich legitimiert, heute weitgehend nur noch theoretische Bedeutung hat. c) Parlamente im

Bundesstaat

aa) Ebenso wie der Bund haben alle Bundesländer nach 1945 — meist noch vor der Schaffung des Grundgesetzes — das parlamentarische Regierungssystem eingeführt. Sie entsprechen damit der Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 G G , wonach in den Ländern eine Volksvertretung vorhanden sein muß, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien und gleichen Wahlen hervorgangen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat daraus entnommen, daß auch in den Ländern das Prinzip der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung zu verwirklichen sei, wenngleich nicht notwendig in allen Einzelheiten identisch mit dem Grundgesetz 4 5 . Demgemäß wird in allen Bundesländern der Ministerpräsident (Senatspräsident) vom Parlament gewählt, in den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen auch die Senatoren. Die übrigen Landesverfassungen — mit Ausnahme Schleswig-Holsteins — sehen zumindest eine Bestätigung oder Zustimmung des Landtags zur Kabinettsbildung vor, NordrheinWestfalen lediglich eine Anzeige. Außer in Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ist ferner festgelegt, daß die Amtszeit der Regierung mit dem Ablauf der Legislaturperiode endet. Abgesehen von Bayern besteht auch in allen Ländern die Möglichkeit eines einfachen (Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland) oder konstruktiven (BadenWürttemberg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, SchleswigHolstein) Mißtrauensvotums. Die Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten kennen zusätzlich die Verfassungen Hamburgs, Hessens und des Saarlandes. Eine Entlassung von Regierungsmitgliedern durch Landtagsbeschluß ist in Baden-Württemberg, eine parlamentarische Auflösung des Senats in Hamburg möglich. Schließlich findet sich in vielen Landesverfassungen — mit Ausnahme von Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein — noch das Institut der Ministeranklage. Wenn die Landessatzung von Schleswig-Holstein die Amtszeit des Ministerpräsidenten nicht mit dem Zusammentritt eines neuen Landtags enden läßt und deshalb auch keine Neuwahl des Regierungschefs zwingend vorschreibt, so hält sich diese Abweichung vom Grundgesetz noch „innerhalb des Spielraums, den Art. 28 Abs. 1 G G der Entscheidung der Länder beläßt" 4 6 . Obwohl auch Bayern mit dem Prinzip der „Regierung auf Zeit" zweifellos an die Grenzen zulässiger Gestaltungsfreiheit gerät, wird nach überwiegender Auffassung darin ebenfalls noch keine Preisgabe des parlamentarischen Systems gesehen 47 , weil der Ministerpräsident zum Rücktritt verpflichtet ist, „wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen" (Art. 44 Abs. 3 Satz 2 BayVerf.). Im Konfliktfall dürfte diese Rücktrittspflicht allerdings nur mit Hilfe des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs durchzusetzen sein. 45 46

BVerfGE 24, 44 (55f). Ebenda, S. 56.

47

Nachweise bei M . F R I E D R I C H Landesparlamente in der Bundesrepublik, 1975, S. 42, Anm. 9.

2. Abschnitt. D a s parlamentarische System (SCHNEIDER)

259

bb) Schon wenige Jahre nach Gründung der Bundesrepublik wurde freilich die kritische Frage laut, „ o b das parlamentarische Regierungssystem den politischen Bedürfnissen der Länder überhaupt entspricht" 4 8 . Es fehle hier nicht nur an sachlichen Alternativen, sondern auch an der Bereitschaft zum Parteienwettbewerb und damit letztlich an der Chance des Machtwechsels. Hinzu kam die Entwicklung der föderativen Ordnung zum „unitarischen Bundesstaat" 4 9 , welche mit der Konzentration von Gesetzgebungszuständigkeiten beim Bund, der Mischfinanzierung von Gemeinschaftsaufgaben sowie mit der engen Kooperation zwischen Bundes- und Landesbürokratien die politische Situation der Landesparlamente noch erheblich verschlechterte 50 , so daß man geradezu von einem „gesetzgeberischen Kompetenzverfall der Landtage" sprechen kann 5 1 . Demzufolge ist die Auseinandersetzung um das parlamentarische System in den Ländern bis heute keinesfalls verstummt, sondern eher neu entfacht worden. Man hat empfohlen, sich am Schweizer Bundesratssystem zu orientieren, die Magistratsverfassung einzuführen, nach Möglichkeit in den Ländern Große Koalitionen zu bilden oder die Ausschußarbeit in den Landesparlamenten zu verstärken 5 2 . Bei aller Berechtigung der Kritik ist jedoch ein überzeugender Nachweis der Funktionslosigkeit des parlamentarischen Systems in den Ländern noch nicht geführt worden. Man wird sogar umgekehrt annehmen können, daß sich das politische Betätigungsfeld der Landesparlamente künftig zumindest in drei Richtungen erheblich ausbauen läßt: (1) im Bereich der Regierungs- und Verwaltungskontrolle durch Einflußnahme auf die „Selbstkoordinierung" der Länder (z. B. auf Beschlüsse und Empfehlungen der Ministerpräsidenten- oder Fachministerkonferenzen, den Abschluß von Verwaltungsvereinbarungen etc.) oder durch Mitwirkung an der Landesplanung; (2) auf dem Gebiet der Gesetzgebung durch gezielte Initiativen zum Stimmund Antragsverhalten der Landesregierung im Bundesrat sowie (3) bei allen Angelegenheiten der Landespolitik durch öffentliche Erörterung umstrittener Vorhaben mit regionalem oder lokalem Bezug im Interesse größerer Transparenz und Bürgernähe von langfristig wirksamen Entscheidungen. Würden diese Aufgaben verstärkt in Angriff genommen, so brauchte man sich um die Lebensfähigkeit des parlamentarischen Systems in den Ländern nicht zu sorgen. cc) Besondere Schwierigkeiten bereitet schließlich der Einbau des Bundesrates in die Legitimations- und Organisationsstruktur des parlamentarischen Regierungssystems. Denn als Versammlung weisungsgebundener Regierungsmitglieder kann sich die Ländervertretung weder auf das Prinzip unmittelbar demokratischer Repräsentation des Volkes stützen, noch unterliegt sie einer direkten parlamentarischen Kontrolle. D a die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nur über Landtagswahlen zu beeinflussen sind, entarten diese immer mehr zu „Bundesratswahlen", was wiederum 48

49

50

So W. HENNIS Parlamentarische O p p o s i t i o n und Industriegesellschaft, in: Politik als praktische Wissenschaft, 1968, S. 119. D a z u K . HESSE Der unitarische Bundesstaat, 1962. V g l . FRIEDRICH ( F n . 4 7 ) S . 51 f f .

51

52

H . OBERREUTER K a n n der Parlamentarismus überleben? 1977, S. 80. D a z u K . P. SIEGLOCH Kritik und Alternativen z u m parlamentarischen Regierungssystem in den Bundesländern, in: ZParl 3 (1972), S. 3 6 5 f f .

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

260

den landespolitischen Erosionsprozeß beschleunigt. Auf Bundesebene stellen zwar Parlament und Regierung noch ein massives Gegengewicht dar, zumal der Bundestag den Einspruch des Bundesrates überstimmen kann. Dennoch nehmen bei unterschiedlichen Mehrheiten die politische Rücksicht der Bundesregierung auf die Ländervertretung und die Praxis des Aushandelns von Entscheidungen im Vermittlungsausschuß, parlamentarisch gesehen, immer deutlichere Züge einer „Allparteienregierung" an. Deshalb wird man insgesamt an der Feststellung nicht vorbeikommen, daß die Existenz einer nach dem Bundesratsprinzip organisierten Ländervertretung — zumal in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung — letztlich das parlamentarische System schwächt. Freilich ist dabei aus gesamtstaatlicher Sicht zu berücksichtigen, daß nicht nur die föderative Struktur als solche, sondern auch die Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung im Bundesrat gewaltenteilende und machtbegrenzende Wirkungen erzeugt, die dem Minderheitsschutz dienen (insofern benutzt eine Opposition unter abweichenden Mehrheitsverhältnissen in Bund und Ländern den Bundesrat völlig zu Recht als Instrument der Durchsetzung ihrer Politik), die integrierende Kraft der demokratischen Ordnung stärken und die Erkenntnis bestätigen, daß im Grundgesetz als einer „gemischten Verfassung" auch das parlamentarische Prinzip nicht rein verwirklicht, sondern durch das föderative System „gemildert" ist. Allerdings würde eine erhebliche Funktionsverbesserung des Parlamentarismus gerade in den Ländern aus der Realisierung des Vorschlags erwachsen, die Mitglieder des Bundesrates direkt von den Länderparlamenten wählen zu lassen 53 . Leider ist jedoch diese Idee im gouvernementalen Klima der Bundesrepublik auch heute noch politisch kaum durchsetzbar. 2. Der Deutsche Bundestag Nach den beiden Reichstagen der kaiserlichen Monarchie und der Weimarer Republik ist der Bundestag das dritte freigewählte Parlament auf deutschem Boden, dem die Vertretung des ganzen Volkes obliegt, jedoch das erste, welches diesem Auftrag gemäß im Zentrum des politischen Geschehens steht. Nie zuvor hat ein deutsches Parlament als oberstes Staatsorgan sich insgesamt so stark mit der geltenden Verfassungsordnung identifiziert, so weitgehende Machtbefugnisse besessen, so stabile Regierungen hervorgebracht und damit zugleich die Regierungspolitik so massiv beeinflußt wie der Deutsche Bundestag in den vergangenen dreißig Jahren seines Bestehens. Dennoch sieht er sich immer wieder kritischen Betrachtungen ausgesetzt, die von der Feststellung eines Funktionsverlusts der Parlamente allgemein bis zur Behauptung von Entscheidungsdefiziten des Bundestages im besonderen reichen. Daher erscheint es ebenso notwendig wie gerechtfertigt, nach der achten Legislaturperiode zunächst eine Zwischenbilanz zu ziehen und rückblickend zu untersuchen, ob und inwieweit der Bundestag seine parlamentarischen Aufgaben erfüllt hat.

53

V g l . FRIEDRICH ( F n . 4 7 ) S . 6 9 f f .

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

a)

261

Aufgaben

aa) Beurteilt man die Leistungsfähigkeit der Parlamente nach bestimmten Handlungsabläufen, Tätigkeitsformen und Zuständigkeiten, kurz: nach ihren „Aufgaben", so lassen sich in Anknüpfung an BAGEHOT im wesentlichen fünf parlamentarische Funktionsbereiche unterscheiden: die Wahlfunktion, die Gesetzgebungsfunktion, die Willensbildungsfunktion, die Öffentlichkeitsfunktion und schließlich die Kontrollfunktion des Parlaments 54 . Beginnend mit der Wahlfunktion, wird man feststellen können, daß sie vom Bundestag bisher noch am besten erfüllt worden ist. Die Wahlen von Bundeskanzlern oder Parlamentspräsidenten, die Richterwahlen, die Wahlen des Wehrbeauftragten oder der Schriftführer sind bisher sämtlich rechtzeitig und in eigener Verantwortung erfolgt, niemals fehlgeschlagen und lassen daher keine Entscheidungsdefizite erkennen. Allenfalls könnte man bemängeln, daß die Vorbereitung solcher Wahlen weitgehend außerhalb des Parlaments entweder nach Absprachen zwischen den Fraktions-, Partei- und Regierungsspitzen oder aber durch Verständigung der Fraktionen untereinander erfolgt. Solche Vorklärungen kennzeichnen jedoch das normale parlamentarische Verfahren, so daß hierin noch kein Entscheidungsmangel erblickt werden kann. bb) Schwieriger zu beurteilen ist schon die parlamentarische Erfüllung der Gesetzgebungsaufgaben. Zwar hat bisher der Bundestag auch hier in quantitativer Hinsicht ein erstaunliches Maß an Arbeit geleistet, wenn man bedenkt, daß in jeder Legislaturperiode durchschnittlich 650 Gesetzentwürfe beraten und davon etwa 450 verabschiedet werden 5 5 . Deshalb sind im Augenblick sogar umgekehrt eher Befürchtungen zu vernehmen, die vor einer unübersehbaren Gesetzesflut warnen und den zunehmenden Tendenzen einer Verrechtlichung des öffentlichen und privaten Lebens Einhalt gebieten wollen 5 6 . Aber die große Zahl der verabschiedeten Gesetze trügt. Diese gehen nämlich zu 80% auf Initiativen der Bundesregierung, zu weiteren 15% auf Initiativen der parlamentarischen Opposition und nur zu 5% auf Initiativen der Parlamentsmehrheit zurück. Hierbei wird bereits ein erster Entscheidungsmangel der Parlamente sichtbar: Defizite an spezialisiertem Sachverstand, an personeller Problemverarbeitungskapazität sowie an unentbehrlichen Detailinformationen führen auf der einen Seite nicht nur zu einer hohen Arbeitsbelastung des einzelnen Abgeordneten in Ausschüssen und Fraktionsarbeitskreisen, sondern auch zu einem weitgehenden Verzicht der Parlamente auf eigene Gesetzesvorschläge, so daß gelegentlich der Eindruck entstehen

54

gehot und die englische Verfassungstheorie,

WALTER BAGEHOT ( 1 8 2 6 - 1 8 7 7 ) h a t in sei-

nem Werk „The English Constitution" (London 1867) die Funktionen des „parliamentary government" auf die klassische Formel gebracht: „ I t (the parliament) must elect a ministry well, legislate well, teach the nation well, express the nation's will well, bring matters to the nation's attention well" (p. 195, zit. nach der Ausgabe von 1919). Dazu neuerdings F. NUSCHELER Walter Ba-

1969. 55

Nachweise bei P. SCHINDLER Parlamentsstatistik für die 1. bis 7. Wahlperiode, in: ZParl 8 (1977), S. 145ff (148ff).

56

Dazu H . - D . WEISS Verrechtlichung als Selbstgefährdung des Rechts, in: D Ö V 1978, S. 601 ff; R. VOIGT (Hrsg.) Verrechtlichung, 1980.

262

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

könnte, als sei die Regierung der eigentliche Gesetzgeber und das Parlament nur deren Vollzugsorgan. An dieser Stelle zeigt sich bereits, daß die tatsächlichen Entscheidungsdefizite der Parlamente weniger in der Bewältigung des formellen Entscheidungsprogramms, als vielmehr in einer ungenügenden Beteiligung an der informellen Entscheidungsvorbereitung liegen. cc) Dies wird noch wesentlich deutlicher bei der Betrachtung der Willensbildungsfunktion. So ist etwa die Anzahl der vom Bundestag kontrovers verabschiedeten, d. h. zwischen Regierungskoalition und Opposition umstrittenen Gesetzesentwürfe seit der ersten Legislaturperiode kontinuierlich zurückgegangen und liegt heute bei nur etwa 6,4% (33). Eine ähnlich abnehmende Tendenz weisen die selbständigen Anträge von Abgeordneten auf, welche keinen Gesetzentwurf enthalten; sie gingen von 1801 in der ersten Wahlperiode des Deutschen Bundestages auf 141 in der siebenten Wahlperiode zurück 57 . Ebenso verringerte sich die Zahl der namentlichen Abstimmungen, gleichfalls ein Indiz für die Fähigkeit zur politischen Willensbildung und Richtungsbestimmung des Parlaments, gegenüber der ersten Legislaturperiode auf weniger als ein Drittel. Man wird daher wohl nicht fehlgehen in der Annahme, daß sich die politische Willensbildung nur zu einem geringen Teil in den Parlamenten selbst vollzieht und heute überwiegend bei Regierung, Parteien und Verbänden liegt. dd) Im Hinblick auf die Öffentlichkeitsfunktion der Parlamente, d . h . ihre Aufgabe, Politik öffentlich zu artikulieren, darzustellen und Kontroversen sowie Alternativen in der politischen Auseinandersetzung deutlich zu machen, ergibt sich ein äußerst vielschichtiges und komplexes Bild. Einerseits sind aufgrund von Parlamentsreformen im letzten Jahrzehnt die öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten der Parlamente erheblich gesteigert worden. Durch Einführung von Hearings, Aktuellen Stunden und die Möglichkeit der Einsetzung von Enquete-Kommissionen hat der Bundestag seine Öffentlichkeitswirkung als „politisches Forum der Nation" 5 8 wesentlich ausbauen und verbessern können. Auf der anderen Seite jedoch stehen die noch immer überwiegend nicht öffentlichen Ausschuß- und Unterausschußsitzungen zu den Plenarberatungen nach wie vor in einem Verhältnis von acht bis zehn zu eins. Diese Zahlen zeigen, daß sich ein wesentlicher Teil der Parlamentstätigkeit weiterhin hinter verschlossenen Türen in meist kooperativer Arbeitsatmosphäre unter Einbeziehung der Ministerialbürokratie vollzieht. Man sollte diese Praxis keineswegs von vornherein negativ bewerten, zumal sie eine „offene" Aussprache zwischen den Fraktionen ermöglicht, die sachliche Beratung fördert und Kompromisse erleichtert. Gleichwohl erscheint die Feststellung angebracht, daß solche fortwirkenden Tendenzen eines Ausschlusses der Öffentlichkeit in merkwürdigem Gegensatz zu den teilweise erfolgreichen Reformbestrebungen nach einer verstärkten parlamentarischen Publizität stehen. ee) Im Zentrum der Kritik befindet sich jedoch nach wie vor die angeblich ungenügende Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrollfunktion. Hier werden 57

V g l . SCHINDLER ( F n . 55) S. 150.

58

So A . MORKEL Das Parlament als öffentliches F o r u m , in: Aus Politik und Zeitge-

schichte B 40/66, S. 21 ff; vgl. auch M. HERETH Die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments, in: PVS 11 (1970) S. 2 9 f f .

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

263

zweifellos strukturelle Mängel des parlamentarischen Systems offenbar, die vor allem darin bestehen, daß angesichts der Aktionseinheit von Parlamentsmehrheit und Regierung die Kritik- und Kontrollfunktion heute weitgehend auf die parlamentarische Opposition übergegangen ist, einer Minderheit jedoch ihrer Natur nach nur beschränkte Mittel zur Verfügung stehen, um diese wichtige und schwierige Aufgabe effektiv zu erfüllen59. Der hierfür eigentlich notwendige Ausbau von Minderheitsrechten findet zweifellos seine Grenze am Majoritätsprinzip, das die Einheit der parlamentarischen Willensbildung garantiert und ihre Verfälschung oder Auflösung in partikulare Aktivitäten verhindern soll. Im einzelnen wird darauf unten (S. 289f) noch näher einzugehen sein. b)

Zusammensetzung

aa) Dem Bundestag gehören im Normalfall (d. h. ohne Uberhangmandate) 518 Mitglieder an. Davon erlangen 496 Abgeordnete ihr Mandat nach den Regeln der personalisierten Verhältniswahl in der Weise, daß die Hälfte in 248 Wahlkreisen mit der Erststimme (Mehrheitswahl) und die andere Hälfte über Landeslisten der Parteien mit der Zweitstimme (Verhältniswahl) gewählt wird. Das Verhältnis der Zweitstimmen schließlich ist für die Zusammensetzung des Bundestages insgesamt maßgebend. Die restlichen 22 Mitglieder werden indirekt vom Berliner Abgeordnetenhaus gewählt und sind nicht voll stimmberechtigt. In den vergangenen neun Wahlperioden schwankte die Mitgliederzahl zwischen 400 ( + 10) und 497 ( + 22). Auch die Altersstruktur hat sich im Laufe der Zeit stark verändert: Während von der 1. bis zur 4. Wahlperiode der Anteil älterer Abgeordneter (d. h. über 60 Jahre) kontinuierlich anstieg, hat sich der Bundestag seit der 5. Wahlperiode erheblich verjüngt, so daß in der 8. Wahlperiode über 50 v. H. der Abgeordneten in den Jahren 1921 bis 1931 geboren wurden und demgemäß das Durchschnittsalter 47,3 Jahre betrug. Nur noch 10 Abgeordnete waren zum achten Mal — also von Anfang an — Mitglieder des Bundestages. Der Anteil weiblicher Abgeordneter hat sich nur geringfügig erhöht, und zwar von 28 ( = 6,8 v. H.) in der 1. auf 38 ( = 7,3 v. H.) in der 8. Wahlperiode60. bb) Auch die Berufsstruktur des Bundestages weist im Vergleich mit den Erwerbsgruppen der Gesamtbevölkerung erhebliche Disparitäten auf. Stellt man die Berufszugehörigkeit der Abgeordneten (in Prozent) den entsprechenden Anteilen innerhalb der Gesamtbevölkerung (in Klammern) gegenüber, so ergibt sich folgendes Bild: Regierungsmitglieder 10,3 (—); Beamte 30,5 (8,6); Angestellte des öffentlichen Dienstes sowie in Wirtschaft und Verbänden 28,9 (35,2); Arbeiter 1,5 (42,6); Selbständige und Angehörige freier Berufe 25,4 (9,1); Hausfrauen 1,2 (53,9) 61 . Dabei fällt 59

U. SCHEUNER Das parlamentarische Regierungssystem in der Bundesrepublik, in:

( F n . 1 3 ) S. 3 9 1 f f ; OPPERMANN ( F n . 1 ) S. 6 4 .

D Ö V 1957, S. 635; DERS. Verantwortung

und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: Festschrift für G. Müller, 1970, S. 379ff (397). - Ebenso N. GEHRIG Parlament — Regierung — Opposition, 1969, S. 97ff; modifiziert H.-P. SCHNEIDER

60

— Vgl. inzwischen auch BVerfGE 44, 125 (153 f). Quelle: 30 Jahre Deutscher Bundestag. Dokumentation, Statistik, Daten, bearb. von P. SCHINDLER 1 9 7 9 , S. 5 2 - 6 7 .

61

Quellen: E. P. MÜLLER Vertreter der gewerblichen Wirtschaft im VIII. Deutschen

264

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

sofort eine starke Uberrepräsentation der Beamten und Selbständigen sowie ein geradezu eklatantes Ungleichgewicht bei den Arbeitern und Hausfrauen ins Auge. Zu ähnlichen Abweichungen gelangt man bei einem Vergleich der Ausbildungsabschlüsse von Abgeordneten (in Prozent) mit den entsprechenden Bevölkerungsanteilen (in Klammern): Volksschule 3,7 (57,1); Realschule, Mittlere Reife 5,2 (6,3); Höhere Schule, Abitur 68,9 (1,1); Berufs- und Berufsfachschule 21,0 (6,8); Hochschule 63,9 (2,1) 62 . Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß eine „bessere" Berufsqualifikation naturgemäß auch den Zugang zur Politik erleichtert, ist das Bildungsgefälle vom Parlament zur Gesamtbevölkerung doch so beträchtlich, daß schichtenspezifische Verständigungsschwierigkeiten geradezu zwangsläufig auftreten müssen. An diesen Mißständen einer ungleichgewichtigen Berufs- und Ausbildungsstruktur haben bisher offenbar weder das allgemeine und gleiche Wahlrecht noch die Vollalimentierung der Abgeordneten etwas zu ändern vermocht. So gesehen wird man hinter die These vom „egalitären" Parteienparlamentarismus (LEIBHOLZ) durchaus ein Fragezeichen setzen können. Zumindest aber bieten diese Zahlen einen vorläufigen Anhaltspunkt dafür, weshalb sich in letzter Zeit verstärkt Repräsentationsdefizite des parlamentarischen Systems bemerkbar machen (dazu unten S. 290 f), die in einer wachsenden Partei- und Parlamentsverdrossenheit zum Ausdruck zu kommen scheinen. c)

Organisation

aa) Als oberstes Verfassungsorgan hat der Bundestag das Recht, seine innere Ordnung63 selbständig zu regeln. Im Rahmen dieser Befugnis (Organisationsautonomie) gibt er sich nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 G G eine Geschäftsordnung, die an die Tradition des deutschen Parlamentsrechts 64 — vor allem nach dem Ubergang zur parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik — anknüpft und im engen sachlichen Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Status des Parlaments steht 65 . Gleichwohl folgt die Geschäftsordnung des Bundestages, ungeachtet ihrer großen Bedeutung für das materielle Verfassungsrecht und das Verfassungsleben, „der geschriebenen Verfassung und den Gesetzen im Range nach" 6 6 . Umstritten ist

Bundestag, in: ZParl 8 (1977), S. 422ff; Statistisches Jahrbuch 1977 für die Bundesrepublik Deutschland, 1977, S. 92 (die Zahlen beziehen sich auf das Wahljahr 1976). - Vgl. auch W . ZAPF Sozialstruktur deutscher Parlamente, in: Wahlhandbuch 1965, hrsg. von

62

63

1979; H . BORGS-MACIEJEWSKI P a r l a m e n t s -

organisation. Institutionen des Bundestages und ihre Aufgaben, 1979. 64

Vgl.

H.

TROSSMANN P a r l a m e n t s r e c h t

des

Deutschen Bundestages, 1977; K.-H. MATTERN, Grundlinien des Parlamentsrechts,

F . SÄNGER U. a . 1 9 6 5 , S . 3 - 4 5 ; A . HESS E i -

1969; N . ACHTERBERG G r u n d z ü g e des P a r -

ne Tendenzwende in der „Sozialstruktur" des Bundestages?, in: Der Bürger im Staat 26 (1976), H. 2. Quelle: 30 Jahre Deutscher Bundestag (Fn. 60) S. 73/74; Gesellschaftliche Daten in der Bundesrepublik Deutschland, 1973. Dazu F. SCHÄFER Der Bundestag, 1967; W. ZEH Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl.,

lamentsrechts, 1971; M. SCHRÖDER Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979. BVerfGE 44, 308 (314f). So bereits BVerfGE 1, 144 (148); zuletzt BVerfGE 44, 308 (315).

65 66

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

265

jedoch, welche Rechtswirkungen das „autonome Parlamentsrecht" 67 zu entfalten vermag und ob es insbesondere konkrete Rechte und Pflichten unter den „Beteiligten" (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 G G ) innerhalb oder außerhalb des Parlaments begründen kann. In unterschiedlicher Beantwortung dieser Frage werden zur Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung alle nur denkbaren Standpunkte (Rechtsverordnung, gemischte Rechts- und Verwaltungsverordnung, Konventionairegeln, Gesetz ohne Publikationszwang, objektives Recht kraft Vereinbarung, Rechtsgebilde sui generis, interne Vorschriften ohne Rechtscharakter) vertreten 68 , wobei die überwiegende Auffassung („autonome Satzung" 6 9 ) einschließlich des Bundesverfassungsgerichts eine „mittlere", wenn auch nicht ganz widerspruchsfreie Position einnimmt: Nur die Mitglieder des Bundestages selbst seien an die Geschäftsordnung gebunden (keine Außenwirkung). Herkömmliche Gegenstände geschäftsordnungsmäßiger Regelung sind vor allem die Bereiche „parlamentarischer Geschäftsgang" und „innere Disziplin". bb) Zum Geschäftsgang gehören namentlich jene Vorschriften, welche die Beratung und Beschlußfassung des Parlaments als ganzen sowie seiner Teile und Untergliederungen betreffen. Dabei kann nur die Vollversammlung des Bundestages {Plenum) mit verbindlicher Wirkung nach außen entscheiden; jeder Beschluß „ d e s " Bundestages muß im Plenum fallen (Grundsatz der Unvertretbarkeit). Im Vordergrund der Plenarverhandlungen stehen die „Lesungen" der Gesetze, die sog. „Fragestunde" und die „Aktuelle Stunde", welche von einer Anzahl Abgeordneter, die mindestens einer Fraktionsstärke entspricht, zur Aussprache über „Fragen von allgemeinem aktuellen Interesse" beantragt werden kann. Hinzu kommen noch die Entgegennahme und Debatte von Regierungserklärungen sowie die Beratung über Große und Kleine Anfragen. In der Praxis liegt der Schwerpunkt parlamentarischer Arbeit freilich außerhalb des Plenums bei den Fraktionen und Ausschüssen, so daß die Plenarberatungen oft in Abwesenheit eines überwiegenden Teils der Abgeordneten nur unter den jeweiligen Experten stattfinden („Schichtwechsel"). Wenngleich dieser Zustand jedenfalls solange als verfassungsrechtlich unbedenklich gilt, wie der Entscheidungsprozeß institutionell in das Parlament eingefügt bleibt 70 , schadet die mangelnde Präsenz der Abgeordneten jedoch dem politischen Ansehen des Parlaments in der Öffentlichkeit erheblich. cc) Während im Plenum des Bundestages meist nur vorgefaßte Beschlüsse „ratifiziert" werden, findet die eigentliche Sachauseinandersetzung, namentlich auch die Detailarbeit an Gesetzentwürfen, heute praktisch nur noch in den Ausschüssen 67

68

69

Dazu K . F. ARNDT Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966. Ein ausführlicher Bericht über den Meinungsstand findet sich bei ARNDT (Fn. 67) S. 136-156. Zuerst vertreten von K. PERELS Das autonome Reichstagsrecht, 1903; seitdem allgemein

akzeptiert (vgl. ARNDT, a a O [Fn. 67] S.

70

138ff). Vgl. BVerfGE 44, 308 (319): „Bei Schlußabstimmungen im Bundestag spricht für eine ausreichende Repräsentation des Volkes durch die Abgeordneten eine Vermutung".

266

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

statt. Nach § 62 Abs. 1 G O - B T sind sie „vorbereitende Beschlußorgane des Bundestages", welche die Aufgabe haben, dem Bundestag bestimmte Beschlüsse zu empfehlen, die sich nur auf die ihnen zugewiesenen Vorlagen oder mit diesen in unmittelbarem Sachzusammenhang stehenden Fragen beziehen dürfen. Das Plenum entscheidet dann auf der Grundlage eines Ausschußberichts, der auch die Ansicht der Minderheit enthalten muß (§ 66 Abs. 2 GO-BT). Die Zusammensetzung der Ausschüsse regelt sich nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen, wobei der Bundestag im Jahre 1970 vom d'Hondtschen Berechnungsmodus zum Verfahren der mathematischen Proportion übergegangen ist 71 . In der Sache befassen sich einige Bundestagsausschüsse vorwiegend mit Gesetzentwürfen, andere mit der Regierungskontrolle, wieder andere mit der Wahl von Richtern oder Abgeordneten für bestimmte Funktionen außerhalb des Parlaments. Vorgeschrieben sind von der Verfassung die Ausschüsse für Auswärtige Angelegenheiten und für Verteidigung (Art. 45 a G G ) sowie der Petitionsausschuß (Art. 45 c G G ) ; durch Gesetz ein Wahlprüfungsausschuß (§ 3 des Wahlprüfungsgesetzes) und ein Haushaltsausschuß (bei Übertragung von Befugnissen im Haushaltsplan), ferner das Unterrichtungs- und Kontrollgremium nach § 9 Abs. 1 G 10 und die parlamentarische Kontrollkommission nach dem Gesetz über die Kontrolle der Nachrichtendienste. Ferner können Untersuchungsausschüsse (Art. 44 G G ) und Enquete-Kommissionen (§ 56 GO-BT) eingesetzt werden. Ebenso wie das Plenum sind sämtliche Ausschüsse befugt, die Anwesenheit jedes Mitglieds der Bundesregierung zu verlangen (Zitierungsrecht); diese wiederum oder ihre Beauftragten haben zu allen Ausschußsitzungen Zutritt und müssen jederzeit gehört werden (Art. 43 GG). dd) Die Vorformung des politischen Willens im Parlament erfolgt maßgeblich durch die Fraktionen. Darunter versteht man „Vereinigungen von mindestens fünf v. H . der Mitglieder des Bundestages, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen" (§ 10 Abs. 1 GO-BT). Fraktionen sind also der verlängerte Arm politischer Parteien im Parlament („Parlamentsparteien"). Als Teile und ständige Gliederungen des Bundestages gehören sie — ähnlich wie die Ausschüsse, jedoch ohne Organstatus — zu den „notwendigen Einrichtungen des Verfassungslebens", weil sie nicht nur den technischen Ablauf der Parlamentsarbeit steuern und erleichtern72, sondern die eigentlichen Zentren der politischen Positionsbestimmung und Alternativenbildung sind. Daher steht wie bei den Parteien auch für die Fraktionen eindeutig der aktive Mitwirkungs- und Gestaltungsauftrag im Vordergrund. Insofern ist nicht nur der Bestand, sondern ebenso die Funktionsfähigkeit der Parlamentsfraktionen durch Art. 21 Abs. 1 G G mitgeschützt. Ihr Verhältnis untereinander, namentlich in bezug auf Redezeiten, Vorschlagsrechte und finanzielle

71

Dazu H.-P. SCHNEIDER Hare contra d'Hondt. Kritische Bemerkungen zur Einführung der mathematischen Proportion bei der Besetzung von Bundestagsausschüssen, in: ZParl 1 (1970) S. 442ff.

"

BVerfGE 20, 56 (104); vgl. auch BVerfGE 1, 2 0 8 ( 2 2 9 ) ; 3 5 1 ( 3 5 9 ) ; 2 , 143 ( 1 6 0 , 1 6 7 ) ; 3 4 7 (365); 10, 4 (14).

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

267

Zuwendungen wird durch den Grundsatz der „Chancengleichheit" bestimmt 7 3 . Die Ausübung des Mandats darf allerdings nicht von einer Fraktionszugehörigkeit abhängig gemacht werden. ee) Weitere wichtige Aufgaben werden schließlich von den Leitungsorganen des Parlaments (Präsident, Präsidium, Ältestenrat) wahrgenommen. Der Präsident wird ebenso wie seine Stellvertreter und die Schriftführer vom Bundestag gewählt (Art. 40 Abs. 1 G G ) . Er vertritt den Bundestag nach außen, leitet die Verhandlungen (neben den Stellvertretern) und wahrt die Ordnung im Hause (§ 7 G O - B T ) . Innerhalb des Bundestages verfügt der Präsident über das Hausrecht und die Polizeigewalt (Art. 40 Abs. 2 G G ) . Ferner untersteht ihm die gesamte Bundestagsverwaltung (§ 7 Abs. 4 G O - B T ) . Zusammen mit den Stellvertretern (Vizepräsidenten) bildet er das Präsidium (§ 5 G O - B T ) , welches der Einstellung oder Beförderung leitender Beamter zustimmen muß, für die Beachtung der „Verhaltensregeln" über die Beratertätigkeit der Abgeordneten sorgt sowie an der Durchführung von Delegationsreisen Abgeordneter ins Ausland beteiligt ist. Der Ältestenrat (§ 6 G O - B T ) schließlich erscheint als innerparlamentarische Clearing-Stelle und Koordinierungsinstanz geradezu unentbehrlich. Er setzt sich aus dem Präsidium sowie weiteren 23 Abgeordneten zusammen und bereitet die Sitzungen vor, entwirft die Tagesordnung, legt die Redezeiten fest, benennt die Ausschußvorsitzenden und erstellt einen längerfristigen Arbeitsplan. Wegen der notwendigen Übereinstimmung, die allein den Entlastungseffekt des Ältestenrats verbürgt, dringt von seiner Tätigkeit wenig nach außen. d)

Arbeitsweise

aa) Die Wahlperiode des Bundestages ist in Sitzungswochen, sitzungsfreie Wochen und Parlamentsferien eingeteilt. Der Bundestag ist also — wie alle modernen Volksvertretungen — ein Ganzjahresparlament. Am Anfang jeder Wahlperiode liegt eine wichtige Phase der Reorganisation des Parlaments: sie beginnt nach einer Bundestagswahl mit dem ersten Zusammentritt der neu gewählten Abgeordneten. Diese Sitzung wird von einem Alterspräsidenten geleitet, der die Wahl des neuen Präsidenten, seiner Stellvertreter und der Schriftführer veranlaßt. Damit ist der Bundestag konstituiert. Es folgen die Regierungsbildung mit der Kanzlerwahl sowie die Besetzung der Ausschüsse und sonstigen parlamentarischen Funktionen. Von der Entgegennahme und Debatte der ersten Regierungserklärung an läuft die normale parlamentarische Arbeit. Innerhalb des Bundestages erwarten den Abgeordneten nun vor allem folgende Aufgaben: (1) Teilnahme an den Plenarsitzungen, Reden, Debattenbeiträge, Abstimmungen, Anfragen, (2) Übernahme von Vorbereitungstätigkeit und Mitarbeit in den Ausschüssen, (3) Teilnahme an den Beratungen der Fraktionen und Fraktionsarbeitskreise, (4) Verfolgung der politischen Themen des Bundestages insgesamt, Lektüre von Parlamentsdrucksachen, fortlaufende politische Information. Angesichts dieser 73

W. SCHMIDT Chancengleichheit der Fraktionen unter dem Grundgesetz, in: Der Staat 9 (1970), S. 481 ff.

268

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Aufgabenfülle kann das parlamentarische Mandat heute nicht mehr im Nebenamt wahrgenommen werden. Die Abgeordneten geben zwar meist noch eine Erwerbstätigkeit an, üben sie jedoch nur selten aus, haben sich vielmehr innerhalb des Parlaments auf bestimmte Sachgebiete konzentriert und sind so zu „Berufspolitikern" geworden, deren Diätenanspruch (Art. 48 Abs. 3 GG) ihnen einen ausreichenden Unterhalt sichern soll (Alimentationsprinzip)74. Mit dieser nicht unbedenklichen Konsequenz scheint die zunehmende Bürokratisierung, Spezialisierung und Professionalisierung des Parlamentsbetriebs sogar verfassungsrechtlich abgesichert zu sein. bb) Im Verlauf einer Legislaturperiode verabschiedet der Bundestag zwischen 450 und 500 Gesetzen. Während im Rahmen seiner Kontrolltätigkeit die Zahl der Großen Anfragen von 160 in der 1. auf nur 24 in der 7. Wahlperiode zurückgegangen ist, was dem Bundestag bereits das Verdikt „mundfaul" eingetragen hat 75 , und die Zahl der Kleinen Anfragen nahezu konstant blieb (zwischen 350 und 450), haben die sog. Mündlichen Anfragen geradezu sprunghaft zugenommen (von 400 in der 1. auf 1800 in der 7. Wahlperiode). Plenarsitzungen (200 bis 250 pro Wahlperiode) und Ausschußsitzungen, die von etwa 5000 auf heute 2000 zurückgegangen sind, standen ursprünglich im Verhältnis 1 : 25, inzwischen bei 1 : 1 0 . Man hat aus dieser Statistik den Schluß gezogen, daß der Bundestag weder ein „Redeparlament" mit Schwerpunkt bei den Plenardebatten, noch ein bloßes „Arbeitsparlament" unter einseitiger Betonung der Ausschußtätigkeit sei, sondern ein „Mischparlament" 76 , das seine Aufgaben sowohl im Bereich der Gesetzgebung wie auf Gebieten kontroverser politischer Auseinandersetzung in öffentlicher Rede und Gegenrede gesehen habe. Gleichwohl haben sich seit den fünfziger Jahren die Gewichte merklich vom Redezum Arbeitsparlament verschoben, woraus sich heute Folgerungen für eine Parlamentsreform (vgl. unten S. 287ff) ergeben. ee) Bei ihrer parlamentarischen Tätigkeit werden Ausschüsse, Fraktionen und einzelne Abgeordnete durch sog. „Hilfsdienste" unterstützt, die zur Verwaltung des Bundestages gehören und in den letzten Jahren erheblich ausgebaut worden sind (inzwischen ca. 1600 Bedienstete). Man unterscheidet dabei den Dokumentationsdienst, den Wissenschaftlichen Fachdienst, den Petitionsdienst und den Abgeordnetendienst. Darüber hinaus verfügen die Fraktionen auch über eigene Hilfsdienste (von insgesamt 450 Mitarbeitern), denen vor allem die Betreuung der Fraktionsarbeitskreise obliegt, sowie jeder Abgeordneter über mindestens einen politischen Mitarbeiter. Während die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zur Objektivität und Neutralität verpflichtet sind, unterstehen die Fraktionsdienste der politischen Leitung des Fraktionsvorstands. Wenngleich ihr quantitativer Umfang noch längst nicht an entsprechende Hilfsdienste anderer Parlamente (z. B. des US-Kongresses) heranreicht, sind doch neuerliche Warnungen vor dem Entstehen einer „Gegenbürokratie" 74 75

76

Vgl. B V e r f G E 40, 296 (310ff). W. HENNIS Der Deutsche Bundestag 1 9 4 9 - 1 9 6 5 , in: Der Monat 18 (1966) S. 2 6 f f (34).

in: Parlamentarismus, hrsg. von K . KLUXEN 1967, S. 2 3 0 f f (241 ff); vgl. auch M . HERETH Die parlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland, 1969, S.

So W . STEFFANI Amerikanischer Kongreß und deutscher Bundestag — ein Vergleich,

140ff.

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

269

keineswegs unbegründet. Allerdings erschweren eine zu niedrige Stellenbewertung und mangelnde Aufstiegschancen auch die Gewinnung hinreichend qualifizierter Mitarbeiter in den Fraktionen ebenso wie bei den Abgeordneten, so daß die Überlegenheit des ministeriellen Sachverstands — nicht zuletzt wegen des geringen Einflusses der „neutralen" Wissenschaftlichen Dienste auf die politische Auseinandersetzung — kaum jemals ernsthaft erschüttert werden kann. Dennoch würde man den komplexen arbeitsteiligen Parlamentsbetrieb im modernen Staat heute ohne die Hilfsdienste kaum aufrechterhalten können. Weil die Regierungsfraktionen in der Regel direkt auf die Ministerialbürokratie zurückgreifen können, erscheinen sie ferner im Hinblick auf die Chancengleichheit von Regierungsmehrheit und Opposition unentbehrlich. 3. Parlament und Regierung Im Mittelpunkt jeder Analyse des parlamentarischen Systems steht naturgemäß die Frage nach dem Verhältnis von Parlament und Regierung. Während unter der Vorherrschaft des Gewaltenteilungsprinzips im konstitutionellen Staat Regierung und Parlament insgesamt als getrennte Organe einander gegenüberstanden, ist das parlamentarische System durch das politische Wechselspiel von Regierung und Regierungsmehrheit auf der einen Seite und der parlamentarischen Opposition andererseits gekennzeichnet. Zugleich wird dieser politische Gegensatz durch eine praktische Zusammenarbeit von Regierung und Parlament im Sinne arbeitsteiliger Staatsleitung77 ergänzt und bisweilen sogar überlagert. In der Erkenntnis, daß zahlreiche wichtige Gegenstände der Politik auch im parlamentarischen System entweder der Regierung verfassungskräftig vorbehalten sind oder von ihr als ureigene Domäne betrachtet werden, daß ferner eine wirksame parlamentarische Kontrolle der Mehrheitsunterstützung bedarf und daß schließlich auch die parlamentarische Opposition auf Regierungsinformationen angewiesen ist, hat FRIESENHAHN sein Modell der „Regierung zur gesamten Hand" entwickelt und die Aufgabe der „Staatsleitung" (government) den Organen Parlament und Regierung gemeinsam zugewiesen, um so den Aktions- und Einflußbereich des Parlaments gegenüber der Regierung zu erweitern. Wenn daraus freilich der Schluß gezogen wird, daß sich die Abgeordnetentätigkeit — namentlich in den Ausschüssen — nurmehr als „parlamentarische Mitregierung" erweise, weil fortlaufende Kontrolle eine sehr viel intensivere Überwachung der Regierung erlaube als die nachträgliche Ergebniskontrolle 78 , so besteht die Gefahr, daß hiermit nicht nur die verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsgrenzen und Verantwortlichkeiten zwischen Parlament und Regierung verwischt werden, sondern auch die politische Rolle der parlamentarischen Opposition außer Betracht bleibt, ja

77

Vgl. E . FRIESENHAHN Parlament und Regierung im modernen Staat, in: W D S t R L Bd. 16 ( 1 9 5 8 ) S. 9 f f ( 3 6 f f ) ; neuerdings S. MAGIE-

RA Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, insbes. S. 240ff.

78

So W . KEWENIG Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mitregierung am Beispiel der Arbeit der Bundestagsausschüsse, 1970, S. 2 9 f f (31).

270

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Informations- und Entscheidungsdefizite des Parlaments zu bloßen Partizipationsdefiziten an der Regierung zusammenschrumpfen. Deshalb wird man gerade auch neuere Bestrebungen, das Parlament in einen „kooperativen Staatsleitungsprozeß" einzubinden und so die Opposition entweder auszuschließen oder in „Mitregierungspflicht" zu nehmen79, mit einiger Skepsis betrachten müssen. a) Parlamentarische Bildung und Auflösung der Regierung aa) Nach Art. 63 und 64 GG wird die Bundesregierung, bestehend aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern (Art. 62 GG), in der Weise gebildet, daß zunächst der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt und sodann die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt werden. Findet der Kanzlerkandidat keine absolute Mehrheit, so ist der Bundestag im zweiten Wahlgang binnen 14 Tagen nicht mehr an den Vorschlag des Bundespräsidenten gebunden (Art. 63 Abs. 3 GG). Kommt auch innerhalb dieser Frist keine Wahl zustande, genügt im unverzüglich anzuschließenden dritten Wahlgang die einfache Mehrheit der Stimmen. In diesem Fall kann jedoch der Bundespräsident binnen 7 Tagen den Gewählten zum Kanzler ernennen oder den Bundestag auflösen (Art. 63 Abs. 4 GG). Jenes dreistufige Verfahren beläßt zunächst das Vorschlagsrecht beim Bundespräsidenten, sichert sodann die Prärogative einer absoluten Parlamentsmehrheit und legt schließlich für den Fall ihres Scheiterns die Befugnis zur Regierungsbildung zurück in die Hand des Präsidenten, der zwischen der Ernennung eines Minderheitskanzlers und der Parlamentsauflösung frei wählen kann. Aus dieser Konstruktion ergibt sich, daß die Regierungsbildung nach dem Grundgesetz vornehmlich Sache einer absoluten Parlamentsmehrheit sein soll und für den Fall ihres Zustandekommens der Bundespräsident sein Vorschlagsrecht im Sinne dieser Mehrheit ausüben und den gewählten Kanzler ernennen muß80. Lediglich gegenüber einer einfachen Mehrheit verfügt der Bundespräsident über eine eigenständige politische Entscheidungsmacht, von der er freilich auch nur in Abstimmung mit den Partei- und Fraktionsführern Gebrauch machen wird. Bisher haben 13 Kanzlerwahlen (viermal ADENAUER, zweimal E R H A R D , einmal KIESINGER, zweimal BRANDT, dreimal SCHMIDT, einmal K O H L ) stattgefunden, die sämtlich bereits im ersten Wahlgang zum Erfolg führten. Denn die Regierungsbildung wurde jeweils noch vor der Wahl des Kanzlers in Koalitionsgesprächen soweit angebahnt, daß von vornherein eine absolute Parlamentsmehrheit gesichert war; ja meist stand der neue Bundeskanzler bereits in der Wahlnacht fest, wenn sich die Parteien zuvor durch klare Koalitionsaussagen gebunden hatten. bb) Die Amtszeit einer Bundesregierung endet im Normalfall mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages (Art. 69 Abs. 2 GG), d. h. mit dem Ablauf jeder

79

Dazu neigt MAGIERA (Fn. 77) S. 2 5 2 f f ; vgl. auch unten S. 275, 284 („kooperativer Parlamentarismus").

80

Überzeugend H. STEIGER Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 2 3 2 f f .

2. Abschnitt. D a s parlamentarische System (SCHNEIDER)

271

Wahlperiode (vgl. Art. 39 Abs. 1 GG). Darüber hinaus ist der Bestand der Regierung an das Amt des Bundeskanzlers geknüpft; erledigt sich dieses (z. B. durch Rücktritt, Tod oder erfolgreiches Mißtrauensvotum), so ist auch die Regierung aufgelöst oder entlassen (Art. 69 Abs. 2 GG). Der Rücktritt eines Ministers hingegen berührt den Bestand der Regierung nicht. In beiden Fällen kann jedoch der Bundespräsident den Bundeskanzler und dieser einen Bundesminister bitten, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen (Art. 69 Abs. 3 GG). Schlägt eine Vertrauensfrage fehl, so amtiert die Regierung noch bis zur Neuwahl eines Kanzlers oder — im Falle der Parlamentsauflösung — bis zum Zusammentritt eines neuen Bundestages weiter, und zwar nicht als geschäftsführende Regierung, sondern aus eigener Legitimation. Während in der Weimarer Republik Regierungskrisen meist durch einen Koalitionszerfall ausgelöst wurden, hat das parlamentarische System in der Bundesrepublik ein bemerkenswertes Maß an Regierungsstabilität bewiesen: Lediglich drei Kanzlerrücktritten (davon nur einer mitbedingt durch Koalitionswechsel) und einer Abwahl nach Koalitionswechsel stehen neun normale Regierungsneubildungen jeweils nach Ablauf einer Wahlperiode zur Seite. cc) Den wohl originellsten Beitrag zur Ausgestaltung des parlamentarischen Systems im Grundgesetz stellt die Einführung des sog. „konstruktiven Mißtrauensvotums" dar, mit dessen Hilfe aufgrund der Weimarer Erfahrungen langdauernde Regierungskrisen vermieden werden sollten. Hiernach kann der Bundestag einem Bundeskanzler nur dadurch das Mißtrauen aussprechen (und auf diese Weise eine Entlassung der Regierung erzwingen), daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt, den der Bundespräsident ernennen muß (Art. 67 GG). So einleuchtend diese Regelung auch erscheinen mag, über ihre verfassungspolitische Bewertung ist man sich nach wie vor uneinig: Die Skala der Urteile reicht jedenfalls von lobender Anerkennung als „eine der wichtigsten Organisationsnormen des G G " 8 1 bis zum vernichtenden Verdikt „toter Buchstabe" 8 2 . Gewiß läßt sich heute mit Sicherheit feststellen, daß Art. 67 G G wohl nur schwerlich die ihm einst zugedachten Stabilisierungsfunktionen zu erfüllen vermag. Denn eine durch Koalitionszerfall entstandene Minderheitsregierung wird politisch nicht dadurch stabiler, daß sie nur von einer konstruktiven Mehrheit abberufen werden kann. Selbst wenn aber aufgrund erfolgreichen konstruktiven Mißtrauensvotums ein Kanzlerwechsel stattfindet, dürfte nicht selten der Ruf nach vorgezogenen Neuwahlen laut werden. Blickt man auf die Verfassungspraxis, so scheint zu jener erstaunlichen Festigkeit und Geschlossenheit von Regierungskoalitionen noch eher die Entwicklung zum bipolaren Dreiparteiensystem beigetragen zu haben als das konstruktive Mißtrauensvotum. Im ersten Fall seiner Aktualisierung, welcher durch Fraktionswechsel mehrerer Abgeordneter ausgelöst wurde, ist ein entsprechender Antrag mit dem Ziel der Kanzlerwahl R A I N E R B A R Z E L S gegen W I L L Y B R A N D T am 2 7 . April 1 9 7 2 auch prompt gescheitert 83 . Im zweiten Anwendungsfall des Art. 67 G G war allerdings eine absolu81

82

HAMANN/LENZ D a s Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. A u f l . , 1970, A n m . A zu Art. 67 (S. 508). VON BEYME (Fn. 7) S. 359.

83

D a z u M . MÜLLER D a s konstruktive Mißtrauensvotum. Chronik und Anmerkungen z u m ersten Anwendungsfall nach Art. 67 G G , in: ZParl 3 (1972) S. 275ff.

272

3. Kapitel. D i e demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

te Mehrheit von CDU/CSU- und Teilen der FDP-Fraktion mit dem Kanzlerkandidaten H E L M U T K O H L am 1. Oktober 1982 gegen H E L M U T S C H M I D T erfolgreich. Deshalb wird man dem konstruktiven Mißtrauensvotum nicht von vornherein jede Berechtigung absprechen dürfen. Außer einer möglichen Erziehungs- und Präventivwirkung für den Krisenfall („fleet in being") enthält nämlich Art. 67 GG in Verbindung mit dem Demokratieprinzip (Art. 20, 28 GG) die eigentliche Legitimationsgrundlage der parlamentarischen Opposition (vgl. unten S. 276ff). Ohne die verfassungsrechdichen Konsequenzen des Art. 67 GG wurden außerdem bisher 18 Mißbilligungs-, Tadels- oder Entlassungsanträge im Bundestag gegen Bundeskanzler oder einzelne Minister gestellt, im Ergebnis jedoch sämtlich abgelehnt oder zurückgenommen. dd) Mit der sog. „Vertrauensfrage" verfügt auf der anderen Seite auch der Bundeskanzler über ein Instrument zur Stabilisierung seiner Macht oder zur Initiierung von Neuwahlen („Appell an das Volk"). Findet nämlich ein entsprechendes Vertrauensersuchen des Kanzlers, das auch mit anderen Entscheidungen verbunden werden darf, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen. Die Auflösungsbefugnis erlischt, wenn sich der Bundestag hiergegen mit der Wahl eines neuen Kanzlers zur Wehr setzt (Art. 68 GG). Angesichts der bisher geringen praktischen Relevanz des Instituts der Vertrauensfrage kann man auch bei Art. 68 GG daran zweifeln, ob er noch funktionstüchtig ist. Geht man vom Normalfall des parlamentarischen Systems aus, bei dem sich die Regierung auf eine Mehrheit im Parlament stützt, dann erscheint die Möglichkeit der Vertrauensfrage überflüssig. Droht indessen die Regierungsmehrheit abzubröckeln, so wird man ihren Zerfall — wie die politische Entwicklung nach H E L M U T S C H M I D T S erfolgreicher Vertrauensfrage am 5. Februar 1982 bis zu seinem Sturz im Oktober 1982 zeigte — auch mit dem Instrument des Art. 68 GG nicht aufhalten, höchstens vor die Öffentlichkeit tragen und dadurch den Erosionsprozeß erfahrungsgemäß nur beschleunigen können. Deshalb besteht der Hauptzweck von Art. 68 GG heute nurmehr darin, eine Parlamentsauflösung zu ermöglichen, von welcher sich der antragstellende Kanzler eine Erneuerung der parlamentarischen Mehrheit erhofft. Eine solche gezielt „negative" Vertrauensfrage kann entweder einseitig gestellt werden, um eine Minderheitsregierung dem Wählerurteil zu präsentieren, oder aber — wie am 22. September 1972 durch W I L L Y B R A N D T bzw. am 17. Dezember 1982 durch H E L M U T K O H L — zwischen Regierung und Koalitionsfraktionen vereinbart sein 84 . Im zweiten Fall bildet sie ein Funktionsäquivalent für das fehlende Selbstauflösungsrecht

84

Vgl. K . KREMER ( H r s g . ) Parlamentsauflö-

lich neuerdings auch das B V e r f G in seinem

sung. Praxis — Theorie -

Urteil v o m 16. 2 . 1 9 8 3 (2 B v E 1 - 4 / 8 3 , S.

Ferner H . - P .

Ausblick, 1 9 7 4 .

SCHNEIDER D i e

vereinbarte

37ff);

a.A.

W.-R.

SCHENKE, D i e

verfas-

Parlamentsauflösung, in: J Z 1 9 7 3 , S. 6 5 2 f f .

sungswidrige Bundestagsauflösung, in: N J W

H . MAURER, Vorzeitige Auflösung des B u n -

1 9 8 2 , S. 2 5 2 1 ff ( m . w . N a c h w . ) .

destages, in: D Ö V 1 9 8 2 , S. 1001 ff. -

Ahn-

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

273

des Bundestages, wenn das Parlament in besonderen Krisenlagen (Patt-Situation, fehlgeschlagenes Mißtrauensvotum, Minderheitsregierung nach Koalitionszerfall) von sich aus zur Bildung einer Regierungsmehrheit nicht mehr imstande und damit funktionsunfähig geworden ist. Stets muß jedoch die Parlamentsauflösung der letzte und einzige Ausweg (ultima ratio) bleiben.

b) Parlamentarische

Kontrolle der Regierung

aa) Als eine der Hauptaufgaben neben den Wahlen und der Gesetzgebung obliegt dem Bundestag im parlamentarischen System die politische Kontrolle der Regierung. Auf diese Kontrollfunktion wird im Grundgesetz allerdings nur an sehr versteckter Stelle hingewiesen, nämlich im Zusammenhang mit dem Wehrbeauftragten, von dem es heißt, daß er ein „Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle" sei (Art. 45 b GG). Dennoch ist die Kontrollkompetenz des Gesamtparlaments gegenüber der Regierung — einst Strukturmerkmal des konstitutionellen Staates — auch unter der Herrschaft des parlamentarischen Systems völlig unbestritten. Erheblich größere Schwierigkeiten bereitet allerdings die Wahrnehmung dieser Aufgabe in der Verfassungspraxis. Denn effektive Kontrolle der Regierung setzt parlamentarische Mehrheitsentscheidungen voraus, die wenigstens mit einem Mindestmaß an Verbindlichkeit ausgestattet sein müssen. Da jedoch gerade die Mehrheit im parlamentarischen System normalerweise die Regierung politisch unterstützt und deshalb an wirksamer Kontrolle meist nicht interessiert ist, wird das demokratische Wächteramt nur von einer Minderheit wahrgenommen: der parlamentarischen Opposition. Wenn man angesichts dieser Situation nicht ständig Kontrolldefizite beklagen oder Kontrolle durch Mitwirkung ersetzen will, wird man sich im parlamentarischen System allmählich daran gewöhnen müssen, daß hier „Kontrolle" nicht in erster Linie darin bestehen kann, der Regierung den Willen des Parlaments aufzuzwingen (Aufsicht) oder das Heil in einer Zusammenarbeit hinter verschlossenen Türen zu suchen (Kooperation), sondern vor allem Publikation von Mißständen (Kritik), Aggregation vernachlässigter Interessen (Werbung) und Demonstration eines alternativen politischen Willens (Kontrast) bedeutet. Dafür stehen dem Bundestag bestimmte Kontrollgremien und Kontrollinstrumente zur Verfügung. bb) Im Vordergrund parlamentarischer Kontrolltätigkeit agieren die hierzu eigens vorgesehenen Ausschüsse, allen voran die Untersuchungsausschüsse (Art. 44 GG). Ihr Arbeitsfeld erstreckt sich hauptsächlich auf „Mißstandsenqueten", welche der Aufklärung eines Skandals oder sonstigen Fehlverhaltens der Regierung dienen. Von Fall zu Fall eingesetzt und meist von der Opposition beantragt, bemühen sich die Untersuchungsausschüsse um eine Ermittlung des wahren Sachverhalts und um dessen möglichst objektive politische Bewertung. Zwar wird ihren Ergebnissen unter Hinweis auf das Mehrheitsprinzip immer wieder praktische Folgenlosigkeit vorgeworfen. Dennoch hat das Parlamentsrecht in den letzten Jahren hier nicht unerhebliche Fortschritte gebracht: Dem schon seit langem anerkannten Minderheitsrecht auf Einsetzung von Untersuchungsausschüssen wurde im Bund und in einigen Ländern

274

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

ein Beweisantragsrecht der Minderheit sowie die Möglichkeit eines Minderheitsvotums im Abschlußbericht zur Seite gestellt 85 . Die Regierungs- und Verwaltungskontrolle im Interesse des Bürgers obliegt den Petitionsausschüssen, welche dessen Eingaben prüfen, eine Stellungnahme der gerügten Behörde einholen und begründete Antworten erteilen. Auch hier sind inzwischen die Kontrollmöglichkeiten dadurch erheblich verbessert worden, daß man den Petitionsausschüssen in mehreren Bundesländern Auskunfts-, Aktenvorlage- und Zutrittsrechte zu Behörden eingeräumt hat. Einen maßgeblichen Anteil an der Regierungskontrolle hat traditionell die parlamentarische Überwachung des Haushaltsund Finanzgebahrens der Exekutive, wie sie im Haushalts-, Finanz- und Rechnungsprüfungsausschuß durchgeführt wird. Auf dem Gebiet der Nachrichtendienste sind das Abgeordnetengremium nach § 9 Abs. 1 G 10 sowie die parlamentarische Kontrollkommission tätig. Als demokratischer Legitimitätsfilter kommen schließlich noch die Wahlprüfungsausschüsse des Bundestages hinzu. Für den Bereich der Streitkräfte stellt der Wehrbeauftragte des Bundestages ein „Hilfsorgan" parlamentarischer Kontrolle dar. Unter dem Gesichtspunkt erhöhter Kontrollintensität und -effektivität wäre zu überlegen, ob nicht auch die Rechnungshöfe und der Datenschutzbeauftragte beim Parlament angesiedelt werden sollten. cc) Neben jenen Kontrollgremien steht dem Parlament und hier insbesondere den Fraktionen und Abgeordnetengruppen eine Vielzahl von Instrumenten der Regierungskontrolle zur Verfügung, welche meist unter den Oberbegriff der „Minderheitsrechte" zusammengefaßt werden. An erster Stelle sind hier die Großen Anfragen (§§ 100—103 GO-BT) zu nennen, welche weniger eine Detailinformation des Parlaments bezwecken, als vielmehr die Grundlage der öffentlichen Auseinandersetzung über ein umfangreiches politisches Thema bilden und dabei Gelegenheit zur Darstellung der eigenen Ziele geben sollen. Vorrangig der Unterrichtung des Parlaments als einer unverzichtbaren Voraussetzung jeder Kontrolle dienen die „Informationsrechte" der Mehrheit oder relativ großer Minderheiten, also die Herbeirufung eines Mitglieds der Bundesregierung nach Art. 43 Abs. 1 G G (Zitierungsrecht; vgl. auch §§ 42, 68 GO-BT), die Einsetzung von Enquéte-Kommissionen (§ 56 GO-BT), die Durchführung von Hearings (§ 70 GO-BT), vor allem aber das Instrument der Kleinen Anfrage (§ 104 GO-BT), mit der eine Auskunft der Bundesregierung über bestimmt bezeichnete Bereiche verlangt werden kann. Ferner ist jedes Mitglied des Bundestages berechtigt, Mündliche Anfragen (§ 105 GO-BT) an die Regierung zu richten, welche in der Fragestunde des Bundestages beantwortet werden 86 .

85

Vom Bundestag inzwischen mehrfach als „Parlamentsbrauch" praktiziert. Vgl. ferner §§ 13 Abs. 2, 23 Abs. 2 des Gesetzes über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Landtags in BadenWürttemberg vom 3. 3. 1976 ( G B l . S. 194); § 21 Abs. 4 des Gesetzes über die Untersuchungsausschüsse des Bayerischen Landtags

86

vom 23. 3. 1970 (GVB1. S. 95); §§ 10 Abs. 2, 19 Abs. 2 des Gesetzes über die U n tersuchungsausschüsse des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 22. 6. 1970 (GVB1. S. 925) i . d . F . vom 3. 12. 1974 (GVB1. S. 2747). Zum Ganzen G . WITTE-WEGMANN Recht und Kontrollfunktion der Großen, Kleinen

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

275

dd) Trotz dieser Vielzahl von Gremien und Instrumenten läßt die Kontrollfunktion der Parlamente zu wünschen übrig. Einer fast gleichbleibenden Zahl von Kleinen Anfragen pro Wahlperiode des Bundestages steht eine erhebliche Abnahme der Großen Anfragen um fast 85 v. H . , andererseits eine noch stärkere Zunahme der Mündlichen Anfragen von 400 auf ca. 1800 gegenüber. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß die parlamentarische Kontrolle der Regierung in den letzten Jahren wesentlich an grundsätzlicher politischer Bedeutung verloren hat und sich in bürokratische Einzelkritik an bestimmten Regierungs- und Verwaltungsmaßnahmen zu verflüchtigen droht. Aber auch die politische Kontrolle der Verwaltung liegt nach wie vor im Argen. Wenn schon bei der Regierungskontrolle die parlamentarische Opposition meist gegen den Widerstand der Mehrheit zu kämpfen hat, so gilt dies in verstärktem Maße bei der Verwaltungskontrolle deshalb, weil hier zusätzlich noch die nötigen Sachkenntnisse und Einzelinformationen fehlen. Insofern sind letztlich die Parlamente nicht nur mit ihrer Mehrheit kaum willens, sondern auch faktisch oft außerstande, eine wirksame Regierungs- und Verwaltungskontrolle auszuüben. ee) Gleichwohl besteht ein unverändert starkes Bedürfnis der Bürger nach Intensivierung dieser Kontrolle, wie die steigende Zahl von Petitionen an den Bundestag zeigt, welche sich mit gegenwärtig nahezu 50 000 im Vergleich zur 1. Legislaturperiode fast verdoppelt haben. Angesichts dieser Situation mag man vielleicht noch verstehen, daß die gemeinsamen Aufgaben von Parlament und Regierung (z. B . die Gesetzgebung) arbeitsteilig wahrgenommen werden und ein enges Zusammenwirken beider Staatsorgane erfordern („kooperativer Parlamentarismus"), solange diese „Partnerschaft" nicht in eine allzu dienstfertige Anlehnung des Parlaments an die Regierung umschlägt, welche bis zur totalen Abhängigkeit von administrativen „Formulierungshilfen" selbst bei der Gesetzgebung führen kann. Wer daraus aber den Schluß ziehen zu können glaubt, daß die gesamte „Staatsleitung" nur noch als „kooperativer Prozeß zwischen Regierung und Parlament" zu verstehen sei, an welchem das Parlament durch „Mitregierung" teilnehme, ja sogar die Informationsbeziehungen zwischen Bundesregierung und Bundestag als „staatsleitenden D i a l o g " bezeichnet 8 7 , verkennt nicht nur weitgehend die politische Realität, läßt die Interessen der parlamentarischen Opposition außer Betracht und übersieht die spezifischen Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Demokratie (Öffentlichkeit, Transparenz und politische Beteiligung des Volkes), sondern er deckt über eine beklagenswerte Blöße des parlamentarischen Systems sogar noch den Mantel der Normativität mit der gefährlichen Folge, daß die ohnehin bestehende Kooperation zwischen Parlament und Regierung als Regelfall betrachtet wird, die hierdurch schon jetzt mitverursachten Kontrolldefizite sich weiter verstärken und schließlich auch die Entfremdung des Bürgers gegenüber dem parlamentarischen System („Parlamentsverdrossenheit") zunimmt.

und Mündlichen Anfragen im Deutschen Bundestag, 1972.

87

So MAGIERA (Fn. 77) S. 307ff.

276

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

c) Parlamentarische

Opposition

aa) Da im parlamentarischen System der Bestand einer Regierung vom Vertrauen der Vzr\a.mtnx.smehrheit abhängt, diese also zusammen mit der Regierung eine politische Handlungseinheit bildet, ist der natürliche Kontrahent und Gegenspieler der Regierung nicht das Parlament als ganzes, sondern nur die jeweilige Minderheit: die parlamentarische Opposition. Darunter versteht man die Gesamtheit aller nicht an der Regierung beteiligten, aber potentiell regierungsfähigen Gruppen (Fraktionen) im Parlament 88 , wobei Regierungsfähigkeit im Mehrparteiensystem praktisch Koalitionsfähigkeit bedeutet und Nichtbeteiligung an der Regierung „Ausschluß" von der Leitungsgewalt nach Art. 65 G G meint, also 1. von der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers (auch indirekt über Koalitionsvereinbarungen), 2. von jeder Ressortverantwortung und 3. von der Mitgliedschaft im Kabinett. In diesem Sinne ist die parlamentarische Opposition nicht nur ein unvermeidliches Nebenprodukt des auf dem Mehrheitsgrundsatz basierenden parlamentarischen Systems, sondern ein unverzichtbares Funktionselement der demokratischen Ordnung. Denn weil die Demokratie einerseits wesentlich in einer auf Zeit anvertrauten, periodisch legitimationsbedürftigen und stets kontrollierbaren Herrschaft im Interesse des Volkes besteht, andererseits aber das parlamentarische System ein Höchstmaß an Regierungsstabilität bezweckt, kann dieser latente Zielkonflikt nur dadurch zum Ausgleich gebracht werden, daß für die reale Möglichkeit eines politischen Machtwechsels institutionelle Vorsorge getroffen wird. Die reale Machtwechselchance ist gleichsam das innere Bewegungsprinzip des demokratischen Parlamentarismus (Alternanzdemokratie) 89 . Daher bezieht die parlamentarische Opposition ihre Existenzberechtigung in erster Linie aus dem verfassungsrechtlichen Auftrag, einen politischen Machtwechsel herbeizuführen. Hierauf sind letztlich auch all ihre Funktionen ausgerichtet. Uber die herkömmlichen Aufgaben der Kritik, Kontrolle und Alternativenbildung im Verhältnis zur Regierung hinaus wachsen der parlamentarischen Opposition unter den Bedingungen der modernen Massendemokratie im Hinblick auf das Machtwechselziel weitergehende Aktionsmöglichkeiten zu: durch „Partizipation" in den Ausschüssen etwa eine Mitwirkungs- und Korrekturfunktion, durch „Artikulation" eigener Vorschläge und Sachkonzepte eine Politisierungs- und Innovationsfunktion, durch „Demonstration" des Dissenses mit der Regierung eine Polarisierungs- und Aggregationsfunktion und schließlich durch möglichst lückenlose „Information" der Bevölkerung eine öffentlichkeits- und Publikationsfunktion 90 . Von diesen Aufgaben her bestimmt und erklärt sich auch die Rechtsstellung der parlamentarischen Opposition nach dem Grundgesetz. bb) Zwar wird die parlamentarische Opposition im Grundgesetz ebensowenig erwähnt wie das parlamentarische Regierungssystem. Damit ist jedoch gleichfalls 88

H . - P . SCHNEIDER ( F n . 13) S.

89

Ähnlich A. ARNDT Die Entmachtung des Bundestages, in: Die neue Gesellschaft 6 (1959), S. 431 ff (432): „In dieser Hinsicht

kann man Demokratie geradezu als einen Staat mit Opposition definieren". Vgl. auch

121.

H . - P . SCHNEIDER ( F n . 77) S . 3 9 7 - 4 0 5 . 90

H . - P . SCHNEIDER ( F n . 77) S. 2 4 2 .

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

277

noch nichts gegen die verfassungsrechtliche Qualität ihrer Rechtsstellung gesagt. Vielmehr stützt sich der Verfassungsstatus der parlamentarischen Opposition zunächst auf die allgemeine Oppositionsfreiheit, nach der die verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition zu den unabänderlichen Kernbestandteilen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehören 91 . Demgemäß ist die politische Opposition generell durch das Demokratieprinzip (Art. 20, 28 GG) garantiert und die parlamentarische Opposition zusätzlich über die Stellung der Parteien und Fraktionen (Art. 21 GG) abgesichert. Wenn also Art. 23 a Abs. 1 der Hamburger Verfassung vorsieht, daß die Opposition „ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie" sei 92 , so entspricht diese Norm durchaus ungeschriebenem Verfassungsrecht in der Bundesrepublik und hat deshalb lediglich deklaratorische Bedeutung. Dasselbe gilt für die Funktionsbestimmung der parlamentarischen Opposition in Abs. 2, wo es heißt: „Sie hat die ständige Aufgabe, die Kritik am Regierungsprogramm im Grundsatz und im Einzelfall öffentlich zu vertreten. Sie ist die politische Alternative zur Regierungsmehrheit". Die zur Erfüllung dieser Aufgaben notwendigen Oppositionsrechte ergeben sich zum Teil unmittelbar aus der Verfassung, teilweise auch aus Gesetzen, vor allem aber aus den parlamentarischen Geschäftsordnungen und aus bloßem Parlamentsbrauch. Hier werden die Oppositionsparteien oder Oppositionsfraktionen, der Oppositionsführer oder die Oppositionsabgeordneten, ja sogar der Oppositionsdienst ausdrücklich genannt und mit besonderen Befugnissen ausgestattet 93 . Insgesamt sind die Rechte der Opposition stark formalisiert, d. h. an bestimmte Quoren gebunden und deshalb nahezu identisch mit den parlamentarischen Minderheitsrechten. Auf inhaltliche Kriterien verweist jedoch die Redeordnung in § 28 Abs. 1 GO-BT, wonach die Worterteilung dem Grundsatz von „Rede und Gegenrede" entsprechen sowie insbesondere nach der Erklärung eines Regierungsmitglieds der „abweichenden Meinung" Gehör verschafft werden soll. cc) Im Unterschied zur Oppositionsstellung im Parlament ist das Verhältnis von Opposition und Regierung nur sehr unvollkommen geregelt. Lediglich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich bisher seiner angenommen. So wurde schon frühzeitig entschieden, daß im parlamentarisch-demokratischen Staat die Opposition nicht nur das Recht, sondern geradezu eine Pflicht habe, gegen einen von der Regierung abgeschlossenen völkerrechtlichen Vertrag „außer ihren politischen auch ihre verfassungsrechtlichen Bedenken geltend zu machen" 9 4 . Ob der parlamentarischen Opposition allerdings ein Recht auf Chancengleichheit mit der Regierung zusteht, wurde vom BVerfG bisher verbal offengelassen und in der Sache zunächst auf ein Verbot willkürlicher Benachteiligung der Oppositionsfraktionen (bei 91 92

Vgl. BVerfGE 2, 1 (13); 5, 85 (140). Uber die Hamburger Verfassungsreform von 1971, die zur Schaffung des Art. 23 a führte, berichten kritisch B. BUSSE/U. HARTMANN Verfassungs- und Parlamentsreform in Hamburg, in: ZParl 2 (1971), S. 200 ff.

93

94

Dazu H.-P. SCHNEIDER (Fn. 77) S. 232ff, 258ff; ferner W. STEFFANI Warum die Bezeichnung „kleine Parlamentsreform", in: ZParl 12 (1981), S. 591 ff. BVerfGE 2, 143 (170f).

278

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

der Inanspruchnahme von Redezeiten) beschränkt 9 5 . Später hat das Gericht sogar die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung am Grundsatz der Chancengleichheit gemessen und ausdrücklich betont, man müsse darauf sehen, daß die Mehrheit „insbesondere auch die Rechte der Minderheit beachtet und ihre Interessen mitberücksichtigt, ihr zumal nicht die rechtliche Chance nimmt oder verkürzt, zur Mehrheit von morgen zu werden" 9 6 . Deshalb sei regierungsamtliche Wahlwerbung auch im Wege der Öffentlichkeitsarbeit grundsätzlich unzulässig. Ein letztes, klärendes Wort des Gerichts zur Chancengleichheit von Regierung und Opposition steht freilich noch aus. Es soll vorbereitet werden durch einige ergänzende theoretische Überlegungen.

III. Idee und Wirklichkeit des parlamentarischen Systems in der Gegenwart 1. Theorie und Kritik des Parlamentarismus a) Parlamentarismus

und

Liberalismus

Die Theorie des Parlamentarismus hat ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln im politischen Liberalismus. Zu dessen Grundüberzeugungen gehört seit LOCKE die Vorstellung, daß individuelle Freiheit nur gesichert sei, wenn die verschiedenen staatlichen „ G e w a l t e n " und Machtfaktoren voneinander getrennt sind, d. h. sich wechselseitig begrenzen und kontrollieren können 9 7 . Diese Konzeption einer „Minimierung von Herrschaft" (MAX WEBER ), als „klassische" Gewaltenteilungslehre bekannt, hat sich in ihrer dogmatisierten Form nicht nur über Revolutionen und Verfassungsumbrüche hinweg zu behaupten vermocht, sie hat auch den Sinngehalt und die konkrete Ausgestaltung anderer Strukturprinzipien des politischen Gemeinwesens, etwa das Demokratieverständnis oder den Charakter des Regierungssystems, maßgeblich beeinflußt. Ihre wichtigsten Denkfiguren: das von BURKE aufgestellte „Gleichgewichtspostulat" im Bereich der organisierten Staatlichkeit, die an MILL anknüpfende These vom freien politischen Wettbewerb der Parteien und Verbände bis hin zur „ K o n k u r renztheorie" SCHUMPETERS98 sowie der auf KANT zurückgehende „Dualismusgedank e " bilden noch heute die Grundlagen der liberalen Staatsidee. Lediglich der Bezugsrahmen hat sich verschoben: Während man in der konstitutionellen Monarchie von einem „Gleichgewicht" zwischen Regierung und Parlament, Bürokratie und Parteien, öffentlichem Wohl und privatem Gruppeninteresse sprach, scheint nunmehr die „ L o g i k " der parlamentarischen Demokratie 9 9 zur Erhaltung der

95 96 97

98

B V e r f G E 10, 4, (16f). B V e r f G E 44, 125 (142). Vgl. J . LOCKE Second Treatise of Civil G o vernment (1690) chap. X I I , 143sq. (dt.: U b e r die Regierung, hrsg. von P. C . MayerTasch 1966, S. 116ff). J . A . SCHUMPETER Kapitalismus, Sozialis-

99

mus und Demokratie, 2 . A u f l . , 1950, S. 427ff. Dagegen schon H . EHMKE Empfiehlt es sich, Funktion, Struktur und Verfahren der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse grundlegend zu ändern? (Referat), in: Verhandlungen des Dt. Juristentages, B d . I I / E , 1965, S. 45.

2. Abschnitt. D a s parlamentarische System (SCHNEIDER)

279

persönlichen Freiheit einen Macht„ausgleich", „-Wettbewerb", ,,-dualismus" zwischen Regierung(skoalition) und Opposition, Mehrheits- und Minderheitsparteien, über- und unterrepräsentierten Interessen zu fordern. Das Vertrauen auf die unter solchen Bedingungen vermutete Selbstregulierung des politischen Prozesses bei quasi automatischer Verwirklichung des Gemeinwohls ist jedoch im Prinzip unerschüttert erhalten geblieben. b)

Parlamentarismuskritik

Auch die Kritik am Parlamentarismus kann sich in Deutschland auf eine erheblich ältere Tradition stützen als seine staatsrechtliche Verwirklichung: Während das parlamentarische System vom vormärzlichen Konstitutionalismus für unvereinbar mit dem „monarchischen Prinzip" gehalten wurde100 und im Kaiserreich dem formalistischen Positivismus als Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung erschien101, konstruierte nach 1919 der voluntaristische Dezisionismus einen Gegensatz zwischen „liberal-parlamentarischen und massendemokratischen Ideen" 102 . Gleichwohl blieb ein maßgebliches Motiv dieser Ablehnung stets dasselbe: der beständige Argwohn gegen die „Herrschaft der Parteien" 103 . Seither hat man sich zwar weitgehend mit dem Parteienstaat abgefunden104, die wichtigsten Topoi der „geistesgeschichtlichen Todeserklärung des Parteienstaats"105 durch C A R L S C H M I T T (Mangel an Diskussion, Öffentlichkeit und repräsentativer Identität)106 sind jedoch inzwischen bereits zum Gemeingut der Politikwissenschaft avanciert, und zwar selbst bei Autoren, denen man kaum besondere Sympathien für das „konkrete Ordnungsdenken" nachsagen kann 107 und deren Parlamentspessimismus zumindest dem theoretischen Anspruch nach aus einer umfassenden sozioökonomischen Systemkritik resultiert.

100

101

102

So F . J . STAHL R e c h t s - und Staatslehre auf

104

v o n G . LEIBHOLZ, der als erster die egalisie-

II. Teil, 3. A u f l . , 1 8 5 6 , S. 3 7 3 .

renden T e n d e n z e n des Parteienwesens in der

Vgl. P . LABAND Die Vertretung des Volkes

m o d e r n e n Massendemokratie untersucht hat

durch das Parlament, 1 9 1 2 , S. 14ff.

(namentlich in: D a s W e s e n der Repräsenta-

C . SCHMITT D i e geistesgeschichtliche L a g e des heutigen

Parlamentarismus,

2.

Aufl.,

tion ( F n . 30)). 105

1 9 2 6 , S. 5 ff. 103

V o r allem dank der grundlegenden Arbeiten

der Grundlage christlicher Weltanschauung,

So R . THOMA in seiner Besprechung 1. Aufl.

M a n vergleiche nur die inhaltlich

nahezu

C.

SCHMITTS

der

„Geistesge-

schichtlicher Lage des heutigen Parlamenta-

identischen Aussagen über das Parteienwesen bei STAHL ( F n . 1 0 0 ) S. 4 1 6 ,

von

r i s m u s " ( 1 9 2 3 ) , in A S S W 5 3 ( 1 9 2 5 ) , S. 2 1 6 .

LABAND

106

C . SCHMITT ( F n . 1 0 2 ) S. 6 3 .

( F n . 1 0 1 ) S. 16 und SCHMITT ( F n . 102) S. 11.

107

Vgl.

E.

FRAENKEL Deutschland

und

die

D a s in jenen Stellungnahmen z u m A u s d r u c k

westlichen D e m o k r a t i e n , 3 . A u f l . , 1 9 6 8 , S.

kommende

2 4 ; W . HENNIS ( F n . 7 5 ) , S. 3 0 . -

antipluralistische

Grundver-

D a z u ins-

ständnis v o n Staat und Gesellschaft findet

gesamt W . EUCHNER D e r Parlamentarismus

n o c h bis in die G e g e n w a r t hinein seine F o r t -

in der Bundesrepublik als Gegenstand poli-

setzung

tikwissenschaftlicher

Kräfte

bei W . im

WEBER Spannungen

westdeutschen

und

Verfassungssy-

stem, 3 . A u f l . , 1 9 7 0 , S. 1 9 5 f f , 2 4 0 f f .

Untersuchungen,

in:

P V S 10 ( 1 9 6 9 ) , S. 3 8 8 f f ; H . WASSER Parlamentarismuskritik v o m Kaiserreich zur B u n desrepublik, 1 9 7 4 .

280

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

So beruht nach W A L T E R E U C H N E R der „deplorable Zustand des Parlamentarismus in der Bundesrepublik"108 ebenfalls auf einer „Politik der ,Kartellabsprachen' zwischen den großen Parteien", welche die Opposition an der Erfüllung ihrer Aufgaben hindere109. Darüber hinaus habe sich die Befriedigung von Interessenwünschen stets als vorzügliches Instrument der Machterhaltung erwiesen, dem die Opposition nichts entgegensetzen könne110 und letztlich ihre Denaturierung zur bloßen „Positionsvariante innerhalb des Gesamtsystems" 111 verdanke. Ähnlich führt C L A U S O F F E das „Fehlen" einer „wirksamen parlamentarischen Opposition" auf „strukturelle Ursachen" zurück, „die zum Teil in der Beschaffenheit des Parteiensystems zu suchen sind": Infolge eines „objektiven Konformitätsdrucks" zugunsten der jeweiligen Regierungskoalition bleibe der „in Opposition befindlichen Partei und Fraktion unter wahltaktischen Gesichtspunkten keine Alternative, als — mit Nuancen — dasselbe zu fordern, was die Regierung zu tun sich anschickt, weil sie sich nur so die prinzipielle Wählbarkeit bei den von der Regierung bereits begünstigten Wählergruppen erhalten kann" 112 . Damit falle auch das Parlament faktisch unter die Kategorie der „Dienstleistungsbetriebe"113. Deutlicher läßt sich der von F O R S T H O F F immer wieder beklagte „Schwund an Staatlichkeit" in der pluralistisch-egalitären Massendemokratie gerade für den parlamentarischen Bereich kaum zum Ausdruck bringen. Zusammenfassend wird man die gemeinsame Basis jener äußerst heterogenen und vielschichtigen Parlamentarismuskritik in der Gegenwart, formelhaft verkürzt, mit den folgenden, jeweils korrespondierenden Stichworten umschreiben können: Krise des parlamentarischen Systems, Machtverlust des Bundestages, Nivellierung und Assimilierung der Opposition. c) Parlamentarismus und Rätesystem Bei der Suche nach einem Ausweg aus der „Krise" des Parlamentarismus begegnet man immer wieder (zuerst 1918, später während der Studentenbewegung) der ebenso faszinierenden wie illusionären Forderung nach Einführung eines Rätesystems. Diese Herrschaftsform unterscheidet sich vom parlamentarischen System insbesondere durch den stufenweisen Aufbau lokaler, regionaler und zentraler Vertretungskörperschaften, die vorwiegend im Arbeitsbereich angesiedelt sind (z. B. Arbeiter- und Soldatenräte), ferner durch das imperative Mandat und eine im Prinzip jederzeitige Abwählbarkeit aller Delegierten sowie schließlich durch den Grundsatz der Gewaltenkonzentration (die Räte nehmen sowohl Gesetzgebungs- wie Regierungs- bzw. Verwaltungs- und Rechtsprechungsaufgaben wahr). Mit der Option für ein Rätesylos W. EUCHNER Zur Lage des Parlamentarismus, in: D e r C D U - S t a a t , B d . 1, 1969, S. 105 ff (113).

LITZ 1 9 7 0 , S p . 2 7 8 f f ( 2 8 2 f ) .

HOFF (Verfassung und Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik, in: Merkur 22 [1968], S. 406) geprägten Begriffs wird freilich verschwiegen. C . OFFE Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: Politikwissenschaft, hrsg.

110

DERS. (Fn. 108) S. 119.

von

111

DERS. (Fn. 109) S. 282. Die wörtliche Übernahme dieses ursprünglich von E . FORST-

173 f. Ebenda, S. 175.

109

DERS. Art. „ O p p o s i t i o n " , in: Handlexikon zur Politikwissenschaft, hrsg. von A . GÖR-

112

1,3

G.

KRESS u n d D .

SENGHAAS 1969,

S.

2. Abschnitt. D a s parlamentarische System (SCHNEIDER)

281

stem verbindet sich zugleich die prinzipielle Ablehnung des „bürgerlichen" Parlamentarismus (einschließlich der Gewaltenteilung) als eines Systems der Unterdrükkung des Klassenkampfes und der Verschleierung von Profitinteressen. Demgegenüber basiert der Rätegedanke auf einem von ROUSSEAU inspirierten 114 , identitären Demokratieverständnis (Selbstregierung des Volkes gemäß seinen „objektiven" Bedürfnissen), das ebenso anarchistische wie totalitaristische Bestrebungen zu legitimieren vermag 1 1 5 . In dieser Ambivalenz der Räteidee liegt zweifellos ein Gutteil ihrer theoretischen Anziehungskraft begründet. Praktisch scheitert jedoch ihre Verwirklichung nach bisherigen Erfahrungen schier zwangsläufig an Informationsmängeln unter den Bedingungen der Arbeitsteilung, an Kontrolldefiziten gegenüber einer sich rasch verselbständigenden Rätehierarchie und schließlich an Organisations- und Entscheidungsfehlern infolge unzureichender politischer Stabilität und Kontinuität. So gesehen stellt die permanente Berufung auf das Rätemodell als angeblich „basisdemokratische" Alternative zum parlamentarischen System nichts weiter als eine „romantisierende" Reaktion auf die veränderten sozioökonomischen Strukturen der modernen arbeitsteiligen Industriegesellschaft dar. d) Ursachen und Kritik des

Parlamentspessimismus

Fragt man nach den Ursachen und Hintergründen des Parlamentspessimismus und der Parlamentarismuskritik in der Gegenwart, so läßt sich dieses vermeintlich „realistische" Negativbild des parlamentarischen Systems im wesentlichen auf drei ideologieverdächtige Traditionslinien zurückführen: (1) auf die überkommene obrigkeitsstaatliche Abneigung gegen Volksvertretungen überhaupt und eine Parlamentsherrschaft im besonderen, wie sie seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die fortschreitende Parlamentarisierung der Reichsgewalt faktisch verhindert und trotz Einführung des parlamentarischen Systems unter der" Weimarer Reichsverfassung ihren Höhepunkt erreicht hat; (2) auf eine allgemeine Fetischisierung von sog. „Sachzwängen" und „Technostrukturen" des Staats der Industriegesellschaft 116 , welche angeblich keine prinzipiellen Alternativen mehr zulassen, meist aber nur als Alibi für politischen Immobilismus dienen und (3) auf wachsende Vorbehalte gegenüber der praktischen Oppositionspolitik im Parlament, die zumindest auch ihre Wurzeln in der hierzulande noch immer stark emotional bedingten Unpopularität oppositionellen Verhaltens hat 1 1 7 .

114

115

Vgl. J . - J . ROUSSEAU DU Contrat Social (1762), Liv. III, chap. 4 (dt.: Der Gesellschaftsvertrag, hrsg. von H . Weinstock, 1968, S. 104ff). D a z u E . FRAENKEL Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, in: Deutschland und die westlichen Demokratien, 2. A u f l . , 1968 S. 165 ff.

116

117

So E . FORSTHOFF D e r Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, 1971. N a c h einer U m f r a g e von R. WILDENMANN und M . KAASE aus dem Jahre 1967 sind 68 v. H . der Bevölkerung (bei Jugendlichen 61 v. H . , bei Studenten 28 v. H . ) noch immer der Meinung: Aufgabe der politischen O p position ist es nicht, die Regierung zu kriti-

282

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Gegen das traditionelle parlamentarische Krisendenken ist daher zunächst einzuwenden, daß es die meist zutreffend erfaßte Wirklichkeit des modernen Parlamentsbetriebs aus der Perspektive einer überholten Repräsentationsmystik und rückständigen „Gesetzgeberromantik" heraus pauschal zu disqualifizieren geneigt ist; bekanntlich hat dazu R I C H A R D T H O M A schon vor einem halben Jahrhundert alles Notwendige gesagt 118 . Die These von der permanenten Entmachtung des Bundestages setzt nicht nur die politische Suprematie des Parlaments stillschweigend voraus und steht damit bereits im Widerspruch zum geltenden Verfassungsrecht (Art. 65 G G ) ; sie übersieht auch die historische Tatsache, daß bisher kein deutsches Parlament einen nur annähernd so starken Einfluß auf die praktische Politik ausgeübt hat wie der Deutsche Bundestag in den vergangenen 30 Jahren seines Bestehens. Das Dogma vom strukturbedingten Oppositionskonformismus wird schließlich durch den allgemeinen Erfahrungssatz entkräftet, daß besonders die polarisierte Interessenaggregation den nicht mit Regierungsverantwortung belasteten Parteien oft weit besser gelingt als den politischen Führungsgruppen selbst, da sie einerseits frei vom unmittelbaren Realisierungszwang in der Regel höhere Forderungen vertreten bzw. den einzelnen Bevölkerungsgruppen größere Vergünstigungen in Aussicht stellen können und andererseits das Sammelbecken für unzufriedene oder enttäuschte Minderheiten bilden, weshalb bei Wahlen nicht selten die Stimmengewinne überwiegend den Oppositionsparteien zugute kommen 1 1 9 . Darüber hinaus gehören die freie Bildung von Oppositionsfraktionen sowie deren ungehinderte oppositionelle Tätigkeit im Parlament zu den wesentlichen Grundlagen eines freiheitlichen Mehrparteiensystems in der parlamentarischen Demokratie, so daß namentlich die Oppositionsausübungsfreiheit sowohl der parlamentsrechtlich organisierten Fraktionen als auch des einzelnen Abgeordneten durch Art. 21 Abs. 1 und 38 Abs. 1 G G mitgeschützt ist. Da die Oppositionsstellung im Parlament weitgehend formalen Charakter besitzt („Chancengleichheit" zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen bzw. von Regierung und Opposition), lassen sich außer der Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Parlaments keine inhaltlichen Merkmale oder Direktiven für oppositionelles Abgeordneten- oder Fraktionsverhalten angeben. Wenn auch die Teilnahme der Opposition am parlamentarischen Entscheidungsprozeß meist in Kritik und Kontrolle der Regierung sowie im Bemühen um Alternativen bestehen mag, kann sie sich doch gelegentlich sogar in kooperative Mitarbeit bei einzelnen, besonders dringlichen oder populären Regiesieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen. Vgl. auch die Umfrageergebnisse bei

118 119

P.

KEVENHÖRSTER

Opposition

in

der

Bundesrepublik, in: Die neue O r d n u n g 1969, S. 204ff (210ff). Vgl. oben Fn. 105. Bei den bisherigen Bundestags- und Landtagswahlen konnten die jeweiligen O p p o s i tionsparteien — gleichgültig ob C D U , S P D oder F D P —, verglichen mit den vorangegangenen Bundestags- oder Landtagswah-

len, in der Mehrzahl aller Fälle den relativ höchsten Stimmenzuwachs verbuchen. V o n einer Ineffektivität der Opposition kann also nur insofern gesprochen werden, als es ihr bisher nie gelungen ist, Wahlen gegen eine Koalitionsregierung zu gewinnen. Dennoch hat eine Partei in der Opposition prinzipiell wesentlich größere Chancen, zusätzliche Wählerstimmen zu erringen als in der Regierung.

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

283

rungsvorhaben verwandeln, ohne viel an Effektivität einzubüßen. Als zusätzliche Sicherungen der parlamentarischen Oppositionsfreiheit stellt schließlich die Geschäftsordnung des Bundestages den oppositionellen Fraktionen (vgl. § 10 GO-BT) zahlreiche Minderheitsrechte zwecks Information, Artikulation, Demonstration oder Partizipation zur Verfügung, deren sie sich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mit dem Ziel eines Machtwechsels in der Regel nicht ohne Erfolg bedienen. Solange man jedoch der gebotenen Auseinandersetzung mit dieser politischen Wirklichkeit aus dem Wege geht, muß die stereotype Wiederholung derselben Bedenken und Einwände gegen den Parlamentarismus, gerade weil sie die sog. „Faktizität" für sich in Anspruch nehmen, unweigerlich den Vorwurf eines ideologisch verzerrten Gesamtbildes vom parlamentarischen Regierungssystem provozieren. 2. Moderne Probleme des Parlamentarismus a) Parlament und Planung Freilich darf die Zurückweisung einer überzogenen oder voreingenommenen Parlamentarismuskritik nicht dazu führen, nunmehr in den gegenteiligen Fehler zu verfallen und auf lediglich affirmative Weise Struktur- oder Funktionsprobleme des parlamentarischen Systems überhaupt leugnen zu wollen. Auf einigen Teilgebieten der Politik werden nämlich durchaus erhebliche Entscheidungsdefizite der Parlamente sichtbar 120 . Hierzu gehört insbesondere der Bereich staatlicher Planung. Während der jährliche Haushaltsplan wenigstens noch der parlamentarischen Beschlußfassung bedarf, wird die mittelfristige Finanzplanung den Parlamenten nur zur Kenntnis gebracht. Landesentwicklungsplanung und Raumordnung sind allenfalls durch Entschließungsanträge in geringem Umfang beeinflußbar. Die Planung industrieller Großvorhaben ist indes den Parlamenten gänzlich entzogen. Aus der bloßen Tatsache, daß beispielsweise der Bundestag bisher die Atomprogramme der Bundesregierung zustimmend zur Kenntnis genommen habe, wird vom Bundesverfassungsgericht auf ein Einverständnis des Parlaments mit der Errichtung des „Schnellen Brüters" in Kalkar geschlossen 121 . Daß gerade hierzu erst vor der dritten Teilerrichtungsgenehmigung und nur auf politischen Druck der Öffentlichkeit hin überhaupt eine Debatte im Bundestag stattfand, unterstreicht nur den geringen Stellenwert, den die Regierung bei Planungsvorhaben einer parlamentarischen Willensbildung zuzugestehen bereit ist. Frühzeitige Initiativen von Abgeordneten noch vor der ersten Standortgenehmigung (wie z. B. bei der Entscheidung über das integrierte Entsorgungszentrum in Gorleben) hätten das Vorhaben gewiß einer sehr viel stärkeren parlamentarischen Einflußnahme zu unterwerfen vermocht. Die Betei-

120

121

Dazu H . - P . SCHNEIDER Entscheidungsdefizite der Parlamente. Uber die Notwendigkeit einer Wiederbelebung der Parlamentsreform, in: A ö R 105 (1980), S. 4 f f . Vgl. B V e r f G E 49, 89 (133): „ D e r Gesetzgeber hat hinreichend zu erkennen gegeben, daß er derzeit an seiner Entscheidung für die

Zulassung von Schnellen Brutreaktoren festhält. So hat der Bundestag bisher die Atomprogramme der Bundesregierung, in denen auch die Entwicklung der Schnellen Brutreaktoren genannt ist, zustimmend zur Kenntnis genommen".

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

284

ligungsmöglichkeiten der Parlamente an staatlicher Planung müssen daher unbedingt erweitert werden, soll das parlamentarische System nicht auf Dauer Schaden nehmen 1 2 2 . Hier eröffnet sich zweifellos ein legitimes Betätigungsfeld für den „kooperativen Parlamentarismus" (vgl. oben S. 275). b) Informationsdefizit

der Parlamente

Ein weiteres gravierendes Problem, das an die Wurzeln des parlamentarischen Systems rührt, ist das häufig beklagte Informationsdefizit der Parlamente, welches mit erheblichen Einbußen an Entscheidungsmacht verbunden ist. Selbst unter Berücksichtigung eines dem Sachverstand der Ministerialbürokratie zu verdankenden natürlichen Informationsvorsprungs der Regierung bestehen hier im Verhältnis zum Parlament ebenso bedenkliche wie überflüssige Wissensungleichgewichte. Weittragende Entscheidungen der Außen-, Verteidigungs-, Finanz- und Wirtschaftspolitik auf Bundesebene oder Beschlüsse der Ministerpräsidenten- und Fachministerkonferenzen der Länder laufen nicht nur völlig an den Parlamenten vorbei, sondern werden ihnen noch nicht einmal in gebührender Form mitgeteilt. Lediglich für Staatsverträge ist ein Ratifizierungsverfahren vorgesehen. Freilich beruhen diese Informationsdefizite nicht nur auf einer mangelnden Informationsbereitschaft der Regierung, sondern zum großen Teil auch auf dem Fehlen von spezialisiertem Sachverstand bei vielen Abgeordneten sowie auf institutionellen Grenzen der Informationsverarbeitungskapazität des Parlaments im Ganzen. Bei einer Gesamtzahl von durchschnittlich 5000 Bundestagsdrucksachen pro Legislaturperiode würde ein Abgeordneter nahezu die Hälfte seiner Arbeitszeit allein mit deren Lektüre verbringen müssen. Zusätzliche Informationen, auch in den Ausschüssen, können deshalb kaum mehr aufgenommen werden. Hinzu kommt ferner, daß der Regierung auch ein vertraulicher Eigenbereich der Initiativenentwicklung und Entwurfsplanung vorbehalten bleiben muß, welcher sich bei Gefährdung des Vorhabens einer allzu frühen Information der Öffentlichkeit entzieht 123 . Deshalb ist nach Wegen und Verfahren zu suchen, mit denen zwar eine umfassende Informationspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament begründet, diese aber auf das Notwendige und Wichtige konzentriert werden kann.

122

Ähnlich bereits R. HERZOG/R. PIETZNER Möglichkeiten und Grenzen einer Beteiligung des Parlamentes an der Ziel- und Ressourcenplanung der Bundesregierung (Gutachten 1971), 1979, S. 143ff. - Vgl. auch E.W. BÖCKENFÖRDE Planung zwischen Regierung und Parlament, in: Der Staat 11 (1973), S. 4 2 9 f f ; F. OSSENBÜHL Welche normativen Anforderungen stellt der Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaates an die planende staatliche Tätigkeit, dargestellt am Beispiel der Entwicklungsplanung?, in: Verhandlungen des 50. Deutschen Juristentages, Bd. 1 (Teil B), 1974, insbes. S. 8 0 f f ; M.

123

SCHRÖDER Planung auf staatlicher Ebene, 1974, S. 8 2 f f ; B. DOBIEY Die politische Planung als verfassungsrechtliches Problem zwischen Bundesregierung und Bundestag, 1975, S. 9 0 f f ; zuletzt umfassend W. GRAF VITZTHUM Parlament und Planung. Zur verfassungsgerechten Zuordnung der Funktionen von Bundesregierung und Bundestag bei der politischen Planung, 1978, insbes. S. 364 ff. D a z u H . - P . SCHNEIDER Opposition und Information. Der Akten Vorlageanspruch als parlamentarisches Minderheitsrecht, in : A ö R 99 (1974), S. 628 ff (644 f).

2. Abschnitt. D a s parlamentarische System (SCHNEIDER)

c) Funktionsmängel

des

285

Parlamentsbetriebs

Nicht nur im Verhältnis zur Regierung, sondern auch innerhalb des Parlamentsbetriebs treten immer häufiger Funktionsmängel auf. So wird die Effizienz parlamentarischer Entscheidung und Beratung durch eine wachsende Arbeitsbelastung von Plenum und Ausschüssen in Frage gestellt, welche zur legislativen Kleinarbeit verführt und die Diskussion grundlegender politischer Alternativen erschwert. STEFFANI spricht in diesem Zusammenhang von einer steten „Parlamentsüberforderung" 124 . Zugleich schwindet damit auch die Transparenz parlamentarischer Willensbildung. Denn in dem Maße, wie wichtige politische Entscheidungen vom Plenum des Parlaments in die Ausschüsse, Fraktionen, Arbeitskreise oder gar Parteigremien abgeschoben werden, verringert sich die Durchsichtigkeit und Verständlichkeit der parlamentarischen Arbeit für den Bürger. Eine Intensivierung der Parlamentsberichterstattung kann diesen Mangel keineswegs aufwiegen. Die steigende Arbeitslast hat ferner eine weitgehende Bürokratisierung des Parlamentsbetriebs zur Folge. Während bei den Plenarverhandlungen nurmehr ein „Schichtwechsel der Spezialisten" stattfindet, hat sich die eigentliche Gesetzgebungsarbeit in die Ausschüsse verlagert, wo unter maßgeblicher Assistenz von Ministerialbeamten („Formulierungshilfen"), deren Zahl die der anwesenden Abgeordneten häufig übersteigt, um einzelne Gesetzesformulierungen gerungen wird. Eine Kritik an diesem Zustand wird schon deshalb nur selten laut, weil viele Abgeordnete selbst Beamte sind oder waren und daher dem bürokratischen Arbeitsstil ohnehin zuneigen. Darüber hinaus ist die freie politische Entfaltung des Abgeordneten auch durch eine starke Oligarchisierung des Parlamentsbetriebs eingeengt. So liegt das gesamte politische Management bei der Fraktionsführung. Sie plant die Debatten, bestimmt die Redner, verteilt die Wortmeldungen, entscheidet über die Besetzung von Ausschüssen und Arbeitskreisen, prüft Anfragen und Anträge einzelner Abgeordneter, ja sie gewährt bei längerer Abwesenheit eines Mandatsträgers sogar „Urlaub". Diese Machtfülle der Fraktionsführung gestattet einem Hinterbänkler oder Außenseiter nur selten die Darlegung seiner politischen Vorstellungen. Zugleich wird die Bundestagsarbeit durch eine wachsende Sektoralisierung der Politik beeinträchtigt. Sozialpolitiker, Bildungspolitiker, Beamtenpolitiker oder Wirtschaftspolitiker bilden nicht selten überfraktionelle „Fachbruderschaften" innerhalb des Parlaments, welche mit den außerparlamentarischen Interessengruppen oder Berufsverbänden personell und sachlich eng verflochten sind. Während Detailfragen allenfalls noch von solchen Spezialisten überschaut und im Plenum isoliert behandelt werden, verkümmert angesichts deren oft mit „Sachzwängen" begründeter, tatsächlich aber eher interessengeleiteter Einigkeit nicht nur die Opposition, sondern wird auch der „Abgeordnetenlaie" gezwungen, auf das Votum seiner Fraktionsexperten zu vertrauen und bisweilen sogar gegen seine subjektive Uberzeugung zu stimmen. Dabei können politische Zusammenhänge leicht aus dem Blick geraten, die schon 124

W. STEFFANI Parlamentarische Demokratie - Zur Problematik von Effizienz, Transparenz und Partizipation, in: Parlamentaris-

mus ohne Transparenz, hrsg. von W. STEFFANI, 1971, S. 17ff (37).

286

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

wegen finanzieller Konsequenzen, vor allem aber in Hinsicht auf eine konsistente Regierungs- oder Oppositionspolitik Beachtung verdienen. Schließlich leidet der Bundestag unter einer zunehmenden Professionalisierung des Parlamentsbetriebs. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht diese Tendenz im sog. „Diätenurteil" nachhaltig unterstützt 125 , damit aber dem parlamentarischen System insgesamt einen Bärendienst erwiesen. Denn je weniger ein Abgeordneter in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt auch außerhalb der Politik zu verdienen, je mehr er sich also zum „Berufspolitiker" entwickelt, desto größer wird seine Abhängigkeit von der Fraktion oder Partei, welcher er sein Mandat verdankt. Auf diese Weise verstärken sich die Professionalisierung, Sektoralisierung, Oligarchisierung und Bürokratisierung des Parlamentsbetriebs wechselseitig mit der bedenklichen Konsequenz, daß der parlamentarisch-gouvernementale Apparat sich dem Bürger in wachsendem Maße entfremdet. d) ,,Parlamentsverdrossenheit" Aber nicht nur in funktioneller, sondern auch in sachlicher Hinsicht scheint sich die Distanz zwischen Volk und Volksvertretern zu vergrößern. Die aus der Bildung der Großen Koalition resultierende Entstehung der Außerparlamentarischen Opposition hat bereits gegen Ende der sechziger Jahre eine gewisse ,,Parlamentsverdrossenheit"126 der Bevölkerung signalisiert — ein Zeichen dafür, daß die parlamentarische Demokratie unter Bedingungen der modernen Industriegesellschaft offenbar Mühe hat, den Bürger unmittelbar und überzeugend anzusprechen. Zwar hat sich — wie die anhaltend hohe Wahlbeteiligung zeigt — jene Parlamentsmüdigkeit bisher nicht bedrohlich ausgeweitet, aber doch im Aufkommen einer wachsenden Zahl von Bürgerinitiativen niedergeschlagen127, welche ihr spezielles Anliegen sämtlich bei Abgeordneten oder Parlamenten nicht mehr hinreichend aufgehoben wissen. Während im Bundestag Probleme des Umweltschutzes oder der Energieversorgung auf relativ abstraktem Niveau behandelt werden und der Bürger mit der Zumutung, zwischen mehreren vertretbaren Positionen selbst abzuwägen, oft überfordert wird, haben Bürgerinitiativen auf den gleichen Gebieten schon deshalb eine größere Integrationskraft, weil sie zumeist nur ein begrenztes Ziel verfolgen, eine geschlossene politische Meinung zum Ausdruck bringen und an örtliche Gegebenheiten anknüpfen, die der Bürger kennt und mit denen er sich identifizieren kann. Parlamentsdebatten hingegen, in denen unterschiedliche Standpunkte deutlich wer125 126

B V e r f G E 40, 296 ( 3 1 0 f f ) . Dazu E. FRAENKEL Ursprung und politische Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit, in: Integritas. Geistige Wandlung und menschliche Wirklichkeit, hrsg. von D. STOLTE u n d R . WISSER 1 9 6 6 , S . 2 4 4 ff.

127

Eine ausgezeichnete Ubersicht bietet G. F. SCHUPPERT Bürgerinitiativen als Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen. Verfassungstheoretische Aspekte politischer

Beteiligung, in: A ö R 103 (1978), S. 4 3 f f . Aufgrund einer Umfrage vom April 1978 ermittelte auch das EMNID-Institut bei 8 4 % der Bevölkerung „eine A r t Abgeordnetenapathie" sowie eine „Beteiligungsunlust" am parlamentarischen Geschehen (vgl. U. THAYSEN Abgeordnetenapathie und Beteiligungsunlust? Ergebnisse einer Umfrage, in: ZParl 9 [1978], S. 4 4 7 f f ) .

2 . Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

287

den und klare politische Aussagen oft durch ein verwirrendes Ensemble von Argumenten, Berechnungen und Prognosen überdeckt werden, bleiben dem Bürger fremd. Dadurch wird der Repräsentationsanspruch der Parlamente in nicht unerheblicher Weise relativiert. Ob sich diese Repräsentanzdefizite in Zukunft eher verstärken oder verringern werden, läßt sich gegenwärtig noch nicht absehen. Auf entsprechende Abhilfemöglichkeiten innerhalb des parlamentarischen Regierungssystems soll nunmehr noch kurz eingegangen werden. 3. Reformen des parlamentarischen Systems a) Geschäftsordnungsänderungen

1969

Das deutsche Unbehagen am Parlamentarismus findet gegenwärtig trotz der verschiedenartigen geistesgeschichtlichen Wurzeln und sozialpsychologischen Hintergründe seinen Ausdruck in der nahezu einmütigen Kritik an der parlamentarischen Aufgabenstellung, Organisation und Arbeitsweise, zumeist verbunden mit, wo nicht grundsätzlicher Ablehnung des „Systems" überhaupt, so doch zahlreichen, oft sehr detaillierten Vorschlägen zur Parlamentsreform128, deren weitgehend technischer Charakter wiederum in eigentümlichem Kontrast zu jener prinzipiellen Skepsis steht. Gewiß wird man den Vorbehalten der Befürworter bloßer „Parlamentskorrekturen" 1 2 9 gegen institutionelle Veränderungen gerade aus juristischer Sicht nicht jede Berechtigung absprechen dürfen. Aber die Tatsache, daß selbst allgemein für notwendig erachtete, relativ geringfügige „Novellierungen" der Bundestagsgeschäftsordnung (die ja im Kern noch immer auf der Geschäftsordnung des Reichstages des Norddeutschen Bundes von 1868 beruht) aus ziemlich fragwürdigen Gründen 130 unterbleiben, weckt doch erhebliche Zweifel am Reformwillen der Betroffenen und fordert die Diskussion prinzipieller Alternativen geradezu heraus. Auch die endlich auf Initiative vorwiegend jüngerer Abgeordneter aus allen Parteien während der Großen Koalition zustandegebrachte „kleine Parlamentsreform" vom Juni 1969 131 hat — abgesehen von einer besseren Finanzausstattung der

128

Eine

informative

Zusammenstellung

der

von U .

sehbaren Literatur enthält die Auswahlbi-

daß die politische Konstellation während der

bliographie

G r o ß e n Koalition „einer Parlamentsreform

„Parlamentsreform" Abteilung

des

der

Wis-

Deutschen

günstiger denn j e " gewesen sei, nur bedingt

Bundestages, Materialien N r . 11, 1 9 6 9 .

130

(Bundes-

tagsreform 1 9 6 9 , in: ZParl O [ 1 9 6 9 ] S. 2 1 ) ,

senschaftlichen 129

THAYSEN/P. SCHINDLER

wichtigsten Arbeiten aus der nahezu unüber-

So W . HENNIS C l o t u r e im Bundestag, in:

richtig. 131

Grundlegend dazu U . THAYSEN Parlaments-

A ö R 91 ( 1 9 6 6 ) , S. 2 5 4 , weil „ P a r l a m e n t s r e -

r e f o r m in T h e o r i e und Praxis, 1 9 7 2 . N e u e r -

f o r m w o h l ein zu gutes W o r t " für die Bestre-

dings

bungen des Bundestages sei.

1 9 6 9 . E i n e Bilanz ihrer W i r k u n g e n im D e u t -

P.

SCHOLZ

Parlamentsreform in: Z P a r l

seit

Eine entscheidende Rolle spielte offenbar im

schen Bundestag,

S o m m e r 1 9 6 9 die Sorge vieler Parlamentarier

2 7 3 ff; in E r w i d e r u n g darauf H . - P . SCHNEI-

12 ( 1 9 8 1 ) ,

v o r einem E i n z u g der N P D in den Bundes-

DER N o c h m a l s : Parlamentsreform seit 1 9 6 9 ,

tag. Vgl. dazu das Spiegel-Interview mit d e m

in: Z P a r l 12 ( 1 9 8 1 ) S. 5 8 9 f ; W .

damaligen Bundestagspräsidenten K . - U . VON

Warum

HASSEL in: D e r Spiegel N r . 2 3 ( 1 9 6 9 ) , S.

mentsreform 1 9 6 9 " ? , ebenda, S. 591 ff.

71 ff ( 7 7 ) . Insofern erscheint die Feststellung

die

Bezeichnung

S.

STEFFANI

„kleine

Parla-

288

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Mandatsträger, der Herabsetzung von Antragsquoren, einer Stärkung der Ausschußarbeit sowie der Straffung des Gesetzgebungsverfahrens — insgesamt wenig Neues gebracht. Namentlich die Stellung der parlamentarischen Opposition wurde außer durch die Festlegung einer alternierenden Rednerfolge (§ 28 Abs. 1 GO-BT) nur indirekt und relativ über die Stärkung der Fraktionsrechte132 sowie durch eine Erweiterung der Ausschußöffentlichkeit133 verbessert. Hierin kommt nach HANS M A I E R deutlich „die Grenze pragmatischer Reformen zum Ausdruck" 134 . b) Vorschläge der Enquete-Kommission

Verfassungsreform

Einen sehr viel grundsätzlicheren Zugang zu Fragen der Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems wählte die im Jahre 1973 vom Bundestag eingesetzte „Enquete-Kommission für Verfassungsreform". Zwar lehnte sie die Einführung plebiszitärer Formen der politischen Willensbildung (Volksbegehren, Volksentscheid und Volksbefragung) ebenso ab wie eine Volkswahl des Bundespräsidenten und sprach sich auch gegen Vorwahlen aus, empfahl jedoch die Ermöglichung der Briefwahl bei der parteiinternen Kandidatenaufstellung sowie die Einrichtung begrenzt offener Listen (nach bayerischem Vorbild). Ferner schlug die Kommission vor, den Bundestag durch Verlängerung der Wahlperiode bis zum Zusammentritt eines neu gewählten Parlaments zu einem ständig präsenten und handlungsfähigen Verfassungsorgan auszugestalten (so inzwischen Art. 39 Abs. 1 GG). In Art. 68 GG solle auch nach fehlgeschlagener Vertrauensfrage noch die Möglicheit einer nachträglichen Vertrauensbestätigung für den amtierenden Bundeskanzler aufgenommen werden. Auf dem Gebiet der parlamentarischen Kontrolle trat die Kommission für eine Neuordnung des Rechts der Untersuchungsausschüsse (mit verbessertem Minderheitsschutz), für die Institutionalisierung von Enquete-Kommissionen sowie für eine Stärkung der Petitionsausschüsse ein, nicht aber für die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste. Schließlich plante man, die Gesetzesberatung auf zwei Lesungen zu beschränken, allerdings verbunden mit der Möglichkeit erweiterter öffentlicher Ausschußsitzungen135. Nachdem es freilich um diese Kommissionsvor-

132

Darunter insbes.: § 7 Abs. 5 G O - B T (Vertretung des Bundestagspräsidenten durch Mitglied der zweitstärksten Fraktion); § 10 Abs. 1 G O - B T (Neubestimmung des Fraktionsbegriffs unter Verwendung des Kriteriums „[politischer] Wettbewerb"); §§ 25 Abs. 2, 26, 42, 44 Abs. 3, 52 Satz 1, 76 Abs. 1, 89, 101, 102, 112 Abs. 2, 115 Abs. 2 G O - B T (Herabsetzung des jeweiligen Quorums auf die Mindestfraktionsstärke von 26 Abgeordneten); N r . 1 b der Anlage 5 zur G O - B T (Durchführung einer Aktuellen Stunde auf Verlangen von 26 Abgeordneten).

133

134

135

Vgl. § 69 Abs. 1 Satz 2 G O - B T : Herstellung der Ausschußöffentlichkeit durch Beschluß mit einfacher Mehrheit; § 68 G O B T : Zitierungsrecht der Ausschüsse; § 70 G O - B T : Erweiterung der Anhörungsmöglichkeiten. H. MAIER U. a. Zum Parlamentsverständnis des fünften Deutschen Bundestages. Die Möglichkeit von Zielkonflikten bei einer Parlamentsreform, 1969, S. 46. Vgl. dazu den Schlußbericht der „EnqueteKommission für Verfassungsreform" vom 9. 12. 1976 (Bundestagsdrucksache 7 / 5 9 2 4 ) , Kap. 1 - 5 .

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

289

schlage inzwischen sehr still geworden ist, wird man — soweit sie nicht bereits realisiert sind — kaum noch mit ihrer baldigen Verwirklichung rechnen können. c) Notwendigkeit

von

Strukturreformen

Um so wichtiger erscheint es, in der Gegenwart das Problembewußtsein für die Vorzüge und Mängel des parlamentarischen Systems wachzuhalten und neue Anstöße zu grundlegenden Reformen des parlamentarischen Regierungssystems verfassungstheoretisch vorzubereiten. Dabei müßte allerdings eine weitreichende und von einem breiten politischen Konsens getragene Fortentwicklung des Parlamentarismus unter den Bedingungen des modernen Planungs- und Leistungsstaats angestrebt werden und nicht nur bloße „Korrekturen" des parlamentarischen Verfahrens wie im Jahre 1969. In England wird behauptet, ein Parlament sei jeweils so viel wert wie seine Opposition 1 3 6 . Wenn dieser Satz auch nicht uneingeschränkt auf deutsche Verhältnisse übertragen werden kann, so hängt doch vom Abbau parlamentarischer Funktionsdefizite namentlich durch Stärkung der Oppositionsrechte ein Großteil der Zukunftschancen des Parlamentarismus ab und damit zugleich ein wesentliches Stück Glaubwürdigkeit der freiheitlichen Demokratie. So könnte etwa dem jeweiligen Oppositionsführer durch Geschäftsordnung die gleiche Redezeit eingeräumt werden, wie sie der Bundeskanzler in Anspruch nimmt (bisher sieht § 35 Abs. 2 G O - B T nur für den Fall einen Ausgleich vor, daß ein Mitglied der Bundesregierung länger als 20 Minuten redet). Ferner wäre daran zu denken, dem Oppositionsführer in Analogie zu Art. 43 Abs. 2 G G ein jederzeitiges Rederecht zuzubilligen (so § 70 Abs. 1 Satz 3 der Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtages) oder die Oppositionsfraktion(en) bzw. deren Mitglieder in den Ausschüssen mit besonderen Antrags- oder Kontrollbefugnissen auszustatten (z. B. dem Recht auf Zitierung von Regierungsmitgliedern, Aktenvorlage und Zugang zu Behörden oder Regierungseinrichtungen). Für die Einführung solcher besonderen Oppositionsrechte wäre schon viel gewonnen, wenn von allen Beteiligten akzeptiert würde, daß jeweils die stärkste Minderheitsfraktion im Parlament den Oppositionsführer stellt, und dieses Amt ebenso wie die Begriffe „Opposition", „Oppositionsfraktion" oder „Oppositionsrechte" Eingang in die parlamentarischen Geschäftsordnungen fänden — ein Schritt, der nach Ansicht von STEFFANI mehr bedeuten würde als die Abkehr von überkommener Begrifflichkeit: nämlich das „zentrale(s) Element einer ,großen Parlamentsreform'" mit dem „Rang reformerischer Innovation" bilden könnte 137 . Schließlich kommen die Errichtung eines besonderen, an den Aufgaben der Kritik, Kontrolle und Alternativenbildung orientierten „Oppositionsdienstes" sowie — unter anderem zu dessen Finanzierung — die Bereitstellung entsprechender Haushaltsmittel für die parlamentarische Opposition im Parlamentsetat („Oppositionsbo-

136

Ebenso A . ARNDT (Fn. 89) S. 435: „ D e r Rang der Opposition bestimmt jedoch in ei-

ner Demokratie über den Rang des Pariaments". 137

W . STEFFANI ( F n . 1 3 1 ) S . 5 9 2 .

290

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

nus") in Betracht 138 . Verfassungspolitische Notwendigkeiten dürfen gerade auf diesem Gebiet nicht länger von kurzsichtigen Erwägungen parteipolitischer Nützlichkeit verdrängt werden, wenn das parlamentarische System auf Dauer erhalten bleiben und seine legitimierende wie integrierende Kraft weiterhin entfalten soll. 4. Zukunftsfragen des Parlamentarismus a) Probleme der Parteienrepräsentation Das Schicksal des parlamentarischen Repräsentativsystems moderner Prägung ist eng verknüpft mit der künftigen Entwicklung des Parteienstaates. Parteiverdrossenheit, Parteizersplitterung oder Parteiegoismus schwächen zugleich unmittelbar die Funktionsfähigkeit und Integrationskraft parlamentarischer Organe. Umgekehrt gewinnt der Parlamentarismus an Authentizität und Glaubwürdigkeit nicht zuletzt durch eine realistische, kompetitive, integre Parteipolitik. Wo parlamentarische Mehrheitsentscheidungen nicht oder nur mehr unter Protest akzeptiert werden, ist dafür neben anderen Faktoren häufig auch ein Versagen der politischen Parteien mitverantwortlich, die nicht rechtzeitig, offen und fair informiert, nicht überzeugend und konsequent genug argumentiert, nicht flexibel und bürgernah agiert haben. In einer demokratischen Ordnung, die bewußt auf plebiszitäre Formen der Willensbildung verzichtet, fallen nicht nur dem Parlament, sondern auch den Parteien die Aufgaben pluralistischer Interessenaggregation, präventiver Konfliktantizipation und innovativer Politikkonzeption zu. Somit sind die Parteien unlösbar in den Repräsentationszusammenhang zwischen Volk und Staatsorganen eingefügt, wobei ihnen freilich weniger die Sorge um das Gemeinwohl oder die Sicherung staatlicher Handlungseinheit obliegt als vielmehr die Aufnahme und politische Umsetzung von Anliegen und Bestrebungen der Bürger. Demokratische Parteienrepräsentation bedeutet daher einerseits stärkere „Basisorientierung", zum anderen weniger „Mitregierung", die auf parlamentarischer Ebene zwangsläufig zu einer weitgehenden Instrumentalisierung des Mandats und zu einer Verkürzung von Abgeordnetenrechten führen muß. Solange die Parteien auf gesellschaftliche Konflikte lediglich reagieren, bestehende Machtverhältnisse bestenfalls stabilisieren und abweichendes Verhalten zunehmend disziplinieren, muß auch das parlamentarische System insgesamt erstarren und sein Entscheidungsverfahren der Mehrheitsbildung oder Kompromißfindung zum bloßen Ritual verkümmern. Je mehr hingegen die politischen Parteien in der Lage sind, elementare Bevölkerungsinteressen (auch partikularer Art) in konkrete Politik zu übertragen und durchzusetzen, desto geringer ist der Bedarf des parlamentarischen Repräsentativsystems nach plebiszitären Ventilen. Falls dem nicht nur vorübergehende Schwierigkeiten im derzeitigen Parteienspektrum, sondern institutionelle und organisatorische Hindernisse entgegenstehen, sollte man langfristig auch an eine

138

Dazu H.-P. SCHNEIDER (Fn. 120) S. 3 3 f ; DERS. (Fn. 131) S. 590. Kritisch P. SCHOLZ (Fn. 131) S. 273 f f , der statt f ü r die Schaffung

neuer Minderheitsbefugnisse eher für einen „energische(n) Gebrauch der vorhandenen Möglichkeiten und Rechte" plädiert.

2.

Abschnitt. Das parlamentarische System

(SCHNEIDER)

291

Reform des Parteienrechts (z. B. Ausbau der innerparteilichen Minderheitsrechte, Verbreiterung der Kandidatenaufstellung) sowie an eine größere Verselbständigung des Mandats (z.B. durch Stärkung der Abgeordnetenrechte) denken, um den Fortbestand des parlamentarischen Systems in die Zukunft hinein zu gewährleisten.

b) ,,Regierbarkeit"

im parlamentarischen

System

Angesichts sinkenden Wirtschaftswachstums, härterer Verteilungskämpfe und angeblich kaum mehr ausgleichsfähiger Interessengegensätze oder Meinungsunterschiede (z. B. Ökonomie gegen Ökologie, Nachrüstung gegen Abrüstung, Sicherheit gegen Freiheit etc.) wird darüber hinaus immer häufiger die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der ,,Regierbarkeit" im parlamentarischen System gestellt, ja die Handlungsfähigkeit des Staates nicht selten sogar zum wichtigsten Existenz- und Überlebensproblem des Parlamentarismus erklärt. Dabei wird freilich oft verkannt, daß vermeintliche Antagonismen der politischen Auseinandersetzung in Wirklichkeit nur auf falschen Alternativen beruhen, daß „Regierung" in einer Demokratie eben nicht Befehl und Gehorsam oder Entscheidung und Vollzug bedeutet und daß die Inhalte des Gemeinwohls in einem freiheitlich-pluralistischen Gemeinwesen niemals vorgegeben, sondern stets aufgegeben sind. Gleichwohl ist eine zunehmende Lähmung der Politik durch soziale Gruppenkonflikte, alternative Protestbewegungen und knappe parlamentarische Mehrheiten kaum noch zu übersehen. Hinzu kommen weitere zeitliche Restriktionen des Regierungshandelns aufgrund seiner Einbindung in Wahlperioden, infolge der Diskontinuität des Parlamentsbetriebs sowie wegen der praktischen Notwendigkeit eines permanenten Wahlkampfs um Landtagsmandate. Da politische Entscheidungen im parlamentarischen Bundesstaat äußerst kurzfristig zu verantworten sind, schwindet der Mut zu unpopulären Maßnahmen im selben Grade, wie die stets latente Gefahr eines dadurch bewirkten Machtverlusts wächst. So ist es kaum verwunderlich, daß man unleugbare Defizite an staatlichem Handlungsvermögen zumindest partiell auch dem parlamentarischen Regierungssystem anlastet und bereits über Alternativen (Präsidialsystem, Direktorialsystem, Wirtschafts- und Sozialrat) nachzudenken beginnt. Dabei wird man freilich das Argument mangelnder Regierungsstabilität, welches für die Weimarer Republik gegolten haben mag und heute vielleicht noch auf einige süd- und westeuropäische Länder zutrifft, jedenfalls gegen das parlamentarische System der Bundesrepublik nicht mehr ins Feld führen können. Ferner bleibt zu bedenken, ob die gegenwärtig diskutierten Probleme der „Regierbarkeit" nicht zum Teil ihre Ursache darin hatten, daß wegen der lange Zeit unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat de facto eine Allparteienkoalition bestand, deren Kompromisse — häufig erst im Vermitdungsausschuß geschlossen — eine klare und zielstrebige Regierungspolitik nicht selten bis zur Unkenntlichkeit verwässerten. Schließlich ist gerade das parlamentarische System in besonderer Weise geeignet, Interessen zu kanalisieren, Protest zu absorbieren sowie Konfliktpotential über das Verfahren der Mehrheitsbildung, des Minderheitsschutzes und nicht zuletzt des politischen Machtwechsels zu integrieren, sofern die für den

292

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Parlamentarismus typische Bipolarität der politischen Willensbildung tatsächlich wirksam wird und rechtlich hinreichend abgesichert ist. Daß es hierzu weiterer, vielleicht sogar grundlegender Reformen des Parlamentarismus bedarf, soll nicht geleugnet werden. Bevor jedoch der Nachweis mangelnder Reformfähigkeit des parlamentarischen Systems nicht eindeutig erbracht ist, erscheint der Ruf nach institutionellen Alternativen aus Sorge um die „Regierbarkeit" des Gemeinwesens nicht nur verfrüht, sondern verfehlt.

c) Zukunftseignung des

Parlamentarismus

Ernster zu nehmen sind dagegen warnende Stimmen, welche die Zukunftseignung des parlamentarischen Systems selbst bezweifeln, d. h. seine Fähigkeit, langfristige politische Perspektiven zu entwickeln, künftige soziale Probleme und Konflikte frühzeitig zu erkennen sowie Auswirkungen und Folgen politischer Entscheidungen über den Tag oder die Wahlperiode hinaus für Jahrzehnte, vielleicht sogar für nachfolgende Generationen, mitzuberücksichtigen. Zwar ist das Faktum dauerhafter und irreversibler Konsequenzen von politischen Optionen als solches keineswegs neu und unter dem Stichwort „Sachzwänge" hinlänglich bekannt. Aber es dürfte nicht nur die Zahl solcher zukunftswirksamen Festlegungen erheblich gestiegen sein, sondern auch das Risiko ihres Fehlschlags und das Ausmaß der damit verbundenen Gefahren. Auf diese Weise drohen Entscheidung und Verantwortung bzw. Kontrolle im parlamentarischen System nicht nur personell, sondern auch sachlich und zeitlich immer stärker auseinanderzufallen. Wer über politische Gestaltungsmacht verfügt, wird meist von den Folgen seines Handelns nicht (mehr) betroffen, und wer davon betroffen ist, besitzt in der Regel (noch) kaum Einflußmöglichkeiten. So kann der demokratische Parlamentarismus leicht zum elitären Paternalismus verkümmern, dessen ebenso gut gemeintes wie schwer realisierbares Wohlfahrtsstreben häufig genug diffuser Anlaß für ein überzogenes Anspruchsdenken, aber auch für mehr oder weniger berechtigte Kritik in der jungen Generation ist. Will man solchen paternalistischen Tendenzen in der Politik begegnen, dann wird man zunächst feststellen müssen, daß sie keineswegs zu den spezifischen Eigentümlichkeiten des parlamentarischen Systems gehören, geschweige denn einen entsprechenden Strukturdefekt signalisieren. Vielmehr erscheint gerade der parteienstaatliche Parlamentarismus hinreichend wandlungsfähig und flexibel, um Zukunftsprobleme in verantwortlicher Weise zu bewältigen, d. h. bei unsicherer Prognose gegebenenfalls auch offen zu lassen. Zur besseren Einschätzung langfristiger Folgen und Risiken politischer Entscheidungen bietet sich im parlamentarischen Bereich die häufigere Bildung und institutionelle Aufwertung gemischter Enquete-Kommissionen (bestehend aus Sachverständigen und Politikern) an, die mit einem Initiativrecht gegenüber dem Parlament ausgestattet werden könnten. Probleme, die vor allem künftige Generationen betreffen, müssen in besonderen Hearings unter bevorzugter Beteiligung von Jugendvertretern erörtert werden. Innerhalb der politischen Parteien sind den Nachwuchsorganisationen ebenfalls stärkere Mitwirkungsmöglichkeiten einzuräumen, unter Umständen sogar feste Quoten bei der Besetzung von Parteiäm-

2. Abschnitt. Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

293

tern. Nicht zuletzt verlangt insbesondere das parlamentarische System nach struktureller Offenheit des demokratischen Prozesses in die Zukunft hinein, wobei dieser seinerseits Gewaltenteilung, Dezentralisation politischer Entscheidungen, Subsidiarität staatlichen Handelns und vor allem die Chance der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des einzelnen in freier, autonomer Lebensgestaltung unverzichtbar voraussetzt. Unter diesen Bedingungen kann auch die Zukunft des parlamentarischen Systems als gesichert gelten, weil es dann untrennbar verbunden bleibt mit freiheitlicher Demokratie.

3. Abschnitt

Wahlrecht ECKART SCHIFFER

I. Die Wahl in der Verfassungsordnung 1. Wesen und Funktion der Wahl Wahl ist im öffentlichen Recht die Bestellung eines Repräsentanten oder eines Organs durch eine Personenmehrheit oder einen Verband. Uber die Personenbestimmung und die Bekleidung mit Befugnissen hinaus ist sie Übertragung von Legitimation, von Wählervertrauen, als realer Grundlage von Autorität. In der parlamentarischen Demokratie übt das Volk die Staatsgewalt aus (Art. 20 Abs. 2 GG) mittels Bestellung einer ablösbaren Herrschaft auf Zeit durch ein Repräsentativorgan: die Volksvertretung, das Parlament 1 . Unter dem Grundgesetz ist das Parlament nicht nur Gesetzgeber und ,Forum der Nation', es bestellt auch die Regierung(sspitze, den Bundeskanzler). Die Parlamentswahl ist der für das staatliche Leben konstituierende Akt. Das Recht der Wahl ist durch ihre Zweckbestimmung geprägt: a) das politische Meinungsbild sichtbar zu machen, b) den Mehrheitswillen zur Geltung zu bringen, in einer Weise, die c) die Handlungsfähigkeit des Staates durch Bildung einer Regierung ermöglicht 2 , aber d) dem Volk die reale Chance offenhält, Kontrolle und Korrektur der Staatswillensbildung später durch Wahl einer politischen Alternative zu verwirklichen. Das Grundgesetz regelt das Bundestagswahlrecht (Art. 38, 39, 41, 48 Abs. 1 und 2, 115h, 137 Abs. 1, 144 Abs. 2). Es statuiert ferner Grundprinzipien des Wahlrechts für die Volksvertretungen in den Ländern, Kreisen und Gemeinden (Art. 28 Abs. 1, 137); im übrigen ist insoweit die Ausgestaltung des Wahlrechts (auch in den Gemeinden) Aufgabe und Zuständigkeit des Landesgesetzgebers. Der Bundesgesetzgeber regelt das Bundestagswahlrecht (Art. 38 Abs. 3 GG) und — einstweilen — das Europawahlrecht durch Erlaß des Europawahlgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland 3 . Parlamentswahlen sind Akte der Selbstorganisation 1

Zum Grundsätzlichen: K. HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland 13. Aufl. (1982) S. 55ff.

2 3

Dazu BVerfGE 51, S. 222, 236. BVerfGE 51, S. 222, 234.

296

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

der Staatsgewalt, so auch die Bundestagswahl eine solche des Bundes. Die Verwaltungshilfe der Länder im Rahmen der Organisation der Bundestags- und der Europawahl ist keine Gesetzesvollziehung durch die Länder als deren „eigene Angelegenheit" i. S. d. Art. 84 G G : Diese Bundesgesetze bedürfen nicht der Zustimmung des Bundesrates4, verfassungspolitisch auch deshalb sinnvollerweise, weil der Wahlmodus des unitarischen nicht vom Konsens des föderativen Verfassungsorgans abhängen darf. Das Wahlrecht zu anderen öffentlich-rechtlichen Vertretungskörperschaften als Volksvertretungen wird im Grundgesetz nicht ausdrücklich angesprochen. Dessen Wahlrechtsgrundsätze für Volksvertretungen (insbesondere die Wahlrechtsgleichheit) sind grundsätzlich auch insoweit heranzuziehen5. Jedoch wird das Maß von deren Anwendbarkeit evtl. modifiziert durch positives Gesetzesrecht oder im übrigen bei einem andersartigen Aufgabenzuschnitt der zu wählenden Vertretung (im Sinne z . B . mittelbarer oder/und Gruppenwahl). 2. Wahlrechtsgrundsätze und Wahlsystem Das Wahlsystem wird im Grundgesetz für Bundestagswahlen (Art. 38) — wie für alle Wahlen zu Volksvertretungen in Ländern, Kreisen und Gemeinden (Art. 28 Abs. 1 S. 2) — durch die Wahlrechtsgrundsätze: allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim — bestimmt, so bereits für die Wahlen zum Reichstag der Weimarer Reichsverfassung (Art. 22 WRV). Sie gelten umfassend für Wahlberechtigte, Wahlvorschlagsträger und Bewerber und grundsätzlich für das gesamte Wahlverfahren einschließlich der Wahlvorbereitung und parteiinternen Kandidatenaufstellung. Sie bedürfen der Ausprägung durch einfaches Gesetz (Art. 38 Abs. 3 GG). Differenzierungen sind verfassungsrechtlich nur bei besonderer, zwingender Rechtfertigung zulässig6. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl — eine Ausprägung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 G G (vgl. unten S.297, 306) — gewährleistet jedermann die staatsbürgerliche (vgl. unten S. 306) Teilnahme an der Wahl als der Bildung des Staatswillens und der Legitimierung der Staatsgewalt7. Er wird in bezug

4

5

6

So — gegen dessen Auffassung — die ständige Staatspraxis. Vgl. dazu W. SCHREIBER Kommentar zum BWG, 2. Aufl. (1980) S. 48 und N J W 1979 S. 2189. Für Europawahl: BVerfGE 51, S. 222, 234f; Sozialwahlen: BVerfGE 30, 227, 246; Selbstverwaltungsorgane der Hochschulen: BVerfGE 39, 247, 254; Richtervertretungen: BVerfGE 41, 1, 13; Personalvertretungen: Bay VerfGH, V G H E 29 II, 154, 158 ff. Aufführung der vollständigen Rspr. des BVerfG z . B . bei W. SCHREIBER Kommentar B W G (Fn. 4) S. 63; 65, 80ff, 102f; K. H. SEIFERT Bundeswahlrecht (1976) S. 53ff.

7

Dazu: J. FROWEIN Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht, in: A Ö R Bd. 99 (1974) S. 101 ff; G. KISKER Zur Bedeutung und zum Geltungsbereich des Grundsatzes der formalen Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl, in: Festschrift für W. MALLMANN zum 70. Geburtstag (1978) S. 103 ff; H.-J. RINCK Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl als Wegbereiter zu einem zeitgemäßen Verständnis der Menschenwürde, in: Festschrift für W. GEIGER zum 65. Geburtstag, (1974) S. 677.

3. Abschnitt. Wahlrecht

297

(SCHIFFER)

auf den Erfolgswert der Wahlbeteiligung ergänzt durch den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Wesentlich ist der Allgemeinheit, daß sie nach bestehenden sozialen Unterschieden nicht differenziert 8 , etwa zuungunsten von Empfängern von Armenunterstützung 9 oder der Frauen 10 . Vielmehr sind die sachlichen (vgl. unten S. 307) wie die verfahrensmäßigen (vgl. unten S. 310) Voraussetzungen der Teilnahme an der Wahl im Sinne einer formalen Allgemeinheit auszugestalten. Anforderungen, denen nicht jedermann genügen kann, bedürfen zwingender Rechtfertigung 11 . Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert den gleichen Zählwert jeder Wählerstimme und, allerdings nach Maßgabe der Struktur des Wahlsystems den gleichen Erfolgswert der Wahlbeteiligung. Er ergänzt insoweit den Grundsatz der Allgemeinheit 12 . Er gilt umfassend: Personell für die Wähler, die Wahlbewerber und die gewählten Mandatsträger 13 , die Wahlvorschlagsträger (soweit diese Parteien sind, vom BVerfG aus Art. 3 und 21 GG abgeleitet 14 — mit der Konsequenz, daß ihnen nach Einzug in die Volksvertretung grundsätzlich Fraktionsstatus zusteht), und nicht zuletzt zugunsten ihrer Wähler 15 sowie sachlich für Wahlvorbereitung, Wahlkampf und das gesamte „Vorfeld" der Wahlen ebenso wie für das eigentliche Wahlverfahren und die Zuteilung und die Ausübung der Mandate. Die Gleichheit der Wahl ist formalisiert auszugestalten; Durchbrechungen sind nur bei besonderer, zwingender Rechtfertigung zulässig 16 . Die Gleichheit der Wahlchancen erfordert nicht, vorgegebene Ungleichheiten der Wettbewerbschancen von Wahlbewerbern und Wahlvorschlagsträgern durch staatliche Maßnahmen auszugleichen 17 , verbietet andererseits, sie durch Verschärfung zu verfälschen 18 . Anders als die Weimarer Reichsverfassung in Art. 22 enthält das Grundgesetz (weder in Art. 38 noch in Art. 28) keine Festlegung auf ein Wahlsystem. Bei Bindung an die Wahlrechtsgrundsätze der Art. 28 und 38 G G sind die Gesetzgeber in Bund und Ländern in der Ausgestaltung des Wahlsystems grundsätzlich frei. Sie können sich für das Verhältnis- oder ein Mehrheitswahlsystem entscheiden und — in Grenzen — auch ein Kombinationssystem festlegen, soweit eine Folgerichtigkeit der Grundstruktur des Systems dabei nicht beeinträchtigt und die Chancen der Parteien dadurch nicht vermindert oder verfälscht werden 19 .

8

9

10 11

12

So BVerfGE 44 S. 125, 143; 36, 139, 141; 15, 165, 166 f. Wie das Preußische Wahlrecht von 1849 bis 1918. Wie das deutsche Wahlrecht bis 1918. Rechtsprechung aufgeführt z.B. bei W. S C H R E I B E R Kommentar BWG (Fn. 4) S . 6 5 und K . H . SEIFERT Bundeswahlrecht ( 1 9 7 6 ) (Fn. 6 ) S . 42. Praktisch ist die Wahlgleichheit sogar der bedeutsamste aller Wahlrechtsgrundsätze, so mit Recht K. H . S E I F E R T (Fn. 6) S . 50f. Zu

13 14 15

16

beiden Wahlrechtsgrundsätzen vgl. ferner Fn. 6. BVerfGE 41, S. 399, 413. BVerfGE 47, S. 198, 225; 52, S. 63, 88f. So auch — mit Darlegung des kontroversen Meinungsstandes — W. S C H R E I B E R Kommentar zum BWG (Fn. 4) S. 85. Rechtsprechung aufgeführt z.B. bei W. S C H R E I B E R , Kommentar zum BWG (Fn. 4) S . 80.

17 18 19

Vgl. etwa BVerfGE 52, S. 63, 89. BVerfGE 52, S. 63, 89, 99. BVerfGE 6, 84, 90; 11, 351, 362.

298

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

In einigen Ländern ist das Wahlsystem in der Verfassung festgelegt: BadenWürttemberg: Art. 28 Abs. 1; Bayern: Art. 14 Abs. 1; Rheinland-Pfalz: Art. 80 Abs. 1; Saarland: Art. 66 Abs. 1 S. 2. Die Wahlsysteme sind in den Ländern recht unterschiedlich und müssen daher hier außer Betracht bleiben. Verständnis und rechtspolitische Beurteilung des Bundestagswahlsystems setzen einige allgemeine Bemerkungen zu den Strukturmerkmalen von Verhältniswahl und Mehrheitswahl voraus20. Die Verhältniswahl hat zum Ziel, die sich jeweils in Bewerberlisten repräsentierenden unterschiedlichen politischen Strömungen (Gruppierungen) dem Wählerstimmenanteil entsprechend mit Parlamentssitzen zu versehen. Sie hat die folgenden Eigentümlichkeiten in Struktur und Wirkungsweise: a) Die Verhältniswahl gibt auch den in der Wählergunst schwächeren Gruppierungen eine Chance, soweit deren Stimmenanteil innerhalb des (Listen-)Wahlkreises wenigstens einem Parlamentssitz entspricht. Jeder Stimme kommt so nicht nur der gleiche Zählwert, sondern auch der gleiche Erfolgswert zu. b) Listen derselben Gruppierung in verschiedenen (Listen-)Wahlkreisen sind vielfach 21 überregional für die Verteilung der Sitze verbunden. Dadurch können auf eine Liste entfallende Stimmen, die im Listenwahlkreis keinen Sitz mehr erbringen, noch verwertet werden: „Überregionaler Stimmenausgleich". Eine unterschiedliche Größe der Listenwahlkreise ist damit für den Erfolgswert der Wählerstimmen irrelevant. c) Die reine Verhältniswahl bewirkt damit weitestmöglich eine maßstäbliche Abbildung aller politischen Strömungen und deren umfassendste Repräsentation im Parlament. Sie behindert nicht die Chancen für Neugründungen und Abspaltungen von Parteien. Dem Verhältniswahlsystem wird deshalb Ursächlichkeit für die Parteienvielfalt (Parteienzersplitterung) im Weimarer Reichstag (ihm gehörten bis zu 15 Parteien an) angelastet. Eine Übertragung dieser Annahme auf die Gegenwart hätte indessen den heute ungleich größeren Einfluß der Massenmedien auf die Bildung der öffentlichen Meinung in Rechnung zu stellen, der in starkem Maße integrationsfördernd wirkt. d) Die Tatsache, daß die Verhältniswahl ein Votum für eine von einer Partei zusammengestellte Liste von Personen, mithin für ein Produkt organisierten Gruppenhandelns, und nicht, wie bei der Mehrheitswahl, für einen einzelnen Bewerber fordert, gibt ihr das Gepräge größerer Organisationsbezogenheit. Indessen darf nicht verkannt werden, daß auch ein Bewerber in einer Mehrheitswahl rechtlich und tatsächlich regelmäßig auf die vorbereitende Unterstützung durch eine Gruppe angewiesen ist. Da „selten weniger als zwei Fünftel der Wählerstimmen eines Wahlkreises ausreichen, um schlecht und recht die einfache Mehrheit zu errin-

20

Neueste Literatur-Zusammenstellung bei W. SCHREIBER K o m m e n t a r z u m B W G ( F n . 4 ) S.

108 und in der Fußnote 175 auf S. 1 1 1 ; darüber hinaus I. v. MÜNCH Grundgesetz — K o m m e n t a r Bd. 2 (1976) Rdn. 44 zu A r t . 38.

21

So nach § 7 B W G i.V. mit § 29 BWG, nicht aber in Bayern, Bremen und Rheinland-Pfalz; dazu E. RÖPER Die 5 % Klausel im Wahlrecht von Bund und Ländern, DÖV 1980 S. 327, und BVerfGE 34, S. 81, 99.

299

3. Abschnitt. W a h l r e c h t (SCHIFFER)

gen" 2 2 , wird regelmäßig nicht so sehr die Kraft der Persönlichkeit der Bewerber als die effektive Unterstützung durch eine Gruppierung den Ausschlag für den Erfolg der Wahlbewerbung geben, e) Da die Verhältniswahl nicht systemtechnisch auf die Hervorbringung programmatisch integrierter Mehrheiten angelegt ist — wie durchweg, wenn auch nicht zwangsläufig, die Mehrheitswahl — „wird die Notwendigkeit der [programmintegrierten] Mehrheitsbildung aus dem Bereich der Wählerschaft in den der parlamentarischen Willenserzeugung verschoben"23. Neben den Parteiprogrammen gewinnen daher Koalitionsvereinbarungen entscheidendes Gewicht. Daß letztere durchweg nach der Wahl ausgehandelt zu werden pflegen und so dem Wählervotum nicht zugänglich sind, wird jedoch vielfach durch Koalitionsaussagen der Parteien vor der Wahl kompensiert. Das Mehrheitswahlsystem prämiert demgegenüber nur den Bewerber mit den meisten Stimmen im Wahlkreis. Es läßt die für den unterlegenen Bewerber abgegebenen Stimmen völlig unberücksichtigt. Das Mehrheitswahlsystem gibt es in zwei Hauptvarianten: Bei der relativen Mehrheitswahl (z.B. in Großbritannien) genügt die einfache Mehrheit der Stimmen, die im Verhältnis zur Gesamtzahl der Stimmen eine deutliche Minderheit sein kann. Bei der absoluten Mehrheitswahl (z.B. in Frankreich für die nationalen Wahlen 2 4 ; früher bei den Wahlen zum Paulskirchenparlament und bei den Reichtstagswahlen bis 1918) ist gewählt, wer die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt oder, falls diese im ersten Wahlgang nicht erreicht wird, in einer weiteren Stichwahl die relative Mehrheit erhält. Die Mehrheitswahl hat folgende Eigentümlichkeiten: a) Bei gleichem Zählwert und gleicher Erfolgschance aller Stimmen ist ihr Erfolgswert unterschiedlich danach, ob die Stimme zur Mehrheit oder zur Minderheit im Wahlkreis zählt. Bei der Wahl 1951 in Großbritannien erhielt z. B. die Konservative Partei bei insgesamt weniger Stimmen mehr Mandate als die Labour-Partei. b) Da dem Mehrheitswahlsystem ein überregionaler — über den Wahlkreis hinausreichender — Stimmenausgleich wesensfremd ist, fehlt insoweit das Korrektiv dafür, daß einmal der Erfolgswert der Stimmen in kleineren Wahlkreisen größer ist als in größeren und daß zum anderen allein durch den Zuschnitt der Wahlkreise die Mehrheitschancen beeinflußt werden können (Wahlkreisgeometrie). c) Es läßt sich allgemein feststellen, daß es im Mehrheitswahlrecht kleinen, insbesondere neuen Parteien sehr erschwert ist, in den Block der großen Parteien einzudringen 25 .

22

H.

JÄCKEL D i e

politische

Bedeutung

der

24

Wahlsysteme, in: Festschrift für K . LOEIPENSTEIN

aus

Anlaß

seines

80.

23

K.

BRAUNIAS D a s parlamentarische

recht, II. B a n d ( 1 9 3 2 ) S. 2 5 .

sätzen gewählt. "

Wahl-

Europä-

ischen Parlament nach Verhältniswahlgrund-

Geburtstages

( 1 9 7 1 ) S. 2 4 1 , 2 4 3 .

Dagegen wird in Frankreich z u m

B V e r f G E 5 1 , S. 2 2 2 , 2 5 3 f .

300

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

d) Das relative Mehrheitswahlrecht ,,begünstigt das Zweiparteiensystem und wirkt deshalb in besonderem Maße hemmend gegenüber Dritt- und Splitterparteien"26. e) Die Mehrheitswahl fördert — die absolute Mehrheitswahl durch die Stichwahl, die relative praktisch wegen der geringen Erfolgsaussicht kleinerer Gruppierungen — die Programmintegration durch Identifikation mit den Bewerbern. Indessen kann die Kehrseite der Reduzierung der politischen Kräftegruppen im Parlament, wenn sie mehr der Wahlsystemtechnik als wirklicher Integration zu verdanken ist, eine verschärfte Opposition außerhalb des Parlaments sein. Aber auch die relative Mehrheitswahl bietet keine sichere Gewähr für eine stabile Parlamentsmehrheit: So ergab sich z.B. bei der Wahl 1974 in Großbritannien als Sitzverteilung: Labour 301, Konservative 296, Liberale 14, Sonstige 24. f) Da das Votum bei der Mehrheitswahl nur einem Bewerber, nicht einer Liste gegeben wird, kommt dessen Persönlichkeitsbild größeres Gewicht zu als bei der Listenwahl. Die Bundeswahlgesetze seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland sind geprägt durch ein mit Strukturelementen der Personenwahl ergänztes Verhältniswahlrecht. Die Übernahme des reinen Verhältniswahlrechts nach Weimarer Muster wurde schon im Ausschuß für Wahlrechtsfragen des Parlamentarischen Rates zugunsten einer „vernünftigen Synthese" abgelehnt27. Nach dem „ersten" Bundeswahlgesetz vom 15. 6. 1949 (BGBl. I S. 21) wurden mit einer Stimme 60% der Abgeordneten in Einer-Wahlkreisen und 40% im Verhältnisausgleich über Listen gewählt. Das „zweite" Bundeswahlgesetz vom 8. 7. 1953 (BGBl. I S. 470) sah vor, daß mit je einer Stimme die Hälfte der Abgeordneten in Wahlkreisen mittels relativer Mehrheit und die andere Hälfte über Landeslisten nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt wurde, jedoch ohne Verhältnisausgleich (sog. „Grabensystem"). Das darauffolgende „dritte" Bundeswahlgesetz vom 7. 5. 1956, das, nach mehrfachen Änderungen, noch heute gilt26, sieht folgendes System „einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl" (§ 1 Abs. 1 S. 2 BWG) mittels 2 Stimmen (§ 4 BWG) vor: a) Im Ergebnis wird die Hälfte der Abgeordneten29 aufgrund von Vorschlagslisten der Parteien für den Bereich eines Landes — „Landeslisten" — (§§ 1 Abs. 2, 27 BWG) nach dem Vehältnis der auf diese entfallenden (Zweit-)Stimmen gewählt (§ 6 BWG) 3 0 .

26 27

28

BVerfGE 51, S. 222, 253 f. Vgl. E. LANGE Der Parlamentarische Rat und die Entstehung des ersten Bundestagswahlgesetzes, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1972 S. 287, 298ff, 310ff. Bundeswahlgesetz (BWG) vom 7. Mai 1956 (BGBl. I S. 383) in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. September 1975 (BGBl. I S. 2325) und 4. August 1976 (BGBl. I S. 2133,

29

30

2799), geändert durch das 5. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 20. Juli 1979 (BGBl. I S. 1149) 1776; BGBl. 1980 I S. 80, 541). 2 48, ohne die der Rechtslage Berlins entsprechend gewählten 22 Abgeordneten (Art. 144 Abs. 2 GG und § 1 Abs. 2 mit § 53 BWG). Besonderheiten, die sich aus § 6 Abs. 1 S. 2 und 3 BWG ergeben können, bleiben in die-

3. Abschnitt. Wahlrecht (SCHIFFER)

301

b) Zwischen mehreren Landeslisten derselben Partei findet grundsätzlich ein überregionaler Stimmenausgleich statt (§§ 7, 29 BWG). c) Die andere Hälfte der Abgeordneten29 wird in Einer-Wahlkreisen gewählt aufgrund von Kreiswahlvorscblägen (§ 1 Abs. 2, 20 BWG), in denen Parteien oder Gruppen von Wahlberechtigten (§18 Abs. 1 BWG) jeweils einen Bewerber je Wahlkreis benennen können (§ 20 BWG). Gewählt ist der Bewerber mit den meisten Stimmen (§ 5 S. 2 BWG). d) Die Verteilung der Sitze nach dem Verhältniswahlgrundsätzen geschieht derart, daß die Gesamtzahl der Abgeordnetensitze auf die Landeslisten (§ 6 Abs. 1 S. 4 BWG), in der Regel auf die Listenverbindungen der einzelnen Parteien (vgl. § 7 Abs. 1 und 2 BWG), entsprechend der für sie abgegebenen Zweitstimmen verteilt wird (Bundesproporz); anschließend werden die auf die jeweilige Listenverbindung entfallenden Sitze entsprechend den Zweitstimmenergebnissen der jeweiligen Partei in den einzelnen Ländern weiter verteilt (Landesproporz) und schließlich von dieser Zahl die Zahl der errungenen Wahlkreismandate abgezogen (§ 6 Abs. 2 BWG), so daß die Mandate der Parteien insgesamt sich im Verhältnis der Zweitstimmen ausgleichen (Reststimmenausgleich; dieser macht das System zum Verhältniswahlsystem, BVerfGE 8, S. 84, 90, 95). e) Ein evtl. Mehr an Wahlkreismandaten einer Partei verbleibt dieser (Überhangmandate, § 6 Abs. 3 BWG); die gesetzliche Mitgliederzahl des Bundestages erhöht sich dann entsprechend. Ein Überhangmandat kann entstehen, wenn von der Möglichkeit der Erststimme für einen Wahlkreisbewerber und der Zweitstimme für eine Parteiliste in parteipolitisch unterschiedlichem Sinne gehäuft Gebrauch gemacht wird. Geschähe dies mit Erfolg organisiert in der Absicht, einer Parteienkoalition insgesamt zu einem Mehr an Sitzen zu verhelfen — abgestimmtes Handeln beider Seiten erfordernd —, wäre der Zweck des Zwei-Stimmensystems, eine personenbezogene Entscheidung, mißbraucht und eine Wahlanfechtung möglich 31 . f) Zur Vorbeugung gegen eine Parteienzersplitterung im Bundestag sieht das BWG Sperrklauseln vor. Danach werden bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten nur solche Parteien berücksichtigt, die mindestens 5% der gültigen Zweitstimmen im Wahlgebiet erhalten (§ 6 Abs. 4 BWG, 5% Klausel!) oder mindestens 3 Wahlkreissitze errungen haben (§ 6 Abs. 4 BWG, Grundmandatsklausel). Dies gilt nicht für Listen nationaler Minderheiten. Für diese Regelung, die bereits im Parlamentarischen Rat erörtert wurde und ähnlich in den früheren Bundeswahlgesetzen enthalten war sowie im Wahlrecht aller Bundesländer — z.T. sogar in den Verfassungen — enthalten ist 32 , waren die Erfahrungen der Weimarer Zeit (bis zu 15 Reichstagsparteien) bestimmend. Obgleich Durchbrechung der Wahlgleichheit, werden Sperrklauseln im Prinzip und

ser Darstellung außer Betracht, dazu W.

31

So zutreffend W. SCHREIBER Kommentar

32

Zusammenstellung bei E. RÖPER (oben Fn.

SCHREIBER K o m m e n t a r z u m B W G ( F n . 3 ) S .

143.

z u m B W G (Fn. 4) S. 137 m . w . N . 2 1 ) , S. 3 2 7 .

302

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

in bezug auf das 5% Quorum in ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung und in ganz herrschender Literaturmeinung für zulässig erachtet33. Neuerdings wieder wird indessen die historische Berechtigung der Motivierung, die verfassungspolitische Erforderlichkeit und Legitimität der Sperrklausel (mit erwägenswerten Argumenten), und sogar deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit (insoweit aber nicht überzeugend), bezweifelt34. Die Funktionsfähigkeit — und nicht allein die Existenz — der parlamentarischen Demokratie ist jedoch ein Wert so kardinalen Ranges, daß es jedenfalls in der Befugnis der Gesetzgeber stehen (bzw. verbleiben) muß, frei von sachfremder Absicht im Rahmen vertretbarer Einschätzung der Erforderlichkeit und unter Ausschluß des Übermaßes das Instrument der Sperrklauseln einzusetzen. Insgesamt erweist sich das geltende Bundestagswahlrecht als ein Wahlsystem, das einerseits Vorzüge der Verhältniswahl — vor allem die umfassende Repräsentation des politischen Spektrums und die Wahlgleichheit auch in bezug auf den Erfolgswert der Stimme — verknüpft und anreichert mit einem Vorzug der Mehrheitswahl, nämlich dem personalen Bezug zum Wahlkreisbewerber, und das andererseits dem der Verhältniswahl zugeschriebenen Nachteil gegenüber der Mehrheitswahl — geringeres Hinwirken auf Regierungsbildungsmehrheiten — mittels der Sperrklauseln auf insgesamt schonendere Weise entgegenwirkt als diese. Selbst Befürworter eines Zweiparteien-Systems können im Hinblick auf die parlamentarisch-politische Situation im Sommer 1980, in dem 3 von 11 Landesparlamenten von nur noch 2 Parteien gebildet werden, das — dort im Prinzip z.T. mit Modifikationen geltende — Verhältniswahlsystem nicht mehr als grundsätzliches Hemmnis werten. So ist es wohl nicht nur dem Umstand des Zusammengehens von SPD und F.D.P. in der Bundesregierung seit 1969 zuzuschreiben, daß es inzwischen still geworden ist um die Ablösung des geltenden Wahlrechtssystems im Bunde zugunsten der reinen oder einer modifizierten Mehrheitswahl. In der 5. Wahlperiode, in der Zeit der großen Koalition aus CDU, CSU und SPD, hatte es ernstliche Reformüberlegungen gegeben, das Wahlsystem zu ändern nach den Modellen der relativen Mehrheitswahl oder einer Wahl in Dreier- oder Vierer-Wahlkreisen (auch Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen genannt: in den Wahlkreisen sollten 3 oder 4 Abgeordnete nach Grundsätzen der Verhältniswahl, ohne einen überregionalen Stimmenausgleich über den Wahlkreis hinaus, gewählt werden) oder einer Mehrheitswahl mit Ergänzungsparteilisten, aufgrund derer 20% der Mandate als Zusatzmandate nach dem Verhältnis der Wahlkreismandate zugeteilt werden sollten, um den Parteien die Entsendung

33

Neueste Zusammenstellung bei W . SCHREIBER Kommentar zum B W G (Fn. 4) S. 157; außerdem D . MURSWIEK Die Verfassungswidrigkeit der 5%-Sperrklausel im Europawahlgesetz, J Z 1979 S. 4 8 f f und B V e r f G E 51, 2 2 2 , S. 3 3 3 f f ; a. A . zuletzt M . ANTONI Grundge-

setz und Sperrklausel, 30 Jahr 5 % - Q u o r u m - Lehre aus Weimar? ZParl. 1980, S. 94, 100; zu den Zulässigkeitsgrenzen für das Q u o r u m bei W . SCHREIBER a a O (Fn. 4) S. 157 und bei M . ANTONI aaO S. 101. 34

M . ANTONI (Fn. 33).

303

3. Abschnitt. Wahlrecht (SCHIFFER)

unentbehrlicher, aber als Wahlkreisbewerber chancenloser Politiker zu ermöglichen 35 . An dem System der mit einer Personenwahl verbundenen Verhältniswahl, das im Bunde inzwischen in nahezu einem Vierteljahrhundert zum stabilen Element der staatsrechtlichen Struktur geworden ist, sollte auch künftig festgehalten werden. Es könnte sogar angezeigt sein, das System im GG festzulegen, wenn auch — in Respektierung der Abweichungen der Wahlrechtsgestaltung in den Ländern — nur für den Bund in Art. 38 GG. Die Trias der Wahlrechtsgrundsätze Freiheit, Geheimhaltung und Unmittelbarkeit ergänzt sich untereinander zur Garantie der inhaltlichen Unverfälschtheit der Wählerstimme. Freiheit der Wahl ist die Gewähr der Freiheit der Entschließung für alle Wahlbeteiligten: Wähler, aber auch Wahlbewerber und Wahlvorschlagsträger36, vor Einflußnahme durch die öffentliche Hand, Parteien oder Private mittels Druck oder Kontrolle, sich an der Wahl zu beteiligen oder auch nicht zu beteiligen, unbeschadet der Zulässigkeit wahltechnisch notwendiger Einschränkungen37. Durch — in einer Massendemokratie notwendige — Wahlwerbung kann die Freiheit der Wahl berührt sein, wenn sie mit der Androhung von Sanktionen verbunden wird, z.B. von Kirchen oder Verbänden; bei amtlichen Stellen ist allerdings bereits eine parteiergreifende Wahlbeeinflussung ohne Sanktionsdrohung als Verstoß gegen die Chancengleichheit unzulässig38. Die Geheimhaltung bezieht sich einmal auf die Wahlhandlung selbst: eine Stimmerklärung zu Protokoll (wie in der Verfassung der französischen Revolution und im Preußischen Wahlrecht von 1849—1918) ist ebenso unzulässig wie die Nichtbenutzung von Zellen der Urnen wähl. Im Interesse des Wählers ist diesem ein Verzicht auf die Geheimhaltung bei der Wahlhandlung versagt. Die Gewährleistung des Wahlgeheimnisses wirkt aber in gewisser Weise auch außerhalb der Wahlhandlung selbst. Wenn auch der Wähler vorher und im nachhinein nicht gehindert ist, sein Stimmverhalten zu offenbaren, so darf er amtlich nicht dazu veranlaßt werden. Erfordernisse der Unterzeichnung von Wahlvorschlägen, wie z.B. in § 20 Abs. 2 und 3 oder § 27 Abs. 1 BWG sind nur zur Gewährleistung einer gewissen Anhängerschaft unter den Wählern und nur im Maße des für eine geordnete Wahldurchführung Unerläßlichen zulässig. Offene Vorwahlen, wie in einigen Staaten der USA, in denen Wahlberechtigte sich in Unterschriftslisten einer Partei zur Unterstützung von Wahlbewerbern eintragen können, ohne Parteimitglied zu sein, wären nach deutschem Recht problematisch. Wählerbefragungen (Nachfragen) von Meinungsforschungsinstituten auch unmittelbar vor und nach dem Wahlgang sind unter dem Gesichtspunkt des Wahlgeheimnisses nicht unzulässig; jedoch ist die

35

36

Schrifttum zur Wahlsystemdiskussion z . B . bei W. SCHREIBER Kommentar BWG (Fn. 4) S. 40. BVerfGE 41, S. 399, 417.

37 38

BVerfGE 7, S. 63, 69; 15, S. 165f. Vgl. vor allem BVerfGE 48 S. 271, 279 f zur regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit.

304

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Veröffentlichung der Ergebnisse von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe vor Ablauf der Wahlzeit durch § 32 Abs. 2 B W G untersagt worden. Die Unmittelbarkeit der Wahl gebietet, daß die Abgeordneten, ohne spätere Zwischenschaltung eines vom Wähler verschiedenen Willens 39 , allein durch die Stimmabgabe der Wähler bestimmt werden, von Handlungen des Gewählten selbst — Nichtannahme, Verzicht — abgesehen. Damit wäre unvereinbar eine Wahl vermittels Wahlmännern, wie im Preußischen Wahlrecht zwischen 1849 und 1918 und wie bei den Präsidentenwahlen in den USA. Vereinbar damit ist die Begrenzung der Wahlmöglichkeit auf eine Mehrheit von Bewerbern in einer „gebundenen" („starren") Liste, nicht vereinbar dagegen die nachträgliche Bestimmung nachrückender Ersatzleute von Seiten einer Partei 40 . 3. Wahlgebiet, Wahlorganisation Entsprechend der Persönlichkeitswahlkomponente des Wahlsystems (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2, § 5 BWG) ist das Wahlgebiet (Bundesgebiet ohne — aufgrund alliierter Vorbehaltsrechte — Land Berlin; für die Wahl der „Berliner Abgeordneten" gilt die besondere Vorschrift des §53 BWG) in Einer- Wahlkreise eingeteilt. Die Wahlkreise sind die territoriale Einheit, innerhalb derer die dort lebende wahlberechtigte Bevölkerung mit der Erststimme nach den Grundsätzen der relativen Mehrheitswahl in der Form einer Persönlichkeitswahl „ihren" Wahlkreisabgeordneten wählt (vgl. §§ 4, 5 BWG). Sie sind in einer — einen Bestandteil des Gesetzes bildenden — Anlage zum B W G im einzelnen festgelegt (vgl. § 2 Abs. 2 BWG). Jede territoriale Änderung eines der insgesamt 248 Bundestagswahlkreise bedarf deshalb grundsätzlich (Ausnahme: § 3 Abs. 4 BWG) eines Bundesgesetzes. Die durchschnittliche Zahl der deutschen Bevölkerung eines Wahlkreises betrug am 1. April 1981 rund 223000. Trotz des Verhältnisausgleichs der Zweitstimmen im Wahlgebiet sind — ähnlich wie bei der Mehrheitswahl — Größe und Zuschnitt der Wahlkreise für Stimmgewicht und Erfolgschancen der Erststimmen für die Wahlkreisbewerber von Bedeutung. Die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises soll daher von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise nicht um mehr als 25 v. H. nach oben oder unten abweichen; beträgt die Abweichung mehr als 33V3 v . H . , ist verfassungsrechtlich zwingend eine Neuabgrenzung vorzunehmen. Als Entscheidungshilfe für den Gesetzgeber, aber auch als Gewähr für eine transparente und objektive Entscheidung der Wahlkreiseinteilung, dient der binnen IV2 Jahren nach Beginn der Wahlperiode des Bundestages dem Bundesminister des Innern vorzulegende Bericht einer ständigen Wahlkreiskommission, die — als parteipolitisch unabhängiges, weisungsfreies Sachverständigengremium — aus dem Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, einem Richter des Bundesverwaltungsgerichts und fünf weiteren Mitgliedern, von denen vier traditionsgemäß von den Ländern benannt werden, besteht. Die Aufgaben der

39

B V e r f G E 2 1 , S. 3 5 5 , 3 5 6 ; 7, S. 6 3 , 6 9 .

STGH, N J W 1 9 7 7 S. 2 0 6 5 und W . SCHREIBER

40

BVerfGE 3, S. 45, 49f; 7, S. 63, 68; 7, S. 77, 84; 21, S. 355f; 41 S. 399, 417; s. auch Hess.

Kommentar B W G (Fn. 4) S. 476.

3. Abschnitt. Wahlrecht (SCHIFFER)

305

Wahlkreiskommission und die — da verfassungsrechtlichen Inhalts, zu einem großen Teil auch den Gesetzgeber bindenden — „Richtlinien" für ihre Arbeit und ihre Vorschläge hat der Gesetzgeber in § 3 BWG im einzelnen normiert. Im Bericht enthaltene Vorschläge können nach unserer Verfassungsstruktur für den Gesetzgeber nicht verbindlich sein. Möglich und erwägenswert erscheint aber, daß dieser — über bestehende Ansätze 41 hinaus — (etwa ähnlich wie bei den „Grundsätzen in Immunitätsangelegenheiten"42 seine Entscheidungsfindung in bezug auf Vorschläge des Berichts an allgemeinen, selbst aufgestellten Verfahrensgrundsätzen orientiert. Zur Ordnung und Erleichterung der Wahlvorbereitung, der Ausübung des Wahlrechts und der Wahlergebnisermittlung und -feststellung sind die 248 Bundestagswahlkreise jeweils in 'Wahlbezirke eingeteilt (vgl. §2 Abs. 3 BWG; §§12, 13 BWO). Diese sind die unterste räumliche Einteilung des Wahlgebietes. Sie bilden die Grundlage für die Aufstellung der Wählerverzeichnisse und die unterste Ebene für die Ermittlung und Feststellung des Ergebnisses der Stimmabgabe. Bei der Bundestagswahl 1980 gab es im Wahlgebiet rund 57000 allgemeine Wahlbezirke. Die wichtigsten Funktionen der Wahlorganisation sind dezentralisiert den Gemeindebehörden (die z.B. für die Aufstellung der Wählerverzeichnisse und für die Erteilung der Wahlscheine für die Briefwahl zuständig sind) und eigens für den Zweck von Bundestagswahlen gebildeten Wahlorganen übertragen. Es entspricht der staatspolitischen Bedeutung der Wahlen, daß sie soweit wie möglich in Selbstorganisation der Wahlbürger durchgeführt werden und daß die Verantwortung für das Wahlgeschäft wo immer möglich weisungsunabhängigen überparteilichen Organen übertragen ist. Diese stehen außerhalb der allgemeinen Behördenorganisation und deren hierarchischer Weisungsgebundenheit, auch außerhalb des VIII. Abschnittes des Grundgesetzes über die „Ausführung der Bundesgesetze" (vgl. oben S. 296) und unterliegen hinsichtlich ihrer Entscheidungen und Maßnahmen ausschließlich der Anfechtung durch besondere im BWG und BWO geregelte Rechtsbehelfe sowie im Wahlprüfungsverfahren (§ 49 BWG; vgl. unten S. 314). Dementsprechend gibt es bei der Vorbereitung und Durchführung der Bundestagswahlen auf allen Ebenen jeweils ein monokratisches und ein kollegiales Wahlorgan, wobei den letzteren — aus dem Kreis der Wahlberechtigten zu berufen (§9 Abs. 2 BWG) — grundsätzlich die Entscheidung über die Gültigkeit von Wahlhandlungen und die Ermittlung des Wahlergebnisses obliegt: im Wahlbezirk den Wahlvorsteher und Wahlvorstand (allgemeiner oder beweglicher Wahlvorstand), im Wahlkreis den Kreiswahlleiter und Kreiswahlausschuß, im Land den Landeswahlleiter und Landeswahlausschuß und auf der Bundesebene den Bundeswahlleiter und Bundeswahlausschuß. Daneben gibt es auf der untersten Ebene noch Briefwahlvorsteher und Briefwahlvorstände zur Ermittlung und Feststellung des Briefwahlergebnisses.

41

Vgl. BT-Drucks. 7/2063 v. 7. 5. 1974 und 8/ 2166 v. 5. 10. 1978. « BGBl. 1980 I S. 1261; ferner „Beschluß des Deutschen Bundestages betr. Aufhebung der

Immunität von Mitgliedern des Bundestages", BGBl. 1980 I S. 1264.

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

306

II. Wahlrecht und Wahlvorschlagsrecht 1. Wahlrecht und Wählbarkeit Aktives Wahlrecht und passives Wahlrecht (Wählbarkeit) sind politische Grundrechte (Art. 38 Abs. 2 GG), nicht nur staatsorganschaftliche Obliegenheiten, was unter der Weimarer Reichsverfassung bis zum Schluß offengeblieben war. Anders als z.B. in Belgien und Luxemburg besteht keine Wahlpflicht (und dennoch ist eine im internationalen Vergleich hohe Wahlbeteiligung die Regel). Art. 38 Abs. 2 G G dürfte (in bezug auf Bundestagswahlen) auch den Wahlrechtsgrundsätzen selbständigen Grandrechtsgehalt verleihen; das BVerfG allerdings bezeichnet die Wahlrechtsgleichheit insoweit etwas undeutlich als stärker formalisierte Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 GG 4 3 . Das Wahlrecht in Bund, Ländern, Kreisen und Gemeinden ist ein staatsbürgerliches Recht (so das Bundesverfassungsgericht 44 und die ganz h.M. 4 5 sowie mehrere Landesverfassungen 46 ). Dies wird in bezug auf die Kommunalvertretungen — ungeachtet der Gleichheit des Bezugs der Vertretung auf das ,Volk' in Art. 28 und Art. 38 GG — in neuerer Zeit gelegentlich in Abrede gestellt. Dabei wird auf die autonome, auch unterschiedliche Aufgabenstruktur der Kommunen, ferner — als Parallele — auf die Zulässigkeit der Mitgliedschaft von Ausländern in anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften (Universitäten, Sozialversicherung) und schließlich — als legitimierenden Zweck — auf das Bedürfnis der Ausländerintegration hingewiesen 47 . Auf der anderen Seite ist zu bedenken, daß im Gegensatz zu den speziellen Zweckwidmungen anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften die Gebietskörperschaften, auch die kommunalen, durch ihren allgemeinen Aufgabenkreis dem staatsbürgerlichen status activus zugeordnet sind. Dafür zeugt die enge rechtliche und tatsächliche Verflochtenheit der kommunalen mit den übrigen staatlichen Ebenen sowohl in der öffentlichrechtlichen Sphäre als auch in derjenigen der Parteien. Dann aber wäre die Zuerkennung eines politischen Wahlrechtes — anders als die z.B. der Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit — an Nichthürger eine Schmälerung des (Stimm-)Rechtes der Staatsbürger, in Gemeinden mit einem Ausländeranteil von 15% sogar eine beträchtliche. Sie müßte ohne ausdrückliche Verfassungslegitimation — wohl auch im Grund-

43 44

45

46

Zuletzt: BVerfGE 48, S. 64, 79; st. Rspr. BVerfGE 51, S. 222 234; s. auch BVerfGE 1 S. 208, 242; 37 S. 217, 241. Vgl. die Literaturzusammenstellung bei W. SCHREIBER Kommentar BWG (Fn. 4) S. 41 Anra. 21. Baden-Württemberg: Art. 25 Abs. 1, 26 Abs. 1, 27 Abs. 1, 28 Abs. 2; Bayern: Art. 4, 7, 8, 12, 14; Berlin: Art. 1 Abs. 1, Art. 2, 26 Abs. 3 und 4; Hessen: Art. 71, 73 Abs. 1, 75 Abs. 1 und 2; Niedersachsen: Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs. 2; Rheinland-Pfalz: Art. 50 Abs. 1, 74

Abs. 2, 75, 76; Saarland: Art. 61 Abs. 1, 63 Abs. 1, 64, 65 Abs. 1. 47

CH.

SASSE/OE.

KEMPEN

Kommunalwahl-

recht für Ausländer, 1974; M. ZULEEG in mehreren Beiträgen: D Ö V 1973 S. 361, DVB1. 1974 S. 341, 347ff; W D S t R L Bd. 32 S. llOff, IZ 1980 S. 425, 429ff; H . v. LÖHNEYSEN Kommunalwahlrecht für Ausländer, D Ö V

1981

S.

330

u.

529;

H.

RITTSTIEG

Wahlrecht für Ausländer, Verfassungsfragen der Teilnahme von Ausländern an Wahlen in der Wohngemeinde, 1981.

3. Abschnitt. Wahlrecht (SCHIFFER)

307

gesetz —, der Art. 79 Abs. 3 nicht entgegenstehen würde, als unzulässig angesehen werden 48 . Unter den im politischen Raum diskutierten Vorschlägen der Einführung des Kommunalwahlrechts für Ausländer dürfte verfassungsrechtlich ehestens diskussionswürdig sein ein Wahlrecht für EG-Ausländer, indem die EG-Staatsvölker als „Staatsvolk im Werden" begriffen werden. Indessen würde diese Betrachtungsweise evidenter sein, wenn sie auf einem Rechtseinheitlichkeit im EG-Bereich erzeugenden Akt einer förmlichen Ergänzung des EG-Vertrages nach dessen Art. 236 fußen könnte. Eine solche Ergänzung des EG-Vertrages dürfte wohl — obwohl nicht unmittelbar EG-gerichtet — nach Art. 24 G G ohne Änderung des G G zulässig sein; Art. 79 Abs. 3 G G würde ihr, wie dargelegt, nicht entgegenstehen. Voraussetzung für die Wahlberechtigung (§12 BWG) und die Wählbarkeit (§15 BWG - die Besonderheit des § 15 Abs. 2 N r . 3 BWG muß hier außer Betracht bleiben —) zum Bundestag ist demgemäß der Status als Deutscher i.S. des Art. 116 Abs. 1 G G . Hier ist indessen bedeutsam, daß § 12 BWG für das aktive Wahlrecht (nicht dagegen § 15 BWG für die Wählbarkeit) Seßhaftigkeit, nämlich Wohnung oder gewöhnlichen Aufenthalt, seit mindestens 3 Monaten im Bundesgebiet voraussetzt. Mit dieser Maßgabe wahlberechtigt sind also auch Deutsche aus der DDR. Dies ist — entgegen der Auffassung der Regierung der D D R — mit dem Grundvertrag vereinbar, zum einen wegen des bekannten Staatsangehörigkeitsvorbehalts 49 , zum anderen deshalb, weil keine Wahlpflicht besteht und niemand deshalb gegen seinen Willen von Seiten der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird. Diese Voraussetzungen sind nach ausdrücklicher Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 50 mit der Verfassung, speziell den Prinzipien der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl, vereinbar. Das gilt im Hinblick auf die Seßhaftigkeitsvoraussetzung auch für den damit verbundenen grundsätzlichen Ausschluß der außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lebenden Deutschen vom Bundestagswahlrecht, ein Thema, mit dem sich der Bundestag seit 1968 in jeder Wahlperiode befaßt hat. Das Erfordernis der Innehabung einer Wohnung oder eines sonstigen gewöhnlichen Aufenthaltes im Bundesgebiet gehört zu den traditionell zulässigen Begrenzungen der Allgemeinheit der Wahl. Auch ist im Hinblick auf die Tatsache der Teilung Deutschlands bei Bestehen einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit in irgendeiner Form eine Anknüpfung an das Bundesgebiet geboten. Die Einbeziehung der auf Anordnung ihres deutschen Dienstherrn im Ausland lebenden Angehörigen des deutschen öffentlichen Dienstes in den Kreis der zum Bundestag Wahlberechtigten (vgl. § 12 Abs. 2 BWG) ist eine sachgerechte, traditionelle Sonderregelung, die den Gesetzgeber verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht verpflichtet, auch anderen

48

Vgl.

Literaturzusammenstellung

bei

W.

SCHREIBER K o m m e n t a r B W G ( F n . 4) S. 4 2 /

43; siehe neuerdings auch H . LEYENDECKER

49

D Ö V 1981, S. 528; J . SENNEWALD, K o m m u -

50

nalwahlrecht für Ausländer? Verw.R 1981 S. 77 ff. BGBl. 1973 II S. 426. BVerfGE 5 S. 2, 6; 36 S. 139, 142; 41 S. 9/12; BVerfGE 51 S. 69, 76.

308

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Personengruppen, etwa den Bediensteten deutscher Staatsangehörigkeit bei internationalen Organisationen (wie z. B. der UNO oder der OECD), das Wahlrecht zu verleihen51. Allerdings hat das BVerfG in einer Entscheidung vom 7. 10. 1981 in einer Wahlprüfungsbeschwerde513 es als naheliegend bezeichnet, „jedenfalls die Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften sowie die Angehörigen ihres Hausstandes künftig dem in § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG umschriebenen Personenkreis gleichzustellen". Indessen dürfte es nunmehr in der 9. Wahlperiode des Bundestages zu einer Zuerkennung des BT-Wahlrechtes auch an alle Deutschen kommen, die in den europäischen Gebieten der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften leben, sofern sie nach dem 23. Mai 1949 und vor ihrem Wegzug mindestens drei Monate ununterbrochen im Geltungsbereich dieses Gesetzes eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben, oder in anderen Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes leben, sofern sie vor ihrem Wegzug mindestens drei Monate ununterbrochen im Geltungsbereich dieses Gesetzes eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben und seit dem Wegzug nicht mehr als eine bestimmte Zahl von Jahren verstrichen sind. Entsprechendes gilt für Seeleute auf Schiffen, die nicht die Bundesflagge führen, sowie die Angehörigen ihres Hausstandes. Einwohner des Landes Berlin erfüllen zwar im Prinzip die Wahlrechtsvoraussetzungen des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWG, sind jedoch im Hinblick auf die Regelung des § 53 BWG derzeit daran gehindert, ihr Wahlrecht unmittelbar auszuüben. Eine Teilnahme von Einwohnern des Landes Berlin an der Bundestagswahl ist ausnahmsweise dann möglich, wenn sie in einem anderen Bundesland eine Nebenwohnung besitzen52. Das Wahlalter ist für Bundestagswahlen im GG (in Art. 38) festgelegt: für das Wahlrecht 18 Jahre, für die Wählbarkeit Volljährigkeit, d. h. im Ergebnis ebenfalls 18 Jahre. In den Landtagswahlgesetzen der Länder wird derzeit — im Sommer 1980 — das aktive Wahlrecht allgemein, das passive überwiegend (Bayern, Berlin, Hessen, Niedersachsen: 21 Jahre) Achtzehnjährigen gewährt. Das Bundeswahlrecht sieht vor, daß durch Richterspruch das Wahlrecht (§12 Abs. 1 Nr. 3 bzw. § 15 Abs. 2 Nr. 1, mit § 13 BWG) - jeweils in im StGB und im BVerfGG besonders vorgesehenen Fällen im Einzelfall — oder nur die Wählbarkeit (§15 Abs. 2 Nr. 2 BWG) - diese nach §45 Abs. 1 StGB auch ipso jure bei bestimmten Strafzumessungen — aberkannt werden kann 53 . (Bis zum Inkrafttreten

51

BVerfGE 36 S. 139, 142f; EuGRZ 1976 S. 348; Beschluß vom 23. Oktober 1979 - 2 BvR 864/79 - (nicht veröffentlicht); zur Diskussion dieses Fragenbereiches im parlamentarischen Raum und Bemühungen zur Gesetzesänderung s. W. SCHREIBER Wahlrecht zum Deutschen Bundestag der außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lebenden Deutschen, DÖV 1974 S. 829, und Wahlrecht der

„Auslandsdeutschen" zum Deutschen Bundestag — ein ungelöstes Problem, VerwR 1980 S . 241. 51 » Abgedruckt in J Z 1981, S. 830, EuGRZ 1981, S. 590. 5 2 Vgl. BVerfGE 40 S. 11, 29ff, 34; s. auch I. v. MÜNCH a a O ( F n . 2 0 ) R d n . 13 z u A r t . 3 8 . 53

Dazu: J. JEKEWITZ Der Ausschluß vom aktiven und passiven Wahlrecht zum Deutschen

3. Abschnitt. Wahlrecht (SCHIFFER)

309

des 1. Strafrechtsreformgesetzes vom 25. 6. 1969 - BGBl. I S. 645 - am 1. 4. 1970 konnten neben einer Verurteilung zu einer Strafe die sog. .bürgerlichen Ehrenrechte' aberkannt werden). § 13 BWG - durch § 12 BWG für das aktive, durch § 15 BWG für das passive Wahlrecht in Bezug genommen — sieht vor, daß in bestimmten Fällen, in denen durch Richterspruch nicht nur vorläufig Schutzmaßnahmen wegen einer Beeinträchtigung der geistigen Handlungsfähigkeit getroffen worden sind, ein Ausschluß vom Wahlrecht eintritt 54 . Die Abgrenzung und Formulierung dieser Ausschlußtatbestände wird mit dem Zuwachs an Erkenntnissen der psychiatrischen Wissenschaften mehr und mehr ein Dilemma für Reformüberlegungen 55 , weil einerseits der Ausschluß von diesem politischen Fundamentalrecht nur in zwingenden Fällen legitim ist, andererseits der Einblick in das Maß individueller geistiger Handlungsfähigkeit schwierig bleibt, und schließlich der Ausweg, auf Ausschlußtatbestände solcher Art ganz zu verzichten, möchte er auch unter statistisch-politologischem Aspekt geringe Risiken eröffnen, dennoch dem Grundverständnis der Wahl als Akt politischer Mündigkeit abträglich sein würde. Schließlich bestimmt Art. 137 Abs. 1 G G zur Gewährleistung des Gewaltenteilungsprinzips, daß die Wählbarkeit von Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Bund, in den Ländern und den Gemeinden gesetzlich beschränkt (nicht ausgeschlossen) werden kann 56 . So besteht z . B . eine Unvereinbarkeit (Inkompatibilität) zwischen einem Bundestagsmandat und dem Beamtenverhältnis mit der Folge des Ruhens der Rechte und Pflichten aus dem Dienstverhältnis vom Tage der Annahme der Wahl an für die Dauer der Bundestagsmitgliedschaft 57 . Nach Art. 48 Abs. 1 G G hat jeder Wahlkreis- und Landeslistenbewerber nach der Aufstellung durch das zuständige Parteiwahlorgan oder der Nomination durch einen sonstigen Wahlvorschlagsträger „Anspruch auf den zur Vorbereitung seiner Wahl erforderlichen Urlaub". § 3 Abs. 1 Satz 1 AbgG hat diesen verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf Wahlvorbereitungsurlaub dahin konkretisiert, daß der Urlaub innerhalb der letzten zwei Monate vor dem Wahltag auf Antrag hin bis zu zwei Monaten zu gewähren ist. Ein Anspruch auf Fortzahlung von Bezügen besteht für die Dauer der Beurlaubung nicht (§ 3 Abs. 1 Satz 2 AbgG). 2. Wahlvorschlagsrecht Integraler Bestandteil des aktiven und passiven Wahlrechts ist das Wahlvorschlagsrecht. Wahlvorschläge können Kreiswahlvorschläge und/oder Landeswahlvorschläge Bundestag und zu den Volksvertretungen der Länder auf Grund richterlicher Entscheidung in: Goldtammers Archiv 1977, S. 161. 5 4 Wegen der komplizierten Einzelheiten vgl. W. SCHREIBER Kommentar BWG (Fn. 4) S. 214ff, und J . JEKEWITZ aaO (Fn. 53) S. 164. " Vgl. BT-Drucks. 8/2682 vom 19. März 1979, S. 40f. 5 6 Hierzu ist (in mehrfacher Hinsicht) aufschlußreich der Hinweis bei K. BRAUNIAS

(Fn. 23) S. 118, daß in den deutschen Verfassungen von 1867, 1871 und 1919 von einer Wahlrechtsbeschränkung für Beamte bewußt abgesehen worden sei, um im Parlament ihre Sachkunde in Anspruch nehmen zu können. « Vgl. §§ 5, 8 AbgG, § 33 Abs. 3 B R R G ; § 28 Abs. 2 B B G ; § 21 Abs. 2 Nr. 2 DRiG zur Unzulässigkeit eines Ausschusses der Wählbarkeit (Ineligibilität): BVerfG Beschluß v. 7. April 1981 - 2 BvR 1210/80 - .

310

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

(Landeslisten) sein. Bundeslisten, wie sie z . B . das Europawahlgesetz kennt, sind dem Bundestagswahlrecht unbekannt, wenngleich sich die bei der Stimmenermittlung kraft Gesetzes bestehende Verbindung der Landeslisten derselben Partei (vgl. §§ 7, 29 BWG; § 44 BWO) im Ergebnis als Bundesliste erweist. Das Recht, Kreiswahlvorschläge und/oder Landeslisten einzureichen, steht jedem Wahlberechtigten zu, zumindest im Zusammenwirken mit anderen. Daß die Aufstellung und Einreichung von Wahlvorschlägen nicht auf politische Parteien i. S. des § 2 PartG beschränkt sein darf, folgt aus den Verfassungsgrundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl, die auch für das Wahlvorschlagsrecht gelten. So bestimmt § 18 Abs. 1 BWG, daß Kreiswahlvorschläge von politischen Parteien und nach Maßgabe des § 20 B W G auch von Wahlberechtigten eingereicht werden können. § 2 7 Abs. 1 S. 1 B W G , der vorsieht, daß Landeslisten ausschließlich von Parteien eingereicht werden können, enthält wegen der in § 2 PartG festgelegten Definition der Partei keinen Verstoß gegen die Wahlrechtsgrundsätze. Nicht im Bundestag oder einem Landtag seit deren letzter Wahl aufgrund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertretene Parteien bedürfen, wenn sie als Parteien an der Wahl teilnehmen und Landeslisten einreichen wollen, nach § 18 Abs. 3 BWG (vgl. auch § 33 BWO) der vorherigen Feststellung ihrer Parteieigenschaft durch den Bundeswahlausschuß. Wahlvorschläge dieser Parteien müssen darüber hinaus, um zur Wahl zugelassen werden zu können, nach § 20 Abs. 2 Satz 2 bzw. § 27 Abs. 1 Satz 2 B W G zum Nachweis einer gewissen Anhängerschaft bei den Wählern von mindestens 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises (Kreiswahlvorschlag) bzw. 1 v. Tausend, höchstens 2000 der Wahlberechtigten des Landes (Landeswahlvorschlag) unterzeichnet sein (Unterschriftenquorum). Entsprechendes gilt für Kreiswahlvorschläge von Wählergruppen (parteifreie Kreiswahlvorschläge). Der Einreichung der Wahlvorschläge durch die Wahlvorschlagsträger beim zuständigen Wahlleiter (vgl. § 19 BWG; §§ 32, 35, 40 BWO) geht die Aufstellung der Wahlbewerber voraus. Die Kandidatenaufstellung ist ein wesentlicher Bestandteil der verfassungsrechtlichen Funktion der politischen Parteien, eine Angelegenheit ihrer inneren Ordnung i.S. des Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G und eine der bedeutendsten Aufgaben der internen Willensbildung. Die demokratischen Mindestregeln für die Kandidatenaufstellung bei Parteien hat der Gesetzgeber in § 17 PartG sowie in §21 und § 2 7 Abs. 5 B W G normiert. Der Grundsatz der geheimen Wahl gebietet dabei auch die geheime Aufstellung der Wahlkreis- und Landeslistenbewerber. Sie erfolgt nach § 21 B W G in Parteiversammlungen (Mitglieder- oder Vertreterversammlungen). Geschlossene Vorwahlen im Sinne von (schriftlichen) Voten der Parteimitglieder, wie sie z . T . in den Vereinigten Staaten („Closed Primary Elections") praktiziert werden, sind dem derzeitigen Bundestagswahlrecht unbekannt. Sie könnten gesetzlich allenfalls als geheime (parteiinterne) Briefwahl der Kandidaten zugelassen werden 58 . 58

Abschlußbericht der Enquete-Kommission ,Verfassungsreform' des Deutschen Bundestages (1976) B T - D r u c k s . 7 / 5 9 2 4 S. 16; die Kommission hat — in Erwägung auch ver-

schiedener Bedenken — sich für die fakultative Zulässigkeit parteiinterner Briefwahl ausgesprochen.

311

3. Abschnitt. Wahlrecht (SCHIFFER)

Offene Vorwahlen, an denen auch die nicht parteigebundene Bevölkerung sich (bei jeweils nur einer Partei) beteiligen und aufgrund von Vorschlagsrechten der Parteien oder eines Q u o r u m s von Parteimitgliedern, die Kandidaten dieser Partei bestimmen kann, wären mit der gewachsenen mitgliedschaftlichen Parteienstruktur in unserem Lande und mit deutschem Verständnis des Grundsatzes geheimer Wahl schwerlich vereinbar 59 . Durch die Aufstellung in „sicheren" Wahlkreisen und die Benennung für „sichere" Listenplätze werden zahlreiche Bundestagsmandate praktisch bereits im Vorstadium der Wahl vergeben. Bei der Listenwahl (Parteienwahl) ist dies eine Folge des vom Gesetzgeber bestimmten, mit den Verfassungsprinzipien des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 G G zu vereinbarenden Systems „starrer" Listen, das dem Wähler bei seiner Wahl mit der Zweitstimme keine Veränderungen in der Reihenfolge der Bewerber auf dem zur Wahl zugelassenen Wahlvorschlag gestattet und das deshalb die in einigen Landtags- und Kommunalwahlgesetzen bekannten Systeme des , Kumulierens' (der Wähler kann innerhalb eines Wahlvorschlages mehrere Stimmen auf einen Bewerber häufeln oder auf verschiedene Bewerber verteilen) oder des Panaschierens' (der Wähler kann mehrere Stimmen auf Bewerber in verschiedenen Wahlvorschlägen verteilen) ausschließt. Dem Vorschlag der Enquete-Kommission ,Verfassungsreform' des Deutschen Bundestages, anstelle der Wahl nach „gebundenen" Listen das System „lose gebundener" („begrenzt offener") Listen einzuführen, das dem Bürger nicht nur die Wahl der Landesliste der von ihm bevorzugten Partei gestattet, sondern ihm zugleich (alternativ) erlaubt, die parteiintern beschlossene Reihenfolge der Kandidaten auf der Liste zu verändern 60 , ist der Bundesgesetzgeber bislang nicht nähergetreten.

III. Wahlhandlung, Wahlprüfung, Wahlanfechtung 1. Wahlhandlung Die Bekundung des Wählerwillens in der Stimmabgabe erfolgt mittels amtlich zur Verfügung gestellter Stimmzettel durch Urnenwahl oder — wovon 1980 rund 13 v. H . der Wähler Gebrauch gemacht haben — per Briefwahl oder mittels amtlich zugelassener und zur Verwendung genehmigter Wahlgeräte (vgl. §§ 30, 34, 35, 36 B W G ; §§ 45, 56ff, 66 B W O ; § 11 Bundeswahlgeräteverordnung). Die Wahlhandlung ist öffentlich, die Stimmabgabe geheim (§§31, 33 B W G ; §§50, 54 B W O ; §§5, 9 Abs. 1 BWahlGV). Formell wahlberechtigt ist nur, wer in einem Wählerverzeichnis eingetragen ist oder einen Wahlschein besitzt (§14 B W G ; §§14ff, 25ff BWO). Das Wahlrecht kann nur einmal und grundsätzlich nur persönlich ausgeübt werden (§14 Abs. 4, §33 Abs. 2, § 3 6 Abs. 1 Satz 2 B W G ; §§57, 66 Abs. 3 Satz 2 B W O ; §11 Abs. 5 BWahlGV).

59

Abschlußbericht der Enquete-Kommission ,Verfassungsreform' (Fn. 58) S. 15.

60

Abschlußbericht der Enquete-Kommission ,Verfassungsreform' (Fn. 58) S. 17ff, 20.

312

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Die Briefwahl verletzt — entgegen einigen in der Literatur geäußerten Auffassungen61 — in ihrer Ausgestaltung im Bundestagswahlrecht weder Wahlfreiheit noch Wahlgeheimnis, wie das Bundesverfassungsgericht mit Recht festgestellt hat 62 . Indessen sind Gesetz- und Verordnungsgeber sowie alle Wahlvollzugsorgane ständig gehalten, die Entwicklung daraufhin zu überprüfen, ob Wahlfreiheit oder Wahlgeheimnis mehr als unumgänglich berührt werden, und ggfl. für Abhilfe zu sorgen62a. Das Ergebnis der "Wahl ist unmittelbar nach Beendigung der Wahlhandlung am Wahltag (vgl. § 16 BWG; §§47, 67 BWO) zu ermitteln. Die Wahlvorstände stellen fest, wieviel Stimmen in den Wahlbezirken auf die einzelnen Kreis- und Landeswahlvorschläge entfallen sind (§§37, 38 BWG; §§ 67ff BWO). In diesem Rahmen entscheiden sie über die Gültigkeit der abgegebenen Stimmen und die Zurückweisung von Wahlbriefen (§§39, 40 BWG). Das Ergebnis der Wahl in den Wahlkreisen einschließlich der Feststellung, welcher Bewerber als Wahlkreisabgeordneter gewählt ist, wird von den Kreiswahlausschüssen, das Wahlergebnis in den Ländern von den Landeswahlausschüssen ermittelt und festgestellt; abschließend stellt der Bundeswahlausschuß fest, wieviel Sitze auf die einzelnen Landeslisten der Parteien entfallen und welche Listenbewerber gewählt sind (§§41, 42 BWG; §§ 76ff BWO). Die Verteilung der nach den Landeslisten zu besetzenden Sitze im Verhältnis der errungenen Zweitstimmen der Parteien wird dabei mittels des Höchstzahlberechnungsverfahrens des belgischen Mathematikers D'HONDT durchgeführt (vgl. §§ 6, 7 BWG; § 78 BWO). Gegenüber diesem traditionellen Stimmenverrechnungsverfahren, dessen Verfassungskonformität das BVerfG bestätigt hat 63 , wird eingewandt, daß es nicht zu völlig proporzgerechten Ergebnisse führe und die größeren Parteien begünstige. Mit dieser Begründung wurde in den letzten Jahren in den Landtags- und Kommunalwahlgesetzen zunehmend und vom D'HoNDTschen Berechnungsverfahren abgegangen und das HARESche oder das NiEMEYERSche Wahlquotientenverfahren eingeführt, das auf Bundesebene bereits seit mehreren Wahlperioden bei der Berechnung der parteipolitischen Zusammensetzung der Bundestagsausschüsse zur Anwendung kommt. Die gewählten und von den zuständigen Wahlausschüssen für gewählt erklärten Bewerber werden vom Kreiswahlleiter bzw. vom Landeswahlleiter über ihre Wahl unterrichtet und zur Erklärung über die Annahme der Wahl aufgefordert (vgl. §41 Abs. 2, §42 Abs. 3 BWG; § 76 Abs. 7, § 80 BWO). Mit der Annahme der Wahl gegenüber dem zuständigen Wahlleiter, jedoch nicht vor Ablauf der Wahlperiode des letzten Bundestages (vgl. Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG), erwerben die Gewählten die Mitgliedschaft im Bundestag (vgl. § 45 BWG). Zu diesem Zeitpunkt entsteht auch ihr

61

H. KLÜBER: Verstößt Grundgesetz? DÖV GOLDT/KLEIN Das Kommentar, Bd. II.

die Briefwahl gegen das 1958 S. 249; v. MANBonner Grundgesetz, 2. Aufl. (1966), Anm.

III 2 g zu Art. 38 G G ;

MAUNZ/DÜRIG/HER-

ZOG/SCHOLZ Grundgesetz, Kommentar, 5. Aufl. (1979) Rdn. 54 zu Art 38 GG.

« BVerfGE 21, S. 200, 204f; s. auch BVerfGE 36 S. 139, 143; 40 S. 11, 38, 41. 6 2 a BVerf. 24. 11. 1981 J Z 1982, S. 150ff, EuGRZ 1982, S. 33ff. « BVerfGE 16 S. 130, 144.

313

3. Abschnitt. Wahlrecht (SCHIFFER)

Anspruch auf Entschädigung nach den §§11 ff, 32 AbgG sowie der Anspruch auf Immunität i. S. des Art. 46 Abs. 2 GG und das Zeugnisverweigerungsrecht gemäß Art. 47 GG. Die Gründe für einen Verlust der Mitgliedschaft im Bundestag sind im 8. Abschnitt des BWG (§§46ff) aufgrund der Ermächtigung in Art. 41 Abs. 1 S. 2 GG abschließend geregelt. Über die im Interesse einer höchstmöglichen Sicherung des Mandats in § 46 BWG gesetzlich genau fixierten sowie die sich aus anderen gesetzlichen Vorschriften ergebenden (z.B. Ablauf der Wahlperiode des Bundestages — vgl. Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG —, Auflösung des Bundestages — vgl. Art. 63 Abs. 4 Satz 3, Art. 68 Abs. 1, Art. 39 Abs. 1 Satz 4 G G —) sowie allgemein selbstverständlichen (z.B. Tod des Abgeordneten) Tatbestände hinaus gibt es keine Möglichkeit des Mandatsverlusts. Die Rechtstellung der Abgeordneten ist mit dem Erwerb der Mitgliedschaft im Bundestag gemäß §45 BWG so gefestigt, daß aus sonstigen — allgemeinen — Rechtsprinzipien, wie etwa bei einem Verstoß gegen die „Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages" (vgl. Anlage 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages) 64 keine Annullierung des Mandats i. S. des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G hergeleitet werden kann. Auch durch Austritt oder Ausschluß aus der Partei, über deren Wahlvorschlag der Abgeordnete gewählt worden ist, oder durch Partei Wechsel tritt ein Mandatsverlust nicht ein. Die h . M . entnimmt dem Verfassungsgrundsatz des ungebundenen Mandats des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, daß ein Ausscheiden aus der Partei auch nicht durch Gesetz als Mandatsverlustgrund eingeführt werden könnte, ebenso die Enquete-Kommission , Verfassungsreform' des Deutschen Bundestages 65 . Eine andere Ansicht in bezug auf freiwilligen Parteiaustritt vertritt mit beachtlichen Argumenten ein Sondervotum zum Bericht der EnqueteKommission 66 . 2. Wahlanfechtung, Wahlprüfung Die "Wahl zum Bundestag — einschließlich der Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses — ist als Vorgang der politischen Willensbildung verfassungsrechtlicher Natur, ist staatlicher Gesamtakt, nicht Verwaltungsakt. Art. 41 GG sieht dementsprechend als Besonderheit vor, daß die Wahlprüfung Sache des Bundestages ist (nach Art. 31 der Weimarer Reichsverfassung oblag die Wahlprüfung einem aus drei Reichstagsabgeordneten und 2 Mitgliedern des Reichsgerichts zusammengesetzten Wahlprüfungsgericht). Der allgemeine Rechtsweg des Art. 19 Abs. 4 GG ist dadurch ausgeschlossen; nach Art. 41 Abs. 2 GG ist jedoch gegen die Entscheidung des Bundestages die (Wahlprüfungs-)Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig.

64 65

66

BGBl. 1980 I S. 1255. Abschlußbericht der Enquete-Kommission .Verfassungsreform' (Fn. 58) S. 26.

,Verfassungsreform' (Fn. 58) S. 28ff. Eine Ubersicht über das Schrifttum zum Thema

F . SCHÄFER ( m i t B e i t r i t t d u r c h E . HEINSEN)

S. 478.

Abschlußbericht

der

Enquete-Kommission

bei W . SCHREIBER K o m m e n t a r B W G ( F n . 4)

314

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Es entspricht dem Charakter der Wahl als eines Gesamtakts, daß das Ziel des Wahlprüfungsverfahrens — und damit auch des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht — primär die Gewährleistung der gesetzmäßigen Zusammensetzung des Bundestages ist und nur im Rahmen und nach Maßgabe dessen dem Schutz subjektiver Individualrechte eines Wählers, Kandidaten oder Abgeordneten dient. Daher können nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Wahlfehler die Gültigkeit der Wahl nur dann beeinträchtigen, wenn sie auf die konkrete Mandatsverteilung von Einfluß sind — objektive Kausalität — oder nach der Lebenserfahrung sein können — potentielle Kausalität —(Mandatsrelevanz)67. Absolute Wahlfehler mit der zwangsläufigen Folge der Ungültigkeit der Wahl gibt es nicht. Nicht mandatsrelevante Wahlfehler können aber zur Feststellung eines Rechtsverstoßes führen, was — bei Gefahr einer Wiederholung — den Bundestag veranlaßt, auf entsprechende Vorkehrungen für die nachfolgenden Wahlen hinzuwirken 68 . Verfahrensmäßige Rechtsgrundlage für die Wahlprüfung ist aufgrund der Ermächtigung des Art. 41 Abs. 3 G G in erster Linie das Wahlprüfungsgesetz69. Eine Kodifikation des materiellen Wahlprüfungsrechts mit Grundsätzen, nach denen die Wahlprüfungsinstanzen über die Gültigkeit der Wahlen zum Bundestag entscheiden bzw. der materiellen Normen über die Wahlfehler und deren Folgen für die Gültigkeit der Wahl, existiert, wie schon in der Weimarer Zeit und im Kaiserreich, nicht. Die Wahlprüfung erfolgt im Gegensatz zur Weimarer Zeit nur auf Anfechtung (Einspruch) hin (vgl. § 2 Abs. 1 WahlprG), der binnen eines Monats ab der Bekanntmachung des endgültigen Wahlergebnisses erhoben sein muß. Der „Streitgegenstand" wird vom Einspruchsführer bestimmt. Dieser unterliegt einer Substantierungspflicht. Nur im Rahmen des von ihm bestimmten Anfechtungsgegenstandes haben die Wahlprüfungsinstanzen (die Entscheidung des Bundestages wird vom Wahlprüfungsausschuß vorbereitet) den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und alle auftauchenden rechtserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen. Die Entscheidung des BVerfG ergeht in dem im Bundesverfassungsgerichtsgesetz, insbesondere in §§13 Nr. 3 und 48, geregelten Verfahren. Beschwerdeberechtigt sind ein Abgeordneter, dessen Mitgliedschaft bestritten ist, ein Wahlberechtigter, dessen Einspruch vom Bundestag verworfen worden ist, wenn ihm 100 Wahlberechtigte beitreten, eine Fraktion oder eine Minderheit des Bundestages, die mindestens ein Zehntel der gesetzlichen Mitgliederzahl umfaßt. Die Beschwerdefrist beträgt einen Monat. Die Entscheidung des BVerfG ist unanfechtbar. Es würde dem Wesen dieser Entscheidung widersprechen, wenn sie unter dem Gesichtspunkt einer Grundrechtsverletzung nochmals angefochten werden könnte. Schließlich sieht § 49 B W G — gestützt auf die Ermächtigung des Art. 41 Abs. 3 G G — vor, daß auch alle (anderen) Entscheidungen und Maßnahmen, die sich

67

68

BVerfGE 4 S. 370, 372f (st. Rspr., zuletzt BVerfGE 40 S. 11, 29 und 48 S. 271, 280). Beispiele führt auf W. SCHREIBER Kommentar B W G (Fn. 4) S. 516.

69

Wahlprüfungsgesetz vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 166) mit Änderung durch Gesetze vom 24. August 1965 (BGBl. I S. 977) und vom 24. Juni 1975 (BGBl. I S. 1593).

3. Abschnitt. Wahlrecht

(SCHIFFER)

315

unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, nur mit den im Bundeswahlgesetz und in der Bundeswahlordnung vorgesehenen Rechtsbehelfen sowie im Wahlprüfungsverfahren angefochten werden können. Die Notwendigkeit dieser Beschränkung ergibt sich aus der zwangsläufigen Struktur des Wahlverfahrens als einer Vielheit aufeinander bezogener und fristgebundener Einzelentscheidungen.

4. Abschnitt

Die politischen Parteien DIETER G R I M M

I. Parteien und Verfassung Politische Parteien sind eine Folge der verfassungsrechtlichen Zulassung gesellschaftlicher Mitsprache bei staatlichen Entscheidungen 1 . Sie reagieren auf das daraus erwachsende Problem der Vermittlung zwischen ungeregelter gesellschaftlicher Meinungs- und Interessenvielfalt und organisierter staatlicher Handlungs- und Wirkungseinheit. Indem sie verwandte Meinungen und Interessen zusammenfassen und zur Entscheidung stellen, bilden sie ein notwendiges Zwischenglied im Prozeß der Willensbildung. In dieser Funktion setzen sie die Differenz von Staat und Gesellschaft voraus. An diese historische Konstellation sind sie gebunden. Solange Staat und Gesellschaft ununterscheidbar waren, bestand ebensowenig ein Bedürfnis für Parteien wie zu Zeiten, da die Mitsprache auf kleine bevorrechtigte Statusgruppen beschränkt blieb oder der Staat die unumschränkte Verfügungsgewalt über die Gesellschaft beanspruchte. Wird die Unterscheidung rückgängig gemacht, entfallen auch die Bedingungen für politische Parteien wieder. Es kann dann zwar immer noch eine Einheitspartei oder eine Mehrzahl gleichgeschalteter Parteien geben. Doch darf dieselbe Bezeichnung nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um eine andere Sache handelt 2 . Die Konstellation, welche die politischen Parteien hervorrief, trat zuerst in England ausgangs des 17. Jahrhunderts ein. Vom englischen Parlament nahmen daher die politischen Parteien ihren Ausgang. In England erfuhren sie auch ihre erste theoretische Durchdringung 3 . Dagegen begannen die Parteien sich auf dem Kontinent und in Amerika erst hundert Jahre später auszubreiten und nahmen in Deutschland

1

Vgl. zu den Entstehungstheorien J . LA PALOMBARA/M. WEINER (Hrsg.) Political Par-

2

ties and Political Development, 1966, S. 7; K. v. BEYME Parteien in westlichen Demokratien, 1982, S. 26. Vgl. H . HELLER Europa und der Fascismus, 1929, S. 100 (Gesammelte Schriften, Bd. II, 1971, S. 463, 554).

3

Vgl. W. JÄGER Politische Partei und parlamentarische Opposition. Eine Studie zum politischen Denken von Lord Bolingbroke und David Hume, 1971, und zur Entwicklung der englischen Parteien K. KLUXEN Das Problem der politischen Opposition. Entwicklung und Wesen der englischen ZweiParteien-Politik im 18. Jahrhundert, 1956.

318

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

im Vormärz und definitiv in der Revolution von 1848 Gestalt an 4 . Ihr Entstehungsort waren durchweg die Institutionen der gesellschaftlichen Mitsprache, die Parlamente, in denen sich die Notwendigkeit des Zusammenschlusses zuerst ergab 5 , und nur allmählich und gerade in Deutschland unter vielfachen Hindernissen 6 wuchsen sie in die Gesellschaft hinein und verfestigten sich dort zu Mitglieder-oder Klientelverbänden. Den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung des modernen, durch gesellschaftliche Basis und bürokratischen Apparat gekennzeichneten Parteiwesens gaben freilich die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und der Schritt zur Massendemokratie, die überhaupt erst durch die Existenz einer begrenzten Anzahl personeller und programmatischer Alternativen praktikabel werden und damit die Parteien vollends unentbehrlich machen. Sofern die Parteien eine Folgeerscheinung der parlamentarisch organisierten Mitsprache der Gesellschaft an staatlichen Entscheidungen sind, ist ihre Entstehung und Ausbreitung verfassungsrechtlich bedingt, ohne daß diese Konsequenz den Verfassungsschöpfern stets bewußt oder gar willkommen gewesen wäre. Die Parteien bilden deswegen aber nicht notwendig verfassungsrechtliche Einrichtungen. Verbleibt die Staatsgewalt, wie das in Deutschland bis 1918 der Fall war, beim Monarchen, der sie aus eigenem Recht unabgeleitet innehat, während die Gesellschaft im Parlament nur ihre Forderungen an den von ihr unabhängigen Staat überbringt oder ihm in bestimmten Angelegenheiten ein Veto entgegenhalten darf, dann behauptet der Staat eine Position oberhalb der Parteien, und diese stehen genauso wie ihr Tätigkeitsfeld, das Parlament, außerhalb des Staates. Sein Aktionszentrum, die Regierung, bleibt ihnen versperrt. Erst mit dem Übergang der Staatsgewalt auf das Volk überschreiten auch die Parteien, die es handlungsfähig machen, die Schwelle zum Staat. Ihr Wirkungskreis endet nicht mehr bei der Volksvertretung, sondern erstreckt sich auf die Staatsleitung, die sie personell und programmatisch besetzen. Der Staat erscheint dann als „Parteienstaat". Wegen dieses Unterschiedes entbehrte es nicht der Konsequenz, daß -die deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts einschließlich der Reichsverfassung von 1871 die Parteien bei der Regelung der Staatsorganisation übergingen und die Staatsrechtslehre sie als ausschließlich gesellschaftliche und insofern extrakonstitutionelle Gebilde betrachtete 7 . Extrakonstitutionell war freilich schon damals nicht

4

5

Vgl. L . BERGSTRAESSER Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, 11. Aufl. 1965; T . NIPPERDEY Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, 1961; H . KAACK Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, 1971; H . FENSKE Strukturprobleme der deutschen Parteiengeschichte, 1974; E . R. HUBER Deutsche Verfassungsgeschichte, B d . II, 2. Aufl. 1960, S. 318, 612. Vgl. H . KRAMER Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1819—1849, 1968; W. D . HAUENSCHILD Wesen und

6

7

Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktion, 1968. Vgl. E . FAUL Verfemung, Duldung und Anerkennung des Parteiwesens in der Geschichte des politischen Denkens, in: PVS 5 (1964) 60; K . v. BEYME Partei, Fraktion, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. IV, 1978, S. 677. Vgl. G . JELLINEK Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Nachdruck 1966, S. 113. Eine Ausnahme macht nur R. SCHMIDT Allgemeine Staatslehre, Bd. I, 1901, S. 239.

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

319

gleichbedeutend mit privat, obzwar die Parteien nach Privatrecht lebten, und erklärt das Desinteresse der Staatsrechtslehre daher nur auf dem Hintergrund ihrer formalistischen Einstellung. Aus demselben Grund verlor aber die Fortsetzung dieser Tradition in der Weimarer Verfassung ihren Sinn. Das ist der Weimarer Staatsrechtslehre nicht entgangen und löste eine intensive Diskussion über die politischen Parteien aus, in der Triepel eine historische Stufenfolge des staatlichen Verhaltens gegenüber den politischen Parteien aufstellte, die von der Bekämpfung über die Ignorierung und Legalisierung zur Inkorporation in die Verfassung führte 8 . Dieses Stadium ist im Grundgesetz erreicht. Die Parteien sind in den Organisationsteil der Verfassung aufgenommen und damit auch formell zu verfassungsrechtlichen Größen geworden. Die Aufnahme der Parteien in die Verfassung bedeutet freilich nicht nur die normative Anerkennung einer unabhängig davon bestehenden Realität, sondern auch deren Regelung. Sie ist in Art. 21 G G indes äußerst fragmentarisch und prinzipienhaft ausgefallen. Wesentliche Fragen über Status und Funktion der Parteien werden vom Grundgesetz offengelassen. Damit ist nicht gesagt, daß es auf diese Fragen keine verfassungsrechtliche Antwort gäbe, sondern nur, daß die Antwort aus dem systematischen Zusammenhang zwischen Art. 21 G G und anderen Verfassungsnormen erst erschlossen werden muß. Insofern die Parteien in die Vermittlung zwischen Volk und Staat eingeschaltet sind, diese sich aber als das zentrale Demokratieproblem darstellt, kommt dabei dem Demokratieprinzip die größte Bedeutung zu. Verschiedene Auffassungen über das Verhältnis von Volk und Staat schlagen unweigerlich auf die Parteien als wichtigste Vermittlungsinstanz zwischen Volk und Staat durch 9 . Parteienrecht ist eine abhängige Variable des Demokratieprinzips, wie freilich auch die konkrete Gestalt einer Demokratie wiederum von der rechtlichen Stellung und faktischen Beschaffenheit ihrer politischen Parteien mitgeprägt wird.

II. Die Parteien im Grundgesetz 1. Funktion und Position der Parteien a) Das Demokratie-Verständnis

des

Grundgesetzes

Das Grundgesetz legt in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 als Grundbedingung demokratischer Herrschaft fest, daß die Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Es stellt aber keine Identität

8

H . TRIEPEL D i e S t a a t s v e r f a s s u n g u n d die p o -

litischen Parteien, 1928, S. 8. Vgl. weiter O . KOELLREUTTER Die politischen Parteien im modernen Staate, 1926; DERS. Der deutsche Staat als Bundesstaat und als Parteienstaat, 1927; E. v. CALKER Wesen und Sinn der politischen Parteien, 1928; G. LEIBHOLZ Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentativsystems, 1929; G. RADBRUCH Die politischen Partei-

9

en im System des deutschen Verfassungsrechts, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.) Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 285; R. THOMA Das Reich als Demokratie, ebenda S. 190. Besonders deutlich herausgearbeitet bei E. WIESENDAHL Parteien und Demokratie. Eine soziologische Analyse paradigmatischer Ansätze der Parteienforschung, 1980.

320

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

von Innehabung und Ausübung der Staatsgewalt her. Das Volk bleibt bei der Ausübung der Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 G G vielmehr auf die Wahl von Repräsentanten beschränkt, während alle übrigen Personal- und Sachentscheidungen mit Ausnahme der Länderneugliederung staatlichen Organen übertragen sind, die sich freilich direkt oder indirekt auf die Wahl zurückführen lassen müssen. Weisungen des Volkes an seine Repräsentanten schließt Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G aus. Die Demokratie ist der verfassungsrechtlichen Anlage nach repräsentativ, und zwar in außergewöhnlich reiner Form. Das Demokratieproblem eines solchen Systems liegt in der Verselbständigung der Organe von ihrem Auftraggeber. Das Grundgesetz sucht daher durch eine Reihe von Vorkehrungen die Rückbindung zu sichern. Die wichtigste besteht darin, daß sich in der Wahl unterschiedliche Gruppen um die Staatsführung bewerben können, die aus dem Volk selbst hervorgehen und keiner staatlichen Zulassung bedürfen. Die Wahl besitzt auf diese Weise nicht nur Akklamationsfunktion, sondern ermöglicht eine Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen. Das garantiert, was die Gruppenkonkurrenz betrifft, Art. 21 G G , was die Wahlentscheidung betrifft, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 G G . D a es vom Wahlausgang abhängt, welche der konkurrierenden Gruppen ihr politisches Programm verwirklichen kann, übt die regelmäßige Wiederkehr der Wahl einen Zwang zur Rücksichtnahme auf das Volk auch in der Zwischenzeit aus. Es ist das Konkurrenzprinzip, das in einem System außerordentlich begrenzter Entscheidungskompetenzen des Volkes die Bindung der Staatsorgane an den Träger der Staatsgewalt vornehmlich aufrechterhält 1 0 . Die Wirkung des Konkurrenzprinzips hängt allerdings von verschiedenen Zusatzvoraussetzungen ab. Sie beziehen sich zunächst auf die Wahl selbst. Sie kann die Verselbständigungstendenzen nur hemmen, wenn diese für die Konkurrenten kostspielig werden. Deswegen müssen die Wahlen in nicht allzu langen Abständen wiederkehren. Das Wahlrecht darf nicht nur einem Teil des Volkes zustehen oder ungleich gewichtet sein, weil andernfalls die Interessen der Nicht- oder Minderstimmberechtigten folgenlos vernachlässigt werden könnten. Ferner muß die Wahlentscheidung jedes Einzelnen frei Zustandekommen. Das schließt selbstverständlich jede Zwangsausübung, aber auch alle Benachteiligungen im Zusammenhang mit der Stimmabgabe aus. Als Vorkehrung dafür dient die geheime Wahl. Freie Wahl bedeutet jedoch zusätzlich die Möglichkeit unmanipulierter Willensbildung des Wählers. Das setzt einerseits die freie Information voraus, für die ein Kommunikationssystem wesentlich ist, das sich zu den konkurrierenden Gruppen in kritische Distanz begeben kann. Andererseits verlangt es, daß sich die Staatsorgane, über deren Besetzung gerade durch die Wahl entschieden werden soll, gegenüber den Konkurrenten neutral verhalten und ihre Wettbewerbssituation nicht beeinflussen. In bezug auf den Wahlkampf ist der Staat Objekt, nicht Subjekt. Die entsprechenden Vorkeh-

10

Zur Bedeutung des Konkurrenzprinzips G. LEHMBRUCH P a r t e i e n w e t t b e w e r b im

desstaat, 1976, S. 14, 36.

Bun-

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

321

rungen trifft das Grundgesetz zum einen in den Art. 5, 8 und 9, zum anderen in den Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 sowie 39 Abs. 1. Das Konkurrenzprinzip verlangt sodann, daß das Konkurrenzverhältnis auch nach der Wahlentscheidung aufrechterhalten bleibt und der Wahlsieger seine Machtstellung nicht zur Abschaffung des Wettbewerbs ausnutzt. Das ist eine Frage der Minderheitenposition im politischen Prozeß. Das Grundgesetz verbietet sowohl die Ausschaltung der Minderheit als auch ihre Behinderung in der politischen Aktion. Sie bleibt als prinzipiell gleichberechtigte und nur momentan nicht zum Zuge gekommene Alternative präsent. Verfassungsrechtliche Grundlage dafür sind die grundrechtlichen Partizipationsgarantien und die Sicherungen des Art. 21 G G . Der Minderheit steht im Parlament vielmehr eine Arena zur Verfügung, wo sie die Mehrheit zur Offenlegung und Rechtfertigung ihrer Absichten zwingen und mit Kritik und Alternativen konfrontieren kann. Das ermöglichen vor allem die parlamentarischen Gesetzgebungs- und Etatfeststellungsbefugnisse der Art. 76ff und 110 und unterstützend die parlamentarischen Kontrollrechte der Art. 42ff und 114 G G . In der Regel werden diese Instrumente nichts daran ändern, daß die Mehrheit sich gegen die Minderheit durchsetzt. Das öffentliche Verfahren unter Beteiligung des Gegners zwingt sie aber schon im Vorbereitungsstadium, ihre Entscheidungen so zu planen, daß sie die parlamentarische Auseinandersetzung mit der Minderheit bestehen kann und ihre Chancen für die nächste Wahl nicht verschlechtert. Daß die Wahl für die Konkurrenten um die Staatsführung Folgen hat und sie deswegen zur Rücksicht auf die Wähler anhält, hängt ferner davon ab, wie transparent der politische Prozeß für diese ist und in welchem Maß sie zwischen den Wahlen auf ihn einwirken können. Als wichtigste Voraussetzung dafür erscheint auf der Passivseite ein unverzerrtes Kommunikationssystem, in dem der politische Prozeß frei von Bevormundung durch die politischen Akteure Gegenstand kritischer Information sein kann, auf der Aktivseite die Möglichkeit, Überzeugungen und Interessen zu formulieren, zu organisieren und ins politische System einzuleiten. Die Basis der politischen Einwirkung des Volkes auf die staatlichen Entscheidungsträger bildet eine gegen den Zugriff des Staates geschützte Persönlichkeits-, Privat- und Berufssphäre, weil erst unter dieser Voraussetzung eine angstfreie Teilnahme am politischen Prozeß möglich wird. Als Garant dafür fungieren abermals die Grundrechte, und zwar nicht allein die sogenannten politischen oder partizipatorischen Grundrechte, sondern auch diejenigen, welche die Integrität der Person und prinzipielle Staatsunabhängigkeit der Privat- und Berufssphäre sichern. Die Grundrechte erscheinen daher allesamt „für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung . . . schlechthin konstituierend", wie es das Bundesverfassungsgericht bezogen auf Art. 5 G G festgestellt hat 11 . Frei ist der politische Prozeß allerdings nicht schon dann, wenn er staatsfrei ist. Er muß vielmehr auch vor Verzerrungen durch gesellschaftliche, namentlich wirtschaftlich begründete Macht bewahrt werden. Daher können sich die Grundrechte im Interesse der Demokratie nicht allein gegen den Staat richten, sondern müssen Gestaltungsprinzi-

11

BVerfGE 7, 198 (208).

322

3. Kapitel. D i e demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

pien für die Gesellschaftsordnung sein, die der Staat erforderlichenfalls grundrechtsoptimierend umzugestalten hat. Nachdem das historisch gegen die monarchische Legitimität gerichtete Demokratieprinzip heute fast universale Geltung beansprucht, liegen die aussagekräftigen Unterscheidungsmerkmale der Systeme weniger in der Volkssouveränität und der Existenz von Wahlen als in diesen Zusatzvorkehrungen auf der nächstniederen Konkretisierungsstufe. Die Demokratie des Grundgesetzes erweist sich dabei als eine Variante, die ihre Substanz wesentlich in dem offenen und unabschließbaren Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung findet. Demokratie erschöpft sich dann nicht in der Wahl, sondern gipfelt in ihr. Dahinter kommt ein Verständnis politischer Herrschaft zum Vorschein, bei dem sich der Schritt von der vorgefundenen gesellschaftlichen Meinungs- und Interessenvielfalt zu der aufgegebenen staatlichen Einheitsbildung nicht vollzieht, indem oberhalb der tatsächlich vorhandenen Unterschiede ein hypothetischer wahrer Volkswille angenommen wird, den die staatlichen Organe ohne Rücksicht auf gesellschaftlichen Konsens durchzusetzen haben. Die Pluralität der Meinungen und Interessen wird vielmehr ernst genommen, und die staatliche Willensbildung ist das Ergebnis eines diskursiven Prozesses, der mit Mehrheitsentscheidung abgeschlossen wird. Mehrheit kann unter diesen Umständen freilich weder einen Anspruch auf Wahrheit noch auf Endgültigkeit verleihen, sondern bezeichnet nur eine momentane Präferenz, die jederzeit revisibel bleibt. Damit geht notwendig eine Beschränkung der Entscheidungsbefugnisse von Mehrheiten einher 12 . Insbesondere stehen die Gelingensvoraussetzungen der Demokratie selbst nicht zur demokratischen Disposition. Auf die Mehrheitsregel kann man sich vielmehr bei ungewissem Ausgang künftiger Entscheidungen vernünftigerweise nur einlassen, wenn man auch im Fall der Minderheit sicher sein darf, die Chance zu behalten, bei nächster Gelegenheit selbst die Mehrheit zu erringen. Insofern setzt die Anerkennung der Mehrheitsregel einen jeder Einzelentscheidung vorgelagerten Konsens der rivalisierenden Kräfte voraus. Zur Sicherung dieses Fundamentalkonsenses trifft das Grundgesetz schließlich eine Reihe weiterer Vorkehrungen, die Machtzusammenballungen, denen die Voraussetzungen von Demokratie nicht mehr standhalten können, verhindern sollen. Als wichtigste erscheint dabei die Gewaltenteilung, die eine konzentrierte Machtausübung verhindert und politische Herrschaft in ein Netz von Kooperationszwängen, Vetopositionen und Rechtfertigungspflichten einfängt. Die Gewaltenteilung erschöpft sich aber nicht in der klassischen Dreiteilung der Staatsfunktionen, sondern bezieht auch die föderalistische Struktur und die

12

Vgl. dazu D . GRIMM Reformalisierung des

ordnung,

Rechtsstaats als D e m o k r a t i e p o s t u l a t ? in: JuS

Konsens und Pluralismus als verfassungs-

in: J Z

1977, 2 4 1 ; U . SCHEUNER

1 9 8 0 , 7 0 8 ; ferner C . OFFE Politische Legiti-

rechtliches

mation durch Mehrheitsentscheidung? J o u r -

Rechtsgeltung und Konsens,

Problem,

in:

Jakobs

nal für Sozialforschung 2 2 ( 1 9 8 2 ) 3 1 1 ;

C.

DERS. Das Mehrheitsprinzip in der D e m o -

GUSY Das Mehrheitsprinzip im demokrati-

kratie, 1 9 7 3 ; C . SCHMITT Legalität und Legi-

1976,

(Hrsg.) S.

33;

schen Staat, in: A ö R 1 0 6 ( 1 9 8 1 ) 3 3 7 ; P . HA-

timität, 2 . Aufl. 1 9 6 8 , S. 3 0 ; H .

BERLE D a s Mehrheitsprinzip als Strukturele-

V o m Wesen und W e r t der D e m o k r a t i e , 2 .

KELSEN

ment der freiheitlich-demokratischen G r u n d -

Aufl. 1 9 2 9 , S. 5 3 .

323

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

unabhängig gestellten staatlichen Kontrollorgane wie das Bundesverfassungsgericht, die Bundesbank und die Rechnungshöfe ein. Sie erstreckt sich endlich auf solche Kontrollinstanzen wie die Rundfunk- und Fernsehanstalten, die — obwohl öffentlichrechtlich geregelt — aus der staatlichen Organisation ausgeklammert sind, um von dieser Position aus die Offenheit des politischen Prozesses aufrechterhalten und die Rückbindung der Staatsorgane an das Publikum unterstützen zu können.

b) Die Funktion der politischen

Parteien

In diesem System weist Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG den Parteien die Aufgabe zu, an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Was darunter zu verstehen ist, läßt die Formulierung allerdings nicht mit Sicherheit erkennen. Darin liegt einer der Gründe für die beträchtlichen Unterschiede und Schwankungen, die Judikatur und Literatur bei der Funktionsbestimmung der Parteien offenbaren. Auch die Politikwissenschaft hat bislang aber keine einheitliche Auffassung über die Funktion der Parteien auszubilden vermocht, sondern bietet höchst verschiedenartige und nur partiell übereinstimmende Funktionenkataloge an 13 . Dabei macht sich die Unklarheit des Funktionsbegriffs bemerkbar. Nur selten wird zwischen der generellen Zweckbestimmung der Parteien, den einzelnen Formen der Zweckerreichung und den Auswirkungen der Zweckverfolgung hinreichend unterschieden. Alle drei lassen sich dem Begriff der Funktion unterordnen, liegen aber auf verschiedenen Ebenen. Die generelle Zweckbestimmung politischer Parteien ergibt sich aus der Binnendifferenzierung des politischen Systems in Volk einerseits und Staatsorgane andererseits. Da die Verfassung staatliche Herrschaft zwar auf das Volk zurückführt, aber nicht von ihm selbst ausüben läßt, stellt sich das Problem der Vermittlung. Es erscheint nur lösbar, wenn Zwischenglieder existieren, die die komplexen gesellschaftlichen Vorstellungen und Bedürfnisse reduzieren, die Reduktionsleistungen in Gestalt generalisierter Handlungsprogramme für den Staat zur Auswahl stellen und auf der Grundlage des vom Volk mehrheitlich ausgewählten Programms den staatlichen Entscheidungsprozeß instruieren, wobei die ausgeschiedenen Alternativen präsent bleiben müssen, damit der Handlungsauftrag widerrufen und anderweitig vergeben werden kann. Diese Vermittlerrolle, die notwendig grenzüberschreitend ist, nehmen die politischen Parteien wahr 1 4 .

13

Vgl. zur Situation der Funktionenlehre H. A . SCARROW The Function of Political Parties — A Critique of the Literature and the Approach, in: Journal of Politics 28 (1967) 770; W . JÄGER Die politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich, in: Der Staat 19 (1980) 584; WIESENDAHL Parteien und Demokratie (Fn. 9) S. 184, dort S. 188 auch eine tabellarische Ubersicht über Funktionsbestimmungen in der Literatur; zuletzt P. HAUNGS Parteiendemokratie in der Bundesrepublik Deutsch-

land, 1980, S. 26; G. SCHMID Politische Parteien, Verfassung und Gesetz, 1981, S. 2 1 ; v. BEYME P a r t e i e n ( F n . 1 ) S . 2 5 . 14

Vgl. zu dieser Grundfunktion W . HENKE Das Recht der politischen Parteien, 2. A u f l . 1972, S. 18 mit umfangreichen Literaturnachweisen; ferner vor allem N. LUHMANN Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1 9 8 1 , S. 4 4 ; DERS. Soziologie des politischen Systems, in: DERS. Soziologische Aufklärung, 1970, S. 163 f f ; DERS. Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 154 f f ; DERS. Grundrech-

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Die Vermittlung findet in verschiedenen Formen statt. Das Grundgesetz sieht als wichtigsten Vermittlungsmechanismus zwischen Volk und Staat die Wahl vor, in der das Volk das zentrale legitimationsspendende Staatsorgan, das Parlament, bestellt, von dem aus sich der Legitimationsstrom dann in vielfältiger Weise verzweigt. Gerade die Wahl macht aber die Hilfsbedürftigkeit des Volkes besonders augenfällig. Es besitzt keinen natürlichen Gesamtwillen, sondern trägt in sich nur die ungestaltete und widersprüchliche Vielfalt individueller Meinungen und Interessen. D a sie in der Wahl von jedem Einzelnen in eine einfache Ja-Nein-Entscheidung über Personen und Personengruppen übersetzt werden muß, wird das Volk zur Wahl erst fähig, nachdem die gesellschaftliche Vielfalt in einem Prozeß fortschreitender Selektion auf wenige entscheidungsfähige Alternativen reduziert ist 1 5 . Diese Reduktion nehmen die politischen Parteien vor, indem sie verwandte Meinungen und Interessen zusammenfassen, in sich ausgleichen und zu politischen Programmen verdichten sowie Führungspersonal auslesen, das sich den Programmzielen verschreibt und dadurch für den Wähler identifizierbar wird. Sie fußen dabei auf vorausgehenden Reduktionsleistungen anderer gesellschaftlicher Institutionen wie beispielsweise der Interessenverbände, sind aber die einzigen, die sie in wählbare Alternativen verwandeln. Insofern diese Funktionen der Interessenaggregation, Zielfindung und Führungsauslese Wahlen erst ermöglichen, kann man die Parteien in der Tat, wie vom Bundesverfassungsgericht wiederholt formuliert, als „Wahlvorbereitungsorganisationen" 1 6 bezeichnen. In dieser Eigenschaft erscheinen sie unter den gegenwärtigen Bedingungen unersetzbar und sind folglich wie die Wahl selbst demokratienotwendig. Das Bundesverfassungsgericht hat sich von dieser Aufgabe allerdings so stark gefangennehmen lassen, daß es sie im Parteienfinanzierungsurteil von 1966 zur alles überragenden Funktion der Parteien erhob 1 7 . In der Wahlvorbereitung erschöpft sich ihre Tätigkeit jedoch keineswegs. Die Parteien bleiben ja in dem gewählten Organ präsent. Das Parlament setzt sich aus parteigebundenen Abgeordneten zusammen, und da diese in der Demokratie nicht mehr nur zur Volksvertretung berufen sind, sondern die Staatsführung bestimmen, fällt den Parteien auch die Funktion der Regierungsbildung zu. Die Wählerschaft hat sich darauf eingestellt, indem sie bei der Wahl weniger die Entsendung persönlicher Repräsentanten als die Regierungsbildung durch eine bestimmte Partei in den Blick nimmt. Staats Willensbildung und Volks wil-

te als Institution, 2. Aufl. 1974, S. 148ff; K . H . SEIFERT Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 9 9 ; M . GREVEN Parteien und politische Herrschaft, 1977, S. 114, 131 ff. Das während der Drucklegung erschienene Werk von D . TSTATSOS/M. MORLOK Parteienrecht, 1982, konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden. 15

Vgl. K . HESSE Die verfassungsrechtliche Stellung der Parteien im modernen Staat, in: W D S t R L 17 (1959) 18, wo die „wesensmäßige Unformiertheit und Formungsbedürf-

tigkeit des pluralistisch aufgespaltenen Volkswillens" hervorgehoben wird. B V e r f G E 8, 51 (63); 12, 2 7 6 (280); 20, 56 (113). 17

V o r allem B V e r f G E 20, 56 (113). Zur Kritik daran vgl. auch P. HÄBERLE Unmittelbare staatliche Parteienfinanzierung unter dem Grundgesetz, in: JuS 1967, 6 7 f ; U . SCHEUNER Der Entwurf des Parteiengesetzes, in: D ö V 1967, 3 4 3 ; H . ZWIRNER Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Parteienfinanzierung, in: A ö R 93 (1968) 114; SEIFERT Parteien (Fn. 14) S. 88 f.

325

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

lensbildung fallen dadurch nicht in eins, wie dem Bundesverfassungsgericht zuzugeben ist 18 . Die Funktion der Parteien läßt sich aber nicht mehr auf den Bereich der Volks Willensbildung beschränken. Beide werden durch die Intervention der Parteien vielmehr miteinander verknüpft. Die Möglichkeit, den Staatswillen zu bilden, ist ihr Ziel, und weil der Weg nur über das Volk führt, wirken sie an dessen Willensbildung mit. Aber gerade indem sie die Volkswillensbildung zum Staat hin transzendieren, machen sie diesen zum Staat des Volkes. Demgegenüber kommen in der Zuordnung der Parteien zum Bereich der Volkswillensbildung, wie sie das Bundesverfassungsgericht im Parteienfinanzierungsurteil vornimmt, ältere dualistische Vorstellungen zum Vorschein, die von der Demokratie überholt sind 19 . Wenn die Parteien im demokratischen System nicht nur an der Volkswillensbildung mitwirken, sondern auch die Staatswillensbildung beherrschen, überschreiten sie daher nicht ihre verfassungsrechtlichen Aufgaben nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 G G . Vielmehr handelt es sich um eine zwangsläufige Konsequenz der vom Grundgesetz selbst errichteten parlamentarischrepräsentativen Demokratie. Die Wahlvorbereitung gibt die Parteifunktionen aber nicht nur deswegen unvollständig wieder, weil sie den Einfluß der Parteien auf die Staatswillensbildung unterschlägt, sondern auch, weil sie die Volkswillensbildung auf den punktuellen Vorgang der Wahl verkürzt 20 . Indessen zerfällt der politische Prozeß nicht in einen vierjährlich wiederkehrenden Akt der Volkswillensbildung und eine dazwischen liegende Periode der Staatswillensbildung. Die Volkswillensbildung vollzieht sich vielmehr ihrerseits in einem permanenten Prozeß, aus dem die Wahl als verbindliche Momententscheidung, die der Politik den zeitlichen Rhythmus und dem Staat die inhaltliche Ausrichtung gibt, herausragt. An diesem Prozeß beteiligen sich neben den Parteien zahlreiche weitere Akteure, die Interessen organisieren und artikulieren, Forderungen erheben, Meinungen verbreiten, Kritik üben etc. Im Blick auf diese vor allem in den Art. 5, 8 und 9 G G gesicherten Möglichkeiten spricht das Grundgesetz nur von einer .Mitwirkung der Parteien. Deswegen läßt sich weder rechtlich noch empirisch die Wendung des Bundesverfassungsgerichts in seinem ersten großen Wahlrechtsurteil halten, in der „Demokratie von heute" hätten „die Parteien allein die Möglichkeit, die Wähler zu politisch aktionsfähigen Gruppen zusammenzuschließen" 2 1 . Doch fällt ihnen auch hier eine gesteigerte Mitwirkung zu, weil sie im Gegensatz zu den übrigen Akteuren Forderungen und Ansichten nicht nur an den

18

BVerfGE 20, 56 (98).

19

V g l . HÄBERLE J U S 1 9 6 7 , 6 6 ; SCHEUNER D Ö V

1967, 343; DERS. D i e Parteien und die A u s -

wahl der politischen Leitung im demokratischen Staat, in: DöV 1958, 641; ZWIRNER A ö R 9 3 , 118; H . - R . LIPPHARDT D i e G l e i c h -

heit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, S. 523. 20

V g l . H Ä B E R L E J u S 1 9 6 7 , 6 6 f , s o w i e SEIFERT

Parteien (Fn. 14) S. 86, der Volkswillensbildung im engeren und im weiteren Sinn unterscheidet.

21

BVerfGE 1, 208 (223f) in Anlehnung an G . LEIBHOLZ Verfassungsrechtliche Stellung und innere Ordnung der Parteien, 38. D J T 1950, S. C 7, und dann gleichlautend in einer Reihe anderer Schriften, z. B. Der Parteienstaat des Bonner Grundgesetzes, in: Recht, Staat und Wirtschaft, Bd. III, 1951, S. 104; Parteienstaat und repräsentative Demokratie, in: DVB1. 1951, 241; Strukturprobleme der modernen Demokratie, Neuausg. der 3. Aufl., 1974, S. 74.

326

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Staat herantragen, sondern unmittelbar in den staatlichen Entscheidungsprozeß einleiten können. Insofern kommt das Parteienfinanzierungsurteil der Sachlage näher, wenn es ausführt, daß das Volk über die Parteien auch zwischen den Wahlen Einfluß auf die Verfassungsorgane nehme 22 , aber, wie ergänzt werden muß, eben in der Weise, daß diese ihrerseits von den Parteien besetzt sind, die erst dadurch ihre Vermittlungsfunktion erfüllen können. So unbestimmt, wie das Grundgesetz in der Mitwirkungs-Formel des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 die Aufgaben der Parteien benennt, läßt es auch die Zielrichtung dieser Mitwirkung. Das Bundesverfassungsgericht suchte sie anfangs in Anlehnung an Leibholz mit dem Bild des „Sprachrohrs" zu erfassen, „dessen sich das mündig gewordene Volk bedient, um sich artikuliert äußern und politische Entscheidungen fällen zu können" 23 . Indessen krankt diese Beschreibung daran, daß ein ausgebildeter Volkswille, der nur noch der Verstärkung und Übermittlung bedürfte, nicht vorausgesetzt werden kann. Die politischen Anschauungen des Volkes sind im Gegenteil das Produkt eines politischen Prozesses, an dem die Parteien als formende Kräfte aktiv beteiligt sind. Das Bundesverfassungsgericht ließ daher auch die Sprachrohr-Terminologie fallen und beharrte später nur noch darauf, daß sich die Willensbildung im demokratischen Staat vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt vollziehen müsse 24 . Die Parteien fungieren dann als Transmissionsriemen für den von ihnen mitgeformten Volkswillen. Dieser Grundsatz kontrastiert jedoch auffällig mit dem politikwissenschaftlichen Befund, daß sich zur faktisch dominanten Funktion der Parteien die Legitimationsbeschaffung für staatliche Entscheidungen entwickelt hat, die Willensbildung tatsächlich also gerade umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk verläuft 25 . Stimmt die Politikwissenschaft in diesem Befund weitgehend überein, so unterscheiden sich die Bewertungen. Während ihn die Mehrzahl der Autoren an einem Demokratiemodell mißt, bei dem die gesellschaftliche Mitwirkung an staatlichen Entscheidungen im Vordergrund steht, legt eine andere Richtung das Gewicht auf die Stabilität und Regierungsfähigkeit des demokratischen Systems 26 . Für diese erfüllt sich die Demokratie in der generellen Unterstützung der politischen Führung, so daß die legitimatorische Funktion der Parteien als systemkonform

22

B V e r f G E 20, 56 (99).

r e n , 1 9 6 9 , S. 1 5 1 ; W . HENNIS D i e m i ß v e r -

23

B V e r f G E 1 , 2 0 8 ( 2 2 4 ) . N a c h w e i s e f ü r LEIB-

standene Demokratie 1973, bes. S. 8 9 f ; DERS. Parteienstruktur und Regierbarkeit, in: Hennis u. a. (Hrsg.) Regierbarkeit, Bd. 1, 1977, S. 150; f ü r die darauf reagierende partizipatorische Richtung etwa S. u. W . STREECK Parteiensystem und Status quo,

HOLZ w i e F n . 2 1 . 24

B V e r f G E 20, 56 (99).

25

V g l . d i e B e s t a n d s a u f n a h m e v o n R . MAYNTZ

26

Staat und politische Organisation: Entwicklungslinien, in: Lepsius (Hrsg.) Zwischenbilanz der Soziologie, Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages, 1976, S. 327, und den Uberblick bei LEHMBRUCH, Parteienwettbewerb (Fn. 10) S. 39. Im einzelnen mit zahlreichen Nachweisen WIESENDAHL Parteien (Fn. 9) bes. S. 1 0 7 f f . Vgl. f ü r die legitimatorische Richtung etwa N. LUHMANN Legitimation durch Verfah-

1 9 7 2 ; M . GREVEN P a r t e i e n ( F n . 1 4 ) . I m e i n -

zelnen wiederum WIESENDAHL Parteien (Fn. 9). Kritisch zum Befund HAUNGS Parteiendemokratie (Fn. 13) S. 4 8 ; differenzierend auch K. v. BEYME Krise des Parteienstaats — ein internationales Phänomen?, in: Raschke (Hrsg.) Bürger und Parteien, 1982, S. 87.

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

32 7

erscheint. Jene deuten die Mitwirkung der Parteien an der Volkswillensbildung im Sinn von Bürgerpartizipation und verwerfen daher die legitimationsbeschaffende Tätigkeit. Soweit der Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 Satz 1 G G zur Lösung dieser Frage beiträgt, scheint er eher für die Partizipationstheorien zu sprechen. Den Parteien wird die Mitwirkung an der Volkswillensbildung zugewiesen. Das deutet auf eine instrumentelle, keine beherrschende Funktion hin. Die Willensbildung bleibt diejenige des Volkes, die Parteien ersetzen es darin nicht. Andererseits beschränkt sich ihre Tätigkeit im demokratischen System aber nicht auf den Bereich der Volkswillensbildung. Ohne es ausdrücklich auszusprechen, setzt das Grundgesetz doch voraus, daß sie aufgrund eines Volksauftrags auch den Staatswillen bilden. Damit korrespondiert aber gerade in einer Konkurrenzdemokratie das legitime Bedürfnis, den staatlichen Entscheidungen wiederum Akzeptanz in der Bevölkerung zu sichern. Der Willensbildungsprozeß verläuft also beidseitig. Die Parteien sind in ihm bald in ihrer Eigenschaft als gesellschaftliche Basisgruppen Adressaten von Forderungen und Ansichten im Volk, bald in ihrer Eigenschaft als Träger staatlicher Ämter und Mandate Urheber bindender Entscheidungen, denen sie Massenloyalität beschaffen. Beide Vorgänge können nicht als N o r m und Wirklichkeit gegeneinander ausgespielt werden, sondern sind gleichermaßen Aspekte des demokratischen Prozesses. Der einbahnige Verlauf der Willensbildung, den das Bundesverfassungsgericht aus dem Demokratieprinzip ableitet, wird diesem daher nicht gerecht. Die über die Parteienkonkurrenz vermittelte demokratische Willensbildung ist vielmehr Resultante aus beidem, dem gesellschaftlichen input einerseits, dem staatlichen Output andererseits 27 . Die Bedeutung von Art. 21 Abs. 1 Satz 1 G G besteht darin, daß er eine Verstopfung des freilich stärker gefährdeten Kommunikationswegs aus der Gesellschaft in den Staat verbietet. c) Das Verhältnis von Staat und

Gesellschaft

Der Umstand, daß die Parteien in der Demokratie die Vermittlung zwischen Volk und Staat übernehmen, macht ihre systematische Einordnung zum Problem. Von Herkunft zweifellos gesellschaftlich, ist ihr Ziel doch der Staat. Der Organisationszweck besteht in der Übernahme der Staatsleitung. Diese erst verleiht die Möglichkeit der Umsetzung politischer Programme in allgemeinverbindliche Entscheidungen. Es fragt sich daher, ob es bei der traditionellen Einordnung der Parteien als gesellschaftliche Gebilde bleiben kann oder ob sie nicht mit dem Ubergang zur Demokratie, jedenfalls aber mit ihrer Konstitutionalisierung zu einem Bestandteil des Staates geworden sind. Die Frage steht seit langem im Mittelpunkt der staatsrechtlichen Beschäftigung mit den Parteien und hat bis heute nicht zu gesicherten Ergebnissen

27

S. I. HABERMAS Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1981, S. 509. Vgl. auch LUHMANN Wohlfahrtsstaat (Fn. 14) S. 4 6 f f ; DERS. Selbstlegitimation des Staates, in: Legitimation des modernen Staates, A R S P

Beiheft 15 (1981) 65; dagegen im Dualismus von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit verharrend z. B. T . ELLWEIN Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 1973, S. 173ff.

328

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

geführt 28 . Die Staatsrechtslehre geht dabei keineswegs nur einem theoretisch-systematischen Problem nach. Die Antwort auf die Zuordnungsfrage präjudiziert vielmehr die Lösung wichtiger aktueller Streitfragen des Parteienrechts wie die Zulässigkeit der staatlichen Parteienfinanzierung, die Bindung von Amts- oder Mandatsträgern an Parteibeschlüsse, die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Wahlkampf, das Verhältnis zwischen den im Parlament vertretenen und den nicht ins Parlament gelangten Parteien etc. Auch die Parteienjudikatur des Bundesverfassungsgerichts hat von der Antwort auf diese Frage ihre Richtung empfangen, und die Schwankungen, denen sie dabei ausgesetzt war, rühren überwiegend aus Unsicherheiten über den Standort der Parteien her. Es scheint daher, daß die Frage nicht auf sich beruhen kann, sondern verfassungsrechtlich geklärt werden muß, ehe die zahlreichen Einzelprobleme des Parteienrechts in Angriff genommen werden können. Dagegen hält eine Reihe von Autoren die Standortfrage bereits im Ansatz für verfehlt. Am häufigsten kann man diese Auffassung in der Politikwissenschaft antreffen, wobei nicht selten abschätzige Seitenblicke auf die an überholten Kategorien haftende Staatsrechtslehre fallen 29 . Die Einstellung steht im Zusammenhang mit dem stillschweigenden Verzicht, den ein großer Teil der Politikwissenschaft in den letzten Jahrzehnten auf den Begriff des Staates geleistet hat. Seinen Platz nimmt das „politische System" ein. Die Politikwissenschaft trug damit der Tatsache Rechnung, daß ihr Gegenstand in fortgeschrittenen Industriegesellschaften mit demokratischer Herrschaftsstruktur unter Beschränkung auf staatliches Handeln nicht mehr angemessen beschreibbar ist. Insofern der Kreis der politischen Akteure heute weit über die Staatsorgane hinausreicht und das dem Staat zugerechnete Handeln sich in vielen Fällen als außerstaatlich vorentschieden erweist, mußte sie vielmehr ihren Forschungsrahmen notwendig ausweiten. Daß die Parteien dann nicht außerhalb des politischen Systems stehen, sondern eine zentrale Rolle in ihm spielen, unterliegt keinem Zweifel. Damit entfällt aber nicht die Frage, ob es den Staat auch als unterscheidbares Subsystem im politischen System nicht mehr gibt. Erst wenn diese Frage verneint wird, erledigt sich das in der Staatsrechtslehre diskutierte Zuordnungsproblem. Andernfalls bleibt es auf der Tagesordnung, wie übrigens die Politikwissenschaft selbst eingesteht, wenn sie sich Problemen wie der staatlichen Parteienfinanzierung, des Mandatsverlusts bei Parteiwechseln, der Bindung von Amts- und Mandatsträgern an Parteibeschlüsse zuwendet. Einer Ablehnung der Standortfrage kann man jedoch ebenso in der Rechtswissenschaft begegnen, für die der Begriff des Staates seine Evidenz noch nicht verloren hat. Die Kritik setzt hier bei der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft an, die das Standortproblem erst aufwirft. Namentlich Lipphardt vertritt die Ansicht, daß eine solche Unterscheidung unvollziehbar sei. Damit entfalle aber „nicht nur die

28

29

Vgl. die Einleitung bei HENKE Parteien (Fn. 14) S. 1 ff m. w . N. Vgl. etwa K . SONTHEIMER Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik

Deutschland, 6. A u f l . 1977, S. 9 9 f ; H . - O . MÜHLEISEN Theoretische Ansätze der Parteienforschung, in: Jäger (Hrsg.) Partei und System, 1973, S. 13.

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

329

Denkmöglichkeit einer ,Nahtstelle', sondern auch von Zwischengliedern'" 3 0 . Die Parteien könnten nur „ganzheitlich" erfaßt werden. Lipphardt stützt seine Ansicht darauf, daß es sich bei Staat und Gesellschaft um ein und denselben Personenverband handele, der einer Aufspaltung nicht fähig sei, weil der Schnitt dann mitten durch die natürlichen Personen verlaufe. Er erliegt dabei demselben Irrtum, der schon seinem Gewährsmann Ehmke unterlaufen war 3 1 . Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft betrifft nicht Personen, sondern Rollen und Kommunikationen. Auf dieser Basis erscheint eine Differenzierung aber nicht von vornherein ausgeschlossen 3 2 . Andernfalls wäre Lipphardts gesamtes dogmatisches Bemühen, die rechtliche Distanz zwischen Staat und Parteien zu vergrößern, zum Scheitern verurteilt. Mit der von Hesse übernommenen Formel, die Parteien genössen einen „Status des öffentlichen" 3 3 , ist deswegen die Frage nach dem Parteienstandort ebensowenig erledigt wie mit der Aussage der Politikwissenschaft, sie gehörten zum politischen System. Sie läßt sich nach diesen Einwänden allerdings nicht mehr ohne Vergewisserung über die gegenwärtige Situation von Staat und Gesellschaft entscheiden. Besteht zwischen Staat und Gesellschaft kein Unterschied mehr, dann sind sie identisch. Genauer gesagt, gibt es dann weder Staat noch Gesellschaft, sondern nur etwas Drittes, das deren Funktionen vereint. Darüber scheint nicht bei allen, die die Unterscheidung für überwunden halten, Klarheit zu herrschen. Mit der Identität beider entfällt zugleich die Möglichkeit individueller Autonomie einerseits und begrenzter öffentlicher Gewalt andererseits. Jeder wird Sachwalter einer öffentlichen Ordnung, die sämtliche Lebensbereiche durchdringt 3 4 . D a keiner der Autoren, die die Frage nach dem Standort der Parteien ablehnen, eine solche Ordnung anstrebt, liegt die Vermutung nahe, daß sie die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft kurzerhand mit einem ihrer historischen Erscheinungsbilder, nämlich der dualistischen Trennung, gleichsetzen. Dem Dualismus lag in der Tat die Vorstellung von der Teilbarkeit aller sozialen Phänomene in staatliche oder gesellschaftliche zugrunde. In dieser Form war er an die Existenz einer autoregulativen Gesellschaft gebunden, die den Staat nur als Garanten der von ihm unabhängigen Sozialordnung benötigte. Ihre Voraussetzungen sind entfallen. Zwischen Zonen unbezweifelbarer Staatlichkeit und Reservate ebenso unbezweifelbarer Privatheit hat sich ein breiter und noch immer wachsender Bereich geschoben, der weder exklusiv dem Staat noch exklusiv der Gesellschaft zugeordnet werden kann. Staat und Gesellschaft befinden sich hier vielmehr in einer Gemengelage, die exakter Auflösung nicht mehr fähig ist. Doch erfaßt die Uberwindung des Dualismus nicht notwendig auch die Unterscheidung. Sie

30

LIPPHARDT G l e i c h h e i t ( F n . 19) S. 5 5 1 .

31

H . EHMKE Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 5 f ; DERS. .Staat' und Gesellschaft' als verfassungstheoretisches Problem, in: Festgabe für Smend, 1962, S. 2 4 f . Vgl. LUHMANN Soziologie des politischen Systems (Fn. 14) S. 155; DERS. Wohlfahrts-

32

staat ( F n . 14) S. 2 0 , 3 5 ; E . - W . BÖCKENFÖR-

DE Die verfassungstheoretische Unterschei-

dung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973, S. 21 ff. 33

34

LIPPHARDT G l e i c h h e i t ( F n . 19), S. 5 6 6 ,

un-

ter Berufung auf HESSE W D S t R L 17, 39. Vgl. BÖCKENFÖRDE Staat und Gesellschaft (Fn. 32);

auch

P.

GRAF

KIELMANSEGG

Volkssouveränität, 1977, bes. S. 243.

330

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

bleibt in einem System mit grundrechtlich gesicherter Individualfreiheit einerseits und gegenständlich begrenzter Staatsmacht andererseits prinzipiell aufrechterhalten. Ihre Gestalt ist allerdings komplizierter geworden. Mit Recht bemerkt Luhmann, daß der alten Unterscheidung von Staat und Gesellschaft für die Einheit des so Differenzierten ein Begriff fehlte 3 5 . Die Einheit existiert in Form der Gesamtgesellschaft. Innerhalb ihrer haben sich aber verschiedene funktional spezialisierte Subsysteme, zum Beispiel für Wirtschaft, Wissenschaft, Religion etc. herausgebildet. Eines dieser Subsysteme ist das politische System, dessen Funktion in der Herstellung und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen besteht. Es kann dann freilich nicht als Personenverband, sondern nur als Wirkeinheit, die der Gesellschaft bestimmte Leistungen erbringt und gerade zu diesem Zweck eine relative Selbständigkeit von ihr beansprucht, begriffen werden 3 6 . In der Epoche des monarchischen Absolutismus ließ sich das politische System mit dem Staat identifizieren. Die Einzelnen standen ihm als Untertanen gegenüber und waren nicht Subjekt, sondern Objekt der Herrschaft. Im Maße, wie die Einzelnen ihren Untertanenstatus abstreiften und Anteil an politischen Entscheidungen erlangten, rückten sie ins politische System ein, ohne damit selbst Staat zu werden. Dieser blieb als institutionalisierte und gegenständlich, funktional und prozedural begrenzte Entscheidungsinstanz unterscheidbar, machte das politische System aber nicht mehr aus. Namentlich in der Demokratie ist die Bevölkerung in verschiedenen Rollen, nicht nur der des Wählers, sondern auch als Interessent, Demonstrant etc. ebenfalls Teil des politischen Systems. Das gilt erst recht für die Zusammenschlüsse Einzelner, deren ausdrückliches Ziel die Einwirkung auf politische Entscheidungen ist. Damit kehrt aber die alte Differenz von Staat und Gesellschaft nunmehr in Gestalt der Binnendifferenzierung des politischen Systems wieder. Die Frage der Zuordnung der politischen Parteien zu Staat oder Gesellschaft ist also durch die sozialen Veränderungen keineswegs überholt, sondern nur in einen anderen Zusammenhang überführt. An der Kritik erscheint aber soviel richtig, daß die Antwort keine alternative sein kann. Wenn die politischen Parteien die demokratischen Beziehungen zwischen Volk und Staat vermitteln, in dem sie Führungspersonal und politische Programme zur Auswahl stellen und das staatliche Entscheidungsverhalten wiederum an gesellschaftlichen Bedürfnissen und Meinungen ausrichten, dann setzt das notwendig ein Wirken in beiden Bereichen voraus. Die Grenzüberschreitung ist Demokratiebedingung. Zur Debatte steht unter diesen Umständen nicht, ob sie entweder zur Gesellschaft oder zum Staat gehören, sondern nur, in welchem Maß sie in beide Bereiche integriert sein dürfen. Auf diese graduelle Frage gibt die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft keine Antwort mehr. Sie muß vielmehr der konkreten Ausgestaltung, die die Beziehungen zwischen Volk und Staat im Grundgesetz gefunden haben, entnommen werden. Das Grundgesetz läßt mit Eindeutigkeit freilich nur den Ursprung und die fortdauernde Verwurzelung der Parteien

35

N . LUHMANN Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems, in: Der Staat 12 (1973) 5.

36

Zum Verständnis der Staaten als Wirkeinheit vor allem H . HELLER Staatslehre, 1934, S. 228.

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

331

in der Gesellschaft erkennen, wenn es Gründungsfreiheit für politische Parteien garantiert und im Interesse der Bindung der Parteien an ihre Mitglieder innerparteiliche Demokratie vorschreibt. Dagegen setzt es der Einfügung der Parteien in die institutionalisierte Staatlichkeit ein weniger deutliches Maß. Eine ausdrückliche Regelung findet sich nur für die Parlamentsabgeordneten, die Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu Vertretern des ganzen Volkes macht und allein ihrem Gewissen unterwirft. Art. 38 GG legt auf diese Weise eine Scheidelinie zwischen Partei und Staatsorgan. Die Rolle als Parteimitglied determiniert nicht automatisch die Rolle als staatlicher Entscheidungsträger. Im übrigen fehlt es aber an unmittelbaren verfassungsrechtlichen Aussagen, und Literatur und Judikatur sind von einheitlichen Auffassungen weit entfernt. d) Der Standort der

Parteien

Da Ursprung und Verwurzelung der Parteien in der Gesellschaft verfassungsrechtlich, wenn schon nicht politisch 37 , außer Zweifel stehen, spitzt sich die Frage nach dem Standort der Parteien auf den Grad ihrer Inkorporation in den Staat zu. Die Diskussion dieser Frage ist besonders nachhaltig von Leibholz beeinflußt worden. Leibholz geht davon aus, daß durch die Intervention der politischen Parteien, die ihrerseits mit der Demokratisierung des Wahlrechts zusammenhängt, die Institutionen der repräsentativen Demokratie unterlaufen worden sind. Das Volk wird erst in den Parteien handlungsfähig. Es tritt daher als eigenständige, von den Parteien unterscheidbare Größe politisch nicht mehr in Erscheinung. Leibholz schließt daraus, „daß in dieser Form der Demokratie die Parteien das Volk ,sind'" 3 8 . Die von den Parteien präsentierten und ihnen verbundenen Abgeordneten haben nichts mehr mit den aufgrund ihrer persönlichen Qualitäten gewählten Repräsentanten des ganzen Volkes gemein, sondern sind „gebundene Parteibeauftragte". Für das Parlament folgt daraus, daß dort nur noch „anderweitig bereits getroffene Entscheidungen registriert werden" 39 . Auch die Wahl verändert unter diesen Voraussetzungen ihre Funktion. Wahlen zielen nicht mehr auf Personenauswahl, sondern nehmen den Charakter von Abstimmungen über den Regierungskurs an. Daher kann man sagen, daß „wie in der unmittelbaren Demokratie der Wille der Mehrheit der Aktivbürgerschaft mit dem Willen des Volkes identifiziert wird, . . . in der parteienstaatlichen Massendemokratie der Wille der jeweiligen Parteimehrheit . . . mit der volonté générale gleichgesetzt"

37

38

Vgl. die umfangreiche Literatur zur innerparteilichen Demokratie, später Fn. 70. G . LEIBHOLZ Verfassungsrechtliche Stellung und innere O r d n u n g der Parteien, in: V e r handlungen des 38. D J T ( 1 9 5 0 ) S. C 1 0 ; ferner DERS. V o l k und Partei im neuen deutschen Verfassungsrecht, DVB1. 1 9 5 0 , 1 9 6 f . Die A u s f ü h r u n g e n kehren wortgleich oder ähnlich in den verschiedensten anderen Schriften des A u t o r s wieder (s. Fn. 2 1 ) , ohne daß sie hier vollständig nachgewiesen w ü r den. Leibholz' Theorie ist bereits in der W e i -

marer Republik grundgelegt w o r d e n , vgl. Das W e s e n der Repräsentation, 1 9 2 9 ; zu ihrer Entwicklung minutiös LIPPHARDT Gleichheit (Fn. 19) S. 5 3 1 . A u f den Einfluß v o n M . WEBER Parteiwesen und Parteiorganisation, in: Staatssoziologie (Hrsg. W i n ckelmann) 2. A u f l . 1 9 6 6 , S. 50, und C . SCHMITT Verfassungslehre, 1 9 2 8 , und Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1 9 2 3 , ist mehrfach a u f m e r k sam gemacht w o r d e n . 39

LEIBHOLZ 3 8 . D J T , S. C 1 0 .

332

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

wird 4 0 . Diese ist dann auf Zeit der Staat. Leibholz zieht daraus den Schluß, daß sich das Herrschaftssystem durch die Parteien in eine „rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie, oder, wenn man will, ein Surrogat der direkten Demokratie im modernen Flächenstaat" verwandelt hat 41 , dem er den Namen „Parteienstaat" gibt. Mit dieser doppelten Identifikation von Volk und Parteien sowie Parteien und Staat gibt auch Leibholz die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, ohne das ausdrücklich herauszustellen, preis. Vermittels der Parteien fallen sie in eins. Eine Kluft könnte nur aufbrechen, wenn die Parteiapparate sich verselbständigten und in dieser Form vom Staat Besitz ergriffen. Sie wären damit nicht mehr Instrumente der Demokratie, sondern „diktatoriale Körperschaften" 42 . Als Gegengewicht fungiert die grundgesetzlich vorgeschriebene innerparteiliche Demokratie, die die Identität von Volk und Parteien und damit den demokratischen Staat bewahrt. Leibholz zieht aus seiner Identitätstheorie Schlüsse für den Standort der Parteien, die über die Absichten der Kritiker des Unterscheidungstheorems weit hinausgehen. Diesen liegt daran, die überkommene und auch in manchen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts noch fortlebende Beschränkung der Parteien auf den gesellschaftlichen Wirkungskreis aufzubrechen und ihnen einen Platz im politischen System zuzuweisen, der ihrer tatsächlichen Funktion entspricht und erst eine sinnvolle Lösung dogmatischer Einzelprobleme erlaubt. Dieses Vorhaben ist ebenso berechtigt wie unabhängig von der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft. Leibholz verfolgt dagegen auf der Grundlage seiner Identitätsvorstellungen „die Einfügung der politischen Parteien in den staatlichen Herrschaftsapparat" 43 . Diese sieht er durch die verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien in Art. 21 GG vollzogen und kann daher Parteien und Staatsorgane auf die gleiche Stufe stellen. Leibholz' Parteienstaatstheorie ist Gegenstand starker Kritik sowohl von politikwissenschaftlicher als auch von juristischer Seite gewesen 44 . Ohne Frage hat sie mit den Absichten der Schöpfer des Grundgesetzes wenig gemein. Diesen ging es um eine repräsentative Demokratie, und zwar in Reaktion auf die plebiszitären Erfahrungen in der Weimarer Republik in ausgesprochen reiner Form. Die verfassungsgeberischen Intentionen müßten freilich unbeachtlich bleiben, wenn Demokratie unter den Bedingungen des Massenwahlrechts allein als identitäre möglich wäre. Unmittelbare Evi-

Ebenda S. C 9 f. Ebenda S. C 9. Ebenda S. C 12, weiter C 2 1 .

GREBING Konservative gegen die Demokratie, 1971, S. 204; HENKE, Politische Parteien

43

LEIBHOLZ D V B 1 . 1 9 5 0 ,

44

Vgl. aus der umfangreichen Literatur etwa C . MÜLLER Das imperative und das freie Mandat, 1966, S. 45; P. BADURA in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Zweitbearb.

laments und die Parteiendemokratie, in: DERS. Die mißverstandene Demokratie, 1973, S. 75 (dort S. 168 A n m . 32: „ A n Leibholz* Lehre stimmt so ziemlich nichts."); P. HAUNGS Die Bundesrepublik — ein Parteienstaat? in: ZParl. 4 (1973) 502; U . SCHEUNER Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S.

10 41 42

196.

1 9 6 6 , R d n . 2 6 f f z u A r t . 3 8 ; K . I. UNKEL-

BACH Zur Wahlrechts- und Parteientheorie von Gerhard Leibholz, in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1967, S. 222; H.

( F n . 1 4 ) S. 7 ; W . HENNIS D i e R o l l e des P a r -

2 6 1 , 3 2 5 , 3 5 4 ; H . - R . LIPPHARDT G l e i c h h e i t ( F n . 1 9 ) S. 5 3 0 ; SCHMID ( F n . 1 3 ) S. 2 8 f f .

333

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

denz besäße die Identität zwischen Volk und Parteien nur, wenn die gesamten Aktivbürger in Parteien organisiert wären. Indessen stehen den rund 38 Millionen Wahlberechtigten in der Bundesrepublik kaum mehr als 2 Millionen Parteimitglieder gegenüber. Die Identität läßt sich unter diesen Umständen nur dadurch begründen, daß das Volk außerhalb der Parteien nicht handlungsfähig ist. In der Tat haben die bisherigen Überlegungen zur Funktion der Parteien die Hilfsbedürftigkeit des Volkes ergeben. Hilfsbedürftigkeit schließt freilich Handlungsfähigkeit nicht aus. Zumindest im demokratischen Fundamentalakt der Wahl entscheidet das Volk nicht durch die Parteien, sondern über die Parteien. Nicht weniger problematisch erscheint die Identität zwischen Parteien und Staat. Ihr normatives Hindernis ist Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G . Er unterbricht den direkten Durchgriff der Parteien auf die ihr angehörigen Mandatsträger. Nicht die Parteien als solche, sondern die ihnen verbundenen Abgeordneten und ihr Zusammenschluß, die Fraktionen, sind daher im Parlament vertreten. Diese Wirkung von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G ist freilich umstritten, und gerade Leibholz gehört zu denjenigen, die darin ein vom Parteienstaat überholtes Relikt der liberalen Repräsentation erblicken. Leibholz versagt es sich aber, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G für gänzlich obsolet zu erklären. Er behält für ihn vielmehr die normative Bedeutung, „die äußersten Konsequenzen des Parteienstaates abzuwend e n " 4 5 . Indessen sind es gerade diese äußersten Konsequenzen, die die Integration der Parteien in den staatlichen Bereich vollenden. Schon mit dem Zugeständnis, daß es Restbereiche der Repräsentativität gibt, ist daher die Etatisierung in dem von Leibholz vertretenen Ausmaß nicht mehr aufrechtzuerhalten. Das Bundesverfassungsgericht griff anfänglich die Leibholzsche Theorie vom Parteienstaat auf, ohne ihr doch in allen Konsequenzen zu folgen. Schon in seinem ersten großen Wahlrechtsurteil, das den Auffassungen von Leibholz besonders nahesteht, verweigerte es den Parteien ausdrücklich die Anerkennung als oberste Staatsorgane und stellte sie diesen nur prozessual gleich, indem es ihnen für bestimmte Fälle die Möglichkeit der Organklage nach Art. 93 Abs. 1 N r . 1 G G eröffnete. Zur Begründung erklärte es, daß die Parteien durch Art. 21 G G zu „integrierenden Bestandteilen des Verfassungsaufbaus" geworden und in den „inneren Bereich" des Staatslebens eingerückt seien. Insofern stünden sie dem Staat nicht wie ein grundrechtsbewehrter Bürger gegenüber und könnten daher auch nicht auf die Verfassungsbeschwerde verwiesen werden 4 6 . Seit der Plenarentscheidung von 1954 hat es sich dann eingebürgert, die Parteien — unkorrekterweise, aber in erkennbarer Abgrenzung zu den Staatsorganen — als Verfassungsorgane zu bezeichnen 4 7 . Dagegen trat das Gericht im Parteienfinanzierungsurteil von 1966, an dem Leibholz nicht mitwirken durfte, in deutliche Distanz zur Parteienstaatslehre. Im Rückgriff auf die bereits im Volksbefragungsurteil entwickelte Trennung von Volkswillensbildung und Staatswillensbildung, die nur in der Wahl zusammenfielen, wurden die Parteien nun ganz der gesellschaftlichen Sphäre zugeordnet, während sie in der Staatswillensbildung mit

LEIBHOLZ 38. DJT, S. C 18. « BVerfGE 1, 208 (225ff).

45 4

47

BVerfGE 4, 27 (30). Zur Kritik an dem Begriff vgl. HESSE W D S t R L 17, 40.

334

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Ausnahme der Wahl nicht mehr vorkamen 48 . Erst im Wahlwerbungsurteil deutet sich wieder eine Wende an. Die Entscheidung setzt die Wirksamkeit der Parteien in den Staatsorganen geradezu voraus, definiert sie auch als Zusammenschlüsse von Bürgern „mit dem Ziel der Beteiligung an der Willensbildung in den Staatsorganen" 49 , um dann aber klarzumachen, daß der Staat ungeachtet seiner parteipolitischen Besetzung der Staat des gesamten Volkes bleibt und deswegen mit der Mehrheitspartei auch nicht auf Zeit identisch wird 5 0 . Während Leibholz seine Maßstäbe für die Einordnung der Parteien aus einem „Strukturwandel" der Demokratie gewinnt, setzt das Bundesverfassungsgericht im Wahlwerbungsurteil bei Art. 20 GG an. In der Tat kann die verfassungsrechtliche Verortung der Parteien nur vom grundgesetzlichen Demokratieprinzip ausgehen, das ihre Funktion determiniert, ohne daß seine Interpretation freilich von den konkreten Realisierungsbedingungen der Demokratie abgelöst werden könnte. Dem Grundgesetz liegt die Auffassung zugrunde, daß staatliche Herrschaft eine Auftragsangelegenheit des Volkes ist. Dieses bestimmt in der Wahl, von wem und mit welchem Programm staatliche Herrschaft für eine bestimmte Periode ausgeübt werden soll. Die Ausübung, an der das Volk nicht unmittelbar beteiligt ist, bleibt eingebettet in einen offenen und unabschließbaren Prozeß, der einerseits dem Volk Einflußmöglichkeiten eröffnet und andererseits die staatlichen Entscheidungsträger unter permanenten Rechtfertigungszwang setzt. Das Grundgesetz trifft auf diese Weise Vorsorge, daß sich die staatlichen Organe nicht vom Auftraggeber entfernen. Es schließt aber nicht aus, daß sich die Staatsorgane in diesem Prozeß ihrerseits meinungsbildend betätigen. Die parlamentarische Debatte hat sogar ausdrücklich diese Funktion. Insofern erscheint die Einschränkung des Parteienfinanzierungsurteils richtig, daß sich die Willensbildung „im Wahlakt" vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt zu vollziehen hat 51 . Es kommt verfassungsrechtlich lediglich darauf an, daß die staatliche Beteiligung am Willensbildungsprozeß dessen Offenheit nicht beeinträchtigt 52 . Der Staat darf weder meinungs- und interessenunterdrückend oder -manipulierend tätig werden noch die Kommunikationsmittel monopolisieren, um dadurch den Kreislauf zu unterbinden. Für die Parteien als Vermittlungsinstanzen zwischen Volk und Staat gilt nichts anderes. Wenn das Volk gerade durch sie in den Stand gesetzt wird, die Staatsführung zu bestimmen, ist ihre Wirksamkeit in den Organen des Staates eine zwangsläufige Konsequenz, die verfassungsrechtlich nicht ignoriert werden kann. Die Grenzen lassen sich nur von dem verfassungsrechtlich frei und offen ausgestalteten Prozeß her gewinnen. Seinetwegen dürfen die Parteien nicht aus ihrer gesellschaftlichen Verankerung gelöst werden und eine Position einnehmen, die sie vom Willen ihrer Mitgliedschaft weitgehend unabhängig stellt und es den Parteieliten ermöglicht, folgenlos

48

49 50

B V e r f G E 20, 56 (bes. 9 8 f f ) unter Verweis auf B V e r f G E 8, 104 (113). B V e r f G E 44, 125 (145). Ebenda, bes. 142 ff. Die Leibholzsche Lehre

51

kehrt hier im Sondervotum des Richters Rottmann, S. 181 f f , wieder. B V e r f G 44, 124 (140) im Gegensatz zu 20,

52

So auch HÄBERLE JUS 1967, 72.

5 6 (99).

335

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

eigengewählte politische Programme ohne dauernde Rückkoppelung an die gesellschaftliche Meinungs- und Interessenvielfalt zu verfolgen. Das ist der Sinn der vom Grundgesetz vorgeschriebenen demokratischen Binnenstruktur der Parteien. Die Neigung der Legitimationstheoretiker, innerparteiliche Demokratie als disfunktional für die Aufgabenerfüllung der Parteien hinzustellen, findet daher im Verfassungsrecht ebensowenig eine Stütze wie die gegenteiligen Bemühungen, das freie Mandat des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G unter Hinweis auf Art. 21 G G in ein imperatives umzudeuten. Die Parteien werden vielmehr für das demokratische System des Grundgesetzes in demselben Maß disfunktional, wie sie „als kollektive Legitimationsmechanismen nach unten verstopft" sind 5 3 . Die dogmatischen Konsequenzen im einzelnen sind später zu ziehen. 2. Die Parteien gegenüber dem Staat

a) Die äußere Freiheit der Parteien Auf der Grundlage der Funktions- und Positionsbestimmung der politischen Parteien läßt sich nunmehr ihr verfassungsrechtlicher Status präzisieren. Dieser kann geradezu als die Summe der rechtlichen Voraussetzungen für die Erfüllung der Funktion betrachtet werden 5 4 . Dabei ist davon auszugehen, daß die Parteienkonkurrenz das Mittel zur demokratischen Steuerung des Staates bildet. Diese Steuerung kann aber nur gelingen, wenn der Staat seinerseits die Parteienkonkurrenz nicht beeinträchtigt. Jede Beeinträchtigung müßte sich ja angesichts der Tatsache, daß die Staatsleitung das Objekt dieser Konkurrenz ist und der siegreichen Partei zufällt, wettbewerbsverzerrend auswirken. Im selben Maß verlören die Parteien ihre Fähigkeit zur demokratischen Steuerung des Staates und würden zum Instrument autoritärer Steuerung der Gesellschaft. Daher benötigen sie dem Staat gegenüber einen Status der Freiheit 55 , der die Umkehr des demokratischen Grundverhältnisses verhindert. Diese in Art. 21 Abs. 1 Satz 2 G G garantierte Freiheit unterscheidet sich aber von einer grundrechtlichen Freiheit. Grundrechtliche Freiheiten wurzeln in der Menschenwürde. Sie sind personale Freiheiten, keine zur Erfüllung einer bestimmten Sozialfunktion gewährten Freiheiten. Die Parteienfreiheit folgt zwar aus dieser Grundentscheidung, indem sie das politische System mit dem Prinzip personaler Freiheit kompatibel hält. Im Gegensatz zum Einzelnen beanspruchen die Parteien die Freiheit aber nicht wegen ihres Selbstwertes. Sie ist vielmehr funktionale Freiheit und daher auch nach Ziel und Ausmaß von ihrer Funktion bestimmt und begrenzt. Das heißt freilich nicht, daß die Parteien keine Grundrechte hätten. Insofern sie freie gesellschaftliche Gebilde sind, kommen sie im Rahmen von Art. 19 Abs. 3 G G auch in den Genuß der Grundrechte und der damit verbundenen prozessualen Befugnisse 5 6 .

53

54 55

W.

D.

NARR/F.

NASCHOLD

Theorie

der

Demokratie, 1971, S. 95. Vgl. HESSE W D S t R L 17, 27. Ebenda, 27. HENKE Parteien (Fn. 14) S. 229; SEIFERT Parteien (Fn. 14) S. 110.

56

Zur Grundrechtsträgerschaft von Parteien vgl. HENKE Parteien (Fn. 14) S. 229; zum prozessualen Status ebenda, S. 279; zum umstrittenen Verhältnis von Art. 21 und Art. 9 G G ebenda, S. 232, sowie HESSE

336

3. Kapitel. D i e demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Die Parteienfreiheit erscheint in Art. 21 Abs. 1 Satz 2 G G in Form der Gründungsfreiheit. D a s bedeutet, daß die Gründung einer Partei an keinerlei staatliche Zulassung gebunden ist und auch nicht in einer bestimmten Rechtsform erfolgen muß. Vor allem enthält sich das Grundgesetz damit jeder Festlegung des Parteiensystems 5 7 . Die für die politische Kultur eines Landes außerordentlich wichtigen Fragen des Zwei- oder Vielparteiensystems, der Weltanschauungs-, Interessen- oder Volksparteien, der Mitglieder- oder Wählerparteien sind verfassungsrechtlich offengelassen und entscheiden sich in der politischen Wirklichkeit. Damit wird nicht behauptet, daß diese sich rechtlich unbeeinflußt entwickele. Insbesondere das Wahlrecht kann prägend auf das Parteiensystem einwirken, wenngleich keine monokausale Beziehung beteht, wie lange Zeit angenommen wurde 5 8 . D a s Grundgesetz verleiht aber keine Möglichkeit, die Entwicklung des Parteiensystems schon im Gründungsansatz zu steuern. Tatsächlich sind in der Bundesrepublik im Laufe der Zeit auch etwa 150 Parteien ganz verschiedenen Typs gegründet worden und großenteils wieder untergegangen 5 9 . Auch insoweit nimmt das Grundgesetz auf den gesellschaftlichen Prozeß keinen Einfluß. Es wäre verfehlt, vom Grundgesetz eine Garantie materieller Pluralität des Parteiensystems zu erwarten. Mit der Gründungsfreiheit, die notwendig formale Freiheit ist, verbindet sich immer nur die Chance, unterschiedliche oder gegensätzliche Meinungen und Interessen parteimäßig zu organisieren. Gleichen die bestehenden Parteien einander derart an, daß sie nicht mehr als Alternativen erscheinen, so liegt das Korrektiv nur in der Gründungsfreiheit und den mit ihr verbundenen komplementären Freiheiten. Es kann im demokratischen System aber keine Handhabe zur staatlichen Gegensteuerung geben. Zu den komplementären Freiheiten, die Art. 21 Abs. 1 Satz 2 G G einschließt, ohne sie ausdrücklich zu nennen, gehört die Freiheit der Zieldefinition. Zur Verfolgung politischer Ziele werden Parteien gegründet. Die Gründungsfreiheit wäre daher ohne die Programmautonomie wertlos. Jede inhaltliche Anforderung an das Programm einer Partei müßte sich auf Seiten des Staates als Bewertungsbefugnis auswirken und drohte damit den Parteienwettbewerb zu verfälschen. Das gilt auch für die in der Frühphase der Bundesrepublik häufiger erhobene Forderung, die Parteien hätten sich am Gemeinwohl zu legitimieren 60 . Die Forderung richtet sich gegen die partei-

57

W D S t R L 17, 45, einerseits und T . MAUNZ/

FENSKE S t r u k t u r p r o b l e m e ( F n . 4 ) S. 19, 1 6 1 ;

G . D Ü R I G / R . H E R Z O G / R . SCHOLZ G r u n d -

v . B E Y M E P a r t e i e n ( F n . 1) S . 3 1 6 .

gesetz, R d n . 38 z u Art. 21, andererseits. Für die Deutung von Art. 21 G G als „echtes G r u n d r e c h t " LIPPHARDT Gleichheit (Fn. 19) S. 119, 693. Vgl. G . SARTORI Parties and Party Systems, 1 9 7 6 ; v . B E Y M E P a r t e i e n ( F n . 1) S . 3 0 3 ;

58

59

G E R / R . STÖSS D i e P a r t e i e n u n d d i e P r e s s e

der Parteien und Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland, 1975, sowie M . ROWOLD Im Schatten der Macht. Zur Oppositionsrolle der nichtetablierten Partei-

O.

KIRCHHEIMER D e r Wandel des westeuropäischen Parteisystems, in: P V S 6 (1965) 20. Namentlich v. F . A . HERMENS Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht? 1949; DERS. D e m o k r a t i e oder Anarchie? Untersuchung über die Verhältniswahl, 1968; dazu

V g l . die A u f t e i l u n g v o n H . W . SCHMOLLIN-

en in der B u n d e s r e p u b l i k , 1 9 7 4 ; S. L . FISH-

ER T h e Minor Parties of the Federal R e p u b lic o f G e r m a n y , 1 9 7 4 ; H E N K E D V B 1 .

1979,

372. 60

Vgl. W. GREWE Z u m Begriff der politischen Partei, in: Festschrift für Erich K a u f m a n n ,

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

337

politische Vertretung partikularer Interessen. Indessen gehen auch unterschiedliche Gemeinwohlvorstellungen häufig auf divergierende Interessen zurück und bilden mit ihnen eine schwer durchschaubare Einheit. Unter diesen Umständen müßte die Programmanforderung jedoch zu außerordentlich schwierigen Abgrenzungsproblemen führen, die kaum objektiv lösbar wären und daher die Parteienfreiheit erheblich gefährdeten. Abgesehen davon enthält das Grundgesetz keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Interessen nur Verbands- und nicht parteimäßig organisiert werden dürften, wie es auch keine Gruppe daran hindert, ihr Programm nicht auf sämtliche Politikbereiche zu erstrecken, sondern nur einige auszuwählen, die womöglich in anderen Parteien nicht genügend Aufmerksamkeit finden. Die einzige Entscheidungsinstanz über die Vorzugswürdigkeit von Parteiprogrammen ist die Wählerschaft. Insofern in der Begrenzung auf ein Interesse oder ein einzelnes politisches Problem immer auch eine Selbstbegrenzung des Wählerpotentials liegt, wohnt der Gemeinwohlanforderung eine faktische Ausbreitungstendenz inne. Normatives Gebot ist sie nicht 6 1 . Die Gründungs- und Programmfreiheit setzt sich in der Betätigungsfreiheit fort. Parteien haben in ihrer Eigenschaft als Vermittler von Volksüberzeugungen und -interessen an den Staat nicht wie Staatsorgane Kompetenzen, sondern genießen wie die Gesellschaft Handlungsfreiheit. Sie sind daher auch nicht auf Willensbildung beschränkt, sondern können sich wirtschaftlich, karitativ, sozial, kulturell betätigen. Für ihre Betätigung gibt es außer den allgemeinen Gesetzen keine spezifisch parteirechtlichen Grenzen. Freilich hängt der Parteienstatus davon ab, daß die verfassungsrechtliche Funktion beibehalten wird. Diese besteht in der Mitwirkung an der Willensbildung des Volkes, und da dessen Willensbildung in der Wahl gipfelt, ist die Teilnahme an Wahlen für Parteien konstitutiv. Eine Mitwirkung an der Volkswillensbildung in anderen Formen bestimmt sich dann nach den Grundrechten. Sie kann aber nicht die von Art. 21 G G verliehenen Statusrechte in Anspruch nehmen. Die Teilnahme an Wahlen liefert auch die einzig tragfähige Abgrenzung gegen die Verbände. Sie bildet daher den Kern des vom Grundgesetz vorausgesetzten, jedoch nicht selbst definierten Parteibegriffs 6 2 . Es kommt aber weder auf den Wahlerfolg noch auf das Streben nach Regierungsbeteiligung an. Gerade neue Parteien formieren sich häufig im Protest gegen verfestigte Parteiensysteme und können deswegen in

61

62

1950, S. 65; ähnlich heute noch HENKE Parteien (Fn. 14) S. 32ff. So auch die Parteienrechtskommission, s. Rechtliche Ordnung des Parteiwesens, 2. Aufl. 1958, S. 131, und ihr folgend das Parteiengesetz vom 24. 7. 1967. Zum Parteienbegriff ausführlich HENKE Parteien (Fn. 14) S. 30, 35; SEIFERT Parteien (Fn. 14) S. 159. Als Beispiel für eine unsinnige Definition WIESENDAHL Parteien und Demokratie (Fn. 9) S. 25: „Parteien in modernen Massendemokratien sind hochkomplexe, ressourcenungewisse, organisations-

und handlungsbeschränkte, funktional notwendige und vielseitig brauchbare, normative und operative Mehrzweckagenturen politischen Machterwerbs, die wandelnden, multifaktoriellen Umweltbedingungen unterworfen sind, auf die sie selbst flexibel einzuwirken bemüht s i n d . " Vgl. dagegen etwa R. ROSE The Problem of Party Government, 1974, S. 3: „ A political party is an organization concerned with the expression of popular preferences and contesting control of the chief policymaking offices of government."

338

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

ihren Anfängen keine regierungsorientierten Funktionen akzeptieren 63 . Entsprechende rechtliche Anforderungen müßten unter diesen Umständen auf eine Disziplinierung von gesellschaftlichem Protestpotential hinauslaufen, die dem Zweck der Gründungsfreiheit widerspräche. Dagegen zielen die Begriffsmerkmale, die das Parteiengesetz in § 2 aufzählt, nicht auf Verkürzung der Gründungsfreiheit, sondern stellen nur einen Test der Ernsthaftigkeit dar. Auch an sie dürfen im Interesse der Gründungsfreiheit aber keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden 6 4 . Mit der Gründungs- und Betätigungsfreiheit korrespondiert der prinzipielle Ausschluß von Parteiverboten. Art. 21 Abs. 2 G G nimmt davon allerdings Parteien aus, die die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen oder den Bestand der Bundesrepublik gefährden. Er bildet damit neben Art. 9 Abs. 2 und Art. 18 G G ein wesentliches Element der sogenannten wehrhaften Demokratie. Seine Entstehung verdankt er der Erfahrung des Untergangs der Weimarer Republik, die auf der Basis eines formalen Demokratiebegriffs keine Abwehrmöglichkeiten gegen Fundamentalgegner besaß. Mit der zeitlichen Entfernung von dieser Erfahrung hat die Plausibilität der Vorschrift abgenommen, und diejenigen Vorkehrungen, welche ursprünglich zum Schutz der Demokratie gedacht waren, werden heute vielfach als demokratieabträglich betrachtet. In der Tat liegt im Verbot einer politischen Partei ein außerordentlich schwerer staatlicher Eingriff in die Offenheit und Unabschließbarkeit des politischen Prozesses. Er läßt sich nur im Interesse eben dieser Offenheit und Unabschließbarkeit rechtfertigen. Gehören sie zu den Konstitutionsbedingungen der grundgesetzlichen Demokratie, dann dürfen sie ihrerseits nicht zur demokratischen Disposition stehen. Unter dieser Voraussetzung erscheint es aber auch konsequent, nicht nur die Abschaffung der Konstitutionsbedingungen von Demokratie zu untersagen, wie das in Art. 79 Abs. 3 G G geschieht, sondern bereits die organisierte Verfolgung solcher Ziele zu unterbinden und politische Parteien, die die Offenheit des politischen Prozesses für den Fall ihrer Machtergreifung abschaffen wollen, aus dem politischen Prozeß zu eliminieren. Das Grundgesetz trägt der Schwere des Eingriffs dadurch Rechnung, daß die Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei, die nach § 46 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG ihre Auflösung zur Folge hat, nur vom Bundesverfassungsgericht festgestellt werden darf. Dieses wird in Parteiverbotsangelegenheiten nach § 43 BVerfGG nur auf Antrag tätig. O b ein Antrag gestellt wird oder ob die antragsberechtigten Staatsorgane es vorziehen, solche Parteien politisch zu bekämpfen, steht in ihrem Ermessen. Taktische oder opportunistische Motive sind also nicht untersagt. Es kann dann freilich Parteien geben, die zwar die Voraussetzung eines Verbots erfüllen, aber nicht verboten sind. Das hat die Frage nach den Konsequenzen für die betroffenen Parteien 63

64

Vgl. dazu v. B E Y M E Parteien (Fn. 1) S. 25; ROMPOLD Im Schatten der Macht (Fn. 59). Angesichts der für Parteien konstitutiven Bedeutung der Teilnahme an Wahlen erscheint § 2 Abs. 3 PartG unbedenklich. Zweifelhaft ist dagegen der vom Bundesverfassungsgericht (E 6, 367, 373f) vorgenom-

mene und in § 1 Abs. 1 PartG eingegangene Ausschluß reiner Kommunalparteien, vgl. K. H E S S E Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 1982, Rdn. 169. Zu diesen Gruppen T. M Ö L L E R Die kommunalen Wählergemeinschaften in der Bundesrepublik, 1981.

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

339

und ihre Mitglieder aufgeworfen. Sie spielt insbesondere bei der Ablehnung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst eine Rolle 6 5 . Nach der Konstruktion des Grundgesetzes wirkt der Spruch des Bundesverfassungsgerichts für die Verfassungswidrigkeit einer Partei konstitutiv. Unter diesen Umständen können aber aus der materiellen Verfassungswidrigkeit keine rechtlichen Konsequenzen gezogen werden. Ihre Existenz und Betätigung und folglich auch die Mitgliedschaft in ihr sind legal. Rechtliche Nachteile dürfen nicht daran geknüpft werden. Das kann, wenn das Parteienprivileg nicht ausgehöhlt werden soll, nicht nur auf die Partei beschränkt bleiben, sondern muß ihre Anhänger ebenfalls erfassen. Die Mitgliedschaft in einer Partei, die verfassungswidrige Ziele verfolgt, darf also nicht als Grund für die Ablehnung eines Bewerbers herangezogen werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht in der wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen 6 6 . b) Innerparteiliche

Demokratie

Mit dem Grundsatz der Parteienfreiheit scheinen die Auflagen, die Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G den Parteien macht und die im Parteiengesetz konkretisiert werden, auf den ersten Blick schwer vereinbar. Sie schränken die Autonomie der Parteien in einem Kernstück, der inneren Ordnung, ein, indem sie die Grundstruktur vorgeben und den Parteien nur die nähere Ausgestaltung überlassen. Andererseits hat Hesse darauf aufmerksam gemacht, daß diese freiheitsbeschränkenden Vorschriften gerade im Dienst der Parteienfreiheit stehen 6 7 . Damit kann dann allerdings nicht mehr die negatorische Staatsfreiheit, deren Kehrseite stets die Selbstbestimmung ist, sondern nur eine umfassendere Freiheit gemeint sein, die auf die Freiheitlichkeit der gesamten Institution Partei zielt. Die äußere Parteienfreiheit bildet dann nur noch einen Aspekt dieser Freiheit, der in der inneren Parteienfreiheit seine Entsprechung, aber auch Begrenzung findet. Diese Begrenzung, der andere politische Gruppen nicht unterworfen sind, hat ihren Grund in der Funktion der politischen Parteien im demokratischen System. Muß legitime politische Herrschaft hier ebensowohl vom Volk abgeleitet wie in der Ausübung auf das Volk rückbezogen sein, wird der Einfluß des Volkes aber wesentlich durch die Parteien vermittelt, dann kann sich die Demokratie nur in dem Maß entfalten, wie die Parteien ihrer gesellschaftlichen Basis verbunden bleiben. Diese Gewähr bieten allein Parteien, die auch in ihrem inneren Aufbau demokratischen Anforderungen genügen. Personal und Programm, mit dem sie sich um die Leitung des demokratischen Staates bewerben, müssen selbst wieder aus einem demokratischen Prozeß hervorgehen. Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G sichert also diejenige strukturelle Homogenität zwischen Staat und Parteien, welche ein funktionsadäqua-

65

Vgl. die umfassende Dokumentation von E. DENNINGER (Hrsg.) Freiheitliche demokratische Grundordnung, 2 Bde, 1977; ferner E . DENNINGER/H. H . KLEIN Verfassungstreue

und Schutz der Verfassung, in: W D S t R L 37 (1979), 7 und 53; M. KRIELE Feststellung der Verfassungsfeindlichkeit von Parteien ohne V e r b o t , in: Z R P 1975, 2 0 1 ; D . LORENZ Ver-

56

"

fassungswidrige Parteien und Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts, in: A ö R 101 (1976) 1; W. SCHMIDT Das Parteienprivileg zwischen Legalität und Opportunität, in: D ö V 1978, 468. B V e r f G E 39, 334. Vgl. HESSE W D S t R L

17, 30.

340

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

tes Zusammenwirken beider erfordert. Daran müssen sich auch die Konkretisierungen des verfassungsrechtlichen Prinzips im Parteiengesetz ausrichten. Allerdings trifft gerade die verfassungsrechtliche Forderung nach innerparteilicher Demokratie auf starke gegenläufige Tendenzen in der politischen Wirklichkeit. Das ist seit den grundlegenden Untersuchungen von Ostrogorski und Michels bekannt 68 und von der neueren Parteienforschung nicht prinzipiell widerlegt worden. Eine differenziertere Betrachtung, die die Parteien nicht mehr als Handlungseinheiten, sondern selbst wieder als pluralistische Gebilde versteht, die sich aus Parteimitgliedern, Parteiführung, Partei in den Staatsorganen und Parteibürokratie zusammensetzen, hat aber verschiedene Präzisierungen und Modifizierungen ergeben 69 . Dabei fand die Annahme einer wachsenden Dominanz der Parteibürokratie keine Bestätigung. Auch wird die Kandidatenaufstellung für die Parlamentswahlen in weit geringerem Maß von der Parteiführung gelenkt als vermutet. Innerparteiliche Fraktionsbildungen nehmen zu. Im übrigen läßt sich aber eine relativ große Selbständigkeit der Parteiführung und der Inhaber staatlicher Ämter, die häufig identisch sind, von der Parteibasis feststellen. Die Ursache liegt einerseits in der Apathie der Basis, die keineswegs nur auf der unorganisierten Ebene anzutreffen ist, sondern innerhalb der Parteien wiederkehrt. Andererseits handelt es sich um eine Folge des Organisations- und Informationsvorsprungs der professionellen Parteielite. Insofern gilt für Parteien nichts anderes als für sonstige Vereinigungen. Das Erfordernis innerparteilicher Demokratie scheint in gewissem Umfang aber auch mit der spezifischen Zielsetzung politischer Parteien, die auf Wahlsieg und Regierungsbildung gerichtet ist, zu kollidieren. Die verbreitete Neigung in der Bevölkerung, innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten negativ zu bewerten und mit Stimmentzug zu bestrafen, verleiht dem Einigkeitsdruck, den die Parteiführungen auszuüben pflegen, gerade vor Wahlen beträchtliches Gewicht, das die Entfaltung innerparteilicher Demokratie nicht begünstigt. Die innerparteiliche Demokratie bildete seit den sechziger Jahren den bevorzugten Gegenstand der deutschen Parteienforschung, wobei die kritischen Stimmen überwogen 70 . Nur dort, wo die Funktion der Parteien hauptsächlich in der Regie-

68

69

M . OSTROGORSKI La démocratie et l'organisation des parties politiques, 1 9 0 3 ; R . M I CHELS Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 1911. Dazu R . EBBIGHAUSEN Die Krise der Parteiendemokratie und die Parteiensoziologie, 1969. Vgl. ROSE, Party Government (Fn. 62) S. 3 ; F. J . SORAUF Party Politics in America, 1968,

70

S . l O f ; v . BEYME P a r t e i e n ( F n . 1 ) S .

2 8 7 ; zu einschränkenden Randbedingungen innerparteilicher Demokratie T. ELLWEIN Regierungssystem (Fn. 27) S. 1 8 9 f f . Weitere Angaben in Fn. 70. Vgl. etwa U . LOHMAR Innerparteiliche Demokratie, 1 9 6 3 ; U . MÜLLER Die demokrati-

sche Willensbildung in den politischen Parteien, 1967; B. ZEUNER Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl 1965, 1 9 7 0 ; S. u. W . STREECK Parteiensystem und Status quo. Drei Studien zum innerparteilichen K o n flikt, 1972; H . NOWKA Das Machtverhältnis zwischen Partei und Fraktion in der SPD, 1 9 7 3 ; W . JÄGER Innerparteiliche Demokratie und Repräsentation, in: DERS. (Hrsg.) Partei u n d S y s t e m , 1 9 7 3 , S. 1 0 8 ; U . v .

ALEMANN

Mehr Demokratie per Dekret. Innerparteiliche Auswirkungen des deutschen Parteiengesetzes, in: PVS 14 (1973), 181; J . RASCHKE Innerparteiliche Opposition und Anpassung, 1974; DERS. Organisierter K o n f l i k t in

341

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

rungsfähigkeit erblickt und ihre Leistung dementsprechend an dem Beitrag zur Regierungsstabilität gemessen wird, erscheinen die Oligarchisierungstendenzen nicht als Mangel, sondern als Funktionsbedingung. Der Parteibasis muß dann eine „ b e scheidene und dienende F u n k t i o n " 7 1 zukommen, und innerparteiliche Demokratie kann geradezu als systembedrohend gelten. Wer dagegen als Hauptfunktion der Parteien die Eröffnung von Partizipationschancen für die Mitglieder ansieht und deswegen die Übermittlung gesellschaftlicher Meinungen und Interessen an den Staat in den Vordergrund rückt, gelangt zu einer Verurteilung der Oligarchisierungstendenzen. Parteien, in denen Parteiführung, Parteiapparat oder staatliche Amts- und Mandatsträger die Parteibasis zu kontrollieren vermögen, erscheinen dann geradezu als Demokratiegefahr. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten läßt sich die Auffassung von der Disfunktionalität der innerparteilichen Demokratie nicht aufrechterhalten. Das Grundgesetz macht sie den Parteien in Art. 21 Abs. 1 Satz 3 ausdrücklich zur Pflicht und gibt gerade damit zu erkennen, daß es ihre Funktion nicht auf die Regierungsfähigkeit verengt. Andererseits steht die gegenwärtige Praxis aber auch nicht in offenem Widerspruch zum Grundgesetz. Die Dominanz der Parteieliten beruht selten auf Regelverstößen. Bei formeller Betrachtung ist sie also ohne verfassungsrechtliche Relevanz. Freilich können auch Entwicklungen, die Verfassungsnormen nicht rundheraus verletzen, zu ihrer Aushöhlung und Sinnentlehrung beitragen. Sie werden dann sehr wohl verfassungsrechtlich bedeutsam und verlangen unter Umständen rechtspolitische Reaktionen 7 2 . Insofern kann man fragen, ob Art. 21 Abs. 3 G G nicht höhere Anforderungen an die innerparteiliche Demokratie stellt, als sie das Parteiengesetz derzeit vorschreibt. Die Antwort läßt sich indessen nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Wünschbarkeit geben. Vom Grundgesetz können sinnvollerweise nur erfüllbare Anforderungen ausgehen. Welche innere Ordnung Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G von den Parteien verlangt, ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Normziel und Sachstrukturen. Gerade bei der Regelung der innerparteilichen Willensbildung scheinen letztere aber ein starkes Eigengewicht zu haben. Soweit die Defizite innerparteilicher Demokratie auf Mitgliederapathie zurückgehen, stehen sie außerhalb rechtlichen Einflusses. Normen können nicht Interesse und Engagement anordnen. Soweit sie auf dem Informationsvorsprung beruhen, den Berufspolitiker und Amtsträger vor einfachen Mitgliedern haben, scheidet eine rechtliche Kompensation ebenfalls aus. Dasselbe gilt für die Entfaltungsbedingungen innerparteilicher Opposition, soweit es der Parteienwettbewerb um Wählerstimmen selbst ist, der sie zügelt. Die Bindung staatlicher Amts- und Mandatsträger fällt vollends gar nicht unter Art. 21 Abs. 1 Satz 3, sondern unter Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G . Gesetze können also nur die Rahmenbedingungen

71

westeuropäischen Parteien, 1977; H . TRAUTMANN Innerparteiliche Demokratie im Parteienstaat, 1975; M . GREVEN Parteien und politische Herrschaft , 1977; WIESENDAHL (Fn. 9) S. 261 ff. HENNIS Parteienstruktur und Regierbarkeit (Fn. 26) S. 173.

72

Vgl. die Überlegungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform, Schlußbericht, BT-Drucksache 7/5924, S. 10, 14. Verfassungsrechtlich nicht unbedenklich aber das von § 9 A b s . 2 Part G zugelassene ex-officioStimmrecht von Vorstandsmitgliedern, A b geordneten etc.

342

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

schaffen und dadurch die vorhandenen Tendenzen innerparteilicher Demokratie begünstigen oder entmutigen. Das Parteiengesetz verleiht der Parteimitgliedschaft eine Rechtsposition, die es ihr erlaubt, sich über Wünsche und Pressionen der Parteiführung in Programm- und Personalfragen hinwegzusetzen, wenn sie das will. Damit wird jedoch lediglich eine Chance eröffnet, deren tatsächliche Nutzung nicht mehr vom Recht abhängt. Die Verfassung ist auch hier zur politischen Wirklichkeit hin offen, das Gelingen ihrer Zielvorstellungen nicht allein von der Güte ihrer Bestimmungen abhängig. Die innerparteiliche Demokratie bezieht sich nur auf Parteimitglieder. Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G begründet keinen Anspruch des Publikums, an der Willensbildung einer Partei beteiligt zu werden. In der Auswahl ihrer Mitglieder verfügen die Parteien also über eine Handhabe, den Rahmen der innerparteilichen Meinungsvielfalt zu bestimmen. Das Grundgesetz schweigt zu diesem Problem. Doch folgt aus der Gründungs- und Programmfreiheit, daß es jedenfalls keinen schrankenlosen Aufnahmezwang geben kann. Die Parteien, die gerade in unterschiedlichen politischen Auffassungen ihre Identität suchen, müssen die Möglichkeit haben, die Aufnahme von einer Grundidentifikation mit ihren Zielen abhängig zu machen. Schwieriger ist die Frage, ob im Fall einer solchen Grundidentifikation ein Aufnahmeanspruch besteht. Das Parteiengesetz geht nicht so weit, sondern untersagt in § 10 Abs. 1 nur eine generelle Aufnahmesperre. Das entspricht der herrschenden Meinung; teilweise wird sogar diese Beschränkung für verfassungswidrig gehalten 73 . Andererseits läßt sich bei unbegrenzter Entscheidungsfreiheit der Parteien die innerparteiliche Demokratie schon im Ansatz kleinhalten. Art. 21 G G stellt aber nicht nur ein Freiheitsrecht der Partei, sondern auch ein Partizipationsrecht des Bürgers dar. Dieses realisiert sich gewöhnlich durch Mitwirkung in einer bestehenden oder Gründung einer neuen Partei. Indessen sind angesichts des verfestigten Parteiensystems der Bundesrepublik und der Erfolgsbarrieren für Neugründungen in Gestalt der wahlrechtlichen Sperrklausel die Wirkungsmöglichkeiten in einer bestehenden Partei meist erheblich größer als in einer neugegründeten. Unter diesen Umständen liegt aber eine Aufnahmepflicht bei — überprüfbarer — Grundidentifikation mit den Parteizielen durchaus nahe 7 4 . Die Mitgliederauswahl würde dann über die Zieldefinition gesteuert. Wenn das Grundgesetz eine solche Lösung auch nicht geradewegs fordert, so stünde sie ihm doch näher als die geltende Regelung. Verschärft stellt sich die Frage beim Parteiausschluß. Als Konsequenz der Gründungs- und Programmfreiheit zweifellos zulässig, kann er angesichts der öffentlichen Funktion der Parteien doch nicht in ihrem privatautonomen Belieben stehen. Das Parteiausschlußrecht berührt vielmehr sowohl das Partizipationsrecht des Einzel-

73

V g l . SEIFERT P a r t e i e n ( F n . 1 4 ) S . 2 1 0 .

74

Ähnliche Überlegungen bei F . KNÖPFLE Der Z u g a n g zu den politischen Parteien, in: Der S t a a t 9 ( 1 9 7 0 ) 3 3 2 ff u n d R . W O L F R U M D i e

innerparteiliche demokratische Ordnung nach dem Parteiengesetz, 1974, S. 156. Für

Willkürverbot und Begründungspflicht E . STEIN Staatsrecht, 7. A u f l . 1980, S. 139f. Die Parteisatzungen tragen dem durch die Einrichtung eines Instanzenzugs teilweise Rechnung.

343

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

nen, für den die Möglichkeit, einer anderen Partei beizutreten oder eine eigene Partei zu gründen, keinen gleichwertigen Ersatz bildet, als auch die Funktionstüchtigkeit der Parteien, die von struktureller Homogenität mit dem von ihnen gelenkten Staat abhängt. Das Parteiengesetz wahrt daher beim Parteiausschluß nicht dieselbe Zurückhaltung wie beim Parteieintritt und legt in § 10 Abs. 4 die Ausschlußgründe und in § § 1 0 Abs. 5 und 14 Abs. 4 das Ausschlußverfahren fest. Die Problematik der Regelung besteht in der Unbestimmtheit der Vorschriften, die sowohl organisationsfreundlich als auch mitgliederfreundlich ausgelegt und dementsprechend von den Gerichten extensiv oder restriktiv kontrolliert werden können. Versteht man Demokratie wie Henke nur als Verfahren oder bezieht man die Offenheit der Parteien wie Schiedermair nur auf das Parteiensystem als ganzes, dann folgt daraus ein weites und nur formell nachprüfbares Ausschlußrecht 7S . Indessen gilt das Demokratiegebot des Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG für jede einzelne Partei, und da das demokratische Verfahren erst auf der Grundlage materieller Freiheit sinnvoll wird, schließt es diese auch im Verhältnis von Partei und Mitglied notwendig ein. Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG ist „grundrechtsförderndes Organisationsrecht" 76 . Andererseits kann die Freiheit des Parteimitglieds nicht so weit reichen wie die des Staatsbürgers, weil die Parteien im Gegensatz zum Staat nicht sämtliche Interessen und Meinungen, sondern nur einen Ausschnitt integrieren müssen und sich gerade in ihrer Selektivität unterscheiden. Die Grenze verläuft aber nicht etwa zwischen Entscheidungsvorbereitung und erfolgter Entscheidung 77 , weil die innerparteiliche Willensbildung genauso wie die Volks- und Staatswillensbildung einen permanenten Prozeß bildet. Die Freiheitsschranke kann materiell nur in der Grundidentifikation und formell in einem parteifreundlichen Austrag der Gegensätze gesucht werden.

c) Die Gleichheit der Parteien Wenn als wichtigstes Mittel zur demokratischen Steuerung des Staates der Parteienwettbewerb fungiert, dann setzt das nicht nur Freiheit dieses Wettbewerbs vom Staat, sondern aus denselben Gründen auch staatliche Neutralität gegenüber den Konkurrenten voraus. Der rechtliche Ausdruck dieser Neutralität ist das Prinzip der Parteiengleichheit 78 . Zwischen den Parteien, die sich um die Staatsleitung bewerben, darf 75

Vgl.

HENKE P a r t e i e n

(Fn. 14)

S.

86;

H.

SCHIEDERMAIR Parteiausschluß und gerichtlicher Rechtsschutz, in: A ö R 104 (1979) 220. Vgl. zum Parteiausschluß ferner den grundlegenden

Aufsatz von

H.

LENZ/C.

SASSE

Parteiauschluß und Demokratiegebot, in: J Z 1962, 233, sowie WOLFRUM Innerparteiliche O r d n u n g ( F n . 7 4 ) S. 1 3 4 , 1 5 0 ; N . HEIMANN

Die Schiedsgerichtsbarkeit der politischen Parteien in der Bundesrepublik, 1977; K. H.

78

Vgl.

H . C . JÜLICH C h a n c e n g l e i c h h e i t

der

Parteiordnungsverfahren,

Parteien, 1967; LIPPHARDT Gleichheit (Fn.

1981, beide m. w . N. Der Ausdruck stammt von P. HÄBERLE Grundrechte im Leistungsstaat, in:

e n ( F n . 1 4 ) S. 2 4 1 ; SEIFERT P a r t e i e n ( F n . 1 4 )

HASENRITTER 76

77

W D S t R L 30 (1972) 51 f, und wird auf A r t . 21 Abs. 1 Satz 3 G G übertragen von G. P. STRUNK Meinungsfreiheit und Parteidisziplin, in: J Z 1978, 87. Zu der umstrittenen Frage der Grundrechtsgeltung im Verhältnis von Partei und Mitgliedern s. WOLFRUM Innerparteiliche Ordnung (Fn. 74) S. 134 m. w . N. So aber z. B. HESSE W D S t R L 17, 33.

1 9 ) ; HESSE W D S t R L 1 7 , 3 6 ; HENKE P a r t e i -

S. 131. Ein hier nicht näher behandelter U n -

344

3. Kapitel. D i e demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

der Staat als Objekt der Konkurrenz nicht diskriminieren. Dabei handelt es sich um eine ebenso elementare wie schwer realisierbare Forderung. Die Schwierigkeiten treten in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht auf. Rechtlich rühren sie daher, daß das Gleichheitsgebot auf einen höchst ungleichen Gegenstand trifft. Parteien werden ja erst in ihrer personellen und programmatischen Unterschiedlichkeit sinnvoll, die auch zu Unterschieden in Mitgliedschaft, Wählerstimmen, Finanzkraft etc. führt. Diese Ungleichheit ist als Produkt des freien und offenen politischen Prozesses dem Staat vorgegeben. Staatliche Neutralität kann dann aber nur Nichtbeeinflussung der Ungleichheit bedeuten. Insofern erscheint die Parteiengleichheit als formale Gleichheit. Sie findet ihre rechtliche Grundlage daher auch nicht in Art. 3 G G , sondern in Art. 21 G G selbst. In einer Reihe von Fällen läuft indessen die formale Gleichbehandlung gerade nicht auf staatliche Neutralität hinaus. Für diese fehlt es bislang noch an überzeugenden Lösungen. Die tatsächlichen Schwierigkeiten bestehen darin, daß der Staat, der sich neutral gegenüber dem Parteienwettbewerb zu verhalten hat, selbst ein parteipolitisch besetzter Staat ist. Die Neutralität wird also der Sache nach von den im Parlament vertretenen Parteien gegenüber ihren erfolglosen oder neugegründeten Konkurrenten zum einen und von den Regierungsparteien gegenüber den Oppositionsparteien zum anderen verlangt. Staatliche Neutralität stellt aus diesem Grunde eine unwahrscheinliche und stets von neuem bedrohte Errungenschaft dar. Der Grundsatz der Parteiengleichheit hat sein erstes Anwendungsfeld bei der Entscheidung des Volkes über die Staatsleitung in der Wahl. Das Wahlrecht muß nicht nur eine strikte Einhaltung der Wählergleichheit, sondern auch der Parteiengleichheit garantieren, wenn eine Verfälschung der Wahlentscheidung vermieden werden soll. Dessenungeachtet hat es gerade im Wahlrecht nicht an Versuchen der größeren Parteien gefehlt, unter Ausnutzung ihrer Parlamentsmehrheit die kleineren Parteien durch unterschiedliche Zulassungsvoraussetzungen, ungünstige Wahlkreiseinteilungen etc. zu behindern. Sie sind vom Bundesverfassungsgericht, das im Fall des Interessengleichlaufs der großen Parlamentsparteien die einzige Kontrollinstanz bleibt, in Schranken gewiesen worden 79 . Die schwerwiegendste Ungleichbehandlung, die Sperrklausel, ist freilich vom Bundesverfassungsgericht gebilligt und lediglich auf 5% begrenzt worden 80 . Die Auswirkung dieser Bestimmung auf das Parteiensystem der Bundesrepublik läßt sich kaum exakt ermitteln. Feststeht, daß bereits in der Frühphase der Bundesrepublik eine außerordentlich starke Konzentration des Parteiensystems stattfand. In der zweiten Bundestagswahl 1953 stimmten schon 83,5% und 1976 sogar 99,3% der Wähler für die vier großen Parteien, ohne daß eine nennenswerte Zahl von Stimmenthaltungen starke Unzufriedenheit mit dem System signalisiert hätte. Dagegen bewegten sich die von der 5%-Klausel betroffenen Parteien zwischen zwei (1972) und zwölf (1976), wobei der niedrigste Stimmenanteil bei 0,9% (1972), der höchste bei 7% (1957) lag. Die Wahlforschung tendiert zu der Annahme, terfall

der

Parteiengleichheit

bei

Bundesverfassungsgerichts z u m

W.

unter

dem

Grundgesetz,

in: D e r Staat

79

( F n . 19) S. 1 8 4 .

9

(1970) 481. Vgl. J . A . FROWEIN D i e R e c h t s p r e c h u n g des

Wahlrecht,

in: A ö R 9 9 ( 1 9 7 4 ) , 7 2 ; LIPPHARDT Parteien

SCHMIDT Chancengleichheit der Fraktionen 80

B V e r f G E 1, 2 0 8 ( 2 4 8 f f ) ; 6 , 84 ( 9 2 f ) ; 2 4 , 3 0 0 (341).

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

345

daß die Entwicklung auch ohne die 5%-Klausel nicht prinzipiell anders verlaufen wäre 81 . Fraglich ist das Ausmaß, denn man kann davon ausgehen, daß die bloße Existenz der Sperrklausel das Wählerverhalten beeinflußt und die drohende Erfolglosigkeit der Stimme für viele Anlaß ist, nicht die an sich bevorzugte Partei zu wählen. Das Bundesverfassungsgericht will solche Ausnahmen von der Parteiengleichheit nur aus „zwingenden Gründen" zulassen. Bei der 5%-Klausel erblickte es derartige Gründe in der Zersplitterung des Parteiensystems, die das Parlament lahmlegen und die Regierungsbildung verhindern könnte 8 2 . In dieser Begründung kommen Erfahrungen mit dem Parteiensystem der Weimarer Republik zum Vorschein, die zur Zeit des Urteils noch außerordentlich lebendig waren, während die starke Konzentration des bundesrepublikanischen Parteiensystems eben erst einsetzte. In der Tat trifft es zu, daß die unbedingte Gleichheit der Parteien hinter der Bestandssicherung eines Systems, das überhaupt eine Mehrheit von Parteien kennt, zurückstehen muß. Die Frage lautet aber, ob ohne die 5%-Klausel das System in Gefahr geriete. Dabei darf der Faktor Parteiensystem freilich nicht isoliert werden. Es genügt, daß vom Parteiensystem ein wesentlicher Beitrag zur Bestandsgefährdung des Systems ausgeht. Wenn die Wahlforschung recht hat, daß die Konzentration des Parteiensystems nicht auf der Sperrklausel beruht, dann erscheint diese Gefahr vergleichsweise gering. Möglich wäre aber eine kompliziertere Regierungsbildung und eine entsprechend geringere Regierungsstabilität. Dem steht als Diagnose der Politikwissenschaft eine starke Immobilität des Parteiensystems gegenüber, die aus mangelnder Offenheit zur Gesellschaft resultiert und sich in ungenügender Sensibilität für neuartige Probleme äußert. Als Indikator dafür gelten die wachsende Protesthaltung, die Zunahme von Bürgerinitiativen etc. 83 . Insofern der wichtigste Mobilisierungsfaktor für das Parteiensystem die Konkurrenz darstellt, könnte eine Senkung der Sperrklausel unter Umständen die vom Grundgesetz geforderte Offenheit der Parteien fördern. Das Verfassungsrecht muß für solche Veränderungen in den Realisierungsbedingungen seiner Normziele anpassungsfähig bleiben. Sozialer Wandel ist verfassungsdogmatisch nicht irrelevant und könnte hier zu einer Rechtsprechungsänderung Anlaß geben. Das zweite Anwendungsfeld des Prinzips sind die öffentlichen Leistungen an Parteien. Wenn sich der Staat in bezug auf den Parteien Wettbewerb neutral zu verhalten hat, verbieten sich prinzipiell alle Leistungen, die wettbewerbsverändernde Wirkungen haben. Dabei spielte besonders während des Aufstiegs der N P D die

81

82

83

Vgl. etwa FENSKE Strukturprobleme (Fn. 4) S. 198. BVerfGE 1, 208, (249); 6, 84 (92f); 13, 243 (247) für Kommunalwahlen, und öfter. Vgl. etwa J. RASCHKE Einleitung, in: Bürger und Parteien (Fn. 26) S. 9; M. KAASE Partizipatorische Revolution — Ende der Parteien?, ebenda, S. 173; B. GUGGENBERGER Bürgerinitiativen: Krisensymptom oder Ergänzung des Systems der Volksparteien?, ebenda, S.

190; DERS. Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie, 1980; v. BEYME Das Politische System der Bundesrepublik Deutschland, 1979, S. 90; H . SCHEER Parteien kontra Bürger? 3. Aufl. 1980, und unter Hinweis auf die Grenzen des Modells der Parteienkonkurrenz überhaupt C. OFFE Konkurrenzpartei und kollektive politische Identität, in: Roth. (Hrsg.) Parlamentarisches Ritual und politische Alternativen, 1980, S. 26.

346

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Vergabe öffentlicher Versammlungsräume eine wichtige Rolle 84 . Juristisch wirft die Frage aber keine besonderen Probleme auf und ist im wesentlichen ausgetragen, öffentliche Räume müssen den politischen Parteien unterschiedslos und zu gleichen Bedingungen zur Verfügung gestellt werden. Ob eine Partei die Voraussetzungen eines Parteiverbots gemäß Art. 21 Abs. 2 GG erfüllt, spielt dafür keine Rolle, solange sie nicht vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden ist. Nicht verbotene Parteien bleiben legal und partizipieren uneingeschränkt am Grundsatz der Parteiengleichheit. Dasselbe gilt zum Beispiel für Werbeflächen, die viele Kommunen vor Wahlen den Parteien zur Verfügung stellen. Werbeflächen weisen aber auf ein komplizierteres Problem öffentlicher Leistungen an Parteien hin. Angesichts der tatsächlichen Ungleichheit der Parteien stellt sich nämlich die Frage, in welchem Maß die strikt formale Gleichbehandlung die erstrebte Wettbewerbsneutralität zu garantieren vermag. Formale Gleichbehandlung verleiht den kleineren Parteien von Staats wegen Wettbewerbschancen, die den von ihren Mitgliedern und Wählern bestimmten Grad des Einflusses weit übersteigen. Als Alternative bietet sich in diesen Fällen eine materielle Gleichheit an, die dann zur proportionalen Leistungsverteilung führt. Proportionale Gleichbehandlung trägt aber wiederum zu einer Zementierung der Kräfteverhältnisse bei und schwächt damit die Parteienkonkurrenz ebenso wie die Siegeschancen der Minderheit, die den demokratischen Prozeß in Gang halten. Das Bundesverfassungsgericht hat sich diesen Fragen vor allem im Zusammenhang mit der Zuteilung von Sendezeiten an politische Parteien im Wahlkampf stellen müssen 85 . Nachdem die Rundfunk- und Fernsehanstalten zunächst nur den bereits im Parlament vertretenen Parteien kostenlose Sendezeiten zur Verfügung stellen wollten, daran aber vom Bundesverfassungsgericht aus Gründen der Parteiengleichheit gehindert wurden 86 , rückte die Anteilsfrage in den Vordergrund. Da sie völlig wettbewerbsneutral nicht lösbar ist, könnte nur ein Verzicht auf die Wahlsendungen dem Neutralitätsgebot uneingeschränkt genügen. Verfassungsrechtlich wäre dagegen nichts einzuwenden. Aus dem Umstand, daß Wahlen nicht ohne die Parteien stattfinden können, folgt kein Anspruch auf kostenlose Sendezeiten in den öffentlichrechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten. Umgekehrt läßt sich dem Grundgesetz aber auch kein Verbot entnehmen, wenn man den Gleichheitsgrundsatz nicht verabsolutiert. Kostenlose Sendezeiten vermögen vielmehr die von Art. 21 GG intendierte

84

Vgl. etwa V G H München, BayVBl. 1966, 207; V G H Mannheim, D ö V 1968, 179; O V G Münster, DVB1. 1968, 842; O V G Saarlouis, J Z 1970, 283; V G H Kassel, N J W 1979, 997; B V e r f G E 31, 368; 32, 333; F. OsSENBÜHL Rechtliche Probleme der Zulassung zu öffentlichen Stadthallen, in: DVB1. 1973, 289. Weitere Fälle öffentlicher Leistungen an politische Parteien bei HENKE DVB1. 1979, 376.

85

B V e r f G E 7, 99; 13, 204; 14, 121. Vgl. dazu E. FRANKE Wahlwerbung in Hörfunk und Fernsehen, 1979; JÜLICH Chancengleichheit ( F n . 7 8 ) S. 1 1 9 ; LIPPHARDT G l e i c h h e i t ( F n .

86

19) S. 364, dort, S. 398, auch Ausführungen zur Frage eines Sendezeitanspruchs; dazu ferner FRANKE oben, S. 2 6 f f m. w. N. Zur Eigenart der Parteisendungen H. ABROMEIT Das Politische in der Werbung, 1972. B V e r f G E 7, 99. Vgl. auch B a y V e r f G H , DVB1. 1 9 7 1 , 73.

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

347

Offenheit des politischen Prozesses und des Parteiensystems zu fördern. Für neugegründete oder alternative Parteien ohne große Finanzkraft bieten sie vielfach das einzig wirksame Mittel, auf sich aufmerksam zu machen. Ein Verbot wäre eher ihnen abträglich als den großen Parteien, die über zahlreiche Ausweichmöglichkeiten verfügen. Bedenklich bleibt daher nur die vom Bundesverfassungsgericht gebilligte Praxis abgestufter Sendezeiten nach der Bedeutung der Parteien, die auch zum Vorbild für die generelle Regelung öffentlicher Leistungen in § 5 PartG geworden ist. Das Gericht will damit die „Bildung von möglicherweise zahlreichen neuen Parteien" verhindern 8 7 , ohne für dieses Ziel eine verfassungsrechtliche Deckung zu besitzen. Die Parteigründung darf vielmehr nach Art. 21 Abs. 1 Satz 2 G G in keiner Weise behindert werden, und die dadurch angestrebte Offenheit des politischen Prozesses weist angesichts der häufigen Gelegenheiten zur Selbstdarstellung, die die etablierten Parteien in redaktionellen Sendungen haben, eher auf gleiche als abgestufte Sendezeiten hin 8 8 . Angesichts der Bewegung, die die technische Entwicklung der letzten Jahre in das Rundfunkrecht getragen hat, taucht die Frage auf, wie sich die etwaige Zulassung privater Rundfunk- und Fernsehanstalten auf die Wahlwerbung der Parteien auswirkt. Die Antwort hängt davon ab, ob ein privatisierter Rundfunk den privatrechtlichen organisierten Medien, namentlich der Presse, gleichstünde. Für diese ist bisher zwar ein Kontrahierungszwang mit den politischen Parteien erörtert 8 9 , jedoch noch kein Gleichbehandlungsgebot gefordert worden. Indessen behält der Staat nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verantwortung für die Freiheitlichkeit des Rundfunks, auch wenn er ihn aus der öffentlichrechtlichen Organisationsform entläßt. Insbesondere ändert sich nichts daran, daß der Rundfunk weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert werden darf 9 0 . Der Gesetzgeber hat vielmehr für eine Rundfunkordnung zu sorgen, die es den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften ermöglicht, im Gesamtprogrammangebot zu Wort zu kommen. Entschließt er sich, eine solche Ordnung binnenpluralistisch auszugestalten, könnte sich nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts an der gegenwärtigen Rechtslage gar nichts ändern. Jede Identifizierung einer Rundfunkanstalt mit einer Partei oder auch nur die Bevorzugung bestimmter Parteien bei der Wahlwerbung wären ausgeschlossen. Das verfassungsrechtlich für den Staat geltende Gleichbehandlungsgebot müßte vielmehr gesetzlich in die Ord-

87

88

443; 89

durch Zeitungsverleger

BVerfGE 14, 121 (136). § 5 PartG ist in BVerfGE 24, 300 (354f) als verfassungsmäßig bestätigt worden. So auch JÜLICH Chancengleichheit (Fn. 78) S. 123; LIPPHARDT Gleichheit (Fn. 19) S. SEIFERT

Parteien

(Fn.

14)

S.

der Presse, politische Anzeigen zu veröffentlichen, in: D V B 1 .

1976, 5 5 7 ; F .

KÜBLER

Pflicht der Presse zur Veröffentlichung politischer Anzeigen, 1976; s. auch BVerfGE 42,

149

m. w. N . Vgl. A. HERDEMERTEN Werbeanzeigen politischer Parteien in Tageszeitungen, in: A f P

verfassungsmäßig?

in: D ö V 1973, 4 7 6 ; J . SCHWARZE Z u r Pflicht

53 (62).

1968, 7 6 8 ; K . LANGE Ist die A b l e h n u n g der

BVerfGE 57, 295 (322). Vgl. bezüglich der Wahlwerbung in einem privatisierten Rundfunk schon das Diktum in BVerfGE 14, 121

Wahlanzeigen einzelner politischer Parteien

(134).

90

348

3. Kapitel. D i e demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

nung des privaten Rundfunks transformiert werden. Bei außenpluralistischer Gestaltung verlangt das Bundesverfassungsgericht, daß das „Gesamtangebot" der bestehenden Meinungsvielfalt in etwa entspricht. Die Bevorzugung einzelner Parteien durch einzelne Sender wäre dann zwar möglich, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß die übrigen Parteien die gleiche Verbreitungschance durch andere Sender besitzen. d)

Parteienfinanzierung

Alle bislang behandelten Grundsätze des Parteienrechts, die Parteiengleichheit ebenso wie die äußere und innere Parteienfreiheit, sind von der Frage der Parteienfinanzierung berührt 9 1 . Dabei scheint unter den drei wichtigsten Geldquellen der Parteien — Mitgliedsbeiträge, Spenden und staatliche Subventionen — nur die erstere keine verfassungsrechtlichen Probleme aufzuwerfen. Die Beiträge der Mitglieder machen bei den größeren Parteien im Durchschnitt freilich nur ein knappes Drittel der Parteieinnahmen aus. Erst jüngst steigt der Prozentsatz stärker an; doch verbirgt sich hinter diesem Anstieg keine Einnahmeerhöhung, sondern ein beträchtlicher Rückgang der privaten Spenden 9 2 . Die verfassungsrechtliche Problematik der Parteispenden ist doppelter Natur. Zum einen bildet die Zuwendung namhafter Gelder wegen der damit regelmäßig verbundenen Erwartung politischen Wohlverhaltens eine Gefahr für die Freiheit und Unabhängigkeit der Parteien. Zum anderen wirft die Steuerbegünstigung solcher Spenden als mittelbare Form staatlicher Parteienfinanzierung die Frage der Staatsfreiheit und der Gleichbehandlung der Parteien auf. Noch größere Bedenken erweckten allerdings stets die unmittelbaren Zuwendungen des Staates an die politischen Parteien, die zunächst als Zuschüsse im Bundeshaushalt ausgewiesen waren und seit Erlaß des Parteiengesetzes im Jahre 1967 in Form von Wahlkampfkostenerstattung gezahlt werden. Sie machen mittlerweile im Durchschnitt ein gutes Viertel der Gesamteinnahmen der Parteien aus, überstiegen aber beispielsweise im Europawahljahr 1979 die Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden zusammen beträchtlich. Diese Zuwendungen berühren die Staatsfreiheit und Chancengleichheit der Parteien ebensowohl wie die von ihrer Funktion vorausgesetzte Verwurzelung in der Gesellschaft. Die verfassungsrechtlichen Probleme sind eine Folge der kargen verfassungsrechtlichen Aussagen zur Parteienfinanzierung. Das Grundgesetz verpflichtet die Parteien in Art. 21 Abs. 1 Satz 4 lediglich, über die Herkunft ihrer Mittel Rechenschaft zu geben, äußert sich zur Herkunft selbst aber nicht. Mit der Rechenschaftspflicht konkretisiert Art. 21 Abs. 1 Satz 4 G G den in den Grundrechten sowie in

91

der

verfassungsrechtliche Problematik der P a r -

U.

teienfinanzierung, 1 9 7 0 ; W . HOFFMANN Die

DÜBBER Parteifinanzierung in Deutschland,

Finanzen der Parteien, 1 9 7 3 ; U . SCHLETH

1962;

Vgl.

dazu T .

modernen

ESCHENBURG P r o b l e m e

Parteifinanzierung,

DERS.

Geld

Finanzwirtschaft

und

der

1962;

Politik

Parteien,

-

Die

Parteifinanzen, 1 9 7 3 ; H . H . v. ARNIM P a r -

1970;

H.

teienfinanzierung, 1 9 8 2 ; HENKE Parteien ( F n .

PLATE Parteifinanzierung und Grundgesetz,

14) S. 2 5 1 ; SEIFERT Parteien ( F n . 14) S. 2 8 9 ;

1 9 6 6 ; R . WILDENMANN Gutachten z u r F r a g e

JÜLICH Chancengleichheit ( F n . 78) S. 1 3 3 ;

der

LIPPHARDT

Subventionierung

politischer

Parteien

aus öffentlichen Mitteln, 1 9 6 8 ; P . H U G D i e

Gleichheit

(Fn.

19)

S.

KAACK Parteiensystem ( F n . 4 ) S. 3 8 2 .

457;

349

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

Art. 21 Abs. 1 Satz 1 G G niedergelegten Grundsatz der Offenheit des politischen Prozesses. Insofern Geld stets Einflußchancen begründet, bedeutet Offenlegung der Geldquellen zugleich eine Offenlegung von Einflußnahmen auf die politischen Parteien. Die Wähler erhalten dadurch wichtige, die programmatische Selbstdarstellung der Parteien womöglich korrigierende Informationen. Allerdings gibt es wenige Vorschriften, die die Grenzen rechtlicher Regelungen so deutlich machen, wie Art. 21 Abs. 1 Satz 4 G G . Wenn die Rechenschaftsberichte der Parteien namhafte Spenden ausweisen, so stammen diese gewöhnlich von eingetragenen Vereinen, die ausdrücklich zum Zweck der Sammlung von Spenden aus der Wirtschaft gegründet wurden. Die wahren Geldgeber bleiben also anonym. Überdies stellen die in den Rechenschaftsberichten ausgewiesenen Einzelzuwendungen nur etwa 10% des Gesamtspendenaufkommens der Parteien dar. In den Jahren 1968 bis 1970 beispielsweise fehlte nach den Ermittlungen Schleths für gut 85 Millionen D M ein Nachweis 93 . 1979 wurden von insgesamt 45 Millionen DM Spenden an die vier großen Parteien knapp 4 Millionen D M , 1980 von 89 Millionen DM knapp 6 Millionen D M gemäß § 25 PartG im einzelnen nachgewiesen 94 . Der Rest setzte sich, wenn § 25 PartG tatsächlich eingehalten wurde, aus Beträgen unter 20000 DM zusammen, was Schleth zwar nicht für ausgeschlossen, aber auch nicht für wahrscheinlich hält 95 . Staatliche Spendenanreize, wie sie in Gestalt von Steuervergünstigungen seit langem üblich sind, müssen dem Grundsatz der Parteiengleichheit Rechnung tragen. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht in einem methodisch höchst beachtlichen Urteil festgestellt, daß es nicht genügt, wenn die Steuervergünstigung für alle Parteien gleichmäßig gilt. Sie darf sich vielmehr auch nicht wettbewerbsverfälschend auswirken. Diesem Text hielten § 10b EStG und § 11 Nr. 5 KStG in den Fassungen von 1954 und 1957 nicht stand. Das Gericht gelangte auf der Grundlage eines Modells aus sieben Erklärungsfaktoren — darunter die Steuerprogression, die den Spendenanreiz für Bezieher großer Einkommen erhöht, und die unterschiedliche Kapitalaffinität der Parteien — zu der Prognose, daß die dem Wortlaut nach neutrale Regelung de facto die kapitalfreundlichen Parteien begünstigen werde 96 . Die daraufhin erfolgte und vom Gericht im zweiten Parteienfinanzierungsurteil 97 gebilligte Begrenzung der Steuerbegünstigung auf 600 DM jährlich pro Spender war kürzlich Gegenstand einer neuen Verfassungsklage, die durch das sinkende Spendenaufkommen bei wachsenden Parteiausgaben und die daraus resultierende Parteiverschuldung veranlaßt wurde 98 . Das Bundesverfassungsgericht folgte dabei nicht der Argumentation der niedersächsi-

Vgl. H. SIEBERT Neuere Entwicklungstendenzen der Parteifinanzierung, in: Kaack/ Roth (Hrsg.) Handbuch des deutschen Parteiensystems, Bd. I, 1980, S. 179 ff.

96

93

Vgl. SCHLETH Parteifinanzen ( F n . 9 1 ) S. 1 6 3 .

98

94

BAnz 1980, Nr. 215; BAnz 1981, Nr. 227.

95

SCHLETH Parteifinanzen ( F n . 9 1 ) S. 1 6 3 ; vgl.

92

auch H. GÜNTHER Wider die Umgehung der finanziellen Rechenschaftspflicht der Parteien, in: ZParl. 8 (1977) 41.

BVerfGE 8 , 5 1 . Zur Methode vor allem K. J. PHILIPPI Tatsachenfeststellungen

97

des B u n -

desverfassungsgerichts, 1971, S. 68, 163. BVerfGE 24, 300 (358f). Vgl. H. WEYRAUCH Gutachtliche Anschlußstellungnahme zur Parteienfinanzierung in der Bundesrepublik Deutschland, 3 Bde. 1 9 7 8 ; SIEBERT E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n ( F n .

92)

S.

181, 189.

350

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

sehen Landesregierung, wonach der Spendenentscheidung von 1958 durch einen Wandel der Verhältnisse der Boden entzogen sei. Es räumte zwar ein, daß sich die Tätigkeit der Parteien und damit ihr Geldbedarf ausgeweitet habe, hielt die Gefahr der Wettbewerbsverfälschung aber weiter für gegeben. Eine gleichheitswidrige Benachteiligung der Parteien gegenüber den steuerlich stärker begünstigten karitativen, kirchlichen und wissenschaftlichen Organisation lehnte es mit Recht ab, weil diese nicht wie die Parteien das Staatshandeln mit verbindlicher Kraft für die Gesamtheit bestimmen können. Eine gesetzliche Anhebung der steuerbegünstigten Beträge ist dadurch nicht ausgeschlossen, aber in enge Grenzen verwiesen". Schon im Zusammenhang mit der Steuerbegünstigung von Parteispenden hatte sich das Bundesverfassungsgericht generell über die Zulässigkeit staatlicher Parteienfinanzierung äußern müssen. Sie war damals wegen der Unentbehrlichkeit der Parteien für die Wahl grundsätzlich bejaht worden 100 . Die eigentliche Dimension des Problems wurde allerdings erst sichtbar, als die Parteien das Urteil als Ermutigung auffaßten, sich direkte staatliche Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt zu bewilligen. Das Grundgesetz hat diesen Fall nicht ausdrücklich geregelt. Daß die Frage schon deswegen keine verfassungsrechtliche, sondern nur eine verfassungspolitische sei, gehört freilich zu den Irrtümern von Nichtjuristen 101 . Das Bundesverfassungsgericht nimmt den grundrechtlich gesicherten freien und offenen Prozeß der Volkswillensbildung zum Ausgangspunkt seiner Beurteilung 102 . Dieser münde in den für die Staatswillensbildung entscheidenden Akt der Wahl, der die Staatsorgane erst hervorbringe. Willensbildung des Volkes und Willensbildung in den verfaßten Staatsorganen müßten aber unterschieden werden. Das demokratische Prinzip verlange, daß sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt vollziehe. Innerhalb der so geschiedenen Sphären schlägt das Gericht die Parteien zum Bereich der Volkswillensbildung, die prinzipiell staatsfrei bleiben müsse. Bei einer staatlichen Parteienfinanzierung befürchtet es eine derartige Verschränkung von Parteien und Staat, daß die Staatsfreiheit aufhöre und der Willensbildungsprozeß sich umkehre. In einem zweiten Zugriff geht das Bundesverfassungsgericht vom „Leitbild" der politischen Parteien aus, die in Art. 21 GG zwar verfassungsrechtlich anerkannt, dadurch ihrer Eigenart als frei konkurrierende und aus eigener Kraft wirkende Gruppen aber nicht entkleidet worden seien. Auch deswegen verbiete sich ihre staatliche Finanzierung. In einer nach dieser Begründung überraschenden Wendung erlaubt das Gericht aber die Erstattung der „notwendigen Kosten eines angemessenen Wahlkampfs", weil die Parteien insoweit an der Erfüllung einer staatlichen Aufgabe mitwirkten, die

99

B V e r f G E 52, 63. Der Gesetzgeber hat von dieser Möglichkeit inzwischen Gebrauch gemacht und den steuerbegünstigten Betrag verdreifacht, BGBl. 1980 I, S. 1537. Für eine weitere Lockerung unter dem Eindruck der Spendenaffäre H. H. KLEIN Parteien sind gemeinnützig — das Problem der Parteienfinanzierung, in: N J W 1982, 735; P. KÜLITZ

Die Spendenfinanzierung der politischen Parteien, in: D ö V 1982, 305. 100 B V e r f G E 8, 51 (63). 1 0 1 Eine solche Behauptung bei SCHLETH Parteifinanzen (Fn. 91) S. 273. 1 0 2 B V e r f G E 20, 56, die Hauptbegründungslinien auf S. 97 und 107.

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

351

von ihrer sonstigen Tätigkeit auch hinreichend abgrenzbar sei und daher die Gefahren der allgemeinen Staatsfinanzierung vermeide 103 . Trotz des zutreffenden Ansatzes bei der Offenheit des politischen Prozesses ist das Urteil verfassungsrechtlich unbefriedigend 104 . Der Grund liegt vor allem darin, daß das Bundesverfassungsgericht in krasser Abkehr von der Parteienstaatstheorie Volks- und Staatswillensbildung trennt und den Parteien nur eine Funktion bei der Volkswillensbildung zugesteht. Indessen gelingt den Parteien die demokratische Vermittlung von Volk und Staat gerade durch ihr Wirken in den Staatsorganen. Das Parlament setzt sich parteipolitisch zusammen, seine Untergliederungen, die Fraktionen, folgen Parteilinien, die Regierung ist eine Parteiregierung. Im Parteienfinanzierungsurteil wird diese parteipolitische Besetzung der Staatsorgane verschwiegen, obwohl das Grundgesetz ersichtlich davon ausgeht. Art. 21 GG steht nicht im Grundrechtsteil, sondern schließt an die organisationsrechtliche Fundamentalnorm des Art. 20 GG an. Volk und Staatsorgane, von denen Art. 20 GG handelt, werden mit Hilfe der Parteien aufeinander bezogen. Der Willensbildungsprozeß verläuft notwendig in beide Richtungen. Unter diesen Voraussetzungen kann es aber nicht darauf ankommen, die Parteien aus der staatlichen Sphäre möglichst herauszuhalten. Sie müssen vielmehr für ihre Vermittlungsfunktion zwischen der Meinungs- und Interessenvielfalt im Volk und dem staatlichen Entscheidungsprozeß ausgerüstet werden. Das setzt in der Tat ihre gesellschaftliche Verwurzelung voraus. Doch lösen staatliche Finanzbeiträge, wie sie übrigens vielfach in mittelbarer Form erfolgen 105 , diese Verbindung nicht zwangsläufig auf. Insoweit fehlt in dem Urteil jeder Nachweis. Auf der anderen Seite verharmlost das Gericht die Gefahren, die der Vermittlungsfunktion der Parteien von privater Seite drohen. Es steht heute außer Zweifel, daß die Parteien nicht allein von Mitgliedsbeiträgen leben können. Sind ihnen öffentliche Subventionen versperrt, wächst aber die Abhängigkeit von Spenden. Die Pressionsmöglichkeiten, die damit einhergehen, sind bekannt 106 . Indem das Grundgesetz von den Parteien eine demokratische Binnenstruktur und die Offenlegung ihrer Mittel verlangt, nimmt es sich gerade ihrer Unabhängigkeit an. Eine Abwägung mit der Etatisierungsgefahr war daher unumgänglich. Vollends ungeklärt läßt das Urteil, warum die Gründe, welche nach Ansicht des Gerichts eine staatliche Parteienfinanzierung verbieten, für die Erstattung der Wahlkampfkosten nicht gelten. Der Effekt der Zahlungen auf den Willensbildungsprozeß ist ja von ihrem Namen unabhängig, zumal sich an der Größenordnung wenig änderte und Abschlagszahlungen zu zweckentfremdeter Verwendungen reizen. Aber auch die dogmatische Ableitung der Wahlkampfkostenerstattung erscheint fragwürdig. So einseitig das Gericht im ersten Teil seiner Entscheidung auf der gesellschaftlichen

K» B V e r f G E 20, 56 (113); erstreckt auf die kleinen Parteien in 24, 300 (339) und auf Einzelbewerber in 4 1 , 399. 1 0 4 Vgl. vor allem die Kritik von HÄBERLE, ZWIRNER u n d LIPPHARDT (alle F n . 1 9 ) .

105

Ausführliche Nachweise bei SCHLETH Parteifinanzen (Fn. 93) bes. S. 1 6 6 f f , 1 9 8 f f .

106 V g l .

SCHLETH

Parteifinanzen

(Fn.

93)

S.

121 f f , 3 0 0 f f . Zum Zusammenhang von Selbstfinanzierung und Patronagepolitik v. BEYME Politisches System (Fn. 83) S. 84.

352

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Position der Parteien bestand, so einseitig machte es sie im zweiten Teil zu Erfüllungsgehilfen bei einer Staatsaufgabe. Indessen geht mit den Parteien in der Wahl keine Verwandlung vor. Da Wahlerfolge viel stärker vom langfristigen Aufbau politischer Grundhaltungen in der Wählerschaft als vom Materialaufwand der letzten Wahlkampfphase abhängen, sind sie vielmehr zu ständiger Öffentlichkeitsarbeit im Blick auf Wahlen übergegangen 107 . Unter diesen Umständen wird aber die Annahme brüchig, der Wahlkampf lasse sich von der Routinetätigkeit der Parteien so abgrenzen, daß die staatliche Finanzhilfe auf ihn beschränkt werden könnte. Die Wahlkampfkostenerstattung ist nichts anderes als eine allgemeine Parteienfinanzierung, die auf der Grundlage von Wahlergebnissen berechnet wird. Stellt man sich darauf ein und bedenkt außerdem die zahlreichen sonstigen öffentlichen Zuwendungen an Parteien, dann verliert das Problem viel von jenem Ausschließlichkeitscharakter, in den es Literatur und Judikatur gedrängt haben. Differenzierende Betrachtungen werden möglich. Die Freiheit der Willensbildung und das Leitbild der politischen Parteien schließen dann staatliche Finanzhilfen nicht per se aus. Sie müssen nur so gewährt werden, daß der politische Prozeß offen, der Parteienwettbewerb erhalten und die Rückbindung der Parteiführungen an ihre gesellschaftliche Basis gesichert bleiben. Das Interesse verlagert sich damit vom Ob auf das Wie der staatlichen Parteienfinanzierung. Vorschläge, die sowohl die Parteienkonkurrenz als auch die innerparteiliche Demokratie stärken könnten, liegen vor 1 0 8 . 3. Die Parteien im Staat a) Das parteigebundene

Mandat

Es gehört zu den Kennzeichen der Parteiendemokratie, daß der Staat, dem die Parteien konkurrierend gegenüberstehen, selbst ein parteipolitisch besetzter und gesteuerter Staat ist. Das führt zu einer Teilung der Parteien in solche, die kein staatliches Amt errungen haben und nur im Volk wirken, und andere, die in staatliche Ämter eingerückt sind. Bei diesen kehrt die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auf der Parteiebene als Unterscheidung von Partei in der Gesellschaft und Partei im Amt wieder. Für die Parteien im Amt macht es nochmals einen Unterschied, ob sie lediglich an der Bildung des Staatswillens beteiligt werden oder ihn letztlich bestimmen können, also nur Parlaments- oder auch Regierungspartei sind. Aus der Doppelrolle als gesellschaftlicher Verband und Träger staatlicher Kompetenzen erwachsen einige Konflikte, die staatstheoretisch und verfassungsrechtlich noch nicht voll bewältigt sind. Dabei geht es zunächst um die Beziehungen zwischen Partei in der Gesellschaft und Partei im Staat. Sie haben zwei Aspekte. Zum einen erhebt sich die Frage, ob und inwieweit die Partei das Entscheidungsverhalten ihrer Mitglieder in Staatsämtern bestimmen darf. Sie wird gewöhnlich unter dem Stichwort des

107

SCHLETH Parteifinanzen (Fn. 91) S. 279, 2 8 6 f f ; vgl. auch P. RADUNSKI Wahlkämpfe — Moderne Wahlkampfführung als politische Kommunikation, 1980.

los VGL besonders SCHLETH Parteifinanzen (Fn. 91) S. 3 8 4 ; ferner K . H . NASSMACHER Parteifinanzierung — Anstöße für die Kommission des Bundespräsidenten, in: Die Neue Gesellschaft 29 (1982) 278.

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

353

imperativen Mandats diskutiert. Zum anderen geht es darum, wie sich Parteilichkeit und Gesamtverantwortung in der Regierung zueinander verhalten. Sodann ist zu klären, wie die Systemgrenzen des Staates gegenüber den Parteien als systemüberschreitenden Institutionen aufrechterhalten werden können. Auch diese Frage hat zwei Aspekte. Zum einen wird die Gewaltenteilung betroffen, wobei unter Gewaltenteilung nicht nur die klassische Organteilung, sondern auch der Föderalismus und die Trennung von Politik und Verwaltung zu verstehen sind. Zum anderen handelt es sich um die Ausgliederung bestimmter öffentlicher Funktionen aus der unmittelbaren Staatskontrolle wie zum Beispiel der Rundfunk- und Fernsehanstalten. Insofern beide Vorkehrungen im Dienst individueller Freiheit stehen, geht es bei diesem Problem auch um die Bedingungen von Freiheit im Parteienstaat. Das imperative Mandat bezieht sich ursprünglich auf das Verhältnis des Abgeordneten zu der ihn entsendenden Wählerschaft, wird heute aber überwiegend für das Verhältnis der Partei zu dem von ihr nominierten Abgeordneten gefordert und trägt damit selbst der parteienstaatlichen Umformung der parlamentarischen Repräsentation Rechnung 1 0 9 . Diese ist wiederum eine Folge des Ubergangs vom liberalen Zensuswahlrecht zum demokratischen Massenwahlrecht und vom bürgerlichen Rechtsstaat zum sozialen Wohlfahrtsstaat. Abgeordneter wird man seitdem nicht mehr aufgrund vorpolitisch begründeten Ansehens, sondern durch eine Parteikarriere. Auch der Wähler orientiert sich weniger an der Persönlichkeit des Kandidaten als der von ihm verfolgten Parteilinie. Angesichts des permanenten Entscheidungsdrucks, der auf den modernen Parlamenten lastet, sowie der Kommunikationserwartungen, die aus dem Wahlkreis an den Abgeordneten gerichtet werden, läßt sich das Mandat nicht mehr mit einem Beruf vereinbaren, sondern ist selbst zum Beruf geworden 1 1 0 . Der Abgeordnete wird damit auch wirtschaftlich an seine Partei gebunden. Im parlamentarischen Betrieb kommt er ohne die Entscheidungshilfe seiner Fraktion nicht aus, zum einen quantitativ, weil die Themenfülle vom einzelnen Abgeordneten nicht zu bewältigen ist, zum anderen qualitativ, weil nur noch die Minderzahl der Entscheidungen mit common sense getroffen werden kann, während die Mehrzahl Fachwissen voraussetzt, über das der einzelne Abgeordnete jedenfalls nur auf begrenzten Politikfeldern verfügt. J e knapper die Mehrheiten ausfallen, desto nötiger wird die Fraktionsdisziplin. Bestimmend für die parlamentarische Entscheidung wirkt unter diesen Umständen nicht mehr der einzelne Abgeordnete, sondern die parlamentarisch als Fraktion in Erscheinung tretende Partei. Daraus erklären sich die Versuche, die ursprünglich dem Abgeordneten zugeschriebene Freiheit an die Partei umzuadressieren, so daß die Mandatsträger nur während der innerparteilichen Diskussion frei, nach gefällter Parteientscheidung aber an diese gebunden wären, wobei sich sogleich die Frage anschließt, ob die Parlamentspartei oder die Parteibasis den Ausschlag geben soll. 109 VGL dazu LEIBHOLZ Strukturprobleme (Fn. 21); U. SCHEUNER Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, in: Festschrift für Hans Huber, 1961, S. 222; W. STEFFANI Parlamentarische Demokratie, in:

110

DERS. (Hrsg.) Parlamentarismus ohne Transparenz, 1971, S. 17. So aufgrund umfangreicher Erhebungen das Bundesverfassungsgericht im Diätenurteil, BVerfGE 40, 296.

354

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Ungeachtet der sozialen Kontrolle, die die Parteien über ihre Abgeordneten ausüben, hält das Grundgesetz am freien Mandat fest. Es berücksichtigt die Parteien zwar im Zusammenhang mit der Volkswillensbildung, übergeht aber ihr Wirken in den Staatsorganen. Auch bei der Binnenstruktur des Parlaments zählen verfassungsrechtlich nur die einzelnen Abgeordneten, und erst in der Geschäftsordnung des Bundestages erscheinen die Fraktionen als parteipolitische Untergliederungen des Parlaments. Die Abgeordneten sind nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G unverändert Vertreter des ganzen Volkes und genießen volle Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit. Eine Ausnahme zugunsten der Parteien läßt die Vorschrift nicht zu. Auch Leibholz, der das freie Mandat als verfassungspolitische Inkonsequenz verurteilt, hat ihm seine verfassungsrechtliche Geltung nicht streitig gemacht 111 . Beschlüsse der Fraktion über einheitliches Abstimmungsverhalten oder Anweisungen von Parteigremien an die von ihnen nominierten und kontrollierten Abgeordneten entfalten danach keinerlei rechtliche Bindung. Fügt sich der Abgeordnete dennoch, so ist das sein durch den Verweis auf das Gewissen verfassungsrechtlich gedeckter Entschluß. Fügt er sich nicht, so hat das auf das laufende Mandat keinen Einfluß. Abstimmungen werden durch die Mitwirkung von Abgeordneten, die von Fraktions- oder Parteibeschlüssen abgewichen sind, weder ungültig noch anfechtbar. Die Partei oder die Fraktion besitzen keinerlei Möglichkeiten, Abgeordnete, die ihre Beschlüsse außer Acht lassen, aus dem Amt zurückzurufen. Als Sanktion kommt nur der Fraktionsausschluß in Betracht. Mit dieser Einschränkung verleiht Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G dem Abgeordneten eine „temporär unangreifbare Position" 1 1 2 . Selbst ein Parteiausschluß oder -austritt wirkt sich nicht auf sein parlamentarisches Mandat aus, und zwar unabhängig davon, ob er als Direktkandidat oder als Listenkandidat gewählt wurde 1 1 3 . Auch von einem Parteiverbot bleibt, anders als das Bundesverfassungsgericht hier ganz im parteienstaatlichen Sinn meint, das Abgeordnetenmandat unberührt 1 1 4 . Allerdings entbindet die normative Geltung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G nicht von der Prüfung, ob es sich um eine sinnentleerte Norm handelt, wie die Anhänger der Parteienstaatstheorie annehmen. Die Frage verträgt keine Pauschalantwort. Auf der einen Seite ist das freie Mandat eine Funktionsbedingung politischer Führung durch beschließende Versammlungen und insofern keine bürgerlich-liberale Erfindung 1 1 5 . Auf der anderen Seite werden solche Versammlungen, jedenfalls unter den Bedingungen eines permanenten Entscheidungsbedarfs in den verschiedensten Angelegenheiten erst aufgrund von parteipolitisch organisierter Arbeitsteilung und Grup-

111

112

113

Vgl. LEIBHOLZ 38. D J T , S. C 16. W o dieser

Versuch unternommen wird wie bei U. BERMBACH Probleme des Parteienstaats, in: ZParl. 1 (1970) 342, fehlt jede staatsrechtliche Beweisführung. P. BADURA in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Zweitbearbeitung 1966, Art. 38 Rdn. 72. Vgl. dazu BADURA Bonner Kommentar (Fn. 112) A r t . 38 R d n . 80; M . MÜLLER F r a k -

114 115

tionswechsel im Parteienstaat, 1974, m. w. N . , besonders über die aus gegebenem Anlaß in den Jahren 1971/72 stark aufgelebte Diskussion; HENKE DVB1. 1979, 370 m. w. N . Zahlenangaben über Fraktionswechsel bei D. SCHINDLER (Bearb.) 30 Jahre Deutscher Bundestag, 1979, S. 91 ff. BVerfGE 2, 1 (72); 5, 85 (392). Vgl. C . MÜLLER D a s i m p e r a t i v e u n d das

freie Mandat, 1966, S. 2, 73 ff.

355

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

pendisziplin handlungsfähig. Es wäre daher von vornherein verfehlt, die Parteibindungen der Abgeordneten in Widerspruch zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu rücken. Die Frage muß vielmehr lauten, welche Funktion das freie Mandat unter der Voraussetzung parteigebundener Abgeordneter hat 116 . Geht man dem zunächst im Verhältnis von Abgeordneten und Fraktion nach, so bewirkt die „temporär unangreifbare Position", daß sich die Fraktion bei der Festlegung ihrer Linie auf den einzelnen Mandatsträger einlassen und seinen Auffassungen diskursiv Rechnung tragen muß. Die innerfraktionäre Willensbildung mit dem Ziel parlamentarischer Durchsetzung kann dann nicht das Diktat von Vorständen oder Mehrheiten sein, sondern muß sich selbst aus einem offenen Prozeß ergeben. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bildet auf diese Weise ein Gegengewicht gegen die Oligarchietendenzen in den politischen Parteien. In dieser Eigenschaft ist er aber nicht einfach liberales Relikt, das in Widerspruch zu der in Art. 21 GG zum Ausdruck gelangten realitätsnahen Auffassung vom Parteienstaat steht und lediglich dessen äußerste Konsequenzen abwehrt 117 , sondern gewinnt eine gerade auf die Parteiendemokratie bezogene Funktion, die ihn mit Art. 21 GG durchaus vereinbar macht. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG fungiert dann als Garantie innerparteilicher Demokratie an einer für die Staatswillensbildung besonders wichtigen Stelle und unterstützt damit eine verfassungsrechtliche Forderung, die auch Art. 21 GG ausdrücklich als Funktionsvoraussetzung für Parteien im demokratischen System erhebt. Andererseits muß man aber auch berücksichtigen, daß die Forderungen nach dem innerparteilichen imperativen Mandat und ihrem Korrelat, dem recall, gerade im Interesse vermehrter Demokratie wieder auflebten 118 . Das Ziel ist die bessere Kontrolle von Parteieliten, die sich durch die Ausdifferenzierung der staatlichen Handlungsebene eine beträchtliche Autonomie verschaffen können, und die vermehrte Partizipation der Parteimitglieder an der Parteiwillensbildung dort, wo sie in kollektiv verbindliche Entscheidungen übersetzt wird. Die Überlegungen, die Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG im Verhältnis des Abgeordneten zur Fraktion sinnvoll machten, lassen sich flaher nicht unbesehen auf das Verhältnis des Abgeordneten zu Parteibasisgremien wie Parteitagen oder Wahlkreisdelegiertenversammlungen übertragen. Hier könnte eine verstärkte Bindung der Abgeordneten die innerparteiliche Demokratie vielmehr durchaus erhöhen. Indessen steht im Verhältnis von Parteibasis und Abge-

1,6

Vgl. BADURA Bonner Kommentar (Fn. 112) Rdn. 65, 69, 70.

Parteienstaat, in: Festschrift für C . J. FRIEDRICH, 1971, S. 497. Typologie und Material

117

S o a b e r LEIBHOLZ 3 8 . D J T , S. C 1 8 ; w i e

b e i W . KALTEFLEITER/H.-J. VEEN Z w i s c h e n

Leibholz schon in der Weimarer Republik L. WITTMAYER Die Weimarer Reichsverfassung, 1922, S. 66 („Urgroßväterweisheit"),

freiem und imperativem Mandat — Zur Bindung von Mandatsträgern in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, in: ZParl. 5 (1974) 246. Die Diskussion ist do-

u n d F . MORSTEIN M A R X

118

Rechtswirklichkeit

und freies Mandat, in: A ö R 50 (1926) 443 („verfassungsrechtliches Fossil"). Vgl. etwa U . BERMBACH Probleme des Parteienstaats, in: ZParl. 1 (1970) 342; DERS. Repräsentation, imperatives Mandat und recall: Zur Frage der Demokratisierung im

kumentiert

in

B.

GUGGENBERGER

u . a.

(Hrsg.) Parteienstaat und Abgeordnetenfreiheit, 1976. Zur funktional verkürzten Sicht der Anhänger des imperativen Mandats JÄGER Innerparteiliche Demokratie, in: Partei und System (Fn. 70) S. 1 2 1 .

356

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

ordneten nicht nur die innerparteiliche Demokratie zur Diskussion, sondern auch der unmittelbare Durchgriff der Partei auf einen staatlichen Amtsträger. Aus diesem Grund kann die Antwort nicht allein am Maßstab innerparteilicher Demokratie abgelesen werden, wie viele Anhänger des imperativen Mandats kurzschlüssig meinen. Innerparteiliche Demokratie ist in Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G ja nicht als Selbstzweck, sondern im Interesse des demokratischen Staates vorgeschrieben, der mit Hilfe der Parteien gesteuert wird. Sie steht also zur demokratischen Staatsordnung in einem instrumentalen Verhältnis. Unter diesen Umständen wäre der Schluß von vermehrter innerparteilicher Demokratie durch imperatives Mandat auf vermehrte gesamtstaatliche Demokratie in Gestalt erhöhter Partizipationschancen des Volkes aber nur zulässig, wenn die Parteien mit dem Volk identifiziert werden könnten. Diese Vorstellung liegt jedoch weder der Verfassung zugrunde noch entspricht sie der Realität, wie der Umstand zeigt, daß nicht mehr als 5% der Aktivbürger den politischen Parteien angehören. Die Frage spitzt sich also darauf zu, ob der unmittelbare Durchgriff von der Partei auf den Staat die demokratische Substanz des politischen Systems erhöht oder nicht. Ausschlaggebend dafür ist das Maß, in welchem die Staatsorgane die Bedürfnisse und Vorstellungen in der Bevölkerung aufnehmen und ihre Entscheidungen daran ausrichten. Das System versucht diese Rückbindung durch den Zwang zur Konkurrenz um Wählerstimmen zu verbürgen. Doch können Randbedingungen die Wirkung des Konkurrenzprinzips beeinflussen. Der Abgeordnetenstatus gehört dazu. Wird er imperativ ausgestaltet, so verschiebt sich der Orientierungspunkt für den Mandatsträger von der Wählerschaft zur Parteibasis 1 1 9 . Die bei der Partei im Amt gewöhnlich stärker ausgebildete Sensibilität für Wählerresonanz tritt hinter das Mitgliederinteresse an kompromißloser Durchsetzung des Parteiprogramms zurück. Die Wähler würden dadurch zwar nicht entmachtet, wie es bisweilen voreilig heißt 1 2 0 , denn in der Wahl bleibt ihnen die Entscheidung über die konkurrierenden Parteien vorbehalten. Zwischen den Wahlen nähme ihr Einfluß jedoch ab. Der Rückkoppelungseffekt, der das Ausmaß von Demokratie in einem Staat bestimmt, wäre geschwächt, indem politische Entscheidungen weniger an einer Mehrheit in der Bevölkerung als einer Mehrheit aktiver Parteimitglieder ausgerichtet würden. Der Trend von der Mitwirkung an der Volkswillensbildung zur Monopolisierung der Volkswillensbildung müßte sich dadurch verstärken. Insofern liegt in dem parteigebundenen imperativen Mandat keine Erhöhung von Demokratie, so daß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G auch im Verhältnis von Partei und Abgeordneten seinen Sinn behält. Die output-orientierte Frage, ob das imperative oder das freie Mandat die besseren Entscheidungen gewährleistet 1 2 1 , erscheint demgegenüber sekundär.

119

Vgl.

P.

KEVENHÖRSTER

Das

imperative

120

Mandat, 1975, bes. S. 53ff; MÜLLER Mandat (Fn.

115) S. 2 2 0 ; B . GUGGENBERGER

u.a.

Freies oder imperatives Mandat? in: Parteienstaat (Fn. 118) S. 13.

121

Vgl. KEVENHÖRSTER Imperatives Mandat (Fn. 119) S. 55f. Dazu ausführlich KEVENHÖRSTER Imperatives Mandat (Fn. 119) S. 23.

357

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

b) Regierung und

Regierungspartei

Für die Regierung fehlt es an einer dem Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G entsprechenden Regelung. Laut Art. 64 Abs. 2 i. V. m. Art. 56 G G schwören Regierungsmitglieder, ihre Kraft „dem Wohle des deutschen Volkes" zu widmen. Doch dürfen sie dieses Wohl legitimerweise auf der Grundlage ihres Parteiprogramms verfolgen. Die Frage lautet, ob das der Partei auch ein Recht verleiht, das Verhalten der ihr angehörigen Regierungsmitglieder zu bestimmen. Sie erstreckt sich ebenso auf das Verhältnis von Partei und kommunalen Wahlbeamten, wo sie in der Bundesrepublik auch zuerst akut wurde 122 . Die Frage läßt sich nicht schon damit beantworten, daß die Regierung nur der Exekutivausschuß des Parlaments sei und deswegen, was für Abgeordnete gilt, automatisch auch für die Regierung gelte. Die Regierung verdankt zwar ihre Entstehung dem Parlament und kann von diesem auch wieder abberufen werden. Im übrigen fungiert sie aber für die Dauer ihres Amtes als selbständige Gewalt. Allerdings gelten die aus dem demokratischen System des Grundgesetzes entwickelten Gründe, die den Durchgriff der Partei auf Abgeordnete verboten, in erhöhtem Maß für die Regierung. Die vom imperativen Mandat bewirkte Umorientierung von der Wählerschaft zu den Parteimitgliedern macht sich bei der Regierung noch nachteiliger bemerkbar als beim Parlament. Während dort nämlich die Minderheitsparteien vertreten sind und ihre Auffassungen zur Geltung bringen können, bleibt in der Regierung die Mehrheit unter sich. Gleichwohl ist die Regierung nicht die Regierung ihrer Parteimitglieder oder ihrer Wähler, sondern die Regierung aller. Dieser Verantwortungszusammenhang wird durch die Differenz zwischen Staatsorgan und Regierungspartei stabilisiert. Eine Partei, die mit der von ihr gestellten Regierung unzufrieden ist, muß daher den Weg über ihre Abgeordneten suchen, die Handlungsprogramme der Regierung gesetzgeberisch verändern oder ihr das Vertrauen entziehen können, ohne dabei freilich ihrerseits der Anweisung von Parteigremien zu unterliegen. Schwieriger ist die umgekehrte Frage zu beantworten, inwieweit sich die Regierung mit der sie tragenden Partei identifizieren darf. Im Verfassungsgerichtsurteil zur Wahlwerbung der Bundesregierung 123 ging der Richter Rottmann davon aus, daß es das verfassungsrechtlich legitimierte Ziel der Parteien gerade sei, die Regierung zu übernehmen. Auch die Wähler hätten bei ihrer Entscheidung die Regierungsbildung im Auge. Die Wahl mache die Führung der siegreichen Partei zum staatlichen Amtsträger, ihr Programm zum staatlichen Aktionsplan. Eine solche Regierung stehe nicht oberhalb der Parteien, sie falle mit der jeweiligen Mehrheitspartei in eins. Rottmann zieht aus diesen Leibholz sehr nahestehenden Prämissen den Schluß, daß im Parteienstaat die Regierung für die Partei, aus der sie sich rekrutiert, auch werben und ihre eigene Wiederwahl betreiben dürfe 124 . Demgegenüber betont die Senats-

122

123

Der „Fall Littmann", vgl. die Schilderung bei BERMBACH ZParl. 1, 342; weiteres Material bei KALTEFLEITER/VEEN ZParl. 5, 246. BVerfGE 44, 125; dazu P. HÄBERLE Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Par-

124

teien- und Biirgerdemokratie, in: J Z 1977, 361. Abweichende Meinung - BVerfGE 44, 181 (185 ff).

358

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

mehrheit, daß auch der parteipolitisch besetzte und gelenkte Staat Staat der Gesamtheit sei. Seine Organe hätten daher allen zu dienen, wie ja auch ihre Handlungen allen zugerechnet würden. Dieser Bezug auf die Gesamtheit erlaube keine Identifikation von Partei und Staatsorgan und also auch keinen werbenden Einsatz der Regierung für ihre Partei. Für Rottmann bildet die Regierung danach eine durch die Verfassung zwar begrenzte, im übrigen aber leere Hülse, in die die siegreiche Partei hineinschlüpft und mit der sie auf Zeit eins wird. Nicht die Regierung handelt durch die Mehrheitspartei, sondern die Mehrheitspartei durch die Regierung. Die Grenze zur Vollidentität besteht nur darin, daß die Partei sich in dieser Hülse nicht verewigen kann, sondern Regierungswechsel möglich bleiben. Nach Auffassung der Senatsmehrheit werden die Staatsorgane zwar notwendig durch Parteipolitiker besetzt, das Parteimandat ist aber durch das Staatsamt überlagert. Das Staatsorgan erscheint nicht einfach als aufnehmende Hülse, es verwandelt sich vielmehr die Mehrheitspartei an. Für die Regierungsmitglieder vollzieht sich auf diese Weise eine Metamorphose. Mit der Wahl ins Staatsamt wird sozusagen der Parteimantel an der Garderobe zurückgelassen und eintritt der Staatsmann. Die Rottmannsche Auffassung scheint die Realität für sich zu haben. Keine Verfassung, die Parteien zur Mitwirkung an der Volkswillensbildung beruft, kann verhindern, daß es dieselben Personen sind, die sich als Parteielite, Autoren eines Wahlprogramms, Wahlkämpfer etc. nun im Staatsamt wiederfinden, dieses Amt über die Wahlperiode hinaus zu behalten trachten und das nur durch fortdauernden Einsatz für ihre Partei erreichen können. Demgegenüber wirkt die Anforderung, die die Senatsmehrheit an die Regierungsmitglieder richtet, künstlich. Sie verlangt von ihnen, daß sie die parteipolitische Genese und Bedingtheit ihrer Position mit dem Eintritt ins Amt vergessen und sich unterschiedlich verhalten, wenn sie als Parteiführer und wenn sie als Staatsführer auftreten. Solche Rollendifferenzierungen sind uns an sich geläufig. Man kann ein schlechter Vater und ein guter Erziehungswissenschaftler sein. Das Verhalten im einen Bereich wird trotz Urheberidentität im anderen nicht zugerechnet. Der Unterschied zum vorliegenden Fall besteht aber darin, daß es sich bei Parteiführern und Regierungsmitgliedern nicht nur um identische Personen, sondern weitgehend auch um identische Aktionsfelder handelt. Die Rollenanforderung wird dadurch unerfüllbar. Sprachlich macht sich dies in der ungewöhnlichen Häufung des Ausdrucks „als solche" bemerkbar. Die Regierung als solche darf sich nicht zur Wiederwahl stellen, die sie bildende und von ihr geführte Partei wohl. Der Minister als solcher darf nicht im Wahlkampf auftreten, als Parteimitglied darf er es wohl. Das Regierungsprogramm als solches darf sich nicht mit dem Parteiprogramm decken, faktisch sei eine weitgehende Ubereinstimmung unvermeidlich und verfassungsrechtlich unbedenklich 125 . Rottmann hinwiederum kann von seinem Standpunkt aus die Regierung nicht daran hindern, den Staat für die Machterhaltungszwekke der eigenen Partei auszunutzen und damit die gleiche Chance der anderen Parteien, ihrerseits die Regierung zu stellen, zu schmälern.

125

BVerfGE 44, 125 (bes. 144).

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

359

Gleicht man so das Verfassungsrecht der politischen Realität an, bringt man es um seine Normativität. Gibt man ihm, wie die Richtermehrheit, einen real schwer vollziehbaren Sinn, bringt man es um seine Effektivität. Zwischen diesen beiden Polen muß sich die Verfassungsinterpretation bewegen. Für die Regierung der repräsentativen, durch Parteien erst handhabbar gemachten Demokratie bedeutet das einerseits, daß sie nicht neutral im Sinn eines „Standpunkts über den Parteien" 1 2 6 sein kann. Ihre Doppelrolle als Parteiführung und Staatsführung ist in der Verfassung selbst angelegt. Die Rollen lassen sich auch, da auf denselben Handlungsbereich bezogen, im Kern nicht trennen. Die juristische Fiktion einer „Regierung als solcher" scheitert an der realen Einheit. Die Regierung ist insofern parteilich, als sie politische Probleme auf der Grundlage ihres nicht von allen geteilten Parteiprogramms löst. Andererseits bleibt der Staat von der Regierungspartei dadurch unterschieden, daß er auch für andere Parteiprogramme offen ist. In dieser Offenheit liegt seine Neutralität gegenüber den Parteien. Es handelt sich dabei freilich um eine ganz andere Neutralität, als sie der monarchische Obrigkeitsstaat für sich beanspruchte. Dieser leitete seinen Standpunkt über den Parteien aus einem unabhängig von den Parteien gewußten Gemeinwohl ab, demgegenüber diese in die Position von Vertretern partikularer Interessen gedrängt wurden. Die parteipolitische Neutralität war also nicht in der Offenheit für verschiedene Parteiprogramme, sondern in der inhaltlichen Determiniertheit des Staates angelegt. Die Neutralität des parteiabhängigen demokratischen Staates bezieht sich nicht auf sein Handlungsprogramm: dieses ist ein parteipolitisches, sondern auf den Parteienwettbewerb: das parteipolitische Programm für das Staatshandeln bleibt je nach Wahlausgang auswechselbar. Diese Offenheit verhindert eine Identifizierung von Regierungspartei und Staat, auch wenn sie zeitlich befristet gedacht wird 1 2 7 . Das Grundgesetz trägt dieser Differenzierung Rechnung, wenn es der Mehrheitspartei nirgends einen unmittelbaren Zugriff auf Staatsämter eröffnet. Immer schiebt sich zwischen die Nominierung durch die Partei und den Amtserwerb ein staatlicher Konstitutionsakt. Selbst wenn aufgrund stabiler Mehrheitsverhältnisse mit der Parteinominierung faktisch die Wahl entschieden ist, so daß der staatliche Akt nur noch als Formalie erscheint, wird er nicht entbehrlich. Im übrigen ist er auch faktisch keineswegs folgenlos. Als unerläßliches Erfordernis des Amtserwerbs wirkt er vielmehr auf die Parteientscheidung vor. Diese muß das staatliche Verfahren antizipieren, wenn sie es unangefochten passieren will. Auch von einem empirischen Standpunkt aus betrachtet, wäre es daher vordergründig, den staatlichen Konstitutionsakt als bloße Formsache zu verstehen. Verfassungsrechtlich kommt damit erstens zum Ausdruck, daß staatliche Handlungsaufträge nur vom Volk abgeleitet werden können und daher kein Parteibeschluß aus sich heraus für den Staat verbindlich ist, sondern

126

127

Auf den „Standpunkt über den Parteien" legt besonderen Wert HENKE Parteien (Fn. 14) S. 8 ff. Vgl. zum Problem der staatlichen Neutrali-

tät in der Parteiendemokratie auch die And e u t u n g e n bei HÄBERLE J Z 1977, 363 f, s o -

wie generell K. SCHLAICH Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972.

360

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

der Transformation durch eine auf Wahlen zurückgehende Instanz bedarf. Zweitens macht die Zwischenschaltung eines Staatsakts deutlich, daß die Vergabe von Staatsämtern an Parteipolitiker nicht nur ihren Anhängern, sondern der Gesellschaft insgesamt zugerechnet wird. Die Rechtfertigung dafür liegt in der vorweggenommenen Anerkennung der Mehrheitsregel auch durch die jeweilige Minderheit. Diese kann sie freilich nur unter der Voraussetzung erteilen, daß Offenheit das Leitprinzip des politischen Prozesses bleibt. Erst die Offenheit für Alternativen macht das System der Parteiregierung erträglich. D a s Bundesverfassungsgericht hat daher recht, wenn es zwischen der „Bereitschaft und Verpflichtung aller Bürger z u m Rechtsgehorsam", die den friedlichen Austrag von Konflikten ermöglicht, und dem verfassungsrechtlichen Verbot, die „staatliche Gewalt als Werkzeug zur Perpetuierung der Herrschaft einer bestimmten Mehrheit" zu verwenden, eine Beziehung herstellt 1 2 8 . Für die Wahl Werbung ergeben sich daraus einige Konsequenzen. Die Verfassung kann zwar die Regierung nicht, wie das Bundesverfassungsgericht meint, aus dem Wahlkampf ausschalten oder daran hindern, ihre Regierungsleistungen als Argument für eine Wiederwahl einzusetzen. Andererseits folgt aus dem U m s t a n d , daß auch Parteiregierungen Staatsorgane sind, daß sie bei Aktivitäten im Wahlkampf all jenen verfassungsrechtlichen Bindungen unterliegen, die sich auf den politischen Prozeß beziehen. D a z u gehören vor allem die Gleichbehandlungspflichten der Art. 21 und 38 G G . Sie sind v o m Bundesverfassungsgericht in einer langen Wahlrechtsprechung entfaltet und verfeinert worden. Danach darf der Staat insbesondere nicht durch Vermögenswerte Leistungen die Chancen einer Partei zu Lasten anderer verbessern. Darunter fällt eindeutig die Bereitstellung von Regierungspropaganda für die Regierungsparteien. Ebenso gilt das für Regierungspropaganda, die zwar den Regierungsparteien nicht zum eigenen Gebrauch zur Verfügung gestellt wird, wegen der inhaltlichen Identität mit Parteireklame aber nur diesen zugutekommt. D a s betrifft ferner die Leistungsnachweise der Regierung in F o r m von Anzeigen, Wurfsendungen, Faltblättern im Wahlkampf. D a z u gehört schließlich der Einsatz von Beamten für die Wahlkampfvorbereitung wie auch die bekannte Praxis der Vergabe von Marktforschungsaufträgen, Meinungsumfragen etc. durch die Staatskanzleien statt die Parteizentralen. Es ist also der Einsatz staatlicher Mittel, den die Verfassung mißbilligt. Nicht die Regierung als solche hat sich, wie das Bundesverfassungsgericht meint, der Identifikation mit einem Parteiprogramm zu enthalten, sondern weil die Regierung mit einem Parteiprogramm untrennbar identifiziert ist, darf sie mit Staatsmitteln keine Werbung dafür betreiben. D e r Vorteil dieser L ö s u n g liegt darin, daß sie eine präzisere Fassung der Grenzen von Regierungspropaganda ermöglicht, ohne dabei Fiktionen zu benötigen, die die normative Kraft der Verfassung schwächen. c) Parteiendemokratie

und

Gewaltenteilung

O b w o h l das Grundgesetz zur Tätigkeit der Parteien innerhalb der Staatsorgane schweigt, setzt es diese doch voraus. Anders wäre der demokratische Staat nicht

128

B V e r f G E 44, 125 (142).

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

361

funktionsfähig. Gerade aus der Funktionsfähigkeit der Demokratie ergeben sich freilich auch Grenzen der Inbesitznahme staatlicher Organe durch die Parteien. Die Parteien haben dort ihren Platz, wo Wettbewerbsbedingungen herrschen 1 2 9 . Das sind diejenigen Organe, die überwiegend programmierende und daher politisch motivierte Entscheidungen fällen, also Parlament und Regierung. Beider Tätigkeit spielt sich zwar nicht im rechtsfreien Raum ab, sondern ist verfassungsrechtlich ebensowohl begrenzt wie angeleitet. Die Verfassung zieht jedoch in der Regel nur einen Rahmen, dessen Ausfüllung der Mehrheitsentscheidung überlassen bleibt. Dagegen stehen den Parteien jene Organe nicht offen, die überwiegend programmierte und daher rechtlich motivierte Entscheidungen fällen. Das sind Justiz und Verwaltung. Hier verlaufen deswegen noch erkennbare Gewaltenteilungslinien, während sie sich zwischen Parlament und Regierung weitgehend aufgelöst haben. Waren die Parteien in der konstitutionellen Monarchie auf das Parlament beschränkt, so dringen sie seit Einführung der Demokratie auch in die Regierung vor. Der natürliche Gegensatz zwischen den beiden Organen entfällt damit. Die Parlamentsmehrheit sieht es als selbstverständliche Aufgabe an, die von ihr gestellte Regierung zu stützen und ihr dort, wo sie auf parlamentarische Beschlüsse angewiesen ist, zum Erfolg zu verhelfen. Dementsprechend sinkt ihre Bereitschaft zur Regierungskritik und -kontrolle. Diese kann vielmehr nur noch bei der Opposition vorausgesetzt werden, so daß die Scheidelinie heute zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung auf der einen und Parlamentsminderheit auf der anderen Seite verläuft. Dabei handelt es sich um eine zwangsläufige Konsequenz verfassungsrechtlich vorgegebener Strukturen, die deswegen auch nicht sinnvoller Gegenstand verfassungsrechtlicher Kritik sein kann. Anders verhält es sich mit den Beziehungen zwischen Regierung und Verwaltung, die im herkömmlichen, von den Organen ausgehenden Schema gar nicht als Gewaltenteilungsproblem betrachtet wurden. Nimmt man dagegen eine Funktionenteilung vor, dann verläuft gerade hier eine wichtige Systemgrenze 1 3 0 . Die Verwaltung ist nicht primär zu frei gestaltenden, sondern zu gebundenen Entscheidungen berufen, für deren Programm nicht sie, sondern die Politik die Verantwortung trägt. Daher bedarf sie auch keiner parteipolitischen Rekrutierung. Diese widerspräche sogar einem System, das seine demokratische Substanz aus der Möglichkeit des Mehrheitswechsels zieht. Mehrheitswechsel bedeutet nicht nur einen Austausch des Führungspersonals, sondern vor allem des staatlichen Handlungsprogramms. Insoweit hängt er aber davon ab, daß die Verwaltung als programmausführende Instanz sich nicht mit einem Parteiprogramm identifiziert. Andernfalls könnte eine mehrheitsverändernde Wahlentscheidung auf'der Durchführungsebene schnell unterlaufen werden. Die Neutralität der Beamtenschaft ist also kein Relikt des Obrigkeitsstaates. Ohne dessen parteienfeindlicher Grundlage anzuhaften, bleibt sie als Funktionsbe129

N a c h HESSE W D S t R L 17, 2 5 f , w o politisehe Willensbildung stattfindet; vgl. auch HENKE DVB1. 1979, 377; LUHMANN D e r

130

Vgl. LUHMANN Soziologie des politischen Systems (Fn. 14) S. 163ff; DERS. Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 1 8 3 f f , 209;

S t a a t 12, 8 f f ; SEIFERT P a r t e i e n ( F n . 14) S .

DERS. D e r S t a a t 1 2 , 8 f f ; H . D . J A R R A S P o l i -

93, 403.

tik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, 1975.

362

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

dingung auch der Parteiendemokratie unverändert gültig. Das demokratische System setzt freilich außer einer loyalen Beamtenschaft auch eine effiziente politische Verwaltungsführung voraus. Indessen wird diese angesichts neuartiger, vor allem planerischer Staatsaufgaben und verknappter Zeitbudgets der Regierungsmitglieder zunehmend schwierig. Die Folge ist, daß die Verwaltung unter dem Deckmantel politischer Führung bereits weitgehend sich selbst und teilweise in Umkehrung der offiziellen Richtung sogar die Politik steuert 131 . Im Gegenzug schwillt die Zahl der sogenannten politischen Beamten an, die das Neutralitätsprinzip durchbrechen und als Vertraute eines Regierungsmitglieds ins Amt gelangen und dieses in der Verwaltungsführung unterstützen 132 . Die Möglichkeit vorzeitiger Pensionierung im Fall des Regierungswechsels oder Vertrauensschwundes wird dann zur unvermeidlichen Konsequenz. Es ist allerdings bekannt, daß die Parteien ihre Personalpolitik nicht auf den Bereich der politischen Beamten beschränken, sondern Regierungspositionen dazu benutzen, ihre Anhänger auf allen Ebenen in Beamtenstellungen unterzubringen oder in der Karriere zu beschleunigen, teilweise um ihren Einfluß auf die Verwaltung zu stärken und über einen Mehrheitswechsel hinwegzuretten, teilweise um Mitglieder zu belohnen und dadurch neue Anhänger anzulocken. Die Praxis ist unter dem Namen der Ämterpatronage bekannt und wird nach dem Motiv gewöhnlich in Herrschaftsund Versorgungspatronage aufgeteilt 133 . Empirischen Untersuchungen läßt sich entnehmen, daß der Anteil von Parteimitgliedern in der Beamtenschaft erheblich höher liegt als in der Bevölkerung 134 . Darin kommt nicht nur eine beruflich bedingte höhere Bereitschaft zum politischen Engagement, sondern auch ein opportunistisches Aufstiegskalkül zum Ausdruck, wie die Zahlen über die Parteimitgliedschaft von Beamten in solchen Bundesländern zeigen, in denen die Regierung noch nie oder seit langem nicht mehr gewechselt hat: in SPD-Ländern gehören 87,5% aller beamteten Parteimitglieder der Regierungspartei an, in CDU-Ländern 8 7 , 2 % 1 3 S . Dieselbe Untersuchung beweist, daß die Mitgliedschaft in der Regierungspartei die Aufstiegschancen erhöht und die Karrierewege verkürzt. Die Parteimitglieder in Führungspositionen sind jünger als ihre parteilosen Kollegen. Außenseiter gehören regelmäßig der

131

132

Vgl. etwa T . ELLWEIN Regierung und Ver-

der Ministerialverwaltung der Bundesrepu-

waltung,

blik Deutschland,

1970;

R.

MATOTZ/F.

SCHARPF

State and Bureaucracy in Western G e r m a n y ,

damit eng zusammenhängenden

Planungs-

1 9 7 7 ; DERS. „ P a r t e i b u c h " - V e r w a l t u n g

kapazität der Parteien vgl. F .

GRUBE/G.

1 3 1 ) ; U . LOHMAR Staatsbürokratie. Das h o -

RICHTER/U. THAYSEN Politische Planung in

heitliche Gewerbe, 1 9 7 8 ; F . WAGENER D e r

(Fn.

Parteien und Parlamentsfraktionen, 1 9 7 6 .

öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart,

Einzelheiten bei K . DYSON Die westdeutsche

in: W D S t R L 3 7 ( 1 9 7 9 ) 2 1 5 ; H . H . v. AR-

„ P a r t e i b u c h " - V e r w a l t u n g , in: Die Verwal-

NIM Ämterpatronage durch politische Parteien, 1980.

tung 12 ( 1 9 7 9 ) 129. Ferner D . KUGELE D e r politische Beamte, 2 . Aufl. 1 9 7 8 . 133

1 9 7 6 ; K . DYSON Party,

( H r s g . ) Planungsorganisation, 1 9 7 3 . Zu der

Die

Unterteilung

bie

T.

134 Vgl.

STEINKEMPER

Ministerialverwaltung

ESCHENBURG

( F n . 132) S. 4 8 , 5 5 , sowie H . W . SCHMOL-

Ämterpatronage, 1 9 6 1 , S. 11 ff. Vgl. ferner

LINGER Abhängig Beschäftigte in Parteien

W . PIPPKE Karrieredeterminanten in der öffentlichen Verwaltung, 1 9 7 5 ; B . STEINKEMPER Klassische und politische Bürokraten in

der Bundesrepublik, in: ZParl. 5 ( 1 9 7 4 ) 5 8 . 135

STEINKEMPER 132) S. 5 0 .

Ministerialverwaltung

(Fn.

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

363

Regierungspartei an 136 . Selbst wenn es zutreffen sollte, daß die Verflechtung von Parteien und Verwaltung diese leistungsfähiger macht 137 , fallen die demokratischen Kosten schwerer ins Gewicht, vom Verbot der Ämterpatronage in Art. 33 Abs. 2 GG ganz zu schweigen. Soweit es nicht primär Gesichtspunkte der Patronage, sondern der Kompensation für das erhöhte politische Gewicht der Verwaltung sind, die zur Durchbrechung der Systemgrenzen führen, befindet sich die Justiz in einer ähnlichen Lage. Auch bei ihr mischen sich heute Rechtsanwendung und Rechtserzeugung stärker als früher. In besonderem Maß gilt das für das Bundesverfassungsgericht, dessen Prüfungsbefugnis sich auch auf die Entscheidungen des Gesetzgebers erstreckt 138 . Im Gegensatz zur Verwaltung, die Ausführungsinstanz der politischen Staatsorgane ist und diesen gegenüber daher nicht unabhängig sein kann, hat die Justiz aber Kontrollfunktionen, die sie nur aus einer Position der Unabhängigkeit wahrzunehmen vermag. Daher eröffnet die Verfassung keinerlei Einflußmöglichkeiten der Politik auf richterliche Entscheidungen. Sie sind ausnahmslos illegitim. Die offene Flanke der richterlichen Unabhängigkeit bildet indes die Personalauswahl. Auch Richter bedürfen als Inhaber öffentlicher Gewalt einer demokratischen Legitimation. Damit sind sie aber, gleichgültig wo man die Richterberufung ansiedelt: beim Volk selbst durch Richterwahl, bei dem vom Volk gewählten Parlament oder bei der vom Parlament gewählten Regierung, in den Mechanismus parteipolitisch beeinflußter Rekrutierung einbezogen. Das Wahlverfahren, das die §§ 5 ff BVerfGG für Verfassungsrichter vorschreiben, trägt mit dem Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit zwar der Konsensfunktion der Verfassung Rechnung und verhindert, daß die Kontrollbefugnis einer Seite ausgeliefert wird, treibt die Richterwahl aber zwangsläufig in den Parteienproporz. Die qualifizierte Mehrheit führt de facto zum anteiligen Besetzungsrecht der großen Parteien mit Vetomöglichkeit für Extremfälle 139 . Wenn die Parteien unter diesen Umständen ihrer Neigung nachgeben, das Verfassungsgericht wegen seiner Bedeutung für die^ Verwirklichung von Parteizielen mit Parteigewährsleuten zu besetzen, verstärkt das wiederum die Politisierung der Rechtsprechung und kann die Institution letztlich nur untergraben. Gewaltenteilende Funktionen erfüllt in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik schließlich auch der Föderalismus. Nachdem sein natürliches Substrat, die regionalen, landsmannschaftlichen, kulturellen und religiösen Unterschiede, weitgehend eingeebnet sind, wird der Gewaltenteilungsgedanke sogar zu wichtigsten Ersatzlegitimation für den Föderalismus. Der politische Prozeß kann sich unter diesen Umständen nicht allein an Parteilinien orientieren. Diese werden vielmehr durch den Bund-Länder-Gegensatz gebrochen. Indessen läßt sich beobachten, daß die Bund-

A l l e Angaben bei STEINKEMPER Ministerialverwaltung (Fn. 132) S. 51 f f . 1 3 7 So DYSON Die Verwaltung 12, 1 5 7 . 138 VGL, D . GRIMM Verfassungsgerichtsbarkeit — Funktion und Funktionsgrenzen im de136

139

mokratischen Staat, in: H o f f m a n n - R i e m (Hrsg.) Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. 2, 1 9 7 7 , S. 83. Vgl. D . P. KOMMERS Judicial Politics in W e s t G e r m a n y , 1 9 7 6 , S. 1 1 3 .

364

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Länder-Differenz zunehmend von der Parteienstruktur überlagert wird 1 4 0 . Der wichtigste Schauplatz dieses Vorgangs ist dasjenige Organ, durch welches die Länder an der Bundesgesetzgebung mitwirken, der Bundesrat. Das Grundgesetz gewährt solche Mitwirkungsrechte, um in einem System stark verzahnter Kompetenzen, in dem der Bund vielfältige Einwirkungsmöglichkeiten auf die Erfüllung von Länderaufgaben besitzt, den Ländern auf Bundesebene ein Forum zur Wahrung ihrer Interessen zu schaffen. Je nach dem Grad der Betroffenheit der Länder sind auch die Mitwirkungsrechte des Bundesrats abgestuft. Sie gipfeln in der Zustimmungsbedürftigkeit einer Reihe von Bundesgesetzen, deren Zahl nicht ohne die Hilfe des Bundesverfassungsgerichts inzwischen auf mehr als 50% angewachsen ist 1 4 1 . Seit Bundestag und Bundesrat unterschiedliche parteipolitische Mehrheiten aufweisen, wird dieses Instrumentarium jedoch häufig nicht mehr aus landespolitischen, sondern aus parteipolitischen Motiven mobilisiert 1 4 2 . Die Oppositionsparteien im Bundestag benutzen ihre Mehrheit im Bundesrat dazu, Niederlagen, die ihre Bundestagsfraktionen im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren erleiden, nachträglich durch die Verweigerung der Zustimmung im Bundesrat wettzumachen. Ein alle Seiten befriedigender Kompromiß muß dann im Vermittlungsausschuß gefunden werden und kann in der Regel auf unveränderte Annahme in beiden Organen rechnen. Die Überlagerung der föderativen Gewaltenteilungslinie durch die Parteienstruktur hat Rückwirkungen auf das demokratische System. Soweit das Zustimmungsrecht des Bundesrats reicht, wird der politische Prozeß nicht mit der parlamentarischen Entscheidung abgeschlossen. D a die Opposition, vermittelt durch ihre Bundesratsmajorität, ein Vetorecht besitzt, ist sie vielmehr in der Lage, ein zusätzliches Verfahren zu erzwingen, das nicht mehr nach Wettbewerbsregeln mit abschließendem Mehrheitsentscheid, sondern nach dem Aushandlungsprinzip mit Konsenserfordernis verläuft. Im Zustimmungsbereich büßt die vom Volk mit der Staatsführung beauftragte Partei daher die Fähigkeit ein, ihr Regierungsprogramm zu verwirklichen. Staatswillensbildung erscheint stattdessen als Ergebnis eines Einigungsprozesses zwischen Mehrheit und Minderheit. Das Konkurrenzprinzip wird dadurch entwertet 1 4 3 . An die Stelle der Parteienkonkurrenz tritt die Parteienkonkordanz. Der Konkordanzdemokratie fehlt aber die Transparenz wettbewerblich organisierter Ent140

141

Grundlegend dazu G . LEHMBRUCH Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1976. Vgl. F. OSSENBÜHL Die Zustimmung des Bundesrats beim Erlaß von Bundesrecht, in: A ö R 99 (1974) 403; E . FRIESENHAHN Die Rechtsentwicklung hinsichtlich der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen des Bundes, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, 1974, S. 267; D . GRIMM Die Zustimmung des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren, in: Hoffmann-Riem (Hrsg.) Sozialwissenschaften im öffentlichen Recht, 1981, S. 112; B V e r f G E 8 , 274 (294f) und 24, 184 (195 ff).

142

Nähere Angaben bei F. K. FROMME Gesetzgebung im Widerstreit, 2. Auflage 1976; ferner J . LAUFER Der Bundesrat als Instrument der Opposition? ZParl. 1 (1970), 318; W. R . BANDORF Der Bundesrat als Instrument der Parteipolitik, Diss. iur. Mannheim 1978; HENKE DVB1. 1979, 369.

143 VGL J ) GRIMM Die Gegenwartsprobleme der Verfassungspolitik und der Beitrag der Politikwissenschaft, in: Bermbach (Hrsg.) Politische Wissenschaft und politische Praxis, PVS-Sonderheft 9 (1978) S. 272, bes. 278.

365

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

scheidungsverfahren. Infolgedessen findet auch das Publikum weniger Ansätze für Meinungsbildung und Interessenartikulation mit Wirkung auf das laufende Verfahren. Die beteiligten Parteien schließen sich gegen das Volk ab. Überdies verwischt der auf die parlamentarische Entscheidung folgende Aushandlungsprozeß die politischen Verantwortlichkeiten. Jede Seite kann unüberprüfbar Erfolge für sich beanspruchen und Mißerfolge auf den Gegner schieben. Dadurch verliert die Wahl an Gewicht. Zum einen wird dem Wähler ein begründetes Urteil über erbrachte Regierungsleistungen erschwert. Zum anderen klärt die Wahl noch weniger als ohnehin schon, welche der konkurrierenden Parteien künftig mit welchem Programm regieren soll. Das System tendiert zu einer informellen Großen Koalition 1 4 4 und lockert im selben Maß die Rückbindung der staatlichen Herrschaft an das Volk, die der Parteienwettbewerb aufrechterhält. d) Parteien und autonome

Kontrolleinrichtungen

Die Tendenz der Parteien, machtlimitierende Systemgrenzen zu überspringen und Teilsysteme auf diese Weise kurzzuschließen, bleibt nicht auf den staatsorganschaftlichen Bereich beschränkt. Dasselbe Phänomen läßt sich vielmehr auch dort beobachten, wo politische oder soziale Einflußpositionen zur Verfügung stehen, die dem unmittelbaren Staatszugriff im Interesse von Machtbegrenzung und Freiheitssicherung gerade entzogen sind. Ein systematischer Uberblick, in welchem Ausmaß sich die Parteien solcher Bereiche bemächtigt haben, fehlt. Die Untersuchungen konzentrieren sich gewöhnlich auf Ämterhäufungen im politischen System selbst, während die Verflechtungen der Parteien mit den gesellschaftlichen Funktionsbereichen ausgespart werden 1 4 5 . Eine Bestandsaufnahme wäre indessen aus zwei Gründen aufschlußreich. Zum einen ließe sich auf diese Weise Klarheit darüber gewinnen, in welchen sozialen Sektoren die bereichsspezifischen Rationalitätskriterien außer Kraft gesetzt sind und Entscheidungen abweichend von den grundrechtlichen Intentionen nach politischen Gesichtspunkten fallen. Zum anderen könnte aufgehellt werden, wo der Zugang zu Berufen, Vermögenswerten, Einflußpositionen, Aufträgen etc. von der Parteizugehörigkeit abhängt und wie der damit verbundene Druck zum Engagement in den großen Parteien die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und die Offenheit des politischen Prozesses beeinflußt. Beides zusammen erlaubte Rückschlüsse auf die Realisierungschancen von Verfassungszielen in der Parteiendemokratie. Es gibt freilich einen Bereich, in dem wegen seines besonders engen Bezugs zum Machterwerbszweck der Parteien auch ihre Expansionstendenzen besonders unverhüllt zutage treten: das sind die Rundfunk- und Fernsehanstalten. Da ihnen ein entscheidender Einfluß auf den Wahlausgang beigemessen wird, unterliegen sie geradezu systembedingt parteipolitischen Instrumentalisierungsversuchen 146 . Deswegen machen sie

144

V g l . LEHMBRUCH ( F n . 1 4 0 ) S . 1 3 6 .

145

So ausdrücklich H. KAACK Zur Struktur der politischen Führungselite in Parteien, Parlament und Regierung, in: Handbuch des Parteiensystems, Bd. I (Fn. 92) S. 195.

146 Yg[ m ; t umfassenderer Begründung H . SCHATZ Zum Stand der politikwissenschaftlich relevanten Massenkommunikationsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: PVS-Sonderheft 9 (Fn. 143) S. 434; ferner

366

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

auch die verfassungsrechtliche Problematik der Grenzüberschreitungen besonders augenfällig. Die Verfassung verleiht dem Rundfunk genau wie der Presse einen grundrechtlich gesicherten Freiheitsstatus. Im Unterschied zur Presse wurde der Rundfunk aber traditionell als öffentliche Aufgabe verstanden und deswegen in Form öffentlichrechtlicher Anstalten bei gleichzeitiger Wahrung einer weitgehenden Autonomie geführt, so daß hier die individuelle Freiheit hinter die institutionelle zurücktrat. Ohne sich auf diese Rechtsform festzulegen, stellte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1961 aus Anlaß der Gründung einer von der Bundesregierung abhängigen Fernsehanstalt fest, Art. 5 GG verlange, daß „dieses moderne Instrument der Meinungsbildung weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert wird", und trug in einem weiteren Urteil den Landesgesetzgebern auf, dafür zu sorgen, daß die Rundfunkanstalten „staatsfrei und unter Beteiligung aller relevanten gesellschaftlichen Kräfte" betrieben werden 147 . An diesen Grundsätzen hält das Gericht auch für den Fall einer Privatisierung des Rundfunks fest 148 . Die Rundfunkgesetze und -staatsverträge sehen daher gesellschaftliche Aufsichtsgremien vor, die entweder nach einem ständischen Prinzip von bestimmten, als relevant betrachteten Gruppen beschickt oder von den Volksvertretungen, die als Staatsorgane den Rundfunk nicht selbst kontrollieren dürfen, gewählt werden. In beiden Fällen kommen jedoch die politischen Parteien zum Zuge, sei es unmittelbar in ihrer Eigenschaft als relevante gesellschaftliche Gruppen, sei es mittelbar durch Abgeordnete oder Regierungsmitglieder, denen eine begrenzte Anzahl von Sitzen eingeräumt wird. Bei sehr unterschiedlichen Zahlenverhältnissen im einzelnen ist gegenwärtig von den Rundfunkrat-Mitgliedern der in der ARD zusammengeschlossenen Sender sowie des ZDF ein knappes Drittel den politischen Parteien zuzurechnen, bei den Verwaltungsräten liegt der Anteil über der Hälfte 149 . Im Gegensatz zu den übrigen Gruppen sind die Parteien freilich nicht nur gesellschaftliche Kräfte, sondern zugleich die bestimmenden Faktoren im Staat. Ihre Anwesenheit in den Aufsichtsgremien der Rundfunkanstalten stellt daher deren Staatsfreiheit in Frage. Das Problem ist mit Formeln, die den grenzüberschreitenden Charakter der Parteien ignorieren, nicht aus der Welt zu schaffen. Angesichts der Doppelrolle der Parteien muten vielmehr alle Rechtfertigungsversuche vordergründig an, die zwischen Parteien und Staatsorganen trennen und die Parteivertreter in den Rundfunkräten lediglich als Delegierte freier gesellschaftlicher Gebilde ansehen oder die Anwesenheit von Abgeordneten billigen, solange sie nur von ihrer Partei und nicht vom Parlament entsandt sind 150 . Nicht weniger formal erscheint es, die Mitwirkung der Parteien schon dann hinzunehmen, wenn sie in der Minderheit W.

147 148 149

LANGENBUCHER/M. L I P P

Kontrollieren

Parteien die politische Kommunikation? in: Bürger und Parteien (Fn. 26) S. 2 1 7 . B V e r f G E 12, 205 (262) und 3 1 , 314 (329). B V e r f G E 57, 295 (322). Berechnungsgrundlage für die Angaben: Internationales Handbuch für Rundfunk und

Fernsehen 1982/83 (Hrsg. Hans Bredow-Institut), 1982. lso DI E e r s t e Aussage bei H. P. IPSEN Mitbestimmung im Rundfunk, 1972, S. 70, die zweite bei E. WUFKA Die verfassungsrechtlich-dogmatischen Grundlagen der Rundfunkfreiheit, 1 9 7 1 , S. 98 A n m . 559.

367

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

bleiben und deswegen von den anderen Gruppen überstimmt werden können 151 . Der Einfluß der Parteien in den Rundfunkräten bemißt sich nämlich nicht allein nach ihrem Stimmenanteil. Die Parteien streben nach staatlicher Macht, die nur über Wahlerfolge zu erringen und zu bewahren ist. Zu diesem Zweck sind sie auf Kommunikation mit dem Wähler angewiesen. Solange die Überzeugung vorherrscht, daß das Fernsehen Wahlen entscheiden kann 152 , werden sie daher einen starken Drang nach Kontrolle dieses Mediums entfalten. Die Parteien befinden sich dadurch gegenüber den Rundfunkanstalten in einer Position erheblich höherer Interessiertheit als die anderen, von den Medien weniger existentiell und umfassend betroffenen Gruppen. Von dieser Position aus ist es ihnen gelungen, schwächere oder engere Interessen hinter sich zu sammeln und so in den Aufsichtsgremien trotz ihrer Stimmenminderheit das parteipolitische Prinzip dominant zu machen. Die an die Systemgrenzen von Staat und Gesellschaft nicht gebundenen Parteien üben auf diese Weise maßgebenden Einfluß in den Rundfunkanstalten aus. Unmittelbar wirkt sich dieser Einfluß im Personalbereich aus. Durch die informelle Gliederung der Aufsichtsgremien in sogenannte Freundeskreise der großen Parteien ist es möglich geworden, Personalentscheidungen an parteipolitischen Gesichtspunkten auszurichten. In der Personalpolitik der Rundfunkanstalten herrscht daher ein System des Parteienproporzes, das keineswegs bei den Intendanten und Programmdirektoren halt macht und gelegentlich sogar anstaltsübergreifende Personalpakete hervorbringt. Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 1974 gehörten nicht weniger als 50% der Inhaber von Führungspositionen in den Rundfunkanstalten den großen Parteien an, von dem vergleichbaren Personenkreis in der Presse jedoch nur 23% 1 5 3 . Dieser durch die institutionellen Kanäle geleitete Einfluß wird von einer ständigen „programmbegleitenden Protestpraxis" 154 ergänzt, die sich juristisch auf ein falsch interpretiertes Ausgewogenheitspostulat stützt. Sie entfaltet ihre Wirkung in einer schwer meßbaren „präventiven Sensibilisierung" 155 der Journalisten, denen eine Art Selbstzensur zur Gewohnheit wird. Daß die Parteien untereinander in Konkurrenz stehen, verhindert den Regierungsrundfunk, ändert aber an der parteipolitischen Rücksichtnahme in den Sendungen nichts. Zwar protestiert jede einzelne nur im Eigeninteresse und also gegen jeweils andere Sendungen. In der Summe deckt der Protest aber den Bereich der politischen Programme ab und bewirkt weniger eine

So O V G Lüneburg in: Media Perspektiven 1978, 823 (829f); ähnlich anscheinend H. D. JARASS Die Freiheit der Massenmedien, 1978, S. 2 8 1 . is2 Vgl. dazu E. NOELLE-NEUMANN Das doppelte Meinungsklima, Der Einfluß des Fernsehens im Wahlkampf, in: PVS 18 (1977) 408; aus der Sicht eines Wahlkampfleiters P. RADUNSKI Wahlkämpfe, 1980, S. 60. Keine Bestätigung f ü r die Wirkungsthese finden H. KELLER/M. BUSS Fernsehen im Alltag — oder: was hat das Fernsehen mit der Bundestagswahl zu tun? in: Media Perspektiven

151

153

154

155

1982, 233, sowie M. Buss/R. EHLERS Medieftnutzung und politische Einstellung im Bundestagswahlkampf 1980, ebenda, S. 237. M. SCHATZ-BERGFELD Massenkommunikation und Herrschaft, 1974, S. 170. N. SCHNEIDER Parteieneinfluß im Rundfunk, in: Aufermann u. a. (Hrsg.) Fernsehen und H ö r f u n k f ü r die Demokratie, 1979, S. 1 2 1 . Vgl. auch R. HOFMANN Pressionen auf politische Magazine, ebenda S. 301. W.

LANGENBUCHER/M.

LIPP

Politische

Kommunikation, in: Bürger und Parteien (Fn. 26) S . 227.

368

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Ausgewogenheit der Kritik als eine Ausgewogenheit im Verschweigen. Die verfassungsrechtlichen Rückwirkungen sind gravierend. Die Kritik- und Kontrollfunktion des Rundfunks gegenüber der Politik, deretwegen er vom Grundgesetz gerade staatsfrei gestellt ist, leidet beträchtlich. Wenn die Parteien im Staat und im Rundfunk bestimmen können, wird der Kontrollierte sein eigener Kontrolleur, und das kunstvolle System des zwar staatsfreien, aber doch nicht privater Macht überlassenen Rundfunks ist kurzgeschlossen 156 . Uber die politischen Parteien gerät es auf diese Weise doch wieder in die Nähe des Staatsrundfunks. Da das Verhalten der Parteien unter dem für sie überragenden Gesichtspunkt des Machterwerbs rational ist, versprechen Appelle an ihre bessere Einsicht, anders als etwa bei Verfassungsrichtern, keine Abhilfe. Die Voraussetzungen eines seif restraint sind im Kontrollsystem der Rundfunkanstalten nicht enthalten 157 . Die Rundfunkfreiheit ist unter diesen Umständen durch das Verbot der Zensur und des Staatsrundfunks in Art. 5 G G allein nicht mehr hinreichend zu gewährleisten. Sie darf angesichts der systemüberschreitenden Doppelrolle der Parteien nicht auf den Staat fixiert bleiben. Vielmehr muß der Versuch gemacht werden, statt zwischen Staat und Gesellschaft stärker zwischen Kommunikationssystem und Machtsystem zu scheiden 1 5 8 . Eine solche Scheidung verlangt auch institutionelle Vorkehrungen gegen die Parteien. Allerdings läßt sich das Ziel schwerlich durch ein generelles Verbot der Parteivertretung erreichen. Im Maß, wie der Rundfunk zum wichtigsten Selbstdarstellungsmittel der Politiker geworden ist, sich eigenständig zur Politik äußert und damit die Einstellungsmuster in der Bevölkerung beeinflußt, kann er nicht parteifrei gehalten werden. Der Parteieinfluß würde sich über die Interessengruppen Eingang in die Rundfunkräte verschaffen. Ein Gewinn läge aber bereits in der Verminderung der parteipolitisch besetzten Plätze. Sie könnte durch Inkompatibilitäten mit staatlichen Ämtern ergänzt werden. Demgegenüber wären Gruppen wie etwa wissenschaftliche oder kulturelle zu stärken, die sich weniger leicht auf Parteilinien verpflichten lassen

156

Vgl. dazu etwa H. MEYN Gefahren für die Freiheit von Rundfunk und Fernsehen? aus politik und Zeitgeschichte (Beilage zu „Das Parlament")

48/1969,

S.

17;

C.

STARCK

Rundfunkräte und Rundfunkfreiheit, in: ZRP 1970, 217; DERS. Rundfunkfreiheit als Organisationsproblem, 1973; damit bis auf einige Kürzungen sowie Aktualisierungen in den Anmerkungen praktisch wortgleich O. SCHLIE Organisation und gesellschaftliche Kontrolle des Rundfunks, in: Aufermann, Fernsehen und Hörfunk (Fn. 153) S. 52; J. SEIFERT Probleme der Parteien-und Verbandskontrolle von Rundfunk- und Fernsehanstalten, in: Zoll (Hrsg.) Manipulation der Meinungsbildung, 2. Aufl. 1972, S. 124; W.

LANGENBUCHER/W.

MAHLE

„Umkehr-

proporz" und kommunikative Relevanz, in: Publizistik

18

(1973)

322;

R.

HOFFMANN

Rundfunkorganisation und Rundfunkfreiheit, 1975, bes. S. 143; G. HERRMANN Fernsehen und Hörfunk in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 328; R. FRITZ Massenmedium Rundfunk — Die rechtliche Stellung der Rundfunkräte und ihre tatsächliche Einflußnahme auf die Programmgestaltung, Diss. iur. Frankfurt, 1977; W. KEWENIG ZU Inhalt und Grenzen der Rundfunkfreiheit durch Rundfunkorganisation, 1979, S. 46; P. LERCHE Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, in: Bullinger/Kübler (Hrsg.) Rundfunkorganisation und Kommunikationsfreiheit, 1979, S. 15, bes. 75. 157 YGJ

HOFFMANN-RIEM

Rundfunkfreiheit

(Fn. 155) S. 60. 158 Vgl.

LANGENBUCHER/MAHLE

porz, Publizistik 18, 325.

Umkehrpro-

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

369

als die Verbände. In diesem Zusammenhang gewinnt die jüngste Fernsehentscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bedeutung, mit der eine von der F D P erhobene Organklage auf Vertretung im Rundfunkrat des N D R als unzulässig abgewiesen w u r d e l s 9 . Das Gericht begründete dies damit, daß sich aus dem Recht der Parteien, an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken, kein Entsendungsrecht in Aufsichtsgremien von Rundfunkanstalten ableiten lasse. Die Mitwirkung im Rundfunkrat sei keine Mitwirkung an der Volkswillensbildung im Sinn von Art. 21 G G . Die Entscheidung enthält allerdings Passagen, die als Ansatz zu einer restriktiveren Haltung gegenüber den Parteien überhaupt interpretiert werden können. Das Bundesverfassungsgericht stellt nämlich die Ziele der politischen Parteien und den Zweck der Rundfunkräte gegenüber. D a die Parteien für ihre Uberzeugungen werben wollten und auf Wahlgewinn ausgerichtet seien, gehe es bei der Mitwirkung an der Willensbildung des Volkes notwendig um eine „gezielte Beeinflussung der individuellen und öffentlichen Meinungsbildung im Sinne der von ihnen entwickelten und vertretenen politischen Auffassungen". Dagegen sei es die Aufgabe des Rundfunkrates, „den Prozeß der freien Meinungsbildung offen zu halten". Das Bundesverfassungsgericht zieht daraus den Schluß, daß sich die Aufgabe der politischen Parteien und die des Rundfunkrates nach Ziel und Zweck in grundsätzlicher Weise voneinander unterscheiden. Mit diesem Argument wäre freilich nicht nur die Abweisung der Klage einer übergangenen Partei, sondern ein Verbot jeglichen parteipolitischen Einflusses im Rundfunkrat begründbar gewesen. O b das Gericht damit einen Sinneswandel gegenüber dem ersten Fernsehurteil, das noch Staatsvertreter in angemessener Zahl für zulässig erachtet hatte 1 6 0 , andeuten wollte, bleibt offen. Letztlich stellt die Entscheidung das Prinzip der ständischen Rundfunk-Kontrolle gänzlich in Frage, denn keine der im Rundfunkrat vertretenen Organisationen besitzt als solche ein Interesse an der Offenhaltung der Kommunikation, sondern nur an der angemessenen Berücksichtigung oder zumindest nicht Vernachlässigung ihres Eigeninteresses. Die Offenheit der Kommunikation ist verbandlich gar nicht organisierbar. Sie kann nur das Resultat eines Prozesses sein, dem gegenwärtig von den politischen Parteien freilich die stärkste Gefahr droht.

III. Staatsrechtslehre und Parteienproblematik Die politischen Parteien sind anders als die Staatsorgane nicht eigentlich Geschöpfe der Verfassung. Sie besitzen ein natürliches Substrat in den unterschiedlichen Interessen und Ordnungsvorstellungen der Gesellschaft. Sobald ein politisches System auf der Basis gesellschaftlicher Beteiligung an staatlichen Entscheidungen errichtet wird, ist ihre organisatorische Verfestigung die notwendige Folge. Das macht sie von ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Anerkennung unabhängig. Auch Art. 21 G G

159

Beschluß vom 9. 2. 1982 - 2 B v K 1/81 —

160

B V e r f G 12, 205 (263).

370

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

wirkt für die Funktion der Parteien nicht konstitutiv. Sie wären ohne diese Vorschrift ebenso vorhanden und — da das Grundgesetz eine repräsentative Demokratie vorsieht — nicht weniger legitim. U m so stärker scheint aber die Verfassung von den Parteien abhängig zu sein. Der Verfassungsstaat ging den Parteien zwar voran. Seine Einrichtungen haben sich mit ihrem Erscheinen jedoch gewandelt, ohne daß dies den Verfassungstexten stets anzumerken wäre. D a sich die Parteien wegen ihrer Vermittlungsfunktion nicht auf die Systemgrenze von Staat und Gesellschaft festlegen lassen, entgleiten sie einer Verfassung, die auf diesen Dualismus zugeschnitten ist. Als inputStruktur für den Staatsapparat sind sie seiner Binnengliederung vorgelagert und relativieren diese. Hinter den geteilten Gewalten kommen allemal die Parteien zum Vorschein. Daher hemmen und balancieren weitgehend nicht mehr verselbständigte Organe einander, sondern die Parteien kooperieren mit sich selbst in verschiedenen Rollen. Die machtbegrenzende Kraft der Verfassung nimmt auf diese Weise ab, und die Machtkontrolle findet zum Teil nur noch im Parteiensystem selbst statt. Die konkurrierenden Parteien bewachen sich gegenseitig. Indessen kann diese Form der Kontrolle nur in dem Maße funktionieren, wie das Konkurrenzverhältnis reicht, und muß dort versagen, wo die Parteien gleichgelagerte Interessen verfolgen. Das Grundgesetz hat auf diese Entwicklung zu reagieren versucht, indem es die Parteien einerseits verfassungsrechtlich anerkannte und in ihrer funktionsnotwendigen Freiheit absicherte, ihnen andererseits aber auch Bindungen auferlegte, die sie für ihre bestimmende Rolle im demokratischen Staat ausrüsten sollten. Sie erhalten dadurch einen verfassungsrechtlich eigentümlichen, funktionsadäquaten Status aus Freiheit und Bindung, wie er sonst weder im staatlichen Bereich, der prinzipiell durch Kompetenzen, noch im gesellschaftlichen Bereich, der prinzipiell durch Freiheiten charakterisiert ist, vorkommt. Indessen läßt sich beobachten, daß die Parteien mit ihrer verfassungsrechtlichen Anerkennung und dem im Wege der Selbstcharakterisierung beschlossenen Aufgabenkatalog des § 1 PartG zu wuchern pflegen, wenn es um die Verteidigung oder Ausweitung von Privilegien geht, während sich die verfassungsrechtlichen Bindungen als verhältnismäßig ineffektiv erwiesen haben und auch die Bereitschaft der Parteien, sie gesetzlich zu effektivieren, weitgehend fehlte. Der Nachteil liegt bislang auf Seiten der Verfassung. Für die Staatsrechtslehre folgt daraus zweierlei. Zum einen kann sie angesichts der parteipolitischen Durchdringung aller Verfassungsinstitutionen nicht in gewohnter Weise fortfahren, die Staatsorgane nach Zusammensetzung, Kompetenz und Verfahren zu schildern, als gäbe es keine Parteien, und diese dann als „politische K r ä f t e " lediglich danebenstellen. Staatsorgane und Parteien sind vielmehr von vornherein zusammenzudenken, wenn die moderne Demokratie nur als Parteiendemokratie möglich ist. Zum anderen muß die Staatsrechtslehre, wenn das unveränderte Verfassungsziel der Begrenzung staatlicher Macht zugunsten bürgerlicher Freiheit auch unter den Bedingungen der Parteiendemokratie aufrechterhalten werden soll, den machtbegrenzenden Wirkungen im Parteiensystem selbst verstärkte Aufmerksamkeit schenken. Dabei geht es gewissermaßen um eine Umkehr der von Leibholz in die Staatsrechtslehre eingeführten Tendenz, doch ohne den Parteienargwohn, der die

4. Abschnitt. Politische Parteien (GRIMM)

371

Einstellung mancher konservativer Staatsrechtslehrer prägte 1 6 1 . Als Leibholz in der Weimarer Republik seine Parteienstaatstheorie entwickelte, die der Ausbreitung der Parteien im Staat die Rechtfertigung lieferte, besaß sie eine befreiende Wirkung. Die Parteien wurden, nachdem sie zum bestimmenden Faktor des Verfassungslebens geworden waren, ohne doch in der Verfassung vorzukommen, auch zum legitimen Thema der Staatsrechtslehre, die damit ihren Bezug zur politischen Wirklichkeit wiederherstellte. Inzwischen bietet sich aber eine veränderte Situation dar. Mit der verfassungsrechtlichen Legitimation des Art. 21 G G im Rücken und nicht immer ohne die Hilfe des anfangs stark von Leibholz beeinflußten Bundesverfassungsgerichts hat die Bundesrepublik eine ständig wachsende Expansion und Etatisierung der Parteien erlebt. Sie beanspruchen heute ein Repräsentationsmonopol für die Gesellschaft in allen politischen Fragen und benutzen die staatliche Macht zu seiner Absicherung, drohen darüber jedoch, je perfekter sie es ausdehnen, ihre innere Repräsentativität für die Bedürfnisse und Anliegen der Bevölkerung zu verlieren. In ihrem Wettstreit um Wählerstimmen entwickeln sie sich zu „zentralen Dienstleistungsbetrieben", und fungieren als „Anbieter eines breiten und differenzierten Dienstleistungsangebots", wie sie im jüngsten Parteienfinanzierungsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht selbst verräterisch formulierten 1 6 2 . Sie wecken dadurch Erwartungen, die großenteils nicht erfüllbar sind, und gewinnen eine Allgegenwärtigkeit, die zum Parteien Verdruß Anlaß gibt und die Bürger häufig auf alternative Wege des politischen Engagements treibt 1 6 3 . Insofern die verfassungsrechtlichen Zielvorgaben unter den jeweiligen Bedingungen optimal realisiert werden müssen, ist daher im Interesse des verfassungsrechtlichen Offenheitspostulats heute eher Gegensteuerung als Tendenzverstärkung nötig. Das Verfassungsrecht hat dabei freilich nur auf die Randbedingungen Einfluß. Zum einen bietet sich die Stärkung der Kontrollkräfte innerhalb des Parteiensystems selbst durch Abbau konkurrenzhemmender Privilegien für etablierte Parteien an. Dem steht freilich die Sorge entgegen, daß sich dann das Parteienspektrum ausweiten und die Stabilität des Bundesrepublik erschüttern könnte. In der Tat läßt sich bezweifeln, daß die verbreitete Volksparteikritik und die empfohlene Rückkehr zu Interessen- oder Weltanschauungsparteien sinnvoll ist, zumal sich die Thesen vom deutschen Parteiensystem als „pluraler Fassung der Einheitspartei" oder von der „Opposition ohne Alternative" als kurzlebig erwiesen haben 1 6 4 . Indessen steht

Paradigmatisch W. WEBER Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970. 1 6 2 B V e r f G E 52, 63 (68). 163 Vgl dazu aus der wachsenden Literatur nur SCHEER Parteien kontra Bürger (Fn. 83) und RASCHKE Bürger und Parteien (Fn. 26) bes. S. lOff („Überanpassung, Obergeneralisierung, Überinstitutionalisierung, Uberforder u n g " ) ; nicht einschlägig dagegen trotz des 16t

Titels

164

J.

DITTBERNER/R.

EBBIGHAUSEN

(Hrsg.) Parteiensystem in der Legitimationskrise, 1973. J . AGNOLI Die Transformation der D e m o kratie, 1968, S. 40; M. FRIEDRICH O p p o s i tion ohne Alternative, 1962, als Beispiel für weitere. Zur Kritik der Volkspartei vgl. R o WOLD Im Schatten der Macht (Fn. 59) S. 52 ff; H .

W.

SCHMOLLINGER/R.

STÖSS

So-

zialstruktur und Parteiensystem, in: Staritz

372

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

verfassungsrechtlich gar nicht die Gestalt des Parteisystems, sondern nur seine Innovationsfähigkeit zur Debatte. Wildemann hat dazu bemerkt, daß die Erneuerung auf zwei Wegen erfolgen könne: „erstens durch eine Reform bestehender Parteien, zweitens durch Parteineugründungen. Das erstere wird in der Regel um so eher der Fall sein, je weniger das zweite behindert ist" 1 6 5 . Zum anderen müßten die Eintrittsschwellen für die Parteien in allen nicht genuin parteipolitischen Bereichen institutionell so hoch wie möglich liegen. Das gilt insbesondere für alle staatlichen und gesellschaftlichen Kontrollinstanzen von Politik. Da auf den parteipolitisch beherrschten Gesetzgeber dabei wenig Verlaß ist, kann der Anstoß nur von der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und dem Bundesverfassungsgericht kommen.

(Hrsg.) Das Parteiensystem der Bundesrepublik, 1977, S. 26; W. D . NARR (Hrsg.) Auf dem Weg zum Einparteienstaat, 1977 (darin vor allem H. KASTE/J. RASCHKE Zur Politik der Volkspartei, S. 26); OFFE Konkurrenzpartei (Fn. 83), und als Ahnvater KIRCH-

165

HEIMER PVS 6, 20; aus anderer Richtung aber auch HENNIS Regierbarkeit (Fn. 26). Kritisch dazu HAUNGS Parteiendemokratie (Fn. 13) S. 63; v. BEYME Parteien (Fn. 1) S. 415. WILDENMANN Gutachten (Fn. 91) S. 59.

5. Abschnitt

Verbände DIETER GRIMM

I. Verbände als Verfassungsproblem 1. Die Bedeutung der Verbände im demokratischen System Das Grundgesetz läßt die Verbände unerwähnt. Verfassungsrechtlich sind sie ein nicht gesondert geregelter Unterfall der Vereinigungen und Gesellschaften des Art. 9 G G . Als solche genießen sie Grundrechtsschutz gegenüber dem Staat. Für die Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, wie das Grundgesetz die Tarifpartner umschreibt, wird der Grundrechtsschutz in Art. 9 Abs. 3 G G nochmals ausdrücklich bekräftigt und mit Drittwirkung versehen. Zwar verweist der Grundrechtsstatus die Vereinigungen nicht von vornherein in den Bereich des Unpolitischen. Das machen die Verbotsgründe in Art. 9 Abs. 2 G G deutlich. Das Grundgesetz behandelt sie aber als vom Staat distanzierte, rein gesellschaftliche Gebilde und räumt ihnen im Unterschied zu den politischen Parteien keinen Anteil an der politischen Willensbildung ein. Infolgedessen fehlen auch verfassungsrechtliche Anforderungen an ihre innere Ordnung, wie sie Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G den Parteien auferlegt. Da es die Vereinigungen als Bestandteil der Gesellschaft betrachtet, kümmert sich das Grundgesetz um ihre Freiheit vom Staat, nicht um ihre Einordnung in den Staat. Das Vereinsrecht des B G B , das den Freiheitsstatus ausgestaltet, tut dies unter großzügiger Wahrung der Privatautonomie. Es unterstellt die Außenbeziehungen der Vereinigungen gar keinen besonderen Regeln und überläßt ihre Binnenstruktur weitgehend der eigenen Entscheidung. Der Freiheitsschutz des Vereinsmitglieds gegenüber der Gruppe liegt in seinem Austrittsrecht, das ebenfalls von der Garantie des Art. 9 G G umfaßt wird und die Ausübung von Privatmacht ohne Einwilligung der Betroffenen verhindert. Empirisch betrachtet, besteht die Besonderheit der Verbände freilich gerade darin, daß sie sich nicht auf einen gesellschaftlichen Wirkungskreis beschränken. Zum Organisationszweck gehört vielmehr ausdrücklich die Einflußnahme auf staatliche Entscheidungsträger einschließlich der politischen Parteien zugunsten der Verbandsmitglieder. In dieser Eigenschaft sind die Verbände aber Bestandteil des politischen Systems, das mit dem Staat nicht mehr identisch ist, sondern ihn umfaßt, und fungieren nächst den Parteien als wichtigste Vermittlungsinstanz zwischen Volk und Staat. Von dem Modell des privaten Vereins, an dem sich die Regelungen des B G B

374

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

orientierten, haben sie sich auf diese Weise längst entfernt 1 . Konnte das Vereinsrecht des BGB sich noch ganz auf das Regulativ der Privatautonomie verlassen, weil die Vereine nur private Zwecke verfolgten und nicht über den Kreis ihrer Mitglieder hinauswirkten, denen es im übrigen freistand, den Verein bei mangelndem Einverständnis zu verlassen, so fehlen bei den Verbänden gerade diese Voraussetzungen. Als Großorganisationen mit einem Bündel von Zwecken und bürokratischer Verwaltung treten sie einerseits ihren Mitgliedern als selbständige Macht entgegen, mit der eine Identifikation nicht durchweg möglich ist, ohne daß stets das Korrektiv des Verbandswechsels oder der Verbandsneugründung eingriffe. Andererseits stehen sie mit Verfügungsmacht über politisch knappe Güter wie Information und Konsens dem Staat gegenüber und können ihn bei Entscheidungen, die die Verbandszwecke berühren, unter Druck setzen. Unter diesen Umständen wird aber sowohl das Innenverhältnis zwischen Verbänden und Mitgliedern als auch das Außenverhältnis zum Staat zum Problem, auf das das BGB keine Antwort gibt. Die Staatsrechtslehre sah von den beiden Problemen anfangs nur das letztere. Die Verbände erschienen ihr als Gefahr für die Entscheidungsfreiheit des Staates und damit seine Fähigkeit, einen gerechten Interessenausgleich herbeizuführen 2 . Eschenburgs „Herrschaft der Verbände" lieferte dafür eine Fülle empirischer Belege 3 . Bezugspunkt der Staatsrechtslehre war die innere Souveränität des Staates als Voraussetzung seiner Widerstandskraft gegen die Pressionen partikularer Interessen. Das Mittel zur Souveränitätswahrung erblickte sie in der Unterbindung des Verbandseinflusses auf staatliche Entscheidungen und der Beschränkung der Verbände auf Servicefunktionen für ihre Mitglieder. Als Vermittler zwischen Volk und Staat blieben dann nur die Parteien übrig, die Kaiser ausdrücklich der Staatsseite zuschlug 4 , während die Verbände dadurch den sonstigen Vereinigungen wieder angenähert, Norm und Wirklichkeit zur Deckung gebracht worden wären. In dieser Zielsetzung kommen in abgeschwächter Form Elemente des grundsätzlichen Antipluralismus Carl Schmitts wieder zum Vorschein, für den die Entpolitisierung der Gesellschaft Bedingung der politischen Machtentfaltung des Staates in seinen Außenbeziehungen war 5 . Gesellschaftlicher Pluralismus und souveräne Staatlichkeit stehen danach in einem Ausschließungsverhältnis: die Entwicklung des einen geht notwendig auf Kosten des anderen. Das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit schützt daher auch nur private, nicht politische Vereinigungen. Intermediäre Gruppen, Parteien nicht ausgenommen, sind die Feinde des Staates. 1

2

Dazu besonders eindrücklich G . TEUBNER Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, 1978, S. 6. Vgl. etwa W . WEBER Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. A u f l . 1970, insbes. S. 36 und 243; E. FORSTHOFF Der Staat der Industriegesellschaft, 1 9 7 1 , S. 1 7 , 2 5 , 1 1 9 ; a u c h J . H . KAISER D i e

Repräsentation organisierter Interessen, 1 9 5 6 ; H. HUBER Staat und Verbände, 1958. Dazu R. STEINBERG Staatslehre und Interes-

3

senverbände, Diss. jur. Freiburg 1 9 7 1 ; DERS. Pluralismus und öffentliches Interesse als Problem der amerikanischen und deutschen Verbandslehre, in: A ö R 96 (1971) 465. T. ESCHENBURG Herrschaft der Verbände? 1955.

4

KAISER R e p r ä s e n t a t i o n ( F n . 2 ) S . 2 3 8 .

5

C . SCHMITT Der Begriff des Politischen, 1933; DERS. Der Hüter der Verfassung, 1 9 3 1 ; DERS . Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. A u f l . 1926.

375

5. Abschnitt. Verbände (GRIMM)

Indessen findet diese Form des Antipluralismus im Grundgesetz keine Stütze. Das Grundgesetz geht vielmehr von der tatsächlich anzutreffenden Meinungs- und Interessenvielfalt in der Gesellschaft aus und erkennt sie als legitim an. Staatliche Einheitsbildung kann unter diesen Umständen nicht die Durchsetzung eines oberhalb der gesellschaftlichen Pluralität angesiedelten Gemeinwohls sein, sondern muß sich prozeßhaft aus dieser Pluralität ergeben. Der politische Prozeß ist deswegen selbst durch die nicht allein privatistisch zu verstehenden Grundrechte und die Garantie des Mehrparteiensystems pluralistisch ausgestaltet. Ohne die Vorstrukturierung durch Gruppen könnte er in der Demokratie nicht sinnvoll ablaufen. Den Grundrechten eignet daher neben ihrem individuellen auch ein meist vernachlässigtes korporatives Element, und Verbände erscheinen geradezu als „Konsequenz, ja Bedingung grundrechtlicher Freiheit in der Verfassung des Pluralismus" 6 . Als Institutionen zur Zusammenfassung und Artikulation gleichartiger Interessen bilden sie ein wichtiges Zwischenglied im Prozeß der Umsetzung gesellschaftlicher Vielfalt in staatliche Einheit. Den politischen Parteien, die in diesem Prozeß den Vorausgleich divergierender Interessen und Bedürfnisse, ihre Umformung in politische Handlungsprogramme und Einleitung in die Staatswillensbildung übernehmen, ermöglichen sie dadurch erst die Erfüllung ihrer Funktion. Insofern sind sie ein wesentlicher, auch in ihrer Einflußnahme auf die staatlichen Entscheidungsträger legitimer Bestandteil des politischen Systems. Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes muß von vornherein nicht nur mit Art. 21 G G , sondern auch mit Art. 9 G G zusammengesehen werden 7 . Ist das Gemeinwohl keine im Besitz des Staates befindliche Konstante, sondern eine aus dem Prozeß der Meinungs- und Willensbildung sich erst ergebende Variable, dann leisten die Verbände aber auch aus der Sicht des Staates zur Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen unter dem Anspruch eines gerechten Interessenausgleichs wichtige Dienste. Vor allem verschaffen sie ihm Informationen über gesellschaftliche Interessen und Auswirkungen staatlicher Maßnahmen, die der Staatsapparat aus eigenem Wissen nicht zuverlässig beurteilen kann. Diese Funktion ist mit der Entwicklung der Parteien von Interessen- und Weltanschauungsparteien zu Volksparteien sogar gewachsen. Nachdem die Parteien die verschiedenen Interessen bereits in sich ausgleichen und auf diese Weise nur noch die Artikulation hochgeneralisierter politischer Präferenzen ermöglichen, werden zusätzliche Kommunikationswege für die Verfolgung spezieller Interessen desto nötiger. Umgekehrt besitzen die Verbände wiederum die Fähigkeit, staatlichen Maßnahmen bei ihren Mitgliedern die erforderliche Akzeptanz zu verschaffen, wenn deren Interessen in die Entscheidung eingegangen sind. Verschiedentlich wird angenommen, daß die Instrumentalisierung der Verbände durch den Staat ihren Einfluß auf ihn inzwischen bereits

6

P. HÄBERLE Verbände als Gegenstand d e m o -

senverbände in der

kratischer

145

in: N J W 1 9 5 6 , 1 2 1 7 , und U . SCHEUNER D e r

Verfassungslehre,

in:

ZHR

Verfassungswirklichkeit

( 1 9 8 1 ) 4 8 4 f . E i n e positive staatsrechtliche B e -

Staat und die Verbände, 1 9 5 7 ; DERS. Politi-

wertung der Verbände früher schon bei H .

sche

KRÜGER

tung, in: D ö V 1 9 6 5 , 5 7 7 .

Allgemeine

Staatslehre,

2.

Aufl.

1 9 6 6 , S. 3 7 9 ; DERS. D i e Stellung der Interes-

7

Repräsentation

und

Interessenvertre-

Vgl. HÄBERLE Z H R 1 4 5 , 4 9 4 .

376

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

übertreffe 8 . Jedenfalls entspricht die eindimensionale Sicht, die die Verbände allein in der determinierenden und den Staat allein in der determinierten Rolle sah, unter diesen Umständen der politischen Realität nicht. Auch eine Reihe sozialwissenschaftlicher Fallstudien über den Verbandseinfluß auf staatliche Entscheidungen konnte die von der Staatsrechtslehre befürchtete Abhängigkeit des Staates nicht durchweg bestätigen, sondern ergab im Gegenteil eine beträchtliche Autonomie seiner Organe und eine fortbestehende Wirksamkeit der verfassungsrechtlich vorgegebenen Entscheidungsstrukturen 9 . Indessen ist das Problem des Verbandseinflusses auf den Staat mit dieser Klarstellung zunächst nur von historischen Vorurteilen befreit, aber noch keineswegs gelöst. Das war der Irrtum der politikwissenschaftlichen Pluralismustheorie, die in den sechziger Jahren, die These der Staatsrechtslehre gewissermaßen umkehrend, davon ausging, daß sich aus dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte der gerechte Interessenausgleich von selbst ergäbe und der Staat nur noch als Durchsetzungsinstanz des in gesellschaftlicher Autonomie ermittelten Gemeinwohls benötigt würde 10 . Die Voraussetzungen dieses ins Kollektive gewendeten Liberalismus haben sich freilich ebensowenig als gegeben erwiesen wie zuvor die Annahmen, unter denen der individualistische Liberalismus des 19. Jahrhunderts seine Verheißungen hätte erfüllen können. Im wesentlichen sind es drei Einwände, die diese Erwartungen zerstören 11 . Die widerstreitenden organisierten Interessen besitzen nicht notwendig, wie die Pluralismustheorie unterstellt hatte, die gleiche Stärke. Vielmehr können erhebliche Asymmetrien auftreten. Im Maße dieser Asymmetrien verfehlt das freie Spiel der Kräfte aber den gerechten Interessenausgleich und bringt stattdessen die Vorherrschaft eines Interesses hervor. Ferner besitzen nicht alle partikularen Interessen dasselbe Maß an Organisations- und Konfliktfähigkeit. Gerade einige besonders benachteiligte Interessen sind kaum organisationsfähig oder mangels Verfügung über ein politisch knappes Gut nicht konfliktfähig und können sich daher in dem Kräftepa-

8

9

So etwa G. LEHMBRUCH Liberal Corporatism and Party Government, in: Comparative Political Studies 10 (1977) 9 1 ; DERS. Wandlungen der Interessenpolitik im liberalen K o r p o ratismus, in: v. Alemann/Heinze (Hrsg.) Verbände und Staat, 1979, S. 5 1 . Zur Differenzierung zwischen Wahl und Interessenvertretung vgl. N. LUHMANN Komplexität und Demokratie, in: DERS. Politische Planung, 2. A u f l . 1975, S. 4 0 f ; DERS. Grundrechte als Institution, 2. A u f l . 1974, bes. S. 1 4 9 f f . Vgl. etwa K . - H . DIEKERSHOFF Der Einfluß der Beamtenorganisationen auf die Gestaltung des Personalvertretungsgesetzes, 1960; V . G R Ä F I N V. B E T H U S Y - H U C D e m o k r a t i e u n d

Interessenpolitik, 1962; H. J . VARAIN Parteien u n d V e r b ä n d e ,

1 9 6 4 ; O . STAMMER u . a .

Verbände und Gesetzgebung, 1965; F. NASCHOLD Kassenärzte und Krankenversiche-

rungsreform,

10

11

1967;

P.

ACKERMANN

Der

Deutsche Bauernverband im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik, 1 9 7 0 ; W . SIMON Macht und Herrschaft der Unternehmerverbände, 1976. Vgl. vor allem E. FRAENKEL Deutschland und die westlichen Demokratien, 1964, 5. A u f l . 1973. Dazu W . STEFFANI V o m Pluralismus zum Neopluralismus, in: DERS. Pluralistische Demokratie, 1980, S. 40. Grundlegend in Anknüpfung an amerikanische Forschungen W . D. NARR/F. NASCHOLD Theorie der Demokratie, 1971, S. 204; C . OFFE Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: Kress/Senghaas (Hrsg.) Politikwissenschaft, Taschenbuch-Ausgabe 1972, S. 145. Vgl. auch R. EISFELD Pluralismus zwischen Liberalismus und Sozialismus, 1972.

5. Abschnitt. Verbände (GRIMM)

377

rallelogramm auch nicht entsprechend zur Geltung bringen. Schließlich lassen sich die nicht auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen begrenzten, sondern der Allgemeinheit zuzuordnenden Interessen wie etwa gesunde Lebensverhältnisse oder stabiler Geldwert gar nicht verbandlich organisieren und fallen deswegen aus einem rein verbandlich gedachten politischen Prozeß ebenfalls heraus. 2. Die Entwertung der Verfassung im Korporatismus Das Thema der staatlichen Autonomie gegenüber den organisierten Interessen bleibt also auf der Tagesordnung, ohne daß es doch im Wege der Reprivatisierung der Verbände gelöst werden könnte, den die konservative Staatsrechtslehre beschreiten wollte. Tatsächlich ist die Entwicklung sogar in die entgegengesetzte Richtung gegangen und stellt die Staatsrechtslehre heute vor eine ganz neue Ausgangslage. Diese Entwicklung hängt mit der Ausweitung der Staatsaufgaben seit den sechziger Jahren und der damit einhergehenden Veränderung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft zusammen. Diese Veränderung ist häufig beschrieben worden und bedarf daher hier keiner ausführlichen Analyse 12 . Im Kern besteht sie darin, daß der Staat sich angesichts der wachsenden Verflechtung und wachsenden Störungsanfälligkeit der Wirtschaft nicht mehr darauf beschränkt, in das Wirtschaftssystem zu intervenieren, um dem Mißbrauch wirtschaftlicher Macht zu begegnen, soziale Notlagen aufzufangen und bei eingetretenen Engpässen oder Schwierigkeiten einzuspringen. Vielmehr hat er seit der Wirtschaftskrise von 1967/68 die Gesamtverantwortung für wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Sicherheit übernommen. Von der Erfüllung dieser Aufgaben hängt zu einem erheblichen Teil seine Legitimität ab. Schlechterfüllung wird politisch sanktioniert. Insofern besitzt er in diesem Punkt keine Wahl mehr. Wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Sicherheit sind Staatsaufgaben, und da sie nur unter den Bedingungen kontinuierlichen Wirschaftswachstums relativ konfliktfrei zu lösen sind, glaubt sich der Staat auf Wirtschaftswachstum angewiesen. Es wird zur Richtschnur der Politik. Allerdings ist die Aufgabenerweiterung nicht mit einer Vergrößerung der staatlichen Machtmittel einhergegangen. Der Staat hat zwar sein Instrumentarium durch die Planung erweitert, aber keine umfassende Dispositionsbefugnis über die Wirtschaft erhalten. Diese befindet sich aufgrund der Eigentums-, Berufs- und Koalitionsfreiheit vielmehr weiterhin in privater Verfügung. Für den Staat hat das zur Folge, daß er zur Erfüllung der erweiterten Staatsaufgaben nicht oder nur in begrenztem Umfang auf die typisch staatlichen Mittel von Befehl und Zwang zurückgreifen kann und seine Ziele stattdessen mit indirekt wirkenden Mitteln, insbesondere also durch Überredung, Anreiz oder Nachteilsandrohung erzielen muß. Insofern ist die Erfüllung der Staatsaufgaben nicht mehr allein von der Entschlossenheit des Staates und dem Einsatz seiner Machtmittel, sondern überdies von der Folgebereitschaft der weiterhin

12

Zusammenfassend D. GRIMM, Die Gegenwartsprobleme der Verfassungspolitik und der Beitrag der Politikwissenschaft, in: Berm-

bach (Hrsg.) Politische Wissenschaft und politische Praxis, PVS-Sonderheft 9 (1978), S. 275 m. w. N . dort Anm. 6 und 8.

378

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

autonomen Wirtschaftssubjekte abhängig. Diese geraten dadurch gegenüber dem Staat in eine Verhandlungsposition, die es ihnen ermöglicht, ihre Folgebereitschaft von staatlichen Gegenleistungen abhängig zu machen. Der Konsensbedarf für die staatliche Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik steigt also ebensowohl, wie er schwieriger zu decken ist. Der Staat hat auf die gewachsene Bedeutung der wirtschaftlichen Entscheidungsträger durch eine Vervielfachung der informellen Kontakte mit den Verbänden sowie die Institutionalisierung von Kooperation mit bestimmten privilegierten Verbänden in zahlreichen Gremien reagiert 1 3 , die zwar bisher in Deutschland keine formellen Beschlußrechte besitzen, aber durch ihre Verweigerungsposition doch bestimmenden Einfluß auf politische Entscheidungen nehmen können. Das Verhältnis von Staat und Verbänden läßt sich nach diesem Wandel mit Einflußkategorien, die sowohl der staatsrechtlichen Pluralismuskritik als auch den politikwissenschaftlichen Pluralismustheorien noch zugrundelagen, nicht mehr angemessen beschreiben 1 4 . Einfluß sozialer Machtgruppen ist ein Phänomen, dem sich in unterschiedlichem Ausmaß jeder Staat gegenübersieht. Der Staat behält aber die Alleinentscheidung, und es ist eine Frage seiner Entschlossenheit und seines generellen Rückhalts in der Bevölkerung, ob er sich gegen solche Einflüsse zu behaupten vermag oder nicht. Im Bereich der Wirtschaftslenkung ist der Staat dagegen bei der Erfüllung einer Staatsaufgabe unmittelbar von der — ihrerseits verfassungsrechtlich abgesicherten — Kooperation nichtstaatlicher Instanzen abhängig. Diese geraten dadurch in eine eigentümliche, die Differenz von Staat und Gesellschaft überbrückende Position. Darin ähneln sie den Parteien, unterscheiden sich von diesen aber, weil ihnen mangels Legitimation durch die Wähler die Staatsorgane nicht offenstehen und ihr Mitwirkungsbereich sektoral begrenzt ist. Bei formeller Betrachtung bleiben sie dem Staat daher äußerlich, materiell rücken sie aber in die staatliche Entscheidungssphäre ein. Ein Vergleich mit der verwaltungsrechtlichen Figur des beliehenen Unternehmers, wie er gelegentlich zur Einordnung des Phänomens vorkommt, wird der Tragweite des Wandels nicht gerecht. Wo der Beliehene eine punktuelle Verwaltungsaufgabe aufgrund gesetzlicher Programme und unter staatlicher Aufsicht erfüllt, nehmen die wirtschaftlichen Entscheidungsträger an der programmierenden Tätigkeit der Zielfindung und Mittelauswahl teil, und zwar in einem Entscheidungsbereich, dessen Politikgehalt außerordentlich hoch ist. Einen solchen, den bloßen Einfluß übersteigenden Anteil an staatsleitenden Funktionen erhalten freilich nicht alle Verbände und andererseits nicht nur Verbände. Von einem Anteil an der Staatsleitung kann vielmehr nur dort die Rede sein, wo es sich um privat getroffene Entscheidungen von gesamtgesellschaftlicher Auswirkung handelt, die vom Staat hinzunehmen sind und zur Determinante seiner Wirtschaftspolitik werden. Unter den Verbänden besitzen eine solche Position lediglich die

13

Vgl. etwa die Auflistung der den Gewerkschaften gesetzlich zugewiesenen Tätigkeiten bei K . - H . GIESSEN Die Gewerkschaften im Prozeß der Volks- und Staatswillensbildung, 1976, S. 20 ff.

14

Zum Folgenden grundlegend E . - W . BÖCKENFÖRDE Die politische Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände und Interessenträger in der sozialstaatlichen Demokratie, in: Der Staat 15 (1976) 457.

5. Abschnitt. Verbände (GRIMM)

379

Tarifpartner, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Andererseits zählen dazu aber auch die Großinvestoren, Großbanken etc. 1 5 , die zwar ebenfalls verbandlich organisiert sind, im Unterschied zu den Tarifpartnern ihre wirtschaftspolitischen Entscheidungen aber nicht ihren Verbänden überlassen, wiewohl es der Verband sein mag, der den Kontakt mit den staatlichen Organen pflegt, Forderungen an sie richtet und Sanktionen androht, während die für den Staat relevanten Strukturdaten weiter von den einzelnen Wirtschaftssubjekten selbst gesetzt werden. Das von Art. 9 G G pauschal erfaßte Vereinigungswesen teilt sich auf diese Weise nach der Differenzierung zwischen privaten Vereinen und Verbänden mit Öffentlichkeitsfunktionen abermals, indem auf der Verbandsebene Gruppen existieren, die zur Verfolgung ihrer Interessen den gewöhnlichen Weg der Einflußnahme gehen müssen, wogegen andere in der Lage sind, auf die Erfüllung von Staatsaufgaben unmittelbar einzuwirken und dadurch, ohne eine staatsorganschaftliche Stellung zu bekleiden, ihre Interessen unvermittelt im staatlichen Entscheidungsprozeß zur Geltung bringen können. In der Politikwissenschaft hat sich zur Charakterisierung dieses Systems der Begriff des Neokorporatismus durchgesetzt 1 6 . Korporatismus bedeutet dabei, daß eine bestimmte Anzahl von Verbänden, die in der Regel konkurrenzlos sind, aus der gesellschaftlichen Sphäre herausgehoben wird und mit den Staatsorganen eine Symbiose eingeht, so daß politische Entscheidungen insoweit nur gemeinsam möglich sind und als das Werk beider erscheinen. Der wesentliche Unterschied zu älteren korporatistischen Systemen oder zum Korporatismus autoritärer oder faschistischer Staaten besteht darin, daß es sich bei den in den staatlichen Entscheidungsprozeß einbezogenen Korporationen nicht um Zwangsverbände, deren Mitgliedschaft durch Status vorbestimmt ist, sondern um frei gebildete gesellschaftliche Gruppen ohne Zwangsmitgliedschaft handelt. Verfaßte Staatsorgane und freie gesellschaftliche G e bilde sind in diesem Bereich zwar noch als Handlungssubjekte unterscheidbar. Ihre Entscheidungen lassen sich aber nicht mehr eindeutig dem einen oder anderen Subjekt zuordnen, sondern erscheinen als Produkt von Aushandlungsprozessen, bei dem Anteile und Verantwortlichkeiten nicht mehr klar unterscheidbar sind. Insofern kann man bei diesen Verbänden ohne Vorbehalt von einem öffentlichen Status sprechen, der ihnen weder durch politische Entscheidung noch dogmatischen Übereifer zugeteilt, sondern durch strukturelle Veränderungen des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft zugewachsen ist. Ohne Berücksichtigung dieses Strukturwandels erscheint eine fundamentale Kritik daran, wie erwägenswert sie im einzelnen auch immer sein mag, unverbindlich 1 7 . Vgl. BÖCKENFÖRDE D e r Staat 15, 4 6 4 .

1 9 7 9 ; C . OFFE T h e attribution of public sta-

Grundlegend P . C . SCHMITTER Still the C e n -

tus to interest groups: observations o n the

t u r y of C o r p o r a t i s m ? in: Review of Politics

W e s t G e r m a n case, in: Berger ( H r s g . ) O r g a -

36 ( 1 9 7 4 ) 8 5 ; DERS. M o d e s of Interest Inter-

nizing interests in W e s t e r n E u r o p e , 1 9 8 1 , S.

mediation and Models o f Social C h a n g e in

1 2 3 ; U . v. ALEMANN ( H r s g . ) N e o k o r p o r a t i s -

Western E u r o p e , in: C o m p a r a t i v e Political

mus, 1 9 8 1 ; R . G . HEINZE Verbändepolitik

Studies 10 ( 1 9 7 7 ) 7, und ö f t e r ; in Deutschland v o r allem LEHMBRUCH ( F n . 8 ) ; U . v. ALE-

und N e o k o r p o r a t i s m u s , 1 9 8 1 . 17

Dies gegen H . H . RUPP D i e „ ö f f e n t l i c h e n "

MANN/R. G . HEINZE ( H r s g . ) Verbände und

Funktionen der Verbände und die d e m o k r a -

Staat. V o m Pluralismus z u m K o r p o r a t i s m u s ,

tisch-repräsentative Verfassungsordnung, in:

380

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Für die Verfassung haben diese Veränderungen zwei miteinander verbundene Folgen 1 8 . Zum einen gibt es nun Teilhaber an staatlichen Entscheidungen, die nicht in den Legitimations- und Verantwortungszusammenhang einbezogen sind, dem die Verfassung die staatlichen Entscheidungsträger unterwirft. Weder sind sie aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen oder wenigstens auf solche rückführbar, noch müssen sie sich einem Wählerurteil über ihre Leistungen stellen oder vor den Kontrollgremien der organisierten Staatsorgane zur Rechenschaft ziehen lassen. Die Verfassung erfaßt also ihrem Anspruch zum Trotz politische Herrschaft nur noch fragmentarisch. Es gibt parakonstitutionelle Entscheidungsträger. Zum anderen werden die bestehenden Entscheidungsorgane und -verfahren, wenn schon nicht außer Kraft gesetzt, so doch zumindest entwertet. Das gilt insbesondere für den Parteienwettbewerb und den Parlamentarismus als die entscheidenden Mechanismen zur Rückbindung der staatlichen Entscheidungsträger an das Volk. Parteien und Parlamente werden zwar nicht aus ihrer Entscheidungsfunktion verdrängt, müssen sich aber, soweit die korporatistische Verflechtung ausgreift, mitentscheidende Instanzen gesellschaftlicher Provenienz gefallen lassen und geraten dadurch in die Rolle eines Entscheidungspartners unter anderen. Die Staatsmacht ist partiell vergesellschaftet. Im selben Maß verliert die Verfassung an rationalisierender Kraft für den politischen Prozeß und nimmt den Charakter einer Teilordnung an, die die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen nach Kompetenz und Verfahren nicht mehr abschließend regelt. Die Verbände werden auf diese Weise neben weiteren, zum Teil aus derselben Quelle gespeisten Erscheinungen 19 zu einem Testfall für die Überlebenskraft des Verfassungsstaats.

II. Die Konstitutionalisierung der Verbände 1. Möglichkeiten und Grenzen einer Konstitutionalisierung Von befriedigenden Lösungen dieses neuartigen Problems ist die Staatsrechtslehre derzeit noch weit entfernt. Die klarsten Auswege: zurück zur Trennung von Staat und Wirtschaft oder vorwärts zur Verstaatlichung der Wirtschaft oder zumindest wichtiger wirtschaftlicher Funktionen wie der Lohn-, Preis- und Investitionskontrolle, sind versperrt, zum Teil aus verfassungsrechtlichen, erst recht aus politischen Gründen. Die Legitimationsprobleme würden unüberwindlich. Im ersten Fall entzöge sich der Staat einer allseits von ihm erwarteten, legitimitätsbegründenden Aufgabe. Im zweiten bürdete er sich eine Aufgabe auf, deren Konsensbedarf so hoch ist, daß er unter den Bedingungen eines freiheitlichen Systems womöglich nicht mehr zu decken wäre. Da die Staatsaufgaben auf diese Weise, nicht im Detail, aber im Ganzen, strukturell festliegen und damit als Ansatzpunkt für eine Lösung des Problems

18

Schneider/Watrin (Hrsg.) Macht und ökonomisches Gesetz, 1974, S. 1251. Dazu vor allem BÖCKENFÖRDE Der Staat 15, 457.

19

Dazu D. GRIMM Die Gegenwartsprobleme der Verfassungspolitik (Fn. 12).

5. Abschnitt. Verbände (GRIMM)

381

ausfallen, konzentrieren sich die Bemühungen der Staatsrechtslehre auf die Verbände. Allerdings hat sich die Zielrichtung gegenüber früher grundlegend geändert. Je deutlicher zutage tritt, daß der Verbandseinfluß auf die Politik eher ausgeweitet als zurückgedrängt wird, desto mehr rückt sozusagen kompensatorisch die Binnenstruktur der Verbände in den Mittelpunkt des Interesses. Es gibt wenig Beispiele für einen vergleichbaren Literaturboom binnen kürzester Zeit, an dem neben dem öffentlichen Recht auch das Privat-, das Wirtschafts- und das Arbeitsrecht beteiligt sind 20 . Die Beschäftigung mit der inneren Ordnung der Verbände darf freilich nicht als Abkehr von ihrem Verhältnis zum Staat verstanden werden. Da die Außenbeziehungen der Verbände kurzfristig nicht änderbar erscheinen, sollen sie im Gegenteil eine ihrer politischen Funktion im demokratischen Staat angemessene Binnenstruktur erhalten. Die Literatur bietet dabei eine erstaunlich große Übereinstimmung im Ziel, aber starke Divergenzen in den Einzelheiten. Fast ausnahmslos wird an die öffentliche Funktion der Verbände das Erfordernis einer demokratischen Binnenstruktur geknüpft. Diese erscheint ähnlich wie zuvor bei den Parteien als der Preis für die Mitwirkung an der politischen Willensbildung. Freilich fehlt es für die Verbände an einer dem Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG entsprechenden Norm. Verfassungsrechtlich stehen sie auf der grundrechtlich geschützten gesellschaftlichen Seite, die sich gerade durch Selbstbestimmung auszeichnet. Ein innerverbandliches Demokratiegebot bedarf daher einer verfassungsrechtlichen Legitimation, die nicht schon in dem öffentlichen Status selbst liegt, wie vielfach kurzschlüssig angenommen wird. Welche Norm als Grundlage dafür in Betracht kommt, ist stark umstritten. Dasselbe gilt für die 20

U n t e r Beschränkung auf Buchpublikationen w e r d e n genannt 1 9 7 4 : H. FÖHR Willensbildung in den G e w e r k s c h a f t e n und G r u n d g e setz; F. MÜLLER-THOMA D e r halbstaatliche Verein. 1 9 7 5 : K . POPP ö f f e n t l i c h e A u f g a b e n der G e w e r k s c h a f t e n und innerverbandliche Willensbildung. 1 9 7 6 : K . - H . GIESSEN Die Gewerkschaften im Prozeß der V o l k s - und Staatswillensbildung; H . LESSMANN Die ö f fentlichen A u f g a b e n und Funktionen privatrechtlicher Wirtschaftsverbände; K. M. MEESSEN Erlaß eines Verbändegesetzes als rechtspolitische A u f g a b e ? K . SCHELTER D e mokratisierung der Verbände? H. J . SCHRÖDER Gesetzgebung und Verbände; M . STINDT Verfassungsgebot und Wirklichkeit d e m o k r a tischer Organisation der Gewerkschaften. 1 9 7 7 : H. H . v. ARNIM G e m e i n w o h l und Gruppeninteressen; M . GERHARDT Das K o a litionsgesetz; H . F. ZACHER Staat und G e werkschaften. 1 9 7 8 : W . KIRBERGER Staatsentlastung durch private Verbände bei der Erfüllung öffentlicher A u f g a b e n ; J . KNEBEL Koalitionsfreiheit und Gemeinwohl; G. TEUBNER Organisationsdemokratie und V e r bandsverfassung. Zuletzt R . GÖHNER D e m o -

kratie in Verbänden, 1981, und C . GUSY V o m Verbändestaat zum Neokorporatismus? 1 9 8 1 . — G r ö ß e r e Sammelrezensionen bei W . BERG in: Die V e r w a l t u n g 11 ( 1 9 7 8 ) 7 1 ; P. HÄBERLE in: Z H R 145 ( 1 9 8 1 ) 4 7 3 , und W . SCHMIDT in: D e r Staat 17 ( 1 9 7 8 ) 2 4 4 . - A u s der sozialwissenschaftlichen Literatur vgl. etw a neben den in Fn. 8 bis 11 und 16 bereits genannten W e r k e n E. TUCHTFELD (Hrsg.) Die Verbände in der pluralistischen Gesellschaft, 1 9 6 2 ; H . J . VARAIN (Hrsg.) Interessenverbände in der Demokratie, 1 9 7 3 ; W . DETTLING (Hrsg.) Macht der Verbände — O h n m a c h t der D e m o k r a t i e ? 1 9 7 6 ; J . WEBER Interessengruppen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 1976; J. RASCHKE Vereine und Verbände, 1 9 7 8 ; F. SCHARPF A u t o n o m e Gewerkschaften und staatliche Wirtschaftspolitik: Probleme einer Verbändegesetzgebung, 1 9 7 8 ; K . v. BEYME Interessengruppen in der Demokratie, 5. A u f l . 1 9 8 0 . Eine Bestandsaufnahme der F o r schungslage bei R. MAYNTZ Staat und politische Organisation: Entwicklungslinien, in: Lepsius (Hrsg.) Zwischenbilanz der Soziologie, 1 9 7 6 , S. 3 2 9 .

382

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Frage, ob das Demokratiegebot unmittelbar anwendbares Verfassungsrecht oder auf gesetzgeberische Intervention angewiesener Regelungsauftrag ist. Dort wo gesetzgeberische Interventionen angestrebt werden, bleibt oft undeutlich, ob der öffentlichen Funktion der Verbände ein öffentlich-rechtlicher Status folgen soll, wie ihn die Kammern bereits besitzen, oder ob es um eine an Vorgaben des Verfassungsrechts orientierte privatrechtliche Neuregelung geht. Starke Meinungsverschiedenheiten bestehen ferner bezüglich der Ausgestaltung des Demokratiegebots und seines Anwendungsbereichs in einer differenzierten Verbändelandschaft 21 . Wenig geklärt ist schließlich, ob das Gebot im Wege einer Verfassungsergänzung, einer Änderung des bestehenden Vereinsrechts, eines einheitlichen Verbandsgesetzes oder mehrerer funktionsspezifischer Verbändegesetze zu konkretisieren ist. Dagegen wird die grundsätzliche Eignung des Demokratiegebots zur Lösung der Verbändeproblematik großenteils stillschweigend vorausgesetzt. Sie ist aber keineswegs selbstverständlich. Bedenken ergeben sich vielmehr aus zwei Gründen. Zum einen kann die demokratische Legitimation eines Verbandes stets nur Legitimation durch seine Mitglieder, also durch Träger einer besonderen Funktion oder eines speziellen Interesses sein 22 . Darin unterscheiden sie sich von den Parteien, die ihr aus der innerparteilichen Willensbildung hervorgegangenes Regierungsprogramm und Führungspersonal noch einem Votum der Gesamtgesellschaft unterwerfen müssen und von diesem ihre Legitimation zum staatlichen Handeln ableiten. Die Wirkung des Demokratiegebots für die Verbände wird dadurch nicht aufgehoben, aber eingeschränkt. Vom einzelnen Mitglied aus gesehen, sorgt es dafür, daß sein Anteil an der Formung des Verbandswillens gesichert ist und innerverbandliche Minderheitspositionen respektiert werden. Damit schafft es eine wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung individueller Grundrechte durch Organisation 23 . Vom Staat aus betrachtet, liegt im Demokratiegebot eine Gewähr dafür, daß der Verband die Interessen seiner Mitglieder authentisch repräsentiert. Verbandseinfluß auf politische Entscheidungen wird dadurch als Wahrnehmung von Grundrechtspositionen legitim. Dagegen vermag die innerverbandliche Demokratie keine Legitimation für die Teilhabe an der staatlichen Entscheidungsgewalt zu verschaffen. Lösungen dieses Problems sind noch nicht in Sicht. Auch Böckenförde, der es am schärfsten akzentuiert hat, warnt nur vor einer generellen Konstitutionalisierung der Verbände, weil sie die Grenze zwischen sektoraler und allgemeiner Entscheidungsteilhabe auflösen könnte, und will es daher bei der relativen Vernünftigkeit des status quo belassen 24 . Zum zweiten besteht nicht immer Klarheit über das Ausmaß der Demokratisierbarkeit verbandlicher Interessenvertretung. Sie hängt wesentlich davon ab, inwieweit die Interessenartikulation und -durchsetzung von den Verbandsmitgliedern auf den Verband übergeht. Bei Arbeitnehmerinteressen beispielsweise ist das weitgehend der 21

Zur Typologie der Verbände vgl. vor allem

chung von Grundrechten durch Organisation, in: Z R P 1977, 255. Wichtige grundrechtstheoretische Neuansätze zur korporativen Seite grundrechtlicher Freiheit („status

WEBER I n t e r e s s e n g r u p p e n (Fn. 2 0 ) S. 7 1 , u n d TEUBNER ( F n . 1 ) S . 1 2 1 . 22

V g l . BÖCKENFÖRDE, D e r S t a a t 1 5 , 4 7 7 .

23

Dazu vor allem W . SCHMIDT, Die „innere Vereinsfreiheit" als Bedingung der Verwirkli-

c o r p o r a t i v u s " ) bei HÄBERLE Z H R 1 4 5 , 4 7 3 . 24

BÖCKENFÖRDE D e r S t a a t 1 5 , 4 8 1 .

5. Abschnitt. Verbände (GRIMM)

383

Fall. Sie werden erst auf der verbandlichen Ebene zur Geltung gebracht und gewinnen nur verbandlich organisiert ihre Durchsetzungskraft. Das einzelne Mitglied wird durch den Verband in seiner Interessenwahrnehmung mediatisiert. Dagegen bleiben Unternehmerinteressen zum großen Teil in der Hand der Verbandsmitglieder. Über Produktion und Investition entscheidet der einzelne Unternehmer nach eigenen wirtschaftlichen Rationalitätskriterien. Er wird verbandlich nicht mediatisiert, wenn es auch der Verband sein mag, der beim Staat auf unternehmerfreundliche wirtschaftspolitische Maßnahmen dringt. Die Binnendemokratisierung solcher Verbände bleibt daher mangels hinreichender Entscheidungssubstanz relativ folgenlos 2 5 . Der Lösungsansatz liegt insoweit weniger bei der Vereinigungs- als der Eigentumsfreiheit. Vollends gilt das für Spitzenverbände, deren Mitglieder selbst wieder Verbände sind, oder für die sogenannten halbstaatlichen Vereine, die nicht im eigentlichen Sinn auf einer Mitgliedschaft basieren. Demgegenüber erzielt das Demokratiegebot bei verbandlich organisierten Arbeitnehmerinteressen seine Wirkung. Das ist der Grund für die mehrfach geäußerte Befürchtung, daß ein Verbändegesetz trotz seiner generellen Fassung und Reichweite de facto doch nur ein Gewerkschaftsgesetz wäre 2 6 , so daß es erst den Test des Art. 3 G G bestehen müßte. Nicht unumstritten ist schließlich die Effektivität des Demokratisierungskonzepts, dort wo es anwendbar erscheint. Scharpf bemerkt, daß eine Verstärkung der innerverbandlichen Demokratie die Stabilisierungsleistung der Verbände für das politische System herabsetzen könnte, weil sich die Verbandsführung dann in erhöhtem Maß an egoistischen Kurzfristinteressen ihrer Mitglieder auf Kosten langfristiger gesamtgesellschaftlicher Überlegungen orientieren müsse. Das Ergebnis wäre eine Radikalisierung der Verteilungskämpfe 2 7 . O f f e hält innerverbandliche Demokratie und effektive Interessenvertretung für gänzlich unvereinbar. Verbandlich organisierte Interessen müßten, um sich zur Geltung zu bringen, negotiabel bleiben. Unabhängigkeit der Verbandsführung von der Mitgliedschaft sei die Voraussetzung erfolgreicher Verhandlung für die Mitglieder, setze aber zugleich deren dauernde Disziplinierung durch die Verbandsführung voraus 2 8 . Das Argument trifft zu, wenn man unter Demokratie nicht nur die periodische Legitimation der Verbandsführung durch die Mitgliedschaft und einen offenen Prozeß der Verbandswillensbildung und Führungskontrolle, sondern überdies eine umfassende Partizipation der Mitglieder an allen Einzelentscheidungen des Verbandes versteht. Indessen stößt dieses Demokratiekonzept, von dem im übrigen das Grundgesetz für den staatlichen Bereich nicht ausgeht, auf beträchtliche Realisierungsschwierigkeiten. Die Organisationssoziologie hat herausgestellt, daß die klassischen Formen der Versammlungsdemokratie nicht nur im Staat, sondern auch bei kleineren Organisationen angesichts der Anzahl, Vielfalt und

25

26

BÖCKENFÖRDE D e r Staat 15, 4 7 8 ;

SCHMIDT

Der Staat 17, 269. So etwa F. SCHARPF Autonome Gewerkschaften und staatliche Wirtschaftspolitik: Probleme einer Verbändegesetzgebung, 1978, S. 17ff; OFFE Public status (Fn. 16) S. 146.

27

So vor allem SCHARPF Gewerkschaften (Fn. 26)

28

S.

20,

und

A.

PIZZORNO

Interests

and Parties in Pluralism, in: Berger (Hrsg.) Organizing Interests in Western Europe, 1981, S. 265. OFFE Politische Herrschaft (Fn. 11) S. 148.

384

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Kompliziertheit der Entscheidungsprobleme versagt 2 9 . Die Hoffnung, daß man nur die Rechtsstellung der Mitgliederversammlung aufwerten und die des Vorstandes eingrenzen müsse, um innerverbandliche Demokratie zu erhalten, wäre daher vergeblich. Unter diesen Umständen scheint auch für Verbände nur der Weg gangbar, den die Demokratietheorie bezüglich des Staates eingeschlagen hat 3 0 . Volk und Staat werden hier weder durch permanente Entscheidungsteilhabe miteinander verknüpft noch in ihrem Kontakt auf den vierjährlichen Akt der Wahl beschränkt. Vielmehr schiebt sich einerseits zwischen Volk und Staat eine Vermittlungsebene, auf der unterschiedliche Gruppen gesellschaftlichen Ursprungs um die Staatsleitung konkurrieren und im Blick auf die konkurrenzentscheidende Wahl zu ständiger Bedachtnahme auf gesellschaftliche Bedürfnisse und Uberzeugungen gezwungen sind. Zum anderen werden dem Publikum aber eine Reihe spezieller, überwiegend grundrechtlich gesicherter Einflußmöglichkeiten zur Verfügung gestellt, die dem politischen Prozeß eine wechselbezügliche Gestalt verleihen. Auch für die innerverbandliche Demokratie ließe sich eine solche Kombination aus konkurrenzdemokratischen und partizipationsdemokratischen, input- und output-orientierten Elementen fruchtbar machen 3 1 . Ohnedies tendieren Organisationen bei wachsender Integrationsbreite und Multifunktionalität zu internen Fraktionierungen, wie sich am Beispiel der Volksparteien schon besonders auffällig zeigt 3 2 . Juristisch wäre das eine durch die Verstärkung von Minderheitsrechten, das andere durch eine Dezentralisation von Entscheidungskompetenzen in lokaler und funktionaler Hinsicht zu erreichen. Freilich können auch hier Rechtsnormen nur die Voraussetzungen für innerverbandliche Demokratie verbessern, diese aber nicht schon herstellen 33 . Ohne daß dadurch die Apathie- oder Kapazitätsprobleme in Organisationen mit freiwilliger Mitgliedschaft ausgeräumt würden, ließe sich ihre demokratische Substanz auf diese Weise zumindest anheben. 2. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Binnendemokratisierung Verfassungsrechtlich läuft dann alles auf die Frage hinaus, ob Regelungen dieser Art, wenn der Gesetzgeber sie den politisch relevanten Verbänden zur Auflage machte, zulässig wären. Die Frage stellt sich, weil solche Regelungen vom Standpunkt der Verbände aus als Beschränkungen ihrer Vereinigungsfreiheit erscheinen, die Art. 9 G G ohne Schrankenvorbehalt garantiert. Die Folge vorbehaltsfreier Grundrechte ist freilich nicht ihre Unbeschränkbarkeit, sondern nur das Verbot eigenständiger Schrankenziehung durch den Gesetzgeber. Dagegen können die in der Verfassung 29

30

31

Vgl. dazu TEUBNER Organisationsdemokratie (Fn. 1) S. 78; ferner F. NASCHOLD Organisation und Demokratie, 1969, sowie F. SCHARPF Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970. Vgl. D . GRIMM, Die politischen Parteien, in diesem Handbuch. Entwickelt vor allem bei TEUBNER (Fn. 1) S. 104.

32

33

Vgl. N . LUHMANN Politische Repräsentation, Ms. 1982. D i e Frage von W. LEISNER Organisierte O p position in Verbänden und Parteien? Z R P 1979, 275, ob eine innerverbandliche Opposition rechtlich angeordnet werden müsse, entscheidet sich aus diesem Grund schon auf der tatsächlichen, nicht erst der rechtlichen Ebene.

385

5. Abschnitt. Verbände (GRIMM)

bereits angelegten Schranken gesetzlich ausformuliert und konkretisiert werden. Es geht also um verfassungsrechtliche Grundlagen für innerverbandliche Demokratie. Dabei zeigt die große, oft additiv angebotene Zahl von Vorschlägen die Unsicherheit der Lehre gegenüber diesem neuartigen Problem. Am häufigsten werden genannt der Öffentlichkeitsstatus der Verbände; der generelle Gemeinwohlvorbehalt aller Grundrechte; das demokratische Prinzip; die Sozialstaatsklausel als Verbürgung von Homogenität zwischen Staat und Gesellschaft; die für Parteien geltenden Anforderungen des Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G ; die Drittwirkung der Grundrechte; die Schranken anderer, von den Verbänden kollektiv wahrgenommener Individualgrundrechte. Diese Unsicherheit indiziert, daß es sich um ein vom Grundgesetz selbst nicht vorausgesehenes Problem handelt. Eine fertige oder auch nur naheliegende Antwort existiert nicht. Sie muß vielmehr aus den Strukturprinzipien des Grundgesetzes erst abgeleitet werden. Relativ einfach lassen sich dabei einige sehr pauschale Angebote ausscheiden. Das trifft zunächst für den Öffentlichkeitsstatus der Verbände zu. Öffentlichkeitsstatus ist nicht mehr als eine Kurzformel für die tatsächliche Entwicklung, in deren Verlauf die Verbände ins politische System eingerückt sind und daher als private Organisationen nicht mehr adäquat begriffen werden können. Aus diesem Grund wird ihr Verhältnis zum Staat zum Problem. Der tatsächliche Zustand ist aber nicht zugleich die verfassungsrechtliche Berechtigung seiner Lösung durch Binnendemokratisierung. Eine solche kann auch nicht aus einem Gemeinwohlvorbehalt, dem sämtliche Freiheitsrechte unterstehen sollen, abgeleitet werden. Es kennzeichnet die grundgesetzliche Demokratie, daß sie nicht von einem präexistenten und nur durchzusetzenden, sondern von einem diskursiv erst zu findenden Gemeinwohl ausgeht, für das die Verfassung lediglich die prozeduralen und materiellen Rahmenbedingungen bereitstellt. Gemeinwohl wird insofern zu einer Kompetenzfrage, und kompetenzverteilend wirken nicht nur die Organisationsnormen, sondern auch die Grundrechte, namentlich Art. 9 Abs. 3 G G 3 4 . Ordnet man dagegen ein materiales Gemeinwohl den Kompetenzträgern als Fixum vor, vereinigen sich alle politischen Kompetenzen letztendlich beim Bundesverfassungsgericht. Die Folgen sind bekannt 35 . Soweit die Grundrechte eine generelle Zuständigkeitsverteilung zwischen Staat und Gesellschaft vornehmen, muß ferner der Versuch versagen, über die Sozialstaatsklausel beide Seiten wieder auf homogene Strukturen zu verpflichten 36 . Das Grund-

3 4

Vgl.

P.

LERCHE Verfassungsrechtliche

demokratischen Staat, in: Hoffmann-Riem (Hrsg.) Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. 2, 1977, S. 83. Das ist die Problematik der Tendenz des Werkes von v. ARNIM Gruppeninteressen (Fn. 20), der zur Eindämmung des Verbandseinflusses stark auf das BVerfG und ähnliche Kontrollinstanzen setzt, vgl. vor allem S. 190ff, 212 ff.

Zen-

tralfragen des Arbeitskampfes, 1968, S. 2 8 f f ; R. SCHOLZ Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem,

1 9 7 1 , S. 2 2 1 ; P . BADURA A r -

beitsgesetzbuch, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie, in: R d A 1974, 129. Dazu KNEBEL Koalitionsfreiheit (Fn. 20) S. 80 m. w. N . Gemeinwohlforderungen zuletzt bei H . LEMKE Uber die Verbände und ihre Sozialpflichtigkeit, in: D ö V 1975, 2 5 3 . 35

Vgl. dazu D . GRIMM Verfassungsgerichtsbarkeit — Funktion und Funktionsgrenzen im

36

So aber H . RIDDER Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1960, S. 18; vgl. auch

386

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

gesetz kennt die Homogenitätsklausel vielmehr nur dort, wo gesellschaftliche Kräfte unmittelbar in den Staat vordringen oder staatliche Aufgaben wahrnehmen. Das Musterbeispiel dafür sind die Parteien. Bei der Frage nach der verfassungsrechtlichen Grundlage des Demokratiegebots ist vielmehr zunächst davon auszugehen, daß die Vereinigungsfreiheit des Art. 9 G G im Unterschied zu den meisten anderen Grundrechten ihren Zweck nicht in sich selbst trägt 3 7 . Der Zusammenschluß erfolgt im Interesse bestimmter, jenseits der bloßen Vereinsbildung gelegener Ziele. Meist sind diese selbst wieder grundrechtlich geschützt. Die Vereinigung von Individuen dient dann der effektiveren Wahrnehmung anderer Grundrechte. Indem Art. 9 G G sich als Mittel dazu versteht, bleibt er aber primär, wenn auch nicht ausschließlich, Individualgrundrecht, und zwar nicht nur Recht zur Vereinsgründung, sondern auch Recht innerhalb der Vereinigung. Der Verband absorbiert daher, was das Innenverhältnis anbelangt, die Grundrechte seiner Mitglieder nicht. Verzichtbar für den Einzelnen durch Anerkennung der Satzung sind sie nur dort, wo er auf die Vereinigung nicht angewiesen ist und seine Freiheit wirksam durch Austritt, Eintritt in einen konkurrierenden Verein oder Gründung eines neuen Vereins betätigen kann. Diese Möglichkeit, die Art. 9 G G garantiert, darf freilich nicht nur formal gedeutet werden. Nicht durchweg entspricht dem Recht auch die tatsächliche Chance. Gerade im Verbändewesen bieten Austritt und Neugründung vielfach keinen adäquaten Ersatz für die Mitgliedschaft in einer eingeführten Organisation. Daher müssen dem einzelnen Mitglied die Partizipationsmöglichkeiten im Verband und ihre Komplementärgarantien auch innerverbandlich gewährleistet sein. Desgleichen muß gesichert sein, daß es sie innerhalb des Verbandes wiederum gruppenförmig nutzen kann. Das ist keine Frage der Drittwirkung von Grundrechten, sondern der Wahrnehmung von Grundrechten in organisierter Form. V o m Staat als dem Adressaten der verbandlich organisierten Interessenverfolgung aus betrachtet, liegt eine Anknüpfung an Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G nahe. E r verlangt von den politischen Parteien einen demokratischen Aufbau. Sanktionsmöglichkeiten bestehen über die Zulassung zur Wahl, die Zuteilung staatlicher Mittel etc. Die Erstreckung auf die Verbände im Wege der Analogie setzt jedoch gleichartige Tatbestände voraus. U m die Vergleichbarkeit ermitteln zu können, muß man sich des Grundes der Anordnung innerparteilicher Demokratie vergewissern. E r liegt darin, daß die Parteien bestimmenden Einfluß auf die Staatsorgane, genauer: in den politisch entscheidenden Staatsorganen, ausüben. Daher wäre das für den Staat geltende Demokratieprinzip gefährdet, wenn seine input-Struktur nicht homogen organisiert sein müßte. Zur input-Struktur des Staates zählen freilich neben den Parteien auch die Verbände 3 8 . Ihre Beziehung zum Staat ist aber eine distanziertere. Kein Verband

37 38

DERS. D i e soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 4 7 f f . Grundlegend W . SCHMIDT D e r Staat 17, 263. Das ist weitgehend unbestritten. Trennung zwischen den dem verpflichteten Parteien und den essen verpflichteten Verbänden

Eine scharfe Gemeinwohl Sonderinteraber bei R .

SCHOLZ

Koalitionsfreiheit

(Fn.

34)

S.

374.

Zur Analogiebasis zwischen Parteien und Verbänden vor allem POPP ö f f e n t l i c h e Aufgaben ( F n . 20) S. 87. In der Politikwissenschaft hat sich die Annahme durchgesetzt, daß Verbände eher der Interessenartikulation, Parteien eher der Interessenaggregation die-

5. Abschnitt. Verbände (GRIMM)

387

rückt aufgrund eines Mandats durch die Wählerschaft in ein Staatsorgan ein. Die Nichtbeteiligung an Wahlen ist verfassungsrechtlich das ausschlaggebende Unterscheidungskriterium zu den Parteien. Sofern den Staatsorganen die Entscheidungsautonomie verbleibt, besteht auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G kein Homogenitätserfordernis. Die Entscheidungsautonomie ist aber gegenüber denjenigen Verbänden durchbrochen, welche, ohne in Staatsorganen zu handeln, für die Erfüllung von Staatsaufgaben Bestimmungsdaten setzen und so sektoralen Anteil an der Ausübung der Staatsgewalt gewinnen. Sie kommen den Parteien am nächsten, und allenfalls für sie ließe sich eine Analogie zu Art. 21 G G ziehen. Dagegen begründet die bloße Einflußnahme auf politische Entscheidungen keine hinreichende Vergleichbarkeit. Sie ist allgemeine Grundrechtsausübung und findet auch außerhalb der Verbände vielfach statt, ohne daß jeder Grundrechtsträger deswegen demokratische Legitimationen nachweisen müßte. Die Interessenverbände unterscheiden sich allerdings von anderen Einflußträgern dadurch, daß sie nicht einfach eine Meinung oder Überzeugung äußern, sondern für sich in Anspruch nehmen, bestimmte gesellschaftliche Funktionen oder Interessen zu vertreten. Das Aliud ist ihr repräsentativer Charakter. Der Staat, der die Gesellschaft nicht nur in ihrer vorausgesetzten Ordnung garantiert, sondern aktiv steuert, ist dazu auf Informationen über gesellschaftliche Bedürfnisse und gesellschaftliche Akzeptanz seiner Entscheidungen angewiesen. Diese Informationen verschaffen ihm zum großen Teil die Verbände. Angesichts der Angewiesenheit auf Verbandsleistungen kann der Staat seinen demokratischen Auftrag aber nur wahren, wenn eine authentische Interessenrepräsentation gesichert ist. Es ist diese Überlegung, die das Demokratiegebot auch für die gewöhnlichen Interessengruppen zu tragen vermag. Grundrechte und Demokratieprinzip, die einander wechselseitig bedingen, konvergieren dann auch bei der Begründung einer demokratischen Binnenstruktur für Verbände. Darin liegt keine demokratische Funktionalisierung des Grundrechts. Die Vereinigungsfreiheit behält ihre umfassende Geltung und wird nicht auf demokratieförderlichen Gebrauch verengt. Im Gegenteil müssen sich diejenigen, welche die Vereinigungsfreiheit politisch zur Beeinflussung des demokratischen Staates im Verbandsinteresse benutzen, einer stärkeren Einschränkung beugen. Innerverbandliche Demokratie läßt sich also verfassungsrechtlich begründen. Sie ist ein aus dem Grundgesetz entwickeltes Gebot. Damit besitzt sie den Charakter geltenden Rechts. Geltung heißt freilich noch nicht unbedingt Anwendbarkeit. Zwar gehen einige Autoren von der direkten Anwendbarkeit des Demokratiegebots aus, wenn sie etwa bestimmte Anforderungen an Verbandssatzungen unmittelbar aus dem Grundgesetz ableiten oder gar die Vorschriften des Parteiengesetzes geradewegs auf die Verbände übertragen 3 9 . Indessen haben wir es bei dem Demokratiegebot mit einem Prinzip zu tun, das nicht nur verschiedener Ausgestaltung fähig, sondern an-

nen, vgl. K. v. BEYME Parteien in westlichen Demokratien, 1982, S. 23; Überblick bei E. WIESENDAHL Parteien und Demokratie, 1980, S. 166.

39

Besonders weitgehend etwa FÖHR Willensbildung (Fn. 20) S. 148; STINDT Verfassungsgebot (Fn. 20) S. 212.

388

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

gesichts der Vielfalt von Verbänden auch bedürftig ist. Unter Umständen kann ein und derselbe Verband mehreren Kategorien angehören, die Gewerkschaft beispielsweise bald zu den einflußnehmenden Interessengruppen, bald zu den das Staatshandeln bestimmenden Tarifpartnern. Die innerverbandliche Demokratie ist deshalb ähnlich wie ihr verfassungsrechtlich ausdrücklich formuliertes Gegenstück für politische Parteien ein Regelungsauftrag an den Gesetzgeber, der aber im Gegensatz zum Parteiengesetz wohl nicht einheitlich, sondern nur funktionsspezifisch erfüllt werden kann 40 . Wie beim Parteiengesetz steht freilich auch hier die Bereitschaft und Fähigkeit des Parlaments zur Debatte, diesmal weniger wegen der Einschränkung eigener Positionen der im Parlament wirkenden Parteien als wegen der Sanktionsdrohungen mächtiger Verbände. Das ist das Dilemma eines Systems, das die Ansammlung von Privatmacht als Konsequenz grundrechtlicher Freiheit gestattet, aber Schwierigkeiten hat, diese Macht im demokratischen Interesse nachträglich wieder zu begrenzen.

40

Am weitesten entwickelt bei TEUBNER Organisationsdemokratie (Fn. 1).

6. Abschnitt

Massenmedien WOLFGANG HOFFMANN-RIEM

I. Grundkonzept der Medienfreiheit 1. Entfaltung in der Kommunikation und Entfaltung durch Kommunikation Im Zuge der Entstehungs-, aber auch der Anwendungsgeschichte des Grundgesetzes ist deutlich geworden, daß die Grundrechte nicht beziehungslos Freiheitsräume absichern. Die Grundrechte sind vielmehr Elemente eines normativen Staats- und Gesellschaftskonzepts, das Möglichkeiten subjektiver Entfaltung abgesichert wissen will und das auf reale Möglichkeiten subjektiver Entfaltung angewiesen ist. In der Grundrechtstheorie hat diese Erkenntnis sich in der doppelten Sicht des subjektivrechtlichen Grundrechtsschutzes und der Anerkennung der Grundrechte als objektiver Prinzipien der Rechtsordnung niedergeschlagen1. Damit einher geht das Verständnis der Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte. Anzuerkennen ist auch eine „programmatische Schicht" der Grundrechtsnorm, die dem Staat u. a. aufgibt, „gefährdete Freiheit aktiv zu stützen, zu sichern und zu festigen", einerlei ob auch ein subjektiver Anspruch des Bürgers darauf besteht2. Umfaßt ist die Sorge für die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für die Wahrnehmung der grundrechtlichen Freiheiten3. Diese doppelte Stoßrichtung des Grundrechtsschutzes ist mit besonderem Gewicht anhand der Kommunikationsgrundrechte herausgearbeitet worden. Die durch Kommunikation ermöglichte subjektive Entfaltung ist in gesteigertem Maße auf besondere Rahmenbedingungen einer folgenreichen Kommunikation angewiesen. Ein elementarer Kommunikationsbedarf besteht nicht nur im Hinblick auf die subjektive Entfaltung in dem Prozeß der Kommunikation selbst. Vielmehr ist die Möglichkeit zur Teilhabe an Kommunikationsprozessen Voraussetzung der subjektiven Entfaltung in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen Orientierungswissen — umfassender: eine kommunikativ vermittelte Qualifikation — unabdingbar ist. Das faktische Angewiesensein des einzelnen, der Gesellschaft sowie der 1

Statt vieler K . HESSE Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, in: E u G R Z 1978, 427ff; H . H . RUPP Vom Wandel der Grundrechte, in:

A ö R 101 (1976) m. w. Hinw. 2

R U P P ( F n . 1) 173.

3

H E S S E ( F n . 1) 4 3 3 .

161,

165 ff,

jeweils

390

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

staatlichen Organe auf ein funktionsfähiges Kommunikationssystem prägt den Realbereich der Grundrechtsnorm. Der empirische Befund wirkt notwendig auf die Interpretation des Grundrechts zurück, das die Meinungsäußerung um der Meinungsbildung willen und die Meinungsbildungsfreiheit als Voraussetzung der Meinungsäußerungsfreiheit schützt 4 . Kommunikationsfreiheit als Teil einer freiheitlichen Kommunikationsverfassung im demokratischen und sozialen Rechtsstaat schützt die subjektive Entfaltung in der Kommunikation, d. h. die Übernahme der Rolle als Kommunikator und als Rezipient. Geschützt ist aber auch die Entfaltung durch Kommunikation, z . B . die Verwertung der aufgenommenen Information zur Orientierung in individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen und bei der Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung. Das gegenwärtige Kommunikationssystem ist nicht nur durch Individualkommunikation, sondern auch durch Mittel der Massenkommunikation, so insbesondere durch die Tätigkeit der Presse und des Rundfunks (Hör- und Fernsehfunk) gekennzeichnet. Neue Kommunikationstechnologien werden das Kommunikationswesen in absehbarer Zeit grundlegend umgestalten5. Der Bedarf an Sicherungen der Entfaltung in der und durch die Kommunikation wird eher steigen. Die Ausgestaltung der Kommunikationsverfassung bedarf ständiger Überprüfung. Medienpolitik ist Grundrechtspolitik. Kernpunkt ist das in Art. 5 G G verankerte Grundrecht der Kommunikationsfreiheit mit seinen Einzelelementen der Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) und der Medienfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG). 2. Das liberale Konzept der Freiheit als rechtlich gesicherte reale Möglichkeit subjektiver Entfaltung Historischer Anknüpfungspunkt der Grundrechte ist das liberale Grundrechtsverständnis. Auch in dem Grundgesetz ist es — in demokratischer und sozialstaatlicher Prägung — eine normative Prämisse der Grundrechtsverbürgungen. Bezugspunkt des liberalen Konzepts ist die rechtliche Sicherung realer Möglichkeiten subjektiver Entfaltung des eigenverantwortlichen Individuums. Prototyp einer solchen Sicherung ist die Kommunikationsfreiheit. Sie ist sowohl nach der verfassungsrechtlichen Tradition als auch dem Konzept des Grundgesetzes nicht nur auf den für sich handelnden, auf individuelle Orientierung bedachten Bürger bezogen. Vielmehr ist der soziale Bezug von Kommunikation Bestandteil des liberalen Konzepts 6 , das sich aus dem Austausch von Tatsachen und Meinungen die Fähigkeit zur

4

Vgl. M . STOCK Kirchenfreiheit und Medienfreiheit, in: Z e v K R 2 0 (1975) 2 5 6 , 285ff.

5

Vgl. Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems ( K t K ) , Telekommunikationsbericht, 1976; V. HAUFF Entwicklungstendenzen der Kommunikationstechnik und ihrer Auswirkungen auf die Medien, epd/Kirche und Rundfunk N r . 49 v. 2 5 . 6. 1980; Expertenkommission „ N e u e Informations- und Kommunikationstechni-

ken" - E K M (Baden-Württemberg), schlußbericht, 1981 (3 Bände). 6

Ab-

Die vielen Nuancierungen des liberalen Freiheitsverständnisses und Pressefreiheits-Konzepts müssen hier vernachlässigt werden. S. statt dessen F . SCHNEIDER Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, 1966, insbes. S. 151 ff, 2 2 7 f ; J . HABERMAS Strukturwandel der Öffentlichkeit, 7. Aufl. 1975, S. 101 ff; D . STAMMLER Die Presse als soziale und ver-

391

6. Abschnitt. Massenmedien (HOFFMANN-RIEM)

Meinungsbildung und zur Erkenntnis des „Richtigen" verspricht und diese Funktion als notwendige Grundbedingung einer Gesellschaft versteht, die ihre Angelegenheiten in Eigenverantwortung regelt. Im Kommunikationsprozeß wird eine Gelegenheit zur Herausfilterung der „wahren" Tatsachengrundlage und einer als sinnvoll (,,richtig") akzeptierten Entscheidung gesehen. Mit der Herausbildung des bürgerlich-liberalen Verfassungsstaates ging das Bewußtsein einher, daß die kommunikative Entfaltung sich nicht auf individuelle Selbstverwirklichung beschränkt, sondern auch konstitutiv für den gesellschaftlichen und politischen Prozeß ist 7 . Allerdings galt es als hinreichend, im Rahmen des rechtlich Regelbaren die Möglichkeiten subjektiver kommunikativer Entfaltung abzusichern. Das Vertrauen in die Selbstregulierungskraft kommunikativer Prozesse erlaubte es, von zusätzlichen Sicherungen abzusehen. In den Zeiten der Kodifikation der Kommunikationsfreiheit — vor allem im 19. Jahrhundert — hatte die Uberzeugung vorgeherrscht, der normative Ziel wert sei am stärksten durch den Staat gefährdet. Aus dem Bewußtsein war weitgehend verdrängt worden, daß die Grundrechte sich in ihrer historischen Bedeutung gegen die feudale Ordnung gerichtet hatten, d. h. insoweit gegen die in ihr dominanten staatlichen und gesellschaftlichen Mächte. In der Folge dieses Verdrängungsprozesses galt die Abschirmung der Kommunikationsfreiheit gegen den Staat — insbesondere zur Abwehr staatlicher Zensur und von Beschränkungen der Preß-Freiheit — praktisch ausschließlich als Vorbedingung realer subjektiver Entfaltung. Allerdings begann ein Prozeß — vor allem mit Herausbildung des formalen Rechtsstaats in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts —, in dem die Grundrechtsauffassung sich von der ursprünglich vorhandenen funktionalen Betrachtung ablöste. Der Abwehrcharakter des Grundrechts wurde bei manchen Autoren zum Selbstzweck erhoben. So wie das Konzept vom material verstandenen Rechtsstaat durch das des formalen Rechtsstaats ausgetauscht wurde, büßten auch die Grundrechte ihre inhaltliche (revolutionäre) Stoßrichtung weitgehend ein. Dennoch ist die auf reale Entfaltung zielende normative Prägung des Grundrechtsschutzes nie völlig aufgegeben worden. Sie blieb allerdings insoweit verdeckt, als nicht ausdrücklich nach dem funktionalen Bezug gefragt, sondern häufig unbefragt unterstellt wurde, daß die im liberalen Modell erhoffte Möglichkeit zur individuellen und sozialen Entfaltung durch das Verständnis des Grundrechts als bloßes Abwehrrecht gesichert werde. Im 20. Jahrhundert, insbesondere unter dem Grundgesetz, hat sich die Grundrechtstheorie jedoch auf den funktionalen Bezug der Kommunikationsfreiheit besonnen und eine Verselbständigung des Abwehrkonzepts ausgeschlossen. Dank der Eingliederung des Grundrechtskonzepts in das System verfas-

T e x t können insoweit nur grobe Linien ge-

fassungsrechtliche Institution, 1 9 7 1 , insbes. S.

83ff;

U.

SCHEUNER Pressefreiheit,

in:

W D S t R L , B d . 22 ( 1 9 6 5 ) 1 ff. In diesen A r -

zeichnet werden. 7

D i e doppelte Ausrichtung der K o m m u n i k a -

beiten finden sich auch eingehende Angaben

tionsfreiheit ist schon im 18. J h . entwickelt

zur historischen E n t w i c k l u n g . Im folgenden

w o r d e n , s. F . SCHNEIDER ( F n . 6 ) 168.

392

3 . Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

sungsrechtlicher Zielwerte, wie die der Rechts- und Sozialstaatlichkeit und der Demokratie, darf nicht mehr an das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschende Grundrechtskonzept des formalen Rechtsstaats angeknüpft werden. Dementsprechend haben das Bundesverfassungsgericht und die h. M. die Kommunikationsfreiheit einem Grundrechtskonzept zugeordnet, das die Einbettung des Grundrechts in das System der verschiedenen verfassungsrechtlichen Zielwerte und Verbürgungen anerkennt8. In diesem Sinne wird die Kommunikation (auch) wegen ihrer Bedeutung für Staat und Gesellschaft geschützt. Kommunikationsfreiheit bleibt gleichwohl ein Eigenwert oder — wie auch formuliert wird — ein „Wert in sich". Der Schutz der Kommunikation hängt insbesondere nicht vom jeweiligen Kommunikationsinhalt ab. Die Kommunikation ist dementsprechend auch dann verfassungsrechtlich gesichert, wenn ein „positiver" Beitrag zur demokratischen Willensbildung oder sozialstaatlichen Orientierung nicht zu erkennen ist 9 . Unschädlich ist selbst ein Konsens darüber, daß die konkrete Kommunikation „negativ" zu bewerten sei, z. B. weil sie mehr irritiere als orientiere. Die Rede von dem Schutz der Kommunikationsfreiheit als Wert in sich darf jedoch nicht dahin mißverstanden werden, die Kommunikation werde nur um ihrer selbst willen geschützt. Klärungsbedürftig bleibt im übrigen, was Gegenstand der verfassungsrechtlichen Verbürgung ist, d. h. was die gemeinte „kommunikative Entfaltung" unter gegenwärtigen Bedingungen umfaßt und wie sie gesichert wird. Prämisse des liberalen Grundrechtsverständnisses ist das liberale Gesellschaftsmodell, das zur bloßen Ideologie würde, wenn seine Umsetzung nicht auch an die jeweiligen realen Bedingungen seiner Funktionstauglichkeit gekoppelt würde. Die seit dem 18./19. Jahrhundert erfolgten technologischen Umwälzungen und ökonomischen Veränderungen müssen bei der Bestimmung des Schutzumfangs der Kommunikationsfreiheit beachtet werden. Eine Differenzierung zwischen Individual- und Massenkommunikation kann gerechtfertigt oder gar geboten sein 10 .

8

9

Vgl. B V e r f G E 7, 1 9 8 , 2 0 4 f ; 12, 2 0 5 , 2 5 9 f f ;

schiedener grundrechtlicher

35,

im

202,

219ff;

52,

283,

296;

K.

HESSE

Rahmen

der

Freiheitsrechte

Herstellung

praktischer

G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der B u n -

K o n k o r d a n z auf das konkret „verfolgte In-

desrepublik Deutschland,

teresse, die A r t und Weise der Gestaltung

13.

Aufl.

1982,

R d n . 3 8 6 f f ; E . STEIN Staatsrecht, 8. Aufl.

und die erzielte oder voraussehbare

1 9 8 2 , S. 1 1 3 f f . ; G . HERRMANN Fernsehen

k u n g " abgestellt werden darf (so B V e r f G E

und H ö r f u n k in der Verfassung der Bundes-

35, 2 2 3 ) und darauf, ob die Äußerung z u r

republik Deutschland, 1975, S. 2 1 6 f f , 2 4 2 f f ;

Bildung der öffentlichen Meinung beiträgt

R . HERZOG in: TH. MAUNZ/G. DÜRIG/R.

(so B V e r f G E 3 4 , 2 8 3 ) . Kritisch insofern aber

HERZOG/R. SCHOLZ Grundgesetz,

P.

1951 ff.

LERCHE

Zur

der

Wir-

verfassungsgerichtlichen

R d n . 5 ff zu A r t . 5 ; M . LÖFFLER/R. RICKER

Deutung

Meinungsfreiheit,

H a n d b u c h des Presserechts, 1 9 7 8 , S. 11 ff.

schrift für Gebhard Müller, 1 9 7 0 , 1 9 7 f f ; H .

in:

Fest-

Zurückhaltend bis kritisch aber z. B . H . H .

H . KLEIN ö f f e n t l i c h e und private Freiheit,

KLEIN Die Rundfunkfreiheit, 1 9 7 8 , S. 4 8 f f .

in: D e r Staat 1 9 7 1 , 145ff.

Vgl. B V e r f G E 3 4 , 2 8 3 ; 25, 3 0 7 ; 3 5 , 2 2 2 f . Eine andere Frage ist, o b bei der Kollision ver-

10

Z u m Begriff der Massenkommunikation s. unten S. 4 0 4 ff.

393

6. Abschnitt. Massenmedien (HOFFMANN-RIEM)

3. Kommunikative Entfaltung mit Hilfe der Massenmedien in allen Lebensbereichen Die Ausgestaltung der Kommunikationsfreiheit bedarf eines normativen Bezugs. In Anbetracht der Vielschichtigkeit der faktischen Kommunikation sowie der verfassungsnormativen Einbindung der Kommunikationsfreiheit wäre es verfehlt, das Kommunikationskonzept nur vor dem Hintergrund der Funktionsfähigkeit politischer Prozesse zu entfalten11. Dies gilt auch für die Tätigkeit der Massenmedien. Die durch Medien vermittelten Inhalte können Einfluß auch außerhalb der im engeren Sinne politischen Entscheidungsprozesse haben. Unterhaltung und Bildung treten neben die Information über politische Angelegenheiten oder schieben diese sogar weitgehend beiseite. Auch die entsprechenden Publikationsinhalte sind für die individuelle Lebensgestaltung, die soziale Integration sowie den Ablauf staatlicher Entscheidungsprozesse von erheblicher Bedeutung. Sie haben ihren verfassungsrechtlichen Bezug nicht nur — und zum Teil überhaupt nicht — im Demokratieprinzip, sondern auch in anderen Grundprinzipien, wie denen der Kultur- und Sozialstaatlichkeit 12 . Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich in seinen Analysen allerdings weiterhin stark am Demokratieprinzip, erkennt aber Weiterungen an. So hat es festgestellt13, daß die Medien Wirkungen „in allen Lebensbereichen" entfalten. Die für den Bürger „erforderlichen umfassenden Informationen" beziehen sich nicht nur auf „Entwicklungen im Staatswesen" und das „Zeitgeschehen", sondern auch auf „Entwicklungen im gesellschaftlichen Leben". Vor allem prägen die Medien den Freizeit- und Erholungsbereich. Mit Recht wird dementsprechend betont, daß auch die Unterhaltung zu den (legitimen) Aufgaben der Massenmedien gehört. Auch mit solchen (scheinbar) unpolitischen Publikationsinhalten können das Orientierungs- und Qualifikationswissen sowie die in der Bevölkerung akzeptierten Werte, die Plausibilitätsstrukturen und die wahrgenommenen Bedürfnisse beeinflußt werden. Dies wiederum kann Rückwirkungen auf den Grad und die Ausrichtung der Aktivitäten im individuellen, allgemein gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Bereich haben. Da die Medien zu einem zentralen Faktor in der Sozialisation der Bürger geworden sind14, darf ihre Funktionsfähigkeit dem Staat mit Rücksicht auf

11

So auch U . SCHEUNER (Fn. 6), S. 6 8 f ; H .

KRÜGER Unterrichtung und Unterhaltung der Bürger, i n : SEELING/MAI/KRÜGER P r o -

bleme der Binnenstruktur der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten, 1974, S. 39ff; H. D. JARASS Freiheit der Massenmedien, 1978, S. 177f. 1 2 Näher W. HOFFMANN-RIEM Sozialstaatliche Wende der Medienverantwortung?, in: JZ 1975 , 469, 471 ff. " BVerfGE 35, 222. S. auch 57, 319 (wenn auch immer noch zu eng); 59, 258.

14

Darüber besteht ungeachtet vieler ungelöster Fragen Einigkeit in der Medienwirkungsforschung. Zu ihr vgl. Arbeitsgemeinschaft für Kommunikationsforschung e. V. (Hrsg.) Mediennutzung/Medienwirkung, 1980; J. BLUMLER/E. K A T Z T h e U s e o f M a s s

Com-

munications, 1974; J. AUFERMANN/H. BOHRMANN/R. SÜLZER (Hrsg.) Gesellschaft-

liche Kommunikation und Information, Bd. 2, 1973, dort die Beiträge S. 423ff; J. HACKFORTH Massenmedien und ihre Wirkung, 1976; M. KUNCZIK Massenkommunikation, 1977; K. RENCKSTORF Neue Per-

394

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

seinen demokratischen, sozial- und kulturstaatlichen Auftrag nicht gleichgültig sein. Der Wirkungsbereich der Medien beeinflußt ihre verfassungsrechtliche Bewertung. 4. Der personale und soziale Bezug der Kommunikationsfreiheit Kommunikative Entfaltung hat personale, aber auch soziale Elemente. Der Doppelcharakter beeinflußt die Ausgestaltung der Kommunikationsverfassung. Als Anknüpfungspunkt zur Einordnung der verschiedenen Elemente kann eine (ursprünglich auf die Eigentumsgarantie bezogene) Formulierung des Bundesverfassungsgerichts dienen 1 5 : Die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung reiche um so weiter, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion stehe. Soweit die Nutzung des Eigentums Belange anderer Rechtsgenossen berühre, die auf die Nutzung des Eigentumsobjekts zu ihrer Freiheitssicherung und verantwortlichen Lebensgestaltung angewiesen seien, greife ein Gebot der Rücksichtnahme auf den anderen ein. Im Hinblick auf die kommunikative Entfaltung mit Hilfe von Presse und Rundfunk steht der soziale Bezug regelmäßig im Vordergrund. Folgerungen aus diesem empirischen Befund werden gezogen, wenn die Informations-, Artikulationsund Kontrollfunktion der Medien hervorgehoben und ihre „öffentliche Aufgabe" betont werden oder wenn gesagt wird, der Rundfunk sei notwendig „Medium und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung" 16 . Auf die Reichweite des grundrechtlichen Schutzes wirkt sich diese Einsicht bei der Feststellung aus, Art. 5 G G enthalte mehr als nur das individuelle Grundrecht des Bürgers gegen den Staat auf Respektierung seiner Freiheitssphäre, sondern sichere auch die „institutionelle Eigenständigkeit" der Medien bzw. die „institutionelle Freiheit" 1 7 . Die soziale Funktion kann sich aber auch in einer Pflicht des Staates konkretisieren, „Gefahren abzuwehren, die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten" 1 8 , oder Eingriffe wirtschaftlicher Machtgruppen in die Unabhängigkeit von Presseorganen zu bekämpfen 19 oder Vorkehrungen zu treffen, daß der Rundfunk nicht einer oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert werde 20 . Solche Aussagen des Bundesverfassungsgerichts, die trotz einzelner Kritik weite Zustimmung in Schrifttum und Rechtsprechung gefunden haben 21 , verweisen auf die Not-

15 16

17

18 19

spektiven in der Massenkommunikationsforschung, 1977; E. NOELLE-NEUMANN Die Schweigespirale, 1980; K. LÜSCHER Wie wirkt das Fernsehen? in: Festschrift für M. Löffler, 1980, S. 233ff; s. ferner die Literaturübersicht von H. HAASE Kinder und Medien, Media-Perspektiven 1979, 797ff. BVerfGE 50, 340 f. BVerfGE 12, 260; s. a. E 20, 174f; 57, 295, 320. BVerfGE 12, 260f. Der Begriff „institutionelle Freiheit" ist allerdings mißverständlich. BVerfGE 20, 175 f. BVerfGE 25, 268.

20

BVerfGE 57, 295, 322. BVerwGE 39, 163ff; SCHEUNER (Fn. 6) S. 1 2 , 4 4 , 5 6 f, 6 2 f f ; L Ö F F L E R / R I C K E R ( F n . 8 ) S.

32ff; STAMMLER (Fn. 6) S. 177ff; P. LERCHE Verfassungsrechtliche Fragen zur Pressekonzentration, 1971, S. 21 ff; E. WUFKA Die verfassungsrechtlich-dogmatischen Grundlagen der Rundfunkfreiheit, 1971, S. 36ff; N. DITTRICH Pressekonzentration und Grundgesetz, 1971, S. 23ff. Kritisch bzw. abschwächend H. H. KLEIN Die Grundrechte im demokratischen Staat, passim; DERS. (Fn. 8) 48ff; D. CZAJKA Pressefreiheit und „öffentliche Aufgabe" der Presse, 1968. S.

6. Abschnitt. Massenmedien (HOFFMANN-RIEM)

wendigkeit, die realen Bedingungen

395

zur Verwirklichung

der sozialen Funktion

zu

berücksichtigen und sie gegebenenfalls zu schaffen. Die Beachtung der sozialen Funktion sowie der empirischen Bedingungen der Grundrechtsverwirklichung beseitigt andererseits nicht den Gehalt des Grundrechts als Sicherung subjektiver Entfaltung. In diesem Sinne betont das Bundesverfassungsgericht — auch im Hinblick auf Art. 5 GG —, daß die Bedeutung der Grundrechte als objektive Prinzipien (bzw. als „objektive Wertordnung") in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft als individuelle Rechte zum Schutz gefährdeter menschlicher Freiheit besteht22. Freiheitssicherung beschränkt sich aber nicht auf die Erhaltung subjektiver Rechte, sondern fordert auch und zuvorderst den Ausbau einer freiheitlichen Ordnung, die subjektive Entfaltung real ermöglicht. Differenzierungen in unterschiedlichen Sozialbereichen sind dabei unabweisbar. Kommunikation ist ein sozialer Vorgang, an dem Kommunikatoren und Rezipienten beteiligt sind, die im Prozeß der Kommunikation23 wechselseitig die Rollen tauschen. Die Kommunikationsfreiheit ist insoweit an einem Kreislauf- (oder Spiral-) Modell des Kommunizierens orientiert. Die Massenkommunikation erlaubt gegenwärtig allerdings (noch) nicht die direkte Zweiwegkommunikation 24 . Die ersten Ansätze in Rückkanalexperimenten oder im Rahmen der interaktiven Textkommunikation (z. B. Bildschirmtext) ermöglichen nur sehr begrenzte Reaktionen der Rezipienten und erst recht nicht eine Kommunikation der Teilnehmer miteinander. Gerade weil der Rezipient nicht in der Lage ist, mit den gleichen Möglichkeiten wie der Kommunikator an der Kommunikation teilzuhaben, bedarf er eines besonderen Freiheitsschutzes, der gegebenenfalls schon bei den Kommunikationsbedingungen des Kommunikators ansetzt. Verkürzt wäre es, den Schutz der Rezipienteninteressen auf die „Auswahlfreiheit" als Mediennutzer zu begrenzen25, ohne auch das für die Auswahlentscheidung bereitgestellte „Objekt" (den Kommunikationsinhalt) in den Blick zu nehmen. Soll Kommunikation dem Rezipienten ermöglichen, individuelle Bedürfnisse zu befriedigen und sich durch die Teilnahme an der Kommunikation Orientierungen für individuelles und soziales Handeln zu verschaffen, so muß auch

22

23 24

auch die Literaturberichte v o n H . - J . PAPIER Ü b e r Pressefreiheit, in: D e r Staat 1 9 7 4 , 3 9 9 f f ; DERS. Pressefreiheit zwischen K o n zentration und technischer Entwicklung, in: D e r Staat 1 9 7 9 , 422 f f . B V e r f G E 50, 3 3 7 unter Bezug auf E 7, 2 0 5 . E 57, 3 2 0 spricht in diesem Sinne v o n der R u n d f u n k f r e i h e i t als „dienender Freiheit". B V e r f G E 57, 295, 319. Die direkte Z w e i w e g k o m m u n i k a t i o n f o r d e r t neben einem geeigneten Transportmittel eine geeignete N e t z s t r u k t u r (Stern-Struktur). Fernsehsysteme mit schmal- o d e r breitbandigen Rückkanälen erlauben bei A u s l e gung des Netzes in einer sogenannten Baumstruktur nur die K o m m u n i k a t i o n mit der Zentrale, nicht aber mit den einzelnen Teil-

25

nehmern. Vgl. dazu E K M (Fn. 5) Bd. I, 76 f f . Die gegenwärtig üblichen Verteilnetze erlauben überhaupt keine Reaktion des Teilnehmers. So aber R . SCHOLZ Medienfreiheit und Publikumsfreiheit, in: Festschrift f ü r L ö f f l e r , 1 9 8 0 , S. 3 5 5 f f , der z w a r eine „ p u b l i k u m s zentrierte" Sichtweise f o r d e r t , aber keine Garanten einer „ e f f e k t i v e n Publikumsfreiheit" (S. 370) angibt, d. h. Sicherungen daf ü r , daß die Rezipienteninteressen auch befriedigt w e r d e n können. Das Vertrauen auf das K o n k u r r e n z p r i n z i p im Bereich der K o m m u n i k a t o r e n reicht nicht. Ähnlich v e r k ü r z t auch C H . STARCK Zur notwendigen N e u o r d n u n g des R u n d f u n k s , in: N J W 1 9 8 0 , 1361.

396

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

die faktische Zugänglichkeit der zur Orientierung erforderlichen (d. h. vielfältiger) Kommunikationsinhalte gesichert sein. Die als subjektives Recht ausgestaltete Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG allein reicht nicht, da sie die Faktoren nicht erfaßt, von denen abhängt, ob eine Information (allgemein) zugänglich wird. Um die erforderlichen Informationen im Interesse der Rezipienten auch real zugänglich zu machen, ist eine (gegebenenfalls staatliche) „Gewährleistung" der Medienfreiheit notwendig26. Entfaltungsinteressen haben auch die Kommunikatoren. Wird an der Realität von Massenkommunikation angeknüpft, so wird der Blick auf vielschichtige Prozesse arbeitsteilig wahrgenommener Kommunikation eröffnet (s. unten S. 432). Dabei fällt auf, daß der personale Bezug kommunikativer Entfaltung sehr stark bei denjenigen ausgeprägt ist, die — meist im Rahmen von Arbeits- oder Werkverträgen — Kommunikationsinhalte für ein nicht in ihrem Eigentum stehendes Medienorgan erarbeiten, also insbesondere bei den journalistisch tätigen Mitarbeitern. Soweit technologische Änderungen den vermehrten Zugang anderer, insbesondere nichtprofessioneller Kommunikatoren zur Massenkommunikation ermöglichen werden — etwa im Rahmen von Zugangsrechten bzw. offener Kanäle —, wird der personale Bezug der Kommunikatorfreiheit in ihrer Person verankert sein werden, nicht (kaum) aber in der des Veranstalters, der die Kommunikation nur technisch, organisatorisch und ökonomisch ermöglicht. Generell ist ein personaler Bezug des Medieneigentümers zu dem Kommunikativ-Publizistischen häufig nur verdünnt oder doch vermittelt festzustellen. Dies verdeutlichen im privatwirtschaftlichen Bereich die zunehmende Wahl der Gesellschaftsform einschließlich der der Kapitalgesellschaft für Presseunternehmen, die faktische Machtsteigerung des Verlagsmanagements und erst recht die Pressekonzentration sowie die Einbindung von Presseverlagen in Unternehmen mit gemischten Geschäftsbereichen27. Das weitgehende Verschwinden publizistisch engagierter Ver26

Sehr deutlich B V e r f G E 57, 2 9 5 , 320, 3 2 3 f . u. passim.

27

Z u r „Realität der Presse" s. Bericht der Bundesregierung über die Lage von Presse und Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland (1978) - Medienbericht, B T - D r u c k s . 8 / 2 2 6 4 , 2 ff; Monopolkommission Hauptgutachten 1 9 7 8 / 1 9 7 9 , Fusionskontrolle bleibt vorrangig, 1980, S. 127ff; H . H . DIEDERICHS Daten zur Konzentration der Tagespresse . . . im IV. Quartal 1980, in: MediaPerspektiven 1981, 521 ff; W . J . SCHÜTZ Deutsche Tagespresse 1981, in: Media-Perspektiven 1981, 6 4 5 f f ; Media-Perspektiven, Daten zur Mediensituation in der Bundesrepublik, 1981, S. 11 ff; E . - J . MESTMÄCKER Medienkonzentration und Meinungsvielfalt, 1978; LANGENBUCHER/ROEGELE/SCHUMACHER Pressekonzentration und Journalistenfreiheit, 1976. Über die Rechtsform der

Medienunternehmen s. JACOBI/NAHR in: JACOBI/NAHR/LANGENBUCHER/ROEGELE/ SCHÖNHALS-ABRAHAMSOHN Manager der Kommunikation, 1977, Tabelle 1 : Im Jahre 1975 befanden sich 2 2 , 2 % der dort erfaßten Verlage im Alleineigentum des Verlegers, 4 4 , 4 % wurden in F o r m der Personengesellschaften, 3 1 , 5 % in F o r m der Kapitalgesellschaften betrieben. Alleineigentum konnte fast nur noch bei kleineren Zeitungen festgestellt werden. Zwischenzeitlich dürften weitere Verlagerungen erfolgt sein. Das in den Verlagen beschäftigte Personal war nach dem Medienbericht der Bundesregierung im Jahre 1975 folgendermaßen aufgeteilt: 2 4 8 „tätige Inhaber" standen 7274 Redakteuren, 500 Volontären und 2073 sonstigen Redaktionsangehörigen gegenüber; hinzu kamen 18 442 ständig mit redaktionellen Aufgaben betraute freie Mitarbeiter (Medienbericht, S. 3).

397

6. Abschnitt. Massenmedien (HOFFMANN-RIEM)

legerpersönlichkeiten ist nur eine Folgerung solcher Veränderungen. Für die gemeinwirtschaftlich arbeitenden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist ohnehin ein personaler Bezug einer Unternehmerfreiheit nicht festzustellen. Sollten private Rundfunkveranstalter zugelassen werden, sind ähnliche Entwicklungen wie im Pressebereich wahrscheinlich. Angesichts dieses Befundes im Realbereich der Grundrechtsnorm sind zumindest Zweifel angebracht, ob das Medieneigentum als subjektives Kommunikationsgrundrecht zu verstehen ist, das um der personalen kommunikativen Entfaltung des Eigentümers willen eingeräumt worden ist. Notwendig wird eine Differenzierung zwischen der kommunikativen Betätigung selbst und der ökonomischen Entfaltung unter Einsatz von Kommunikation. Die ökonomische Entfaltung findet ihren Schutz primär nicht in Art. 5 GG, sondern in Art. 12 bzw. 14 GG 2 8 . 5. Kommunikative Chancengleichheit — Legitimierung von kommunikativen Privilegien Sollen Bezugspunkte für die Ausgestaltung der Medienfreiheit gefunden werden, so zeigt die Rückbesinnung auf das liberale Kommunikationskonzept die Wichtigkeit der Annahme, durch den kommunikativen Austausch von Tatsacheninformationen und Wertungen werde die Möglichkeit zum Erkennen des „wahren" Geschehens und zur Einsicht in die „richtige" Entscheidung verbessert. Die prinzipielle Gleichheit der Kommunizierenden ist Voraussetzung einer solchen Funktionserwartung. Die Einbindung der Kommunikationsfreiheit in das liberale Grundrechtsverständnis und in die Gesamtverfassung, insbesondere das Demokratie-, Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip, bewirkt eine Orientierung des Grundrechts an dem normativen Grundsatz kommunikativer Chancengleichheit (-gerechtigkeit). Das Konzept kommunikativer Chancengleichheit schließt gesteigerte Kommunikationschancen einschließlich kommunikativer „Herrschaft" nicht vollständig aus. Kommunikative ,,Privilegien" sind aber legitimierungsbedürftig. Dies wird an Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts erkennbar, die sich mit Konfliktfällen und in der Folge den Grenzen des Kommunikationsschutzes befassen. So hat das Gericht liberale Grundannahmen in Aussagen über die Freiheit geistiger Auseinandersetzung aufgenommen. Diese solle auf „geistige Argumente" und auf die „Uberzeugungskraft von Darlegungen, Erklärungen und Erwägungen" gestützt29 sein. Ausdrücklich wird dabei von der „Gleichheit der Chancen beim Prozeß der Meinungsbildung" als rechtlichem Maßstab gesprochen. Konsequenterweise wird ausgeschlossen, daß die Kommunikationsfreiheit „persönliche Privilegien" absichere30. Für den Zugang zum Rundfunk müsse eine „gleiche Chance der Bewerber" gewährleistet sein31. Sowohl dem ideengeschichdichen Hintergrund der Kommunikationsfreiheit als auch der grundgesetzlichen Pluralismuskonzeption entspricht die Annahme, daß die 28

S.

W.

SCHMIDT

Die

Rundfunkgewährlei-

stung, 1980, 23, 28 ff, 64 ff m. w. Hinw. Zur Problematik s. auch DEGEN Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, 1981.

BVerfGE 25, 265. BVerfGE 20, 176. Vgl. auch BVerfGE 31, 340 (Minderheitsmeinung). « BVerfGE 57, 329; s. auch 327. 29

30

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

398

Kommunikationsfreiheit prinzipiell Privilegien feindlich konzipiert ist. Dementsprechend ist die Kommunikationsfreiheit nicht ein Instrument zur Verfestigung von Schutzräumen sozialer Macht oder zur Absicherung von Vorsprüngen aktiver und passiver Kommunikation. Sie ist vielmehr auf die prinzipielle Offenhaltung des Kommunikationsprozesses gerichtet. Dies setzt die Sicherung der kommunikativen Kompetenz derjenigen voraus, f ü r die und mit denen Kommunikation stattfindet. Die Sicherung der kommunikativen Kompetenz erscheint um so wichtiger, je mehr erkannt wird, daß der Rezipient eine aktive Rolle auch in der massenmedial ermöglichten Kommunikation spielt oder spielen kann, d. h. Art und Ausmaß der N u t z u n g und Verwertung des Mediums zum Gegenstand eigenständiger Entscheidungen macht 3 2 . Die Rechtserheblichkeit der Grundannahme kommunikativer Kompetenz endet nicht schon dort, w o faktisch eine solche Kompetenz nicht festzustellen ist oder jedenfalls Vorsprünge in den kommunikativen Chancen bestehen. Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht — im Hinblick auf eine rechtlich abgesicherte bevorzugte Position der Presseangehörigen — betont, daß die privilegierte Stellung sich an der kommunikativen Aufgabe rechtfertigen müsse und jenseits dieses Rahmens entfalle 33 . Im übrigen berechtigt (verpflichtet?) der programmatische Gehalt der Grundrechtsnorm den Gesetzgeber, auch f ü r die Schaffung der Voraussetzungen zu sorgen, die eine reale Wahrnehmung der Freiheit ermöglichen 3 4 . Insoweit geht es nicht um die Beseitigung jeglicher kommunikativer Vorrechte, wohl aber um die Herstellung eines möglichst „macht- und privilegienarmen" Kommunikationsraumes 3 5 . Der Grad der Gewährleistung der Kommunikationsfreiheit durch Gesetzgebung bemißt sich danach, wieweit die Gesetzgebung die Verwirklichung des verfassungsnormativen Leitbildes freier Kommunikation ermöglicht. Eine Grundrechtsordnung, in deren Zentrum die freie Entfaltung der Persönlichkeit und eine 50 begründete Würde des einzelnen steht 3 6 , kann sich nicht in der Verfestigung des kommunikativen Status quo erschöpfen, ohne nach dessen Inhalt zu fragen. Eher entspricht ihr die Aufgabe des Staates, die Legitimität von Privilegien in der jeweiligen historischen Situation zu überprüfen und unberechtigte Privilegien abzubauen. Dies ist allerdings kein egalitäres, auf „Gleichmacherei" zielendes Konzept. Sollen reale Möglichkeiten subjektiver Entfaltung abgesichert werden, wäre es ein Widerspruch, subjektive Entfaltungsinteressen zu nivellieren. Wohl aber geht es um die Sicherung der Fähigkeit des Kommunikators und Rezipienten, sich im Rahmen der selbst gesetzten Präferenzordnung situationsadäquat zu verhalten. Der programmatische Auftrag der Grundrechtsnorm ermächtigt den Gewährleistungsträger — in erster Linie den Gesetzgeber —, f ü r Kommunikationsbedingungen zu sorgen, die der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Kommunikationsfreiheit gerecht werden. Soweit Privilegien — etwa für Presse und R u n d f u n k — auch angesichts dieses Maßstabs

32

33

Zur entsprechenden sozialwissenschaftlichen

34

S. oben Fn. 2.

Diskussion

35

V g l . M . STOCK ( F n . 4 ) S. 3 0 4 m i t F n .

36

S. BVerfGE 7, 204f.

vgl.

K.

m. w. Hinw. BVerfGE 20, 176.

RENCKSTORF

( F n . 14)

256.

399

6. Abschnitt. Massenmedien (HOFFMANN-RIEM)

berechtigt sind, dürfen sie erhalten bleiben. Andererseits ist eine Ungleichheit der kommunikativen Entfaltungschancen im Rahmen des Möglichen abzubauen, und die kommunikative Chancengleichheit darf gegebenenfalls durch kompensatorische Bevorzugungen hergestellt werden37. Dabei bieten sich als Ansätze zur Abpufferung von Privilegien und damit zur Herstellung kommunikativer Chancengleichheit der Nichtprivilegierten vor allem Regeln über die Organisation und das Verfahren der Grundrechtsverwirklichung an. Beispiele hierfür bietet die Rechtsprechung in verschiedenen Bereichen, auch außerhalb des Art. 5 GG 3 8 . Im Bereich des Art. 5 GG sind vor allem die Rundfunkurteile als Kronzeugen einer durch Organisationsrecht angestrebten kommunikativen Entfaltungsfreiheit zu benennen. Sie erkennen an, daß die für die private und öffentliche Meinungsbildung unabdingbare Information durch Rundfunk ermöglicht und damit für den Rezipienten kommunikative Entfaltungsfreiheit gesichert werden müsse. Die Regelungsverantwortung liegt beim Gesetzgeber, der verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten vorfindet. Stets, und zwar auch im Rahmen des außenpluralen Modells (näher dazu s. unten) sind besondere Anforderungen an das Verhalten der Veranstalter, gegebenenfalls auch an die Organisation des Rundfunksystems insgesamt geboten. Verhindert werden sollen kommunikative Machtpositionen derer, die sich den Zugang zu einer Frequenz und die nötigen Finanzmittel beschaffen können, ohne daß eine hinreichende Gewähr einer vielfältigen Kommunikationsversorgung gegeben ist 39 . Andererseits ist eine Privilegierung der staatlich zugelassenen, aber besonderen Verpflichtungen unterliegenden Veranstalter nicht ausgeschlossen. Mit der Privilegierung sind organisationsrechtliche und programmbezogene Bindungen der Veranstalter gekoppelt. Die Notwendigkeit der Legitimierung und gegebenenfalls Abpufferung von Privilegien spiegelt sich auch in der jedenfalls für den Rundfunk erhobenen Forderung wider, die massenkommunikative (Rundfunk-)Freiheit als treuhänderische Freiheit zu verstehen40. Das Modell des Integrationsrundfunks ist die gesetzgeberische Antwort auf diesen Auftrag. Dem Treuhandprinzip entspricht auch das „Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung", dem die Rundfunktätigkeit verpflichtet sein soll41. Es dient der Gemeinwohlbindung der realen kommunikativen Machposition, die das Medium schafft. Ansätze zur Rechtfertigung massenmedialer Privilegien stecken auch hinter der Annahme, nach der das privatwirtschaftliche Konkurrenzprinzip bei der Presse publizistische Konkurrenz

"

Vgl. W . HOFFMANN-RIEM (Fn. 12), J Z

1977, 3 8 3 f f . ; M. STOCK (Fn. 4) Z e v K R 1975, 2 8 9 m. w. H i n w . ; DERS. „Ausgewogenheit, Sachlichkeit" — Das umstrittene Grundgesetz des westdeutschen Integrationsrundfunks, in: Medien, 1977, Heft 1, 16ff m. krit. Anm. über mögliche Mißinterpretationen des Treuhandkonzepts; U . SCHEUNER Das Rundfunkmonopol und die neuere Entwicklung des Rundfunks, in: AfP 1977, 369.

1975,

4 6 9 ff, 4 7 6 ; allgemein D . SUHR Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, S. 140;

38 39

40

W.

HOFFMANN-RIEM

Kompensatori-

sche Rechtsanwendung, in: DERS. Bürgernahe Verwaltung? 1980, S. 70ff. S. z. B. B V e r f G E 42, 64, 72ff. Vgl. die Argumentation in B V e r f G E 12, 2 6 1 ; 31, 3 2 5 f ; 57, 323, 3 2 5 ; B V e r w G E 39, 165ff. F.

OSSENBÜHL R u n d f u n k p r o g r a m m

— Lei-

stung in treuhänderischer Freiheit, in: D Ö V

41

B V e r f G E 12, 2 6 3 ; 57, 325.

400

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

sichern könne, die ihrerseits publizistische Vielfalt und damit Machtmäßigung bewirke 42 . Konsequent ist die Folgerung, daß der Staat zur Gefahrenabwehr aufgerufen sei, wenn Meinungsmonopole das freie Pressewesen zu beeinträchtigen drohen 43 . Die Ankoppelung des Pressewesens an das Marktmodell steht unter dem Vorbehalt der machtmäßigenden Funktion des Marktmechanismus. Marktversagen darf dem Staat nicht gleichgültig sein 44 . Allgemeiner formuliert läßt sich feststellen, daß die kommunikative Ausgestaltung der Medienfreiheit an die realen Bedingungen der Ermöglichung chancengleicher Kommunikations- und Rezeptionsteilhabe gekoppelt ist. Dieser Grundsatz wird auch in der vom Bundesverfassungsgericht betonten Gewährleistungspflicht und in der Folge der Rechtfertigung des vom Gesetzgeber eingerichteten Sendemonopols öffentlich-rechtlicher Veranstalter sichtbar: Die Begrenzungen der Verfügbarkeit von Frequenzen und die Höhe des erforderlichen finanziellen Aufwandes sind Realfaktoren, die in der Sicht des Gerichts eine „Sondersituation" schaffen können, die „besondere Vorkehrungen zur Verwirklichung und Aufrechterhaltung der in Art. 5 G G gewährleisteten Freiheit des Rundfunks" erfordere 45 . Diese Realfaktoren sind nicht als solche wichtig, sondern in ihrer Bedeutung für die Ermöglichung der Medienfreiheit. Ein — gegebenenfalls inhaltlich modifizierter — Gewährleistungsauftrag bleibt auch, wenn andersartige Gefährdungen der kommunikativen Chancengleichheit bestehen, so etwa in Folge programmbezogener Auswirkungen kommerzieller Finanzierungsformen oder durch Monopolisierungsgefahren eines privaten Rundfunks 46 . Solche — und andere 4 7 — Realfaktoren sind in ihrer Auswirkung auf die Bildung kommunikativer Privilegien zu analysieren. Soweit sie kommunikative Privilegien ermöglichen, müssen diese an der Funktion der Kommunikationsfreiheit legitimierbar sein oder aber abgebaut werden. Die jeweiligen Strukturentscheidungen für Presse und Rundfunk sind nicht Selbstzweck und daher nicht als solche unveränderbar. Vielmehr ist der Gesetzgeber zur laufenden Uberprüfung berechtigt und verpflichtet, ob die jeweilige Struktur der Kommunikationsverfassung in Anbetracht der ökonomischen und technologischen Bedingungen, der Rezeptions- und Kommunikationsgewohnheiten sowie der Wirkungen des Mediums kommunikative Chancengleichheit ermöglicht oder gefährdet 48 . Ferner ist zu prüfen, ob publizistische Vielfalt zu erwarten ist, ob bestimmte

42

43

44

Dazu vgl. BVerfGE 12, 261; 20, 175; E.-J.

45

MESTMÄCKER ( F n . 2 7 ) S. 2 4 ff.

44

BVerfGE 20, 176. Vgl. auch für den Rundfunk BVerfGE 57, 323. Allgemein dazu s. LERCHE (Fn. 21); DITT-

47

RICH ( F n . 2 1 ) ; MESTMÄCKER ( F n . 2 7 ) ;

W.

KUNERT Pressekonzentration und Verfassungsrecht, 1971; B. LANGE Pressefreiheit und Pressekonzentration, 1972; P. ULMER Schranken zulässigen Wettbewerbs marktbeherrschender Unternehmen, 1977; W . MöSCHEL Pressekonzentration und Wettbewerbsgesetz, 1978.

48

BVerfGE 12, 261. Vgl. BVerfGE 57, 322 sowie sehr deutlich BVerwGE 39, 159ff, 167. Dazu vgl. SCHMIDT (Fn. 28) 79ff, 88ff; D. STAMMLER Kabelkommunikation und Rundfunkorganisation, in: AfP 1978, 123 ff, 125ff; W. HOFFMANN-RIEM Rundfunkfreiheit durch Rundfunkorganisation, 1979, S. 34 ff. Allgemein zur gesetzlichen Uberprüfungspflicht s. BVerfGE 49, 132f; 50, 290.

6. Abschnitt. Massenmedien (HOFFMANN-RIEM)

401

Interessen bevorzugt werden oder ob sogar ein Mißbrauch zum Zwecke einseitiger Einflußnahme zu befürchten ist. Gefordert ist eine erheblich komplexere Analyse als nur der Blick auf die Zahl verfügbarer Rundfunkfrequenzen oder die Höhe des benötigten Finanzaufwandes. Entsprechend komplex hat die Analyse im Pressebereich anzusetzen. Die gegenwärtige Entscheidung für eine privatwirtschaftlich-privatrechtliche Struktur hat in weiten Bereichen zu einer Vermachtung unter Zurückdrängung ökonomischen und publizistischen Wettbewerbs geführt 49 . Geboten ist daher die Prüfung, ob dadurch Gefahren für die kommunikative Chancengleichheit ausgelöst werden. 6. Kommunikationsfreiheit als „Rundumfreiheit" Allgemein ist anerkannt, daß sich mit der erwünschten Offenheit des Kommunikationsprozesses eine staatliche Kontrolle und Sanktionierung bestimmter Kommunikationsinhalte nicht verträgt. Das Zensurverbot (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) ist nur eine Teilausprägung dieses Gedankens. Selbst wenn der Staat Grund zur Annahme hätte, daß die Bürger die „Wahrheit" nicht vertrügen oder nicht „reif" zur offenen Kommunikation wären, dürfte er die freie Kommunikation nicht durch eine Inhaltskontrolle verhindern. Verkürzt wäre es jedoch, nur auf den Staat als potentiellen Bedroher kommunikativer Freiheit zu sehen. Die Offenheit des Kommunikationsprozesses kann auch auf andere Weise, insbesondere durch andere Machtträger, gefährdet werden 50 . Das verfassungsnormative Leitbild des handlungskompetenten („mündigen") Bürgers51 ist vielmehr auf Rahmenbedingungen angewiesen, die es dem Bürger real ermöglichen, seine kommunikativen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Zugänglichkeit der relevanten und vielfältigen Informationen kann gefährdet sein, wenn einzelne Interessenträger eine bevorzugte Nutzungschance haben oder wenn ihnen die Filterung der über Massenmedien verbreiteten Kommunikationsinhalte ermöglicht ist. Kommunikationsdefizite widersprechen dem normativen Konzept, einerlei wer sie verursacht. Die staatliche Gewährleistungsaufgabe umfaßt daher auch die Sorge für ein Kommunikationssystem, das von einseitiger Einflußnahme freigehalten wird und umfassend kommunikative Entfaltungschancen sichert („Rundumfreiheit") 52 . Nicht nur staatliche Bevormundung, sondern jedwede Art der Bevormundung ist aus der Kommunikationsverfassung fernzuhalten. Regelungstechnisch geschieht dies allerdings nicht über die Erstreckung des in Art. 5 Abs. 1 G G enthaltenen Abwehrschutzes der Kommunikationsfreiheit direkt 49

50

Vgl. auch die - betont zurückhaltenden — Äußerungen des BVerfG zur Situation im Pressebereich in: E 57, 322f. H . EHMKE Verfassungsrechtliche Fragen einer Reform des Pressewesens, in: Festschrift für A. Arndt, 1969, S. 83ff; SCHEUNER (Fn. 6), S. 12f, 73, 76f. Allgemein s. E . - W . BÖKKENFÖRDE Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher Macht, in: POSSER/WASSER-

MANN Freiheit in der sozialen Demokratie, 1975, S. 69 ff. 51

52

W.

HOFFMANN-RIEM

Medienfreiheit,

in:

DERS. Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. II, Verfassungs- und Verwaltungsrecht, 1977, S. 56f. M. STOCK Neues über Verbände und Rundfunkkontrolle, in: A ö R 104 (1979), 30.

402

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

gegen nichtstaatliche Träger kommunikativer Macht. Der „Rundumschutz" bedarf vielmehr der gewährleistenden Tätigkeit des Staates. Dieser soll durch seine Gesetzgebung eine Ausgestaltung des Freiheitsbereichs vornehmen, durch die Sicherungen gegen die privilegierten Träger politischer, ökonomischer oder kultureller Macht geschaffen werden, so daß kommunikative Chancengleichheit auch real ermöglicht wird 53 . Dabei muß der Staat bedacht sein, durch seine Regelungen nicht seinerseits die kommunikative Chancengleichheit zu gefährden (Gebot der Staatsfreiheit). Soweit grundrechtsrelevante Gesetze erlassen sind, wirkt sich der Grundrechtsschutz u. a. mit Hilfe des Instituts der mittelbaren Grundrechtswirkung auch bei der Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts aus. 7. Zur „öffentlichen Aufgabe" der Medien

Nach diesen Vorklärungen ist es auch möglich, den Stellenwert der in Rechtsprechung und Literatur häufigen Bezugnahme auf die , , ö f f e n t l i c h e Aufgabe"54 der Medien herauszuarbeiten. Der Begriff dient als Kürzel für die Einbindung der Medienbetätigung in die Staatszielbestimmungen der Demokratie, Rechts-, Sozialund Kulturstaatlichkeit. Insofern bezeichnet er mehr als nur eine (rechtlich belanglose) Erwartung an den „Freiheitsgebrauch" oder eine rechtlich irrelevante „soziologische" Kategorie55. Auf der anderen Seite bezeichnet die Redeweise nicht ein Verhaltensprogramm, etwa eine rechtliche Verpflichtung der einzelnen Medien zur Präsentation bestimmter Medieninhalte oder auch nur zur Versorgung der Rezipienten mit Informationen56. Auch hängt der Grundrechtsschutz der einzelnen Träger der Medienfreiheit nicht von der Erfüllung der „öffentlichen Aufgabe" ab. Vielmehr handelt es sich um eine programmatische Maßstabsformel, die einen verfassungsnormativ erwünschten Zustand kennzeichnet. Der Maßstab wird nur im Rahmen der ohnehin bestehenden Regelungskompetenzen relevant. Seine Bedeutung zeigt sich z. B. bei einer (gerichtlichen) Entscheidung über die Kollision der Ausübung der Medienfreiheit mit anderen Grundrechten. Die Lösung des Kollisionsfalles fordert eine Abwägung bzw. die Herstellung praktischer Konkordanz. Dabei wird der Rang der Medienfreiheit im Verhältnis zum kollidierenden Rechtsgut unter Rückgriff auf das konkret verfolgte Interesse, die Art und Weise der Gestaltung und die erzielte oder voraussehbare Wirkung bestimmt57. Es soll berücksichtigt werden, ob das Medium „im konkreten Fall eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse ernsthaft und sachbezogen erörtert und damit den Informationsanspruch des Publikums erfüllt

53

54

Vgl. zu diesem Konzept BÖCKENFÖRDE (Fn. 50) S. 7 7 f f , 82, 87. HESSE (Fn. 8) Rdn. 357 hält zutreffend sogar eine direkte A n w e n dung der Grundrechte gegen Träger wirtschaftlicher oder sozialer Macht für möglich. Vorauszusetzen ist allerdings der Ausnahmefall, daß anderenfalls die grundrechtliche Freiheit nachhaltig gefährdet würde. Vgl. B V e r f G E 12, 2 4 4 f f ; 20, 175.

55

56

57

S. aber CZAJKA (Fn. 21) S. 1 4 2 f f ; P. DAGTOGLOU Wesen und Grenzen der Pressefreiheit, 1963, 1 6 f f , 2 3 f f ; E. FORSTHOFF Der Verfassungsschutz der Zeitungspresse, 1969, 16. Eine solche Pflicht kann aber gesetzlich begründet sein, so f ü r die Rundfunkanstalten als Korrelat ihrer Privilegierung. S. Fn. 9.

6. Abschnitt. Massenmedien (HOFFMANN-RIEM)

403

und zur Bildung der öffentlichen Meinung beiträgt" 58 . Insofern kann die Formel mittelbar auch eine verhaltensbeeinflussende Orientierung für die Medienbetätigung schaffen. Vor allem aber bezeichnet die Erfüllung der „öffentlichen Aufgabe" einen Zielpunkt der gesetzlichen Ausgestaltung des Medienwesens59. Soweit der Gesetzgeber ausgestaltende Regeln erlassen darf, bietet die Befriedigung des Informationsbedarfs der Allgemeinheit einen Orientierungspunkt und gleichzeitig einen Ansatz zur Legitimierung von Privilegien. Der Gesetzgeber ist im Rahmen der verfügbaren Regelungskompetenzen und -alternativen befugt — wenn nicht gar verpflichtet —, diejenige zu wählen, die eine Wahrnehmung der „öffentlichen Aufgabe" ermöglicht bzw. deren verbesserte Erfüllung erleichtert. Ist dazu die Anerkennung oder Schaffung kommunikativer Privilegien sinnvoll, so sind sie legitimiert. Ihr Ausmaß muß aber mit der Sicherung der öffentlichen Aufgabe korrelieren. Dabei ist die öffentliche Aufgabe nicht nur an dem gemeinschaftsbezogenen Prozeß öffentlicher Willensbildung orientiert, sondern auch an der Auswirkung der Kommunikation auf den einzelnen. Verankert ist eine an den verfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidungen ausgerichtete „Medienverantwortung", die neben der umfassenden Gemeinwohlbindung auch die Auswirkung der Medienbetätigung auf den einzelnen einbezieht 60 . 8. Art. 5 GG als Grundlage unterschiedlicher kommunikativer Freiheiten Nach diesen konzeptionellen Vorklärungen kann versucht werden, Aussagen über die Interpretation von Art. 5 Abs. 1 G G , insbesondere das Verhältnis von Satz 1 und 2, zu formulieren. Dabei kann zunächst an allgemein anerkannte Feststellungen angeknüpft werden. a) Meinungs-

und

Informationsfreiheit

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 G G verankert ein weitreichendes Kommunikationsgrundrecht in der Form eines Menschenrechts. Zum einen werden die Äußerung und Verbreitung von Meinungen, also die Aktivitäten des Kommunikators, geschützt. Der Meinungsbegriff erfaßt dabei nicht nur wertende Stellungnahmen i. w. S., sondern auch Tatsachenmitteilungen. Geschützt ist die Übermittlung von Informationen, einerlei ob sie der eigenen Sphäre entstammen oder als „fremde" weitergegeben werden. Die Reichweite des Grundrechtsschutzes ist im übrigen unabhängig von der Wahl der Ausdrucksform der Kommunikation (Wort, Schrift, Bild u. a.). Die adressatenlose und niemandem zugängliche Äußerung bedürfte keines besonderen Schutzes. Die von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 G G erfaßte Kommunikation meint eine Form subjektiver Entfaltung, die auf ein Gegenüber — den Rezipienten — angewiesen ist. Geschützt ist dementsprechend auch die Möglichkeit, den Adressaten 58

BVerfGE 34, 283.

59

W . MALLMANN Pressepflichten und öffentliche Aufgabe der Presse, in: J Z 1 9 6 6 , 6 2 9 ; STAMMLER ( F n . 6 ) S. 2 1 5 . Z u r Diskussion

vgl. auch die Beiträge in A f P 1 9 8 2 , 16 ff, 2 3 ff. 60

Vgl. B V e r f G E 3 5 , 2 2 6 f f . D a z u s. auch die Beiträge in: KÜBLER ( H r s g . ) Medienfreiheit und Medienverantwortung, 1 9 7 5 .

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

404

zu erreichen und auf ihn mit Hilfe der Äußerung zu wirken. Das Grundrecht des Kommunikators könnte allerdings leerlaufen, wenn nicht auch der Adressat das Recht hätte, die geäußerte/verbreitete Information aufzunehmen (zu hören, zu lesen u. a.). Die Rezipientenfreiheit ist ein eigenständiges Recht und nicht nur Reflex der Kommunikatorfreiheit61. Die Aufnahme von Kommunikationsinhalten ist als Grundlage der individuellen und gesellschaftlichen Orientierung ein elementares Bedürfnis, dessen gleichberechtigter Schutz erst eine prinzipiell gleiche Kommunikation der Bürger ermöglicht. Für die Freiheit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten, ist das Rezipientengrundrecht ausdrücklich im Verfassungstext verankert. Die Freiheit, eine nur dem Rezipienten zugängliche Quelle zu nutzen, etwa dem Freund zuzuhören, ist in erweiternder Auslegung des Begriffs der allgemeinen Zugänglichkeit bzw. unter Verwendung des argumentum a maiore ad minus ebenfalls als subjektives Recht des Rezipienten geschützt62. Kommunikation zielt auf die Verbreitung, häufig den Austausch von Informationen und die Ermöglichung der Orientierung/Meinungsbildung durch das Gegenüber. Kommunikation erfolgt regelmäßig nicht punktuell, sondern ist ein Prozeß. Typisch ist die wechselseitige Übernahme der Rolle des Kommunikators und Rezipienten. Geschützt ist der Prozeß des Kommunizierens im Ablauf wie im jeweiligen Ergebnis. b)

Medienfreiheit

Außerhalb der direkten personalen Kommunikation ist der Einsatz besonderer Medien der Kommunikation unabdingbar. Der Schutz von Massenmedien ist als Absicherung der Preß-Freiheit ein überkommenes grundrechtliches Schutzgut. Die Rundfunk- und Filmfreiheit sind im 20. Jahrhundert hinzugekommen. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG wird weit in dem Sinne verstanden, daß auch neue massenmediale Kommunikationsmittel in seinen Schutzbereich einbezogen werden, etwa der Fernsehfunk, und zwar auch unter Nutzung neuer Übertragungstechniken wie Kabel- und Satellitenfunk und unter Ausdehnung der Nutzungsinhalte. Die Weiterung ist am Konzept der A/ BVerfGE 8, 122, 123.

180 18

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

858

aufgaben erschlossen und verwirklicht 182 . Gleichwohl ist die Sorge nicht von der Hand zu weisen, daß der kommunale Handlungs- und Entfaltungsspielraum eher schrumpft und das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstverwaltungsrecht Gefahr läuft, allmählich zu einem Programmsatz zu werden 183 . Die Gründe dafür werden in einem Übermaß an gesetzlichen Regelungen und Verwaltungsvorschriften, in der zu hohen Planungsdichte der höheren Ebenen, mit der zunehmend alle Lebensbereiche erfaßt werden, und in der finanziellen Abhängigkeit der Kommunen gesehen 184 . Die in den vergangenen 15 Jahren vorgenommenen Gebietsreformen vermögen an diesem Befund nichts zu ändern. Sie wurden mit dem Ziel durchgeführt, durch eine Maßstabsvergrößerung Kommunalverwaltungen zu schaffen, deren Leistungsfähigkeit den heutigen Anforderungen des sozialen Rechtsstaats genügt 185 und den tiefgreifenden Veränderungen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse Rechnung trägt 186 . Die kommunale Gebietsreform sollte der Stärkung der Selbstverwaltung dienen. Ob dieses Ziel wirklich erreicht wurde, erscheint aus heutiger Sicht nicht mehr unumstritten. Denn zu einer starken Selbstverwaltung gehört eben nicht nur die administrative Effektivität, sondern auch die Bürgernähe ihrer Organe und die Verwurzelung des Bürgers in überschaubaren, historisch gewachsenen Strukturen, mit denen er sich jedenfalls dann zu identifizieren vermag, wenn er das selbst will. In dieser Hinsicht ist nicht nur im Falle des Zusammenschlusses des Raums Gießen/Wetzlar ein zu hoher Preis gezahlt worden. Zu denken gibt im Nachhinein ferner der nach Zehntausenden zählende Aderlaß an ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürgern, die durch die Gebietsreform aus ihren Funktionen als Gemeinderäte und Kreisräte verdrängt wurden. Für die Zukunft kommt es darauf an, daß sowohl die gesetzgebenden Körperschaften wie die Organe der Exekutive in Bund und Ländern das verfassungsrechtlich verbürgte Recht der kommunalen Selbstverwaltung schützen, den für ihre Organe notwendigen Handlungs- und Entscheidungsspielraum sichern und Eingriffe in das Selbstverwaltungsrecht nur vornehmen, soweit dies aus Gründen eines dringenden 182 R WIMMER These 1 1 zum Referat auf dem 5 3 . D . J . T . 1980 „Sind weitere rechtliche Maßnahmen zu empfehlen, um den notwendigen Handlungs- und Entfaltungsspielraum der kommunalen Selbstverwaltung zu gewährleisten?" Verhandlungen des 53. Deutschen Juristentages, Bd. II, 1980, S. N 2 7 f f , N 56. 183

V g l . z . B . F . - L . KNEMEYER D i e

Gewährlei-

stung des notwendigen Handlungs- und Entfaltungsspielraums der kommunalen Selbstverwaltung, in: N J W 1980, 1140/1141 sowie auch G . PÜTTNER Handlungs- und Entfaltungsspielraum der kommunalen Selbstverwaltung, in: ZRP 1980, 2 2 7 sowie das

Gutachten

von

VON MUTIUS f ü r

die

kommunalrechtliche Abteilung des 53. D.J.T. „Sind weitere rechtliche Maßnah-

men zu empfehlen, um den notwendigen Handlungs- und Entfaltungsspielraum der kommunalen Selbstverwaltung zu gewährleisten?", 1980, S. E 5 7 f f wie auch These II v o n WIMMER. S i e h e i m ü b r i g e n M . ROMMEL

184

185

Zur Lage der Kommunalverwaltung nach 30 Jahren Grundgesetz, in: D Ö V 1969, 362/ 364. B. MERK These I 4 zum Referat in der K o m munalrechtlichen Abteilung des 53. D . J . T . ; aaO (Fn. 182) S. N lOff, N 2 4 . Gutachten

VON MUTIUS a a O

(Fn. 183)

S.

E 60 f. 186 Vgl. z . B . den Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Aachen, LTDrucks. N W 7/830, S. 10.

1. Abschnitt. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes (VOGEL)

859

Bundes- oder Landesinteresses geboten ist 1 8 7 . Dabei sollte die Hoffnung nicht so sehr auf die von der Enquete-Kommission Verfassungsreform vorgeschlagene Änderung des Art. 72 Abs. 2 N r . 3 G G gesetzt werden 1 8 8 . Wichtiger ist die selbstverwaltungsfreundliche Einstellung aller Beteiligten in Staat und Gesellschaft. Sie dürfte auch am ehesten mit dem föderativen Gedanken im Einklang stehen. Zur Stärkung ihrer finanzverfassungsrechtlichen und finanzwirtschaftlichen Position sind von den Städten, Kreisen und Gemeinden mehrere Wünsche und Vorschläge an die Enquete-Kommission herangetragen worden. Sie hat letztlich nur einen dieser Wünsche aufgegriffen und empfohlen, Art. 106 Abs. 5 G G so zu ergänzen, daß der Landesgesetzgeber einen Teil des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer den Kreisen zufließen lassen kann. Dadurch soll das in der Kreisumlage zum Ausdruck kommende Verhältnis zwischen Kreisen und Gemeinden stärker der veränderten Position angepaßt werden, welche die Kreise durch die Kreisreform erlangt haben 1 8 9 . Über die Ergebnisse der Finanzreform des Jahres 1969 hinaus, die den Gemeinden die Einkommensteuerbeteiligung und die sog. Realsteuergarantie in Art. 106 Abs. 6 G G gebracht hat, werden also zusätzliche Maßnahmen zur Stärkung der Finanzkraft der Gemeinden nicht empfohlen. Eine solche Stärkung hat indes das Steueränderungsgesetz 1979 1 9 0 durch die anläßlich der Abschaffung der Lohnsummensteuer vorgenommene Erhöhung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer von 14 auf 15 v . H . sowie die Herabsetzung des Vervielfältigungsfaktors der an den Bund und das jeweilige Land abzuführenden Gewerbesteuerumlage von 120 auf 80 v . H . gebracht.

IX. Neugliederungsfragen Der Grundgesetzgeber ging bei der Schaffung der bundesstaatlichen Ordnung von den vorhandenen Ländern aus; das spiegelt sich im Wortlaut des Art. 23 G G wieder. Diese Gliederung, über die oben (Seite 812f) näher berichtet worden ist, erschien ihm unbefriedigend. Er stellte ihr deshalb in Art. 29 Abs. 1 (alter und gegenwärtiger Fassung) als anzustrebendes Ziel die Bildung von Ländern gegenüber, die „nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können". Zugleich sicherte er — soweit das rechtlich möglich war — die Erreichung dieses Zieles, indem er den zuständigen Verfassungsorganen den bindenden Auftrag zu dieser Neugliederung erteilte und die Maßstäbe nannte, denen sie genügen muß.

187 Vgl auch die Beschlüsse der kommunalrechtlichen Abteilung des 5 3 . D . J . T . ; a a O (Fn. 182) S. N 229ff. 188 D i e Empfehlung lautet: „ D e r Bund ist in diesem Bereich zur Gesetzgebung befugt, wenn und soweit die für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erforderliche Rechtseinheit, die

189 190

Wirtschaftseinheit oder die geordnete Entwicklung des Bundesgebietes nur durch eine bundesgesetzliche Regelung zu erreichen ist." Schlußbericht, Zur Sache (Fn. 68) S. 172ff. V o m 30. 11. 1978, B G B l . I S. 1879 (Art. 13: Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes).

860

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Die Erfüllung dieses verfassungsrechtlichen Auftrags, der auf eine organisch wohlausgeglichene gebietliche Neuordnung des ganzen Bundesgebietes (in seiner jeweiligen Ausdehnung) abzielte, setzte allerdings eine Gesamtkonzeption voraus. Es liegt in der Natur der Sache, daß wegen der engen Verflechtung der zu berücksichtigenden vielfältigen Gesichtspunkte die Ordnung in irgendeinem Teil des Gesamtraumes von der Ordnung in den übrigen Teilen abhängig ist und ihrerseits auf die Ordnung dieser übrigen Teile einwirkt 1 9 1 . Zur Vorbereitung einer derartigen Konzeption berief die Bundesregierung 1952 und 1970 Sachverständigenkommissionen (die erste Kommission unter Vorsitz des früheren Reichskanzlers LUTHER, die zweite Kommission unter Vorsitz des Staatssekretärs a . D . Prof. ERNST). Während die Luther-Kommission eine umfassende Neugliederung nicht für notwendig erachtete, empfahl die zweite Kommission das Bundesgebiet in 5 oder 6 Länder zu gliedern 1 9 2 : Aus den 4 norddeutschen Ländern Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen sollten entweder ein einziges Bundesland N o r d oder je ein Nordost-Staat (Schleswig-Holstein, Hamburg linkes Elbe-Ufer) und ein Nordwest-Staat (Niedersachsen, Bremen) gebildet werden. Im Mittelwesten war an eine Vereinigung von Rheinland-Pfalz und Hessen gedacht, entweder einschließlich der Region Saar-Pfalz-Mannheim-Heidelberg oder ausschließlich derselben, die dann Baden-Württemberg zuzuschlagen wäre. Die Bundesregierung gelangte zwar zu der Beurteilung, daß die Vorschläge der Sachverständigenkommission den Richtbegriffen des Art. 29 Abs. 1 G G entsprachen und für die Verwirklichung einer zeitgerechten Gliederung des Bundesgebietes geeignet wären. Die 25 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Realitäten erschienen ihr jedoch stärker. Die nach dem 2. Weltkrieg entstandenen Länder hatten in Jahrzehnten eigener Staatlichkeit eine beachtliche staatliche und politische Identität gewonnen. Ihre Beeinträchtigung durch eine Neugliederung hätte nur dadurch legitimiert werden können, daß anders die Leistungsfähigkeit der in Frage stehenden Regionen zur Erfüllung der ihnen zufallenden Aufgaben in ihrer Gesamtheit nicht mehr zu sichern gewesen wäre. Es kam hinzu, daß eine Neugliederung nicht zuletzt eine — politisch kaum durchsetzbare — Neuverteilung der Stimmen im Bundesrat erforderlich gemacht hätte. Die Bundesregierung schlug deshalb eine Änderung des Art. 29 G G 1 9 3 vor, die unter anderem den

1 9 1 Vgl. B V e r f G E 5, 34/39f. 192 Vgl. zur Situation nach Vorliegen des ErnstBerichtes und seiner öffentlichen Diskussion die Beiträge in Heft 1/1974 der D Ö V : E. MÜLLER Der Stand der Neugliederungsdiskussion, S. 1; F. RIETDORF Die Neuordnung des Bundesgebietes — eine Existenzfrage des föderativen System, S. 2; G . BOVERMANN Bundesländer oder Provinzen? — Neugliederung als Angelpunkt, S. 6; P. FEUCHTE Die Neugliederung im Rahmen

der

bundesstaatlichen

W . ERNST

193

WOZU

Probleme,

Neugliederung?,

S. 9; S. 12;

W. WEBER Zum Bericht der Sachverständigen-Kommission für die Neugliederung des Bundesgebietes, S. 14; U . SCHEUNER Eine zweckrationale Gestaltung der föderalen Ordnung, S. 16. Gesetz vom 2 3 . 8 . 1 9 7 6 , B G B l . I, S . 2 3 8 1 ; vgl. zur Geschichte des Art. 29 G G im übrigen

(Fn.

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN 119)

Art.

29

Rdn. l f f .

G G

1. Abschnitt. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes (VOGEL)

861

bis dahin in Art. 29 Abs. 1 G G enthaltenen stringenten Auftrag zur Neugliederung in eine fakultative Regelung umwandelte. Ein Neugliederungsgesetz nach Art. 29 G G ist sonach — ungeachtet einer Reihe durchgeführter Volksbegehren und Volksentscheide 194 — bisher nicht ergangen. Die territoriale Änderung der Struktur des Südwestraumes beruhte auf Art. 118 G G . Wenn es auch noch im Jahre 1969 ein guter Kenner unserer bundesstaatlichen Ordnung 1 9 5 als im lebenswichtigen Interesse unserer bundesstaatlichen Ordnung bezeichnet hatte, daß „endlich in der nächsten Wahlperiode des Bundestages eine vernünftige Neuordnung des Bundesgebietes herbeigeführt wird, durch die Länder entstehen, die in ihrer räumlichen Abgrenzung, ihrer Bevölkerungszahl und ihrer Finanz- und Wirtschaftskraft gleichgewichtiger sind als die jetzigen Länder", so kann doch die Neugliederungsdiskussion gegenwärtig als vorläufig abgeschlossen bezeichnet werden. Art. 29 Abs. 1 G G in der heute geltenden Fassung enthält zwar eine grundsätzliche Aussage des Grundgesetzes zur Frage der Neugliederung, trifft diese Aussage aber in prinzipiell anderer Weise als bisher. An die Stelle der bisherigen Verpflichtung ist eine bloße Befugnis getreten. Den Rahmen für eine etwaige Neugliederung geben bestimmte Leitbegriffe, nämlich die landmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit sowie die Erfordernisse der Raumordnung und der Landesplanung. Im Vordergrund steht, daß bei der Neugliederung Länder von solcher Größe und Leistungsfähigkeit entstehen, die die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. Die Ausgestaltung des Art. 29 G G im einzelnen stellt sicher, daß der Wille der betroffenen Bevölkerung für künftige Neugliederungsmaßnahmen Berücksichtigung findet. Zur Neugliederung der Bundesländer wäre danach ein Bundesgesetz erforderlich, das durch Volksentscheid der durch die Gebietsänderung betroffenen Bevölkerung bestätigt werden müßte. Die betroffenen Länder sind zu hören. Kleinere Änderungen des Gebietsbestandes der Länder können, außer durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates, auch durch Staatsverträge der beteiligten Länder vorgenommen werden (Art. 29 Abs. 7 GG). Im Lichte der dargestellten Entwicklung der Neugliederungsproblematik erscheint es heute nicht mehr treffend, die Bundesrepublik im Hinblick auf Art. 29 G G in Verbindung mit Art. 20 und Art. 79 Abs. 3 G G als einen hinsichtlich seiner Gliederung „labilen Bundesstaat" 196 anzusehen. Es trifft zwar nach wie vor zu, daß die einzelnen Länder der Bundesrepublik weder in ihrer Existenz noch in ihrem Gebietsstand gegen Eingriffe und Veränderungen durch die Bundesgewalt verfassungsrechtlich geschützt sind. Gleichwohl kommt die Bezeichnung „stabiler Bundesstaat" den jetzigen rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten näher.

194 YG| hierzu näher H . - U . EVERS in: BK Art. 29 (Drittb. 1980) Rdn. 10ff, 16ff.

195

196

H. SCHÄFER Die bundesstaatliche Ordnung (Fn. 13) S. 429. So BVerfGE 5, 34/38.

862

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

X . Würdigung und Ausblick Das bundesstaatliche Prinzip ist — unbeschadet nicht unwesentlicher Änderungen seiner konkreten Ausgestaltung — auch als solches im 4. Jahrzehnt der Bundesrepublik unangefochten. Sowohl die Verfassungstheorie als auch die politische Praxis machen das Prinzip zu einem essentiellen Bestandteil unserer Verfassungsordnung und unserer politischen Kultur. Es wird zu Recht als besonderes Positivum auch stets bei Vergleichen mit zentralistisch organisierten Staaten hervorgehoben 1 9 7 . Dem allen stimmt sicherlich auch eine ganz breite Mehrheit der Bevölkerung zu. Die Bejahung des Prinzips verbindet sich allerdings mit zunehmenden Klagen über wirkliche oder vermeintliche Fehlentwicklungen, wobei je nach dem eigenen Standort einmal die Sorge über den wachsenden Bedeutungsverlust der Länder, das andere Mal die Sorge über die Schwerfälligkeit des Entscheidungsprozesses im Gesamtstaat und dessen finanzielle Schwäche im Vordergrund steht. Auch gerät der Wunsch nach Erhaltung von Vielfalt und Eigenständigkeit häufiger in Widerstreit mit der Bereitschaft, selbst die Auswirkungen solcher Vielfalt — etwa bei Ortswechseln über Ländergrenzen hinweg — in Kauf zu nehmen. Eine weitere Problematik ergibt sich aus dem allmählichen Hinzutreten der europäischen Ebene, die insgesamt kontinuierlich Aufgaben und Kompetenzen der Länder und des Gesamtstaats an sich zieht. An die Integrationsfähigkeit unseres Verfassungssystems werden deshalb in der Zukunft auch hinsichtlich der Bewahrung und Fortentwicklung der bundesstaatlichen Ordnung erhebliche Anforderungen gestellt werden. Die Zielrichtung der Fortentwicklung wird dabei nicht zuletzt davon abhängen, ob als gesellschaftlicher Erfolgsmaßstab weiterhin das quantitative, am Bruttosozialprodukt und der ihm verwandten sog. Effektivität ablesbare Ergebnis dominiert oder ob diesem Maßstab zunehmend qualitative Elemente eingefügt werden. Geschieht letzteres, so werden sich die meisten Spannungen wohl mit Hilfe der vorhandenen Institute, zu denen auch das durchaus praktikable Institut der Gemeinschaftsaufgaben 1 9 8 gehört, ohne einschneidende Kompetenzveränderungen von Fall zu Fall auflösen lassen. Im übrigen sollte nicht vergessen werden, daß ein Mindestmaß an Spannungen für das bundesstaatliche Prinzip geradezu konstitutiv ist.

197 Vgl. beispielsweise die Rede von Bundeskanzler H . SCHMIDT in der 494. Sitzung des Bundesrates am 19. 12. 1980 (Fn. 39) S . 1137.

198

Vgl. auch F . SCHÄFER Bundesstaatliche O r d nung als politisches Prinzip, in: Schwerpunkte im Kräftefeld von Bund und Ländern (Jahrbuch 1974), S. 1/7.

2. Abschnitt

Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes FRANZ KLEIN

I. Einführung 1. Begriffliche Klärung Die Finanzverfassung ist eine Kernfrage des bundesstaatlichen Aufbaues 1 . Sie sichert die Grundlagen für das Tätigwerden der verschiedenen Träger der öffentlichen Aufgaben und damit für das ganze Wirtschafts- und Sozialgefüge 2 . Der Begriff Finanzverfassung fehlt im Grundgesetz; es kennt jedoch einen eigenen Abschnitt X über das Finanzwesen 3 . Der Begriff Finanzverfassung ist erst nach 1949 zu einem festen Bestandteill des staatsrechtlichen Schrifttums geworden. Im weiteren Sinne soll darunter in Übereinstimmung mit STERN4 „der Inbegriff jener Verfassungsnormen bezeichnet werden, die sich auf die öffentliche Finanzwirtschaft beziehen, d.h. auf die staatliche Finanzhoheit einschließlich ihrer bundesstaatlichen Aufteilung, das staatliche Haushaltswesen einschließlich seiner Inpflichtnahme für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht und die Grundordnung des Steuerwesens". O b man in den Begriff des Finanzwesens auch die Ordnung des Geldwesens einbezieht, ist strittig 5 . Sicher hat die Bundesbank auch Aufgaben auf dem Gebiete des Finanzwesens, z . B . die Sorge für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, zu erfüllen. Das Geldwesen ist nach dem Grundgesetz jedoch (Artikel 73 N r . 4 G G ) nicht verfassungsrechtlich geregelt, sondern der einfachen Gesetzgebung überlassen. „Finanzverfassung im engeren Sinne ist die im Grundgesetz geregelte Grundordnung der staatlichen Finanzhoheit — ausgeübt durch Legislative, Exekutive und Judikative —, ihrer bundesstaatlichen Aufteilung und ihrer kommunalen Gewährleistungen sowie das Steuerwesen" 6 . Unter Haushaltsverfassung sind die verfas1

W. GERLOFF Die Finanzgewalt im Bundesstaat, 1948 S. 28; K. STERN Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II S. 1054;

B.

5

S p . 6 8 1 ; verneinend K . ULSENHEIMER U n -

tersuchungen zum Begriff „Finanzverfassung", 1969 S. 132; H . J . FISCHER Parlamentarischer Rat und Finanzverfassung, Diss. Kiel 1970 S. 16.

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN

GG-Kommentar, 5. Aufl. S. 1012. 2 3 4

G . LASSAR H d b . D S t R I S. 315. V g l . d a z u K . STERN ( F n . 1) S. 1057. K . STERN a a O ( F n . 1) S . 1 0 6 0 .

Bejahend K. M. HETTLAGE W D S t R L Heft 14 (1956) S. 3; H . GÖRG EvStL

6

S T E R N ( F n . 1) S . 1 0 6 1 .

864

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

sungsrechtlich garantierten und gesicherten Grundsätze des staatlichen Budgetrechts zu verstehen. 2. Geschichte der Finanzverfassung Sowohl die preußischen Verfassungen von 1850 und 1920 wie auch die Reichsverfassung von 1871 kannten Abschnitte über das Finanzwesen, die Weimarer Reichsverfassung behandelte die finanz- und haushaltsrechtlichen Grundsätze in dem Abschnitt über die Reichsverwaltung (Artikel 82 bis 87) 7 . Unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde der bundesstaatliche Charakter des Reiches beseitigt. Das Gesetz über den Neuaufbau des Reichs vom 30. Januar 1934 nahm den Ländern ihre Hoheitsrechte und unterstellte sie der Reichsregierung. Damit hatte der Finanzausgleich als besonderes staatsrechtliches Problem sein Ende gefunden; an seine Stelle trat ein rein technisches Verteilungssystem 8 . Die Verfassungsväter des Grundgesetzes hatten von Anfang an erkannt, daß die Eigenstaatlichkeit von Bund und Ländern entscheidend von der Lösung der Finanzverfassung bestimmt wird 9 . Am Anfang eines jeden föderativen Systems steht die Aufteilung der politischen Wirkungsbereiche für Bund und Länder. Da die Erfüllung von Aufgaben, zumal in dem Wirtschafts- und Sozialstaat unserer Zeit, unlösbar mit Ausgaben verbunden ist, stellt sich damit zugleich die Frage nach der Lastenverteilung und der Zuteilung der verfügbaren öffentlichen Mittel. Die Finanzverfassung bestimmt Richtung und Möglichkeiten der öffentlichen Aufgabenerfüllung, sie entscheidet darüber, ob von den vorhandenen Mitteln zum Wohle des Ganzen der wirkungsvollste Gebrauch gemacht werden kann 1 0 . Die Finanzverfassung war während der gesamten Beratungen über das Grundgesetz umstritten. Die Regelung, die dann beschlossen worden ist, war durch nachdrückliche Einwirkung der Besatzungsmächte in die deutsche Verfassungsentscheidung zur finanziellen Schwächung des Bundes beeinflußt 11 . So ist es nicht verwunderlich, daß Mitgestalter und entschiedene Befürworter des Grundgesetzes sie von Anfang an als für eine moderne staatliche Entwicklung nicht befriedigend ansahen.

7

F. KLEIN Die staatsrechtliche Stellung des Bundesministers der Finanzen, in: DVB1. 1962 S. 573ff; F.-J. STRAUSS Die Finanzverfassung, 1969 S. 15ff; SCHMIDT-BLEIBTREU/ KLEIN

aaO

( F n . 1)

S. 1012;

auch Entstehungsgeschichte, (1951) S. 748 ff. 10

8

F . - J . STRAUSS a a O ( F n . 7 ) S . 2 4 F .

9

K . VOGEL/P. KIRCHHOF Bonner Kommentar, Vorb. zu Art. 1 0 4 a - 1 1 5 , Rdn. 6 0 f f ; vgl.

STERN a a O

Bd. 1

( F n . 1) S . 1 0 5 4 u n d M . E .

K A M P / C . L A N G H E I N R I C H / F . H . STAMM D i e

MEYER/AN-

SCHÜTZ Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1 9 1 4 - 1 9 1 9 , § 201 ff; G . ANSCHÜTZ Die Verfassung des Deutschen Reiches v. 1 1 . 8 . 1919, K o m m . , 14 Aufl., 1933, Art. 82 ff.

Vgl.

JöR

11

Ordnung der öffentlichen Finanzen, 1971; W. HENLE Die Ordnung der Finanzen in der Bundesrepublik Deutschland, 1964. Vgl. die bei E. R. HUBER Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, 1951 Bd. 2 S. 208ff abgedruckten Memoranden; s. hierzu auch den Beitrag von H . - J . VOGEL oben S. 812ff.

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

865

In einem wesentlichen Teil war die gefundene Regelung ausdrücklich als vorläufig bezeichnet. Die endgültige Verteilung der Steuern, die der konkurrierenden Gesetzgebung unterlagen, blieb einem Bundesgesetz vorbehalten. Das Finanzverfassungsgesetz von 1955, das diesen Auftrag ausführte, beschränkte sich auf den gezogenen Rahmen und verzichtete darauf, in allgemeiner Form die Finanzverfassung neu zu gestalten. Das geschah erst 1969. Seit 1949 hatten sich die Bedingungen, unter denen das Grundgesetz entstanden war, beträchtlich geändert. Die wirtschaftliche, technische und gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte hatte an die staatliche Aufgabenerfüllung Anforderungen gestellt, wie sie bei Schaffung des Grundgesetzes noch nicht zu erkennen waren. Hinzu kamen die wachsende internationale Verflechtung. Die politische Überzeugung und der Fortschritt von Wissenschaft und Technik hatten sie so begünstigt, daß für die Lösung von Aufgaben in vielen Bereichen die Grenzen der Nationalstaaten sehr eng geworden waren. Die Tatsache, daß die Bundesrepublik zunehmend in solche internationalen Verflechtungen hineinwuchs und wichtige politische Entscheidungen nicht mehr allein unter nationalen Aspekten treffen konnte, mußte sich naturgemäß auf das bundesstaatliche Innenverhältnis, auf Bund und Länder auswirken 12 . 1.

2.

3.

4.

5.

12

Mit der Finanzreform 1969 waren folgende Ziele verbunden 13 : Für die Aufteilung der Aufgaben zwischen Bund und Ländern sollte eine Lösung gefunden werden, die die Verantwortung der einzelnen Aufgabenträger klar gegeneinander abgrenzte, Überschneidungen vermied und einen wirtschaftlichen Einsatz der öffentlichen Mittel gewährleistete. Sofern in einer Aufgabe unter verschiedenen Gesichtspunkten Zuständigkeiten des Bundes und eines Landes zusammentrafen, war für die Durchführung ein allgemein geregeltes Verfahren vorzusehen. Die Regelung über die Trennung der Aufgaben von Bund und Ländern sollte durch eine verfassungsrechtliche Ordnung über das Zusammenwirken bei solchen Aufgaben ergänzt werden, die nur durch gemeinsame Planung und Finanzierung von Bund und Ländern wirksam erfüllt werden konnten. Aus ihr gingen die Gemeinschaftsaufgaben hervor. Die finanziellen Lasten sollten dem Aufgabenträger zugewiesen werden, dem die Verantwortung für die sachgerechte Erfüllung der Aufgaben oblag. Die allgemeine Anwendung dieses Grundsatzes war durch eindeutige Lastenverteilungsvorschriften klarzustellen. Unter Berücksichtigung der Lastenabgrenzung war für die Aufteilung der Steuern ein möglichst dauerhaftes und überschaubar gestaltetes System zu schaffen, das eine Anpassung an den sich ändernden Mittelbedarf der einzelnen Ebenen gewährleistete und so angelegt war, daß unnötige Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern vermieden wurden. Zur Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse mußten auch die finanzschwachen Länder in die Lage versetzt werden, die ihnen übertragenen Aufgaben Zur

Entwicklung

S. 1071 ff.

vgl.

STERN

aaO

(Fn. 1)

13

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN S. 1012/13.

aaO

(Fn. 1)

866

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

ausreichend wahrnehmen zu können. Zu diesem Zweck war der Finanzausgleich zu verbessern. 6. Die Regelungen über die Steuergesetzgebung und Steuerverwaltung waren der geänderten Steuerverteilung und den Bedürfnissen der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung anzupassen. 7. Das Gemeindefinanzwesen war in der Weise zu verbessern, daß unter Angleichung der bisherigen Steuerkraftunterschiede alle Gemeinden die Möglichkeit erhielten, die Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft auf der Grundlage einer gesicherten Finanzausstattung zu erfüllen. Dabei war Sorge zu tragen, daß die gemeindliche Selbstverwaltung durch eine ausreichende finanzwirtschaftliche Eigenverantwortung erhalten blieb 14 . Die Finanzreform 1969 ist sicher dieser Zielsetzung nicht voll gerecht geworden. Deshalb ist die verfassungspolitische Diskussion über die Finanzverfassung auch nach der Finanzreform nicht zur Ruhe gekommen. Die Finanzverfassung gehörte daher auch zu den Themen, die die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission zu Fragen der Verfassungsreform eingehend beraten hat. Außer zu den Vorschriften über gemeinsame Finanzierungen von Bund und Ländern (§ 91 a, § 91 b, § 104 a Abs. 3 und 4 GG) und zu der Frage der innerstaatlichen Finanzierung von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaften hat die Kommission jedoch keine wesentlichen Änderungsvorschläge gemacht, sondern sich für die Beibehaltung der Finanzverfassungsregelungen ausgesprochen 15 . 3. Die geltende Finanzverfassung Zur Finanzverfassung des Grundgesetzes gehören nicht nur die Vorschriften im X. Abschnitt des Grundgesetzes über das Finanzwesen, sondern auch Regelungen in den Ubergangsvorschriften (Artikel 120, 134 ff GG) sowie die Vorschriften über die Gesetzgebungskompetenzen in Art. 73 Nr. 4 und 5 GG, die Verwaltungskompetenzen in Art. 87 Abs. 1 und Art. 88 GG sowie aus der Notstandsverfassung die Vorschrift des Art. 115c Abs. 3 GG. Es gehören dazu alle Vorschriften des Grundgesetzes, die auf die öffentliche Finanzwirtschaft bezogen sind 16 . Sie treffen Regelungen, wie die für die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben erforderlichen Finanzmittel aufzubringen, zu verwalten und einzusetzen sind. In der folgenden Darstellung soll die Finanzverfassung des Bundes und der Länder einschließlich Kommunen dargestellt werden, soweit sie auf Normen des Grundgesetzes beruht. Einzubeziehen in die Betrachtung ist auch die Finanzwirtschaft der Europäischen Gemeinschaften, die heute eine weitere wichtige Ebene öffentlicher Aufgabenerfüllung bildet. Darin zeigt sich, daß im Grunde von vier Ebenen auszugehen ist, auf denen in der Bundesrepublik öffentliche Aufgaben erfüllt 14

15

Zur Zielsetzung vgl. BT-Drucks. 5/2861 S. 11/12. Vgl. BT-Drucks. 7/5924 Kap. 12 Nr. 3 S. 200.

16

Vgl. die Kommentierungen der Artikel in den Kommentaren zum Grundgesetz von MAUNZ/DÜRIG/HERZOG/SCHOLZ, GOLDT,

v.

MÜNCH,

V.

MAN-

SCHMIDT-BLEIBTREU/

KLEIN und im Bonner Kommentar.

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

867

werden. Im Mittelpunkt stehen die beiden staatlichen Ebenen unseres Bundesstaates, nämlich der Bund und die Länder. Hinzu kommen auf Seiten der Länder die Kommunen (Gemeinden und Gemeindeverbände), die zwar nach dem Aufbau unseres Staates Teile der Länder sind, die aber nach Art. 28 Abs. 2 G G das Recht der Selbstverwaltung haben. Als vierte Ebene können schließlich die Europäischen Gemeinschaften angesehen werden, auf die der Bund nach Art. 24 Abs. 1 G G einen Teil der Hoheitsrechte der Bundesrepublik übertragen hat. Nicht behandelt wird die Finanzwirtschaft der besonderen Einrichtungen, wie Sozialversicherungsträger, Handelskammern, Handwerkskammern und Kirchen. Angesichts der verschiedenen Ebenen, auf denen öffentliche Aufgaben erfüllt werden, lassen sich die rechtlichen Regelungen über die Finanzwirtschaft in zwei große Komplexe gliedern. Der eine Komplex betrifft die für die verschiedenen Ebenen gesondert geltenden Regelungen. Das sind bei Bund und Ländern hauptsächlich Vorschriften, die von jeder Ebene selbst erlassen worden sind. Bei den Kommunen handelt es sich in der Regel um landesgesetzliche Bestimmungen. Aber auch hier kommen eigene Rechtsvorschriften der Kommunen in der Form von Satzungen in Betracht. Für die Europäischen Gemeinschaften sind die wichtigsten finanzwirtschaftlichen Bestimmungen in den Europäischen Verträgen festgelegt. Der andere Komplex betrifft die Finanzverfassung des Grundgesetzes. Sie läßt sich in vier Teile gliedern: 1. Die Finanzierungskompetenz 2. Die Steuerhoheit (Gesetzgebung und Verwaltung) 3. Der Finanzausgleich 4. Das Budgetrecht.

II. Die Finanzierungskompetenz 1. Gestaltungsmöglichkeiten Die Finanzierungskompetenz läßt sich in einem Bundesstaat in verschiedener Weise regeln 17 . Einmal kann sie so gestaltet sein, daß Bund und Länder oder Gemeinden oder auch die Europäischen Gemeinschaften jede Aufgabe, deren Erfüllung sie für notwendig oder zweckmäßig halten, finanzieren dürfen. Bei einem solchen System käme es zu einer starken Mischung der Verantwortlichkeiten, weil die einzelnen Aufgaben nebeneinander von den verschiedenen Ebenen finanziert werden könnten 1 8 . Die Gefahr eines unrationellen Mitteleinsatzes wäre groß. Wegen der möglicherweise unterschiedlichen politischen Ziele der verschiedenen Ebenen könnte es sogar in großem Maße zu gegenläufigen Finanzierungsmaßnahmen kommen. Vor

17

G . STRICKRODT Die Finanzverfassung des Bundes als politisches Problem, 1951; K . M. HETTLAGE/TH.

MAUNZ

Die

Finanzverfas-

sung im Rahmen der Staatsverfassung, W D S t R L Heft 14 (1956) 2 f f .

18

Institut „Finanzen u. Steuern", Brief 203; W. PATZIG Die Gemeinschaftsfinanzierungen von Bund und Ländern, Notwendigkeiten und Grenzen des kooperativen Föderalismus, 1981.

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

868

allem bestände die Gefahr, daß der Bund mit seiner im Verhältnis zum einzelnen Land ungleich größeren Finanzkraft die Länder durch Hineinfinanzieren in ihre Aufgaben mit dem Sprichwort „Wer das Geld hat, hat die Macht" zu bloßen Befehlsempfängern des Bundes machen würde. Das Grundgesetz hat sich daher im Verhältnis zwischen Bund und Ländern im Prinzip nicht für ein solches Mischsystem, sondern für ein Trennsystem entschieden19. 2. Das Trennsystem als Grundsatz Nach Art. 104 a Abs. 1 G G tragen Bund und Länder gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zuläßt. Darin liegt nicht nur die Abgrenzung, wer im Verhältnis zwischen Bund und Ländern für die Finanzierung einer Aufgabe verantwortlich ist, sondern auch das Verbot, Aufgaben der anderen Seite zu finanzieren20. Jede Seite darf nur ihre eigenen Aufgaben finanzieren und auch zwischen den Ländern darf jedes Land nur die eigenen Aufgaben, nicht die Aufgaben eines anderen Landes finanzieren. Die Finanzierung von Länderaufgaben durch den Bund oder von Bundesaufgaben durch die Länder bedeutet einen Verfassungsverstoß, wenn nicht einer der vom Grundgesetz zugelassenen Ausnahmetatbestände vorliegt. Die Finanzierungskompetenzen von Bund und Ländern hängen somit von der Aufgabenverteilung zwischen den beiden Ebenen ab. Zum Verständnis der Abgrenzung der Finanzierungszuständigkeiten bedarf es daher stets eines Rückgriffs auf diese in das allgemeine Verfassungsrecht gehörende Aufgabenverteilung. Mit der Feststellung, daß die Abgrenzung der Finanzierungszuständigkeiten der Abgrenzung der Aufgabenverantwortung zwischen Bund und Ländern folgt, war nicht viel gewonnen. Aufgabenverantwortung könnte im Sinne der Gesetzgebungszuständigkeiten oder im Sinne der Verwaltungszuständigkeiten gemeint sein. Demgemäß war es bis zur Finanzreform von 1969 streitig, ob im Verhältnis zwischen Bund und Ländern diejenige Seite eine öffentliche Aufgabe zu finanzieren hat, die das maßgebende Gesetz erlassen hat oder diejenige, deren Verwaltungsbehörden für die Erfüllung der Aufgaben zuständig sind. Es wurden auch Zwischenlösungen diskutiert. Seit der Finanzreform von 1969 ist die Frage geklärt. Als Umkehrschluß aus Art. 104 a Abs. 2 G G , der die Kosten bei der Bundesauftragsverwaltung dem Bund zuordnet, ergibt sich heute eindeutig, daß die Länder dann die Kosten zu tragen haben, wenn sie Bundesgesetze (wie im Regelfall gem. Art. 83 GG) als eigene Angelegenheit ausführen. Die Abgrenzung der Finanzierungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern knüpft also eindeutig an die Verwaltungszuständigkeiten von Bund und Ländern an 21 . Demgemäß ist es heute unstreitig, daß die Kosten der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe derjenigen Ebene zur Last fallen, die die Verwaltungszuständigkeit hat.

19

20

Einen kurzen zusammenfassenden volkswirtschaftlichen Uberblick gibt L. WEICHSEL öffentliche Finanzwirtschaft, 1976. TH. MAUNZ/DÜRIG/R. HERZOG/R.

Grundgesetz-Kommentar,

SCHOLZ

5. Aufl.,

Art.

104a R d n . 2 5 ;

SCHMIDT/BLEIBTREU/KLEIN

aaO (Fn. 1) Art. 104a Rdn. 8. 21

BVerfGE KLEIN

aaO

26,

390;

SCHMIDT-BLEIBTREU/

( F n . 1) A r t . 1 0 4 a

Drucks. 5/2861 Tz. 290.

Rdn. 3;

BT-

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

869

Da das Schwergewicht der Verwaltungskompetenzen bei den Ländern (einschl. Gemeinden) liegt, haben die Länder auch einen Großteil der öffentlichen Ausgaben zu tragen. Das führt zwar nicht ohne weiteres zu einem finanziellen Ubergewicht der Finanzierungsaufgaben der Länder, weil der Bund für Aufgabenbereiche zuständig ist, die mit sehr hohen Kosten verbunden sind, wie die Verteidigung oder die internationalen Beziehungen. Eindeutig fällt aber das Schwergewicht der öffentlichen Investitionen (z. B. Schulen, Krankenhäuser, Infrastruktur) in den Zuständigkeitsbereich der Länder einschließlich der Gemeinden. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die staatliche Konjunkturpolitik sind weiter unten zu behandeln. Außerdem ist der Anteil der Personalkosten in den Länderhaushalten im Verhältnis wesentlich höher als im Bundeshaushalt. Während er beim Bund bei etwa 1 5 v . H . liegt, beträgt er bei den Ländern über 40 v. H. Die Abgrenzung der Finanzverantwortung zwischen Bund und Ländern hat zudem noch eine ganz andere Folge. Die Länder können immer wieder in ihrer Finanzwirtschaft durch den Bundesgesetzgeber zusätzlich belastet werden, da sie die Bundesgesetze in der Regel auszuführen und damit auch zu finanzieren haben. Einen beschränkten Schutz haben die Länder hier durch die Mitwirkung des Bundesrates an der Gesetzgebung, jedoch macht die Belastung mit Kosten das Gesetz nicht zustimmungspflichtig (Ausnahme Art. 104 a Abs. 3 GG) 2 2 . Die Zustimmungsbedürftigkeit ergibt sich nach dem Grundgesetz vielmehr nur aus Eingriffen des Bundesgesetzgebers in die Verwaltungs- oder Organisationshoheit der Länder 223 . Da in der Praxis jedoch die meisten Gesetze mit solchen Eingriffen verbunden sind, ergeben sich daraus auch Schutzwirkungen gegen eine zu hohe Kostenbelastung der Länder. Im übrigen müssen die Kostenbelastungen der Länder im Rahmen der Umsatzsteuerverteilung nach Art. 106 Abs. 3 und 4 G G berücksichtigt werden. Trotz der geschilderten Folgen ist das Trennsystem und die Anknüpfung der Finanzverantwortung an die Verwaltungszuständigkeiten heute im wesentlichen nicht nur rechtlich, sondern auch verfassungspolitisch unumstritten. Die Verknüpfung zwischen Finanzierungs- und Verwaltungszuständigkeiten wird als sinnvoll angesehen, weil die Kosten zwar möglicherweise durch den Gesetzgeber veranlaßt sind, aber tatsächlich erst bei der Durchführung des Gesetzes, also auf der Ebene der Verwaltung entstehen. Die Verwaltung hat es dabei in der Hand, ob sie durch maßvolle Entscheidungen, insbesondere Ermessensentscheidungen, die Kosten eines Gesetzes in Grenzen hält oder durch großzügige Entscheidungen die Kosten ausweitet. Die Konnexität zwischen Ausgabeverantwortung und Verwaltungszuständigkeiten trägt dazu bei, die öffentlichen Mittel möglichst rationell und maßvoll einzusetzen. 3. Besonderheiten bei der Bundesauftrags Verwaltung Die Anknüpfung der Finanzverantwortung an die Verwaltungszuständigkeit erlaubt eine klare Zuordnung der Kosten der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe in den 22

Vgl. SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN (Fn. 1) Art. 104a Rdn. lOff.

aaO

221

Vgl. dazu H . - J . VOGEL oben S.

840ff.

870

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Fällen, in denen die Aufgaben von Bundesbehörden ( z . B . Zahlung des Bundeskindergeldes durch die Bundesanstalt für Arbeit) oder von Landesbehörden als eigene Angelegenheit der Länder (z. B. Durchführung von Strafvollzugsgesetz, Bundesseuchengesetz, Jugendwohlfahrtsgesetz oder auch Bundessozialhilfegesetz) wahrgenommen wird. Im ersten Fall hat der Bund, im zweiten Fall haben die Länder die Kosten zu tragen. Aus Art. 104a Abs. 1 GG ist nicht ohne weiteres die Zuordnung der Kosten bei der Bundesauftragsverwaltung abzuleiten. Diese Verwaltungsform steht zwischen bundeseigener oder landeseigener Verwaltung. Für die Aufgabenerfüllung sind bei der Bundesauftragsverwaltung ebenso wie bei der landeseigenen Verwaltung Landesbehörden zuständig 23 . Anders als bei der landeseigenen Verwaltung unterstehen diese Landesbehörden nach Art. 85 Abs. 4 GG aber nicht nur der Rechtsaufsicht, sondern auch der Fachaufsicht des Bundes 24 . Außerdem können die zuständigen obersten Bundesbehörden den Landesbehörden nach Art. 85 Abs. 3 GG Weisungen erteilen. Die obersten Bundesbehörden stehen also gleichsam als oberste Verwaltungsspitze über den Landesbehörden 25 . Die Bundesauftragsverwaltung hat in der Praxis erhebliche Bedeutung. Wichtige Beispiele für diese Verwaltungsform sind der zivile Bevölkerungsschutz (Art. 87b Abs. 2 GG), die Durchführung des Atomgesetzes (Art. 87c GG), Teile der Luftverkehrsverwaltung (Art. 87d Abs. 2 GG und § 31 Abs. 2 Luftverkehrsgesetz), die Verwaltung der Bundesautobahnen und Bundesstraßen (Art. 90 Abs. 2 GG) und die Lastenausgleichsverwaltung (Art. 120a GG). Da sich die Kostenlast für diese Verwaltungsform nicht ohne weiteres aus Art. 104 a Abs. 1 GG ableiten läßt, trifft Art. 104 a Abs. 2 GG eine besondere Regelung. Die Kosten der Bundesauftragsverwaltung hat der Bund zu tragen. Dabei kann es offenbleiben, ob es sich um eine Durchbrechung des oben geschilderten allgemeinen Lastenverteilungsgrundsatzes handelt, weil trotz der Zuständigkeit der Landesbehörden die Kostenlast dem Bund zugeordnet wird, oder ob es nur um eine Konsequenz aus dem allgemeinen Lastenverteilungsgrundsatz geht, weil die obersten Bundesbehörden gleichsam als Verwaltungsspitze über den Landesbehörden stehen und daher letztlich eine Verwaltungsaufgabe des Bundes angenommen werden kann. Diese Streitfrage hat im wesentlichen nur theoretische Bedeutung. Wichtig ist, daß die Regelung des Art. 104a Abs. 2 GG, wonach dem Bund die Kosten der Auftragsverwaltung zur Last fallen, im Zusammenhang mit Art. 104 a Abs. 5 GG gesehen werden muß. Nach dieser Grundgesetzbestimmung haben Bund und Länder die bei ihren Behörden entstehenden Verwaltungskosten selbst zu tragen. Die Kosten, die dem Bund bei der Auftragsverwaltung zur Last fallen, können folglich nicht die Verwaltungskosten der Länder umfassen. Diese verbleiben bei den Ländern. Deshalb bedarf es bei der Auftragsverwaltung einer genauen Unterscheidung zwischen Verwaltungskosten und sonstigen Ausgaben, den sog. Zweckausgaben.

23 24

Vgl. dazu H.-J. VOGEL oben S. 8 4 3 f . Vgl. TH. MAUNZ Deutsches Staatsrecht, 22. A u f l . 1979, § 2 8 , 1 1 , 2 .

25

Vgl. dazu die Begründung zum Reg.Entwurf des Finanzreformgesetzes, BT-Drucks. 5/ 2 8 6 1 ; ferner SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN aaO (Fn. 1) A r t . 104a Rdn. 7.

2 . Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

871

Art. 104a Abs. 5 Satz 2 G G bestimmt, daß insoweit das Nähere durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates zu regeln ist. Diese nähere Regelung ist in Art. 1 des Finanz .m passungsgesetzes vom 30. August 1971 (BGBl. I S. 1426) getroffen worden. Wegen der Schwierigkeiten der allgemeinen Abgrenzung der Verwaltungskosten von den Zweckausgaben verzichtet jedoch das Gesetz auf eine abstrakte Regelung und beschränkt sich darauf, einzelne Bestimmungen in einer Reihe von Gesetzen, die früher Verwaltungskostenerstattungen vorsahen, aufzuheben. Die Abgrenzung muß jeweils von Fall zu Fall erfolgen. Allgemein läßt sich sagen, daß Verwaltungskosten die Aufwendungen sind, die für das Handeln der Verwaltung (für den Verwaltungsapparat, insbesondere Personalkosten, ferner Kosten der Behördenbauten und Behördeneinrichtungen) anfallen, während die Zweckausgaben durch das Verwaltungshandeln (für den Zweck des Verwaltungshandelns) entstehen. Zweckausgaben sind demnach z. B. die Geldleistungen, die aufgrund eines Gesetzes an den Bürger erbracht werden oder die Bauund Unterhaltungskosten für Anlagen ( z . B . Straßen, Zivilschutzanlagen), die als Zweck der Bundesauftragsverwaltung geschaffen werden 26 . 4. Ausnahmen vom Trennsystem bei der Abgrenzung der Finanzierungszuständigkeiten von Bund und Ländern Während die Besonderheiten bei der Bundesauftragsverwaltung immer noch eine Trennung der Finanzverantwortung zwischen Bund und Ländern zum Inhalt haben und von einem Teil des Schrifttums sogar nur als Konsequenz aus dem allgemeinen Lastenverteilungsgrundsatz angesehen werden, gibt es andere Regelungen in der Verfassung, die eindeutig als Ausnahmen vom allgemeinen Lastenverteilungsgrundsatz und dem damit verbundenen Trennsystem gewertet werden müssen. Es handelt sich um den Bereich der sog. Mischfinanzierungen 27 , die bereits in den fünfziger Jahren ihren Anfang hatten und sich seitdem immer mehr ausgeweitet haben. Das Grundgesetz kannte zunächst zwar im wesentlichen Teil nur das reine Trennsystem. Die VerfassungsWirklichkeit setzte sich aber darüber hinweg. Der Bund begann schon sehr bald nach Inkrafttreten des Grundgesetzes die Länderaufgaben auf den Gebieten der Agrarstruktur, der regionalen Wirtschaftsförderung und des sozialen Wohnungsbaues und anderen Aufgabenbereichen mitzufinanzieren und damit auch mitzugestalten, obwohl es dafür in der Verfassung keine Grundlage gab. Es war daher eines der Hauptziele der Finanzreform 1969, diese Entwicklung, die sich in der Verfassungswirklichkeit sozusagen als Wildwuchs vollzogen hatte, in verfassungsrechtlich geordnete Bahnen zu lenken. Einerseits wurde das Trennsystem als Grundsatz in Art. 104a Abs. 1 G G klar herausgestellt, andererseits wurden Ausnahmetatbestände im Grundgesetz geregelt, in denen der Bund Länderaufgaben mitfinanzieren darf. Die Rechte und Pflichten, die der Bund dabei hat, wurden genau festgelegt.

26

S.

dazu

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN

( F n . 1) A r t . 1 0 4 a R d n . 2 5 .

aaO

27

Vgl. dazu W . PATZIG a a O ( F n . 18) S. 11 ff.

872

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

a) Finanzierung der Kriegsfolgelasten Eine Ausnahme von dem allgemeinen Lastenverteilungsgrundsatz ist bereits in der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes in Art. 120 GG niedergelegt. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Bestimmung trägt der Bund die Aufwendungen für Besatzungskosten und die sonstigen inneren und äußeren Kriegsfolgelasten 28 . Die Verantwortung des Bundes für Besatzungskosten hat heute nur noch geringe Bedeutung, sie können nur noch in Berlin entstehen. Wichtig ist nach wie vor die Kostentragungspflicht des Bundes für Kriegsfolgelasten. Hiernach trägt der Bund z. B. die Kosten des Bundesversorgungsgesetzes und des Lastenausgleichsgesetzes. Beim Bundesversorgungsgesetz zeigt sich deutlich der Ausnahmecharakter des Art. 120 GG. Die Bestimmung regelt nur die Finanzierungszuständigkeit und sagt nichts über die Verwaltungszuständigkeit. Es bleibt deshalb bei der allgemeinen Zuständigkeitsverteilung nach Art. 30, 83 GG. Das Bundesversorgungsgesetz wird von den Ländern als eigene Angelegenheit ausgeführt. Die Einschränkung in Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG, daß der Bund die Kriegsfolgelasten nur nach näherer Bestimmung von Bundesgesetzen trägt, bedeutet nicht, daß der Bund in Gesetzen darüber entscheiden kann, welche Kosten er übernimmt und welche er den Ländern beläßt. Diese Rechtslage hat das Bundesverfassungsgericht in einer grundlegenden Entscheidung im Jahre 1959 klar dargestellt 29 . Der Gesetzgeber war vorher anders verfahren. Er hatte zum Teil Kriegsfolgelasten auf die Länder verlagert. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hatte klargestellt, daß eine Reihe von Kostenverteilungsvorschriften in verschiedenen Gesetzen nicht der Verfassungsrechtlage entsprachen. Die damit auf den Bund zukommenden Kosten hätten eine grundlegende Änderung der Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern erforderlich gemacht. Um dies zu vermeiden, wurde der Art. 120 GG geändert und die am 1. Oktober 1965 tatsächlich bestehende Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet der Kriegsfolgelasten ausdrücklich in Art. 120 Satz 2 und 3 GG verfassungsrechtlich legitimiert. Wegen dieser verfassungsrechtlichen Bestätigung früherer Regelungen gibt es bei den Kriegsfolgelasten eine Reihe von Mischfinanzierungstatbeständen, obwohl Satz 1 des Art. 120 Abs. 1 GG zwar eine Ausnahmeregelung vom allgemeinen Lastenverteilungsgrundsatz des Art. 104 a Abs. 1 GG trifft, trotzdem aber eine klare Trennung der Finanzverantwortung (Kostenlast allein beim Bund) vornimmt 30 . Die Bestimmung des Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG gilt nur für Kriegsfolgelasten, für die erstmalige Aufwendungen nach dem 1. Oktober 1969 vorgesehen sind. b) Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung Art. 120 GG enthält in Abs. 1 Satz 3 noch eine weitere Ausnahme von dem allgemeinen Lastenverteilungsgrundsatz des Art. 104 a Abs. 1 GG. Nach dieser Ausnahmebe28

Vgl.

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN

aaO

(Fn. 1) A r t . 120 Rdn. 1 f f ; MAUNZ/DÜRIG aaO (Fn. 20) A r t . 120; W . HECKT Die Neufassung von Art. 120 G G , D Ö V 1966

S. lOff; 29 30

SCHÄFER

in:

v. MÜNCH

K o m m . , A r t . 120 Rdn. 4 f f . B V e r f G E 9, 3 0 5 f f . Vgl. SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN (Fn. 1) A r t . 120 Rdn. l f f .

GG-

aaO

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

873

Stimmung trägt der Bund die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung mit Einschluß der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe 31 . U m den Ausnahmecharakter dieser Bestimmung verstehen zu können, muß man sich die Organisation der Sozialversicherung vergegenwärtigen. Die Sozialversicherung ist bei uns als mittelbare Staatsverwaltung organisiert, d. h., die Sozialversicherungsträger sind selbständige juristische Personen des öffentlichen Rechts. Als mittelbare Staatsverwaltung gehören sie entsprechend dem zweistufigen Aufbau unseres Bundesstaates entweder dem Hoheitsbereich des Bundes oder der Länder an. Art. 120 Abs. 1 Satz 4 G G macht deutlich, daß die Finanzierungszuständigkeit des Bundes auch die Zuschüsse umfaßt, die an den im Bereich der Länder bestehenden Sozialversicherungsträger geleistet werden. Die Bestimmung des Art. 120 Abs. 1 G G ist keine Anspruchsnorm 3 2 . Sie regelt nur, wer im Verhältnis zwischen Bund und Ländern die Aufwendungen zu tragen hat, wenn Zuschüsse an Sozialversicherungsträger geleistet werden. Die Sozialversicherungsträger können aus dieser Regelung keinen Anspruch auf Leistung solcher Zuschüsse gegenüber dem Bund herleiten. c) Finanzierung von Geldleistungsgesetzen Uber die vorgenannten (im wesentlichen von Anfang an bestehenden) Ausnahmen hinaus, hat der Konnexitätsgrundsatz durch die Finanzreform von 1969 eine erhebliche Durchbrechung erfahren. Wie oben dargelegt, beruht die Verknüpfung von Finanzverantwortung und Verwaltungszuständigkeit auf der Erwägung, daß die Kosten erst bei der Ausführung eines Bundesgesetzes auf der Ebene der Verwaltung entstehen und von diesen im Rahmen der Verwaltungsentscheidungen maßgebend beeinflußt werden können. Diese Erwägung versagt jedoch, wenn die Gesetze der Verwaltung überhaupt keine wesentlichen Entscheidungsspielräume mehr belassen, sondern das Verwaltungshandeln bis in alle Einzelheiten vorschreiben. Diese Sachlage ist typisch bei Gesetzen, die Geldleistungen gewähren ( z . B . Sparprämiengesetz, Wohngeldgesetz). Die Geldleistungsgesetze regeln meist sehr genau Empfänger, Voraussetzung, Art und Höhe der zu gewährenden Geldleistungen. Der ausführende Beamte liest in der Regel nur aus dem Gesetz ab, welche Entscheidung er zu treffen hat. Hier erscheint der Grundsatz, daß die Länder die Kosten des von ihnen auszuführenden Gesetzes zu tragen haben, nicht mehr gerechtfertigt. Hinzu kommt, daß die Kosten solcher Geldleistungsgesetze häufig sehr hoch sind. Es besteht daher ein besonderes Schutzbedürfnis der Länder gegen Kostenbelastungen durch solche Geldleistungsgesetze des Bundes 3 3 . In der Finanzreform ist daher für die Finanzlasten Verteilung bei Geldleistungsgesetzen in Art. 104 a Abs. 3 G G eine flexible Regelung getroffen worden. Danach können Bundesgesetze, die Geldleistungen gewähren und von den Ländern ausgeführt werden, bestimmen, daß Geldleistungen ganz oder zum Teil vom Bund getragen werden. Es bleibt also dem Bundesgesetzgeber überlassen, wie er die Kosten zwischen Bund und Ländern 31

"

Zu U m f a n g und Bedeutung vgl. B S G , N J W 1979 S. 1059. B V e r f G E 14, 223.

33

Vgl. MAUNZ/DÜRIG G G (Fn. 20) Art. 104a Rdn. 36.

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

874

verteilt 34 . Die Kostenverteilung bedarf nach Satz 3 des Art. 104a Abs. 3 GG der Zustimmung des Bundesrates, wenn die Länder ein Viertel der Ausgaben des Gesetzes oder mehr zu tragen haben. Anders als allgemein bei der Gesetzgebung, bei der Bundesgesetze nicht allein deswegen der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, weil sie die Länder mit Kosten belasten, wird den Ländern demnach bei Geldleistungsgesetzen durch die Zustimmungsbedürftigkeit ein besonderer Schutz gewährt. Die Verknüpfung zwischen Verwaltungszuständigkeit und Finanzlastenverteilung wird allerdings auch im Rahmen des Art. 104a Abs. 3 GG nicht ganz verlassen. In Satz 2 der Vorschrift wird zwingend die Bundesauftragsverwaltung angeordnet, wenn der Gesetzgeber die Kosten eines Geldleistungsgesetzes bis zu 50 v. H. oder mehr dem Bund auferlegt. Im Unterschied zu Art. 104a Abs. 2 GG folgt hier die Kostenlast nicht der Auftragsverwaltung, sondern umgekehrt die Auftragsverwaltung der Kostenlast. Schwierige Probleme können auftreten, wenn ein Gesetz teils Geldleistungsvorschriften und teils Sachleistungsvorschriften (wie z.B. das Bundessozialhilfegesetz) oder andere Regelungen enthält 35 . Hier kann eine Anwendung des Art. 104a Abs. 3 GG auf die Geldleistungsvorschriften nur dann in Betracht kommen, wenn diese sich sinnvoll von den anderen Vorschriften trennen lassen. Die Aufwendungen, die der Bund insgesamt für die an sich nach Art. 104a Abs. 1 GG von den Ländern allein zu finanzierenden Gesetze aufbringt, betrugen im Jahre 1980 etwa 6 Mrd. DM.

d) Gemeinschaftsaufgaben

nach Art. 91a GG

Eine wichtige Ausnahme vom allgemeinen Lastenverteilungsgrundsatz bilden die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 19 GG 36 . Der Begriff Gemeinschaftsaufgaben beschreibt ihr Wesen nur unvollkommen. Es sind nicht Aufgaben des Bundes und der Länder, sondern Aufgaben der Länder, an denen der Bund mitwirkt 37 . Auf dieser Mitwirkung des Bundes baut das Grundgesetz die Mitfinanzierung auf. Zu den Gemeinschaftsaufgaben des Art. 91a GG zählen der Ausbau und Neubau von Hochschulen einschließlich der Hochschulkliniken und die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur sowie die Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes. Es sind Aufgaben, die vornehmlich im gesetzesfreien Raum erfüllt werden. Sie heißen Gemeinschaftsaufgaben, weil sie einer gemeinsamen Rahmenplanung unterliegen und gemeinsam finanziert werden. Die Verfassung beschreibt nur Grundsätze für

34

Vgl.

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN

verfassungsrechtlichen Institutionalisierung der bundesstaatlichen Kooperation, 1974; v. MÜNCH Gemeinschaftsaufgaben im Bundesstaat, W D S t R L 31 (1973) S. 5 1 .

aaO

(Fn. 1) Rdn. lOff. 35

Vgl. Rdn. 13

36

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN u n d MAUNZ/DÜRIG a a O

aaO (Fn. 20),

A r t . 104a Rdn. 2 9 f f . Vgl. dazu MAUNZ/DÜRIG aaO A r t . 9 1 a ; SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN

aaO

(Fn. 1)

A r t . 91 a und MARNITZ Die Gemeinschaftsaufgaben des A r t . 9 1 a G G als Versuch einer

37

V g l . STERN ( F n . 1 ) S . 8 3 4 f ; D . K E L L E R Z u m

Einfluß des Bundes bei der Finanzierung von Maßnahmen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau, D Ö V 1977 S. 844.

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

875

die Rahmenplanung und Finanzierung und überläßt es Ausführungsgesetzen dies im einzelnen zu regeln 38 . Die gemeinsame Rahmenplanung ist für alle drei Gemeinschaftsaufgaben ähnlich geregelt. Für die drei Gemeinschaftsaufgaben wird je ein gesonderter Rahmenplan aufgestellt, der den Zeitraum der mittelfristigen Finanzplanung umfaßt. Der Rahmenplan für den Hochschulbau 39 enthält im wesentlichen die einzelnen vorgesehenen Bauvorhaben, die dafür veranschlagten Kosten und die Zielvorstellungen, die mit den Bauvorhaben insgesamt erreicht werden sollen. Bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" 40 werden im Rahmenplan allgemein die Förderungsmaßnahmen (z.B. Industrieansiedlung) und die Förderungsgrundsätze für die Maßnahmen beschrieben. Ferner werden die zur Verfügung stehenden Bundesmittel auf die Länder verteilt und das Mittelvolumen für die Förderungsmaßnahmen genannt 41 . Die Förderungsmaßnahmen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" ist nicht flächendeckend, sondern beschränkt sich auf bestimmte Problemgebiete 42 . Beim Rahmenplan für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" werden vor allem die sog. Förderungsgrundsätze festgelegt und die Bundesmittel auf die Länder verteilt und das Mittelvolumen für die einzelnen Förderungsgrundsätze festgesetzt 43 . Die Gemeinschaftsaufgaben werden heute sehr stark in Frage gestellt und zwar meist von Seiten der finanzstärkeren Länder, die auf Grund ihrer Finanzkraft auch die als Gemeinschaftsausgaben genannten Bereiche in eigener Regie gut erfüllen könnten. Sie lassen dabei die Ausgleichsfunktion der Gemeinschaftsaufgaben für die finanzschwächeren Teile des Bundesgebietes außer Betracht 433 . Zuständig für die Aufstellung der Rahmenpläne ist ein Planungsausschuß. Er besteht aus dem zuständigen Fachminister des Bundes als Vorsitzendem, dem Bundesfinanzminister und je einem Minister oder Senator jedes einzelnen Landes. Jedes Land hat eine Stimme, so daß es elf Länderstimmen gibt, denen elf Bundesstimmen gegenüberstehen. Dabei dürfen die Bundesstimmen nur einheitlich abgegeben wer38

V g l . STERN a a O S . 8 3 5 .

39

Vgl. G . LACHMANN Der Staat, Bd. 14 (1975) S. 4 9 f f ; Zur Praxis siehe Zehnter Rahmenplan für den Hochschulbau, Textteil und Anhang. Vgl. z . B . Achter Rahmenplan für die Jahre 1979 bis 1982, BT-Drucks. 8/2590 S. 36. Vgl. auch Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" v. 6. 10. 1969 (BGBl. I S. 1861), geändert durch Gesetz v. 23. 12. 1971 (BGBl. I S. 2140).

40

41

42

43

43a

Vgl. das Ausführungsgesetz v. 3. 9. 1969 (BGBl. I S. 1573), geändert durch Gesetz v. 23. 12. 1971 (BGBl. I S. 2140) sowie Institut „Finanzen und Steuern", Brief 203 (Fn. 18) S. 30 ff. Vgl. zu dieser Problematik Band 55 der Schriftenreihe der Hochschule Speyer, 1975: Politikverflechtung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden; E. HEINSEN Die Reform der Finanzreform, in der Festschrift für Friedrich Schäfer, 1980, S. 233 f f ; W . KISKER Kooperation im Bundesstaat, 1 9 7 1 , S. 2 8 0 f f

P . J . TETTINGER R e c h t s a n w e n d u n g u n d g e -

u n d T . ELL WEIN K a p . 7 / 1 , d e r i n A b s c h n i t t

richtliche Kontrolle im Wirtschaftsverwal-

II 2c eine kritische Position gegenüber den Gemeinschaftsaufgaben einnimmt.

t u n g s r e c h t , 1 9 8 0 , § 1 7 II 2 u n d H . H . EBER-

STEIN Handbuch der regionalen Wirtschaftsförderung, 1971 ff.

876

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

den. Der Planungsausschuß entscheidet mit einer Mehrheit von drei Viertel der Stimmen. So ist sichergestellt, daß für den Beschluß die Stimmen des Bundes ganz und die Mehrheit der Länderstimmen erforderlich sind. Außerdem kann kein Vorhaben in einem Land ohne dessen Zustimmung durchgeführt werden. Die Mittelaufbringung ist unterschiedlich. Für den Neubau von Hochschulen und die Verbesserung der Wirtschaftsstruktur zahlen Bund und Länder je 50 v . H . , im Rahmen der Agrarstruktur und des Küstenschutzes sind diese Sätze differenziert. Bei der Agrarstruktur zahlt der Bund 6 0 v . H . und die Länder 4 0 v . H . und beim Küstenschutz zahlt der Bund 70 v . H . und die Länder 30 v . H . 4 4 . Um die Finanzierung der Rahmenpläne sicherzustellen, sind die Bundesregierung und die Landesregierungen verpflichtet, die für die Durchführung der Rahmenpläne im nächsten Jahr erforderlichen Mittel in die Entwürfe ihrer Haushaltspläne einzustellen. Parlamente sind in der Entscheidung frei. Faktisch fühlen sich die Parlamente allerdings unter Zwang gesetzt. Da die Rahmenpläne in einem verhältnismäßig schwierigen Planungsprozeß Zustandekommen und naturgemäß eine Reihe von Kompromissen zwischen den zum Teil sehr unterschiedlichen Interessen des Bundes und der elf Länder enthalten, ist es den Parlamenten nicht ohne weiteres möglich, durch die Verweigerung von Haushaltsmitteln einzelne Teile aus den Rahmenplänen herauszubrechen, ohne damit die Kompromisse insgesamt zu gefährden 45 . Lehnt z . B . ein Landesparlament die Bereitstellung von Haushaltsmitteln für eine im Rahmenplan vorgesehene Maßnahme ab oder macht es die Bereitstellung der Mittel von einer Änderung des Rahmenplanes abhängig, besteht die Gefahr, daß das Land die anteiligen Bundesmittel für die Maßnahme verliert.

e) Gemeinschaftsaufgaben

nach Art. 91b GG

Im Gegensatz zu den Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a G G , die eine feste Finanzierungsquote und ein festes Verfahren kennen, werden die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 b G G im Wege der Verwaltungsvereinbarung geregelt. Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91b G G sind die Bildungsplanung und die Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung 46 . Der Bund kann hier nur die Planungsaufgaben, nicht die Bildungseinrichtungen selbst mitfinanzieren. Im Rahmen der Forschungsförderung kann der Bund die Forschungseinrichtungen selbst mitfinanzieren. Dies geschieht aufgrund einer Rahmenvereinbarung zwischen Bund und Ländern über die gemeinsame Förderung der Forschung nach Abs. 91b G G 4 7 . Danach beträgt der Finanzierungsschlüssel für die gemeinsame Forschungsförderung in der Regel 50:50 v . H . (Sonderforschungsbereiche 75 v . H .

44

45

Vgl. PATZIG in: Institut „Finanzen und Steuern", Brief 203 (Fn. 18) S. 3 0 f f , 50. S. dazu näher SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN G G (Fn. 1) Art. 38 Rdn. 2 und Vorbem. zu Art. 91a Rdn. 8 sowie PATZIG a a O (Fn. 18) S . 40 ff.

46

Vgl.

STERN

aaO

( F n . 1) S . 8 4 0 ;

SCHMIDT-

B L E I B T R E U / K L E I N a a O ( F n . 1) § 9 1 b R d n . 5 ; 47

Bildungsgesamtplan, B T - D r u c k s . 7/1474. Vgl. Art. 6 der Rahmenvereinbarungen über die gemeinsame Förderung der Forschung nach Art. 91b vom 28. 11. 1975.

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

877

Bund, 25 v. H . Länder und bei der Großforschung 90 v. H. Bund und l O v . H . Länder). f ) Finanzhilfen

des Bundes nach Art. 104a Abs. 4 G G 4 8

Diese Vorschrift erlaubt gemeinsame Finanzierungen 49 . Die Vorschrift wird zu den Gemeinschaftsaufgaben im weiteren Sinne gezählt. Die Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes auf die Länder sind jedoch hier weit geringer als bei den eigentlichen Gemeinschaftsaufgaben. Im einzelnen hat es über diese Einwirkungsmöglichkeiten bereits viel Streit zwischen Bund und Ländern gegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei grundlegenden Entscheidungen zu Art. 104 a G G die wichtigsten dieser Streitfragen geklärt 50 . Nach Art. 104a Abs. 4 G G kann der Bund den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame 51 Investitionen der Länder und Gemeinden gewähren, die zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts 52 oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft 53 oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums 54 erforderlich sind. Es gibt also drei Alternativen, nach denen der Bund im Rahmen dieser Bestimmung Finanzhilfen gewähren kann. Die erste Alternative (Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts) hat eine wichtige konjunktur-politische Funktion. Die zweite und dritte Alternative zielen auf längerfristige Finanzhilfen des Bundes. Es geht um Investitionen, die im Hinblick auf die gesamtstaatliche Strukturpolitik und das Interesse des Bundes an überregionaler Koordination wichtig sind. Es muß sich um Investitionen handeln, die die nötige Infrastruktur (auch soziale Infrastruktur) für gleichmäßige Wirtschaftsstruktur im Bundesgebiet und für wirtschaftliches Wachstum schaffen. Nicht erfaßt werden von der Vorschrift daher z. B. Investitionen für Schulen, Sportanlagen und kulturelle Angelegenheiten55. In der Praxis werden zurzeit in folgenden Bereichen Finanzhilfen nach Art. 104a Abs. 4 G G (zweite und dritte Alternative) gewährt:

48

Vgl. dazu J. MÜLLER-VOLBEHR Fonds- und Investitionshilfekompetenz des Bundes, Münchener Universitätsschriften, Reihe der jur.

Fakultät,

Bd. 32;

Bonner Kommentar, DÜRIG

GG-Komm.,

VOGEL/KIRCHHOF

52

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN

aaO

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN Rdn. 20;

(Fn. 48)

in:

( F n . 1)

V g l . PATZIG a a O ( F n . 18) S. 5 2 f f .

BVerfGE 39, 96ff; 41, 291 ff. Vgl. zum Begriff „besonders bedeutsam" VOGEL/KIRCHHOF Bonner Kommentar,

S. 56 ff;

V.MÜNCH

153

zu

Art. 104a;

54

Art. aaO

H.FISCHER-MENSHAUSEN

GG-Komm.,

A r t . 104 a

MAUNZ/

Vgl. MÜLLER-VOLBEHR a a O (Fn. 48) S. 6 0 f ; FISCHER-MENSHAUSEN

Vgl.

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN

PATZIG

GG-Komm.,

( F n . 18)

S. 54 f;

STERN

aaO

( F n . 53)

Art.

Art. 104a Rdn. 49. 55

( F n . 1) A r t . 1 0 4 a

(Fn. 1) S. 1143 und BVerfGE 39, 96 (115).

aaO

1 0 4 a R d n . 3 3 ; MAUNZ/DÜRIG G G - K o m m . ,

DÜRIG GG-Komm., Art. 104a Rdn. 4 2 - 5 8 ; aaO

aaO

J . MÜLLER-VOLBEHR

Rdn. 28ff.

50

bis

Vgl. 104a

und

49

Rdn. 97

GG-

GG-Komm., Art. 104a Rdn. 47. 53

Art. 104 a.

51

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN

K o m m . , A r t . 1 0 4 a R d n . 19; MAUNZ/DÜRIG

Art. 104a; MAUNZ/ Art. 104a

Vgl.

Rdn. 20;

Art. 104a

aaO

MAUNZ/DÜRIG

Rdn. 51;

VOGEL/

KIRCHHOF Bonner Kommentar, Art. 104a R d n . 1 3 6 u n d S T E R N a a O ( F n . 1) S . 1 1 4 4 .

878

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

— für den sozialen Wohnungsbau im Rahmen des 2. Wohnungsbaugesetzes 5 6 (1981 etwa 1,5 Mrd. D M ) ; — zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz 5 7 (1981 etwa 2,0 Mrd. D M ) ; — für die Stadtsanierung und Stadtentwicklung nach dem Städtebauförderungsgesetz 5 8 (1981 etwa 0,4 Mrd. D M ) ; — für die Krankenhausfinanzierung nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz 5 9 (1981 etwa 0,8 Mrd. D M ) ; — für Modernisierungs- und Energiemaßnahmen nach dem Modernisierungs- und Energieeinsparungsgesetz 6 0 (1981 etwa 0,2 Mrd. D M ) ; — für die Studentenwohnheimförderung (1981 etwa 0,04 Mrd. D M ) ; — zur Schaffung zusätlicher Ausbildungskapazitäten im Rahmen der beruflichen Bildung (1981 etwa 0,01 Mrd. D M ) ; — im Rahmen des Programms für Zukunftsinvestitionen (Finanzhilfen insgesamt ungefähr 1 Mrd. D M ) 6 1 . g) Ungeschriebene Finanzierungszuständigkeit

des Bundes

Das Bundesverfassungsgericht 6 2 hat ungeschriebene Verwaltungszuständigkeiten des Bundes für Maßnahmen anerkannt, die, ohne daß es einer ausdrücklichen Regelung bedarf, der partikularen Zuständigkeit a priori entrückte Angelegenheiten des Bundes darstellen und die ihrer Art nach begriffsnotwendig unter Ausschluß anderer Möglichkeiten sachgerechter Lösung nur vom Bund wahrgenommen werden können. Diese abstrakt umschriebenen engen Voraussetzungen, unter denen ungeschriebene Verwaltungszuständigkeiten des Bundes bestehen, können naturgemäß im Einzelfall zu schwierigen Auslegungs- und Abgrenzungsfragen zwischen Bund und Ländern führen 6 3 . Ausfluß derartiger ungeschriebener Zuständigkeiten des Bundes sind z . B . die meisten Ansätze im Rahmen des Bundesjugendplanes (s. Kapitel 1502 Titelgruppe 01 Bundeshaushaltsplan) oder die Sportförderung durch den Bund (s. Kapitel 0602 Titelgruppe 01 Bundeshaushaltsplan). Aus diesen Ansätzen des Haushaltes werden die Maßnahmen nur anteilig finanziert, so daß auch hier Mischfinanzierungstatbestände vorliegen. U m in diesem schwierigen Gebiet die Streitigkeiten möglichst weitgehend einzuengen, hatten Bund und Länder versucht, ei;ie Verwaltungsvereinbarung über die sog. ungeschriebenen Kompetenzen zu schließen (Flurbereinigungsabkommen). Dieses ursprünglich für 1971 geplante Abkommen konnte nicht verwirklicht werden. Man hat in jüngster Zeit erneut Verhandlungen aufgenommen und ist auf Referenten-

56 57 58 59 60 61

B G B l . 1976 I S. 2673. B G B l . 1972 I S. 502. B G B l . 1976 I S. 2318 und 3617. B G B l . 1972 I S. 1009. B G B l . 1978 I S. 993. Vgl. Finanznachrichten des B M F N r . 18 v. 29. 5. 1981.

« 63

B V e r f G E 22, 180 ff. Vgl. dazu MAUNZ/DÜRIG G G - K o m m . , Art. 104a KLEIN

1981

R d n . 16 aaO

und

( F n . 1)

SCHMIDT-BLEIBTREU/ Art. 104a

Rdn. 3

und

Art. 30 Rdn. 7 f f ; sowie H . - J . VOGEL oben S. 846 f.

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

879

ebene zu Ergebnissen gekommen, ohne daß der Abschluß eines Verwaltungsabkommens bisher in greifbare Nähe gerückt ist. Die Interessenlage des Bundes und der Länder untereinander ist viel zu unterschiedlich, um hier zu einer ein vernehmlichen und für das Verwaltungsabkommen nötigen einstimmigen Lagebeurteilung zu kommen. Selbst wenn man in einem Gewaltakt die Mischfinanzierungen beseitigen würde, würde es nur eine kurze Zeit dauern, bis wieder neue Mischfinanzierungen, die entweder vom Bund oder einem Land gewünscht werden, vorgenommen werden 64 . 5. Stellung der Gemeinden im System der Abgrenzung der Finanzierungszuständigkeiten Das Grundgesetz geht von einem zweistufigen Aufbau unseres Staates aus. Es verteilt daher die Aufgaben und die Finanzierungszuständigkeiten nur zwischen Bund und Ländern. Die Gemeinden sind Teile der Länder. Die Aufgabenverteilung zwischen Ländern und Gemeinden ist Sache der Länder 65 , die jedoch Art. 28 Abs. 2 GG, der das Recht der Selbstverwaltung garantiert, zu beachten haben. Selbstverwaltungsgarantie schafft keinen dreistufigen Aufbau, sondern ist ähnlich den Grundrechten eine Verfassungsgarantie. Aus diesem zweistufigen Aufbau unseres Staates ergibt sich für die Abgrenzung der Finanzierungszuständigkeiten der Gemeinden das folgende: a) Abgrenzung

der Finanzverantwortung

gegenüber dem Bund

Gegenüber dem Bund gilt für die Gemeinden das gleiche wie für die Länder. Als Teile der Länder dürfen die Gemeinden nach Art. 104a Abs. 1 GG keine Bundesaufgaben finanzieren 66 . Andererseits ist es dem Bund verboten, außer in den oben bei der Abgrenzung der Finanzierungszuständigkeit zwischen Bund und Ländern beschriebenen Ausnahmefällen Aufgaben der Gemeinden zu finanzieren. Das wird deutlich in Art. 104a Abs. 4 GG. Diese Ausnahmebestimmung erstreckt sich ausdrücklich auch auf die Investitionen der Gemeinden. Ohne die Bestimmung wäre dem Bund daher in den dort geregelten Ausnahmefällen die Mitfinanzierung von Investitionen der Gemeinden nicht erlaubt 67 . b) Abgrenzung Ländern

der Finanzierungszuständigkeiten

der Gemeinden

gegenüber

den

Die Finanzlastenverteilung zwischen Ländern und Gemeinden richtet sich nach Landesrecht. Der Bund hat keinen Einfluß darauf, wie die Finanzlastenverteilung zwischen Ländern und Gemeinden ausgestaltet ist. Das gilt auch bei der Ausführung von Bundesgesetzen. Er kann lediglich nach Art. 84 Abs. 1 GG anordnen, allerdings

64

Vgl. d a z u PATZIG a a O ( F n . 48) S. 6 0 f f u n d

66

So SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN a a O ( F n . 1)

67

So MAUNZ/DÜRIG a a O Art. 104a R d n . 25.

H. APEL in „Die Zeit" v. 8. 7. 1977 N r . 29. 65

Vgl.

MAUNZ/DÜRIG

Rdn.

26.

aaO

Art. 104a

GG

Art. 104a Rdn. 8.

880

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

nur mit Zustimmung des Bundesrates, daß die Gemeindebehörden Bundesgesetze ausführen müssen. Diese Ausnahme erstreckt sich aber nicht auf die Finanzlastenverteilung. Die Bestimmung des Art. 104a Abs. 1 GG gilt nur für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, nicht für das Verhältnis zwischen Ländern und Gemeinden. In der Praxis nimmt der Bund bei den Mischfinanzierungen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" und bei den Finanzhilfen nach Art. 104a Abs. 4 GG Einfluß auf die landesinterne Finanzverteilung, wenn er zusammen mit den Ländern Investitionen der Gemeinden (z.B. gemeindliche Infrastruktur) fördert. Bei diesen Förderungsmaßnahmen bezieht sich die anteilige Finanzierung des Bundes nur auf die Mittel, die die Länder selbst erbringen und nicht auf den Eigenanteil der Gemeinden. Die Länder können sich insoweit also nicht dadurch entlasten, daß sie den Länderanteil an der Förderung ganz oder teilweise intern den Gemeinden aufbürden. Dieser nicht unbedenkliche Eingriff des Bundes in die landesinterne Lastenverteilung läßt sich nur damit rechtfertigen, daß die Gemeinden selbst Träger der Vorhaben sind und es gerade um die gemeinsame Förderung dieser Vorhaben der Gemeinden durch Bund und Länder geht 68 . 6. Stellung der Europäischen Gemeinschaften im System der Finanzierungszuständigkeiten Für das Verhältnis zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Bundesrepublik Deutschland gibt es ebenso wie im Verhältnis zwischen Ländern und Gemeinden in der Bundesverfassung oder im sonstigen Bundesrecht keine Regelung über die Trennung der Finanzierungszuständigkeiten. Eine Anknüpfung der Finanzierungszuständigkeiten an die Verwaltungszuständigkeiten ist hier ohnehin nicht möglich. Soweit aus Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaften oder aus sonstigen Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten Verwaltungsaufgaben entstehen, werden diese von den nationalen Behörden wahrgenommen. Dabei ergibt sich in der Bundesrepublik Deutschland z.B. für den gemeinsamen Agrarmarkt aus dem Gesetz über die Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen vom 31. August 1972 (BGBl. I S. 1617), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 14. Dezember 1976 (BGBl. I S.3341), ob Bundes- oder Landesbehörden zuständig sind. Die Europäischen Gemeinschaften könnten bei der Anknüpfung der Finanzierungszuständigkeiten an die Verwaltungszuständigkeiten überhaupt keine Finanzierungszuständigkeiten haben. Die Zulässigkeit solcher Finanzierungen ergibt sich aus dem Europarecht, insbesondere aus den Europäischen Verträgen selbst 69 . Die Europäischen Gemeinschaften können die Mitgliedstaaten verpflichten, bestimmte Aufgaben, die der Regelungskompetenz der Europäischen Gemeinschaften unterliegen, aus Mitteln der Mitgliedstaaten zu finanzieren. Das geschieht immer häufiger. In der Bundesrepublik, dem einzigen Bundesstaat in der Europäischen 68

Vgl

dazu

Rdn. 56.

MAUNZ/DÜRIG

aaO

Art. 104a

69

V g l . CONSTANTINESCO D a s R e c h t d e r E u r o -

päischen

Gemeinschaften,

Bd. I

S . 2 3 8 f f ; W . v . SIMSON o b e n S . 5 9 f f .

1977

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

881

Gemeinschaft entsteht das Problem, wer innerstaatlich im Verhältnis zwischen Bund und Ländern diese Kosten zu tragen hat. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß Art. 104 Abs. 1 GG angewandt werden müsse, wonach derjenige die Kosten zu tragen habe, dessen Verwaltungsbehörden die Förderungsmaßnahme durchzuführen habe. Die Länder vertreten dagegen die Auffassung, daß die Kosten immer dem Bund zur Last fallen, weil er allein an dem Zustandekommen der Rechtsvorschriften in Brüssel beteiligt ist. Zu bedenken ist, daß es sich in der Regel um Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaften handelt, die Geldleistungen gewähren. Bei entsprechenden Bundesgesetzen können sich die Länder gemäß Art. 104a Abs. 3 Satz 3 GG im Bundesrat entscheidend gegen die Kostenbelastung wehren. Aus dem Schutzzweck des Art. 104a Abs. 3 GG folgt, daß die Länder auch bei Geldleistungsvorschriften der Europäischen Gemeinschaften von Kostenbelastungen gegen ihren Willen geschützt sein müssen. Der Bund muß daher die innerstaatlich entstehenden Kosten mindestens in Höhe von 75 v. H. tragen, weil unter einem solchen Finanzierungsanteil des Bundes entsprechende Bundesgesetze nach Art. 104a Abs. 3 Satz 3 GG der Zustimmung des Bundesrates bedürfen 70 .

III. Die Einnahmeseite der öffentlichen Finanzwirtschaft Der Abschnitt über das Finanzwesen kennt nur Regelungen über die Steuern und die Kredite. Ihm fehlen Regelungen über Gebühren, Beiträge und sonstige öffentliche Abgaben wie auch über die Münzgewinne. Im Vordergrund stehen naturgemäß die Steuern, die mit über 80 v. H. das weitaus wichtigste Deckungsmittel für die öffentlichen Haushalte insgesamt ausmachen. Ein besonders bedeutsamer Teil des Rechts der öffentlichen Finanzwirtschaft besteht daher aus den Regelungen über die Verteilung der Einnahmen aus Steuern auf die verschiedenen Ebenen, auf denen öffentliche Aufgaben erfüllt werden 71 . 1. Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern Um die Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern verstehen zu können, muß man sich zunächst die allgemeine Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern in die Erinnerung zurückrufen. Wie dort wird auch auf dem Gebiete der Steuern zwischen den Gesetzgebungszuständigkeiten und den Verwaltungszuständigkeiten von Bund und Ländern unterschieden. Die Verwaltungszuständigkeit gliedert sich in die Erhebungs- und Ertragshoheit. Die Ertragshoheit bestimmt, wem die Steuern zufließen, die Erhebungshoheit bestimmt, wer die Steuern im einzelnen erhebt. Erhebungs- und Ertragshoheit decken sich nicht. Insbesondere knüpft die Ertragshoheit nicht, wie auf

70

Dazu

näher

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN

a a O (Fn. 1) A r t . 1 0 4 a R d n . 9 u n d DÜRIG a a O A r t . 1 0 4 a R d n . 2 2 .

MAUNZ/

71

Zum Steuerrecht vgl. die ausgezeichnete Darstellung von K . TIPKE Lehrbuch des Steuerrechts, 8. A u f l . , 1981 sowie die dort angeführte Literatur.

882

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

der Ausgabenseite die Finanzierungsverantwortung, an die Verwaltungszuständigkeit an. a) Die Gesetzgebungszuständigkeit

für die Steuern

Das Schwergewicht der Steuergesetzgebungskompetenzen liegt beim Bund. Hier ist der Vorrang des Bundes noch viel ausgeprägter als bei der allgemeinen Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen 72 . Nach Art. 105 Abs. 1 G G hat der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz über die Zölle und Finanzmonopole. Abs. 2 des Art. 105 G G gibt dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die übrigen Steuern, wenn ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht, oder die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 G G vorliegen. Die Voraussetzungen für die konkurrierende Gesetzgebung 73 in Art. 72 Abs. 2 G G , auf die für die Steuergesetzgebung verwiesen wird, sind soweit gefaßt, daß damit im Ergebnis alle wichtigen Steuern in der Gesetzgebungskompetenz des Bundes liegen und dementsprechend durch Bundesgesetze geregelt sind. Den Ländern verbleibt nach Art. 105 Abs. 2a G G nur die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind 74 . Die Abgrenzung dieser örtlichen Steuern, die noch zur Gesetzgebungskompetenz der Länder gehören, ist wegen des Gleichartigkeitsverbots mit bundesgesetzlich geregelten Steuern im einzelnen sehr schwierig. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fallen darunter jedenfalls die herkömmlichen, bei Inkrafttreten des Finanzreformgesetzes am 1. Januar 1970 bestehenden örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern. Das sind die Getränkesteuer, die Vergnügungsteuer, die Jagd- und Fischereisteuer sowie die Hundesteuer 75 . Bei neuen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern kommt es darauf an, daß sie in ihren wirtschaftlichen Auswirkungen den Bundesgesetzgeber nicht in seinem Spielraum für die Regelung gleichartiger Steuern wesentlich einengen. Besonders streitig ist in diesem Zusammenhang in einigen Ländern bzw. Gemeinden die eingeführte Zweitwohnungssteuer. Wirtschaftlich haben die zurzeit bestehenden örtlichen Steuern im Verhältnis zum Gesamtsteueraufkommen wenig Gewicht. Sie machen nur etwa 0,4 v. H. der Steuereinnahmen insgesamt aus. Aufgrund des umfassenden Bundesgesetzgebungsrechts können die Länder nicht selbst über ihre wichtigste Einnahmequelle, nämlich die Steuern entscheiden. Sie sind damit auf den Bundesgesetzgeber angewiesen. Falls sie aus finanzwirtschaftlichen Gründen eine Erhöhung oder auch eine Senkung der ihnen ganz oder teilweise zustehenden Steuern für

72

73

Einen Uberblick über die einzelnen Steuerarten und über die Begriffe wie Zölle, Finanzmonopole und Abschöpfungen gibt die Broschüre des B M F „Unsere Steuern von A - Z " , 4. Aufl., 1981.

74

Zu

75

den

Begriffen

„ausschließliche"

und

„konkurrierende" Gesetzgebung vgl. H . - J . VOGEL oben S. 830ff. S. dazu näher MAUNZ/DÜRIG aaO Art. 105 Rdn. 57

und

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN

aaO (Fn. 1) Art. 105 Rdn. 17. B V e r f G E 40, 5 2 f f ; 4 0 , 5 6 f f ; 42, 3 8 f ; 44, 216ff.

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

883

erforderlich halten, bleibt ihnen nur der Weg einer Gesetzesinitiative im Bundesrat. Der Bundestag ist naturgemäß frei, ob er dieser Initiative zustimmt oder nicht. Andererseits kann aber auch der Bundestag nicht nach seinem Ermessen ohne den Bundesrat den Ländern ganz oder teilweise zustehende Steuern anheben oder senken. Nach Art. 105 Abs. 3 G G unterliegt jede gesetzliche Regelung über Steuern, die ganz oder zum Teil den Ländern zustehen, der Zustimmung des Bundesrates. Dadurch hat der Bundesrat wesentlichen Einfluß auf die Steuerverteilung und die Steuerpolitik. b) Die Ertragshoheit an den Steuern Die Ertragshoheit an den Steuern ist gesondert und unabhängig von der Gesetzgebungskompetenz für die Steuern in Art. 106 G G geregelt. Bestimmte Steuern stehen allein dem Bund, andere (ebenfalls meist bundesgesetzlich geregelte) Steuern allein den Ländern zu. Ein anderer Teil der Steuern sind Verbundsteuern, d.h. sie stehen Bund und Ländern gemeinschaftlich zu 7 6 . Dem Bund allein zugewiesen sind die Finanzmonopole, die Zölle, die meisten Verbrauchsteuern (u. a. Mineralölsteuer, Branntweinsteuer, Tabaksteuer, Salzsteuer, Kaffeesteuer und Teesteuer), die nicht mehr erhobene Straßengüterverkehrsteuer, die Kapitalverkehrsteuer, die Versicherungsteuer, die Wechselsteuer, die Lastenausgleichsabgabe, die nicht mehr erhobene Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie die Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften. Das Aufkommen aus den reinen Bundessteuern betrug 1980 insgesamt 41,5 Mrd. DM. Allein den Ländern zustehende Steuern (Ländersteuern) sind nach Art. 106 Abs. 2 G G die Vermögensteuer, die Erbschaftsteuer, die Kraftfahrzeugsteuer, die meisten Verkehrsteuern (u. a. die Grunderwerbsteuer, die Feuerschutzsteuer, die Gesellschaftsteuer, die Rennwett-, Sportwett- und Lotteriesteuer), die Biersteuer sowie die Abgabe von Spielbanken. Das Gesamtaufkommen aus Ländersteuern machte 1980 16 Mrd. DM aus. Die aufkommensstärksten Steuern sind die Verbundsteuern (Gemeinschaftsteuern). Zu ihnen gehören nach Art. 106 Abs. 3 G G die Einkommen- und Körperschaftsteuer einschließlich der Lohnsteuer und die Umsatzsteuer einschließlich der Einfuhrumsatzsteuer. Aus diesen Steuern kamen 1980 insgesamt 267,3 Mrd. D M auf. Das sind weit über 70 v. H. der Steuereinnahmen. Diese Tatsache zeigt deutlich das Gewicht, das die Gemeinschaftsteuern für die Einnahmenseite der öffentlichen Finanzwirtschaft haben. Für die Regelung der Verteilung sind zwei Wege denkbar. Einmal könnten die Anteile von Bund und Ländern an den Gemeinschaftsteuern in der Verfassung selbst festgelegt sein, um stets klare Verhältnisse zu schaffen. Zum anderen wäre es denkbar, die Anteile flexibel zu lassen, um unterschiedliche Entwicklungen auf der Ausgabenseite der öffentlichen Finanzwirtschaft von Bund und Ländern oder auch auf der Einnahmenseite bei den Bund und Ländern allein 76

Zur H ö h e des Aufkommens der einzelnen Steuern vgl. Finanzbericht 1981 des B M F S. 226ff.

884

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

zustehenden Einnahmen ausgleichen zu können. Das Grundgesetz beschreitet beide Wege. Für die Einkommen- und Körperschaftsteuer sind die Anteile fest in der Verfassung geregelt. Sie betragen gemäß Art. 106 Abs. 3 Satz 2 G G nach Vorwegabzug des Gemeindeanteils von 15 v. H. an der Einkommensteuer für Bund und Länder je 50 v. H. der verbleibenden Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer. Damit sind Bund und Länder an der in der Regel verhältnismäßig stark wachsenden, aber auch besonders konjunkturanfälligen Einkommensteuer und Körperschaftsteuer gleichgewichtig beteiligt. Dagegen sind die Anteile an der Umsatzsteuer flexibel gehalten und einer Regelung durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates überlassen. Für die bundesgesetzliche Regelung, durch die die Umsatzsteueranteile festgesetzt werden, stellt das Grundgesetz in Art. 106 Abs. 3 Satz 4 G G bestimmte Grundsätze auf 76a . Der wichtigste dieser Grundsätze ist, daß der Bund und die Länder im Rahmen der laufenden Einnahmen gleichmäßig Anspruch auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben haben. Dabei gelten nach Art. 106 Abs. 9 G G als Einnahmen und Ausgaben der Länder auch die Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden und Gemeindeverbände. Hierin liegt auch eine ausdrückliche Anerkennung des zweistufigen Aufbaues unseres Bundesstaates, wonach die Gemeinden Teile der Länder sind. In Art. 106 Abs. 4 Satz 1 G G wird bestimmt, daß die Umsatzsteueranteile von Bund und Ländern neu festzusetzen sind, wenn sich das Verhältnis zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder wesentlich anders entwickelt. Diese Regelungen geben nur einen Rahmen. Sie sind keine klare Leitlinie 77 . Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, daß es für die Frage der gleichmäßigen Deckung 76a

Die Anteile am Umsatzsteueraufkommen Jahr

1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980

Umsatzsteueraufkommen

Aufkommensanteile - v.H. -

- Mio. DM -

Bund

Länder

38.125 42.898 46.981 49.486 1 51.170* 54.082 58.459 62.684 73.266 84.206 93.448

70 70 65 65 63 68,25 69 69 67,5 67,5 67,5

30 30 35 35 37 31,75 31 31 32,5 32,5 32,5

1 Ohne Investitionssteuer. Quelle: Finanzbericht 1981, Tabelle 12, S. 288ff.

77

Vgl. dazu das Gutachten „Maßstäbe und Verfahren zur Verteilung der Umsatzsteuer nach Art. 106 Abs. 3 und 4 Satz 1 G G " erstattet den Regierungschefs des Bundes und der Länder von Professoren W. GEIGER u.a., Schriftenreihe des BMF Heft30, 1981.

885

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

der notwendigen Ausgaben durch laufende Einnahmen keinen objektiven Maßstab gibt, welche Ausgaben auf Seiten des Bundes oder der Länder wirklich notwendig sind. Das wird nach der Verwaltungspraxis durch eine Vereinbarung zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten der Länder festgelegt und daraufhin die Anteile bestimmt. Diese Entscheidung ist notwendigerweise politisch und daher nicht objektiv zu messen. Wäre jede Seite gezwungen, alle politischen Entscheidungen der anderen Seite über die Ausgabengestaltung der Finanzwirtschaft als notwendig anzuerkennen, müßte sie über die Abtretung von Umsatzsteueranteilen auch ein unbedachtes Ausgabengebaren der anderen Seite mitfinanzieren. Sie würde dadurch in ihren eigenen Entscheidungen finanziell eingeengt und müßte eventuell aus ihrer Sicht sehr notwendige eigene Ausgaben einschränken oder aufgeben. Wegen des notwendigerweise politischen Charakters der Ausgabenentscheidungen von Bund und Ländern ist folglich auch der Streit über die Umsatzsteueranteile letztlich immer ein politischer Streit. Es ist jedoch nicht möglich, die Umsatzsteueranteile nur zeitlich befristet festzusetzen. Eine zeitliche Befristung, wie sie bisher üblich war, ist partiell verfassungswidrig78. 2. Verteilung der Steuern unter den Ländern Mit der oben dargelegten vertikalen Verteilung der Steuern zwischen Bund und Ländern ist erst ein Teilbereich unserer bundesstaatlichen Steuerverteilung behandelt worden 79 . Sie bedarf noch einer Ergänzung über die Verteilung der Steuern unter den Ländern 80 . Diese horizontale Steuerverteilung wird nach Art. 107 Abs. 1 G G vom Prinzip des örtlichen Aufkommens bestimmt. Danach steht eine Ländersteuer (z.B. Kraftfahrzeugsteuer) dem einzelnen Land insoweit zu, als sie von den Steuerbehörden in diesem Land vereinnahmt werden 81 . Jedes Land behält also die Einnahmen aus einer Ländersteuer, die bei den Finanzbehörden innerhalb des Landes eingehen. Das örtliche Aufkommen gilt auch für den Länderanteil an der Einkommen- (einschl. Lohn-)steuer und der Körperschaftsteuer. Durch eine reine Verwirklichung des Prinzips des örtlichen Aufkommens würde es allerdings insbesondere beim Einkommen- und Körperschaftsteueranteil der Länder zu erheblichen Ungerechtigkeiten kommen. Das wird besonders anschaulich an der Situation der Bankenkonzentration in Frankfurt und des Pendlerproblems bei den Stadtstaaten Hamburg und Bremen. Im ersten Fall entsteht die Ungerechtigkeit daraus, daß in Frankfurt verhältnismäßig viele Hauptverwaltungen von großen Banken konzentriert sind und die Körperschaftsteuer am Sitz der Hauptverwaltung gezahlt wird. Die Körperschaftsteuereinnahmen von diesen Banken gehen allein in 78 79

80

So Gutachten (Fn. 77) Vgl. dazu auch STERN und A. HENSEL Der Bundesstaat in seiner deutung, 1922. Vgl. VOGEL/WALTER Art. 107

Rdn. 24;

Textziffer 154 ff. aaO (Fn. 1) S. 1147ff Finanzausgleich im staatsrechtlichen Be-

aaO

FISCHER-MENSHAUSEN

Art. 107

Rdn. 1;

WITTMANN

T R E U / K L E I N a a O ( F n . 1) A r t . 1 0 7 R d n . l f f . 81

Bonner Kommentar,

(Fn. 53)

Einführung in die Finanzwissenschaft, III. Teil, 2. Aufl. 1976 S. 135; SCHMIDT-BLEIBVgl.

STERN

aaO

( F n . 1)

S. 1169

und

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN ( F n . 1) A r t . 1 0 7

Rdn. 4.

886

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Hessen ein, obwohl die Gewinne, auf denen die Steuern lasten, nicht nur am Sitz der Hauptverwaltung, sondern auch in den Filialen in den anderen Ländern erwirtschaftet werden. Bei dem Pendlerproblem in Hamburg und Bremen geht es darum, daß viele in Hamburg und Bremen tätige Arbeitnehmer dort ihre Löhne beziehen, aber in Niedersachsen oder Schleswig-Holstein wohnen. Dort beantragen sie ihren Lohnsteuerjahresausgleich und erhalten dort die Erstattung. Die finanzschwachen Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein zahlen die Lohnsteuer zurück, die Hamburg einnimmt. U m solche groben Unbilligkeiten zu vermeiden, ist durch die Finanzreform von 1969 in Art. 107 Abs. 2 G G für die Lohn- und Körperschaftsteuer zwingend eine Zerlegung nach Maßgabe einer näheren Regelung durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates vorgeschrieben worden. Zerlegung bedeutet Aufteilung des örtlichen Aufkommens aus einer Steuer auf die beteiligten Länder nach einem sachgerechten Schlüssel ( z . B . bei der Lohnsteuer nach dem Wohnsitzprinzip, bei der Körperschaftsteuer nach dem Betriebstättenprinzip). Dabei muß selbstverständlich nicht jeder kleine Steuerbetrag aufgeteilt werden, sondern aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung können auch Mindestbeträge vorgesehen werden 8 2 . Unabhängig von den beschriebenen Unbilligkeiten, zu denen das Prinzip des örtlichen Aufkommens führen kann, ergeben sich aus diesem Prinzip zwangsläufig wesentliche Unterschiede in der Steuerausstattung der einzelnen Länder. Die Länder mit starker Wirtschaftskraft haben verhältnismäßig hohe Steuereinnahmen, während die mehr landwirtschaftlich ausgerichteten Flächenländer verhältnismäßig niedrige Steuereinnahmen haben. Das führt dazu, daß von den reichen oder armen oder von finanzstarken und finanzschwachen Ländern die Rede ist. U m die Gleichmäßigkeit der Lebensverhältnisse zu erreichen, muß auch hier ein Ausgleich geschaffen werden. U m die durch die Bindung an das örtliche Aufkommen entstehenden Steuerkraftunterschiede ausgleichen zu können, ist für den Länderanteil an der Umsatzsteuer ein anderer Verteilungsmaßstab als das örtliche Aufkommen festgelegt. Der Länderanteil an der Umsatzsteuer nach Art. 107 Abs. 1 Satz 4 G G wird grundsätzlich nach Maßgabe der Einwohnerzahl unter den Ländern verteilt 83 . Ähnlich wie bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer und der Umsatzsteuer ein Steuerverbund zwischen Bund und Ländern besteht, gibt es bei dem Länderanteil an der Umsatzsteuer zusätzlich einen Steuerverbund. Die in den einzelnen Ländern eingehenden Anteile an der Umsatzsteuer, die der Gesamtheit der Länder zustehen, fließen gleichsam in einen Topf und werden daraus nach der Einwohnerzahl auf die Länder verteilt. In der Praxis ist das Verfahren allerdings einfacher. In einer Rechtsverordnung der Bundesregierung, die aufgrund des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern jährlich ergeht, wird der von den einzelnen Ländern an den Bund abzuführende Umsatzsteueranteil jeweils so berechnet, daß darin zugleich die Verteilung des

82

Vgl. dazu das Gesetz über die Steuerberechtigung und die Zerlegung bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer (Zerlegungsgesetz) i.d.F. v. 25. 2. 1971 ( B G B l . I S. 145).

83

Vgl. § 2 des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern v. 28. 8. 1969 ( B G B l . I S. 1432), zuletzt geändert durch das Gesetz v. 1 0 . 5 . 1980 ( B G B l . I S. 560).

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

887

Länderanteils unter den Ländern nach der Einwohnerzahl berücksichtigt ist 8 4 . Zu dieser Verteilung nach der Einwohnerzahl können noch fakultativ Ergänzungszuweisungen für die finanzschwachen Länder vorgesehen werden. Von dieser Möglichkeit hat der Bundesgesetzgeber Gebrauch gemacht. Durch sie wird die Finanzkraft der finanzschwächeren Länder je Einwohner noch einmal den steuerstärkeren Ländern angeglichen. 3. Der horizontale Finanzausgleich Ein weiteres Mittel, um die immer noch bestehenden erheblichen Unterschiede in der Steuerausstattung der einzelnen Länder anzugleichen, bildet der horizontale Finanzausgleich. Die finanzstarken Länder haben Ausgleichszahlungen an die finanzschwachen Länder zu leisten. Der horizontale Finanzausgleich ist ein Steuerkraftausgleich. Er richtet sich im Prinzip nicht nach dem Finanzbedarf, den die einzelnen Länder manipulieren können, sondern nach den Unterschieden in den Steuereinnahmen. Trotz der Ausrichtung der Ausgleichszahlungen auf einen Steuerausgleich werden in geringem Umfang in diesem System auch Bedarfsgesichtspunkte berücksichtigt. So werden z . B . zum Ausgleich der Hafenlasten von Hamburg und Bremen, die zwar von Hamburg und Bremen getragen werden, aber dem ganzen Bundesgebiet zugute kommen, bei der Berechnung der Steuerkraftmeßzahl dieser Stadtstaaten die tatsächlichen Steuereinnahmen um bestimmte Abgeltungsbeträge geringer angesetzt als sie in Wirklichkeit sind. Dadurch wird die Differenz zwischen Steuerkraftmeßzahl und Ausgleichsmeßzahl verringert und zugunsten dieser Stadtstaaten beeinflußt. Durch den horizontalen Finanzausgleich wird erreicht, daß die finanzschwachen Länder je Einwohner auf wenigstens 95 v. H . der durchschnittlichen Steuereinnahmen aus den Ländersteuern und dem Länderanteil an den Gemeinschaftsteuern (einschließlich der Hälfte der Steuereinnahmen der Gemeinden) je Einwohner im Bundesgebiet angehoben werden. U m dies zu erreichen, sind im Jahre 1980 insgesamt 2.178 Mio D M von den finanzstarken an die finanzschwachen Länder zu zahlen. Ausgleichspflichtig sind die Länder Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen und Hamburg, ausgleichsberechtigt sind die Länder Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Saarland und Bremen. Schließlich und endlich werden zu diesen horizontalen Finanzausgleichszahlungen noch Ergänzungszuweisungen des Bundes an die Länder Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und das Saarland in Höhe von 1,5 v . H . des Umsatzsteueraufkommens als vertikale Finanzausgleichszahlungen gewährt. Das sind 1981 etwa 1,5 Mrd. D M . 4. Die Stellung Berlins im System der Steuerverteilung und des Finanzausgleichs Zunächst ist für Berlin festzustellen, daß es im Finanzausgleich als Land der Bundesrepublik behandelt wird. Bei der vertikalen Verteilung der Ländersteuern und der

84

Vgl. z . B . S. 2003).

VO

v.

4.12.

1979

(BGBl. I

888

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Länderanteile an den Gemeinschaftsteuern gibt es keine großen Besonderheiten. Es gilt das Prinzip des örtlichen Aufkommens, der Länderanteil Berlins an der Umsatzsteuer richtet sich nach der Einwohnerzahl. Allerdings werden bei der Umsatzsteuer nicht wie bei den anderen Ländern bis zu 25 v. H . nach anderen Maßstäben verteilt, sondern es gilt rein das Einwohnerprinzip. Der wesentliche Unterschied gegenüber den anderen Ländern liegt darin, daß Berlin nach der Sondervorschrift des § 11 Abs. 1 des Finanzausgleichgesetzes bis auf weiteres an dem horizontalen Finanzausgleich nicht teilnimmt. Der Haushaltsbedarf wird durch Bundeszuschuß abgedeckt. Er beträgt 1981 9,7 Mrd. DM. 5. Die Stellung der Gemeinden im System der Steuerverteilung Das Grundgesetz regelt in Art. 106 GG nicht nur die Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern, sondern es geht auch um die Steuereinnahmen der Gemeinden. Durch die Zuweisung bestimmter Steuereinnahmen an die Gemeinden wird die Mitverantwortung des Bundes für die Finanzausstattung der Gemeinden garantiert 85 . Gemeindesteuern sind nach Art. 106 Abs. 6 GG die Realsteuern und die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern. Darüberhinaus sind die Gemeinden an dem bei der Einkommensteuer bestehenden Steuerverbund zwischen Bund und Ländern beteiligt. Der Gemeindeanteil an der Einkommensteuer beträgt 15 v. H . Nach Art. 106 Abs. 5 Satz 3 G G könnte den Gemeinden im Gemeindefinanzreformgesetz sogar ein Hebesatzrecht für den Gemeindeanteil an der Einkommensteuer eingeräumt werden. Ein solches Hebesatzrecht würde bedeuten, daß die Gemeinden den ihnen zustehenden Anteil von ihren Bürgern statt voll entweder zu einem geringeren oder zu einem höheren Prozentsatz erheben könnten. Die Verteilung der den Gemeinden zustehenden Einkommensteuer soll auf der Grundlage der Einkommensteuerleistungen ihrer Einwohner geschehen. Diese Bestimmung läßt eine Korrektur zu. Demgemäß wird der Gemeindeanteil an der Einkommensteuer nach einem Schlüssel auf die einzelnen Gemeinden eines Landes verteilt, bei dessen Ermittlung für die jeweilige Gemeinde nur die Einkommensteuerbeträge berücksichtigt werden, die auf die zu versteuernden Einkommensbeträge bis zu bestimmten Höchstbeträgen entfallen. Dadurch wird verhindert, daß die einzelnen Gemeinden zu große Vorteile von der starken Progression des Steuertarifs bei hohem Einkommen haben. Der kommunale Finanzausgleich ist Ländersache und wird im Grundgesetz nicht geregelt. Als Richtmaßstab muß die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse dienen. 6. Stellung der Europäischen Gemeinschaften im System der Steuerverteilung Aufgrund des Beschlusses des Rates der Gemeinschaften vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemein85

S. näher MAUNZ/DÜRIG G G - K o m m . , Art. 106 Rdn. 82 ff.

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

889

Schäften wird der Haushalt der Europäischen Gemeinschaften ab 1. Januar 1975 vollständig aus eigenen Mitteln der Gemeinschaften finanziert. Die eigenen Mittel der Gemeinschaften umfassen die Zölle, die von den Europäischen Gemeinschaften geregelten Agrarabschöpfungen sowie einen Anteil an der in den Mitgliedstaaten erhobenen Umsatzsteuer. Der Umsatzsteueranteil der Europäischen Gemeinschaften beträgt 1 v. H . einer einheitlichen steuerlichen Bemessungsgrundlage in allen Mitgliedstaaten. Den Europäischen Gemeinschaften sind also ähnlich wie den Gemeinden eigene Steuereinnahmen zugewiesen worden. Dabei haben die Europäischen Gemeinschaften an den Zöllen und Agrarabschöpfungen ähnlich wie die Gemeinden eine echte Ertragshoheit. Im Bundeshaushaltsplan 1981 sind nachrichtlich die eigenen Einnahmen der Europäischen Gemeinschaften in der Bundesrepublik veranschlagt: Anteil an der Umsatzsteuer etwa 8,4 Mrd. DM, Zölle etwa 4,5 Mrd. DM und Abschöpfungen etwa 0,6 Mrd. DM. 7. Steuerverwaltung Die Steuerverwaltung ist von der Ertragshoheit getrennt 86 . Nach Art. 108 Abs. 1 GG werden die Zölle, die Finanzmonopole, die bundesgesetzlich geregelten Verbrauchsteuern einschließlich der Einfuhrumsatzsteuer und die Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften von Bundesfinanzbehörden verwaltet. Alle übrigen Steuern werden von Landesfinanzbehörden verwaltet. Handelt es sich um Steuern, die ganz oder zum Teil dem Bund zustehen, werden die Länder nach Art. 108 Abs. 3 GG im Auftrag des Bundes tätig. So kommt es, daß für die vom Aufkommen her wichtigste Steuer, nämlich für die Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie für die Umsatzsteuer, die Finanzämter der Länder (in Bundesauftragsverwaltung) zuständig sind. Zwischen den Bundes- und Landesbehörden gibt es vielfältige Arten des Zusammenwirkens, insbesondere bei der Steuerkontrolle. Die Steuerverwaltung ist dreistufig aufgebaut. Als Unterbehörden bestehen die Zoll- und Finanzämter, als Mittelbehörden die Oberfinanzdirektionen und als oberste Behörden die Landesfinanzministerien oder das Bundesfinanzministerium 87 . Der Leiter der Oberfinanzdirektion und der Oberfinanzkasse werden vom Bundesfinanzminister im Einvernehmen mit den Landesregierungen gestellt. Nach dem Finanzverwaltungsgesetz sind sie sowohl Bundes- als auch Landesbeamte. Sie haben damit eine sehr unabhängige Stellung, die gerade bei der Finanzverwaltung Parteieinflüssen entzogen werden muß. Durch die Anerkennung der Mittelbehörden in Art. 108 GG wird deutlich, daß das Grundgesetz von einem dreistufigen Behördenaufbau ausgeht. Den Oberfinanzdirektionen können folglich auch keine unmittel-

86

V g l . d a z u STERN a a O ( F n . 1) S. 1174 f f .

87

Die Zuständigkeit ist im Gesetz über die Finanzverwaltung v. 6. 9. 1950 (BGBl. I S. 448), zuletzt geändert durch das Gesetz v.

26. 11. 1979 (BGBl. I S. 1953), das Verwaltungsverfahren in der Abgabenordnung (vgl. d a z u F . K L E I N / G . ORLOPP K o m m e n t a r z u r

Abgabenordnung, 2. Aufl. 1979) geregelt.

890

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

baren Funktionen gegenüber dem Steuerpflichtigen übertragen werden, die Sache von Unterbehörden sind. Der Oberfinanzpräsident verwaltet in der Oberfinanzdirektion selbständige Teile, die entweder Landes- oder Bundesbehörden sind. Die Zoll- und Vermögensabteilung des Bundes sind mit Bundesbeamten besetzt, ihre Leiter werden ausschließlich und ohne Mitwirkung des Landes ernannt, das gleiche gilt für die Steuer-, Landesvermögens- und Bauabteilungen, deren Leiter ausschließlich von den Ländern bestimmt werden. Die Finanzgerichtsbarkeit ist zweistufig aufgebaut. Es gibt die Finanzgerichte der Länder und den Bundesfinanzhof als oberstes Bundesgericht in München 8 8 . 8. Andere Einnahmen als Steuern Die Steuern sind zwar die wichtigste Einnahmequelle der öffentlichen Hand, aber selbstverständlich nicht die einzige. Besondere Bedeutung haben insbesondere für die Finanzwirtschaft der Gemeinden (Gemeindeverbände) die Gebühren und Beiträge, die zu einem Anteil von etwa 22 v . H . zu den kommunalen Einnahmen beitragen. In neuerer Zeit haben die nicht unter die Steuern fallenden sonstigen Abgaben immer größere Bedeutung gewonnen. Diese Abgaben eigener Art, allgemein Ausgleichsabgaben genannt, haben sich aus den sog. wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Ausgleichsabgaben entwickelt. Sie sind aber längst nicht mehr auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt. Das ausschlaggebende Unterscheidungsmerkmal zu den Steuern besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darin, daß diese Abgaben nur von bestimmten natürlichen oder juristischen Personen erhoben werden, die zum Zweck, dem das Abgabeaufkommen dient, eine besondere Beziehung haben. Bei der schwierigen Finanzlage des Staates wird immer wieder versucht, für besondere Aufgaben über Sonderabgaben neue Finanzquellen zu erschließen. Das Bundesverfasungsgericht hat die Gefahr für die finanzverfassungsrechtliche Ordnung erkannt und festgestellt, daß die Sonderabgabe ein spezielles gesetzgeberisches Instrument ist, das gegenüber der Steuer die seltene Ausnahme zu sein hat 8 9 .

IV. Selbständigkeit der Finanzwirtschaft von Bund, Ländern, Gemeinden und Europäischen Gemeinschaften Die Abgrenzungen und Verflechtungen der Finanzwirtschaft von Bund, Ländern, Gemeinden und Europäischen Gemeinschaften bilden den Rahmen, in dem sich die Finanzwirtschaft der vier Ebenen vollzieht. In diesem Rahmen sind die Ebenen in der Finanzwirtschaft selbständig und unabhängig.

88

89

Vgl. Finanzgerichtsordnung v. 6 . 1 0 . 1965 ( B G B 1 . 1 S. 1477). Vgl. F. KLEIN Zur Verfassungsmäßigkeit von Sonderabgaben und ihre Abgrenzung zu

den Steuern, D S t R 1981, Heft 10 S. 275ff sowie B V e r f G E 55, 274 (297ff).

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

891

1. Geltung des Grundsatzes der Selbständigkeit Für Bund und Länder wird der Grundsatz der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Haushaltswirtschaft und damit auch letztlich für die gesamte Finanzwirtschaft in Art. 109 Abs. 1 G G ausdrücklich festgelegt 90 . Er gilt im Prinzip auch für die Finanzwirtschaft der Kommunen. Im Verhältnis zum Bund werden die Gemeinden ebenfalls durch Art. 109 Abs. 1 G G geschützt, weil sie Teile der Länder sind. Art. 109 G G betrifft allerdings nicht das interne Verhältnis zwischen Ländern und Gemeinden. Hier bietet aber die Garantie der Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 G G einen bundesverfassungsrechtlichen Schutz. Selbstverwaltung für die örtlichen Angelegenheiten muß auch Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Finanzwirtschaft für diese Angelegenheiten bedeuten, wenn auch der Grundsatz nicht so stark ausgeprägt und geschützt ist, wie zwischen Bund und Ländern. Schließlich läßt sich auch für die Europäischen Gemeinschaften eine Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Finanzwirtschaft feststellen (vgl. insbesondere Art. 99ff EG-Vertrag). Zu einer wesentlichen Stärkung der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Europäischen Gemeinschaften hat der bereits oben bei den Einnahmen der Europäischen Gemeinschaften genannte Beschluß des Rates vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften beigetragen. Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang ferner das durch Änderung des Art. 203 EG-Vertrag eingeführte Bundesbudgetrecht des Parlaments der Europäischen Gemeinschaften 91 . 2. Durchbrechungen des Grundsatzes der Selbständigkeit der Finanzwirtschaft der Ebenen Die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Finanzwirtschaft der verschiedenen Ebenen kann nicht bedeuten, daß ihre Finanzwirtschaft ohne Rücksicht aufeinander betrieben werden kann. Alle Ebenen sind dem Gemeinwohl verpflichtet, was zu gegenseitigen Rücksichtnahmen und unter Umständen auch zu gemeinsamen Anstrengungen zwingt 9 2 . Demgemäß gibt es die wichtigen Koordinierungen, wie den Finanzplanungsrat (Zusammensetzung und Aufgaben siehe § 51 Haushaltsgrundsätzegesetz 93 ) und den Konjunkturrat (Zusammensetzung und Aufgaben siehe § 18 Stabilitätsgesetz 94 ) für die Finanzwirtschaft von Bund, Ländern und Gemeinden.

90

Vgl.

MAUNZ/DÜRIG

SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN

" 92

aaO aaO

Art. 109;

93

( F n . 1)

Art. 1 0 9 . B G B l . 1976 II S. 133. Für Bund und Länder findet dies besonderen Ausdruck in dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Gebot zur Bundestreue, vgl. MAUNZ Staatsrecht, 22. Aufl. S. 219.

94

Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder v. 19. 8. 1969 ( B G B l . I S. 1273). Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft v. 8. 6. 1967 ( B G B l . I S. 582).

892

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Besondere Durchgriffsmöglichkeiten, die insbesondere der Konjunktursteuerung dienen, hat der Bund gegenüber den Ländern und zum Teil auch gegenüber den Gemeinden nach Art. 109 Abs. 3 und 4 G G . Er kann durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, Grundsätze für das Haushaltsrecht, für eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und für eine mehrjährige Finanzplanung aufstellen. Davon hat er im Haushaltsgrundsätzegesetz und im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft Gebrauch gemacht. Femer kann er zur Bekämpfung oder Abwehr von konjunkturellen Uberhitzungserscheinungen durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, die Kreditaufnahme von Bund, Ländern und Gemeinden beschränken und Bund und Länder zur Bildung von Konjunkturausgleichsrücklagen bei der Bundesbank verpflichten.

V. Das Haushaltsverfassungsrecht im engeren Sinne Das Grundgesetz stellt in den Art. 110 bis 115 G G Grundsätze für das Haushaltsrecht des Bundes auf 9 5 . Es knüpft dabei an Überlegungen der Weimarer Zeit an, läßt aber wesentliche rechtsdogmatische Fragen unbeantwortet, so die Frage, ob das Haushaltsgesetz und mit ihm der Haushaltsplan materielle oder nur formelle Gesetzlichkeit für sich in Anspruch nehmen darf 9 6 . Einen Teil dieser Fragen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zum Haushaltsverfassungsrecht gelöst 97 . In Art. 110 G G sind die Grundsätze des Haushaltsplanes des Bundes niedergelegt. Alle Einnahmen und Ausgaben müssen, soweit vorhersehbar, veranschlagt und in den Haushaltsplan eingestellt werden. Hiervon sind auch die Ausgaben nicht ausgenommen, die auf mehrere Jahre im voraus bewilligt worden sind. Die betreffenden Raten sind nicht nur in den Haushalten des ersten, sondern auch in diejenigen des jeden folgenden Jahres als Bewilligungsperiode einzustellen. Dabei gilt das Fälligkeitsprinzip. Die Ausgaben bzw. Raten sind in die Haushaltspläne derjenigen Jahre einzustellen, in denen sie fällig werden. Vorher werden Verpflichtungsermächtigungen ausgebracht. Nicht in den Haushaltsplan gehören die Einnahmen und Ausgaben von selbständigen Vermögen, wie der Bundespost und Bundesbahn; bei ihnen brauchen nur die Zuführungen und die Ablieferungen in den Bundeshaushaltsplan eingestellt zu werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind das Haushaltsgesetz und der Haushaltsplan Recht im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G 9 8 . Der

95

Vgl. dazu STERN aaO (Fn. 1) S. 1187ff.

96

V g l . K . M . HETTLAGE Z u r R e c h t s n a t u r des

Haushaltsplanes, in: Festschrift für Werner W e b e r , 1974 S. 391 ff u n d R . MUSSGNUG der

Haushaltsplan als Gesetz, 1976.

97

98

BVerfGE 1, 117 (140); 1, 144 (161); 1, 299 (307); 4, 7 (14, 26); 20, 56ff; 45, l f f . BVerfGE 20, 56 (89f, 92); 38, 121, (127).

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

893

Haushalt ist ein Wirtschaftsplan und zugleich ein staatsleitender Hoheitsakt in Gesetzesform, eine wirtschaftliche Grundsatzentscheidung für zentrale Bereiche der Politik während des Planungszeitraumes. Aus Art. 110 G G können folgende Haushaltsgrundsätze abgeleitet werden": 1. Grundsatz der vollständigen Veranlagung Die Regierung soll grundsätzlich alle Einnahmen und Ausgaben veranschlagen und in die Regierungsvorlage einsetzen. Man spricht auch von dem Grundsatz der Vollständigkeit 100 . 2. Grundsatz der Haushaltseinheit Für ein Rechnungsjahr soll grundsätzlich ein Haushaltsplan aufgestellt werden 101 . Alle Einnahmen und Ausgaben sind in diesem einen Plan zu veranschlagen. Die Flucht aus dem Budget in sog. Schattenhaushalte ist zu einem Mittel geworden, um rein formal die Grundsätze des Stabilitätsgesetzes zu wahren, die Steigerungsquote entsprechend dem Stabilitätsgebot zu halten. Eine Ausnahme von dem Grundsatz der Einheit des Haushaltsplans enthält Art. 110 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz G G . Dieser betrifft die Bundesbetriebe mit eigener Wirtschaftsführung. 3. Grundsatz der Gesamtdeckung Dieser Grundsatz besagt, daß sämtliche Einnahmen als Deckungsmittel für sämtliche Ausgaben dienen 102 . Es dürfen nicht, wie es für die sog. Fondswirtschaft typisch ist, einzelne Einnahmen für bestimmte Ausgaben vorbehalten oder umgekehrt einzelne Ausgaben für bestimmte Einnahmen ausgewiesen werden (Verbot der Zweckbindung). Gerade gegen diesen Grundsatz wird sehr häufig verstoßen, wenn bestimmte Steuern nur bestimmte Steuerpflichtige belasten. In diesem Zusammenhang zeigt sich auch sehr deutlich die Problematik der Abgaben besonderer Art 1 0 3 . 4. Grundsatz der Vorherigkeit Der Haushaltsplan ist vor Beginn des Rechnungsjahres zu verabschieden 104 . Alle Verfassungsorgane haben die Pflicht, daran mitzuwirken, daß der Haushaltsplan regelmäßig vor Ablauf des vorherigen Rechnungsjahres verabschiedet wird 1 0 5 .

99

Haushaltsgrundsätzegesetz (Fn. 93) und Bundeshaushaltsordnung, beide v. 19. 8. 1969 (BGBl. I S. 1273 bzw. 1284), konkretisieren das Haushaltsverfassungsrecht (so STERN (Fn. 1) S. 1206).

100 V g l .

E. A.

PIDUCH

Bundeshaushaltsrecht,

Loseblatt, Stand: Januar 1981, Art. 110 G G Textziffer 28 und SCHMIDT-BLEIBTREU/ KLEIN a a O ( F n . 1) A r t . 110 R d n . 12. 101 V g l . PIDUCH B u n d e s h a u s h a l t s r e c h t ( F n . 100) A r t . 110 T e x t z i f f e r 19; H . FISCHER-MENHAUSEN a a O ( F n . 53) A r t . 110 R d n . 9 ; F . NEUMARK D e r R e i c h s h a u s h a l t s p l a n , 1929

S. 126;

DERS.

HdbFWI,

2. Aufl.

1952

S . 578. 102 V g l . PIDUCH a a O Bundeshaushaltsrecht ( F n . 100) A r t . 110 T e x t z i f f e r 3 4 ; MAUNZ/ DÜRIG a a O A r t . 110 R d n . 2 6 ; SCHMIDTBLEIBTREU/KLEIN a a O ( F n . 1) A n . 110 Rdn. 12. 103 104

105

S . Fn. 89. V g l . NEUMARK R e i c h s h a u s h a l t s p l a n ( F n . 101) S . 2 8 4 ; PIDUCH a a O ( F n . 100) A r t . 110

Textziffer 58. BVerfGE 54, 1 (33).

894

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

5. Grundsatz der Haushaltswahrheit und der Haushaltsklarheit Der Haushaltsplan darf keine Ansätze enthalten, die den wahren Sachverhalt verschleiern 1 0 6 . Die Schätzungen des Haushaltsplans müssen nach bestem Wissen und Gewissen aufgestellt sein 1 0 7 . 6. Grundsatz des Haushaltsausgleichs Der Haushaltsplan muß in Einnahme und Ausgabe ausgeglichen sein. Dieser Grundsatz ist rein formal 1 0 8 . Soweit Ausgaben eingestellt werden, können die Einnahmen über den Kredit beschafft werden. Jedoch ist die Kreditgrenze des Art. 115 G G zu beachten. Die Pflicht zum Haushaltsausgleich besteht beim Bundesminister der Finanzen. Er hat einen ausgeglichenen Haushalt zu erarbeiten. Die Bundesregierung hat dem Parlament einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Der Bundestag und der Bundesrat müssen bei Änderung der Einnahmen und Ausgaben den Ausgleich wiederum herbeiführen. Das Bundesverfassungsgericht kann im Wege der Normenkontrolle prüfen, ob die Einnahme- und Ausgaberechnung stimmt. Das Defizit-Spending zum Ausgleich der Konjunkturschwankungen widerspricht nicht dem Grundsatz des Haushaltsausgleichs. Das Defizit-Spending will lediglich höhere Kredite in Konjunkturtälern zum Anheizen der Konjuktur vorsehen. 7. Das sachliche und zeitliche Bepackungsverbot Art. 110 Abs. 4 G G enthält das sachliche und zeitliche Bepackungsverbot 1 0 9 . In das Haushaltsgesetz dürfen keine Vorschriften aufgenommen werden, die sich nicht auf die Einnahmen und Ausgaben des Bundes oder seiner Verwaltung beziehen. Ein Verstoß gegen eines der Bepackungsverbote kann zur Nichtigkeit des betreffenden Teils des Haushaltsgesetzes führen 1 1 0 . Ist bis zum Schluß eines Rechnungsjahres der Haushaltsplan für das folgende Jahr nicht durch Gesetz festgestellt, so ist nach Art. 111 G G bis zu seinem Inkrafttreten die Bundesregierung ermächtigt, alle Ausgaben zu leisten, die nötig sind, a) um gesetzlich bestehende Einrichtungen zu erhalten und gesetzlich beschlossene Maßnahmen durchzuführen. b) um die rechtlich begründeten Verpflichtungen des Bundes zu erfüllen und c) um Bauten, Beschaffungen und sonstige Leistungen fortzusetzen oder Beihilfen für diese Zwecke weiterzugewähren, sofern durch den Haushaltsplan eines Vorjahres bereits Beträge bewilligt worden sind 1 1 1 .

106

107

So STERN (Fn. 1) S. 1245 mit Hinweis auf G . SCHMÖLDERS Probleme des öffentlichen Budgets, 1964 S. 76. So PIDUCH Bundeshaushaltsrecht (Fn. 100) Art. 110 Textziffer 25; SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN A r t . 110 R d n . 17.

108

Vgl. dazu STERN (Fn. 1) S. 1249f mit weiteren Nachweisen.

109 VG] A. v. PORTATIUS Das haushaltsrechtliche Bepackungsverbot, 1975 und SCHMIDTB L E I B T R E U / K L E I N G G ( F n . 1) A r t . 1 1 0 R d n .

21. 110 111

So auch STERN (Fn. 1) S. 1253. Zu den Grenzen vgl. B V e r f G E 45, 1 (31).

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

895

Soweit nicht auf besonderen Gesetzen beruhende Einnahmen aus Steuern, Abgaben und sonstigen Quellen oder die Betriebsmittelrücklage diese Ausgaben decken, darf die Bundesregierung die zur Aufrechterhaltung der Wirtschaftsführung erforderlichen Mittel bis zur Höhe eines Viertels der Endsumme des abgelaufenen Haushaltsplanes im Wege des Kredits flüssig machen. Die hier aufgestellte Kreditgrenze ist absolut. Sie kann bei der zurzeit hohen Kreditfinanzierung des Haushaltes zu Schwierigkeiten führen, wenn der Haushalt, wie z. B. 1981, erst in der zweiten Hälfte des Jahres verabschiedet wird und die Bruttokreditaufnahme wegen der Kurzfristigkeit der Mittel die Nettokreditaufnahme erheblich übersteigt. Überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben bedürfen der Zustimmung des Bundesministers der Finanzen 112 . Sie darf nur im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses erteilt werden. Diese Möglichkeit der überplanmäßigen und außerplanmäßigen Ausgabenbewilligung gilt auch im Rahmen der vorläufigen Haushaltsführung. Um die Ausgabefreudigkeit der Parlamente zu kontrollieren und zu erschweren, ist in Art. 113 GG ein Vetorecht der Bundesregierung vorgesehen 113 . Gesetze, welche die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Ausgaben des Haushaltsplanes erhöhen oder neue Ausgaben in sich schließen oder für die Zukunft mit sich bringen, bedürfen der Zustimmung der Bundesregierung. Das gleiche gilt für Gesetze, die Einnahmeminderungen in sich schließen oder für die Zukunft mit sich bringen. Die Bundesregierung kann verlangen, daß der Bundestag die Beschlußfassung über solche Gesetze aussetzt. In diesem Falle hat die Bundesregierung innerhalb von sechs Wochen dem Bundestag eine Stellungnahme zuzuleiten. Die Bundesregierung kann innerhalb von vier Wochen, nachdem der Bundestag das Gesetz beschlossen hat, verlangen, daß der Bundestag erneut Beschluß faßt. Ist das Gesetz nach Art. 78 GG zustandegekommen, kann die Bundesregierung ihre Zustimmung innerhalb von sechs Wochen nur dann versagen, wenn sie vorher das Verfahren nach Abs. 1 Satz 3 und 4 oder nach Abs. 2 eingeleitet hatte. Nach Ablauf dieser Frist gilt die Zustimmung als erteilt. Mit dieser Vorschrift wird die Etatverantwortung der Bundesregierung auch bei ausgabeerhöhenden Gesetzen klargestellt. Das letzte Wort soll die Bundesregierung haben. Der Bundesminister der Finanzen hat dem Bundestag und Bundesrat über alle Einnahmen und Ausgaben sowie über das Vermögen und die Schulden im Laufe des nächsten Rechnungsjahres zur Entlastung der Bundesregierung Rechnung zu legen 114 . Der Bundesrechnungshof, dessen Mitglieder richterliche Unabhängigkeit besitzen, prüft die Rechnung sowie die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung. Er hat außer der Bundesregierung unmittelbar dem Bundestag und dem Bundesrat jährlich zu berichten. Im übrigen werden die 112

113

Vgl. SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN G G (Fn. 1) Erl. zu A r t . 112 und B V e r f G E 45, l f f . Vgl. W . HENRICHS A r t . 113 des Grundgesetzes und verwandte Bestimmungen, Diss. Bonn 1958; DERS. A r t . 113 des Grundgeset-

114

zes, Institut „Finanzen und Steuern", Heft 55, 1958; SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN G G (Fn. 1) Art. 113 Rdn. l f f . Vgl. dazu insbesondere STERN (Fn. 1) S. 4 0 7 mit umfassenden Literaturhinweisen.

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

896

Befugnisse des Bundesrechnungshofes durch Bundesgesetz geregelt (Art. 114 GG) 1 1 4 a . Es wird immer wieder eine stärkere Wirksamkeit der Rechnungsprüfung verlangt und dabei erwogen, den Rechnungshof möglichst frühzeitig in den Verwaltungsvollzug einzuschalten. Hier liegen erhebliche Gefahren für die unabhängige Rechnungsprüfung. N u r der kann mit richterlicher Unabhängigkeit prüfen, der nicht selbst beim Verwaltungsvollzug beteiligt war. Die Finanzverfassung schließt ab mit einer Kreditaufnahmebegrenzung 115 . Die Aufnahme von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, bedürfen einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Bundesgesetz. Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten. Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt. Für Sondervermögen des Bundes können durch Bundesgesetz Ausnahmen von Abs. 1 zugelassen werden. Die derzeitige Fassung ist durch die Finanzreform von 1969 geschaffen worden. In seiner ursprünglichen Fassung folgt Art. 115 G G den klassischen Regeln der Staatsfinanzierung, die öffentliche Verschuldung Ausnahmelagen vorbehielten und nur insoweit zuließen, als Krediteinnahmen im Rahmen eines außerordentlichen, gesondert auszugleichenden Haushalts der Deckung bestimmter Vorhaben zu werbenden Zwecken dienten. Die Einnahmen aus Krediten dürfen heute die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten. Investitionen im Sinne dieser Vorschrift sind alle Maßnahmen, die bei makroökonomischer Betrachtung die Produktionsmittel der Volkswirtschaft erhalten, vermehren oder verbessern. Nicht als Investitionen im Sinne dieser Haushaltssystematik gelten Käufe und Anlagen für Verteidigungszwecke 116 . Eine Überschreitung dieser Kreditbegrenzung ist nur zulässig, wenn es zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts notwendig ist. Der Kredit muß zur Abwehr notwendig und geeignet sein. Es wird also eine Finalität vorausgesetzt.

VI. Schlußbemerkung Diese Regelungen der Finanzverfassung werden noch ergänzt durch Regelungen in der Notstandsverfassung und in den Uberleitungsvorschriften. Das Grundgesetz hat sorgsam darauf geachtet, daß die Nerven des Staates, die Staatsfinanzen, soweit als möglich eindeutig verfassungsrechtlich geregelt sind. Bund und Länder wissen aus

U4a

115

Gesetz über Errichtung und Aufgaben des Bundesrechnungshofes vom 27. November 1950, BGBl. 1950 S. 765. Dazu die Neubearbeitung der Kommentie-

r u n g des A r t . 115 G G in: MAUNZ/DÜRIG 1 9 8 1 u n d STERN ( F n . 1) S . 1 2 7 7 f f . 116

Vgl. E . FRICKE D a s h a u s h a l t s r e c h t l i c h e V e r -

bot einer übermäßigen Kreditfinanzierung, DVB1. 1 9 7 7 S . 2 6 .

2. Abschnitt. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (KLEIN)

897

den beiden voraufgegangenen Verfassungen von 1871 und 1919, daß zur Wahrung ihrer bundesstaatlichen Positionen die Verankerung des Finanzwesens in der Verfassung sorgsam bedacht werden muß, um vor Überraschungen durch Mehrheitsentscheidungen geschützt zu sein. Es ist sehr interessant, daß die Enquete-Kommission Verfassungsreform zur Finanzverfassung nach Prüfung der aufgeworfenen Fragen, nach dem Ergebnis der Anhörung und nach eingehender Erörterung der in Betracht kommenden Artikel des Grundgesetzes und der hierzu gestellten Anträge zu der Auffassung gelangte, daß am gegenwärtigen System der Finanzverfassung festzuhalten ist. Sie hat es als unmöglich erachtet, Bund, Ländern und Gemeinden eine vollkommene Kongruenz der ihnen verfassungsrechtlich zur Verfügung stehenden Mittel mit den ihnen jeweils gestellten Aufgaben zu garantieren. Selbst wenn ein solcher Idealzustand — äußerstenfalls vorstellbar in dem niemals eintretenden Zustand statischer Beharrung — erreichbar wäre, würde er die notwendige finanzpolitische Flexibilität in Frage stellen. U m diese Flexibilität allseitig zu wahren, sah es die Kommission als unvermeidlich an, die gegenwärtige Steuerverteilung unverändert zu lassen und zur Ergänzung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs einen vergleichsweise kleinen Bereich gemeinsamer Aufgabenerfüllung durch Bund und Länder aufrechtzuerhalten 1 1 1 . Sie kann als ausgewogen bezeichnet werden.

117

BT-Drucks. 7/5924 S. 200.

3. Abschnitt

Der Bundesrat und seine Bedeutung D I E T H E R POSSER

I. Vorläufer und Entstehungsgeschichte des Bundesrates Von den ursprünglich XI Abschnitten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland 1 ist ein einziger von keiner der 34 bisher in Kraft getretenen Grundgesetzänderungen betroffen gewesen: Der die Artikel 50—53 umfassende Abschnitt „Der Bundesrat". Das könnte die Annahme nahelegen, die Rechtsstellung und politische Bedeutung dieses Verfassungsorgans seien bei den Verfassern des Grundgesetzes und in der mehr als dreißigjährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland unumstritten gewesen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Konstruktion und die Festlegung der verfassungsmäßigen Rechte dieses obersten Staatsorgans, das die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Gesamtstaates sichern soll, waren schon in den Beratungen des Parlamentarischen Rates heftig umkämpft. 1. Die Entscheidung für den Bundesstaat gehört ebenso wie die für die parlamentarische Demokratie und den sozialen Rechtsstaat zu den die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland tragenden Grundentscheidungen. Sie folgte zwar einem ausdrücklichen Wunsch der westlichen Militärgouverneure, entsprach aber auch und vor allem den Vorstellungen der maßgeblichen politischen Kräfte nach dem Zusammenbruch von 1945. Die besondere Bedeutung, die der Verfassungsgeber von 1949 der Entscheidung für den föderalistischen Staatsaufbau gab, wird dadurch unterstrichen, daß er ihn im Kern jeder Verfassungsänderung entzog: Art. 79 Abs. 3 G G bestimmt u.a. ausdrücklich, daß eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder oder die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung berührt werden, unzulässig ist. In der Entscheidung für den Bundesstaat ist nach deutscher Verfassungstradition auch die Mitwirkung der Gliedstaaten an der Gestaltung des Bundesschicksals durch ein die Gliedstaaten repräsentierendes, aus Landesvertretern bestehendes Verfassungsorgan eingeschlossen. Der von den Regierungschefs der westdeutschen Länder bei ihrer Konferenz in

1

Seit 1949 sind die Kapitel IVa (Art. 53 a) und X a ( A r t . 115a—1) durch das 17. Änderungsgesetz vom 24. 6. 1968 (BGBl. I 709) und das

Kapitel VIII a (Art. 91 a und b) durch das 21. Änderungsgesetz vom 12. 5. 1969 (BGBl. I 359) in das G G eingefügt worden.

900

5. Kapitel. Die bundesstaatliche O r d n u n g des Grundgesetzes

Frankfurt am 26. Juli 1948 berufene Sachverständigenausschuß, nach seinem Tagungsort als Verfassungskonvent von Herrenchiemsee bekannt, wie auch kurze Zeit später der von den Landesparlamenten bestimmte Parlamentarische Rat, der am 1. September 1948 in Bonn seine Arbeit aufnahm, betraten deshalb kein Neuland, als sie Vorschläge für eine neue deutsche Verfassung ausarbeiteten. Sie waren sich der geschichtlichen Kontinuität und historischen Tradition einer „Länderkammer" auch durchaus bewußt. Die Bedeutung des Bundesrates in der ihm durch das Grundgesetz gegebenen Ausformung kann daher auch nicht losgelöst von der geschichtlichen Entwicklung gewürdigt werden. 2 a) In diesem Zusammenhang wird gelegentlich der Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der seit 1663 in Gestalt eines Gesandtenkongresses in Regensburg als ständige Einrichtung tagte, genannt. Er gehört aber streng genommen nicht zu den Vorläufern des Bundesrates: Die Verfassung des alten Deutschen Reiches entzieht sich angesichts ihrer besonderen Eigenart einer Beurteilung unter den für eine bundesstaatliche Ordnung bedeutsamen Gesichtspunkten. Dagegen kann das einzige Organ des Deutschen Bundes (1815—1866), die als ständiger Gesandtenkongreß der verbündeten Staaten in Frankfurt tagende Bundesversammlung (später Bundestag genannt) als Vorläufer des Bundesrates betrachtet werden, obwohl der Deutsche Bund, in Art. 1 der Wiener Schlußakte als ein völkerrechtlicher Verein bezeichnet, nur als Staatenbund und nicht als Bundesstaat angesehen werden kann. b) Ideengeschichtlich bedeutsam ist dagegen die von der Frankfurter Nationalversammlung am 28. März 1849 beschlossene, allerdings nie wirksam gewordene Verfassung. Sie sah erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte einen Bundesstaat vor, in dem ein Staatenhaus zusammen mit einem Volkshaus den Reichstag bilden sollten. Für das Staatenhaus waren 192 Vertreter der Einzelstaaten vorgesehen, die je zur Hälfte durch die Regierungen und die Volksvertretungen der Länder bestellt werden sollten. Für Beschlüsse des Reichstags sollte Übereinstimmung der beiden Häuser erforderlich sein. Der darin zum Ausdruck kommende Grundsatz der Gleichberechtigung beider Häuser ist bei diesem ersten Versuch, ein föderalistisches Organ zu schaffen, ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, daß die Hälfte seiner Mitglieder durch die Volksvertretungen der Länder entstandt werden sollten. Hier findet sich eine für die spätere Verfassungsdiskussion lebendig gebliebene Verbindung der „Bundesratslösung", bei der die Mitglieder des föderativen Organs von den Landesregierungen entsandt werden, und der „Senatslösung", bei der sie unmittelbar von der Bevölkerung oder von den Volksvertretungen gewählt werden. c) Bei der Errichtung des Norddeutschen Bundes kam es zu einer institutionellen und organisatorischen Stärkung der Zentralgewalt, die im wesentlichen den Vorstellungen BISMARCKS entsprach. Als Träger der Bundesgewalt wurde die Gesamtheit der Fürsten und Senate angesprochen. Folgerichtig war die eigentliche gesetzgebende Gewalt dem Bundesrat übertragen, der nach Art. 6 der Bundesverfassung vom 17. April 1867 aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes bestand, während der aus allgemeinen und direkten Wahlen hervorgehende Reichstag an der Gesetzgebung „mitwirkte".

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung

(POSSER)

901

d) Die Verfassung des Norddeutschen Bundes war bestimmend für die Reichsverfassung vom 16. April 1871. Auch in der Reichsverfassung ist, als Folge der bestehenden staatsrechtlichen und politischen Verhältnisse, der bundesstaatliche Charakter des deutschen Reiches stark ausgeprägt mit einem deutlichen Ubergewicht des Bundesrates, der sich — eine konsequente Bundesratslösung — aus den Vertretern der Mitglieder des Reiches zusammensetzte, die ihre Stimmen nach Weisung und jeweils einheitlich abgaben. Der Bundesrat war Träger der Reichssouveränität. Bei ihm lag das Schwergewicht der Gesetzgebung. Nach Art. 5 der Reichsverfassung wurde die Reichsgesetzgebung zwar durch den Bundesrat und den Reichstag ausgeübt, und es war auch die Ubereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen für ein Reichsgesetz erforderlich. Nach Art. 7 der Reichsverfassung hatte der Bundesrat aber über die Vorlagen an den Reichstag und die von ihm gefaßten Beschlüsse zu entscheiden; er erteilte also die Sanktion. BISMARCK verteidigte diese Verfassungslage am 19. April 1871 vor dem Reichstag und richtete an diesen die Aufforderung: „Tasten Sie nicht den Bundesrat an, ich sehe eine Art von Palladium für unsere Zukunft, eine große Garantie für die Zukunft Deutschlands in dieser Gestaltung" 2 . Trotz dieser besonderen Stellung des Bundesrates war das Deutsche Reich allerdings weitgehend geprägt durch die Hegemonie Preußens, dem von den 58 Bundesratsstimmen zwar nur 17 zustanden, das aber wegen der politischen Abhängigkeit der nordund mitteldeutschen kleineren Staaten in Wirklichkeit über den bestimmenden Einfluß verfügte, obwohl BISMARCK den süddeutschen Staaten beim Eintritt in das Deutsche Reich Zugeständnisse machte, die als „Reservatrechte" verstanden wurden. Tatsächlich ist Preußen im Kaiserreich nur einmal überstimmt worden. e) Nach dem Zusammenbruch der monarchischen Ordnung am Ende des 1. Weltkrieges schuf die Weimarer Nationalversammlung durch das „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt" vom 10. Februar 1919 als Nachfolger des Bundesrates bis zum Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung den Staatenausschuß und verwirklichte damit — insoweit der Reichsverfassung folgend — eine Bundesratslösung, obwohl eine ausdrückliche Vorschrift darüber fehlte, wer die Mitglieder des Staatenausschusses zu bestellen hatte. Vorlagen der Reichsregierung bedurften vor ihrer Einbringung bei der Nationalversammlung der Zustimmung des Staatenausschusses; bei fehlender Ubereinstimmung konnten Reichsregierung und Staatenausschuß ihre eigenen Entwürfe einbringen. f) Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 sah in Art. 60 als Länderorgan den Reichsrat vor, in dem die Länder durch Mitglieder ihrer Regierungen vertreten wurden mit der in Art. 63 vorgesehenen Einschränkung, daß die Hälfte der Stimmen des Staates Preußen von den preußischen Provinzialverwaltungen zu bestellen war. Jedes Land erhielt mindestens 1 Stimme; kein Land durfte durch mehr als 2 /s der Gesamtstimmenzahl vertreten sein. Die Befugnisse des Reichsrates wurden im Zuge der Grundentscheidung für Volkssouveränität und ein gesamtstaatlich 2

Sten. Bericht Reichstag Bd. 1 S. 298ff, zitiert nach E. D E U E R L E I N Föderalismus — Die historischen und philosophischen

Grundlagen des föderativen Prinzips, Bonn 1972, S. 138.

902

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

ausgerichtetes demokratisch-parlamentarisches System neu festgelegt und gegenüber dem alten Bundesrat stark eingeschränkt. Während im kaiserlichen Deutschland der Bundesrat Träger der Reichsgewalt war, wurde nunmehr der Reichstag als Verkörperung der Volkssouveränität angesehen, der dementsprechend die Gesetze beschloß. Gegenüber den vom Reichstag beschlossenen Gesetzen stand dem Reichsrat das Recht des Einspruchs zu, den der Reichstag jedoch mit 2 h Mehrheit zurückweisen konnte. Der Reichsrat konnte keine maßgeblichen Beschlüsse in Reichsangelegenheiten fassen, sondern übte nur eine Mitwirkung bei der anderen Organen zustehenden Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches aus. Besonders hart beurteilt D E U E R L E I N die eingeschränkten Befugnisse des föderativen Verfassungsorgans: „Der Reichsrat . . . war eine auf deklamatorische Übung beschränkte föderative Verfassungsattrappe, die ohne politische Wirksamkeit war." 3 Zu der lange geforderten Reichsreform, bei der das Problem der Stellung des Reichsrates als eines der wichtigsten und umstrittensten zugleich galt, ist es nicht mehr gekommen. g) Das „Gesetz über den Neuaufbau des Reichs" vom 30. Januar 1934 hob die Volksvertretungen der Länder auf und bestimmte ferner den Ubergang der Hoheitsrechte der Länder auf das Reich sowie die Unterstellung der Landesregierungen unter die Reichsregierung. Diese wurde ermächtigt, neues Verfassungsrecht zu setzen. Der letzte Beschluß des Reichsrates bestand darin, gegen das Gesetz vom 30. Januar 1934 keinen Einspruch zu erheben. Unmittelbar danach, am 14. Februar 1934, erging das „Gesetz über die Aufhebung des Reichsrats". Der föderalistische Staatsaufbau war damit durch den nationalsozialistischen Einheitsstaat ersetzt. Diese Entwicklung war vorhersehbar: Die beiden Gleichschaltungsgesetze vom 31. März und 7. April 1933 sowie vor allem die Rede H I T L E R S beim Reichsparteitag der NSDAP 1933 („Die nationalsozialistische Bewegung ist nicht der Konservator der Länder der Vergangenheit, sondern ihr Liquidator zugunsten des Reiches der Zukunft") 4 hatten deutlich gemacht, daß „das Ziel der nationalsozialistischen Reichserneuerung . . . die endgültige Überwindung des Föderalismus und des Bundesstaates überhaupt war 4 ". 3. Die Mitglieder des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee waren sich von vornherein grundsätzlich einig, daß die nach 1945 gebildeten Länder an der Bildung des Bundeswillens maßgeblich beteiligt sein müßten, und daß der aus unmittelbaren Wahlen gebildeten Volksvertretung ein zweites Organ zur Seite gestellt werden sollte, in dem und durch das sich die Mitwirkung der Länder vollziehen würde. Uber Zusammensetzung und Aufgabenbereich eines solchen föderativen Organs gingen die Auffassungen allerdings weit auseinander. Eine Einigung über die Ausgestaltung im Sinne der Bundesrats- oder Senatslösung war dem Verfassungskonvent nicht möglich. Der Entwurf von Herrenchiemsee stellte deshalb entsprechende Alternativlösungen gegenüber und legte im darstellenden Teil die Gründe für und gegen jeden der Lösungsvorschläge ausführlich dar. Einig war man sich jedenfalls darin, daß die „Länderkammer" auf keinen Fall eine nach Parteien und Fraktionen aufgeteilte bloße

3

E . DEUERLEIN aaO S. 266.

4

E . R. HUBER Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg 1 9 3 7 / 3 9 , S. 324.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

903

Parallele zur Volksvertretung werden dürfe. Die dem föderativen Organ einzuräumenden Befugnisse waren ebenfalls umstritten: Die Mehrheit des Konvents war der Meinung, daß ein Bundesrat mit der ersten Kammer gleichberechtigt sein müsse, während einem Senat allenfalls ein mit qualifizierter Mehrheit überstimmbares Einspruchsrecht zuzubilligen sei. 4. Die Beschlüsse des Verfassungskonvents wurden vom Parlamentarischen Rat aufgenommen und von ähnlichen Ausgangspositionen her neu beraten. Mehr noch als in Herrenchiemsee zeigte sich jedoch, daß die Entscheidung über die möglichen Alternativen im engen Zusammenhang stand mit dem Umfang der Aufgaben und Rechte, die dem föderativen Organ zustehen sollten, und schließlich auch mit der Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern, einschließlich der Aufteilung der Staatseinnahmen. Der Meinungsstreit im Parlamentarischen Rat ging dabei auch quer durch die Fraktionen. Die SPD favorisierte mehrheitlich die Senatslösung, Sprecher der C D U / C S U bevorzugten die Bundesratslösung, ließen aber auch die Bereitschaft zu einer Kombination beider Systeme erkennen. Die F. D. P. erklärte, ein Senat würde die „Mikroskopie des Parlaments" bilden und sprach sich ebenso wie die Vertreter der Deutschen Partei und des Zentrums für das Bundesratsprinzip aus. Tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten bestanden auch in der Frage der Befugnisse und Stimmendifferenzierung. Während die CDU/CSU-Fraktion eine stärkere Staffelung nach der Bevölkerungszahl anstrebte, vertrat die SPD-Fraktion das Prinzip der grundsätzlich gleichen Vertretung der Länder. Die CDU-CSU-Fraktion wünschte eine in der Gesetzgebung gleichberechtigte zweite Kammer, die SPD-Fraktion wollte dem Senat nur ein suspensives Veto einräumen. Als die Positionen derart voneinander entfernt blieben, daß kein Kompromiß mehr in Aussicht schien, gelang dem bayerischen Ministerpräsidenten EHARD (CSU) und dem nordrhein-westfälischen Innenminister M E N Z E L (SPD), die sich ohne Auftrag ihrer Fraktionen am 26. Oktober 1948 in Bonn getroffen hatten, eine Einigung über die Grundzüge der jetzigen Bundesratskonstruktion. Endgültig frei war der Weg für eine von einer großen Mehrheit getragene Lösung des Problems aber erst, als eine Ubereinstimmung zwischen den beiden großen Fraktionen über die Frage der Stimmenregelung erzielt war, und sich die SPD-Fraktion mit der Ablehnung eines Antrages auf volle Gleichberechtigung des Bundesrates beim Zustandekommen aller Gesetze durchgesetzt hatte 5 . Zumeist wird der Bundesrat nach seinen Aufgaben und Befugnissen zwischen dem Weimarer Reichsrat und dem Bundesrat der Reichsverfassung von 1871 eingeordnet. T H E O D O R H E U S S hat es jedenfalls so gesehen, als er unmittelbar vor der Schlußabstimmung über den Verfassungsentwurf das „Legende gewordene Frühstück" zwischen EHARD und M E N Z E L als den „fast interessantesten Vorgang" der gesamten Verfassungsarbeit wertete; bei dieser Gelegenheit hätte sich der „rheinische Sozialist und der weiß-blaue Staatsmann" bei BISMARCK gefunden, ja sie seien „über Weimar zurück noch bismärckischer" geworden 6 . 5

Vgl. R. MORSEY Die Entstehung des Bundesrates im Parlamentarischen Rat, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, hrsg. vom Bundesrat, 1974.

6

Parlamentarischer Rat, Stenographische Berichte über die Plenarsitzungen, Bonn 1948/ 49 (Reproduktion 1969), S. 207. Von zeitgeschichtlichem Wert sind die Darstellungen,

904

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

II. Funktion und Aufgaben des Bundesrates 1. Föderatives Bundesorgan — nicht Länderrat Uber Funktion und Aufgaben des Bundesrates sagt Art. 50 G G nur allgemein, daß durch ihn die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirken. Wenn diese Aufgabenumschreibung auch unvollständig ist, so ergibt sich dennoch zweifelsfrei, daß der Bundesrat ein Verfassungsorgan des Bundes und kein Gemeinschaftsorgan der Länder ist, so daß die gelegentlich verwendete Bezeichnung Länderrat oder Länderkammer unrichtig ist. Der Bundesrat ist das föderative Bundesorgan im Gegenüber zu den unitarischen Bundesorganen Bundestag und Bundesregierung. Durch ihn werden die Länder im Bundesstaat repräsentiert; in ihm wirkt das „Element Land" an der Willensbildung des Gesamtstaates mit. Allerdings nehmen die Länder auch außerhalb des Bundesrates auf die Bildung des Bundeswillens Einfluß, z. B. durch Besprechungen der Regierungschefs der Länder mit dem Bundeskanzler, durch Fachministerkonferenzen und Bund/Länder-Kommissionen 7 . Der Bundesrat ist für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland die polare Ergänzung des Bundestages, jedoch im Unterschied zu diesem ein permanentes, kontinuierlich arbeitendes Verfassungsorgan, das keine Legislaturperioden mit Neuwahlen kennt. Deshalb gibt es für ihn auch nicht das für den Bundestag wichtige Problem der Diskontinuität. Lange Zeit war umstritten, ob der Bundesrat eine der beiden Kammern eines einheitlichen Bundesgesetzgebungsorgans ist. Diese Frage hat das Bundesverfassungsgericht durch seine Entscheidung vom 25. Juni 1974 beantwortet: „Nach der Regelung des Grundgesetzes ist der Bundesrat nicht eine zweite Kammer eines einheitlichen Gesetzgebungsorgans, die gleichwertig mit der ,ersten Kammer' entscheidend am Gesetzgebungsverfahren beteiligt wäre . . . Dies zeigt schon die Verkündungsformel für Gesetze, die selbst beim Zustimmungsgesetz nicht lautet: ,Bundestag und Bundesrat haben das folgende Gesetz beschlossen', sondern: „Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen." 8 Das Bundesverfassungsgericht kommt zu seinem Schluß durch die Gegenüberstellung der zwei einschlägigen Verfassungsartikel: Nach Art. 77 Abs. 1 G G werden die Bundesgesetze vom Bundestag beschlossen. Der Bundesrat wirkt bei der Gesetzgebung lediglich mit (Art. 50 GG). K. S T E R N hält diese Bewertung durch das Bundesverfassungsgericht für „zu apodiktisch und die Problematik die zwei maßgebliche Mitglieder des Parlamentarischen Rates über Vorgänge und Hintergründe gegeben haben: K . ADENAUER Erinnerungen 1 9 4 5 - 1 9 5 3 , 1965, im Kapitel VIII, S. 1 4 6 - 1 7 6 , als Präsident des Parlamentarischen Rates, und C . SCHMID Erinnerungen, 1979, S. 3 1 8 - 4 1 4 , der der Vorsitzende des wichtigen Hauptausschusses und der SPD-Fraktion des Parlamentarischen Rates war. Aufschlußreich sind auch seine Kurzporträts einiger Mitglieder des Parlamentarischen Rates, insbesondere der Hin-

7 8

weis auf die Vorstellungen des Vertreters der Deutschen Partei und späteren langjährigen Bundesministers D r . SEEBOHM: Er „ f o r d e r t e unentwegt die Verstärkung der Rechte und Kompetenzen der Länder und die Minderung der Kompetenzen des Bundes. N a c h seinen Vorstellungen sollte der Bundesrat das wichtigste O r g a n der Bundesrepublik sein" (S. 409). Vgl. dazu H . - J . VOGEL oben S. 854ff. B V e r f G E 37, 363 (380).

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

905

nicht tief genug auslotend" und weist darauf hin, daß das Grandgesetz selbst in Art. 59 Abs. 2 Satz 1 und Art. 122 Abs. 2 von gesetzgebenden Körperschaften spricht 9 . So sehr man im Ergebnis dem Bundesverfassungsgericht zustimmen muß, so wenig überzeugend sind einige Argumente, die es zur Stützung seiner Auffassung anführt. Wenn das Bundesverfassungsgericht meint, das Erfordernis der (ausdrücklichen und durch nichts zu ersetzenden) Zustimmung des Bundesrates zu einem vom Bundestag beschlossenen Gesetz sei nach dem Grundgesetz die Ausnahme, und die Zustimmung sei nur in bestimmten, im Grundgesetz einzeln aufgeführten Fällen erforderlich, in denen der Interessenbereich der Länder besonders stark berührt werde, so ist diese Annahme mit der Entwicklung der Staatspraxis seit 1949 nicht vereinbar: Der Anteil der mit Zustimmungsformel verkündeten Bundesgesetze betrug bereits in der ersten Legislaturperiode des Bundestages (1949—1953) 42%, überstieg schon in der dritten Legislaturperiode (1957—1961) die Hälfte und verharrte in den letzten drei Legislaturperioden (1969-1980) bei 52% bzw. 53% 10 . Der Streit ist überdies müßig. Sicher ist, daß der Bundesrat ein wesentlich größeres Gewicht gewonnen hat, als bei der Beratung und Verabschiedung des Grundgesetzes allgemein angenommen wurde. Seine Bedeutung im heutigen Verfassungsleben ist zudem durch den die bundesstaatliche Entwicklung kennzeichnenden Urtitarisierungstrend verstärkt worden. Die zahlreichen Grundgesetzänderungen, die sich im Bund-LänderVerhältnis ausgewirkt haben, machen dies deutlich, vor allem die Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen auf den Bund, etwa auf den Gebieten der Ausbildungsbeihilfen, der wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser, der Abfallbeseitigung, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung, der Besoldung und Versorgung der Richter und Beamten, oder die Begründung einer Rahmenkompetenz des Bundes für die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens. Der damit verbundene Substanzverlust in der Gesetzgebungstätigkeit der Landesparlamente mehrt die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und verstärkt zwangsläufig die Mitwirkung des Bundesrates. Die Länder haben für das, was sie an eigenständiger Gestaltungsmöglichkeit ihrer Landtage verloren haben, mehr Einfluß auf den Gesamtstaat durch die Mitgliedschaft ihrer Regierungsvertreter im Bundesrat gewonnen. K. H E S S E stellte mit Recht schon 1962 fest: „In eigentümlicher Umkehrung früherer Entwicklung verbindet sich die fortschreitende sachliche Unitarisierung der Bundesrepublik nicht mit einer Minderung, sondern mit einer . . . Mehrung des Gewichts des Bundesrates; sie hat insoweit nicht einen Abbau, sondern eine Verstärkung der bundesstaatlichen Ordnung bewirkt." 1 1 2. Mitwirkung bei der Gesetzgebung des Bundes Die Mitwirkung an der Gesetzgebung ist die wichtigste Aufgabe des Bundesrates. Seine Beteiligung kennt keine Ausnahme.

9

Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II 1980, S. 126.

10

11

K. REUTER Bundesrat und Bundesstaat, 1980, S. 64. Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 22.

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

906

a) Recht der

Gesetzesinitiative

Neben Bundestag und Bundesregierung hat der Bundesrat das Recht der Gesetzesinitiative (Art. 76 Abs. 1 GG). Davon hat der Bundesrat seit 1969 vermehrt Gebrauch gemacht. Von seinen ingesamt 227 in acht Legislaturperioden des Bundestages eingebrachten Gesetzesvorlagen entfallen 154 Gesetzesinitiativen, also mehr als zwei Drittel, auf die drei letzten Legislaturperioden (1969—1980)12. Vorlagen des Bundesrates hat die Bundesregierung mit ihrer Stellungnahme dem Bundestag innerhalb von 3 Monaten zuzuleiten (Art. 76 Abs. 3 GG). Der Bundestag ist nicht verpflichtet, über die Gesetzesvorlagen des Bundesrates zu entscheiden, so daß für seine Beratungen auch keine Frist gesetzt ist. Infolgedessen wird auch nur ein Teil der Gesetzesinitiativen des Bundesrates vom Bundestag beschlossen. Insbesondere Gesetzesvorlagen mit politisch umstrittenem Inhalt scheitern im Bundestag. Von den 227 Gesetzesinitiativen des Bundesrates in den acht Wahlperioden des Bundestages (1949—1980) wurden 80 vom Bundestag beschlossen und schließlich Bundesgesetze, also ein gutes Drittel 12 . b) Stellungnahme

zu den Gesetzesvorlagen

der

Bundesregierung

Am arbeitsintensivsten ist die Mitwirkung des Bundesrates bei der Stellungnahme zu Gesetzesvorlagen der Bundesregierung. Seit 1949 legte die Bundesregierung in den bisherigen acht Legislaturperioden des Bundestages 3251 Gesetzesentwürfe vor. Alle Gesetzesvorlagen der Bundesregierung sind zunächst, d. h. vor der Einbringung im Bundestag, dem Bundesrat zuzuleiten. Dieser ist berechtigt, innerhalb von sechs Wochen zu den Vorlagen Stellung zu nehmen. Die Bundesregierung kann eine Vorlage, die sie bei der Zuleitung an den Bundesrat ausnahmsweise als besonders eilbedürftig bezeichnet hat, schon nach drei Wochen dem Bundestag zuleiten, auch wenn die Stellungnahme des Bundesrates noch nicht bei ihr eingegangen ist; sie hat die Stellungnahme des Bundesrates aber unverzüglich nach Eingang dem Bundestag nachzureichen (Art. 76 Abs. 2 GG). Eine Ausnahmeregelung gilt für die Beratung von Haushaltsvorlagen des Bundes. Der in Form einer Gesetzesvorlage zu erstellende Entwurf des Bundeshaushaltsplans sowie Vorlagen zur Änderung des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplanes werden gleichzeitig bei Bundesrat und Bundestag eingebracht. Der Bundesrat ist berechtigt, zum Haushaltsentwurf innerhalb von sechs Wochen, bei Änderungsvorlagen innerhalb von drei Wochen, Stellung zu nehmen (Art. 110 Abs. 3 GG). Von seinem Recht, als erste gesetzgebende Körperschaft zu Regierungsvorlagen seine Auffassung äußern 'zu können, macht der Bundesrat fast immer Gebrauch. In kontrovers diskutierten Gesetzgebungsbereichen umfaßt die Stellungnahme des Bundesrates gelegentlich l'OO Seiten und mehr. Durch die Stellungnahmen sollen Bundesregierung und Bundestag die Auffassung der Länder kennenlernen, die mit ihren Verwaltungen die meisten Bundesgesetze später auszuführen haben, da der Bund nur 12

Handbuch des Bundesrates, 4. Aufl., 8. Ergänzungslieferung (Stand: 3. November 1980), S. 175/179.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

907

auf wenigen Gebieten einen eigenen Verwaltungsunterbau hat (z. B. Auswärtiger Dienst, Bundeswehr- und Zollverwaltung). Wegen der Verwaltungserfahrung der Länderbehörden werden von Bundesregierung und Bundestag vor allem Vorschläge des Bundesrates übernommen, die gesetzestechnische und verwaltungspraktische Empfehlungen enthalten. Seit der ersten Legislaturperiode des Bundestages wird vom Bundesrat darüber geklagt, daß die Bundesregierung manchmal den „ersten Durchgang" im Bundesrat dadurch vermeide, daß sie anstelle eigener Gesetzesvorlagen die sie tragenden und die Mehrheit des Bundestages bildenden Fraktionen zu Gesetzesinitiativen veranlasse, um so das Äußerungsrecht des Bundesrates zu umgehen13. Eine solche Verhaltensweise wird für rechtsmißbräuchlich und verfassungswidrig gehalten, soweit damit der ausschließliche Zweck verfolgt wird, die Rechte des Bundesrates zu verkürzen14. Eine derartige Absicht ist schwer nachzuweisen, jedenfalls hat der Bundesrat in diesem Zusammenhang bisher das Bundesverfassungsgericht noch nie mit dem Antrag angerufen, die Bundesregierung verletze das Gebot der Organtreue. Gelegentlich beschreitet die Bundesregierung zwar den Weg des Art. 76 Abs. 2 GG, läßt daneben aber ihren Entwurf auch „aus der Mitte des Bundestages" einbringen, um eine beschleunigte Beratung des Gesetzentwurfes in den Ausschüssen des Bundestages zu erreichen. Dies Verfahren ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Ebenso unbedenklich ist eine Gesetzesinitiative des Bundestages zu Beginn einer neuen Legislaturperiode, wenn für dieselbe Rechtsmaterie in der voraufgegangenen Legislaturperiode das Gesetzgebungsverfahren bei verfassungsgemäßer Beteiligung des Bundesrates nicht mehr rechtzeitig beendet wurde15. c) Beschlußfassung zu den Gesetzesbeschlüssen des Bundestages Während der Bundesrat am Beginn des Gesetzgebungsverfahrens, d. h. vor Befassung des Bundestages mit einer Gesetzesvorlage, dann nicht beteiligt ist, wenn die Vorlage aus der Mitte des Bundestages eingebracht worden ist, müssen alle vom Bundestag beschlossenen Gesetze dem Bundesrat zugeleitet werden (Art. 78 GG). Die Position des Bundesrates ist in dieser Endphase des Gesetzgebungsverfahrens (sog. zweiter Durchgang) unterschiedlich stark und hängt davon ab, ob es sich um ein zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz handelt. Ist dies der Fall — inzwischen beläuft sich der Anteil der mit Zustimmungsformel („Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen:") im Bundesgesetzblatt veröffentlich-

«

H.

SCHÄFER

Der

Bundesrat,

1955,

S. 7 0

Anm. 2. 14

K . STERN a a O B d . I I , S. 6 2 1

ls

Z. B. hatte das Staatshaftungsgesetz die gesetzgebenden Körperschaften bereits in der 8. Legislaturperiode beschäftigt. Das Gesetzgebungsverfahren endete damit, daß der Bundesrat dem Gesetz seine Zustimmung versagte und hilfsweise Einspruch einlegte (491. Sitzung des Bundesrates vom

m.w.N.

1 8 . 7 . 1 9 8 0 ; SitzBer. S. 356B). Über den Einspruch wurde vom Bundestag nicht mehr entschieden. Aufgrund eines zu Beginn der 9. Legislaturperiode eingebrachten Entwurfes der Fraktionen der SPD und F . D . P . hatte der Bundestag am 12. 2. 1981 das Gesetz beschlossen. Der Bundesrat hat am 13. 3. 1981 die Zustimmung verweigert, ohne vorsorglich Einspruch einzulegen.

908

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

ten Bundesgesetze auf mehr als die Hälfte 1 0 —, so besitzt der Bundesrat ein Vetorecht, d. h. ohne seine Zustimmung ist das Gesetz gescheitert. Ist die Zustimmung nicht erforderlich, so kann nach Durchführung eines Vermittlungsverfahrens das ablehnende Votum des Bundesrates („Einspruch") vom Bundestag überstimmt werden. Der Bundesrat hat folgende fünf Möglichkeiten für seine Beschlußfassung gegenüber Gesetzesbeschlüssen des Bundestages: aa) Der Bundesrat stimmt einem Gesetzesbeschluß, der seiner Zustimmung bedarf, ausdrücklich zu; schweigendes „Passierenlassen" genügt nicht. Enthält der Gesetzesbeschluß eine Änderung des Grundgesetzes, so ist die Zustimmung von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates erforderlich (Art. 79 Abs. 2 G G ) . Mit der Zustimmung ist das Bundesgesetz zustandegekommen, bb) Der Bundesrat verweigert seine Zustimmung bei einem zustimmungsbedürftigen Gesetz. Dann können sowohl der Bundestag als auch die Bundesregierung — je einmal — die Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangen. Bleibt der Bundesrat auch nach dem Vermittlungsverfahren bei seiner Ablehnung, dann ist das Gesetz gescheitert. Die Zustimmung und ihre Versagung sind an keine Frist gebunden. Das wirft die Frage auf, wie verfahren werden muß, wenn der Bundesrat untätig bleibt und bei einem zustimmungsbedürftigen Gesetz die Zustimmung weder erteilt noch verweigert. Eine kurzfristige Verzögerung ist unbedenklich 1 6 und gibt weder dem Bundestag noch der Bundesregierung die Möglichkeit, den Vermittlungsausschuß anzurufen, zumal eine derartige Verzögerung nicht in eine verweigerte Zustimmung umgedeutet werden könnte. Würde sich dagegen die Beschlußfassung des Bundesrates über mehrere Monate verzögern und würden zusätzliche Äußerungen von Länderregierungen erkennen lassen, daß die Willensrichtung des Bundesrates auf endgültige Ablehnung geht, dann müßte die Anrufung des Vermittlungsausschusses durch Bundestag oder Bundesregierung auch ohne formelle Beschlußfassung des Bundesrates zulässig sein. Uber die Zulässigkeit eines so begründeten Anrufungsbegehrens, das es bisher noch nicht gegeben hat, müßte der Vermittlungsausschuß entscheiden, cc) Will der Bundesrat einem zustimmungsbedürftigen Gesetzesbeschluß weder zustimmen noch die Zustimmung versagen, aber Änderungen erreichen, so kann er den Vermittlungsausschuß anrufen. Dies muß allerdings binnen drei Wochen nach Eingang des Gesetzesbeschlusses geschehen (Art. 77 Abs. 2 G G ) . Ist die Frist verstrichen, ohne daß die Anrufung beschlossen worden ist, so bleibt dem Bundesrat nur die Wahl zwischen Zustimmung oder Ablehnung des ganzen Gesetzesbeschlusses .

16

So hat der Bundesrat in seiner Sitzung vom 13. 6. 1980 von seiner Tagesordnung drei Gesetzesbeschlüsse (Jugendhilfegesetz, Wohngeldgesetz und das Strafvollzugs-Fortentwicklungsgesetz) abgesetzt, in seiner Sit-

zung vom 27. 6. 1980 die Behandlung vertagt und am 4. 7. 1980 entschieden, wobei dem Wohngeldgesetz zugestimmt und den beiden anderen Gesetzesbeschlüssen die Zustimmung versagt wurde.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

909

dd) Bei Gesetzesbeschlüssen, die nicht seiner Zustimmung bedürfen, kann der Bundesrat innerhalb der Dreiwochenfrist ausdrücklich beschließen, den Vermittlungsausschuß nicht anzurufen (das ist der Regelfall), die Frist ohne Beschlußfassung verstreichen lassen oder den bereits gestellten Antrag auf Einberufung des Vermittlungsausschusses zurücknehmen, wie es durch Beschluß des Bundesrates vom 10. Juli 1981 zum Haushaltsgesetz 1981 geschehen ist (Drucksache 288/81). In diesen Fällen kommt das vom Bundestag beschlossene Gesetz zustande, ee) Hat der Bundesrat bei einem nicht zustimmungsbedürftigen Gesetz den Vermittlungsausschuß angerufen, so werden seine weiteren Beschlüsse vom Ergebnis des Vermittlungsverfahrens bestimmt: Die Beratungen des Vermittlungsausschusses enden entweder mit einem Einigungsvorschlag oder ergebnislos, falls sich — wegen Stimmengleichheit — in drei Sitzungen des Vermittlungsausschusses keine Mehrheit für einen Einigungsvorschlag findet 17 . Für einen Einigungsvorschlag gibt es drei Möglichkeiten: Er kann auf „Aufhebung", „Änderung" oder auf „Bestätigung" des Gesetzesbeschlusses lauten. Schlägt der Vermittlungsausschuß die Aufhebung oder Änderung(en) des Gesetzesbeschlusses vor, so muß der Bundestag erneut beschließen. Stimmt der Bundestag dem Vorschlag auf Aufhebung zu, so ist damit das Gesetzgebungsverfahren erledigt, ohne daß der Bundesrat sich noch einmal damit befaßt. In anderen Fällen muß der Gesetzesbeschluß dem Bundesrat zugeleitet werden. Lautet der Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses auf „Bestätigung" des Gesetzesbeschlusses, oder ist das Vermittlungsverfahren ohne Einigungsvorschlag abgeschlossen worden, so bedarf es keiner erneuten Beschlußfassung durch den Bundestag. Der Einigungsvorschlag auf Bestätigung bzw. der Abschluß des Vermittlungsverfahrens ohne Einigungsvorschlag wird vom Vorsitzenden des Vermittlungsausschusses unverzüglich dem Präsidenten des Bundesrates mitgeteilt. Der Bundesrat hat sodann über den Gesetzesbeschluß in seiner ursprünglichen, unveränderten Fassung zu beschließen.

17

H. SCHÄFER hat in seinem 1974 geschriebenen Beitrag „ D e r Vermittlungsausschuß", in: „ D e r Bundesrat" (Fn. 5) S. 292, zutreffend berichtet, daß es bis dahin noch nie einen Abschluß des Vermittlungsverfahrens ohne Einigungvorschlag gegeben habe. Dies hat sich seit Februar 1976 geändert, als es zur Ablösung der SPD/F.D.P.-Landesregierung in Niedersachsen kam. Seit dieser Zeit bestand praktisch eine Patt-Situation im Vermittlungsausschuß, so daß bei besonders umkämpften Gesetzgebungsvorhaben mehrfach das Vermittlungsverfahren ohne Einigungsvorschlag abgeschlossen werden mußte (z. B. in den Sitzungen des Vermittlungsaus-

schusses am 2. Juli 1980 das 19. Strafrechtsänderungsgesetz (Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe), das Künstlersozialversicherungsgesetz sowie das Krankenhausfinanzierungsgesetz und am 3. Juli 1980 das Staatshaftungsgesetz). Seit dem Übergang der Regierung des Landes Berlin auf die C D U Mitte Juni 1981 besteht die Patt-Situation im Vermittlungsausschuß nicht mehr. Unter Einrechnung des CDU/F.D.P.-regierten Saarlandes verfügt die C D U / C S U - G r u p p e über 12 Stimmen gegenüber 10 Stimmen der sozialliberalen Koalition.

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5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Wenn die erneute Beschlußfassung des Bundestages über den Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses auf Aufhebung oder Änderung Forderungen des Bundesrates ganz oder teilweise unberücksichtigt läßt, kann der Bundesrat binnen zwei Wochen Einspruch einlegen (Art. 77 Abs. 3 S. 1 GG). Dasselbe gilt, wenn der Vermittlungsausschuß den Gesetzesbeschluß bestätigt hat oder wenn das Vermittlungsverfahren ohne Einigungsvorschlag abgeschlossen worden ist. Legt der Bundesrat innerhalb der Zweiwochenfrist keinen Einspruch ein, dann ist das Gesetz zustandegekommen (Art. 78 GG). Wird fristgerecht Einspruch eingelegt, dann kann dieser durch Beschluß der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages — das ist die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl; die Mehrheit der Anwesenden genügt nicht — zurückgewiesen werden. Hat der Bundesrat den Einspruch mit Zweidrittelmehrheit beschlossen, so muß die zurückweisende Mehrheit des Bundestages die Zweidrittelmehrheit der Abstimmenden und zugleich mindestens die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl darstellen. Werden die erforderlichen Mehrheiten für die Zurückweisung des Einspruchs erreicht, ist das Gesetz zustandegekommen. Der Bundestag ist im Einspruchsverfahren an keine Frist gebunden. Bis zu dieser Entscheidung kann der Bundesrat seinen Einspruch zurücknehmen; die Rücknahme eines Einspruchs ist im Bundesrat einmal — erfolglos — beantragt worden 1 8 . Im Einspruchsverfahren sind in acht Legislaturperioden (1949—1980) nur sechs Einsprüche des Bundesrates vom Bundestag nicht zurückgewiesen worden. In vier Fällen fand der Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs im Bundestag keine Mehrheit 19 . In den übrigen Fällen wurden Anträge auf Zurückweisung bis zum Ende der jeweiligen Wahlperiode nicht gestellt. d) Verfahren bei unterschiedlicher Auffassung über die von Bundesgesetzen

Zustimmungsbedürftigkeit

Nicht selten ist die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes zwischen den beteiligten Verfassungsorganen strittig. aa) Das Grundgesetz enthält keine allgemeine Vorschrift etwa des Inhalts, daß die Zustimmungsbedürftigkeit dann gegeben ist, wenn der Interessenbereich der Länder besonders stark berührt wird. Eine solche Generalnorm würde auch wegen der unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten unpraktikabel sein. Es gibt auch keine grundgesetzliche Vermutung, wann ein Bundesgesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf, wie es z . B . in Art. 30 G G eine funktionale Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder gibt. Es gilt vielmehr das Enumerationsprinzip-. Die 18

In der Sitzung des Bundesrates am 24. 10. 1980 stellte das Land Bremen den Antrag, den vom Bundesrat am 18. 7. 1980 vorsorglich eingelegten Einspruch gegen das Künstlersozialversicherungsgesetz zurückzunehmen. Der Bundesrat hielt das Gesetz für zustimmungsbedürftig und verweigerte die Zustimmung. Im Hinblick auf die entgegenste-

19

hende Rechtsauffassung des Bundestages wurde gleichzeitig vorsorglich Einspruch eingelegt (491. Sitzung; SitzBer. S. 348 B). Der Antrag des Landes Bremen fand keine Mehrheit (492. Sitzung; SitzBer. S. 407D). G. Z I L L E R Der Bundesrat, 5. Aufl. 1979, S. 30.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

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Zustimmung des Bundesrates ist nur in den Fällen erforderlich, die das Grundgesetz einzeln ausdrücklich aufführt. Dies ist an mehr als 40 Stellen im Grundgesetz geschehen, vom Verfahren bei Gebietsänderungen (Art. 29 Abs. 7) über Gesetze, die unmittelbar die Finanzen der Länder betreffen (Art. 105 Abs. 3) bis zur Rechtsnachfolge in das Reichs- und Landesvermögen (Art. 134 Abs. 4; Art. 135 Abs. 5). Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings das in einer seiner ersten Entscheidungen festgehaltene Enumerationsprinzip 2 0 in zwei späteren Entscheidungen dahin ausgeweitet, daß die Zustimmung nicht nur dann erforderlich ist, wenn es die Verfassung „ausdrücklich bestimmt", sondern auch, wenn sie „dahin zu interpretieren i s t " 2 1 . Noch stärker hat zu Meinungsverschiedenheiten über die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen die 25 Jahre lang unentschieden gebliebene Frage beigetragen, ob ein Gesetz auch dann der Zustimmung des Bundesrates unterliegt, wenn es selbst keine zustimmungsbedürftige Regelung enthält, aber ein Zustimmungsgesetz formell ändert. Dieses Problem stellte sich insbesondere durch die Tatsache, daß zahlreiche Gesetze organisations- und verfahrensrechtliche Regelungen enthalten und daß gerade diese nach Art. 84 Abs. 1 G G in der Regel zustimmungsbedürftig sind. R. HERZOG hebt zutreffend hervor, daß die verfassungspolitische Bedeutung dieser Grundgesetznorm die Ursache dafür ist, daß die Zahl der Zustimmungsgesetze, die man beim Inkrafttreten des Grundgesetzes auf etwa 10% geschätzt hatte, sich heute bei deutlich über 50% bewegt. Es ist HERZOG auch darin zuzustimmen, daß die große Anzahl der Zustimmungsgesetze, die sich aus dieser überraschenden Wirkung des Art. 84 Abs. 1 G G ergibt, als einer der wichtigsten Ansatzpunkte für den politischen Einfluß des Bundesrates anzusehen ist 2 2 . Die Staatspraxis ist ein Vierteljahrhundert ohne eine generell verbindliche Klärung dieser für die Verteilung der bundesstaatlichen Kompetenzen bedeutsamen Frage ausgekommen. Der Bundesrat erteilte regelmäßig die von ihm für erforderlich gehaltene Zustimmung, und der Bundespräsident fertigte im Einverständnis mit der gegenzeichnenden Bundesregierung die Gesetze ohne Zustimmungsformel aus. Dies war folgenlos, weil der Bundesrat immerhin mit dem Inhalt des Gesetzes einverstanden war und nur seine Rechtsauffassung wahrte. Anders lag es, wenn der Bundesrat in diesen kontrovers beurteilten Fällen seine Zustimmung verweigerte. Allerdings verband der Bundesrat seine Zustimmungsverweigerung meistens mit einem hilfsweise eingelegten Einspruch, den der Bundestag dann mit der erforderlichen Mehrheit zurückwies. Aber auch in den Fällen, in denen nicht hilfsweise Einspruch eingelegt worden war, wurden die Gesetze ohne Zustimmungsformel ausgefertigt und verkündet. Erst 1973 haben die Länder Rheinland-Pfalz und Bayern das Bundesverfassungsgericht angerufen und die Feststellung beantragt, das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 30. März 1973 sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar und daher 20

B V e r f G E 1, 76 (79).

21

E . FRIESENHAHN

Die

bedürftigkeit von Bundesgesetzen, Rechtsentwicklung

hinsichtlich der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen und Verordnungen des Bundes, in: Der Bundesrat (Fn. 5), S. 255; vgl. auch M . LEPA Probleme der Zustimmungs-

DVB1.

1974, S. 399. 22

R . HERZOG Der Einfluß des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes seit 1949, in: Der Bundesrat (Fn. 5), S. 242.

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5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

nichtig. Der Bundesrat hatte — seiner ständigen Rechtsmeinung folgend — dieses Gesetz für zustimmungsbedürftig gehalten, weil es ein Zustimmungsgesetz — nämlich das Rentenreformgesetz — änderte, und hatte — nachdem der von ihm angerufene Vermittlungsausschuß den Gesetzesbeschluß des Bundestages bestätigt hatte — die Zustimmung verweigert, ohne ausdrücklich hilfsweise Einspruch einzulegen. Der Bundestag sah bei dieser Sachlage keinen Anlaß, sich erneut mit seinem Gesetzesbeschluß zu befassen. Das Bundesverfassungsgericht entschied am 25. Juni 1974, daß nicht jedes Gesetz, das ein mit Zustimmung des Bundesrates ergangenes Gesetz ändert, allein aus diesem Grund zustimmungsbedürftig ist 23 . Entgegen dem ersten Eindruck ist durch diesen Beschluß die Streitfrage, wo die Grenze zwischen Zustimmungs- und Einspruchsgesetzen verläuft, nicht entschieden worden, zumal das Gericht in seinen späteren Ausführungen seinen Grundsatz erheblich einschränkte, z. B. durch die Feststellung, daß auch ein Änderungsgesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf, „das sich zwar auf die Regelung materiell-rechtlicher Fragen beschränkt, in diesem Bereich jedoch Neuerungen in Kraft setzt, die den nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen" 24 . Wie schwierig ohnehin die Feststellung ist, ob ein Gesetz Vorschriften nach Art. 84 Abs. 1 GG enthält, zeigt die Tatsache, daß die Frage bei zwei neugefaßten Paragraphen von je vier Verfassungsrichtern bejaht bzw. verneint wurde 25 . So ist auch durch die lang erwartete Entscheidung vom 25. Juni 1974, bei der zudem in der Frage der Zustimmungsbedürftigkeit drei Richter von der Mehrheitsmeinung abwichen, keine ausreichende Klarheit für die Zukunft gewonnen worden. Dieser Eindruck wird durch die spätere Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes verstärkt 26 . Nach wie vor ist die Staatspraxis unverändert: bei der Verkündung von Bundesgesetzen (mit oder ohne Zustimmungsformel) wird ein Dissens über die Zustimmungsbedürftigkeit fast immer in der Weise aufgelöst, daß die Rechtsauffassung der Bundesregierung zugrundegelegt wird 2 7 . Dem Bundesrat bleibt nur die Möglichkeit, 23 24 25 26

B V e r f G E 37, 363 (379). aaO S. 383. aaO S. 384. Vgl. BVerfGE48, 1 2 7 ( 1 7 9 f f ) . In diesem U r teil vom 13. 4. 1978 hat das Bundesverfassungsgericht das Gesetz zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes vom 13. 7. 1977 nicht nur aus materiellrechtlichen Erwägungen, sondern auch wegen nichtbeachteter Zustimmungsbedürftigkeit f ü r nichtig erklärt und dabei die mit der Entscheidung vom 25. 6. 1974 begründete Rechtsprechung für den Bereich der Bundeswehrverwaltung (Art. 8 7 b Abs. 2, S. 1 G G ) fortentwickelt. In der vom 10. 12. 1980 datierten Entscheidung zum Ausbildungsplatzförderungsgesetz vom 7. 9. 1976 hat das Bundesverfassungsgericht die im Gesetz

27

vorgesehene Berufsausbildungsabgabe zwar als eine zulässige Sonderabgabe angesehen, zu deren Erhebung nicht die Zustimmung des Bundesrates erforderlich wäre, doch wurde das Gesetz insgesamt f ü r nichtig erklärt, weil es nach A r t . 84 Abs. 1 G G zustimmungsbedürftige Verfahrensregelungen (z. B. über die Nachweise für die Berechnung der Abgabe und ihre Kontrolle durch die Einzugsstellen) enthalte, denen der Bundesrat nicht zugestimmt hatte (BVerfGE 55, 274). Das Urteil ist ein Kuriosum, weil sechs der acht Richter in vier verschiedenen Sondervoten ihre abweichende Meinung zu einzelnen Punkten niedergelegt haben (BVerfG E 55, 329). Den Fall des Wehrdienstverweigerungsgesetzes, bei dem der Bundespräsident nach

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

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das Bundesverfassungsgericht anzurufen, das im konkreten Fall endgültig entscheidet. Allerdings ist diese Möglichkeit nur eröffnet, wenn der Bundesrat bei einem von ihm allein für zustimmungsbedürftig gehaltenen Gesetz die Zustimmung verweigert. In den Fällen, in denen der Bundesrat im Unterschied zu Bundesregierung und Bundestag die Zustimmungsbedürftigkeit feststellt und zugleich zustimmt — das ist die große Mehrzahl der Dissensfälle — fehlt für die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts das Rechtsschutzbedürfnis. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird nämlich die vom Bundespräsidenten im Einvernehmen mit der Bundesregierung getroffene Entscheidung über die Verkündungsformel als eine verfassungsrechtlich unerhebliche Meinungsäußerung angesehen, die nicht einmal einen Rechtsschein erzeugt; entscheidend ist, ob der Bundesrat zugestimmt hat28. Der Bundesrat ist seinerseits um die Verminderung unnötiger Verfassungskonflikte bemüht. So hat er in seiner Sitzung vom 18. Juli 1980 bei zwei Gesetzen, die er für zustimmungsbedürftig hielt, zwar die Zustimmung verweigert, zugleich aber vorsorglich Einspruch eingelegt29. bb) Die Bundesregierung hat schon frühzeitig überlegt, ob sie dem deutlichen Anwachsen der Zahl zustimmungsbedürftiger Gesetze durch eine Teilung des Gesetzes in materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Vorschriften entgegenwirken könne. Bereits in der ersten Legislaturperiode des Bundestages hatte der damalige Bundesfinanzminister SCHÄFFER am 2 8 . 3. 1952 vor dem Bundesrat auf die Möglichkeit hingewiesen, „daß die Gesetze, die das Verfahren betreffen, für sich, getrennt vom materiellen Inhalt dem Bundesrat vorgelegt werden, damit nicht die Gefahr besteht, wegen einer Verwaltungsvorschrift unter Umständen das ganze Gesetz zu gefährden" 30 . Tatsächlich hat es immer wieder, insbesondere bei stark umstrittenen Gesetzesvorhaben, Fälle gegeben, bei denen die zustimmungsbedürftigen und die nicht zustimmungsbedürftigen Vorschriften in zwei verschiedenen Gesetzen aufgenommen wurden, um bei einer ablehnenden Haltung des Bundesrates zumindest das Inkrafttreten der politisch wichtigen nicht zustimmungsbedürftigenTeile zu sichern31. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu in seiner Entscheidung vom 25. Juni 1974 ausgeführt: ,,Der Bundestag ist nicht gehindert, in Ausübung seiner gesetzgeberischen Freiheit ein Gesetzesvorhaben in mehreren Gesetzen zu regeln. Er kann z. B. die materiell-rechtlichen Vorschriften in ein Gesetz aufnehmen, gegen das dem Bundesrat nur ein Einspruch zusteht, und kann Vorschriften über das Verfahren der Landesverwaltung in einem anderen, zustimmungsbedürftigen Gesetz beschließen, wie das in der Praxis nicht selten geschieht"32. Für diese gesetzgeberische Freiheit wird man nur Zustimmungsverweigerung durch den Bundesrat die Verkündung ablehnte, weil er gegen die Auffassung von Bundesregierung und Bundestag mit dem Bundesrat die Zustimmungsbedürftigkeit bejahte, schildert F. K . FROMME Gesetzgebung im Widerstreit, 2. A u f l . , 1980, S. 52 u. S. 1 9 7 A n m . 164 a.

28

29 30 31

32

E . FRIESENHAHN a a O

S. 2 7 4 ,

mit

Hinweis

auf drei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. 4 9 1 . Sitzung; SitzBer. S. 348 B und S. 356 B. 81. Sitzung; SitzBer. S. 1 5 0 C . F. K. FROMME (Fn. 27) S. 159/160 berichtet über mehrere Beispiele. B V e r f G E 37, 363 (382).

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5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

das Einhalten der Willkürgrenze fordern können, die überschritten wäre, wenn die Aufteilung die Sinneinheit von materiellem Recht und Verfassungsrecht so auflöste, daß nur ein Gesetzestorso verbliebe. Dies verbieten Wert und Rang des Gesetzes 33 . Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß Bundesregierung und/oder Bundestag bisher rechtsmißbräuchlich verfahren wären. e) Bundesrat und völkerrechtliche

Verträge

Heftig umstritten war seit 1949 der Umfang der Beteiligung des Bundesrates bei den Ratifikationsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG). Bezeichnenderweise ist der Bundesrat nie stärker angegriffen worden als bei der Ratifikationsdebatte zum EVG-Vertrag im Frühjahr 1953, weil er die Westverträge verfassungsrechtlich anders beurteilte als die Bundesregierung und die Zustimmungsbedürftigkeit bejahte 34 . In seinem Rückblick auf die Tätigkeit des Bundesrates klagte der Bundesratspräsident am 30. 10. 1953 vor dem Plenum: „Bedauerlich und höchst bedenklich ist es, daß . . . man sogar seine Abschaffung oder Umbildung gefordert hat" 3 5 . Von 1949 bis zum Ende der 8. Wahlperiode des Bundestages 1980 hat die Bundesregierung dem Bundesrat 978 Verträge mit auswärtigen Staaten zur Behandlung im Gesetzgebungsverfahren vorgelegt. Inzwischen hat sich folgende Rechtsmeinung zu der in Art. 59 Abs. 2 S. 1 G G enthaltenen Alternative fast allgemein durchgesetzt 36 : Soweit sich völkerrechtliche Verträge „auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen", ist wie bei einem innerstaatlichen Gesetz zu prüfen, ob einer der im Grundgesetz enumerativ aufgezählten Fälle des Zustimmungserfordernisses des Bundesrates vorliegt. Da die Zustimmungsbedürftigkeit einer einzelnen Vorschrift das ganze Gesetz zustimmungsbedürftig macht, hat sich die volle Mitsprache des Bundesrates bei einer Reihe außenpolitisch wichtiger Verträge ergeben, so beim Protokoll zur Beendigung des Besatzungsstatuts 1954, beim Saarvertrag 1955, beim EWG-Vertrag 1957, dem deutsch-niederländischen Ausgleichsvertrag 1960 und beim deutschpolnischen Abkommen über Renten- und Unfallversicherung 1976. Hinsichtlich der „Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln", fehlt es an einer vergleichbaren Differenzierungsmöglichkeit. Zwar hatte der Rechtsausschuß des Bundesrates 1955 seine Auffassung dahin formuliert, gerade weil den Ländern in der Regel eine eigene Außenpolitik verwehrt sei (Art. 32 Abs. 1 GG), sollten politische Verträge generell zustimmungsbedürftig sein, doch hat sich die Staatspraxis dieser Meinung nicht angeschlossen, zumal der Rechtsausschuß spätestens bei seiner Beratung der Ostverträge in der Sitzung am 14. 1. 1972 seine Ansicht " 34

K . STERN aaO Bd. II S. 145. A. PFITZER Die Anfangsjahre des Bundesrates, in: 30 Jahre Bundesrat 1949—1979, S. 39.

35 36

115. Sitzung; SitzBer. S . 4 1 8 D . Vgl. TH. OPPERMANN Bundesrat und auswärtige Gewalt, in: Der Bundesrat (Fn. 5) S. 301 ff, insb. S. 308, 318, 319, 321.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

915

geändert hat, als er ohne Gegenstimme bei 3 Enthaltungen festgestellt hat, daß die Ostverträge nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Das Hauptargument für die tatsächliche Handhabung war und ist, daß es im Sinne des unstrittigen Enumerationsprinzips des Grundgesetzes kein allgemeines Zustimmungserfordernis des Bundesrates für völkerrechtliche Verträge gibt. So sind u. a. die Ratifikationsgesetze betr. den Beitritt zum Europarat 1950, den Beitritt zum Brüsseler Vertrag und zur Nato 1954, die Ostverträge und der Grundlagenvertrag mit der DDR 1972/73 als Einspruchsgesetze behandelt worden. Als Ergebnis kann festgehalten werden: Der Bundesrat hat einmal — beim deutsch-spanischen Vertrag vom 19. 5. 1962 über Kriegsopferversorgung — seine Zustimmung verweigert, doch hat der Bundespräsident den Vertrag als Einspruchsgesetz verkündet, ohne daß der Bundesrat den Fall vor das Bundesverfassungsgericht brachte. Bei einem Einspruchsgesetz — dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei — rief der Bundesrat am 21. Juni 1974 den Vermittlungsausschuß an, der den Gesetzesbeschluß des Bundestages bestätigte. Der vom Bundesrat am 1. Juli 1974 eingelegte Einspruch wurde am 10. Juli 1974 vom Bundestag zurückgewiesen, so daß das Ratifikationsgesetz zustandekam. Bisher ist also in keinem Fall das Inkrafttreten eines völkerrechtlichen Vertrages am Bundesrat gescheitert. f ) Der Bundesrat als ,,Legalitätsreserve" im „Gesetzgebungsnotstand" In den letzten drei Jahren der Weimarer Republik hatten mehrere Reichskanzler nicht das Vertrauen der Mehrheit des Reichstages, sondern nur das Vertrauen des Reichspräsidenten, der den Reichsregierungen durch gesetzvertretende Notverordnungen das Weiterregieren ermöglichte. Das Grundgesetz enthält keine Notverordnungsrechte mehr und fand in Art. 81 eine Ersatzregelung. Sie greift ein, wenn ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, keine Mehrheit im Bundestag findet, die dann mögliche Auflösung des Bundestages aber unterbleibt, weil entweder der Bundeskanzler sie dem Bundespräsidenten nicht vorschlägt oder der Bundespräsident sie trotz des Vorschlages nicht vornimmt (Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG). In dieser Lage kann der Bundespräsident auf Antrag der Bundesregierung für eine von ihr als dringlich bezeichnete Gesetzesvorlage, wenn der Bundestag sie abgelehnt hat, mit Zustimmung des Bundesrates den Gesetzgebungsnotstand erklären. Das gleiche gilt, wenn eine Gesetzesvorlage abgelehnt worden ist, obwohl der Bundeskanzler mit ihr die Vertrauensfrage verbunden hatte. Lehnt der Bundestag die Gesetzesvorlage nach Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes erneut ab oder nimmt er sie in einer für die Bundesregierung als unannehmbar bezeichneten Fassung an oder verzögert er die Verabschiedung über vier Wochen, so gilt das Gesetz als zustandegekommen, soweit der Bundesrat ihm zustimmt. Innerhalb von sechs Monaten nach der Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes kann auch jedes andere vom Bundestag abgelehnte Gesetz nach diesem Verfahren verabschiedet werden. Bisher ist der Gesetzgebungsnotstand in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht erklärt worden, weil Vertrauenskrisen zwischen Parlament und Regierung auf andere Weise behoben werden konnten.

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5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Wenn auch gegen die Praktikabilität dieser Verfassungsnorm verständliche Bedenken geäußert worden sind 37 , so bleibt doch festzuhalten, daß das Grundgesetz für eine Ausnahmesituation dem Bundesrat die Funktion einer „Legalitätsreserve" zugewiesen hat, mit deren Hilfe ein Bundesgesetz ohne Beschluß des Bundestages Zustandekommen kann. 3. Mitwirkung bei der Verwaltung des Bundes Die umfangreichen Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundesrates bei der Gesetzgebung des Bundes sind den meisten Bundesbürgern durch die Berichterstattung in den Medien geläufig. Weniger bekannt sind die Funktionen, die der Bundesrat bei der Verwaltung des Bundes ausübt. a) Beschlußfassung zu

Rechtsverordnungen

Soweit die Rechtsordnung des Bundes sich in Rechtsverordnungen der Bundesregierung oder eines Bundesministers niederschlägt, ist der Einfluß des Bundesrates noch umfassender als bei den Bundesgesetzen. Rechtsverordnungen können als allgemein verbindliche Rechtsnormen nur erlassen werden, wenn sie sich auf ein Bundesgesetz stützen können, das Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt (Art. 80 Abs. 1 GG). Rechtsverordnungen auf Grund von zustimmungsbedürftigen Bundesgesetzen oder von Bundesgesetzen, die von den Ländern im Auftrage des Bundes oder als eigene Angelegenheiten ausgeführt werden, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. Sinn dieser Regelung ist, die in den Landesbehörden anfallende Verwaltungserfahrung für die Verordnungspraxis der Bundesregierung nutzbar zu machen. Von dem Zustimmungserfordernis sind nur Rechtsverordnungen ausgenommen, die auf der Grundlage von nichtzustimmungsbedürftigen Bundesgesetzen in bundeseigener Verwaltung ausgeführt werden, allerdings sind Rechtsverordnungen über Grundsätze und Gebühren für die Benutzung der Einrichtungen der Bundeseisenbahnen und des Post- und Fernmeldewesens sowie über den Bau und Betrieb der Eisenbahnen auch zustimmungsbedürftig (Art. 80 Abs. 2 GG). Eine wichtige Besonderheit gegenüber dem Gesetzgebungsverfahren liegt vor allem darin, daß der Bundestag beim Erlaß der Rechtsverordnungen in der Regel nicht mitwirkt, mit der Folge, daß die Bundesregierung hier nur der Kontrolle durch den Bundesrat unterworfen ist. Ein Vermittlungsverfahren, in dem unterschiedliche Auffassungen von Bundesregierung und Bundesrat beraten und mit einem Einigungsvorschlag abgeschlossen werden könnten, ist nicht vorgesehen. Der Bundesrat kann — anders als im Gesetzgebungsverfahren hier ohne Fristsetzung — die Verordnungen prüfen, ihnen

37

K . H E S S E Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 12. Aufl. 1980 S. 288, schreibt dazu: Was nach Ablauf der Sechs-Monatsfrist (Art. 81 Abs. 3 GG) „zu geschehen hat, sagt das Grundgesetz nicht; doch kann kein Zweifel daran bestehen, daß nunmehr nur noch das zu tun übrig

bleibt, was sogleich hätte geschehen müssen: die Auflösung des Bundestages und die Ausschreibung von Neuwahlen. Das einzige, was sich mit Art. 81 G G erreichen läßt, ist also eine Verlängerung der politischen Krise, gegen deren Folgen er sichern soll. Mittel einer wirksamen Abhilfe enthält er nicht."

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

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zustimmen, sie ablehnen oder Änderungen verlangen. Lehnt der Bundesrat ab oder nimmt die Bundesregierung die beantragten Änderungen nicht vor, dann kann die Verordnung nicht verkündet werden. In diesen Fällen kann die Bundesregierung allerdings die Verordnung dem Bundesrat erneut zustellen und versuchen, mit zusätzlichen Argumenten einen zustimmenden Beschluß des Bundesrates zu erreichen. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland bis Ende 1980 hat der Bundesrat 4.625 Rechts Verordnungen beraten. Soweit der Bundesrat Änderungen vorgeschlagen hat, sind sie fast stets von der Bundesregierung übernommen worden. Nur 36 Verordnungen sind durch die Zustimmungsverweigerung des Bundesrates gescheitert. b) Beschlußfassung zu allgemeinen Verwaltungsvorschriften Neben den allgemein verbindlichen Rechtsverordnungen erläßt die Bundesregierung für den internen Dienstbetrieb der Behörden Verwaltungsvorschriften. Sie enthalten Richtlinien für die Anwendungen von Gesetzen und Rechtsverordnungen, binden aber nur die betroffenen Behörden. Das Grundgesetz schreibt für eine Reihe von Fällen vor, daß die Bundesregierung allgemeine Verwaltungsvorschriften nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen kann (Art. 84 Abs. 2; 85 Abs. 2; 108 Abs. 7 GG). Die bekanntesten allgemeinen Verwaltungsvorschriften sind die Einkommensteuer- und Lohnsteuerrichtlinien. Das Verfahren im Bundesrat entspricht dem bei Rechtsverordnungen vorgesehenen Ablauf. Bis Ende 1980 hatte der Bundesrat 586 allgemeine Verwaltungsvorschriften zu beraten. Insgesamt wurde seit 1949 nur in 3 Fällen die Zustimmung verweigert, seit 1957 in keinem Fall. c) Beschlußfassung zu Vorlagen der Europäischen Gemeinschaften Eine Durchsicht der Tagesordnung der Plenarsitzungen des Bundesrates zeigt, in welch großem Umfang sich der Bundesrat mit Vorlagen aus den Europäischen Gemeinschaften zu befassen hat. Seit Beginn des Jahres 1981 werden dem Bundesrat auch die Entschließungen des Europäischen Parlaments offiziell zugeleitet. Durch die Römischen Verträge vom 25. 3. 1957 wurden supranationale Organe geschaffen, die zur Förderung des europäischen Integrationsprozesses in den Mitgliedstaaten geltendes Recht verordnen können. Dadurch wurde den nationalen Gesetzgebungsorganen die Zuständigkeit für wichtige Bereiche (z. B. Agrarmarktrecht, Verkehrswesen, Außenhandelspolitik, Zollgesetzgebung) entzogen. Ein gewisser Ausgleich wurde durch ein Konsultationsverfahren gegeben, das in Art. 2 des Zustimmungsgesetzes zu den Römischen Verträgen geregelt ist 38 . Danach hat die Bundesregierung Bundestag und Bundesrat über die Entwicklungen im Rat der Europäischen Gemeinschaften laufend zu unterrichten. Soweit durch den Beschluß des Rates in der Bundesrepublik Deutschland durch Verordnungen unmittelbar geltendes Recht geschaffen wird oder nach Maßgabe von Richtlinien innerdeutsche 38

BGBl. II 1957, S. 753.

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5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Gesetze erforderlich werden, soll die Unterrichtung vor der Beschlußfassung des Rates erfolgen. Zu diesem Zweck leitet die Bundesregierung die Vorschläge der Europäischen Kommission Bundestag und Bundesrat zu, die über den Text beraten und Änderungen vorschlagen können. Die Bundesregierung, die als einziges Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland im Ministerrat vertreten ist, wird durch die Empfehlung des Bundesrates bei ihrer Entscheidung zwar nicht gebunden, doch werden die Stellungnahmen des Bundesrates wegen der ihnen zugrundeliegenden Verwaltungserfahrungen der Länder beachtet. In Ausnahmefällen hat die Bundesregierung auch einer durch einen Beratungsgegenstand besonders betroffenen Landesregierung ermöglicht, ihren Standpunkt in Sitzungen des Ministerrates vorzutragen. Die Länder haben überdies einen Landesbeamten zum „Beobachter der Länder bei den Europäischen Gemeinschaften" bestellt, der der deutschen Ratsdelegation zugerechnet wird und neben den Vertretern der Bundesregierung den Bundesrat in dessen „Ausschuß für Fragen der Europäischen Gemeinschaften" (EG-Ausschuß) unterrichtet. Nachdem die Europäische Kommission Anfang 1958 ihre Arbeit aufgenommen hat, sind dem Bundesrat bis Ende 1980 3830 Vorschläge der Kommission zugegangen. Diese Vorschläge betrafen nicht nur Verordnungen und Richtlinien des Rates, sondern auch andere Beschlüsse des Rates, etwa Forschungs- und Entwicklungsprogramme (z. B. auf dem Gebiet der Uranschürfung und -gewinnung) oder zu internationalen Ubereinkommen (z. B. zum Schutz des Rheins gegen chemische Verunreinigung). Die Bundesregierung unterrichtet den Bundesrat auch über mittelfristige Vorhaben des Rates (z. B. auf dem Gebiet des Verkehrs) sowie über wichtige Mitteilungen der Kommission an den Rat (z. B. Überlegungen zur gemeinsamen Agrarpolitik oder über die sozialen Aspekte der Seefischerei in der Gemeinschaft)39. In allen Fällen kann der Bundesrat seine Auffassung der Bundesregierung mitteilen und Änderungsvorschläge für die Verhandlungsführung bei den Sitzungen des Ministerrates unterbreiten. d) Mitwirkung in Not- und Ausnahmefällen Das Grundgesetz hat der Bundesregierung in Ausnahme- und Notfällen weitgehende Einflußmöglichkeiten auf die Länder eingeräumt, zugleich aber eine maßgebliche Einschaltung des Bundesrates vorgesehen. Im Wege der Bundesaufsicht kontrolliert die Bundesregierung, ob die Länder die Bundesgesetze dem geltenden Recht gemäß ausführen. Werden Mängel, die die Bundesregierung dabei festgestellt hat, nicht beseitigt, so beschließt auf Antrag der Bundesregierung oder des betroffenen Landes der Bundesrat, ob das Land das Recht verletzt hat (Art. 84 Abs. 3 und 4 GG). Als äußerstes Mittel stehen der Bundesregierung Maßnahmen des Bundeszwanges zur Verfügung, wenn ein Land die ihm gesetzlich obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt. Zur Durchführung des Bundeszwanges hat die Bundesregierung das 39

Vgl. 497. Sitzung des Bundesrates am 13. März 1981 Tagesordnungspunkte 16, 21 und 28.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

919

Weisungsrecht gegenüber dem Land und seinen Behörden. Unabdingbare Voraussetzung für Maßnahmen des Bundeszwanges ist freilich die Zustimmung des Bundesrates (Art. 37 Abs. 1 und 2 GG). Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand des Staates oder die freiheitliche demokratische Grundordnung kann die Bundesregierung intervenieren, wenn das Land, in dem die Gefahr droht, nicht selbst zur Bekämpfung der Gefahr bereit oder in der Lage ist. In diesem Fall kann die Bundesregierung die Polizeikräfte dieses Landes und anderer Länder ihren Weisungen unterstellen sowie Einheiten des Bundesgrenzschutzes einsetzen. Der Bundesrat kann jederzeit verlangen, daß die Anordnungen der Bundesregierung aufgehoben werden (Art. 91 Abs. 2 GG). Bei der Beschlußfassung des Bundesrates bei Bundesaufsicht, Bundeszwang und Intervention gem. Art. 91 Abs. 2 G G ist das betroffene Land nach § 28 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Bundesrates stimmberechtigt 40 . Wenn die Voraussetzungen des Art. 91 Abs. 2 G G vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, kann die Bundesregierung Streitkräfte beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Auf Verlangen des Bundesrates muß der Einsatz von Streitkräften eingestellt werden (Art. 87a Abs. 4 GG). Zur Katastrophenhilfe kann die Bundesregierung bei Gefährdung des Gebiets mehr als eines Landes Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte einsetzen. Derartige Maßnahmen der Bundesregierung sind jederzeit auf Verlangen des Bundesrates aufzuheben (Art. 35 Abs. 3 GG). Die genannten Verfassungsvorschriften sind bisher noch nicht angewandt worden. e) Mitwirkung

hei Personalentscheidungen

des Bundes

Der Bundesrat wirkt auch im personellen Bereich bei Bundeseinrichtungen oder staatlich beeinflußten Institutionen mit. Diese Befugnisse sind in zahlreichen Bundesgesetzen festgelegt. Als Beispiele seien genannt: — Die Bestimmung der kommunalen Vertreter im Konjunkturrat für die öffentliche Hand und im Finanzplanungsrat. — Die Entsendung von Vertretern des Bundesrates in Verwaltungsräte (z. B. Bundesbahn, Bundespost, Deutsche Genossenschaftsbank) oder in die Rundfunkräte der „Deutschen Welle" und des „Deutschlandfunks". f ) Mitwirkung

in sonstigen Fällen

Die vorstehende Darstellung der Mitwirkungsmöglichkeiten ist nicht erschöpfend. Es gibt eine Vielzahl von Bereichen, in denen der Bundesrat ebenfalls eine Mitwirkung hat (z. B. bei der Entlastung der Bundesregierung bezüglich der Haushaltsrechnung oder bei Grundstücksveräußerungen des Bundes). 40

Diese Regelung hält H . SCHÄFER aaO S. 111, für bedenklich. Das betroffene Land entscheide insoweit in eigener Sache und

könne gegebenenfalls mit seinen Stimmen den Ausschlag geben.

920

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

4. Befugnisse des Bundesrates im Justizbereich des Bundes Im Justizbereich des Bundes stehen dem Bundesrat Befugnisse als Antragsteller und als äußerungsberechtigtes Bundesorgan in verfassungsgerichtlichen Verfahren sowie als Wahlorgan zu. a) Der Bundesrat als Antragsteller und äußerungsberechtigtes Bundesorgan Verfahren in verfassungsgerichtlichen Antragsteller kann der Bundesrat sein bei den sog. Organstreitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), bei einem Verfahren auf Parteiverbot (Art. 21 Abs. 2 GG), bei der Anklage des Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher Verletzung eines Bundesgesetzes (Art. 61 Abs. 1 GG) und bei Meinungsverschiedenheiten über das Fortgelten des vor 1949 erlassenen Rechtes als Bundesrecht (Art. 126 GG). Dagegen ist der Bundesrat nicht antragsberechtigt bei Verfahren, die Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder betreffen, etwa bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder oder bei der Ausübung der Bundesaufsicht (Art. 93 Abs. 1 N r . 3 GG); dies folgt aus seiner Stellung als Bundesorgan. Bisher hat der Bundesrat erst zwei Organstreitigkeiten beim Bundesverfassungsgericht in Gang gesetzt. Das erste Verfahren, bei dem der Bundespräsident Antragsgegner war, betraf das Gesetz über die Stiftung Preußischer Kulturbesitz vom 25. 7. 1957, das der Bundespräsident verkündet hatte, obwohl der Bundesrat, der das Gesetz für zustimmungsbedürftig hielt, seine Zustimmung verweigert hatte. Der Antrag wurde vor der Entscheidung vom Bundesrat zurückgenommen, nachdem das Bundesverfassungsgericht in einem Normenkontrollverfahren, das drei Bundesländer in derselben Streitfrage parallel angestrengt hatten, das umstrittene Gesetz für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt hatte 41 . Der Bundesrat hat seitdem nur ein weiteres Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig gemacht, in dem das Gericht entschieden hat, daß alle Rechtsverordnungen, die die Bundesregierung aufgrund eines zustimmungsbedürftigen Gesetzes erläßt, ebenfalls der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, falls nicht eine anderweitige Regelung getroffen worden ist 42 . Trotz der Zurückhaltung, als Antragsteller beim Bundesverfassungsgericht aufzutreten, hat sich der Bundesrat an verfassungsgerichtlichen Verfahren durch Beitritt beteiligt. Er erhält Kenntnis von allen Organstreitigkeiten, Normenkontrollverfahren und Verfassungsbeschwerden, soweit sie sich gegen Gesetze richten. Bei der Vielzahl dieser Fälle 43 sieht der Bundesrat aufgrund von Empfehlungen seines Rechtsausschus41 42

BVerfGE 10, 20ff. BVerfGE 24, 184 ff. Der Antrag des Bundesrates wurde allerdings abgewiesen, weil das Gericht mit 5 gegen 3 Stimmen entschieden hat, das zugrundeliegende Gesetz enthalte eine „anderweitige bundesgesetzliche Regelung" im Sinne von Art. 80 Abs. 2 G G , so daß die von der Bundesregierung erlassene

43

Verordnung nicht zustimmungsbedürftig war (BVerfGE aaO 202). Seit seinem Bestehen sind dem Bundesrat bis zum 31. 12. 1980 vom BVerfG 2712 Verfahren mitgeteilt worden, davon 1516 Verfassungsbeschwerden, 1070 Aussetzungsbeschlüsse und 126 sonstige Verfahren (u. a. Normenkontrollverfahren).

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

921

ses fast stets von einer Äußerung und einem Beitritt ab. Diese Praxis entspricht der des Bundestages. Eine Äußerung oder seinen Beitritt hat der Bundesrat dann beschlossen, wenn das Verfahren unmittelbar die Rechte des Bundesrates selbst zum Gegenstand hatte; dies geschah in elf Fällen zwischen 1949 und dem 31. 3. 1981. b) Der Bundesrat

als

'Wahlorgan

Bundestag und Bundesrat wählen je zur Hälfte die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes (Art. 94 Abs. 1 GG). Im Hinblick auf die herausragende Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit in unserem Staat und die zwölfjährige Amtszeit der Richter wird die Richterwahl regelmäßig durch eine Kommission des Bundesrates vorbereitet, die auch klärt, ob ein zum Verfassungsrichter vorgeschlagener Kandidat mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit der Stimmen des Bundesrates rechnen kann. Die Wahl selbst erfolgt in einer Plenarsitzung des Bundesrates. Während der Bundesrat bei der Wahl der Richter zu den fünf obersten Gerichtshöfen des Bundes nicht mitwirkt, bedarf ein Vorschlag des Bundesministers der Justiz für die Ernennung des Generalbundesanwaltes und der Bundesanwälte der Zustimmung des Bundesrates (§ 149 GVG). 5. Aufgaben des Bundesrates im Verteidigungsfall Eine besonders starke Stellung nimmt der Bundesrat im Verteidigungsfall ein. Die Befugnisse der Verfassungsorgane regeln die Artikel 115 a bis 1551 GG, die 1968 als Teil der Notstandsverfassung in das Grundgesetz eingeführt worden sind. Für den Verteidigungsfall hat der Bund die Gesetzgebungszuständigkeit auch auf den Sachgebieten, die zur Kompetenz der Länder gehören, jedoch bedürfen diese Gesetze der Zustimmung des Bundesrates (Art. 115c Abs. 1 GG). Die Gesetzgebung vollzieht sich bei dringlichen Gesetzesvorlagen der Bundesregierung, die die Regel sein werden, in einem stark abgekürzten Verfahren, in dem der „erste Durchgang" im Bundesrat und das Vermittlungsverfahren entfallen (Art. 115 d GG). Die Einzelheiten sind in der vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates beschlossenen „Geschäftsordnung für das Verfahren nach Art. 115d des Grundgesetzes" vom 23. Juli 1969 festgelegt 44 . Hervorzuheben ist die gemeinsame Beratung von Bundestag und Bundesrat unter dem Vorsitz des Bundestagspräsidenten. Falls eine Ausschußberatung beschlossen wird, beraten auch die Ausschüsse beider Gesetzgebungsorgane in der Regel gemeinsam; die Abstimmungen werden getrennt vorgenommen. Bei der Schlußabstimmung in gemeinsamer Plenarsitzung stimmt zuerst der Bundestag, dann der Bundesrat ab. Bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen hat der Bundesrat auch im abgekürzten Verfahren eine Vetoposition. Bei Einspruchsgesetzen kann der Bundestag eine ablehnende Entscheidung des Bundesrates mit der Mehrheit seiner Mitglieder überstimmen.

44

BGBl. I, S. 1 1 0 0 ; Sartorius I Verfassungsund Verwaltungsgesetze der Bundesrepublik Nr. 34.

922

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

In der realistischen Überlegung, daß im Verteidigungsfall dem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen können oder seine Beschlußfähigkeit nicht gegeben ist, hat das Grundgesetz einen Gemeinsamen Ausschuß vorgesehen, der die Stellung von Bundestag und Bundesrat hat und deren Rechte einheitlich wahrnimmt (Art. 53 a, 115e Abs. 1 GG).

III. Zusammensetzung des Bundesrates Entsprechend dem Bundesratsprinzip besteht der Bundesrat aus Mitgliedern der Regierungen der Länder, die sie bestellen und abberufen (Art. 51 Abs. 1 GG). 1. Voraussetzungen für die Mitgliedschaft Die Mitgliedschaft ist an zwei formale Voraussetzungen geknüpft: Mitglieder des Bundesrates müssen Sitz und Stimme in der Landesregierung haben, wobei allerdings die Landesverfassungen selbst bestimmen, ob nur parlamentarisch verantwortlichen Ministern oder auch Staatssekretären Kabinettsrang in diesem Sinne zukommt. Zwei Länder haben in ihrer Verfassung entsprechende Regelungen getroffen 45 , so daß dem Bundesrat als stellvertretende Mitglieder auch zwei baden-württembergische und acht bayerische Staatssekretäre angehören 46 . Außerdem müssen die Mitglieder durch Beschluß der Landesregierung bestellt werden, wodurch die Mitgliedschaft im Bundesrat konstitutiv erworben wird 47 . In gleicher Weise wie die Bestellung erfolgt die Abberufung, die jederzeit durch Beschluß der Landesregierung möglich ist. Die Mitglieder des Bundesrates können ihrerseits auch nur durch Mitglieder ihrer Landesregierung vertreten werden. Beauftragte der Landesregierungen können nur den Ausschüssen des Bundesrates angehören. Diese Änderung gegenüber der Weimarer Verfassung kann als Versuch aufgefaßt werden, die seinerzeit kritisierte Bürokratisierung des föderativen Organs an seiner sichtbarsten Stelle, nämlich der Stimmenführung der Länder, zu korrigieren. Die Stimmenführung hat einheitlich zu erfolgen; geschieht das nicht, so ist die Stimmabgabe ungültig. Bei Abstimmung im Plenum des Bundesrates votiert für jedes Land nur ein Regierungsmitglied, in der Regel der

45

Art. 45 Abs. 2 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. 11. 1953: „ D i e Regierung besteht aus dem Ministerpräsidenten und den Ministern. Als weitere Mitglieder der Regierung können Staatssekretäre und ehrenamtliche Staatssekretäre ernannt werden. Die Zahl der Staatssekretäre darf ein Drittel der Zahl der Minister nicht übersteigen. Staatssekretären und Staatsräten kann durch Beschluß des Landtags Stimmrecht verliehen w e r d e n . " Art. 50 Abs. 2 der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. 9. 1946: „ J e d e m Minister wird ein Staatssekretär als Stellvertreter für

46

47

einen bestimmten Geschäftsbereich zugewiesen. Die Staatssekretäre haben Sitz und Stimme in der Staatsregierung." H . U . EVERS (Hrsg.), Grundgesetz und Verfassungen der deutschen Bundesländer, 3. Aufl. 1980, S. 76 und 97. Vgl. Handbuch des Bundesrates, 4. Aufl., 8. Ergänzungslieferung, Stand: 3. 11. 1980, hrsg. vom Bundesrat, S. 106 und 108. Die Mitteilung an den Präsidenten des Bundesrates nach § 1 G O B R und die Bekanntgabe in der jeweils nächsten Plenarsitzung des Bundesrates sind nur deklaratorisch.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

923

Minister/Senator für Bundesangelegenheiten. Nach § 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates dürfen die Mitglieder des Bundesrates nicht gleichzeitig dem Bundestag angehören. Wird ein Mitglied des Bundesrates in den Bundestag gewählt, so muß es dem Präsidenten des Bundesrates in angemessener Frist mitteilen, welches der beiden Ämter es niederlegt. Ein automatisches Erlöschen einer der beiden Mitgliedschaften tritt nicht ein. Die gleichzeitige Mitgliedschaft im Bundesrat und in der Bundesregierung ist unzulässig (Art. 66 G G i. V. mit § 4 des Bundesministergesetzes). 2. Stimmenverteilung im Bundesrat Jedes Land hat im Bundesrat mindestens drei Stimmen, bei mehr als zwei Millionen Einwohnern vier Stimmen und bei mehr als sechs Millionen Einwohnern fünf Stimmen (Art. 51 Abs. 2 G G ) . Die Anzahl der Stimmen, die dem einzelnen Land zusteht, bemißt sich nach der amtlichen Bevölkerungsfortschreibung, mit der Ausnahme, daß sich entsprechend dem Beschluß des Bundesrats vom 14. Oktober 1977 die Anzahl der Stimmen des Landes Berlin bis zur nächsten Bevölkerungszählung nach dem Ergebnis der Bevölkerungszählung vom 27. Mai 1970 bemißt. Die Stimmendifferenzierung ist gegenüber der Weimarer Verfassung weiter gemildert, was den Kompromiß im Parlamentarischen Rat mit ermöglicht hat. Zur Zeit führen BadenWürttemberg, Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen je fünf Stimmen; Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein je vier Stimmen; Bremen, Hamburg und das Saarland je drei Stimmen, also insgesamt 45 Stimmen. Die Stimmen Berlins werden bei Beschlüssen mit rechtsverbindlicher Außenwirkung, also vor allem bei Abstimmungen im Gesetzgebungsverfahren, entsprechend Art. 144 Abs. 2 G G in Verbindung mit N r . 4 des Genehmigungsschreibens der Militärgouverneure vom 12. Mai 1949 zum Grundgesetz nicht mitgezählt, so daß in diesen Fällen für eine Mehrheitsentscheidung des Bundesrates 21 Stimmen und für eine Zweidrittelmehrheit 28 Stimmen erforderlich sind. Die Mitglieder der Landesregierungen, die nicht als „ordentliche" Mitglieder des Bundesrates bestellt sind, werden zu stellvertretenden Mitgliedern berufen. Die Geschäftsordnung des Bundesrates behandelt Mitglieder und stellvertretende Mitglieder gleich (§ 46 G O BR), so daß sie auch zu Ausschußvorsitzenden oder Schriftführern gewählt werden können. 3. Festlegung der Stimmabgabe im Bundesrat a) Festlegung durch die

Landesregierung

Es ist den Landesregierungen unbenommen und in der Praxis des Bundesrates die Regel, die Tätigkeit ihrer Bundesratsmitglieder durch Weisung zu binden und zu lenken. Das kann schon frühzeitig geschehen, bevor die Ausschüsse des Bundesrates ihre Beratung beginnen, um auseinanderfallende Voten eines Landes zu vermeiden, wenn mehrere Ausschüsse an den Beratungen beteiligt sind. Spätestens in der letzten Kabinettsitzung vor dem Bundesratsplenum wird die Stimmabgabe des Landes zu den einzelnen Tagesordnungspunkten festgelegt. In Ausnahmefällen, etwa bei der Abstimmung über Gesetzesbeschlüsse mit politisch heftig umkämpftem Inhalt, geben die Landeskabinette den Bundesratsmitgliedern freie Hand, so daß gelegentlich das

924

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Abstimmungsverhalten nach Kontakt mit anderen Regierungen erst unmittelbar vor Beginn der Plenarsitzung festgelegt wird.

b) Keine Rechtsbindung durch Parlamentsbeschlüsse In den letzten zehn Jahren ist verstärkt die Diskussion über die Zulässigkeit und die Grenzen der Einflußnahme der Landesparlamente auf das Verhalten der Landesregierungen im Bundesrat geführt worden. Es ist verständlich, daß die Landtage früher und besser über Gesetzgebungsvorhaben des Bundes unterrichtet sein wollen, wirken sich doch die meisten Bundesgesetze auf die Länder aus. Anders als der Bundestag beim Bundeshaushalt haben z . B . die Landtage keinen Einfluß auf die Steuereinnahmen ihres Landeshaushalts, weil sämtliche Steuern auf bundesgesetzlicher Grundlage erhoben werden und wegen der erforderlichen Einheitlichkeit der Besteuerung im ganzen Bundesgebiet auch erhoben werden müssen, einschließlich derjenigen Steuern, deren Aufkommen — wie Vermögen- oder Erbschaftsteuer — voll den Ländern zufließt. Durch die häufige Übertragung der Gesetzgebungszuständigkeit in wichtigen Bereichen von den Ländern auf den Bund ist den Landtagen eine wesentliche Kompetenz entzogen und auf den Bund, d. h. Bundestag und Bundesrat, übergegangen. Es liegt nahe, daß die Landesparlamente nicht erst nach erfolgten Abstimmungen im Bundesrat informiert werden wollen, sondern ihre Auffassungen früher zur Geltung bringen möchten, bis hin zu Ersuchen an die Landesregierungen, eine Gesetzesinitiative des Bundesrates in Gang zu bringen oder auf eine bereits eingebrachte Gesetzesinitiative des Bundestages bzw. eine Gesetzesvorlage der Bundesregierung in bestimmter Weise einzuwirken. Solche Bemühungen gibt es in allen Ländern. Sie sind legitim unter dem Gesichtspunkt der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Landtag. Freilich lösen Beschlüsse und Anträge von Landtagen oder Fraktionen in Bundesratsangelegenheiten keine rechtliche Verpflichtung für die Regierung aus, sondern stellen eine politische Einflußnahme durch parlamentarische Empfehlung dar. Ein Weisungsrecht des Landesparlamentes würde mit der Entscheidung des Grundgesetzes für die Bundesratslösung nicht vereinbar sein. Auch können Bundesratsentscheidungen einer Landesregierung nicht den Landtagen oder etwa dem Ergebnis einer Volksbefragung vorbehalten werden 4 8 . Die Landesregierungen unterrichten die Landesparlamente kontinuierlich über ihre Arbeit im Bundesrat, wobei zum Teil institutionalisierte, zum Teil pragmatische Verfahren Anwendung finden 4 9 .

c) Bindung durch Koalitionsvertrag In den fünf Legislaturperioden des Bundestages von 1949—1969 hat es — von kurzfristigen Ausnahmen abgesehen — parteipolitisch übereinstimmende Mehrheiten in den beiden Gesetzgebungsorganen gegeben. Seit Herbst 1969 bis Herbst 1982 stand der die sozialliberale Bundesregierung tragenden Bundestagsmehrheit von S P D und 48 49

B V e r f G E 8, 104 (120/121). Vgl. die Ubersicht von O . KRATZSCH D Ö V 1975, S. 109 (111 A n m . 18); ausführlich

auch G . KISKER Die Beziehungen des Bundesrates zu den Ländern, in: Der Bundesrat (Fn. 5) S. 1 5 3 - 1 7 2 .

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

925

F . D . P . die aus den CDU/CSU-regierten Bundesländern gebildete Mehrheit des Bundesrates gegenüber. In einigen Bundesländern kam es während dieser Zeit zu Koalitionen zwischen der C D U und der F . D . P . , die als Bundespartei mit der SPD koalierte. Das warf die Frage auf, ob das künftige Abstimmungsverhalten der aus C D U und F . D . P . gebildeten Landesregierungen im Bundesrat, z. B. über Gesetzesvorlagen der Bundesregierung oder über Gesetzesinitiativen der Koalitionsfraktionen des Bundestages, in einer Koalitionsvereinbarung festgelegt werden darf. Drei Koalitionsvereinbarungen vom 5. Dezember 1976 für Niedersachsen sowie vom 23. Februar 1977 und 12. Mai 1980 für das Saarland sind bekannt geworden 5 0 . Ihr Inhalt ist weder verfassungsrechtlich bedenklich noch politisch zu beanstanden. Es entspricht der Staatspraxis, daß Koalitionsregierungen auf Länderebene sich über ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat verständigen, zumindest dann, wenn sie parteipolitisch anders zusammengesetzt sind als die Bundesregierung. BANDORF51 hält Koalitionsvereinbarungen über das Stimmverhalten im Bundesrat dann für rechtswidrig und unwirksam, wenn sie gegen den — überwiegend in den Landesverfassungen, jedenfalls in den Geschäftsordnungen der Landesregierungen — festgelegten Grundsatz verstoßen, daß verfassungskonforme Entscheidungen der Landesregierungen jeweils durch Stimmenmehrheit gemäß dem Votum der versammelten Kabinettmitglieder Zustandekommen. Es ist aber gerade der Sinn entsprechender Vereinbarungen zwischen Koalitionspartnern, daß unabhängig von der zahlenmäßigen Zusammensetzung der Landesregierung ein Koalitionspartner gegen seinen Willen, z. B. in Bundesratsangelegenheiten, nicht überstimmt werden darf. Falls hierüber mit oder ohne schriftliche Absprache kein Einverständnis erzielt werden kann, bleibt als letztes Mittel nur die Auflösung der Koalitionsregierung.

50

F . K . FROMME ( F n . 2 7 ) S. X V I und

XVII.

Die niedersächsische Koalitionsvereinbarung lautete: „Die Landesregierung wird sachbezogen und konstruktiv an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken und dabei die Interessen Niedersachsens wirksam vertreten. Sie wird bemüht sein, Konfrontationen mit Bundestagsbeschlüssen zu vermeiden. Es besteht Einigkeit, daß die Festlegung der niedersächsischen Haltung im Bundesrat in partnerschaftlichem Geist erfolgen soll." Die Saarländische Koalitionsvereinbarung enthält den Kernsatz: „Die Koalitionspartner sind sich darüber einig, daß die Stimmen des Saarlandes im Bundesrat nicht gegen den erklärten Willen eines Koalitionspartners abgegeben werden." Während der umfangreichen Koalitionsvereinbarung von 1977 noch eine ausdrückliche, „Bundesratsklausel" genannte Protokollnotiz beigefügt war, enthält die wesentlich knapper gefaßte Koalitionsvereinbarung vom 12. Mai 1980 lediglich den Satz „Entscheidungen in grundsätzlichen Fragen, die nicht Gegenstand der vorliegenden Ver-

51

handlungsergebnisse und der Regierungserklärung sind, können nicht gegen den erklärten Willen eines Partners getroffen werden". Allerdings wird in einer Protokollnotiz festgehalten, daß „ergänzend auch die Koalitionsvereinbarung vom 23. Februar 1977 Grundlage der weiteren Zusammenarbeit bleibt". Z R P 1977, 81 (84). Die für die Auffassung in Anm. 45, aaO, in Anspruch genommene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes muß irrtümlich zitiert sein. Schwierigkeiten sind in der Staatspraxis besonders in den ersten Jahren nach Bildung der sozialliberalen Bundesregierung ab Herbst 1969 in den Bundesländern entstanden, in denen Koalitionsregierungen keine Vereinbarungen über ihr Stimmverhalten im Bundesrat getroffen hatten (vgl. INGE WETTIG-DANIELMEIER ZParl 1970, 269 ff, über die Entwicklung in Niedersachsen, die zu vorzeitigen Neuwahlen führte; H . LAUFER Der Bundesrat, 1972, S. 28 Anm. 218 und 219, hinsichtlich Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg) .

926

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

K. G. KIESINGER, der acht Jahre lang eine baden-württembergiche Koalitionsregierung leitete (1958-1960 C D U / S P D ; 1960-1966 C D U / F . D . P . ) , forderte in einem 1966 geschriebenen Aufsatz „Gedanken zur Arbeit des Bundesrates" eine stärkere parteipolitische Diskussion in diesem „machtvollen Bundesorgan" und stellte folgende Überlegung an: „Die Notwendigkeit einheitlicher Entscheidung einer Landesregierung bei der Abstimmung wird wohl nicht hindern, daß in der Debatte die innerhalb einer Landesregierung etwa noch bestehenden unterschiedlichen Meinungen im Plenum des Bundesrates zu Wort kommen in dem Sinne, daß ein in der Landesregierung überstimmtes Kabinettmitglied im Bundesrat erklärt, seine Regierung habe sich zwar zu einer bestimmten Entscheidung entschlossen, habe sich aber dabei mit der abweichenden Auffassung auseinandergesetzt, die er im Bundesrat darlege" 5 2 . Dieser Überlegung ist die Staatspraxis nicht gefolgt. Das Plenum des Bundesrates ist nicht der geeignete Ort, Meinungsverschiedenheiten in der Koalitionsregierung eines Bundeslandes darzulegen, zumal das Votum des Landes nur einheitlich abgegeben werden kann.

IV. Die Organisation des Bundesrates 1. Bundesratspräsident und Präsidium Bei seiner ersten Sitzung am 7. September 1949 hat der Bundesrat den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen zu seinem Präsidenten gewählt. Entsprechend der im Grundgesetz vorgesehenen Regelung erfolgte die Wahl „auf ein Jahr" (Art. 52 Abs. 1 GG). Obwohl eine Wiederwahl des Bundesratspräsidenten nach der Verfassung nicht ausgeschlossen ist, haben sich die Ministerpräsidenten auf einen Turnus verständigt: Seit ihrem „Königsteiner Abkommen" vom 30. August 1950 wechseln sich die Regierungschefs der Länder jährlich im Amt des Präsidenten ab, mit dem einwohnerstärksten Land beginnend und mit dem einwohnerschwächsten Land endend. Die herausgehobene staatsrechtliche Stellung des Amtes wird dadurch unterstrichen, daß der Präsident des Bundesrates die Befugnisse des Bundespräsidenten wahrnimmt, wenn dieser verhindert ist oder wenn sich sein Amt vorzeitig erledigt (Art. 57 GG). Der Präsident beruft den Bundesrat ein und leitet die Sitzungen. Neben dem Präsidenten wählt der Bundesrat drei Vizepräsidenten, die mit dem Präsidenten das Präsidium bilden. Das Präsidium stellt nach Beratung im Ständigen Beirat den Entwurf des Haushaltsplanes für den Bundesrat auf. 2. Der Ständige Beirat Beim Präsidium besteht ein Ständiger Beirat, dem die Bevollmächtigten der elf Länder angehören. Dies sind die Minister/Senatoren für Bundesangelegenheiten, die 52

In: „Gedächtnisschrift Hans Peters", 1967, S. 547ff (557).

3. Abschnitt. D e r Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

927

zugleich auch Mitglieder des Bundesrates sind. Der Ständige Beirat, dessen Aufgabe der des Ältestenrates des Bundestages vergleichbar ist, tagt regelmäßig einmal wöchentlich, und zwar am Nachmittag des Tages, an dem die Sitzung des Bundeskabinetts stattfindet. Deren Ablauf und Beschlüsse werden erörtert. Deshalb sieht die Geschäftsordnung des Bundesrates vor, daß der für die Angelegenheiten des Bundesrates und der Länder zuständige Bundesminister an den Sitzungen des Ständigen Beirates teilnehmen kann und jederzeit gehört werden muß. Der letzte Inhaber dieses Amtes, Bundesminister C A R L O S C H M I D , hatte die wöchentlich stattfindende Besprechung der Länderbevollmächtigten „zu einer Institution (gemacht), die der umfassenden und permanenten Orientierung der Landesregierungen über die Vorgänge bei der Bundesregierung bis in die Einzelheiten der Kabinettsitzungen hinein zu dienen hatte" 5 3 . Nachdem das Bundesratsministerium im Herbst 1969 aufgelöst worden war, übernahm der Chef des Bundeskanzleramtes oder der Staatsminister beim Bundeskanzler die Aufgabe, im Ständigen Beirat über die Beschlüsse der Bundesregierung zu informieren. Bundeskanzler Kohl hat am 4 . 1 0 . 1 9 8 2 einen zusätzlichen Staatsminister im Kanzleramt berufen, der ausschließlich für die Angelegenheiten des Bundesrates und der Länder zuständig ist. 3. Die Ausschüsse Der Bundesrat hat 14 ständige Ausschüsse gebildet, deren Vorsitzende jährlich vom Plenum neu gewählt werden. Die Ausschüsse für Auswärtige Angelegenheiten, für Innerdeutsche Beziehungen und für Verteidigung — auch „politische Ausschüsse" genannt — wechseln seit 1956 jährlich den Vorsitz unter den Regierungschefs der Länder. Bei den übrigen 11 Ausschüssen, denen das jeweils fachlich zuständige Regierungsmitglied eines Landes als Mitglied angehört, besteht seit vielen Jahren die Übung, die Vorsitzenden wiederzuwählen. Das hängt auch damit zusammen, daß jedes Land einen Ausschußvorsitz innehat und der Wechsel im Vorsitz eines Ausschusses mindestens einen weiteren Wechsel nach sich ziehen müßte. Die 11 Fachausschüsse haben die nachstehenden Bezeichnungen, wobei in Klammern das Land genannt wird, das den Vorsitz hat: Agrarausschuß (Rheinland-Pfalz) Ausschuß für Arbeit und Sozialpolitik (Hessen) Ausschuß für Fragen der Europäischen Gemeinschaften (Niedersachsen) Finanzausschuß (Nordrhein-Westfalen) Ausschuß für Innere Angelegenheiten (Schleswig-Holstein) Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit (Saarland) Ausschuß für Kulturfragen (Baden-Württemberg) Rechtsausschuß (Hamburg) Ausschuß für Städtebau und Wohnungswesen (Berlin) Ausschuß für Verkehr und Post (Bremen) Wirtschaftsausschuß (Bayern). 53

CARLO SCHMID Erinnerungen, 1979, S. 799.

928

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

4. Das Sekretariat Die Mitglieder des Bundesrates sind, von den Länderbevollmächtigten abgesehen, nicht ständig in Bonn, zumal der Bundesrat keine Sitzungswochen kennt. Auch der Präsident, der ohnehin sein Amt nur für ein Jahr ausübt, und die Ausschußvorsitzenden reisen jeweils zu den Sitzungen an. Um so wichtiger ist das Sekretariat, das die Kontinuität der Arbeit des Bundesrates sichert. An seiner Spitze steht der Direktor des Bundesrates. Wenn die Geschäftsordnung des Bundesrates festlegt, daß der Direktor den Präsidenten „bei der Führung seiner Amtsgeschäfte unterstützt" (§ 14 Abs. 2), so ist dies eine zurückhaltende Beschreibung der wirklichen Bedeutung dieses Amtes. Außer der Führung der Verwaltungsgeschäfte hält der Direktor den ständigen Kontakt zum Bundestag, zur Bundesregierung und zu den Regierungen der Länder. Er bereitet die Sitzungen des Ständigen Beirates vor und nimmt stets an ihnen teil. In der Zeit zwischen den Sitzungen des Bundesrates, wenn der Präsident nicht in Bonn anwesend ist (und das ist die meiste Zeit des Jahres), lenkt der Direktor die Arbeit des Bundesrates und ist insoweit der Ansprechpartner für Bundestag und Bundeskanzleramt. Die Arbeit der 12 Ausschüsse des Bundesrates wird von 6 Sekretären betreut 54 , von denen 2 zusätzliche Aufgaben versehen: Der Sekretär des Rechtsausschusses ist zugleich Sekretär des Vermittlungsausschusses. Der Sekretär des Finanzausschusses ist Vorsitzender des Unterausschusses, der jede Finanzausschußsitzung vorbereitet. Er ist außerdem regelmäßig Berichterstatter im Finanzausschuß. In den anderen Ausschüssen liegt die Berichterstattung stets bei Länderbeamten.

V. Die Arbeitsweise des Bundesrates 1. Vorbereitende Maßnahmen Alle beim Bundesrat eingehenden Vorlagen werden vor der Beratung im Plenum den zuständigen Ausschüssen zugewiesen, wobei die Beteiligung mehrerer Ausschüsse möglichst beschränkt werden soll. Während im Bundestag und in den Landtagen das Plenum nach einer ersten allgemeinen Erörterung die Vorlagen den Ausschüssen zuweist, sieht § 36 der Geschäftsordnung des Bundesrates vor, daß der Präsident (d. h. in der Praxis der Direktor in seinem Auftrag) die Zuweisung vornimmt und auch den federführenden Ausschuß bestimmt. Eine Ausnahme erfolgt dann, wenn ein Land verlangt, daß seine Vorlage unmittelbar auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt wird. Nach der Zuweisung an die Ausschüsse wird die Vorlage als Bundesratsvorlage gedruckt und umgehend an die Vertretungen der Länder gegeben, die sie den Mitgliedern des Bundesrates und den Behörden der Länder zuleiten. Bundestag,

54

Zur Arbeit des Sekretariats vgl. G . ZILLER ( F n . 1 9 ) S . 5 4 - 5 8 , u n d A . PFITZER D i e O r -

ganisation des Bundesrates (Fn. 5) S. 189/

191. PFITZER hat über ein Vierteljahrhundert das A m t des Direktors des Bundesrates innegehabt.

3. Abschnitt. D e r Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

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Bundesregierung und Presse werden direkt vom Bundesrat beliefert. Den Drucksachen ist neben dem Text der Vorlage auch der Tag des Eingangs beim Bundesrat und der Ablauf von Beratungsfristen zu entnehmen.

2. Beratung der Ausschüsse Die Vorlagen, die den Ausschüssen zur Beratung zugewiesen worden sind, werden vom zuständigen Sekretär zu einer Tagesordnung zusammengestellt und mit der Einladung zur Ausschußsitzung, die regelmäßig zwei Wochen vor der Plenarsitzung stattfindet, den Mitgliedern des Ausschusses und der Bundesregierung zugestellt. Die Ausschußsitzungen sind nicht öffentlich. Teilnahme- und redeberechtigt sind auch die Bundesminister und ihre Beauftragten. Die Ausschußmitglieder können sich durch Beauftragte vertreten lassen; das sind entweder Beamte aus dem Fachressort oder der Fachreferent der Landesvertretung. Die Beratung der einzelnen Tagesordnungspunkte beginnt mit der Berichterstattung, die überwiegend ein Beamter der Länder vornimmt. Uber Anträge, die jedes Land stellen kann, wird mit Stimmenmehrheit beschlossen. Beschlußfähigkeit ist gegeben, wenn mehr als die Hälfte der Länder vertreten ist. Die Ausschüsse geben dem Bundesrat Empfehlungen. Empfiehlt ein Ausschuß dem Bundesrat die Änderung oder Ablehnung einer Vorlage, so hat er eine Begründung mit vorzulegen. Das Büro des federführenden Ausschusses stellt alle Empfehlungen in einer besonderen Drucksache zusammen, die gegebenenfalls auch den Hinweis enthält, welche der einzelnen Empfehlungen aus den beteiligten Ausschüssen sich widersprechen und über welche Empfehlungen wegen Sachzusammenhangs nur gemeinsam und einheitlich entschieden werden kann. Die Empfehlungsdrucksache soll spätestens zehn Tage vor der Bundesratssitzung den Vertretungen der Länder zugehen, damit die Kabinette ihre Haltung festlegen können. Ausnahmsweise kann die Stellungnahme der Mitglieder des Ausschusses im Wege der Umfrage eingeholt werden, wenn der Vorsitzende die mündliche Beratung einer Vorlage für entbehrlich hält. Allerdings soll die Umfrage so frühzeitig erfolgen, daß auf Antrag eines Landes noch rechtzeitig eine Sitzung einberufen werden kann (§ 43 GOBR).

3. Durchführung der Plenarsitzungen Von den ersten beiden Legislaturperioden des Bundestages abgesehen, in denen der Bundesrat 116 bzw. 69 Sitzungen abhielt, fanden im Durchschnitt der Jahre 1954—1980 zwischen 13 bis 15 Sitzungen jährlich statt. Der Bundesrat tritt regelmäßig freitags zusammen. Der Präsident beruft jeweils am Ende einer Sitzung die nächste Bundesratssitzung ein, jedoch werden die Sitzungstermine etwa 1 Jahr im voraus bekanntgegeben. Sondersitzungen müssen stattfinden, wenn mindestens zwei Länder oder die Bundesregierung es verlangen (Art. 52 Abs. 2 GG). Die Geschäftsordnung des Bundesrates schreibt die Einberufungspflicht des Präsidenten sogar dann vor, wenn nur ein Land dies verlangt (§ 15 Abs. 1). In der staatsrechtlichen Literatur wird diese Bestimmung vereinzelt für unwirksam gehalten, weil sie nicht im Einklang

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5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

mit dem Grundgesetz steht 5 5 . Die wohl herrschende Meinung bejaht die Gültigkeit der abweichenden Regelung unter dem Gesichtspunkt eines erweiterten Minderheitenschutzes 5 6 . Praktische Bedeutung hat die Vorschrift bisher nicht gehabt, zumal der Präsident aus eigenem Recht den Bundesrat einberufen kann. Zur Vorbereitung der Sitzungen werden mit der vorläufigen Tagesordnung die zu beratenden Vorlagen sowie die Empfehlungen der Ausschüsse den Landesvertretungen etwa 10 Tage vor dem Plenartermin zugestellt. A m Mittwoch vor der Bundesratssitzung bespricht der Ständige Beirat die Tagesordnung. Aufgrund der dienstags stattfindenden Kabinettsitzungen kündigen die Bevollmächtigten der einzelnen Länder an, ob und zu welchen Punkten ein Antrag gestellt oder eine Erklärung abgegeben wird. Eine letzte Erörterung der Tagesordnung findet eine halbe Stunde vor Beginn der Sitzung im Plenarsaal statt, die im Unterschied zu der nachfolgenden Plenarsitzung nicht öffentlich ist. Die Bedeutung dieser Vorbesprechung wird von Außenstehenden überschätzt, die ihre Abschaffung befürworten 5 7 . In Wirklichkeit werden bei der Vorbesprechung keine politischen Entscheidungen getroffen, sondern geschäftsordnungsmäßige Fragen besprochen, gelegentlich auch Probeabstimmungen vorgenommen und Anmeldungen für die Rednerliste entgegengenommen. Zu Beginn der Plenarsitzung, die vom Präsidenten oder im Verhinderungsfall von einem der Vizepräsidenten geleitet wird, beschließt der Bundesrat die endgültige Tagesordnung. Für die Reihenfolge hat sich folgendes Verfahren eingespielt: Zunächst werden Vorlagen aus dem Vermittlungsausschuß behandelt, zu denen stets mündlich berichtet wird. Dann folgen die Gesetzesbeschlüsse des Bundestages, Gesetzesinitiativen der Länder, Gesetzentwürfe der Bundesregierung, Vorlagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für Verordnungen und Richtlinien des Rates, Rechts Verordnungen und Allgemeine Verwaltungs Vorschriften der Bundesregierung und sonstige Vorlagen wie z. B. Entsendung von Personen in Gremien, für die der Bundesrat ein Vorschlagsrecht hat, oder Stellungnahmen zu Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Bei wichtigen Tagesordnungspunkten beginnt die Beratung gelegentlich mit einem mündlichen Bericht aus dem federführenden Ausschuß. Anders als beim Bundestag werden schriftliche Berichte nicht erstattet, doch können Berichte ebenso wie Redebeiträge zu Protokoll gegeben werden; sie werden im Sitzungsbericht als Anlage abgedruckt. Von dieser Möglichkeit wird häufig Gebrauch gemacht 5 8 . Rederecht im Bundesrat haben seine Mitglieder, die Mitglieder der Bundesregierung und die Staatssekretäre des Bundes. Bundestagsabgeordnete können nur sprechen, wenn sie vom Vermittlungsausschuß als Berichterstatter für den Bundesrat bestimmt worden sind. In der letzten Legislaturperiode des Bundesta-

55

56

H . SCHÄFER Der Bundesrat, 1955, S. 46; TH. MAUNZ in: M a u n z / D ü r i g / H e r z o g / Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 52 II 3 a. v. MANGOLDT/KLEIN Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. 1964 S. 1045; K . STERN (Fn. 9) S . 160.

57 58

H . LAUFER Der Bundesrat, 1972, S. 31. So wurde in nur 1 von 13 Sitzungen des Jahres 1980 keine Erklärung zu Protokoll gegeben. In den Sitzungen vom 21. 3., 13. 6. und 18. 7. 1980 wurden jeweils 15 Erklärungen zu Protokoll gegeben.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

931

ges (1976—1980) wurden 70 Berichte aus dem Vermittlungsausschuß erstattet, davon 18 durch Bundestagsabgeordnete. Andere Personen haben im Bundesrat nur dann ein Rederecht, wenn der Präsident dies zuläßt. Dies geschieht nur in seltenen Ausnahmefällen, so 1980 einmal, als in der Sitzung vom 2 1 . 3 . 1980 die Präsidentin des Europäischen Parlaments, S I M O N E V E I L , eine Ansprache hielt. Vor dem Inkrafttreten der seit dem 1. 10. 1966 geltenden Geschäftsordnung haben im Bundesrat regelmäßig auch Beamte der Länder gesprochen, wenn sie Berichterstatter eines Ausschusses des Bundesrates waren. Die Beratungen des Bundesrates gehen in einer nüchternen Atmosphäre vor sich, so daß manche Beobachter die Sitzungen für langweilig halten. Das liegt auch daran, daß Beifalls- und Mißfallenskundgebungen unüblich sind und auch keine die Debatte belebenden Zwischenfragen gestellt werden. Selten verzeichnet der Sitzungsbericht einen Zwischenruf oder den Vermerk „Heiterkeit". Beifall wird nur gegeben bei der Begrüßung ausländischer Gäste, und zu persönlichen Anlässen. Noch so eindrucksvolle Redebeiträge bleiben ohne hörbares spontanes Echo, einschließlich der Antrittsreden der Präsidenten. Wenn das Wort „Beifall" im Sitzungsprotokoll einmal auftaucht, fehlt zum Unterschied zu den Sitzungsniederschriften des Bundestages jeglicher Zusatz wie „stark", „lebhaft", „anhaltend" usw. Nach der Aussprache wird über die Empfehlungen der Ausschüsse und über etwaige Anträge abgestimmt, die jedes Land stellen kann. Nach der seit 1966 geltenden Geschäftsordnung wird durch Handaufheben abgestimmt. Die Abstimmung durch Aufruf der Länder in alphabetischer Reihenfolge 59 erfolgt nur, wenn ein Land es verlangt. Nach ständiger Übung erfolgt die Wahl des Präsidenten durch Aufruf der Länder; im übrigen wird nur wenig von dieser Abstimmungsform Gebrauch gemacht 60 . Im Bundesrat wird grundsätzlich nur über eine positiv gestellte Frage abgestimmt und festgestellt, ob es dafür eine Mehrheit gibt 6 1 . Nach Gegenstimmen und Enthaltungen wird nicht gefragt. Sie werden auch im Protokoll nicht festgehalten. Charakteristisch für Abstimmungen im Bundesrat ist die Zusammenfassung mehrerer Beratungsgegenstände. Zeigt sich bei den Ausschußberatungen, daß zu einer Vorlage keine abweichenden Meinungen geäußert werden, und wird diese Auffassung auch nicht durch die Entscheidung einer Landesregierung korrigiert, so wird die Vorlage in einen nach der Farbe „grüne Drucksache" genannten Umdruck 59

60

§ 13 Abs. 4 S. 4 der Geschäftsordnung des Bundesrates vom 31. 7. 1953 BGBl. II 1953, S. 527, legte fest, daß beim Aufruf der Länder Berlin sich als erstes Land erklärt. Beispiele: Abstimmung über das Gesetz zu dem Abkommen vom 9. 10. 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und U n fallversicherung (432. Sitzung vom 12. 3. 1976; SitzBer. S. 105 C ) ; Abstimmung über

61

das Berufsbildungsgesetz (434. Sitzung vom 14. 5. 1976; SitzBer. S. 2 1 2 C ) . Auch wenn z. B. aufgrund der Ausschußberatung und der im Plenum abgegebenen E r klärung feststeht, daß eine große Mehrheit einem Gesetz nicht zustimmen will, lautet die Abstimmungsfrage: „ W e r dem Gesetz zustimmt, den bitte ich um das Handzeic h e n . " — Dann folgt die Feststellung: „Das ist die Minderheit. Damit hat der Bundesrat dem Gesetz nicht zugestimmt."

932

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

aufgenommen. In der Praxis erscheinen viele Tagesordnungspunkt einer Sitzung — manchmal mehr als die Hälfte — in der „grünen Drucksache", die etwa 2 Tage vor der Bundesratssitzung vorliegt. Sie werden zu gemeinsamer Abstimmung aufgerufen und ohne Aussprache en bloc verabschiedet. Der Bundesrat ist beschlußfähig, wenn die Mehrheit seiner Stimmen vertreten ist; dazu genügt die Anwesenheit eines Kabinettmitgliedes je Land. Es kommt kaum vor, daß ein Land bei einer Plenarsitzung nicht vertreten ist 62 . Seit seinem Bestehen ist der Bundesrat noch nie beschlußunfähig gewesen und auch — anders als beim Bundestag — durch Auszug von Mitgliedern noch nicht beschlußunfähig gemacht worden. Der Text der Beschlüsse des Bundesrates wird als sog. Beschlußdrucksache veröffentlicht. Dem Bundeskanzler werden sie in einem förmlichen Verfahren durch Notifizierungsschreiben des Präsidenten des Bundesrates mitgeteilt. Der Bundestagspräsident erhält Notifizierungen in der Regel nur bei Beschlüssen des Bundesrates zu Gesetzesbeschlüssen und zu Einigungsvorschlägen des Vermittlungsausschusses. Wie der Bundestag gibt auch der Bundesrat über jede Sitzung einen gedruckten Sitzungsbericht heraus, der ein wörtliches Protokoll des Sitzungsablaufs enthält.

VI. Der Bundesrat als Partner von Bundesregierung und Bundestag 1. Bundesrat und Bundesregierung Die für den Geschäftsablauf erforderliche Zusammenarbeit zwischen dem Sekretariat des Bundesrates und dem Bundeskanzleramt vollzieht sich ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Die Arbeitsbeziehungen sind in der Geschäftsordnung des Bundesrates und in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, Besonderer Teil, geregelt 63 . Im Gesetzgebungsverfahren ist eine Terminabsprache für die Zuleitung der Gesetzesvorlagen der Bundesregierung beim Bundesrat besonders wichtig, damit die dem Bundesrat vom Grundgesetz eingeräumten Beratungsfristen für seine Stellungnahme (Art. 76 Abs. 2 und 110 Abs. 3 GG) voll ausgenutzt werden können. a) Informationspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Bundesrat Der dem Bundesrat durch das Grundgesetz zugewiesene Auftrag, bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitzuwirken (Art. 50 GG), kann nur erfüllt werden, wenn der Bundesrat als föderative Vertretungskörperschaft durch die politische Führung des Gesamtstaates ausreichend informiert wird. Deshalb bestimmt das Grundgesetz, daß der Bundesrat von der Bundesregierung über die Führung der Geschäfte auf dem laufenden zu halten ist (Art. 53 S. 3 GG). Diese Informations62

Ein solcher Ausnahmefall ereignete sich in der 487. Sitzung des Bundesrates am 23. 5. 1980, als das Saarland nicht vertreten war (SitzBer. S. IV — Verzeichnis der Anwesenden).

63

Die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien ist in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. 10. 1976 veröffentlicht im Gemeinsamen Ministerialblatt S. 550.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

933

pflicht der Bundesregierung soll es dem Bundesrat ermöglichen, sich ein verläßliches Bild über Maßnahmen der Bundesregierung zu verschaffen und sich zu allen wichtigen Bereichen der Regierungspolitik selbständig eine Meinung zu bilden. Eine so ausgestaltete Informationspflicht besteht gegenüber dem Bundestag nicht, weil dieser schon als Folge seiner Präsenz in den Sitzungswochen über andere Informationsmöglichkeiten verfügt (Große und Kleine Anfragen, Mündliche Anfragen, Aktuelle Stunde usw.). Die Verfassungsvorschrift verpflichtet die Bundesregierung von sich aus, also ohne vorher vom Bundesrat darum ersucht worden zu sein, diesen regelmäßig und rechtzeitig zu unterrichten 64 . Allerdings bedeutet Information nicht Konsultation, wie sie etwa in Art. 32 Abs. 2 G G für den Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages, der die besonderen Verhältnisse eines Landes berührt, vorgeschrieben ist. Die Bundesregierung braucht sich also, bevor sie handelt, nicht mit dem Bundesrat zu beratschlagen, wie sie sich in einer Frage entscheiden soll. Die Bundesregierung kann sich ihrer Informationspflicht auch nicht unter Berufung auf die Notwendigkeit der Vertraulichkeit entziehen, weil die Unterrichtungspflicht alle Regierungsgeschäfte von Belang umfaßt, auch im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik. Das Schwergewicht der Unterrichtung liegt bei den mündlichen Informationen. Sie werden vor allem in den Sitzungen der drei „politischen Ausschüsse" des Bundesrates gegeben, während die aktuelle Unterrichtung im Ständigen Beirat erfolgt. Die grundsätzliche Bedeutung der Informationspflicht der Bundesregierung hat der Bundesrat schon frühzeitig erkannt und in den ersten Jahren mehrfach die Nichtbeachtung dieser Verpflichtung gerügt. Inzwischen sind die Klagen verstummt. b) Teilnahmerecht

und -pflicht der

Bundesregierung

Die Mitglieder der Bundesregierung haben das Recht und auf Verlangen des Bundesrates die Pflicht, an den Verhandlungen des Bundesrates und seiner Ausschüsse teilzunehmen. Sie müssen jederzeit gehört werden (Art. 53 S. 1 und 2 GG). In der Staatspraxis ist das Teilnahmerecht über den Wortlaut der Verfassung hinaus auf die Beauftragten des Kanzlers und der Bundesminister ausgedehnt worden. An den Plenarsitzungen nehmen die Ressortminister des Bundes regelmäßig teil, wenn Vorlagen aus ihren Geschäftsbereichen verhandelt werden und greifen auch in die Debatte ein. Im Verhinderungsfall hat der jeweilige Staatssekretär Anwesenheits- und Rederecht. An den Sitzungen der Ausschüsse des Bundesrates beteiligen sich vor allem die Fachreferenten der Bundesministerien, denen kraft langjähriger Übung auch das Wort erteilt wird. Dank der guten Zusammenarbeit zwischen den Sekretären der Ausschüsse und den Bundesministerien ist stets rechtzeitig vor der Sitzung geklärt worden, ob wegen der Anwesenheit mehrerer Landesminister oder der sachlichen Bedeutung des Verhandlungsstoffes die Diskussion mit dem zuständigen Bundesministerium gewünscht wird. Von seinem Zitierrecht hat der Bundesrat — wie sein Präsident in der Plenarsitzung vom 19. 12.1980 hervorgehoben hat 65 — noch nie 64

Vgl. die Abhandlung von A. SCHULE Die Informationspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Bundesrat, in: „Festschrift für

65

Carl Bilfinger", Köln, Berlin, 1954, S. 441 ff (454, 455, 458, 465). 494. Sitzung (SitzBer. S. 436A).

934

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Gebrauch machen müssen, weil die Vertreter der Bundesregierung von sich aus an den Sitzungen des Bundesrates teilgenommen haben. c) Fragerecht des Bundesrates Auf der Grundlage der Informationspflicht der Bundesregierung und des Zitierrechtes des Bundesrates hat die Geschäftsordnung in § 19 bestimmt, daß jedes Mitglied des Bundesrates in der Sitzung zu den Gegenständen der Tagesordnung Fragen an die Bundesregierung oder deren Mitglieder richten kann. Außerdem kann jedes Land an die Bundesregierung Fragen stellen, die nicht im Zusammenhang mit einem Gegenstand der Tagesordnung stehen. Diese Fragen sind allerdings dem Präsidenten spätestens zwei Wochen vor der Sitzung, in der sie beantwortet werden sollen, schriftlich mitzuteilen. Der Präsident leitet sie an die Bundesregierung weiter und setzt sie auf die Tagesordnung. Entgegen den Erwartungen sind zwischen 1949 und 1980 im Bundesrat nur fünfmal Fragen an die Bundesregierung gestellt worden. Der erste Fall betraf Fragen der hessischen Landesregierung zur Entführung des französischen Obersten A R G O U D aus München nach Frankreich unter Verletzung der deutschen Souveränität. Hessen wollte u. a. wissen, ob die Bundesregierung Informationen darüber besitze, daß französische Staatsorgane an der Entführung des unter Verdacht des Hochverrats stehenden und später in Paris zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Obersten beteiligt gewesen seien. Die Fragen wurden auf Beschluß der Mehrheit nicht von der vorläufigen auf die endgültige Tagesordnung der Sitzung des Bundesrates am 28. 2. 1964 übernommen, weil einem einzelnen Bundesland das Fragerecht nicht zustehe 66 . Damals galt allerdings noch nicht die jetzige am 1. 10. 1966 in Kraft getretene Geschäftsordnung des Bundesrates, die das Fragerecht ausdrücklich jedem Land zuspricht. Aufgrund der neuen Geschäftsordnung stellte das Land Schleswig-Holstein eine Frage zur Nahrungsmittelhilfe für die Entwicklungsländer und begründete sie mündlich in der Sitzung des Bundesrates vom 4. 10. 1968. Die Beantwortung wurde zunächst mit der Begründung abgelehnt, es handele sich um die Frage eines einzelnen Landes, die allerdings beantwortet werde, wenn die Mehrheit des Bundesrates sie übernehme. Diese Möglichkeit sieht die Geschäftsordnung des Bundesrates in § 19 Abs. 3 vor, jedoch ist dazu ein Antrag des fragestellenden Landes auf Übernahme erforderlich. Schließlich gab der zuständige Bundesminister die Antwort unabhängig von der Rechtsfrage „aus Courtoisie" 6 7 . In der Sitzung des Bundesrates am 19. 12. 1969 stellte der Freistaat Bayern Fragen zur Beamtenbesoldung. Der Bundesinnenminister gab die Antwort mit dem rechtsverwahrenden Hinweis, daß die Bundesregierung Fragen eines einzelnen Bundeslandes für verfassungspolitisch, wenn nicht sogar verfassungsrechtlich bedenklich halte 68 . Die nächsten Fragen richtete das Land Rheinland-Pfalz in der Sitzung des Bundesrates vom 7. 7. 1972 an die Bundesregierung. Sie betrafen die Rentengesetzge66 67

2 66. Sitzung (SitzBer. S. 1 5 - 1 7 ) . 3 2 8 . Sitzung (SitzBer. S. 2 1 1 - 2 1 4 ) .

68

3 4 6 . Sitzung (SitzBer. S. 2 5 4 C ) .

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

935

bung und wurden vom Vertreter der Bundesregierung mit demselben Vorbehalt wie früher beantwortet 69 . FROMME, der über diese „Fragestunden" ausführlich berichtet, hält es für möglich, daß die fragestellenden Länder Schleswig-Holstein, Bayern und RheinlandPfalz den Antrag auf Übernahme ihrer Fragen durch den Bundesrat wohl deshalb nicht gestellt haben, weil die CDU/CSU-regierten Länder in den Jahren 1968 — 1972 nicht über die Mehrheit verfügten, da in diesen Fällen — weil kein Beschluß mit Außenwirkung vorlag — die vier Stimmen Berlins hätten mitberücksichtigt werden müssen 70 . Die Sorge, die Mehrheit des Bundesrates werde die Frage des antragstellenden Landes nicht übernehmen, scheint nicht das Motiv gewesen zu sein, auf den Antrag zu verzichten; denn es gibt bis heute noch eine weitere Frage an die Bundesregierung, die in der Sitzung des Bundesrates am 3. 6. 1977 behandelt worden ist. Das Land Niedersachsen stellte eine Frage zum Abbau der Frauenarbeitslosigkeit, die ebenfalls mündlich begründet wurde. Obwohl die CDU/CSU-regierten Länder diesmal die Mehrheit des Bundesrates besaßen, wurde von Niedersachsen kein Antrag auf Übernahme seiner Frage gestellt. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung beantwortete die Frage mit der nun schon üblichen Rechtsverwahrung 71 . Bemerkenswert ist, daß alle fünf Fragen nicht im Zusammenhang mit einem Gegenstand der jeweiligen Tagesordnung standen. Von der Möglichkeit, die jedem Mitglied des Bundesrates zusteht, in der Sitzung zu den Gegenständen der Tagesordnung Fragen an die Bundesregierung zu richten, ist bisher niemals Gebrauch gemacht worden. Wahrscheinlich liegt der Grund für die geringe Nutzung des Fragerechts darin, daß die Mitglieder des Bundesrates ohnehin durch ihren Kontakt mit den Mitgliedern der Bundesregierung in den Ausschüssen des Bundesrates und den Länder-Fachministerkonferenzen einen wesentlich höheren Informationsstand besitzen als die meisten Bundestagsabgeordneten, die stärker auf die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung durch Fragestunden angewiesen sind.

2. Bundesrat und Bundestag Die Arbeitsbeziehungen zwischen Bundesrat und Bundestag sind nicht so zahlreich wie die zwischen Bundesrat und Bundesregierung, zumal sie sich im wesentlichen auf die allerdings wichtige Zusammenarbeit bei der Gesetzgebung beschränken. In diesem Bereich besteht ein ständiger Kontakt zwischen den Verwaltungen der beiden gesetzgebenden Körperschaften. Der Bundesrat hat nur drei Wochen Zeit für die Prüfung, ob er gegen einen Gesetzesbeschluß des Bundestages den Vermittlungsausschuß anrufen soll (Art. 77 Abs. 2 GG). Da der Bundestag vor allem gegen Ende einer Legislaturperiode oft mehrere Sitzungswochen hintereinander tagt,\ während der Bundesrat in Intervallen von etwa drei Wochen zusammentritt, müssen die Arbeitsund Zeitpläne aufeinander abgestimmt werden. Auch ist Einvernehmen erzielt worden, daß der Bundestagspräsident die Zustellung der Gesetzesbeschlüsse an den 69 70

383. Sitzung (SitzBer. S. 595C). Gesetzgebung im Widerstreit, 2. Aufl. 1980, S. 1 1 5 f f (117).

71

446. Sitzung(SitzBer. S. 1 0 9 D ) i . V . m i t B R Drucksache 241/77.

936

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Bundesrat jeweils drei Wochen vor dessen nächster Sitzung vornimmt, auch wenn der Bundestag schon früher beschlossen hat. In besonderen Eilfällen hat der Bundesrat auch auf jegliche Fristeinhaltung verzichtet, um das rechtzeitige Inkrafttreten eines Bundesgesetzes zu ermöglichen72. a) Rederecht der Mitglieder des Bundesrates im Bundestag In den letzten Jahren hat es eine Kontroverse über das in Art. 43 Abs. 2 GG verankerte Rederecht der Mitglieder des Bundesrates im Bundestag gegeben, die jederzeit gehört werden müssen. Das bedeutet, daß sie außerhalb der Rednerliste und unmittelbar nach dem gerade Spechenden das Wort erhalten, wenn sie sich zu Wort melden. Sie sind insoweit den Mitgliedern der Bundesregierung gleichgestellt. Reden von Mitgliedern des Bundesrates im Bundestag sind nicht ungewöhnlich. Abgesehen von den Fällen, in denen Bundesratsmitglieder als Berichterstatter des Vermittlungsausschusses im Bundestag gesprochen oder Gesetzesinitiativen des Bundesrates im Bundestagsplenum vertreten haben, gibt es zahlreiche Beispiele, daß Bundesratsmitglieder nicht nur zu speziellen Anliegen des Bundesrates oder einzelner Länder das Wort ergriffen, sondern sich durch Redebeiträge auch an allgemeinen Debatten des Bundestages beteiligt haben, die sich etwa mit Verfassungsfragen, Wissenschaftsfragen, Problemen der inneren Sicherheit oder außenpolitischen Verträgen befaßten. Anlaß für die Diskussion über Inhalt und Grenzen des Rederechtes war eine Rede des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Dr. K O H L im Bundestag am 26. 11. 1975, in der er auf einen Zwischenruf hin erklärte: „Ich stehe hier aus eigenem Recht und spreche für meine Freunde in der CDU/CSU Deutschlands." Einige Tage nach dieser Sitzung beantragte der Bundestagsabgeordnete Dr. A R N D T bei der Bundestagspräsidentin, die von Dr. K O H L gehaltene Plenarrede aus dem Stenographischen Bericht zu streichen, weil dieser erklärtermaßen als Parteivorsitzender und nicht als Mitglied des Bundesrates gesprochen habe. Die Bundestagspräsidentin hat den Antrag abgelehnt und zur Begründung erklärt, es sei eine Frage des politischen Stils, in welchem Umfang Mitglieder des Bundesrates von ihrem Rederecht im Bundestag Gebrauch machten. Der die Sitzung leitende Präsident habe keine rechtliche Möglichkeit, auf den Inhalt der Rede eines Bundesratsmitgliedes Einfluß zu nehmen oder diesem wegen des Inhalts das Wort zu entziehen. Außerdem habe sich inzwischen die Übung entwickelt, daß von Mitgliedern des Bundesrates im Bundestag auch Reden gehalten worden seien, in denen sie weder für den Bundesrat als solchen, noch speziell für ihre Länder, sondern allgemein zu bestimmten politischen Fragen

72

Dies zeigt z. B. die Behandlung des Mineralöl- und Branntweinsteuer-Änderungsgesetzes 1981. Der Bundestag hatte das Gesetz am 19. 2. 1981 beschlossen, bereits am nächsten Tag rief der Bundesrat den Vermittlungsausschuß an, verzichtete damit auf die Dreiwochenfrist des A r t . 77 Abs. 2 G G . Der Ver-

mittlungsausschuß hat den Gesetzesbeschluß am 6. 3. 1981 bestätigt. Der Bundesrat hat daraufhin schon am 13. 3. 1981 Einspruch eingelegt, also auch auf die Hälfte der ihm nach Art. 77 Abs. 3 G G zustehenden Einspruchsfrist verzichtet (497. Sitzung des Bundesrates; SitzBer. S. 5 6 A ) .

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

937

Stellung genommen hätten 73 . Der Auffassung der Bundestagspräsidentin ist zuzustimmen. Das Rederecht würde allerdings mißbraucht, wenn z. B. ein Mitglied des Bundesrates im Bundestag eine unvertretbar lange Redezeit in Anspruch nähme oder über Fragen spräche, die in keinem erkennbaren Sachzusammenhang zu der thematisch festgelegten Debatte stünden. Ein solcher Mißbrauch ist bisher nicht vorgekommen. b) Beratung des

Bundeshaushaltes

Zu den wichtigsten Beratungsgegenständen gehören im Bundesrat die Verhandlungen über den jährlichen Bundeshaushalt. Seine Ausgestaltung ist für die Länder unmittelbar bedeutsam, weil in ihm u. a. die finanziellen Beiträge des Bundes zu den Gemeinschaftsaufgaben (wie Hochschulbau) oder zu Mitfinanzierungsvorgängen (wie Krankenhausfinanzierung) ausgewiesen sind. Das Haushaltsgesetz bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates, jedoch hat dieser die Möglichkeit, den Vermittlungsausschuß anzurufen, um Änderungen zu erreichen. Er kann auch bei einem aus seiner Sicht unbefriedigenden Vermittlungsergebnis Einspruch einlegen. In den mehr als drei Jahrzehnten seines Bestehens hat der Bundesrat — von drei Ausnahmen abgesehen — die jeweiligen Haushaltsgesetze passieren lassen und sich damit begnügt, Entschließungen zum Haushalt zu verabschieden. Dies wird vornehmlich damit begründet, daß der Bundesrat die besondere Verantwortung der Bundesregierung und des Bundestages für den Bundeshaushalt anerkenne und dieses „vorzüglichste Recht des Deutschen Bundestages" respektiere 74 . Die drei Ausnahmen betreffen Vorgänge aus den Jahren 1963, 1967 und 1981: a) Zum Haushaltsgesetz 1963 hat der Bundesrat in seiner 258. Sitzung am 31. 5. 1963 die Anrufung des Vermittlungsausschusses beschlossen 75 . Der vom Vermittlungsausschuß in seiner Sitzung am 7. 6. 1963 beschlossene Einigungsvorschlag wurde vom Bundestag angenommen. Der Bundesrat hat in seiner 259. Sitzung am 21. 6. 1963 beschlossen, keinen Einspruch einzulegen 76 . b) Zum Haushaltsgesetz 1967 hat der Bundesrat in seiner 300. Sitzung am 28. 10. 1966 im ersten Durchgang eine ablehnende Stellungnahme beschlossen, in der er die Bundesregierung aufgefordert hat, einen neuen Haushalt oder einen Ergänzungshaushalt vorzulegen (Drucksache 400/66 — Beschluß) 77 . Im zweiten Durchgang hat der Bundesrat in seiner 311. Sitzung am 30. 6. 1967 die Zustimmungsbedürftigkeit des Haushaltsgesetzes 1967 festgestellt und dem Gesetz zugestimmt 7 8 . 73

74

Den Hergang schildert C. ARNDT Zum Rederecht der Mitglieder des Bundesrates im Bundestag, ZParl. 1976, S. 317ff; kritisch

75

w i e ARNDT auch G . JAHN Z P a r l . 1976, 2 9 5 ;

76

für den gegenteiligen Standpunkt vgl. F. K. FROMME (Fn. 27) S. 119/123 m . w . N . Vgl. SPÄTH in: 495. Sitzung des Bundesrates am 30. 1. 1981 (SitzBer. S. 11 D) und GAD-

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DUM in: 496. Sitzung des Bundesrates am 20. 2. 1981 (SitzBer. S. 39 A). SitzBer. S. 112B. SitzBer. S. 142 C. SitzBer. S. 213. Dort ist ausnahmsweise auch der Wortlaut des Entschließungsantrages wiedergegeben. SitzBer. S. 121A und B. Die vom Bundesrat festgestellte Zustimmungsbedürftigkeit des

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5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

c) Zum Haushaltsgesetz 1981 hat der Bundesrat in seiner 501. Sitzung am 26. Juni 1981 die Anrufung des Vermittlungsausschusses beschlossen (SitzBer. S. 198B). Der Vermittlungsausschuß hat, ohne das Vermittlungsverfahren abzuschließen, Bund und Ländern den Abschluß einer Vereinbarung über die weitere Hochschulbaufinanzierung und die Rücknahme von beim Bundesverfassungsgericht zum Haushalt 1981 anhängigen Klagen vorgeschlagen. Der Bundesrat hat daraufhin in seiner 502. Sitzung am 10. Juli 1981 den Antrag auf Einberufung des Vermittlungsausschusses zurückgenommen (SitzBer. S. 260 C).

VII. Der Vermittlungsausschuß Das Grundgesetz sieht vor, daß bei Meinungsverschiedenheiten im Gesetzgebungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat ein Ausschuß tätig wird, dem Mitglieder beider Gesetzgebungsorgane angehören (Art. 77 Abs. 2 GG). Dieser Ausschuß wird allgemein Vermittlungsausschuß genannt. Zusammensetzung und Verfahren des Vermittlungsausschusses sind in einer Geschäftsordnung geregelt, die der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates erlassen hat 7 9 . Der Bundestag beschließt die Geschäftsordnung jeweils zu Beginn einer neuen Wahlperiode erneut; auch der Zustimmungsbeschluß des Bundesrates muß jeweils von neuem wiederholt werden. Die Einrichtung des Vermittlungsausschusses ist eine Folgerung aus der starken Stellung des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren. Er ist paritätisch besetzt mit je 11 Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates. Jedes Land entsendet durch Kabinettbeschluß ein Mitglied, für das nur ein Vertreter bestellt wird. Beide müssen Mitglieder des Bundesrates sein. Die 11 Bundestagsabgeordneten und ihre Vertreter werden nach der Fraktionsstärke vom Bundestag gewählt. In der laufenden Legislaturperiode stellen die C D U / C S U - und die SPD-Fraktion je fünf Abgeordnete, die F.D.P.-Fraktion entsendet ein Mitglied. Der Vermittlungsausschuß wählt aus dem Kreis seiner Mitglieder zwei Vorsitzende, von denen einer dem Bundestag, der andere dem Bundesrat angehören muß. Sie wechseln sich im Vorsitz im vierteljährlichen Turnus ab und vertreten sich gegenseitig. Die Mitglieder und ihre Stellvertreter können abberufen werden, jedoch ist der Wechsel im Wege der Abberufung nur viermal innerhalb einer Wahlperiode des Bundestages zulässig. Um das Vermittlungsverfahren zu erleichtern, hat schon das Grundgesetz festgelegt, daß die in den Vermittlungsausschuß entsandten Mitglieder des Bundesrates nicht an Weisungen gebunden sind (Art. 77 Abs. 2 GG). Sie haben also eine andere Rechtsstellung als im Bundesrat, wo sie bei der Stimmabgabe durch Kabinettbeschlüsse gebunden sind. Für

Haushaltsgesetzes 1967 wurde damit begründet, daß mit diesem Haushaltsgesetz mehrere Bundesgesetze geändert würden, die mit Zustimmung des Bundesrates verkündet worden waren.

79

Die Geschäftsordnung ist zuletzt geändert laut Bekanntmachung vom 11. 2. 1970 ( B G B l . I S. 184); abgedruckt auch in Sartorius I, Verfassungs- und Verwaltungsgesetze der Bundesrepublik N r . 36.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

939

die Bundestagsabgeordneten ergibt sich das freie Mandat aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 G G . Die Sitzungen sind vertraulich; die Sitzungsniederschriften, die auch nicht an die Mitglieder verteilt werden, werden erst durch Beschluß des Ausschusses nach längerer Zeit freigegeben. Im Vermittlungsausschuß haben nur die Mitglieder der Bundesregierung das Recht (und auf Beschluß des Ausschusses die Pflicht), an den Sitzungen teilzunehmen. Nach ständiger Übung dürfen auch Staatssekretäre, wenn ihre Minister verhindert sind, anwesend sein. Das Anwesenheitsrecht gilt jeweils nur für einen Bundesminister bzw. Staatssekretär, der fachlich zuständig ist für die Beratung des Tagesordnungspunktes. Weder die Minister/Staatssekretäre noch die Mitglieder des Ausschusses können sich von Mitarbeitern begleiten lassen. Sind Rückfragen erforderlich, muß die Sitzung unterbrochen werden. Für die Beratungen gibt es keine Fristen. In schwierigen Fällen war der Vermittlungsausschuß, der — was unüblich ist — auch Unterausschüsse einsetzen kann, wochenlang mit umstrittenen Gesetzen befaßt. Manche Beratung geht bis in die Morgenstunden. Die strenge Vertraulichkeit der Sitzungen, der kleine Teilnehmerkreis und vor allem die Unabhängigkeit der Ausschußmitglieder sollen den Versuch einer Einigung erleichtern, die ja nur Zustandekommen kann, wenn bisher eingenommene Positionen aufgegeben und Kompromißvorschläge gemacht werden können. Die Bedeutung des Vermittlungsausschusses ist gewachsen, seitdem es unterschiedliche politische Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat gab. Das läßt sich auch durch die deutlich gestiegene Zahl der Anrufungsfälle belegen. Die meisten Anrufungsbegehren kommen vom Bundesrat. D a s liegt daran, daß er bei Einspruchsgesetzen den Vermittlungsausschuß einschalten muß. Bei Zustimmungsgesetzen, die er ablehnen will, hat der Bundesrat die Wahl, die Zustimmung sofort zu verweigern oder den Vermittlungsausschuß anzurufen, um wichtige Änderungen im Vermittlungsverfahren zu erreichen. Einen Höhepunkt erreichte die Zahl der Anrufungsfälle in der 7. Legislaturperiode des Bundestages (1972—1976). Sie lag mit 96 höher als die in den drei voraufgegangenen Legislaturperioden (1961 — 1972) zusammen erzielte Zahl. In der 8. Legislaturperiode (1976—1980) waren es immerhin noch 69 Fälle. Der Bundesrat muß seine Anrufungsbegehren in Einzelanträgen konkretisieren (§ 31 S. 2 G O BR). Aus dieser Vorschrift kann aber nicht geschlossen werden, daß nur diese Anrufungsbegehren Gegenstand der Vermittlung sein dürfen. Vielmehr hat sich in der Staatspraxis mehr und mehr die Auffassung durchgesetzt, daß die Anrufungsbegehren zwar der Ausgangspunkt, aber nicht die Grenze für die Beratungen im Vermittlungsausschuß sind. Wegen seiner Aufgabe, einen Einigungsvorschlag zu beschließen, der in beiden Gesetzgebungsorganen konsensfähig ist, kann der Vermittlungsausschuß sowohl über den Gesetzesbeschluß als auch über das (die) Anrufungsbegehren hinausgehen, wenn ein Sachzusammenhang gegeben ist. So hat der Bundesrat am 13. Juni 1980 beschlossen, gegen das vom Bundestag am 22. Mai 1980 verabschiedete Steuerentlastungsgesetz 1981 den Vermittlungsausschuß anzurufen (Drucksache 294/80 — Beschluß). Bei seinen Beratungen hat sich der Vermittlungsausschuß eingehend auch mit einer Verwaltungsregelung zu den Kinderbetreuungskosten und mit der Umsatzsteuerverteilung für das Jahr 1981 befaßt, obwohl sich weder der Gesetzesbeschluß noch die Anrufungsbe-

940

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

gehren auf diese Punkte erstreckt hatten 8 0 . Daß diese Handhabung — jedenfalls bei Zustimmungsgesetzen — zulässig sein muß, zeigt folgende Überlegung: Würden die Beratungen im Vermittlungsausschuß strikt an die Anrufungsbegehren gebunden, so könnte der Bundesrat die Anrufung vermeiden und dem Gesetzesbeschluß sofort die Zustimmung verweigern. Dann müßten entweder die Bundesregierung oder der Bundestag den Vermittlungsausschuß anrufen, wobei keine einzelnen Anrufungsbegehren formuliert zu werden brauchen, so daß folgerichtig das Gesetz in seiner Gesamtheit im Vermittlungsverfahren zur Disposition steht. Tatsächlich ist der Bundesrat z. B. beim 2. Haushaltsstrukturgesetz am 27. November 1981 so verfahren und hat die Zustimmung verweigert 8 1 , woraufhin an demselben Tag die Bundesregierung die Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangt hat. Die Zahl der Anrufungsfälle durch Bundesregierung oder Bundestag, die nur möglich ist, wenn der Bundesrat seine Zustimmung verweigert hat, ist relativ gering. Die Bundesregierung hat den Vermittlungsausschuß in den beiden letzten Legislaturperioden je siebenmal angerufen, der Bundestag je einmal. Es ist möglich, daß hintereinander Bundesrat, Bundesregierung und Bundestag in derselben Sache den Vermittlungsausschuß anrufen, jedoch jedes Verfassungsorgan nur einmal, so daß es mehr als drei Anrufungen bei einem Gesetz nicht geben kann 8 2 . Wegen seiner weitgehenden Gestaltungsmöglichkeiten ist der Vermittlungsausschuß vor allem beim 2. Haushaltsstrukturgesetz im Dezember 1981 als „Überparlament" oder „Uberausschuß" bezeichnet worden, der die Grenzen seiner Dispositionsfreiheit zu Lasten der Gesetzgebungskompetenz des Bundestages überschritten und diesem nur eine bloße Ratifikationsfunktion überlassen habe. Die Kritik entzün80

81 82

Vgl. die Ausführungen des Berichterstatters des Vermittlungsausschusses in der Sitzung des Bundesrates am 4. Juli 1980 (490. Sitzung, SitzBer. S. 334/336). 506. Sitzung (SitzBer. S. 428A). Der einzige Fall, bei dem der Vermittlungsausschuß in der letzten Legislaturperiode (1976—1980) dreimal angerufen wurde, betraf das Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes, das aufgrund einer Steuerharmonisierung der Europäischen Gemeinschaften erforderlich wurde. In diesem Gesetz war der Begriff „Inland" umstritten, der in dem bis dahin geltenden Umsatzsteuergesetz als „das Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31. Dezember 1937" definiert wurde. Bundesregierung und Bundestagsmehrheit hielten diese Begriffsumschreibung in einem Gesetz der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1979 mit der Völker- und staatsrechtlichen Rechtslage für unvereinbar. Die Mehrheit des Bundesrates hielt an ihm fest. Zunächst rief der Bundesrat in seiner 474. Sitzung vom 22. 6. 1979 den Vermittlungsausschuß an (SitzBer. S.

175D). Der Vermittlungsausschuß machte am 28. 6. 1979 einen Einigungsvorschlag, der in dem umstrittenen Punkt den Gesetzesbeschluß bestätigte. Daraufhin beschloß der Bundesrat in der Sitzung vom 6 . 7. 1979, dem Gesetz gemäß Art. 105 Abs. 3 G G nicht zuzustimmen (SitzBer. S. 214 C). Die Bundesregierung verlangte am 21. 8. 1979 die zweite Einberufung des Vermittlungsausschusses. Dieser bestätigte am 12. 9. 1979 erneut den Gesetzesbeschluß. Der Bundesrat beschloß in der 477. Sitzung vom 28. 9. 1979 wiederum, dem Gesetz nicht zuzustimmen (SitzBer. S. 256 B). Der Bundestag beschloß am 11. 10. 1979 die dritte Anrufung des Vermittlungsausschusses, der dann am 8. 11. 1979 eine Einigungsempfehlung des Inhalts gab, daß die Begriffe „Inland" und „Ausland" durch die Worte „Erhebungsgebiet" und „Außengebiet" ersetzt wurden. Diesem Vorschlag haben der Bundestag und der Bundesrat in seiner 479. Sitzung vom 9. 11. 1979 zugestimmt (SitzBer. S. 3 6 5 C ) , so daß das Gesetz zum 1. 1. 1980 in Kraft treten konnte.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

941

dete sich insbesondere daran, daß der Vermittlungsausschuß in seinem Einigungsvorschlag v o m 8. Dezember 1981 (BT-Drucksache 9/1140) ein umfangreiches „Gesetz zum Abbau der Fehlsubventionierung und der Mietverzerrung im Wohnungswesen" vorgeschlagen hat, das thematisch nicht im Gesetzesbeschluß zum 2. Haushaltsstrukturgesetz enthalten war, vielmehr zur selben Zeit erst im Wohnungsbauausschuß des Bundestages beraten w u r d e 8 3 . Die Berichterstatter des Vermittlungsausschusses im Bundestag und Bundesrat rechtfertigten das Verfahren mit dem Hinweis, der Bundesrat habe bei seiner Stellungnahme am 25. September 1981 zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 2. Haushaltsstrukturgesetz seine wohnungspolitischen V o r schläge wiederholt, so daß diese Gegenstand des Vermittlungsverfahrens geworden seien, nachdem sie von Mitgliedern des Vermittlungsausschusses aufgegriffen worden seien 8 4 . Nach Berücksichtigung aller Umstände wird man dem Vermittlungsausschuß keine mißbräuchliche Beschneidung der verfassungsmäßigen Kompetenz des Bundestages v o r w e r f e n können 8 5 . Der Vermittlungsausschuß kann in seinem Einigungsvor83

Vgl. die Ausführungen der Abgeordneten W E S T P H A L , KLEINERT u n d C O N R A D I i n d e r

Sitzung des Bundestages vom 10. 12. 1981 (SitzBer. S. 4265A, B; S. 4268C, D und S. 4269B, D). C O N R A D I regte sogar unter dem Beifall von Abgeordneten aller Fraktionen „eine Änderung der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses" an „die eine solche Art der Schnellgesetzgebung am Parlament vorbei zukünftig unterbindet" (aaO S. 4270A). Auch Bundesfinanzminister MATTHÖFER übte an diesem Verfahren in der 507. Sitzung des Bundesrates am 18. 12. 1981 heftige Kritik: „Ich finde es im Grunde unerhört, was dort vorgegangen ist. Wir sollten das nie wieder tun: auf diese Art und Weise Dinge hineinzuschreiben, die nachher ohne Diskussion vom Deutschen Bundestag beschlossen werden sollen. Einmal und nie wieder!" (SitzBer. S. 458C). Die Streitfrage wurde auch in der Presse behandelt, vgl. u. a. FAZ vom 12. 12. 1981: „Was darf der Vermittlungsausschuß?", FAZ vom 21. 12. 1981: „Vom Vermittlungs- zum Uberausschuß". Der Bundestag hat in seiner Sitzung vom 29. 4. 1982 einstimmig eine Entschließung folgenden Wortlauts angenommen (BTDrucks. 9/1440, Ziff. 2): „Der Deutsche Bundestag bittet im Hinblick auf das Verfahren bei der Verabschiedung des 2. Haushaltsstrukturgesetzes vom 22. Dezember 1981 den Bundesrat und beauftragt den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung und den Rechtsausschuß, die Geschäftsordnung des Vermittlungsaus-

84

85

schusses dahin zu überprüfen, ob konkrete Abgrenzungen der in das Verfahren einbeziehbaren Gegenstände möglich und zweckmäßig sind." (SitzBer. S. 5911 D). Bis Redaktionsschluß war ein Vorschlag für eine Änderung der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses noch nicht erarbeitet. Vgl. die Ausführungen des Berichterstatters VOGEL im Bundestag am 10. 10. 1981 (SitzBer. S. 425 B - D ) ; des Berichterstatters GADDUM im Bundesrat am 18. 12. 1981 (SitzBer. S. 443 D) sowie des Bundesratsmitglieds ALBRECHT (SitzBer. S. 447 A/B). Eine Grenzüberschreitung der Dispositionsfreiheit des Vermittlungsausschusses hätte dagegen vorgelegen, wenn der Ausschuß Vorschlägen gefolgt wäre, das Bedarfsdekkungsprinzip im Sozialhilferecht aufzuheben, das vor vielen Jahren mit breiter Mehrheit in den Gesetzgebungsorganen eingeführt worden ist. Seine Aufhebung wäre m. E. ohne vorherige gründliche, parlamentarische Beratung unzulässig gewesen. Deshalb hat der Vermittlungsausschuß empfohlen, für die Jahre 1982 und 1983 an die Stelle einer Neufestsetzung der Regelsätze (nach dem Bedarfsdeckungsprinzip) eine Erhöhung der Regelsätze um jeweils 3% treten zu lassen. Dieser von Bundestag und Bundesrat übernommene Vorschlag sieht nur eine zeitlich befristete Einschränkung, aber nicht die Aufhebung des Bedarfsdeckungsprinzips vor (vgl. die Ausführungen des Bundesratsmitglieds APEL in der 507. Sitzung am 18. 10. 1981 (SitzBer. S. 453D).

942

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

schlag, wenn dieser mehrere Änderungen des Gesetzesbeschlusses vorsieht, bestimmen, daß im Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist ( § 1 0 Abs. 3 G O V A ) , so daß das Gesetz nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt werden kann. Dennoch muß festgehalten werden, daß der Vermittlungsausschuß keine Zwangsschlichtung ausübt, die die Gesetzgebungsorgane binden könnte. Er übt nur eine Hilfsfunktion aus und ist kein drittes Gesetzgebungsorgan. Seit dem Frühjahr 1976 bestand im Vermittlungsausschuß häufig eine Patt-Situation, weil auf der Bundestagsseite sechs Mitgliedern der sozial-liberalen Koalition, fünf Mitglieder der C D U / C S U gegenüberstanden, während auf der Bundesratsseite das Verhältnis umgekehrt war: fünf CDU/CSU-regierte Länder, ein C D U / F . D . P . - r e giertes Land und 5 SPD- oder SPD/F.D.P.-regierte Länder. In einigen Fällen ist das 11:11 Stimmenverhältnis dadurch vermieden worden, daß das Saarland mit einer CDU/F.D.P.-Regierung die Frontstellung aufgelockert hat. Nach dem Übergang der Regierung des Landes Berlin auf die C D U Mitte Juni 1981 hat sich die Zahl der CDU/CSU-regierten Länder auf sechs erhöht und die Zahl der SPD- bzw. SPD/ F.D.P.-regierten Länder auf vier vermindert. Die Mehrzahl der Vermittlungsverfahren endete auch in den letzten Jahren mit einem Einigungsvorschlag auf Bestätigung, Änderung oder Aufhebung des Gesetzesbeschlusses. Ist ein Einigungsvorschlag in zwei jeweils abgeschlossenen und nicht nur zur Fortsetzung der Beratung unterbrochenen Sitzungen nicht zu erreichen, so kann jedes Mitglied den Abschluß des Verfahrens beantragen. Das Verfahren ist abgeschlossen, wenn sich auch in der dritten, wegen derselben Sache einberufenen Sitzung keine Mehrheit für einen Einigungsvorschlag findet. In diesem Fall hat der Vorsitzende den Abschluß des Verfahrens festzustellen und unverzüglich den Präsidenten des Bundestages und des Bundesrates mitzuteilen. Zu der zwischen Bundestag und Bundesrat gelegentlich umstrittenen Frage, ob ein Gesetz zustimmungsbedürftig ist, nimmt der Vermittlungsausschuß keine Stellung. Er überläßt diese Entscheidung dem für die Ausfertigung und Verkündung der Bundesgesetze zuständigen Bundespräsidenten, d. h. letztlich dem Bundesverfassungsgericht, wenn es zu einem Verfassungsstreit über die Zustimmungsbedürftigkeit kommen sollte. Wer sich mit dem Vermittlungsverfahren, wie es das Grundgesetz festgelegt hat, und mit der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses, wie sie sich auf der Grundlage der Geschäftsordnung entwickelt hat, näher beschäftigt, wird unschwer erkennen, daß sich diese gemeinsame ständige Einrichtung des Bundestages und des Bundesrates bewährt hat und eine erfolgreiche Bilanz vorweisen kann 86 .

86

Vgl. dazu H . NIEMANN Die bundesstaatliche Bedeutung des Bundesrates unter besonderer Berücksichtigung der Funktion des Vermittlungsausschusses (Diss. Göttingen), 1978, der die Vermittlungsverfahren der 6.

Wahlperiode und der 7. bis Ende 1973 beschreibt und bewertet (S. 58—144); E . HASSELSWEILER Der Vermittlungsausschuß — Verfassungsgrundlagen und Staatspraxis (Diss. Bonn), 1981.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

943

VIII. Parteieneinflüsse im Bundesrat Der Bundesrat kennt keine parteipolitischen Fraktionen wie der Bundestag oder das Europäische Parlament, in dem sich die bei den Wahlen vom 7. —10. 6. 1979 gewählten Parlamentarier nicht zu neun nationalen Gruppen, sondern zu sieben Fraktionen mit parteipolitischer Ausrichtung zusammengeschlossen haben. Daraus darf aber nicht gefolgert werden, daß im Bundesrat parteipolitische Gesichtspunkte keine oder nur eine geringe Rolle spielen würden. In der Staatsrechtslehre werden über das Verhältnis der Mandatsträger im Bundesrat zu den politischen Parteien unterschiedliche Auffassungen vertreten, die s i c h b e s o n d e r s in d e n g e g e n s ä t z l i c h e n M e i n u n g e n v o n T H E O D O R MAUNZ u n d G E R HARD L E I B H O L Z w i d e r s p i e g e l n .

TH. MAUNZ, Grundgesetzkommentator und sieben Jahre lang als bayerischer Kultusminister von 1957—1964 selbst Mitglied des Bundesrates gewesen, vertrat 1959 die Auffassung, es sei der Wille des Grundgesetzes, „daß nur im Bundestag das Volk nach Parteien gegliedert auftritt, während der Bundesrat nach Ländern gegliedert in Tätigkeit tritt" 8 7 . Diese Meinung hat MAUNZ 1974 mit dem Hinweis vertieft, der Bundesrat bringe nicht ein parteipolitisches Kräfteverhältnis zum Ausdruck, denn sonst hätte das Grundgesetz der Senatslösung den Vorzug geben müssen. Es liege auch nicht im Sinne der verfassungsrechtlichen Gestaltung des Bundesrates, durch Parlamentswahlen in den Ländern eine etwaige Mehrheit im Bundesrat brechen zu wollen. Er fährt fort: „Großes Gewicht kommt der Fähigkeit der Mandatsträger zu, ihre parteipolitische Verbundenheit nicht zur Grundlage ihrer Stellungnahmen im Bundesrat zu machen. Das Grundgesetz verlangt ihnen eine andere Haltung a b 8 8 . " Demgegenüber verweist G . LEIBHOLZ, ebenfalls Staatsrechtslehrer und langjähriger Bundesverfassungsrichter, darauf, daß der „Wille zur Macht" einer Partei, soweit sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt, rechtlich legitim sei, weil erst die Beteiligung an der Bundes- oder Landesregierung die Chance biete, ihr von den Wählern gutgeheißenes Programm in die politische Wirklichkeit umzusetzen. Insofern sei jede Regierungspolitik legitimerweise Parteipolitik. Er kommt zu dem Ergebnis, „daß auf Grund der verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien und der dem Bundesrat vom Grundgesetz zugewiesenen Funktionen und Aufgaben ein Taktieren der Landesregierungen unter parteipolitischen Gesichtspunkten ungeachtet der Ausgestaltung des Bundesrates als föderatives Organ nicht unzulässig ist. Insoweit kann man sagen, daß das parteienstaatliche Prinzip im Bundesrat neben dem föderalistischen Prinzip zum Ausdruck gelangt, ja das es das letztere im Konfliktsfall überlagert 8 9 ." Man wird einräumen müssen, daß die Staatspraxis sich in den fünfziger Jahren und ab 1969 stärker an der von Leibholz vertretenen Auffassung orientiert hat. Es 87

88

TH. MAUNZ in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz (Fn. 55) Art. 50 Rdn. 25. TH. MAUNZ in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft (Fn. 5) S. 209/210.

89

G . LEIBHOLZ in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft (Fn. 5) S. 109, 111.

944

5. Kapitel. D i e bundesstaatliche O r d n u n g des Grundgesetzes

seien einige Beispiele in die Erinnerung gerufen: Die Bundestagswahlen 1953 hatten den Koalitionsparteien C D U / C S U , F . D . P . , DP und B H E eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag gebracht, die sie auch im Bundesrat erreichen wollten. Deshalb stand die Bürgerschaftswahl in Hamburg im November 1953, für die sich C D U , F . D . P . und DP zu einem „Hamburger Block" zusammengeschlossen hatten, unter dieser Zielsetzung und wurde fast ausschließlich mit bundespolitischen Themen geführt. Nachdem die Zweidrittelmehrheit im Bundesrat auf diese Weise gewonnen war, bemühte sich umgekehrt die SPD, bei den Landtagswahlen des Jahres 1954 diese Mehrheit zu brechen, was ihr in Bayern durch eine Koalition mit Bayernpartei, F . D . P . und B H E gelang. Im Februar 1956 wurde in Nordrhein-Westfalen sogar mitten in der Legislaturperiode eine Landesregierung gestürzt, und zwar erklärtermaßen, um eine Bundesratsmehrheit gegen die Union zu erreichen. Hintergrund war ein Entwurf der C D U / C S U für ein neues Wahlgesetz („Grabensystem"), das die C D U durch die vorgeschlagene Nichtanrechnung der direkt errungenen Mandate auf die Zahl der nach der Verhältniswahl gewählten Abgeordneten stark begünstigt und die kleineren Parteien in ihrer Existenz bedroht hätte. F . D . P . und Zentrum verließen die von K A R L A R N O L D (CDU) geführte Koalitionsregierung und bildeten mit der SPD unter F R I T Z S T E I N H O F F eine neue Landesregierung 90 . Seit 1958 hatten die C D U / C S U regierten Länder nach den Wahlsiegen der CSU in Bayern und der C D U in Nordrhein-Westfalen sowie durch fortdauerndes Regieren in Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und dem Saarland eine stabile Mehrheit im Bundesrat. In den folgenden Jahren büßte der Bundesrat im politischen Kräftefeld nach allgemeiner Auffassung erheblich an Einflußmöglichkeiten ein. Als Vertreter dieser Meinung seien zwei der C D U angehörende Ministerpräsidenten zitiert: K . G . K I E S I N G E R meinte 1 9 6 6 , der Bundesrat müsse seine politische Mitwirkung mehr als bisher erfüllen; immer noch lebe der Bundesrat nicht genügend im Bewußtsein unseres Volkes. „Eine nüchterne Betrachtung der Verfassungswirklichkeit zeigt, . . . daß der politische Einfluß des Bundesrates und damit der Länder auf die Gestaltung des Bundeswillens weit hinter den von der Verfassung gewährten Einflußmöglichkeiten zurückbleibt. Es besteht sogar die Gefahr, daß dieser Einfluß immer geringer wird 9 1 ."

H. K O H L überschrieb seinen Beitrag zu einer zum zwanzigjährigen Bestehen des Bundesrates 1969 erschienenen Broschüre „Der Bundesrat muß politischer werden". Er nannte als Voraussetzung für dieses Ziel, „daß sich die Länder durch ein neues Selbstverständnis für die ,Institution Bundesrat', das ein weitgehend politisches und nicht verwaltungstheoretisches Konzept ist, an diese neue Aufgabe gewöhnen" 9 2 .

90

Vgl. die Schilderungen bei K . H . NEUNREI-

Eine

THER D e r Bundesrat zwischen Politik und

285-300.

Verwaltung,

1959,

S.

116-123;

W.

R.

91

BANDORF D e r Bundesrat als Instrument der Parteienpolitik

(Diss.

Mannheim),

1978,

S. 4 8 f f ( 5 0 / 5 2 , 6 2 ) ; D . HÜWEL Karl A r n o l d ,

politische

Biographie,

1980,

S.

I n : „Gedächtnisschrift H a n s P e t e r s " , 1 9 6 7 , S. 5 4 9 , 5 5 0 .

92

I n : D e r Bundesrat 1 9 4 9 - 1 9 6 9 ,

hrsg. v o m

Sekretariat des Bundesrates, 1 9 6 9 .

3. Abschnitt. D e r Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

945

Als die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD nach den Bundestagswahlen im Herbst 1969 nicht fortgesetzt, sondern durch eine sozialliberale Koalition ersetzt wurde, standen sich eine SPD/F.D.P. Bundestagsmehrheit und eine von den C D U / CSU-regierten Ländern gebildete Bundesratsmehrheit gegenüber93. Im ersten Zorn über den Verlust der Regierungsmacht haben Sprecher der Union angekündigt, im Falle einer SPD/F.D.P.-Regierung den Bundesrat gegen die Bundesregierung zu politisieren 94 . Eine solche Politisierung, die freilich auch zu einer Belebung der Arbeit des Bundesrates geführt hat, wurde nicht zuletzt dadurch gefördert, daß bei den beiden letzten Bundestagswahlen 1976 und 1980 der „Kanzlerkandidat" der Unionsparteien nicht dem Bundestag, sondern dem Bundesrat angehörte und dort eine Koordinierungsfunktion ausfüllte. Außerdem waren und sind mehrere stellvertretende Bundesvorsitzende der C D U (und lange Jahre auch einer der beiden stellvertretenden Vorsitzenden der CSU) Mitglieder des Bundesrates. Die parteipolitische Konfrontation zeigte sich nicht nur in einer verstärkten Anrufung des Vermittlungsausschusses, sondern auch in einer erhöhten Zahl von Einsprüchen: In der 8. Legislaturperiode des Bundestages (1976—1980) hat der Bundesrat nach voraufgegangenen Vermittlungsverfahren mehr Einsprüche eingelegt als in den sechs Legislaturperioden von 1949—1972 zusammen. Sichtbar wurde und wird die „Blockbildung" im Bundesrat auch durch die sogenannten 5-Länder Anträge (Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein), die in einigen Ausschüssen und im Plenum vorgelegt werden. Diese Länder haben die Mehrheit im Bundesrat. Eine bedenkliche Entwicklung zeichnete sich im Januar 1981 ab. Die genannten Länder legten zum Entwurf eines Mineralöl- und Branntweinsteuer-Änderungsgesetzes 1981 und zum Entwurf eines Subventionsabbaugesetzes Anträge vor mit dem Begehren: „Der Bundesrat möge an Stelle der Ausschußempfehlungen . . . beschließen:" Es handelt sich um die Drucksachen 630/ 2/80 und 631/6/80 vom 30. 1. 1981, die nach kurzer Debatte in der Vorbesprechung zur Bundesratssitzung am selben Tag zurückgezogen und im nachfolgenden Plenum nicht mehr aufgerufen wurden. Selbstverständlich hat die Bundesratsmehrheit das

9:5

Allerdings gab es m e h r e r e Koalitionsregie-

(aaO

rungen in den L ä n d e r n , an denen die C D U

Staatsminister

beteiligt w a r , so bis zur v o r g e z o g e n e n L a n d -

in: Z P a r l 1 9 7 0 , S. 3 0 9 f f ( 3 1 2 ) : „ D o r t ,

tagswahl am 14. 6 . 1 9 7 0 in Niedersachsen ei-

sich die K o n z e p t i o n e n der S P D und C D U /

ne Koalition

von

Württemberg

bestand

SPD/CDU. bis

zur

In

Baden-

Wahl

am

2 3 . 4 . 1 9 7 2 eine v o n C D U und S P D gebildete Landesregierung.

94

In

CSU

S. 3 1 9 ) ;

diametral

F. für

HEUBL,

der

bayerische

Bundesangelegenheiten,

hat

das

selbstverständlich seine Auswirkungen

auf

das J a -

oder

gegenüberstehen,

wo

Neinsagen

im

Bundesrat";

Schleswig-Holstein

P . SCHINDLER Mißbrauch des Bundesrates?,

( W a h l : 2 5 . 4 . 1 9 7 1 ) , Rheinland Pfalz ( W a h l :

Z P a r l 1 9 7 4 , S. 1 5 7 - 1 6 6 , mit Beispielen. Als

2 1 . 3. 1 9 7 1 ) und d e m Saarland ( W a h l : 14. 6 .

zeitjüngste Veröffentlichung w ä r e der Bei-

1 9 7 0 ) koalierte die C D U mit der F . D . P . , die

trag des B r e m e r Senators für Bundesangele-

aber in allen drei Bundesländern nach den

genheiten KARL WILLMS zu nennen, der un-

W a h l e n aus den Regierungen ausschied.

ter der Uberschrift „ D e r Streit hat sich ver-

Vgl. H . LAUFER D e r Bundesrat als Instru-

s c h ä r f t " in der B r o s c h ü r e „ 3 0 J a h r e Bundes-

ment

rat 1 9 4 9 — 1 9 7 9 " , hrsg. v o n der Pressestelle

der

Opposition?

ZParl

1970,

S.

3 1 8 — 3 4 1 , mit Hinweisen auf mehrere E r k l ä rungen

des

CDU-Vorsitzenden

Kiesinger

des Bundesrates, erschienen ist (S. 5 8 / 6 0 ) .

946

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Recht, im Plenum Ausschußempfehlungen zu ändern oder abzulehnen, aber das geschilderte Vorgehen würde nicht nur einen Bruch mit einer über Jahrzehnte bewährten Übung bedeuten, sondern auch einen Verstoß gegen die Geschäftsordnung des Bundesrates darstellen, in der festgelegt ist, daß die Ausschüsse dem Bundesrat zu den ihnen überwiesenen Beratungsgegenständen Empfehlungen vorlegen (§ 26 Abs. 3 S. 1). Der Bundeskanzler hat am 24. 11. 1980 vor dem Deutschen Bundestag erklärt, in den Legislaturperioden seit 1969 habe „öfters der Eindruck entstehen können, als ob die Opposition den Bundesrat betrachtete als Ersatz für die im Bundestag fehlende M e h r h e i t " 9 5 . Der engen Verbindung der Mehrheit des Bundesrates zur Opposition im Bundestag entsprach die nicht weniger enge Zusammenarbeit der Minderheit des Bundesrates mit der Regierungskoalition. Damit sind die „Blockentscheidungen" bei politisch besonders umstrittenen Gesetzesvorhaben in den Ausschüssen und im Plenum des Bundesrates sowie im Vermittlungsausschuß zu erklären. Dennoch wäre die Annahme falsch, die Bundesratsmehrheit sei der bloße Erfüllungsgehilfe der Bundestagsopposition gewesen, und die Bundesregierung habe in der Bundesratsminderheit eine stets verfügbare Hausmacht sehen können. Es gibt eindrucksvolle Beispiele für eigenständige Entscheidungen der Mitglieder des Bundesrates, die im Gegensatz zum Abstimmungsverhalten standen, das die jeweiligen politischen Freunde im Bundestag gewünscht und erwartet hatten 9 6 . Eine „Blockadepolitik" der Bundesratsmehrheit gegenüber wesentlichen Teilen der Politik der Bundesregierung würde auch das zwangsläufige Ergebnis haben, daß die Landtagswahlen noch stärker als bisher in den Sog der Bundespolitik gebracht würden und gleichfalls wichtige landespolitische Themen ganz in den Hintergrund träten. Eine solche „Denaturierung" der Landtagswahlen kann niemand befürworten, der den bundesstaatlichen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland ernst nimmt. Sicherlich kann niemand der Bundesratsmehrheit verwehren, im Gegenüber zu Bundesregierung und Bundestagsmehrheit eine alternative Politik zu vertreten. Doch sollten die Bereiche aus dem Streit herausgenommen

95

9. Wahlperiode, 5. Sitzung, SitzBer. S. 3 6 / 37.

96

So hat der Freistaat Bayern dem Gesetz zu dem deutsch-polnischen Abkommen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. 10. 1975 am 12. 3. 1976 (432. Sitzung des Bundesrates, SitzBer. S 105 C ) zugestimmt, obwohl der CSU-Landesvorstand die Ablehnung dringend empfohlen hatte. Der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein hat im Bundesrat angekündigt, er werde kostenwirksame Gesetzesbeschlüsse des Bundestages ablehnen, auch wenn sie mit Unterstützung der Bundestagsopposition verabschiedet worden seien. Die Länder Bremen und Hamburg haben im Vorfeld der Bundestagswahlen am 13. 6. 1980 im Bundesrat einen Antrag zu dem von der Bundesregie-

rung initiierten und vom Bundestag beschlossenen Steuerentlastungsgesetz 1981 eingebracht, mit dem das Volumen dieses Gesetzes um rund ein Drittel reduziert werden sollte, um eine höhere Verschuldung der öffentlichen Haushalte zu vermeiden ( B R Drucksache 2 9 4 / 2 / 8 0 , SitzBer. S. 2 4 7 / 2 4 8 ) . In der 498. Sitzung des Bundesrates am 3. 4. 1981 haben neun Länder — vier C D U - r e gierte, vier SPD-regierte sowie der C S U - r e gierte Freistaat Bayern — einen gemeinsamen Antrag eingebracht, in dem die Zustimmung des Bundesrates zum Volkszählungsgesetz nur für den Fall in Aussicht gestellt wird, daß sich der Bund seiner Verpflichtung aus Art. 106 Abs. 4 S. 2 G G zur angemessenen Kostenbeteiligung nicht entzieht (BR-Drucksache 8 6 / 3 / 8 1 ) .

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

947

werden, bei denen die Wähler in einer Bundestagswahl das Für und Wider entscheiden konnten. Das gilt z. B. für die Ostpolitik und die Grundzüge der Reformpolitik, etwa im Bereich des Ehe- und Familienrechtes.

IX. Der Bundesrat im Meinungsbild In den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik Deutschland stand der Bundesrat nicht im Rampenlicht des politischen Geschehens, wenn man von wenigen Ausnahmen, wie dem Streit über die Westverträge 1952/1953, absieht. Aber auch diese seltenen Ausnahmefälle wurden kaum von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. In der Berichterstattung der Medien spielte der Bundesrat im Schatten des Bundestages keine nennenswerte Rolle. Das lag einmal an den wesentlich zahlreicheren Sitzungen des Parlaments, war aber vornehmlich dadurch bedingt, daß die bekanntesten Politiker — der Bundeskanzler, die Bundesminister, aber auch die Sprecher der Opposition — im Bundestag debattierten. Der spöttisch als „Parlament der Oberregierungsräte" bezeichnete Bundesrat, in dem es anders als im Bundestag keine dramatischen Sitzungen bis in die Nachtstunden gab, war der Mehrzahl der Bundesbürger unbekannt. Nur eine kleine Minderheit konnte seine Aufgaben und Befugnisse nennen. Bei den sachkundigen Beobachtern seiner Arbeit war die anfängliche Skepsis, ob der Bundesrat im politischen Kräftefeld die ihm von der Verfassung zugewiesene Rolle spielen könne, der Uberzeugung gewichen, daß dieses föderative Bundesorgan einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland leiste. Das bemerkenswerteste Beispiel für eine gewandelte Bewertung des Bundesrates dürfte in den Beiträgen des Staatsrechtslehrers W E R N E R W E B E R ZU sehen sein, der Konstruktion und Arbeitsweise des Bundesrates von Anfang an kritisch begleitet hat. In der ersten Auflage seines Buches „Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem", die im Juli 1951 abgeschlossen wurde, rechnet er den Bundesrat „zu den am meisten schillernden Schöpfungen des Grundgesetzes" 97 , und stellt eine ungünstige Prognose: „Bei ihm (dem Bundesrat) sind alle Verantwortlichkeiten verdeckt und verhüllt, zumal er kaum jemals als Träger einer Initiative hervorzutreten braucht, sondern im wesentlichen durch Einwendungen und Hemmungen wirkt. Das alles macht ihn zu einer dunklen, von kühler Distanziertheit umgebenen Größe im politischen Kräftespiel zum Träger einer im Schatten bleibenden potestas indirecta 9 8 ." Zur Begründung dieser Bewertung heißt es: „Weit mehr noch als bei den Plenarsitzungen der modernen Parlamente sind die öffentlichen Sitzungen des Bundesrates nur Staffage. Für das Bewußtsein der Öffentlichkeit ist die Willensbildung im Bundesrat ungreifbar und sind seine Verhandlungen ein undurchdringliches Internum 9 9 ."

97 98

S. 9 1 . S. 93.

99

S. 93, A n m . 42.

948

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

In der dritten Auflage seines Buches, die 19 Jahre später erschienen ist, beurteilt den Bundesrat im Kapitel „Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus" wesentlich günstiger. Er betont, „daß auf dem Wege über den Bundesrat und seine Ausschüsse in hohem Grade die Erfahrung und Sachkunde der Länderspitzenbürokratie für die Bundesaufgaben nutzbar gemacht werden", bescheinigt den Mitgliedern des Bundesrates „geläuterte Sachnähe und staatsmännische Sachverantwortung" und anerkennt „für den Bundesrat das Klima einer gegen ideologische und demagogische Anwandlungen imprägnierten Sachgerechtigkeit, die im Zusammenspiel der obersten Bundesorgane ein Element von hohem Nutzen darstellt" 1 0 0 . WEBER

Inzwischen hat der Bundesrat auch in der Bevölkerung an Ansehen gewonnen. Die Ergebnisse repräsentativer Meinungsumfragen, die seit einigen Jahren erhoben werden, zeigen es. Im November 1980 maßen 64% der Befragten dem Bundesrat einen sehr starken oder starken Einfluß auf das allgemeine politische Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland zu. 88% der Befragten wußten von der Existenz des Bundesrates. 55% konnten über seine Zusammensetzung und 69% der Befragten über seine Zuständigkeiten und Aufgaben richtige Angaben machen. Eine sehr gute oder gute Meinung über den Bundesrat hatten 4 3 % , während nur 6% eine schlechte oder sehr schlechte Meinung von ihm hatten. Den Sympathie-Gewinn verdankt der Bundesrat den Anhängern von SPD und F . D . P . , wie durch Zusatzfragen ermittelt wurde. Sie haben den Bundesrat ganz erheblich positiver beurteilt als bei der letzten Umfrage im Jahr 1978 1 0 1 .

X . Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform Der Bundestag hat am 22. 2. 1973 einstimmig die Einsetzung einer Enquete-Kommission Verfassungsreform beschlossen. Ihr Auftrag war zu prüfen, ob und inwieweit es erforderlich ist, das Grundgesetz — unter Wahrung seiner Grundprinzipien — den gegenwärtigen und voraussehbaren zukünftigen Erfordernissen anzupassen. Parallel zu dieser Kommission des Bundestages wurde von den Ländern eine Länderkommission Verfassungsreform eingerichtet mit dem Ziel, die Arbeit der Enquete-Kommission von der Gesamtheit der Länder her zu fördern und zu unterstützen. Die beiden Kommissionen haben sich auch mit dem Bundesrat befaßt. 1. Die Enquete-Kommission kam zu folgenden Empfehlungen: 102 a) Das Bundesratsprinzip des Grundgesetzes soll beibehalten werden; eine Ergänzung der von den Landesregierungen entsandten Bundesratsmitglieder durch Landesparlamentarier oder durch innerhalb der Länder zu wählende Senatoren wird nicht befürwortet.

100 101

S. 2 9 7 . Alle Zahlen sind der Pressemitteilung des Bundesrates 3/81 v o m 2 6 . 1 . 1981 entnommen.

102

Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, Bundestags-Drucksache 7 / 5 9 2 4 v. 9. 12. 1976, S. 96.

3. Abschnitt. Der Bundesrat und seine Bedeutung (POSSER)

949

b) Die derzeitige Verteilung der Stimmen auf die Länder im Bundesrat nach Art. 51 Abs. 2 G G soll beibehalten werden. c) Eine Erweiterung der Aufgaben des Bundesrates zur Wahrnehmung der Länderkooperation (sog. Dritte Ebene), etwa durch einen Länderrat, wird nicht befürwortet. d) Eine unmittelbare Beteiligung der Länderparlamente an Grundgesetzänderungen (Erfordernis der Genehmigung durch zwei Drittel der Länderparlamente) empfiehlt sich nicht. e) Die Beratungsfrist des Bundesrates nach Art. 76 Abs. 2 G G soll bei Grundgesetzänderungen auf drei Monate verlängert werden, damit den Volksvertretungen der Länder ausreichend Zeit zur Beratung hierüber zur Verfügung steht. Art. 76 Abs. 2 G G ist um folgenden Satz 4 zu ergänzen: „Bei Vorlagen zur Änderung dieses Grundgesetzes beträgt die Frist drei Monate." 2. Auch die Länderkommission hat keinen Anlaß gesehen, die Struktur des Bundesrates zu ändern. Eingehend hat sie sich mit dem Verhältnis zwischen Landesparlament und Landesregierung bei Bundesratsangelegenheiten befaßt. Sie hat insoweit festgestellt, daß die parlamentarische Verantwortlichkeit der Landesregierung gegenüber dem Landesparlament sich auch auf das Abstimmungsverhalten im Bundesrat erstreckt und daß sich der Landtag daher mit Bundesratsangelegenheiten befassen und der Landesregierung insbesondere Empfehlungen zum Abstimmungsverhalten geben kann 1 0 3 . Es bleibt die bemerkenswerte Feststellung, daß die Enquete-Kommission, die sich in mehrjähriger Arbeit auch mit Zusammensetzung und Aufgaben des Bundesrates beschäftigt hat, lediglich eine Änderung empfohlen hat: die Beratungsfrist des Bundesrates bei Grundgesetzänderungen von jetzt sechs Wochen auf drei Monate zu verlängern.

103

aaO S. 8.

6. Kapitel

Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung Übersicht 1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des m o d e r n e n Staates (WERNER MAIHOFER)

Vorbemerkung: Die Demokratie des Grundgesetzes Rechtsstaat — Sozialstaat — Kulturstaat?. . I. Der Kulturstaat der Epoche der Moderne 1. Der universale: offene Kulturbegriff der Epoche der Moderne . a) Der selektive und elitäre Begriff der Kultur b) Der universale und humane Begriff der Kultur 2. Der demokratische: freiheitliche Kulturstaatsbegriff der Epoche der Moderne a) Das Verhältnis von Kultur und Staat im Zeitalter der Trennung der Kultur vom Staate b) Das Verständnis eines Kulturstaates im Zeitalter der Autonomie der Kultur und der Neutralität des Staates c) Der Kulturstaat der Moderne im Zeitalter einer Weltkultur und der Erwerbskultur II. Der Kulturstaat des Grundgesetzes 1. Zuständigkeitsordnung und Aufgabenteilung im Kulturstaat des Grundgesetzes a) Zuständigkeiten des Bundes im Kulturstaat des Grundgesetzes b) Die sogenannte Kulturhoheit der Länder im Kulturstaat des Grundgesetzes

953

957 958 960

966

c) Der eigenständige Verfassungsauftrag der Gemeinden im Kulturstaat des Grundgesetzes . . . 2. Inhalte und Grenzen der Staatstätigkeit im Kulturstaat des Grundgesetzes a) Kulturelle Freiheitsrechte und die Grenzen der Staatstätigkeit eines freiheitlichen Kulturstaates b) Kulturelle Teilhaberechte und die Inhalte der Staatstätigkeit eines freiheitlichen Kulturstaates

969

973

978 978

983

988

990

994

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen des Grundgesetzes für das Bildungswesen (PETER G L O T Z u n d KLAUS FABER)

Einführung 966

984

I. Grundgesetz und Bildungswesen . . . 1. „Recht auf Bildung" a) Recht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte b) Recht auf Persönlichkeitsentfaltung 2. Staatsverantwortung und Grundrechte im Schulwesen a) Staatliche Gestaltungsbefugnis und Religionsfreiheit b) Privatschulfreiheit und „Staatlichkeit" des Schulwesens . . . c) Zusammenwirken von elterlicher und staatlicher Erziehung d) Exkurs: Staatliches Schulformangebot und Elternwahlrecht . e) Exkurs: Gesamtschule und Eltern Wahlrechte

999 1002 1002 1002 1006 1009 1009 1012 1012 1014 1016

952

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung f) Parlaments- und Gesetzesvorbehalt im Schulwesen 1021 3. Wissenschaftsfreiheit 1023 4. Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Bildungswesen 1025

II. Einheitlichkeit und Vielfalt im föderativen Bildungswesen — Verfassungsrechtliche und -politische Fragen 1. Unitarisierung durch Grundrechte? a) Grundsatz und Ausnahme nach dem ersten Numerus-claususUrteil b) Grenzen des Unitarisierungsansatzes 2. Vereinheitlichung durch BundLänder-Zusammenarbeit und durch Länderselbstkoordination . a) Bund-Länder-Zusammenarbeit b) Länderselbstkoordination . . . 3. Parlamentsverantwortung und Koordination der Regierungen . . . .

2. Kriterien für eine Bewertung der Aufgabenverteilung; mögliche Alternativen 1048 3. Bewährung und Neuordnung . . . 1056

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften ( P A U L MIKAT) 1028

I. Staatskirchenrechtliche Strukturelemente des Grundgesetzes

1059

1028

II. Das Grundrecht der Religionsfreiheit 1064

1030

III. Staatskirchenverbot und kirchlicher Körperschaftsstatus (Art. 137 Abs. 1 und 5 WRV i. V. m. Art. 140 GG) 1077

1033 1033 1039 1041

III. Bundesstaatliche Aufgabenverteilung im Bildungswesen — Funktion, Bewährung und Neuordnung 1. Exekutivföderalismus und Politikverflechtung 1045

IV. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht des Art. 137 Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140 GG

1080

V. Staatsleistungen, Ablösungsauftrag und Kirchengutsgarantie (Art. 138 WRV i.V.m. Art. 140 GG)

1084

VI. Verfassungspolitischer Ausblick . . . 1086

1. Abschnitt

Kulturelle Aufgaben des modernen Staates WERNER

MAIHOFER

Vorbemerkung: Die Demokratie des Grundgesetzes Rechtsstaat — Sozialstaat — Kulturstaat? Die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes1 ist nach ihrem Organisationsprinzip ein Verfassungsstaat: eine konstitutionelle Demokratie, die eine durch Grundrechtsverbürgungen, Minderheitenschutz, Gewaltenteilung und Rechtsbindung aller Staatsgewalt eingeschränkte Mehrheitsherrschaft gewährleistet. Zugleich ist sie verfaßt als Bundesstaat: als föderative Demokratie, die durch eine nicht nur vertikale, sondern auch horizontale Gewaltenkontrolle und Herrschaftslegitimation gekennzeichnet ist 2 . Diese konstitutionelle und föderative Demokratie unserer Bundesrepublik Deutschland wird im Grundgesetz deshalb umschrieben bald mehr im Blick auf die föderative Komponente als „demokratischer und sozialer Bundesstaat" (Art. 20 Abs. 1), bald mehr im Blick auf die konstitutionelle Komponente als „demokratischer und sozialer Rechtsstaat" (Art. 28 Abs. 1). Woraus in der Verfassungsinterpretation der vergangenen Jahrzehnte sich eine doppelte Staatszielbestimmung unserer dadurch in diesem zweifachen Sinnt freiheitlichen Demokratie herausgebildet hat: als freiheitlicher Rechtsstaat und zugleich freiheitlicher Sozialstaat; in Auseinandersetzung mit und Absetzung von früheren und anderen: unfreiheitlichen Formen des obrigkeitlichen Rechtsstaates wie des wohlfahrtsstaatlichen Sozialstaates3. In dieser heutigen vierfachen Bestimmung des Aufbaus und der Ziele des Staates unseres Grundgesetzes: als demokratischer und sozialer Rechtsstaat und ebensolcher Bundesstaat kommt unser Staat als Kulturstaat nicht vor. Eine solche Begrenzung der Staatskonzeption unserer Bundesrepublik auf den demokratischen Verfassungsstaat und Bundesstaat und auf den freiheitlichen Rechtsstaat und Sozialstaat kann sich vordergründig zunächst auf den Verfassungstext des

1 2

Vgl. dazu einführend oben S. 173 ff. Vgl. zur horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung im Verfassungsstaat und Bundesstaat besonders: K. HESSE Grundzüge

3

des Verfassungsrechts, 13. Aufl., 1982, S. 186 ff und S. 89 ff, 104 ff. Dazu W . MAIHOFER Rechtsstaat und Sozialstaat, in: Rechtsstaat und Sozialstaat, hrsg. von W . Weyer, 1972, S. 13ff.

954

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Grundgesetzes berufen. Anders als Art. 3 der Bayerischen Verfassung von 1946, der ausdrücklich feststellt: „Bayern ist ein Rechts-Kultur- und Sozialstaat", enthält die entsprechende Zentralnorm der Verfassung der Bundesrepublik in Art. 20 Abs. 1 GG nur die vage Formel vom „demokratischen und sozialen Bundesstaat", die sich als „demokratischer und sozialer Rechtsstaat" erst im Zusammenhang der Homogenitätsnorm des Art. 28 Abs. 1 G G zu erkennen gibt, und sich als Sozialstaat überhaupt erst in der nachträglichen Artikulation der Klausel „sozial" erschlossen hat 4 . Die Frage ist, wie dieses auffällige Schweigen des Grundgesetzes über den Begriff des Kulturstaates zu deuten ist? Hier stehen sich entgegengesetzte Auslegungen bis heute gegenüber, von denen auch unsere Erörterung ihren Ausgang nehmen muß, will sie zu einer Klärung der einleitenden Frage gelangen, ob die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie als Demokratie, und als Rechtsstaat und Sozialstaat, auch als Kulturstaat angesehen und angesprochen werden muß? Daraus, daß Art. 20 des Grundgesetzes keine Aussage darüber enthält, daß die Bundesrepublik Deutschland „ein ,Kulturstaat' sei", wird einerseits gefolgert: „Dies ist angesichts der rechtlichen Schwierigkeiten der Erfassung dieses Begriffs kein Mangel, sondern eher ein Vorzug: das Fehlen einer solchen Aussage ermöglicht und sichert m. E. die Autonomie (vgl. auch Art. 5 Abs. 3 GG) der Kultur vom Staate und die kulturelle Neutralität (die m. E. eine notwendige Folge der weltanschaulichen und konfessionellen Neutralität des Rechtsstaates darstellt) des Staates" 5 . Demzufolge wäre das Schweigen unserer Verfassung über den Begriff des Kulturstaates nicht als zufälliges Unterlassen, sondern als eine „notwendige Folge" der „kulturellen Neutralität" des Rechtsstaates aufzufassen, die jede Aktivität des Staates überhaupt in dem durch rechtsstaatliche Abwehrrechte (wie Art. 5 Abs. 3 GG) geschützten Bereich ausschließt, weil nur so die „Autonomie der Kultur vom Staate" gesichert werden könne. Eine solche Verfassungsinterpretation reduziert den Kulturstaat auf eine Art kulturellen Rechtsstaat, der sich selbst als Staat aller Eingriffe in die Kultur zu enthalten und deren Autonomie allenfalls gegen Dritte zu schützen und durch institutionelle Garantien rechtlich zu sichern hat. Hierbei bleibt ungefragt, ob es nur einfach ausreicht, Autonomie der Kultur vom Staate zu sichern, oder nicht vielmehr eine Autonomie der Kultur im Staate zu gewährleisten ist, die Förderung von Kultur durch den Staat zumindest da einschließt, wo Gedeihen von Kultur, auch und gerade in voller Autonomie, anders als durch den Staat: als Kulturstaat, nicht zu erreichen ist. Aus eben diesen Überlegungen wird, angesichts der Tatsache, daß die zentrale Norm des Art. 20 Abs. 1 G G über den Begriff des Kulturstaates schweigt, im Zusammenhang der Verfassungsgarantie der Freiheit von Kunst und Wissenschaft in Art. 5 Abs. 3 GG die genau entgegengesetzte Verfassungsinterpretation hergeleitet. Aus die-

4

Vgl. zu den Kulturstaatsklauseln in Verfassungstexten einführend: P. HÄBERLE V o m Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, hrsg. von P . HÄBERLE, 1982, S. l f f ,

insbes. S. 8 f f , mit umfassendem Literaturnachweis zu Fragen des Kulturstaates und Kulturverfassungsrechts. 5

So: HAMANN/LENZ Kommentar zum G G ,

A u f l . , 1970, S. 338.

3.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

955

ser Fundamentalgarantie des Kulturbereichs werden nicht nur einzelne „Strukturmerkmale des grundgesetzlichen Kulturstaates" abgeleitet: Wie „kulturpolitische Neutralität" und „kulturpolitische Toleranz" des Staates, aber auch die „Pflicht des Staates zu kultureller Förderung und positiver Pflege von Kunst und Wissenschaft". Aus ihr wird zugleich eine Staatskonzeption für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt entwickelt, die in der Feststellung gipfelt: „Der grundgesetzliche Verfassungsstaat ist im Sinne von Staatszielbestimmung sowie Verfassungsauftrag Kulturstaat"6. Es könnte danach den Anschein haben, diese auch von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 7 getragene Interpretation und Konzeption der Demokratie unseres Grundgesetzes als Rechtsstaat, Sozialstaat und Kulturstaat sei damit heute allgemein. Ein Blick selbst in neuere Darstellungen der Staatslehre wie des Staatsrechts unserer Bundesrepublik belehrt uns vom Gegenteil 8 . In ihnen ist, wenn von „Kultur" überhaupt, allenfalls von „politischer Kultur" die Rede, und über den Kulturstaat weiterhin Schweigen. Diese bis heute vorherrschende Verkürzung des Verfassungsrechts: der Staatszielbestimmung wie des Verfassungsauftrages unserer Demokratie auf den Rechtsstaat und allenfalls den Sozialstaat, steht in seltsamem Widerspruch zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland heute. Ist diese doch gekennzeichnet durch eine eindrucksvolle Vielfalt und Vielgestalt staatlicher Kulturpolitik auf allen Ebenen der Politik: in Bund, Ländern und Gemeinden, und auf allen Feldern der Kultur: in Bildung, Wissenschaft und Kunst, über deren beachtliche Größenordnungen uns schon ein Blick in die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden belehrt 9 . Sie läßt sich weder aus dem Staatsziel und Verfassungsauftrag einer freiheitlichen und bundesstaatlichen Demokratie, noch dem des Rechtsstaates oder des Sozialstaates zureichend erklären und verstehen, geschweige denn begründen und rechtfertigen. Sie ist mit dem Begriff des Rechtsstaates und seiner kulturellen Neutralität allein ebensowenig erfaßbar wie mit dem Begriff des Bundesstaates und seiner kulturellen Pluralität; auch wenn der Begriff eines freiheitlichen und zugleich bundesstaatlichen Kulturstaates nur aus diesem Zusammenhang und Spannungsverhältnis, von konstitutionellen Voraussetzungen unseres Rechtsstaates und föderativem Aufbau unseres Bundesstaates, gedacht und bestimmt werden kann.

6

Maunz/Dürig/Herzog/

1 9 8 1 ; u n d : E. DENNINGER S t a a t s r e c h t B d . 2 ,

Scholz Grundgesetz, A r t . 5 III (1977) Rdn.

1979, w o aaO, S. 135 zwar von „politischer Kultur", aber von Kultur sonst nicht die Rede ist; auch bei: K. HESSE Grundzüge (Fn. 2), S. 191 f kommt zwar die Sache, aber der Begriff Kulturstaat im Text nicht vor. Vgl. zu dieser „empirischen Seite" des Kulturverfassungsauftrags der Gemeinden etwa: P. HÄBERLE Kulturpolitik in der Stadt — ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 5 f f ; und zur Kulturpolitik in Bund und Ländern auch

So R.

SCHOLZ i n :

8. 7

8

Grundlegend B V e r f G E 36, 321 (331); vgl. zur „Kulturstaatsjudikatur" des Bundesverfassungsgericht im einzelnen schon: P. HÄBERLE Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 35 und 49; und dazu jetzt auch: Kulturstaat (Fn. 4) S. 2 5 f . Vgl. dazu R. ZIPPELIUS Allgemeine Staatslehre, 7. A u f l . , 1980; und: R. HERZOG A l l gemeine Staatslehre, 1 9 7 1 ; ebenso: M. KRIELE Einführung in die Staatslehre, 2. A u f l . ,

9

TH.

OPPERMANN

Kulturverwaltungsrecht,

1969, S. 4 3 6 f f , insbes. S. 4 4 6 f .

956

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Offenbar liegt eben darin eine der grundsätzlichen Schwierigkeiten, daß sich die Sache des Kulturstaates so weder einfach aus der Konzeption des Rechtsstaates extrapolieren, noch mit der des Bundesstaates identifizieren läßt. Kulturstaat ist weder nur kultureller Rechtsstaat noch bloß kultureller Bundesstaat. Gerade die Ineinssetzung, wenn nicht Verwechslung des Kulturstaatsproblems mit dem Föderalismusproblem, erklärt einen Teil der auch in manchen Bekenntnissen zum Kulturstaat heute fortbestehenden Unklarheiten. Eine andere grundsätzliche Schwierigkeit scheint in der Begrifflichkeit des Kulturstaates selbst zu liegen, die aus den Voraussetzungen und dem Gesamtzusammenhang einer konstitutiven und föderativen Demokratie als ein freiheitlicher Kulturstaat gedacht und bestimmt werden muß. In deutlicher Unterscheidung und klarer Absetzung von früheren und anderen Verständnissen eines unfreiheitlichen: konformistischen, sei es doktrinären oder gar autoritären Kulturstaates, wie wir ihn als geschichtliche Wirklichkeit aus älteren und neueren, religiösen wie ideologischen Weltanschauungsstaaten kennen. Auch und gerade die allzu unbefangene Anknüpfung an solche überlebten Verständnisse bei der in den vergangenen Jahrzehnten wiederaufgelebten Kulturstaatsdebatte dürfte einen anderen Teil der bis heute verbreiteten Zurückhaltung gegenüber dieser Begrifflichkeit erklären. Durch sie scheint die bisherige Kulturstaatsdiskussion, wenn nicht auf einen Irrweg gebracht, so doch bis heute mit Unbedachtheiten belastet, die es zunächst in Untersuchung der Vorfrage aufzuklären gilt: Von welchem Begriff von Kultur und von deren Verhältnis zum Staat die Begrifflichkeit eines Kulturstaates der Epoche der Moderne auszugehen hat, wie sie das Bekenntnis der freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes als freiheitlicher Rechtsstaat, Sozialstaat und Kulturstaat voraussetzt.

I. Der Kulturstaat der Epoche der Moderne Daß der Staat seiner Idee nach immer auch als Kulturstaat verstanden und gestaltet sein muß, ist die durchgängige Überzeugung allen Rechts- und Staatsdenkens, von der platonischen Republik und der aristotelischen Politik in der Antike an bis zu der aus eben diesem Geiste sich erneuernden Realität der Kulturstaaten der Renaissance am Beginn der Neuzeit 10 . Wir stehen so vor dem zunächst erklärungsbedürftigen Befund, daß dieser in der Verfassungsinterpretation unseres Grundgesetzes erst in jüngster Zeit wieder aufkommende Begriff, schon in einer bis in die Neuzeit hinein ungebrochenen Staatstradition des Kulturstaates vorgedacht ist, deren Ursprung so alt ist wie der griechische Gedanke der Demokratie und der spätere römische Begriff der Republik; älter jeden-

10

Zur Idee und Realität des klassischen Kulturstaates, in seiner ursprünglichen Einheit von Staat, Religion und Kultur, noch immer

grundlegend:]. B U R C K H A R D Weltgeschichtliehe Betrachtungen, Ausgabe R. Marx bei Kröner, 1935, S. 27ff.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des m o d e r n e n Staates (MAIHOFER)

957

falls als das erst am Ende der Neuzeit aufbrechende Fragen nach dem Staat als Rechtsstaat oder gar als Sozialstaat 11 . Daß der Kulturstaatsgedanke danach aus dem Staatsdenken unserer Epoche der Moderne Schritt für Schritt verschwindet, das mit den demokratischen Revolutionen in Amerika und Frankreich an der Schwelle der Epoche der Moderne anhebt, steht offenbar im Zusammenhang mit dem grundlegenden Wandel der Voraussetzungen, der in den daraus hervorgehenden liberalen Demokratien im Verständnis der Kultur und im Verhältnis von Kultur und Staat eintritt, die im gleichen geschichtlichen Vorgang wie die Religion, dem früheren Kernbereich der Kultur, mehr und mehr von einer Staatssache zur Privatsache wird 12 . Unverkennbar liegt diese Privatisierung der Kultur, wie sie in ihrer extremen Konsequenz in den Vereinigten Staaten noch heute zu beobachten ist, in der Logik des Systems einer reinen freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie. Sie schließt einen obrigkeitlichen Kulturstaat ebenso aus, wie einen wohlfahrtsstaatlichen Sozialstaat. Die Frage ist nur, ob hier nicht eine vergleichbare Entwicklung im Gange ist, wie wir sie schon beim Begriff des Sozialstaates beobachtet haben, der dem klassischen Liberalismus lange als mit dem Rechtsstaat unvereinbar gegolten hat, und der nun unserem heutigen Staatsdenken, auch dem des modernen Liberalismus, geradezu als die Vollendung des Rechtsstaates im Sozialstaat, in einer Ordnung nicht nur formaler, sondern „materialer Freiheit" nicht nur individualer, sondern „sozialer Gerechtigkeit" gilt 13 . Stehen wir so nicht, wie auch die eingangs erörterten kontroversen Positionen in der Frage des Kulturstaates anzuzeigen scheinen, mitten in einem vergleichbaren Umdenken nun auch im Verhältnis von Rechtsstaat und Kulturstaat, wie dieses zuvor im Verhältnis von Rechtsstaat und Sozialstaat sich vollzogen hat? Von welchem Begriff von Kultur hat ein solches verändertes Verständnis unter den geistigen Voraussetzungen unserer Epoche der Moderne auszugehen? Und auf welchen Begriff von Kulturstaat führt das damit auch für diesen Bereich unserer Staatlichkeit verwandelte Verhältnis von Staat und Kultur hinaus? 1. Der universale: offene Kulturbegriff der Epoche der Moderne Den ersten großangelegten Versuch, die ,,Problematik des Kulturstaates" von den geistigen Voraussetzungen unserer grundgesetzlichen Ordnung aus neu zu durchdenken, hat Ernst Rudolf Huber unternommen. Ihm liegt eine Neubestimmung des Begriffs der Kultur zugrunde, die Huber in einer späteren Erörterung über „Kulturverfassung, Kulturkrise, Kulturkonflikt", siebzehn Jahre danach, unter ausdrücklichem

11

Vgl. dazu oben S. 173 ff.

12

Z u r Privatisierung der Kultur im „ W e l t a l t e r

w i r d : J . BURCKHARD Weltgeschichtliche B e -

des E r w e r b s und des V e r k e h r s " , in dem der „ E r w e r b s s i n n , die H a u p t k r a f t der jetzigen Kultur"

und

der

„erwerbende

Kultur-

m e n s c h " z u m eigentlichen Adressaten: z u m Konsumenten

der

„Kulturproduktion"

trachtungen ( F n . 10) S. 1 3 2 f f und S. 6 8 f . 13

D a z u W . MAIHOFER Rechtsstaat und Sozialstaat ( F n . 3) S. 2 6 f f ; u n d : Liberale Gesellschaftspolitik, Einführung zu den Freiburger Thesen

der

Flach/W.

Liberalen,

Maihofer/W.

2 7 f f , insbes. S. 4 0 f f .

hrsg.

von

Scheel,

K.-H.

1972,

S.

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

958

Rückbezug weiter ausgeführt hat 14 . Da die wiederauflebende Kulturstaatsdiskussion der Gegenwart von eben diesen Arbeiten ihren Ausgang nimmt, und sich auf sie bald als Nachweis für, bald gegen die heutige Möglichkeit eines Kulturstaatsbegriffs bezieht 15 , wollen auch wir zunächst den hierbei vorausgesetzten Begriff der Kultur näher ins Auge fassen. Denn es fragt sich, ob mit dem hier unternommenen Neuansatz bei einem aus der neukantianischen Tradition herstammenden, wertphilosophisch aufgeladenen Kulturbegriff 16 , nicht unvermerkt ein elitärer Begriff der Kultur vorausgesetzt worden ist, der die Kulturstaatsdebatte auf einen von vornherein falschen, weil mit den verfassungsmäßigen Voraussetzungen unserer grundgesetzlichen Ordnung unvereinbaren Weg gebracht hat. a) Der selektive und elitäre Begriff der Kultur Huber geht bei der Bestimmung seines, wie er sagt, „substantiellen Begriffs" der Kultur aus von Arnold Gehlens Definition der Kultur als ,,die ins Lebensdienliche umgewandelte Natur". Danach erscheint ihm „der Kulturstaat als ein Verband, der durch gemeinsames organisiertes Handeln die vorgefundene Natur ins Lebensdienliche umgestaltet" 17 . Mit dieser lebensphilosophischen Formel verbindet sich schon bei Gehlen eine kulturphilosophische Distinktion, wenn er von den „hohen selektiven und exklusiven Ansprüchen, welche Kultur heißen dürfen", spricht. Daraus folgert Huber: „Kultur ist damit verstanden als ein elitäres, den Menschen durch Geist über die Natur erhebendes Prinzip". Von diesen „selektiven" und „elitären" Ansprüchen ausgehend, kommt Huber zu der folgenden grundlegenden Bestimmung des Begriffs Kultur: „Von Kultur im substantiellen Sinne kann nur die Rede sein, wo der Mensch sich zu einem über die animalisch-biologische Existenz erhobenen humanen Dasein entfaltet hat, wo die menschlichen Daseinsformen nicht als bloße Mittel der Daseinssicherung und Daseinsregulierung dienen, wo sich vielmehr in Staat und Recht, in Wissenschaft und Kunst, in Sittlichkeit und Glauben ein über das vitale Dasein und seine Vergänglichkeit hinausweisender, in seinem Wesensgrund dauernder geistiger Wert manifestiert" 1 8 . Mit einer solchen Bestimmung werden vom Begriff der Kultur und damit aus dem Begriff des Kulturstaates nicht einfach nur die „menschlichen Daseinsformen" zungen und damit letzten Rechtfertigungen von Recht und Staat erklärt; vgl. dazu: Rechtsphilosophie, hrsg. von E . Wolf, 8. Aufl., 1973, S. 146ff; vgl. dazu aber auch: Kulturlehre des Sozialismus, Ideologische Betrachtungen, hrsg. von A . Kaufmann, 4. Aufl., 1970.

14

E . R. HUBER Zur Problematik des Kulturstaates, 1958; und: Kulturverfassung, Kulturkrise, Kulturkonflikt, in: DERS., Bewahrung und Wandlung, Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1975, S. 343ff.

15

So bezeichnend die Stellungnahmen gegen und für den Kulturstaatsbegriff oben in Fn. 5 und 6.

17

So auch

18

16

schon

der Kulturbegriff in

der

R e c h t s p h i l o s o p h i e GUSTAV R A D B R U C H S , d e r

Kultur zu einer der drei höchsten Zweckset-

Dazu und zum folgenden E . R. HUBER Kulturverfassung (Fn. 14) S. 343 f. E.

R.

HUBER Kulturverfassung

3 4 4 ; Hervorhebung von mir.

(Fn. 14)

S.

1. A b s c h n i t t . K u l t u r e l l e A u f g a b e n d e s m o d e r n e n S t a a t e s (MAIHOFER)

959

ausgeschlossen, die als „bloße Mittel der Daseinssicherung und Daseinsregulierung dienen", sondern auch alle menschlichen Daseinsformen in Staat und Recht, in Wissenschaft und Kunst, in Sittlichkeit und Glauben, in denen sich kein „über das vitale Dasein und seine Vergänglichkeit hinausweisender Wert" manifestiert. Wieviele der „Manifestationen" der Kunst und Wissenschaft heute, ohne einen solchen „in seinem Wesensgrund dauernden geistigen Wert" müßten nach einer solchen „selektiven" und „elitären" Vorstellung von Kultur selbst aus der Kulturnorm des Art. 5 Abs. 3 G G unseres Grundgesetzes von vornherein herausfallen? Und wer sollte hier Richter sein, welche dieser Manifestationen wertvoll oder wertlos, weil ohne „dauernden" geistigen Wert sind und welche nicht? Wo doch gerade in den Produktionen der Kultur solche Kriterien entweder überhaupt versagen, oder erst die Nachwelt feststellen kann, wo über den Tag hinaus Gültiges, Wertes, Dauerndes, Bleibendes geschaffen wurde? Huber hat das Fragwürdige seines „substantiellen Begriffs", mit dem „die Kultur somit als etwas von der Zivilisation Unterschiedenes gedacht" ist, offenbar selbst empfunden. Aber er glaubt sich in seiner Vorstellung von Kultur als Gegenbegriff zu Zivilisation durch einen so unbestreitbaren Gewährsmann wie Wilhelm von Humboldt bestätigt, bei dem es in einem hinterlassenen Werk hierzu heißt 19 : „Die Civilisation ist die Vermenschlichung der Völker in ihren äußeren Einrichtungen und Gebräuchen und der darauf Bezug habenden inneren Gesinnung. Die Cultur fügt dieser Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst hinzu. Wenn wir aber in unserer Sprache Bildung sagen, so meinen wir damit ein etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergießt". Sehen wir einmal davon ab, daß schon bei Humboldt selbst die vorausgesetzte Dichotomie Zivilisation und Kultur dadurch von der Seite der Kultur aufgelöst ist, daß auf ihre andere Seite die Bildung als ein noch „Höheres und mehr Innerliches" gesetzt wird, die wir nach unserem heutigen Verständnis doch als eine der wesentlichsten Bereiche von Kultur selbst bezeichnen. Ebenso jedoch ist bei Humboldt auch der von Huber gemachte scharfe Unterschied der Kultur zur Zivilisation dadurch aufgelöst, daß diese nicht einfach nur als eine „Vermenschlichung der Völker in ihren äußeren Einrichtungen und Gebräuchen bezeichnet wird", also als deren äußere Humanisierung, die wir noch heute gerne „Zivilisierung" nennen, sondern daß er bereits zum Begriff der Zivilisation auch die „darauf Bezug habende innere Gesinnung" schlägt, also die auf eben diese Vermenschlichung der äußeren Einrichtungen bezügliche innere Humanisierung, von der diese „Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes" hier bereits in der Zivilisation getragen und begleitet sein soll.

19

So

W . v . HUMBOLDT

in

der

über die Verschiedenheit des

„Einleitung

zu seinem Werk: „ U b e r die Kawi-Sprache

menschlichen

auf d e r I n s e l J a v a " ; zitiert n a c h E . R . H U B E R

S p r a c h b a u e s u n d ihren E i n f l u ß a u f d i e geistige E n t w i c k l u n g des

Menschengeschlechts"

K u l t u r v e r f a s s u n g ( F n . 14) S . 3 4 5 .

960

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen O r d n u n g

Womit „Zivilisation" in solchem Wortgebrauch nicht, wie Huber meint, nur einfach als eine „notwendige Vorstufe der Kultur" erscheint, sondern in Wahrheit, unserem heutigen Verständnis entsprechend, als eine erste Stufe der Kultur angesehen und aufgefaßt ist, in der sich, mit Hubers eigenem substantiellen Begriff von Kultur gesagt: „der Mensch zu einem über die animalisch-biologische Existenz erhobenen humanen Dasein entfaltet hat", oder wie es bei Humboldt heißt: zu einer „Vermenschlichung"seiner „äußeren Einrichtungen und der darauf Bezug habenden innren Gesinnung" gelangt ist. So erweist sich gerade der abschließende Versuch Hubers, das seinem substantiellen Begriff der Kultur zugrunde liegende „Begriffspaar" als „in Wahrheit" der Humboldtschen Formel von Zivilisation und Kultur „entstammend" zu erweisen, als eine doppelte Selbstwiderlegung der eigenen Voraussetzungen. Wir gelangen so zu dem Ergebnis, daß der hier versuchte Neuansatz des Kulturbegriffs auf einen elitären Begriff von Kultur zurückgefallen ist, der mit unserem heutigen Verständnis von Kultur, ja selbst von Zivilisation, in Widerspruch steht. Hierin dürfte der tiefere Grund auch dafür liegen, daß die von solchen Voraussetzungen aus unternommene Wiederbelebung des Kulturstaatsbegriffs nicht zu allgemeiner Anerkennung durchdringen konnte. Auch die heutigen Bekenntnisse zum Kulturstaat werden gesicherten Bestand und allgemeine Zustimmung nur erlangen, wenn sie in ihren beiden Bestandteilen: des in ihm verwandten Begriffs von Kultur und des damit verbundenen Begriffs von Staat zureichend bestimmt werden können. Das aber verlangt nicht nur einfach einen „Begriff" von dem, was hier mit Kultur und mit Staat gemeint ist, sondern ein grundsätzliches Verständnis von Kultur und Staat in ihrem von den geistigen Voraussetzungen unseres Grundgesetzes neu zu bestimmenden Verhältnis 20 . Wollen wir nicht zu einer bloßen Definition, sondern zu einer geistigen Konzeption gelangen, was Kulturstaat in der Gegenwart von den Voraussetzungen unserer Epoche der Moderne bedeutet und fordert, dann müssen wir zunächst näher zu erfassen suchen, was der klassische Begriff der Kultur, der auf eine zweitausendjährige Wortgeschichte zurückgeht, damals wie heute unverändert bezeichnet. Aber danach auch genauer herauszuarbeiten suchen, was den universalen Begriff der Kultur im modernen Bewußtsein unserer Gegenwart von Grund auf unterscheidet von den früherer Zeiten. b) Der universale und humane Begriff der Kultur Kultur heißt seinem ursprünglichen lateinischen Wortsinne nach, der in Wortverbindungen wie Agrikultur noch heute nachklingt, ganz allgemein: Bebauung, Bearbeitung. Dieser zunächst für die „Kultur" des Ackers (cultura agri) gebrauchte Begriff 20

Dabei steht es mit dem Begriffe K u l t u r nicht anders als mit dem Wertbegriffe des Rechts, nach dessen „ D e f i n i t i o n " die Juristen, wie schon Kant vermerkt, „ n o c h immer suc h e n " . Solche Begriffe sind nicht im strengen

Sinn zu definieren, sondern allenfalls durch Analyse ihrer Elemente zu „explizieren". Vgl. dazu im einzelnen: W . MAIHOFER (Hrsg.) Begriff u n d Wesen des Rechts, 1973, S. X V ff.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des m o d e r n e n Staates (MAIHOFER)

961

wird erstmals von Cicero in metaphorischen Wendungen auch als Bezeichnung für jene ganz andere „Kultur" des Geistes (cultura animi) verwendet, als die ihm die Philosophie gilt 21 . In der Renaissance wird, unter Rückgriff auf Cicero, auch dieser Wortgebrauch an der Schwelle der Neuzeit erneuert, verallgemeinert und zuletzt bei Samuel Pufendorf zu einer grundsätzlichen Unterscheidung von Naturzustand und Kulturzustand erweitert, von der her Kultur als eine im Unterschied zum Tier im Endzweck des Menschen liegende „Vervollkommnung des menschlichen Lebens" (perfectio vitae humanae) bestimmt wird: aus der „natürlichen Unkultur" (naturalis incultus), zu einem der „Ordnung und Schönheit fähigen Leben", die „dem Menschen (nach seinem Wesen) notwendig ist" (homini cultura sui est necessaria)22. Schon bei Pufendorf nimmt der Begriff der Kultur, auf den danach das gesamte Lehrgebäude des nunmehr als Kulturrecht verstandenen Naturrechts gegründet bleibt, „bis zu dem neuen Impuls, den Kant der Rechtsphilosophie gab" (Gierke) 23 , einige der wesentlichen Kennzeichnungen und Unterscheidungen in sich auf, die unser neuzeitliches Kulturverständnis bis heute bestimmen. So findet sich bereits bei Pufendorf die Kennzeichnung der Welt der Natur als eine durch Gleichförmigkeit bestimmte, weil durch unabänderliche Gesetze der Kausalität geregelte und selbst in den einzelnen Tiergattungen durch gleichgerichteten Instinkt geleitete physische Welt (der entia physica), von der gesagt werden kann: „Wer ein Exemplar kennt, kennt alle" 2 4 . Aber demgegenüber auch die Unterscheidung der Welt der Kultur als eine durch Vielgestaltigkeit ausgezeichnete, weil aus der Freiheit eines verschiedengerichteten Willens und selbst bei den einzelnen Menschen aus verschiedenartigen geistigen Anlagen hervorgehende menschliche Welt, von der gesagt werden muß; „Wieviel Köpfe, soviel Sinne und Ziele". Eben diese „geistige Mannigfaltigkeit", in der schon Pufendorf den entscheidenden Grund für allen Fortschritt des Menschengeschlechts sieht, würde jedoch die „größte Verwirrung hervorrufen" wenn sie nicht „in eine geziemende Ordnung gebracht" wird: die einer moralischen Welt, wie sie in der moralischen Qualität der Dinge dieser Welt (als entia moralia) von Gott selbst vorgegeben und von dem mit dem menschlichen Willen als verbunden gedachten moralischen ,,Sensus" des Menschen in ihrer Werthaftigkeit erkannt werden kann. Wonach die Tötungshandlungen eines Mörders und eines Notwehrübenden, zwar als entia physica in ihrer Wertfreiheit betrachtet, die gleiche physische Beschaffenheit haben können, aber als entia moralia ei-

21

Vgl. z u r W o r t g e s c h i c h t e v o n , K u l t u r ' " et-

22

in: Historisches

W ö r t e r b u c h der

S. 132 f.

Philoso-

phie, hrsg. von J . Ritter und K . G r ü n d e r ,

23

K u l t u r " im übrigen grundlegend: T H .

der Zivilisation, 1 9 7 6 .

E.

WOLF G r o ß e Rechtsdenker

der

S. 3 3 2 ff.

ST.

besonders jetzt: N . ELIAS Ü b e r den P r o z e ß

Dazu

deutschen Geistesgeschichte, 3. A u f l . , 1 9 5 1 ,

B d . 4, 1 9 7 6 , Sp. 1 3 0 9 f f ; „ z u r Sprache der ELIOT Z u m Begriff der Kultur, 1 9 6 1 ; und

D a z u im einzelnen: H . WELZEL N a t u r r e c h t und materiale Gerechtigkeit, 4. A u f l . , 1 9 6 2 ,

w a : W . PERPEET K u l t u r , Kulturphilosophie,

24

Vgl. dazu und z u m folgenden: H . WELZEL N a t u r r e c h t ( F n . 2 2 ) S. 133 und S. 143.

962

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

ne verschiedenartige moralische Bewertung erfahren müssen, wie Pufendorf an dem berühmten Beispiel ausführt, an dem sich die letzten Nachhutgefechte der Scholastik an der Schwelle der Neuzeit entzündet haben 25 . Hiermit wird die Welt der Kultur als das "Werk der Freiheit des Menschen erkannt, im Unterschied zur Welt der Natur als dem der Kausalität. Hiernach wird ebenso aber auch das Werk der Kultur, wie wir heute sagen würden, als das Gesetz der Freiheit für das Leben des Menschen aufgefaßt, das allein „von Gesetzen gelenkt, jene ausgezeichnete Ordnung und Schönheit hervorbringt, die aus der Gleichförmigkeit niemals entstehen könnte" 2 6 . In dieser frühen Einsicht, die den Begriff der Kultur aus der Voraussetzung der Freiheit: der Liberalität als der Quelle der Vielgestaltigkeit: der Pluralität in der Welt des Menschen denkt, sind Kultur, Religion und Staat noch eng miteinander verbunden. Denn dabei ist Kultur als ein normatives System der den Dingen innewohnenden Wohlgeordnetheit und Wohlgestaltetheit aufgefaßt, das vom Menschen (auch in der Religion) aus der moralischen Qualität, als ihrer von Gott den Dingen dieser Welt (als entia moralia) eingestifteten Werthaftigkeit erkannt werden kann, und zugleich vom Menschen (auch durch den Staat) in dieser, deren „ausgezeichneter Ordnung und Schönheit" nachgeschaffenen Gesetzen, gewährleistet werden muß, die der „Würde des Menschen" (dignitas humana), aber auch seiner „natürlichen Freiheit und Gleichheit" entsprechen und nicht widersprechen27. Deshalb hält Pufendorf, in erstaunlicher Voraussicht auf das Kardinalproblem unserer Epoche der Moderne, die Demokratie, wie sie ihm als uneingeschränkte Mehrheitsherrschaft an geschichtlichen Beispielen vor Augen stand, anders als etwa die konstitutionell eingeschränkte Staatsform einer Monarchie, nicht für eine solche der „Würde des Menschen" und seinem natürlichen Recht der „Freiheit und Gleichheit" entsprechende Ordnung tauglich, „weil sie prinzipiell unbeschränkbar sei; denn in ihr können die Grundrechte der einzelnen vom Volke jederzeit durch Mehrheitsbeschluß entzogen werden" 28 . Den entscheidenden Schritt zu einer endgültigen Lösung der Kultur von der Religion, jedenfalls als „kultische Religion", aber in einem ersten Ansatz auch vom Staat, vollzieht, am Beginne jener durch die demokratischen Revolutionen in Amerika und Frankreich eingeleiteten Epoche der Moderne, Immanuel Kant. Sein aus der Autonomie des Menschen gedachtes Verständnis der Kultur bestimmt, mehr oder weniger bewußt bis heute, den universalen Begriff der Kultur, wie ihn auch unsere auf 25

Vgl. zu dieser Fragestellung aus heutiger Sicht: TH. GEIGER Demokratie ohne Dogma, Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, 1950, S. 2 8 4 f f ; und zum Reinheitsgebot absoluter Wertungsenthaltung eines „praktischen Wertnihilismus" schon: W . MAIHOFER Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, S. 91ff.

26

Vgl. dazu H . WELZEL Naturrecht (Fn. 22) S. 133, Hervorhebung von mir. E s ist erinnernswert, daß in diesem dem Kosmos der

Natur vergleichbaren Universum der Kultur die Harmonie der Wohlgeordnetheit ( „ O r d n u n g " ) wie der Wohlgestaltetheit („Schönheit") noch ganz ineinander gehen; Recht und Staat als die Mittel solcher Ordnung der Welt des Menschen also ganz fraglos noch mit zur Kultur gehören. 27 28

Vgl. dazu schon oben S. 180ff. Dazu nochmals: H . WELZEL (Fn. 2 2 ) S. 143.

Naturrecht

963

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

Menschenwürde zur Selbstbestimmung gegründete freiheitliche Verfassung voraussetzt. Auch dieses neue Begreifen dessen: was Kultur für den Menschen ist, und: was Staat mit Kultur zu tun hat, geht aus von der uns aus der klassischen Begrifflichkeit vertrauten Vorstellung, die Kultur als eine Art „zweite Natur" des geschichtlichen Menschen begreift: seine Kulturnatur, oder auch als eine Art zweiten Zustand: den Kulturzustand, mit der und in dem sich der Mensch, wie Kant sagt, aus der „größten Rohigkeit" seiner „tierischen Ausstattung" durch „Bearbeitung" und „Entwickelung" seiner anfänglichen „Naturanlagen" zu immer größerer Vollkommenheit und menschlicher Glückseligkeit „emporarbeitet" 29 . Kant beschreibt diesen Prozeß der Kultur, in dem wir noch immer mitten inne stehen, in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", als einen „Gang der menschlichen Angelegenheiten" durch „ein ganzes Heer von Mühseligkeiten", „zur größten Geschicklichkeit, innerer Vollkommenheit der Denkungsart, und (so viel es auf Erden möglich ist) dadurch zur Glückseligkeit". Dabei sieht er, anders als nach ihm Hegel, nicht einfach die „Weltgeschichte als das Weltgericht", sondern als die Weltgeschichte der Menschheitsentwicklung, in deren Gang der Mensch selbst erst sich hervorbringt und vollbringt in dem, was er nach seiner Anlage wesenhaft ist: eine „Tiergattung, die Vernunft hat". Diese aber ist hier, anders als noch bei Pufendorf, nicht mehr als ein Vermögen verstanden, die von Gott in den Dingen selbst angelegte „Ordnung und Schönheit", nicht zuletzt auch mit Hilfe der Religion aufzudecken und hervorzubringen im Werk der Kultur. Sie wird vielmehr nach Kants „kopernikanischer Wendung" nun begriffen als das Vermögen in einem Geschöpfe, „die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinkt zu erweitern, und kennt keine Grenzen der Entwürfe" 30 . Damit aber verbindet sich bei Kant der traditionelle Ansatz beim klassischen Begriff von Kultur als „Bebauung" und „Bearbeitung", als „Vervollkommnung" und „Emporarbeitung" der Natur mit einem modernen Bild vom Menschen, aus dem sich der neue Gedanke einer Autonomie der Kultur ergibt, von dem auch wir heute ausgehen. Sie folgt für den Menschen in dieser Welt aus der „Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zweckes", die sie als „vernünftige Natur" darum selbst durch die Setzung ihres Zweckes „auszufüllen" haben, als „Zweck an sich selbst" 31 . Dieser Prozeß der Kultur aus der Autonomie nicht, wie es der wirklichkeitsfremden Annahme „isolierter Individuen" erscheinen könnte, als ein Kultur der Natur von Einzelnen, der sich in seinen

29

KANT Idee zu einer Geschichte in weltbür-

31

D a z u a u c h : KANT Metaphysik der Sitten,

gerlicher Absicht, in: Schriften zur A n t h r o -

Ausgabe Vorländer bei Meiner, 4 .

pologie, Geschichtsphilosophie, Politik und

1 9 2 2 , insbes. S. 2 1 9 f f ; vgl. z u m „ O r d n u n g s -

Pädagogik,

gedanken bei K a n t " einführend auch:

Ausgabe

W.

Weischedel

bei

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, B d . V I ,

MAIHOFER V o m

1 9 6 4 , S. 3 6 f f . 30

der Person32 aber vollzieht sich einer menschlichen Gesellschaft Geschehen und Vorgang bloßer Naturanlagen und Geisteskräften

KANT Schriften z u r Politik ( F n . 2 9 ) S. 3 6 f und 3 5 .

Sinn menschlicher

Aufl., W.

Ord-

nung, 1 9 5 6 , S. 13ff. 32

Vgl.

zur „ A u t o n o m i e der P e r s o n "

oben S. 195 ff.

schon

964

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

zu entwickeln und zu vervollkommnen sucht, und den wir dann „kultiviert" oder auch nur „zivilisiert" zu nennen pflegen. Über eine solche individualistische Konzeption von „Kultur" ist schon Kant zu seiner Zeit weit hinaus. Wir finden bei ihm, ganz im Gegenteil, eine humanistische Konzeption von Kultur, die in unserer Zeit des Erinnerns wert ist. Sie folgt für ihn aus der einfachen Überlegung, daß der Mensch beim Gebrauch der Vernunft zur Setzung der Zwecke, durch Entwürfe ohne Grenzen in einem Naturinstinkt, der „Versuche, Übung und Unterricht (bedarf), um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählich fortzuschreiten." Da die Natur jedoch die Lebensfrist des einzelnen Menschen zu kurz angesetzt hat, „um zu lernen, wie er von allen seinen Naturanlagen einen vollständigen Gebrauch machen solle", „so bedarf sie einer vielleicht unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert, um endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung zu treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist" 3 3 . Wenn es also auch den Naturanlagen des Menschen bestimmt ist, „sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln", dann kann dies nie am einzelnen Menschen, sondern nur an der ganzen Menschheit geschehen. Mit Kants Worten: „Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch der Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln." Der Prozeß, in dem sich diese „Entwickelung" vollzieht, das Medium, in dem die hierfür erforderliche „Uberlieferung der Aufklärung" von Generation zu Generation stattfindet, nennen wir Kultur. Zwar ist so Kultur immer auch ein Geschehen am einzelnen Menschen, im einzelnen Menschenleben. Aber in ihr vollzieht sich doch zugleich auch ein Geschehen in der menschlichen Gesellschaft, ja in der gesamten Menschheit, von dem es bei Kant heißt, daß es „immer hiebei befremdend bleibt": „daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk . . . höher bringen könnten"; wie zugleich notwendig: „wenn man einmal annimmt: Eine Tiergattung soll Vernunft haben, und als Klasse vernünftiger Wesen, die insgesamt sterben, . . . dennoch zu einer Vollständigkeit der Entwickelung ihrer Anlagen gelangen" 34 . Dieses aber setzt nicht nur Kultur als Tradition: als Weitergabe von Errungenschaften, als „Überlieferung von Aufklärung" und aller sonstigen „bisherigen Fortschritte der Kultur" voraus, von denen auch Kant spricht 35 . Es setzt ebenso ein nach der Zukunft offenes und ihr sich öffnendes Geschehen voraus, das wir Kultur als Innovation nennen können: als ständiges weiteres „Emporarbeiten" und „Höherbringen", in all jenen unablässigen Versuchen und Übungen, Erfindungen und Entdekkungen, aus denen Novationen: Erneuerungen und Neuerungen des allgemeinen Lebensstils, aber auch einer bestimmten Kunstübung oder Wissenschaftsbetrachtung immer wieder hervorgehen, ja selbst das, was Kant die „Revolution der Denkungs-

33 34 35

KANT Schriften zur Politik (Fn. 29) S. 35. KANT Schriften zur Politik (Fn. 29) S. 37. KANT Schriften zur Politik (Fn. 29) S. 35 und

S. 43; vgl. zur Aufklärung als „ d e m Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" auch: a a O , S. 53ff.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

965

art" heißt 36 . Die für ihn schon zu seiner Zeit die Voraussetzung des Fortbestandes der Menschheit überhaupt ist, ohne die er es nicht für gesichert hält, „ob nicht die Zwietracht, die unserer Gattung so natürlich ist, am Ende für uns eine Hölle von Übeln, in einem noch so gesitteten Zustande vorbereite, indem sie vielleicht diesen Zustand selbst und alle bisherigen Fortschritte der Kultur durch barbarische Verwüstungen wieder vernichten werde" 3 7 . Aber auch alle künftigen Fortschritte der Kultur stehen in diesem Zustand, in dem wir uns heute mitten inne befinden, in Frage, was Kant, im Blick auf das Verhältnis von Kultur und Staat, und seinen noch heute weithin unerfüllten Auftrag, in die berühmten Worte faßt, die über fast zwei Jahrhunderte hinweg auf unsere eigene Zeit vorweisen: „Wir sind in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Uberlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns schon für moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus. So lange aber Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eitlen und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwenden, und so die langsame Bemühung der inneren Bildung der Denkungsart ihrer Bürger unaufhörlich hemmen, ihnen selbst auch alle Unterstützung in dieser Absicht entziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten; weil dazu eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner Bürger erfordert wird. Alles Gute aber, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend" 3 8 . Alle Neutralität des Staates gegenüber der aus der Selbstsetzung der Zwecke: aus Autonomie sich hervorbringenden Kultur, schließt in diesen entscheidenden Hinsichten den Auftrag an den Staat als ein Kulturstaat mit ein, zu seinem Teil jenen Schritt zur Universalität der Kultur zu vollziehen, und so der Gefahr einer Zerstörung aller bisherigen Fortschritte der Kultur zu begegnen. Aber damit auch zugleich seine „Kräfte" auf den künftigen Fortschritt zu einer wahren Kultur der Humanität zu wenden, und deshalb der „inneren Bearbeitung jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner Bürger", „alle Unterstützung" zu leihen, da die Kultur, „nach wahren Prinzipien der Erziehung zum Menschen und Bürger zugleich, vielleicht noch nicht recht angefangen, viel weniger vollendet ist", wie Kant in der ausdrücklichen Nachfolge Rousseaus erklärt 39 . 36

Vgl. dazu KANT Schriften zur Politik (Fn. 29) S. 36, S. 45; aber auch S. 411, wo es hierzu schlicht heißt: „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d.i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten". Auch die „Revolution für die Denkungsart" ist dementsprechend für Kant auf das „moralische Ganze" der Menschheit: das „Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen". Vgl. dazu auch: Die Religion inner-

37 38 39

halb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Ausgabe Weischedel bei Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Bd. IV, 1966, S. 672 ff, S. 698 ff und S. 753 ff. KANT Schriften zur Politik (Fn. 29) S. 43. KANT Schriften zur Politik (Fn. 29) S. 44f. KANT Schriften zur Politik (Fn. 29) S. 93; in dieser Traditionslinie hat auch ADOLF ARNDT in seinen kulturpolitischen Ausführungen zum Godesberger Programm, unter ausdrücklicher Anknüpfung an Pufendorf

966

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Das aber heißt nichts weiter und nichts mehr, als daß sich in einem solchen Begriff von Kultur und einem solchen Verständnis von Staat die universale und humane Komponente der Kultur mit der liberalen und demokratischen Komponente des Staates zu dem verbinden, was wir einen freiheitlichen Kulturstaat nennen, der nicht nur seinen Ursprung, sondern auch seinen Auftrag in jenen geistigen Voraussetzungen und Zielsetzungen hat, die aus den demokratischen Revolutionen unserer Epoche der Moderne hervorgehen, von denen sie als noch unerfülltes Erbe ausgehen, und auf die sie als noch offener Fortschritt hinausgehen. 2. Der demokratische: freiheitliche Kulturstaatsbegriff der Epoche der Moderne Auch wenn wir heute ebenso, eine Erziehung der Bürger in einem Staate zum Völkerhaß statt zur Völkerverständigung, als mit einem Kulturstaat unvereinbar empfinden, werden wir doch diesen von Kant mit Rousseau beschworenen Auftrag des Staates, die Zerstörung aller bisherigen Fortschritte der Kultur zu hindern, und den künftigen Fortschritt der Kultur seiner Bürger zu fördern, schwerlich mit dem Kulturstaatsbegriff in Zusammenhang bringen. Hat sich doch nach heutigem Verständnis der Begriff der Kultur und damit auch des Kulturstaates immer mehr auf jenen Bereich der Staatlichkeit verengt und auf jene Art von Staatstätigkeit beschränkt, die nicht schon als solche der Demokratie, des Rechtsstaates, oder auch des Sozialstaates angesehen und angesprochen werden kann. Im Gegensatz zur gesamten Kulturstaatstradition, von der Antike an bis an die Schwelle der Epoche der Moderne auch noch bei Pufendorf und Kant, wird deshalb aus dem Begriff der Kultur und folglich auch des Kulturstaates alles ausgenommen, was mit den Kulturerscheinungen und Kulturerrungenschaften des Rechts zu tun hat, unbeschadet des gelegentlich bemühten Begriffes einer Rechtskultur, und des Redens über deren Verfall oder Fortschreiten. Dies hat mit jenem grundlegenden Vorgang innerhalb unserer Epoche der Moderne zu tun, den Jakob Burckhard in seinen sogenannten „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" an einer ungeheuren Fülle historischen Materials nachzeichnet: als die schrittweise Auflösung der ursprünglich vorhandenen Einheit von Staat, Religion und Kultur noch in den Staaten der Antike und des Mittelalters, durch Trennung der Religion vom Staate am Ende der Neuzeit, und danach durch Trennung der Kultur vom Staate in unserer Gegenwart, die mit der Epoche der Moderne einsetzt 40 . a) Das Verhältnis von Kultur und Staat im Zeitalter der Trennung der Kultur vom Staate Gegenstand dieser nachgelassenen Vorlesungsaufzeichnungen „Uber das Studium der Geschichte" sind eben diese „drei Potenzen": „Staat, Religion und Kultur", in „ihrem gegenseitigen Verhältnisse" zueinander, ihrem wechselseitigen und wechselnden Kultur als Ausdruck und Werkzeug der „Humanität" gesehen (Vgl. dazu: Humanität — Kulturaufgabe des Politischen in: A. ARNDT Politische Reden und Schriften, hrsg.

40

von H . Ehmke und C. Schmid, 1976, S. 255 ff). J. BURCKHARD Weltgeschichtliche Betrachtungen (Fn. 10) S. 106ff, S. 120ff.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

967

„Bedingung und Bedingtsein". Aber auch in Hinsicht auf die grundlegende Veränderung dieses Wechselverhältnisses, mit der Auflösung zunächst der Einheit von Staat und Religion, und danach auch der Auflösung der Einheit von Staat und Kultur. Damit auch der Ablösung des Rechtes von der Kultur, das Burckhard in einem luziden Diktum als „Reflex des Staates in die Kultur hinein" bezeichnet. Der am Ende dieser Entwicklung im Zeitalter des Positivismus, wo das Recht sich immer ersichtlicher und ausschließlicher mit dem Staate verbindet, und an ihn gebunden erscheint, deshalb nicht zufällig auch sprachlich aus der „Kultur" heraus- und auf den Staat zurückfällt 41 . Deshalb bestimmt Burckhard den Begriff der Kultur: als „Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen und als Ausdruck des geistig-sittlichen Lebens spontan zustande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste, Dichtungen und Wissenschaften. Sie ist die Welt des Beweglichen, Freien, nicht (notwendig) Universalen, desjenigen, was keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt" 4 2 . Womit ebenso das Nationale als mögliche „Welt" der Kultur eingeschlossen, und zugleich das Recht, das eben diese „Zwangsgeltung in Anspruch nimmt" aus dem Begriff der Kultur ausgeschlossen ist, wie dies gemeinhin auch heute, bis in die Unterscheidung von Rechtsstaat und Kulturstaat hinein, geschieht. Anders als in früheren Zeiten anfänglicher Einheit von Staat, Religion und Kultur, die in einem wechselseitigen Verhältnis gegenseitiger „Bedingung" und des „Bedingtseins" zueinander stehen, anders als auch in späteren Zeiten eines Bedingtseins der Kultur durch den Staat, wie noch im Ständestaat und Weltanschauungsstaat des Mittelalters43, aber auch noch, nach der Ablösung der Religion vom Staat und danach auch der Kultur von der Religion, in den „Großstaaten" und „Machtstaaten" der Neuzeit, ist das heutige Verhältnis von Kultur und Staat in unserer Epoche der Moderne als ein solches des Bedingtseins des Staates durch die Kultur zu bestimmen 44 . Nicht der Staat ist es, nach Burckhards Einsicht, der die „moderne Kultur" hervorbringt, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Epoche macht, sondern die damals in der „Aufklärungszeit" entstehende Kultur ist es, die den modernen Staat hervorruft, „als philosophes die Welt beherrschten: durch einen Voltaire, einen Rousseau u . a . ; der Contrat social des letztgenannten ist vielleicht ein größeres Ereignis als der Siebenjährige Krieg. Vor allem gerät der Staat unter die stärkste Herrschaft der Reflexion, der philosophischen Abstraktion: es meldet sich die Idee der Volkssouveränität, 41

42

J . BURCKHARD Weltgeschichtliche Betrachtungen (Fn. 10) S. 2 9 f und S. 84; vgl. dazu im einzelnen jetzt auch die Veröffentlichung der originalen Manuskripte der sog. Weltgeschichtlichen Betrachtungen: J. BURCKHARD, Uber das Studium der Geschichte, Ausgabe P. Ganz bei Beck, 1982, S. 2 5 4 f f ; zu Recht und Kultur noch immer grundlegend: J. KOHLER Das Recht als Kulturerscheinung, 1885. J. BURCKHARD Weltgeschichtliche Betrachtungen (Fn. 10) S. 2 9 ; und vgl. dazu die O r i -

43

44

ginalausgabe: J. BURCKHARD Studium der Geschichte ( F n . 4 1 ) S. 254, w o von Cultur als „Ausdruck des geistigen und gemüthlichsittlichen Lebens" die Rede ist. Zum „Bedingtsein der Kultur durch den Staat" im einzelnen: J. BURCKHARD Weltgeschichtliche Betrachtungen (Fn. 10) S. 8 4 f f . Zum „Bedingtsein des Staates durch die Kultur" in der Epoche der Moderne im einzelnen: J . BURCKHARD Weltgeschichtliche Betrachtungen (Fn. 10) S. 1 2 0 f f .

968

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

und sodann beginnt das Weltalter des Erwerbs und Verkehrs, und diese Interessen halten sich mehr und mehr für das Weltbestimmende" 45 . Diese „moderne Kultur", die im 18. Jahrhundert beginnt, eilt seit 1815 „in gewaltigem Vorwärtsschreiten der großen Krisis zu", wie Jakob Burchkard an der Schwelle unseres 20. Jahrhunderts feststellt. Er bezeichnet sie als die„große Krisis des Staatsbegriffs"46. Denn: Der Staat soll zwar „einesteils die Verwirklichung und der Ausdruck der Kulturideen jeder Partei sein, andernteils nur das sichtbare Gewand des bürgerlichen Lebens und ja nur ad hoc allmächtig! Er soll alles mögliche können, aber nichts mehr dürfen, namentlich darf er seine bestehende Form gegen keine Krisis verteidigen." Zugleich aber verlangt diese mit der modernen Kultur zur Macht auch über den Staat gelangte „Herrschaft der Reflexion" für „ihn eine stets größere und umfangreichere Zwangsmacht, damit er ihr ganzes sublimes Programm, das sie periodisch für ihn aufsetzt, verwirklichen könne; sehr unbändige Individuen verlangen dabei die stärkste Bändigung des Individuums unter das Allgemeine." Diese große Krisis des Staatsbegriffs haben wir inzwischen durchlebt und durchlitten. Aus ihr ist ein neuer Staat hervorgegangen, der aus eben dieser geschichtlichen Erfahrung seine erneuerte Form gegen jede Krisis verteidigen will, die aus neuen „Programmen" hervorgehen könnte, mit denen „sehr unbändige Individuen die stärkste Bändigung des Individuums unter das Allgemeine verlangen." Auch dieser neue Staat hat die im Zeitalter der Aufklärung aufkommende Autonomie der Kultur, gerade aus der gemachten Erfahrung einer Ubermächtigung der Kultur durch den Staat, ja einer Indienststellung der Kultur für den Staat mit Uberzeugung erneuert. Aber zugleich die damit verbundene Neutralität des Staates zu einer Art „bewaffneter Neutralität" verstärkt: gegen eine Ubermächtigung, ja Indienststellung des Staates für die „Kulturideen jeder Partei", deren „sublimes Programm" den demokratischen Prinzipien widerspricht, die unser Grundgesetz die einer „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" nennt. Aus dieser durch geschichtliche Erfahrung gewonnenen Einsicht, begreifen und behaupten wir heute das Verhältnis des Staates zur Kultur auch und gerade im heutigen Parteienstaat als ein solches der strengen Trennung von Staat und Kultur, wie auch des Staates von der Religion, und ebenso der Kultur von der Religion. Damit als ein solches der unbedingten Achtung der Autonomie der Kultur, die für uns letztlich in jener Autonomie der Person mit begründet ist, die unser Grundgesetz den Staat als die Menschenwürde der freien Selbstbestimmung zu achten und zu schützen verpflichtet 47 . Diesem Achtungsgebot, aber auch dieser Schutzpflicht entspricht, von der anderen Seite dieser strengen Trennung von Kultur und Staat her betrachtet, die unbedingte Beachtung der Neutralität des Staates, auch wo er nach dem heutigen Ver-

45

So J . BURCKHARD Weltgeschichtliche Betrachtungen (Fn. 10) S. 132; vgl. dazu auch das originale Manuskript: Studium der Geschichte (Fn. 4 1 ) S. 322ff.

46

Zu dieser aus der Krisis der „modernen Kul-

t u r " folgenden „Krisis des Staates" in der Epoche der Moderne: J . BURCKHARD Weltgeschichtliche Betrachtungen (Fn. 10) S. 134. 47

Vgl. dazu schon oben S. 195ff.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

969

ständnis eines Kulturstaates nicht nur zu kulturellem Schutz, sondern auch zu „kultureller Förderung", nicht nur zu negativer Abwehr von Eingriffen, sondern „positiver Pflege von Kunst und Wissenschaft" verpflichtet ist. b) Das Verständnis eines Kulturstaates im Zeitalter der Autonomie der Kultur und der Neutralität des Staates Was heute Kulturstaat ist, kann nicht unabhängig davon bestimmt werden, was heute Kultur ist. Wir erkannten Kultur, und damit den Kulturstaat der Epoche der Moderne, als von dem bestimmt, was wir Autonomie der Kultur und dementsprechende Neutralität des Staates genannt haben. Aus dieser Autonomie der Kultur, die Burckhard auch als die Spontaneität von Kultur zu deren Hauptmerkmal macht, durch das sie sich von anderen Hervorbringungen des Geistes, wie etwa auch der Organisation eines Staates unterscheidet, geht schon nach dem klassischen: universalen und humanen Begriff der Kultur, ein Prozeß der Kultur hervor, der nur zweifach zu erfassen und zu umschreiben ist. Durch das, was wir Kultur als Tradition genannt haben: als Fortdauer des Bestehenden, aber auch als „Überlieferung der Aufklärung" (Kant); und durch das, was wir Kultur als Innovation nennen: als Erneuerung des Bestehenden, als Fortschreiten der Aufklärung, aber auch als „Fortschritt zum Besseren" (Kant), oder als „Erweiterung des Bestehenden" schlechthin, dem wir als einem Grundzug und Grundgesetz der Kultur, von der Antike an, allüberall begegnen48. Schon bei der Wahrung und Bewahrung der Kultur in jenem kollektiven Prozeß, den wir als Tradition bezeichnen, kommt dem heutigen Staat nach unserem Verständnis, bei aller Neutralität, eine zunehmende Rolle und Aufgabe mit dem Range eines Verfassungsauftrages zu: bei Schutz und Pflege von Kulturgut, jenes „auf uns gekommenen" Gutes der Kultur, dem „Erbe", ja den „Schätzen", von denen die Galerien und Museen unserer Epoche der Moderne voll sind. Dieses Gut steht zu Recht in der Hut des Staates, jedenfalls überall da, wo diese Wahrung und Bewahrung von Kultur als Tradition die Kräfte Einzelner, aber auch die der Gesellschaft übersteigt. Nicht anders steht es bei jener anderen Seite dieses Prozesses der Kultur, den wir als Innovation bezeichnet haben, und den auch sonst die Anthropologie wie Soziologie von heute als den „traditionalen Aspekt" und den „innovativen Aspekt" von Kultur unterscheidet, wie Peter Häberle eindrucksvoll herausgearbeitet hat 49 . Auch bei dieser ,,kulturellen Förderung und positiven Pflege" der Kultur, die sich, im Unterschied zum Vorgesagten, auf das bezieht, was man heute auch das ,,lebendige Kulturgeschehen" zu nennen pflegt, wächst dem Staat zunehmend eine Rolle und Aufgabe zu, die nicht minder den Rang eines Verfassungsauftrages, auch und gerade in einem freiheitlichen Kulturstaat hat. Ist doch die hierbei sich vollziehende 48

Zur „Erweiterung des Bestehenden" als dem offenbaren Grundzug und Grundgesetz schon der Ägyptischen Religion und Architektur jetzt grundlegend: E. HORNUNG Tal der Könige, 1982, S. 37ff.

49

P. HÄBERLE Kulturstaat (Fn. 4) S. 27ff; vgl. zur „Sache der Kultur" auch schon: Kulturverfassungsrecht (Fn. 7) S. 13ff.

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6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen O r d n u n g

oder besser: „ereignende" Innovation nicht einfach mehr nur als kollektiver Prozeß zu erklären, und so auch nicht einfach von Staats wegen zu „veranstalten": zu „befördern" und zu „betreiben", wie dies bei der Pflege und Förderung von Kultur als Tradition, bis hin zur sog. Traditionspflege geschehen kann. Kultur als Innovation kann sich demgegenüber nur ereignen und überdauern in einem Staate, der ein bestimmtes ,, Verhältnis zur Kultur" hat, das mehr ist als nur bloße Neutralität des Staates, sondern das ein entsprechendes „ Verständnis eines Kulturstaates" voraussetzt, das wir als Solidarität des Staates bezeichnen wollen. Darunter begreifen wir die Anteilnahme und das Wohlwollen des Staates auch und gerade gegenüber diesem ebenso faszinierenden wie irritierenden Aspekt der Kultur als Innovation, die wir nicht besser kennzeichnen können, als mit dem schönen Worte Kants vom „interesselosen Wohlgefallen", und die wir heute gelegentlich, bis in Regierungsvorlagen und Kabinettsberatungen hinein, als ,,Kulturfreundlichkeit" etwa einer Gesetzgebung im allgemeinen, aber im besonderen auch als die „Kunstfreundlichkeit" oder „Wissenschaftsfreundlichkeit" eines Staates bezeichnen. Ein solches Verhältnis des Staates, gerade auch gegenüber dem lebendigen Geschehen von Kultur, in Erziehung und Bildung, in Kunst und Wissenschaft, setzt ein Verständnis von Kultur voraus, das noch heute nicht allgemein heißen kann. Es begreift den Prozeß der Kultur, in dem sich, und durch den sich, die Innovation von Kultur „ereignet", als etwas, was sich aller parteilichen Einflußnahme und staatlichen Einwirkung entzieht und entziehen muß. Weil sich in ihm mehr vollzieht, oder jedenfalls „vollbringen" kann, als was von Staats wegen veranstaltet, des Interesses einer Partei oder der Ideologie einer Weltanschauung wegen gewünscht oder auch nur „erwünscht" sein kann. Denn begreifen wir den Prozeß der Kultur aus der unsere Epoche der Moderne gründenden Überzeugung, aus der auch die Revolution der Demokratie entspringt, als die Selbstschöpfung des Menschen in einem Universum der Kultur, mit dem er den Kosmos der Natur und sein „Reich der Notwendigkeit" auf ein „Reich der Freiheit" hin überschreitet, dann stellt sich bei allem solchem „Fortschritt" die Gretchenfrage, wo denn das dabei „Schöpferische" herkommt, als dem auch jede Kultur als Innovation „entspringt". Damit stehen wir vor der für jede Konzeption von Kultur und entsprechend auch des Kulturstaates entscheidenden Frage: ob wir für solche Innovation nach unserer geschichtlichen Erfahrung und grundsätzlichen Einsicht vor allem anderen auf den schöpferischen Einzelnen setzen. Auch wenn wir uns bewußt bleiben, daß seine Produktionen stets mitbedingt sind durch die Verhältnisse der Gesellschaft, in denen solche Kreation sich ereignet. Und daß daraus neue Tradition durch Innovation nur entsteht, wenn durch sie ein Geschehen der Resonanz in einzelnen Gesellschaften oder der gesamten Menschheit ausgelöst wird, dem wir unter dem Namen der Rezeption in der Geschichte vielfältig begegnen. Das aber auch in allen Renaissancen, als erneute Aneignung und erneuerte Fortwirkung, umgeht. Oder: ob wir den Einzelnen, das Individuum, als Produzenten von Kultur grundsätzlich für ersetzbar und verzichtbar halten. Aus der Vorstellung, daß seine „Hervorbringungen": Produktionen, doch letztlich auch durch die Gesellschaft: als

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

971

Kollektiv früher oder später ebenso „erbracht" werden könnten. Kurz: Daß es auf das Individuum in der Kultur eigentlich nicht ankommt. Auch nicht auf das alle anderen überragende Talent, noch das „einmalige" Genie. So meint Karl Marx, im Eifer seiner Auseinandersetzung mit Max Stirners Vorstellung vom „Einzigen", selbst über Raffael und Mozart sagen zu können: „ E r meint, niemand könne an Deiner Stelle Deine musikalischen Kompositionen anfertigen, Deine Malerentwürfe ausführen, Raffaels Arbeiten könne Niemand ersetzen." Er „könnte doch wohl wissen, daß nicht Mozart selbst, sondern ein Anderer Mozarts Requiem größtenteils angefertigt und ganz ausgefertigt, daß Raffael von seinen Fresken die wenigsten selbst ,ausgeführt' hat" 5 0 . Ein Nachweis für die Ersetzbarkeit des Individuums im Prozeß der Kultur, der nur den einen Mangel hat: daß eben diese Unersetzbarkeit noch heute von der ersten „fremden" Notenzeile an, von dem ersten „andern" Pinselstriche an, als ein Fehlen dieses „Einzigen" zu bemerken ist. Auch und gerade wenn man, wie hier Marx in der Nachfolge Ludwig Feuerbachs, vom Bild des Menschen als einem ,,gegenständlichen Gattungswesen", oder wie er in seinen „Thesen ad Feuerbach" sagt: als einem ,,Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" ausgeht, ergibt sich daraus folgerichtig eine genau entgegengesetzte Auffassung des Verhältnisses von Individualität und Kultur. Zu der es schon bei Feuerbach heißt: „ D a s menschliche Wesen ist ein unendlicher Reichtum von verschiedenen Prädikaten, aber eben deswegen ein unendlicher Reichtum von verschiedenen Individuen. Jeder Mensch ist gleichsam ein neues Prädikat, ein neues Talent der Menschheit. Dieselbe Kraft, die in Allen, ist wohl in jedem Einzelnen, aber so bestimmt und geartet, daß sie als eine eigene, eine neue Kraft erscheint" 51 . Woraus sich nicht nur ein bestimmtes, für einen freiheitlichen Kulturstaat grundlegendes Verständnis der unersetzbaren und unaufgebbaren Stellung und Bedeutung der Individualität im Prozeß der Kultur, sondern auch der Pluralität ergibt, in der sich etwa „ d i e " Kunst und Wissenschaft, durch diesen oder jenen Menschen, entfaltet und gestaltet. Auch die Pluralität erlangt in einer solchen, nicht mehr wie früher idealistischen, sondern realistischen Konzeption von Kultur einen von Grund auf veränderten Rang und Wert. Sie ist nicht mehr einfach eine mehr oder weniger „vollendete" und „gekonnte" Vielfältigkeit der Ausführung und Ausgestaltung des nach seiner Idee einen und selben, das Malerei oder Musik, oder auch Poesie heißt. Wobei die Produktionen und ihre Produzenten als bloße Exempla und Exemplare eines Gattungsprozesses verstanden sind, in dem sich eine bestimmte Wesensidee verwirklicht. An deren mehr oder weniger perfekter Realisierung man dann auch messen und werten könnte, was Ge-

50

51

MARX Die deutsche Ideologie, in: Die Frühschriften, Ausgabe S. Landshut bei Kröner, 1971, S. 473. Zu Ludwig Feuerbachs „Philosophischer Anthropologie" im einzelnen: W. MAIHOFER Konkrete Existenz, in: FS für E. Wolf,

hrsg. Von Th. Würtenberger u . a . , 1962, S. 2 4 6 f f , insbes. S. 256f; zum geistigen Verhältnis von Marx zu Feuerbach weiterführend: W. SCHUFFENHAUER Feuerbach und der junge Marx, 5. A u f l . , 1972, S. 132ff.

972

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

lungenes oder Mißlungenes, Mißratenes oder gar „Entartetes" in dieser oder jener „Kunstgattung" sei. Eben dieses neue Verständnis von Individualität und Pluralität hat, mit dem Zusammenbruch der Gattungsmetaphysik und Gattungsethik des klassischen Idealismus auf der Schwelle unserer Epoche der Moderne, auch unser Verständis von Kultur von Grund auf umgekehrt. Eben diese „Kehre" auch aller Wertbetrachtung, bis in die von Kunst und Wissenschaft hinein, ist der tiefere Grund für unser gewandeltes: offenes Verständnis von Kultur, das den heutigen Kulturbegriff bestimmt. Denn sieht man in diesem Prozeß der Kultur, allüberall wo sich in ihm über Tradition hinaus Innovation ereignet, das „Individuelle" als das eigentlich „Produktive": das „Treibende" wie Feuerbach sagt, in dessen „Treiben": dem Produkt, sich dann ein „Allgemeines" hervorbringt, wenn es eben nicht nur individuelles Produkt, sondern überindividuelle: universelle Produktion ist, die auch für Andere Sinn gibt, Bedeutung hat, zu Denken gibt, Anschauung vermittelt, Gewißheit verschafft, als Wahrheit einleuchtet. Das meint es, wenn für Feuerbach und mit ihm die ganze nachidealistische Philosophie und Theorie, in Umkehrung des klassischen Denkansatzes von Piaton an bis zu Hegel hin, das Individuelle nicht mehr aus dem Allgemeinen, sondern das „Allgemeine aus den Individuen" entspringt52. Daraus aber folgt, daß das allgemeine Wesen des Menschen, wie es sich im Prozeß der Kultur in den verschiedensten Hinsichten der Erziehung und Bildung, der Kunst und Wissenschaft „zu Stande" bringt, erst in und durch die unendliche Vielfältigkeit und Vielgestaltigkeit dieses „Treibens" der Individuen sich „offenbart", von denen jedes durch die eigene Art wie es „sein Wesen treibt", wie wir auch in der Umgangssprache so hintergründig sagen, dem Allgemeinen ein Besonderes hinzufügt. Das aber ist zugleich auch der eigentliche Grund, daß sich in solchem „Treiben", oder wie wir heute sagen: „Betrieb", auch der Kunst und Wissenschaft, das Jeweilige Menschliche und Menschen Mögliche, nur im Ganzen offenbart. Also auch niemals sich: „die Kunst in einem Künstler, die Philosophie in einem Philosophen", wir fahren fort: die Malerei in einem Maler, die Musik in einem Musiker, aber auch die Physik in einem Physiker, auch dem Größten nicht, „absolut verwirklichen kann", wie schon Feuerbach gegen Hegel anmerkt 53 . Deshalb ist auch der einzige Maßstab, an dem sich, im Unterschied zu Wahngebilden eines Einzelnen herausstellt, daß damit Gültiges, Wertes, Dauerndes, „Bleibendes gestiftet" ist, wie Hölderlin vom Dichter sagt: ob es als Werk der Kultur auch ein Universelles und nicht bloß Individuelles: Unmitteilbares und Unvermittelbares zum Ausdruck bringt. Ob es mit anderen Worten, und sei es auch nur im verspäteten Verstehen irgend einer der Nachwelten, auch der noch ausstehenden, auch anderen 52

Vgl. zu dieser „Identifizierung der Gattung" und entsprechenden „Individualisierung des Allgemeinen" im einzelnen: W. MAIHOFER Konkrete Existenz (Fn. 51) S. 255 ff; und zur Umkehrung des Denkansatzes der nachidea-

53

listischen Philosophie auch im Naturrechtsdenken von heute: Naturrecht als Existenzrecht, 1963, S. 15ff. Dazu nochmals: W. MAIHOFER Konkrete Existenz (Fn. 51) S. 157.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

973

Menschen als nur dem Urheber, etwas sagen, zeigen, mitteilen, vermitteln kann, etwa in der Musik auch von Andern nacherlebt, nachempfunden werden kann, „mehr als Empfindung, denn als Tongemälde" (Beethoven). In jener ganz anderen Weise der „Mitteilung" und „Vermittelung" als die, um die es in den Wissenschaften geht: als den „großen Sammlerinnen und Ordnerinnen dessen, was auch ohne ihr Zutun „tatsächlich vorhanden ist". Haben sie doch, wie Burckhard sagt: „nicht mit dem auch ohne sie Vorhandenen zu tun, auch keine Gesetze zu ermitteln (weil sie eben keine Wissenschaften sind), sondern ein höheres Leben dazustellen, welches ohne sie nicht vorhanden wäre" 5 4 . Einfacher: ein menschliches Leben und Erleben auch des „Schönen und Erhabenen" (Schiller) im Geist oder Klang, in Bild oder Bewegung, das ohne solche „Künste" tatsächlich „nicht vorhanden", oder auch nur vorstellbar und darstellbar wäre. Sie erweitern so, wie schon die Techniken unserer Zivilisation auf ihre Weise, die Wirklichkeit der Welt des Menschen. Auch wenn ihre Wirklichkeit, wie die aller Kultur, in einer anderen Welt des Menschen liegt, als der „tatsächlich vorhandenen". Und sie schaffen in dieser universalen Sprache nicht nur eine humane "Wirklichkeit, die ohne diese Künste tatsächlich nicht vorhanden wäre", sondern machen in dieser Uberwirklichkeit der Menschenwelt bisher Unerhörtes hörbar, bisher Unsagbares sagbar, wie in der Musik, in der Poesie. Darum nennt Burckhard „Kunst und Poesie" zu Recht geradezu „eine zweite ideale Schöpfung": „das einzig irdisch Bleibende", „der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit enthoben", „eine Sprache für alle Nationen"; und: „ein größter Exponent des betreffenden Zeitalters, so gut wie die Philosophie" 55 . Das, was somit Wissenschaften und Künste, wie alle Kultur gemeinsam auszeichnet und verbindet, bei allen Unterschieden der einzelnen Bereiche der Wissenschaften wie der Künste, ist so das Übereinzeln Mitteilbare, Allgemein Vermittelbare: das Universale, und zugleich das Menschlich Wirkliche, Wirklich Menschliche: das Humane, das im Ereignis und Werk der Kultur Ausdruck sucht, Anklang findet. O b in „höheren" oder „niederen" Sphären oder Stadien der Kultur, in Äußerungen und Errungenschaften der sog. Hochkultur oder Primitivkultur, der heute sog. Popkultur oder gar der Subkultur. c) Der Kulturstaat der Moderne im Zeitalter einer Weltkultur und der Erwerbskultur Anders als in der moralischen Dimension einer Kultur: ihrem Fortschritt im Bewußtsein, aber auch in der Verwirklichung der Menschenwürde und Menschenrechte, scheint es in der ästhetischen Dimension einer Kultur dabei ein „Fortschritt zum Besseren" im eigentlichen Sinne nicht zu geben, wie uns das Aufblühen und Vergehen einer Kunstäußerung, im Vergleich ihrer Errungenschaften der archaischen, klassischen und nachklassischen Perioden durchgängig und überdeutlich zeigen. Hier ist überall ein „Experimentum mundi" (Bloch) zu beobachten, das im Durchversuchen von

54

J. BURCKHARD Weltgeschichtliche Betrachtungen (Fn. 10) S. 60f.

55

J. BURCKHARD Weltgeschichtliche Betrachtungen (Fn. 10) S. 61.

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6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Möglichkeiten der Äußerung und Gestaltung im Zuendebringen bestimmter Möglichkeiten, zu einem ständigen Überschreiten des Bestehenden bis an die Grenzen dieser Möglichkeiten führt. Inwieweit damit die moderne Kultur insgesamt an bestimmten Grenzen angelangt ist, an denen es „nicht mehr weiter geht", ist aus der Sicht unserer Zeit nicht zu entscheiden. Wenn auch unverkennbar ist, daß wir in der Endzeit einer noch bis in die Spätromantik klar erkennbaren und bezeichenbaren Kulturepoche, also in einer Übergangsepoche leben. Deren Kultur durch eine Eigentümlichkeit gekennzeichnet ist, die eine Folgewirkung des heutigen Weltzustandes und der gegenwärtigen Menschheitsentwicklung ist, und deshalb 50 in einer früheren Zeit und Welt nicht gegeben war. Wir wollen diese historische Situation als die einer Weltkultur bezeichnen. Darunter verstehen wir nicht nur unsere aus der universalen Renaissance aller. Zeiten schöpfende und lebende Kultur der Gegenwart, die, wie noch keine Zeit vor ihr, zur Vergegenwärtigung der Kulturen aller Zeiten neigt und drängt. Mit einem Furor der Rezeption und einem Talent der Restauration, wie noch keine zuvor. Aber auch zu einer gleichzeitigen Vergegenwärtigung aller Kulturen der Welt führt, in der sich eine humane Koexistenz auch der bisher entlegensten Kulturen der Welt vorbereitet, in einem nie gekannten, über die Medien und Techniken unserer modernen Industriezivilisation eröffneten Verkehr und Austausch auch der entferntesten Weltgegenden miteinander. Eine beginnende Weltkultur in diesem zweifachen Sinne, die schon Jakob Burckhard um die Jahrhundertwende heraufkommen und auch unsere Welt der Kultur verwandeln sieht. Auch wir finden diese Kultur der Moderne heute, noch weiter fortgeschritten als damals, „im Besitz der Traditionen aller Zeiten, Völker und Kulturen, und die Literatur unserer Zeit ist eine Weltliteratur. Der höchste Gewinn (so fährt er fort) ist hierbei auf Seiten der Betrachtenden. Es besteht eine großartige, allseitige, stillschweigende Abrede, ein objektives Interesse an alles heranzubringen, die ganze vergangene und jetzige Welt in geistigen Besitz zu verwandeln Mit dieser Entwicklung der modernen Kultur zur Weltkultur im buchstäblichen Sinne, ist bei uns zugleich eine zweite Verwandlung der „Kulturlandschaft" im Gange, die wir die hin zur Erwerbskultur nennen wollen. Sie stellt nach der vollzogenen Verselbständigung der Kultur, durch Loslösung der Kultur vom Staat, und nach der eingetretenen Verweltlichung der Kultur, nach ihrer Loslösung von der Religion, das Kardinalproblem der Kultur unserer Epoche der Moderne dar, mit dem sich auch ein freiheitlicher Kulturstaat beschäftigen und auseinandersetzen muß. Ist damit doch die endlich vom Staat unabhängig gewordene Kultur in eine neue Abhängigkeit: zur Wirtschaft geraten. Die andererseits, wo diese Wirtschaft „mit Kultur nichts zu tun haben will", noch nicht einmal als Mäzen von Kultur: die Kultur, und die in ihr „Schaffenden" in eine neuerliche Angewiesenheit auf staatliche Kulturförderung und Kulturpflege bringt.

56

J . BURCKHARD Weltgeschichtliche Betrachtungen (Fn. 10) S. 68; Hervorhebung von mir.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

975

Unsere Kultur ist Erwerbskultur in einem schon von Burckhard beschriebenen Sinne, weil sie die Kultur einer Epoche ist, die er als das „Zeitalter des Erwerbs und Verkehrs" bezeichnet. Und weil „diese Interessen sich mehr und mehr für das Weltbestimmende halten", auch und gerade in ihrem Verhältnis zur Kultur. Woraus ein Kulturbetrieb und eine Kulturvermarktung folgt, die nach dem Prinzip der Rentabilität organisiert ist, das überall da funktioniert, wo es einen Markt von Konsumenten gibt, der die Preise für die Waren und Leistungen: Produkte und Produktionen dieses Kulturkommerzes zahlen kann. Damit produziert sich Kultur überall da, wo sie sich ökonomisch rentiert, nach den Gesetzen des Marktes gleichsam von selbst. Das eine Problem solcher Kommerzkultur unserer Erwerbsgesellschaft liegt in der unverkennbar damit verbundenen Gefahr, nicht nur der Manipulation, sondern auch der Deformation der Kultur durch Kommerz, wofür die heutige sog. Kunstszene anschauliche Beispiele bietet. Daß die Schnellfertigkeit und Rastlosigkeit dieses Kulturbetriebs nicht nur alle „Naivität der Produktion ernstlich bedroht", sondern die Kreativität dieser für bestimmte Kulturkonsumenten arbeitenden Kulturproduzenten selbst infrage stellt, hat schon Burckhard gesehen. Er meint: „Daß die Produktion (d. h. die echte, denn die unechte lebt leicht) dennoch fortdauert, ist nur durch den stärksten Trieb erklärbar" 57 . Eben diese nach dem Prinzip der Rentabilität im System unserer Ökonomie produzierte Kultur funktioniert jedoch nur solange und soweit, als sie sich rentiert. Das führt zu einem zweiten, nicht minder fundamentalen Problem dieser Erwerbskultur. Zur Gefahr nämlich, daß damit Kultur überall da nicht stattfindet: ausfällt, wo sie „kein Geschäft ist", oder doch nur so stattfindet, „daß sie ein Geschäft ist". Läßt man diesen Dingen so ihren Lauf, dann folgt daraus auch die Einschränkung des Kulturerwerbs auf das, was sich für die Produzenten von Kultur lohnt, und was die Konsumenten von Kultur bezahlen können oder „wollen". Damit aber setzt nicht mehr die viel beschworene Autonomie der Kultur, die wir für einen freiheitlichen Kulturstaat für grundlegend erkannt haben, sondern die Rentabilität der Ökonomie der Kultur ihre Inhalte wie Grenzen. Wo diese Grenze von Kultur als Kommerz überschritten ist steht somit der heutige Kulturstaat unausweichlich vor der Frage, ob er dieses „natürliche" Defizit an Kultur in unserem System der Ökonomie einfach hinnehmen soll und darf. Oder ob in ihm nicht doch jenseits dieser Grenze, wo Kultur ohne die Freiheit bedrohende Manipulation oder gar Deformation nach den Regeln der Ökonomie sich von selbst herstellt und „trägt", die eindeutige Verpflichtung des Staates nicht nur zur Neutralität, sondern zur Solidarität mit der Kultur, und das heißt, mit den sie „Schaffenden" und in ihr „Schaffenden" beginnt, die wir so gerne im Doppelsinne die „Kulturschaffenden" nennen. Aus der für einen freiheitlichen Kulturstaat verpflichtenden Einsicht, daß zwar Kultur als Tradition: als Kulturgüterschutz oder Kulturpflege als ein kollektiver Prozeß wo erforderlich auch weithin vom Staat veranstaltet werden kann, einschließlich 57

J . BURCKHARD Weltgeschichtliche Betrachtungen (Fn. 10) S. 69.

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6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

der nach den Prinzipien unserer freiheitlichen Demokratie geforderten Partizipation an Kultur: der Teilhabe aller Bürger an diesem „Erbe", diesen „Gütern", diesen bleibenden Errungenschaften und fortdauernden Lebensgrundlagen, der uns erst wahrhaft in den Stand der Menschheit versetzenden, erst wirklich zu einem Leben als Menschen in Stand setzenden zweiten Natur der Kultur. Vermag so der Staat im Prozeß der Tradition von Kultur selbst die effektive Garantie der notwendigen Kulturpflege und der gebotenen Kulturbeteiligung der Bürger, vermittels staatlicher oder öffentlicher Träger von Kulturanstalten und Kulturveranstaltungen der verschiedensten Art zu übernehmen, so kann er im Prozeß der Innovation von Kultur, den wir das lebendige Kulturgeschehen nennen, selbst nur dadurch für die Kultur wirken, daß er „die kulturelle Förderung und positive Pflege", etwa von Kunst und Wissenschaft, unter strenger Beachtung seiner Neutralität aus einem echten Geiste der Solidarität betreibt. Und so denen eine reale Chance gibt, die hier und dort als Einzelne in diesem immer auch individuellen Prozeß der Innovation von Kultur stehen und leben, in voller Autonomie der Kultur zu arbeiten und zu „schaffen". Zugleich aber auch den nicht professionellen, sondern dilettierenden Liebhaber der Künste oder Freund der Wissenschaft: den Bürger, an diesem Prozeß der Kultur weitestmöglich teilhaben oder gar teilnehmen zu lassen, wofür in unserer heraufkommenden Freizeitgesellschaft noch ein weites Feld schöpferischer Betätigung des Einzelnen offen ist. Alle diese Tätigkeiten des freiheitlichen Kulturstaates können, gerade wo sie die Individualität der Kultur und die mit ihr notwendig verbundene Pluralität der Kultur in dem oben beschriebenen Sinne Ernst nehmen, nicht auf einen selektiven und elitären, sondern nur auf einen universalen und humanen Begriff von Kultur begründet und aus ihm gerechtfertigt werden. Dieser Konzeption stellt sich Kultur in der Welt und Zeit in der wir leben, die wir als die Übergangszeit einer experimentellen Kultur bezeichnen können, nicht als eine jeweils durch Tradition geschlossene und abgeschlossene Veranstaltung dar, sondern als ein Prozeß, der ständig der Innovation sich offenhält und eröffnet. Kurz: Der demokratische: freiheitliche Kulturstaat unseres Grundgesetzes kann nur auf einen universalen: offenen Kulturbegriff begründet und aus ihm gerechtfertigt werden58. Aus diesem Vorverständnis und an diesem Leitfaden wollen wir die nachfolgende Erörterung des Kulturstaates des Grundgesetzes aufnehmen. Auch in diesem freiheitlichen Kulturstaat vollzieht sich heute, wie in allem Rechts- und Staatsdenken, jene „kopernikanische Wende", von der auch die Väter unseres Grundgesetzes mit jenem Obersatz ihres gesamten Verfassungsentwurfs ausgehen, der da heißt: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen" 59 !

58

In der Sache zum gleichen Ergebnis kommt PETER H Ä B E R L E m i t s e i n e m v o n i h m s o b e -

nannten „offenen Kulturkonzept"; vgl. dazu jetzt: Kulturstaat (Fn. 4) S. 30ff; und schon Kulturverfassungsrecht (Fn. 7) S. 14f.

59

Dazu grundsätzlich W. MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 25) S. 9ff; vgl. dazu jetzt auch: oben S. 195 ff.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

977

Was nicht zuletzt auch für alle Kultur in diesem Staat und für das Verhältnis des Staates zu dieser Kultur heißen muß: Die Kultur ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um der Kultur willen 60 ! Aber auch: Der Staat ist um der Kultur willen da, nicht die Kultur um des Staates willen!

II. Der Kulturstaat des Grundgesetzes Geht man von einem universalen: offenen Begriff von Kultur und entsprechend von einem demokratischen: freiheitlichen Begriff des Kulturstaates aus, der vom Tätigkeitsbereich des Rechtsstaates, ebenso wie des Sozialstaates zu unterscheiden und abzuheben ist, dann verbleiben für die Tätigkeit eines solchen engeren Begriffes von Kulturstaat, wie ihn auch das Grundgesetz voraussetzt, die folgenden Bereiche: — Bildung, einschließlich des Schulwesens und der Erwachsenenbildung; — Wissenschaft, einschließlich des Hochschulwesens und der Forschung; — Kunst, einschließlich des Schutzes von sog. Kulturgut und der Pflege von Kulturdenkmalen; — Religion, einschließlich des Verhältnisses von Staat und Kirche und den übrigen Religionsgemeinschaften 61 . Dem werden weitere diesen Hauptbereichen angrenzende Sachbereiche hinzugerechnet, wie Presse und Rundfunk (Hörfunk und Fernsehen), Jugend und Sport, Bibliotheks- und Archivwesen, aber auch Naturschutz und Landschaftspflege 62 . Da Bildung und Wissenschaft im nachfolgenden 2. Abschnitt, Kirche und Religionsgemeinschaften im 3. Abschnitt dieses Kapitels gesondert behandelt werden, auch Presse und Rundfunk als „Massenmedien" schon im 6. Abschnitt des 3. Kapitels grundsätzlich erörtert werden, legt die nachfolgende Darstellung der Aufteilung der Zuständigkeiten wie der Inhalte der Staatstätigkeit entsprechend den besonderen Schwerpunkt auf jenen Sachbereich innerhalb der Kultur, den wir als Kunst bezeichnen, zu dem vor allem die sog. „Schönen Künste" wie Literatur und Musik, wie Malerei und Plastik, wie Theater und Film gehören.

60

Eben diese unbedingte „Parteinahme" für den Menschen auch als Zweck von Staat und Kultur, unterscheidet ein solches dem freiheitlichen Kulturstaat zugrundeliegendes Staatsverständnis grundsätzlich von dem der „Rechtsphilosophischen Parteienlehre"

61

n o c h GUSTAV RADBRUCHS, d e r in einer sei-

ner relativisch für gleichgültig erklärten „Rechts- und Staatsauffassungen": der „transpersonalen Auffassung", genau umgekehrt die letzte Rechtfertigung eines Kulturstaates aus einem zum höchsten Zweck erklärten „absoluten" Wert der Kultur und damit der sog. „Werkwerte" für möglich

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hält (Rechtsphilosophie, Fn. 16, S. 146ff, insbes. S. 151). Dazu TH. OPPERMANN Kulturverwaltungsrecht (Fn. 9), der entgegen dem üblichen Verständnis folgerichtig die Kirchen und übrigen Religionsgemeinschaften aus dem Begriff eines Kulturverwaltungsrechts ausscheidet, was der oben erörterten Loslösung nicht nur der Kultur vom Staate, sondern auch der Kultur von der Religion in der Epoche der Moderne entspricht. Vgl. dazu im einzelnen: TH. OPPERMANN Kulturverwaltungsrecht (Fn. 9).

978

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Auf ihn allein beziehen wir im übrigen auch den heutigen engeren Begriff einer Kulturpolitik, im Unterschied ebenso zur Bildungspolitik, zur Wissenschaftspolitik oder zur Forschungspolitik, wie zur Kirchenpolitik und zu einem Teil (Film, Rundfunk, Fernsehen) der heute sogenannten Medienpolitik 63 .

1. Zuständigkeitsordnung und Aufgabenteilung im Kulturstaat des Grundgesetzes Die Aufteilung der Zuständigkeiten im Kulturstaat des Grundgesetzes ist bis heute ungeklärt und umstritten. Dies hat seinen tieferen Grund in der historischen Situation, in der das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland entstanden ist. Wie sich aus dem Memorandum der Besatzungsmächte an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates ergibt, war es der erklärte Wille der Besatzungsmächte, daß der Bund keine Befugnisse in kulturellen Angelegenheiten erhalten sollte 64 . Dennoch hat der Verfassunggeber dem Bund am Ende vereinzelte Zuständigkeiten in kulturellen Angelegenheiten zugewiesen. a) Zuständigkeiten des Bundes im Kulturstaat des Grundgesetzes So gehören nach damaliger wie späterer Aufteilung der Zuständigkeiten im Kulturstaat des Grundgesetzes zum Bereich des Bundes insbesondere: — die ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis über auswärtige Angelegenheiten (Art. 73 Nr. 1), die nach allgemeiner Auffassung die deutschen Kulturinstitute, einschließlich der Auslandsschulen und der dort beschäftigten Dienstkräfte, aber auch die kulturelle Entwicklungshilfe, einschließlich der hierbei im Ausland tätigen Lehrkräfte, mitumfaßt 65 ; von den die inneren Angelegenheiten berührenden ausschließlichen Gesetzgebungsbefugnissen sind vor allem die über das Urheber-

63

Hierzu besonders: TH. HEÜSS Kräfte und Grenzen einer Kulturpolitik, 1951; W. v. KNOERINGEN Kulturpolitik als Staatspolitik, in: Studien und Berichte der katholischen Akademie in Bayern, hrsg. von K. Forster, 1958, S. 169ff; zur Entstehung des Begriffes der Kulturpolitik aus dem der Kulturpolizei: M. ABELEIN Die Kulturpolitik des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik Deutschland, ihre verfassungsgeschichtliche Entwicklung und ihre verfassungsrechtlichen Probleme, 1968; im übrigen auch: J . NOLTE Kulturpolitik. Von einem engen, auch der heutigen Ressortaufteilung auf Bundesebene entsprechenden Begriff der Kulturpolitik, der zurecht mit der Kunst zugleich die Medien: Film, Rundfunk und Fernsehen miteinbezieht, geht ausdrücklich

64

65

aus auch der Bericht der Deutschen UnescoKommission: Kulturförderung und Kulturpflege in der Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Ausgabe, 1974. Vgl. dazu: WENKE Die Kulturverwaltung im Verhältnis von Bund und Ländern, in: F S für H . NAWIASKY, 1956, S. 269ff. D a z u : TH. MAUNZ Die Abgrenzung des Kulturbereichs zwischen Bund und Ländern, in: FS für G . MÜLLER, 1970, S. 2 5 7 f f . ; vgl. zur auswärtigen Kulturpolitik auch: L. FROESE Auswärtige Kulturpolitik — kulturelle Außenpolitik, in: Die Deutsche Schule im Ausland, hrsg. von CH. W. SCHNEIDER, 1969, S. 7 f f ; und besonders jetzt: H . HAMM-BRÜCHER Kulturbeziehungen weltweit, Ein Werkstattbericht zur auswärtigen Kulturpolitik, 1980.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

979

und Verlagsrecht (Art. 73 Nr. 9) zu nennen, die zwar nur mittelbar, aber doch entscheidend auch in den kulturellen Bereich hineinwirken 66 . — die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis zum Schutz des deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung in das Ausland (Art. 74 N r . 5); aber auch in den Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen (Art. 74 Nr. 6), welche die Erhaltung und Pflege des diesem Personenkreis zugehörigen Kulturgutes mitumfaßt; ebenso wie die über Kriegsgräber und Gräber anderer Opfer des Krieges und der Opfer von Gewaltherrschaft (Art. 74 Nr. 10a), welche insoweit zur Denkmalspflege im Ausland wie Inland ermächtigt. — die Rahmengesetzgebungsbefugnis über die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse und des Films (Art. 75 N r . 2); aber auch der Rechtsverhältnisse der im öffentlichen Dienste der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechtes stehenden Personen (Art. 75 Nr. 1), soweit dem Bund nicht bereits nach Art. 74a Abs. 1 die konkurrierende Gesetzgebung, oder gar nach Art. 73 Nr. 8 die ausschließliche Gesetzgebung zusteht, was nicht zuletzt auch die in der Kulturverwaltung von Bund, Ländern und Gemeinden tätigen Angehörigen des öffentlichen Dienstes miterfaßt. Darüber hinaus ist dem Bund eine besondere Gesetzgebungszuständigkeit zur Regelung der Rechtsnachfolge in das Vermögen früherer Länder und Körperschaften zugewiesen, sofern ein überwiegendes Interesse des Bundes oder das besondere Interesse eines Gebietes es erfordert (Art. 135 Abs. 4). Unter Bezugnahme auf diese Zuständigkeitsregelung hat das Bundesverfassungsgericht das von einigen Landesregierungen als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar angefochtene Gesetz zur Errichtung einer Stiftung Preußischer Kulturbesitz vom 25. Juli 1957 als eine durch ein überwiegendes Bundesinteresse gerechtfertigte Regelung erklärt. Danach war der Bundesgesetzgeber auf Grund des Art. 135 Abs. 4ff berechtigt, „ohne Zustimmung des Bundesrates ehemaliges Landesvermögen von der Art des Preußischen Kulturbesitzes auf eine bundesunmittelbare Stiftung zu übertragen" 6 7 . Die dabei für die Bejahung eines ,¡überwiegenden Bundesinteresses" gegebene Begründung hat allgemeine Bedeutung. Folgert das Bundesverfassungsgericht doch aus dem „gesamtdeutschen, national-repräsentativen Charakter" des „preußischen Kulturbesitzes", daß es sich bei der Zusammenführung und Fortführung dieser ehemals preußischen Sammlungen um eine „gesamtdeutsche Aufgabe" handelt. Weshalb dem Bund „aus diesem Grunde ein legitimes Interesse an einer von den Absätzen 1 bis 3 des Art. 135 G G abweichenden Regelung, deren Ziel es ist, die national-reprä66

Vgl. dazu den Maßnahmekatalog der Bundesregierung etwa im Bereich des Urheberund Wettbewerbsrechts, Schriftenreihe des BMI Bd. 7, 1976, S. 27ff; und jetzt: FINKE/ MÜNCHBERG/LEPSEY

67

Künstlersozialversi-

cherungsgesetz, 1982. BVerfGE 10, 20; vgl. zum folgenden auch: aaO, S. 41, unter ausdrücklicher Bezugnah-

m e auf A . RÖTTGEN D i e K u l t u r p f l e g e u n d

der Bund, in: Staats- und Verwaltungswissenschaftliche Beiträge, hrsg. von der Hochschule für Verwaltungswissenschaft Speyer, 1957, S. 191 f; und im besonderen jetzt: H . G. WORMIT Stiftung Preußischer Kulturbesitz, DVB1. 1981, S. 752ff.

980

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

sentative Funktion der ehemals preußischen Sammlungen über die gegenwärtige Spaltung Deutschlands hinaus dem gesamtdeutschen Kulturleben zu erhalten, nicht abgesprochen werden" könne. Daran bleibt, über den Anlaß hinaus, für die Zuständigkeit des Bundes im Kulturstaat des Grundgesetzes richtungsweisend, daß diese hier ausdrücklich vom Kriterium der „gesamtdeutschen Aufgabe", aber auch der nationalen Repräsentanz legitimiert wird. Was nicht nur für die Pflege eines solchen „Kulturbesitzes", oder des „deutschen Kulturgutes" überhaupt gelten muß, soweit diese als „gesamtdeutsche A u f g a b e " anzusehen sind, sondern auch für die Förderung des lebenden Kulturgeschehens in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt, sofern und soweit es sich dabei um eine Frage „nationaler Repräsentanz" handelt. Dabei kann der Bund, wie Arnold Köttgen überzeugend dargetan hat, sich nicht einfach auf eine „natürliche Bundeszuständigkeit" allein damit berufen, daß eine „bestimmte Kultureinrichtung", aber auch ein bestimmtes Kulturgeschehen „überregionalen Charakter" hat 6 8 . Gibt es doch, wie auch das Königsteiner Abkommen gezeigt hat, überregionale Einrichtungen, die gerade nicht als nationale, auch nicht als gesamtdeutsche Einrichtungen angesehen und behandelt werden können. Die fortbestehende Unklarheit liegt hier deshalb nicht so sehr bei den Zuständigkeiten des Bundes im Kulturbereich, bei denen es sich um gesamtdeutsche Aufgaben, oder um Fragen nationaler Repräsentanz handelt. Für sie kann dem Bund, wie Köttgen zurecht feststellt, ebensowenig die Zuständigkeit abgesprochen werden wie eine „natürliche Bundeszuständigkeit im Bereich nationaler Symbole" zu bestreiten ist, etwa nationaler Gedenktage oder Festtage. Woraus Köttgen, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Rudolf Smend, für die Einrichtungen und Träger solcher nationaler Integration insgesamt folgert: „Zwischen derart nationalen Festen und einem Nationaltheater bestehen jedoch lediglich graduelle Unterschiede". Unklarheiten bestehen darum heute in der Sache nicht bei den Zuständigkeiten des Bundes, die sich aus dem Kriterium der nationalen Repräsentanz oder jedenfalls der gesamtdeutschen Aufgabe legitimieren, sondern bei jenem Zwischenbereich zu denen bloß überregionalen Charakters, die wir mit dem vieldeutigen Begriffe der gesamtstaatlichen Aufgaben umschreiben. Bei diesen zwar bereits überregional relevanten aber noch nicht national repräsentativen, auch nicht gesamtdeutsch bedeutsamen Einrichtungen, Gütern, Veranstaltungen oder auch Geschehnissen unserer Kultur, handelt es sich bald um „ K u l t u r " , deren Schutz und Förderung wir treuhänderisch den Gliedstaaten überlassen, wie selbst bei Theatern der Länder, ja auch der Gemeinden mit weit überregionaler Relevanz; bald gesamthänderisch durch die Gliedstaaten insgesamt wahrnehmen, wie durch die auch in Kulturkompetenzen im engeren Sinne hineinreichende Kultusministerkonferenz 6 9 ; bald gemeinschaftlich durch Gliedstaa-

68

69

D a z u und zum folgenden: A . KÖTTGEN Kulturpflege (Fn. 67) S. 191. Zur Stellung der Kultusministerkonferenz im einzelnen: TH. OPPERMANN Kulturver-

waltungsrecht (Fn. 9) S. 565ff; dazu auch: TH. KNOKKE Die Kultusministerkonferenz und die Ministerpräsidentenkonferenz, 1966.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

981

ten und Gesamtstaat wahrzunehmen versuchen, wie etwa im Wissenschaftsrat, oder im früheren Bildungsrat, aber auch im Nationalkuratorium für Denkmalspflege, einer Einrichtung, der Bund, Länder und Gemeinden als Träger angehören. So wie es Fälle einer natürlichen Alleinzuständigkeit des Bundes gibt, die auch nach den strengen Voraussetzungen einer ungeschriebenen Zuständigkeit aus der Natur der Sache begründet sind, so muß es auch die Fälle einer natürlichen Mitzuständigkeit des Bundes da geben, wo ohne Mitwirkung des Bundes eine solche gesamtstaatliche Aufgabe nicht zureichend erfüllt werden kann. Denn auch hierfür muß als Kriterium für eine Kompetenz aus der Natur der Sache jene in Anknüpfung an das Schrifttum der Weimarer Zeit vom Bundesverfassungsgericht wiederaufgenommene Voraussetzung gelten: „Schlußfolgerungen aus der Natur der Sache müssen begriffsnotwendig sein und eine bestimmte Lösung unter Ausschluß anderer Möglichkeiten sachgerechter Lösung zwingend fordern" 70 . Dazu reicht die bloße Zweckmäßigkeit einer bundeseinheitlichen Regelung für eine Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes aus der Natur der Sache ebensowenig aus71 wie die bloße Überregionalität einer kulturellen Veranstaltung für die Verwaltungszuständigkeit des Bundes 72 . Anderseits hat das Bundesverfassungsgericht für die Finanzierungskompetenz des Bundes in dem angrenzenden Bereich der Jugendhilfe zwar ebenso festgestellt, daß sich die Zuständigkeit des Bundes keinesfalls auf die Förderung regionaler oder lokaler Bestrebungen erstrecken könne, wohl aber auf solche, „die der Aufgabe nach eindeutig überregionalen Charakter haben" und so „ihrer Art nach nicht durch ein Land allein wirksam gefördert werden können". Das Gericht erklärt eine Förderung durch den Bund demnach für zulässig „ z . B . bei zentralen Einrichtungen, deren Wirkungsbereich sich auf das Bundesgebiet als Ganzes erstreckt, bei gesamtdeutschen Aufgaben und bei internationalen Aufgaben" 73 . Hier wird so unterhalb der Schwelle der nationalen Repräsentanz nach Außen (bei sog. internationalen Aufgaben) und der gesamtdeutschen Aufgaben auch für die dritte Kategorie gesamtstaatlicher Aufgaben „eindeutig überregionalen Charakters" aus der Natur der Sache eine Zuständigkeit des Bundes unter der doppelten Voraussetzung angenommen, daß die „Bestrebung" durch ein Land allein ohne den Bund „nicht wirksam gefördert werden" könnte, und zugleich der „ Wirkungsbereich " der geförderten Einrichtung „sich auf das Bundesgebiet als Ganzes erstreckt". Um dennoch fortbestehende Unklarheiten über die Finanzverantwortung von Bund und Ländern im Bereich der Kultur auf dem Felde gesetzesfreier Verwaltung künftig auszuschließen, ist mit dem Entwurf einer Verwaltungsvereinbarung über die Finanzierung öffentlicher Aufgaben von Bund und Ländern im sogenannten „Flurbereinigungsabkommen" der Versuch unternommen worden, die ungeschriebenen Zu-

70

B V e r f G E 11, 8 9 ( 9 9 ) ; 12, 2 0 5 ( 2 5 1 ) ; 2 2 , 1 8 0 (217).

71

B V e r f G E 26, 246 (257).

72

BVerfGE 12, 265 (251 f); vgl. dazu auch TH. M A U N Z , i n : SÜSTERHENN ( H r s g . )

Föderali-

stische Ordnung, 1961, S. 91: „Das Urteil

73

hat keineswegs für alle kulturellen Fragen zwischen Bund und Ländern das letzte Wort gesprochen". Vgl. dazu und zum folgenden: BVerfGE 22, 180 (217); Hervorhebungen von mir.

982

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

ständigkeiten des Bundes im Kulturstaat des Grundgesetzes nach den Kriterien der Natur der Sache (und des Sachzusammenhanges) zu konkretisieren. Auch wenn bisher der Form nach eine Einigung zwischen Bund und Ländern über diese aus der Natur der Sache folgenden Verwaltungszuständigkeiten und die nach Art. 104a Abs. 1 G G hieraus sich ergebenden Finanzierungskompetenzen des Bundes nicht erfolgt ist, so stellt dieses Flurbereinigungsabkommen doch in der Sache eine zutreffende Beschreibung der Rechtslage dar 7 4 . Danach gehört zur Zuständigkeit des Bundes nach § 1 Abs. 1 N r . 1 dieses Entwurfs: Die „Wahrnehmung der Befugnisse und Verpflichtungen, die im bundesstaatlichen Gesamtverband ihrem Wesen nach dem Bund eigentümlich sind: (gesamtstaatliche Repräsentanz)"15. Ausdrücklich ist so hier weder von „gesamtdeutscher Aufgabe" noch gar von „nationaler Repräsentanz" die Rede. In die Befugnis und Verpflichtung des Bundes fällt hier somit, ähnlich der zuletzt erörterten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, auch schon der Bereich kultureller Aufgaben, der unterhalb der Schwelle gesamtdeutscher Aufgaben oder gar nationaler Repräsentanz nach Außen (internationaler Aufgaben) liegt, also bei den gesamtstaatlichen Aufgaben, die eindeutig überregional und zugleich repräsentativ sind für den Gesamtstaat unserer Bundesrepublik Deutschland. Deshalb kann sich nach der Protokollnotiz zu dieser Kompetenzdefinition die gesamtstaatliche Repräsentation auch beziehen auf geschichtlich, wissenschaftlich, künstlerisch und sportlich besonders bedeutsame Einrichtungen und Veranstaltungen, in denen Rang und Würde des Gesamtstaates oder der deutschen Nation zum Ausdruck kommen. Eine Untersuchung der geschriebenen wie ungeschriebenen Zuständigkeiten des Bundes im Kulturstaat des Grundgesetzes führt so zu dem Ergebnis, daß dem Bund außer den geschriebenen Gesetzgebungszuständigkeiten eine aus der Natur der Sache folgende ungeschriebene Verwaltungszuständigkeit und entsprechende Finanzierungskompetenz unbestreitbar auch für die nationale Repräsentanz nach Außen: des Kulturstaates Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Ausland, also bei internationalen Aufgaben zusteht, ebenso wie für gesamtdeutsche Aufgaben der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zum anderen Teil des geteilten Deutschland: der Deutschen Demokratischen Republik; aber auch für gesamtstaatliche Aufgaben im Bereich der Kultur zugestanden werden muß, die eindeutig überregional und zugleich repräsentativ sind für den Gesamtstaat der Bundesrepublik Deutschland, also bei nationalen Aufgaben des Bundes im Verhältnis zu den Ländern, die wir auch als solche der nationalen Repräsentanz nach Innen bezeichnen können.

74

Ä h n l i c h : SCHMIDT-BLEIBTREU/KLEIN K o m -

mentar zum G G , 3. Aufl., 1973, Art. 30, Rdn.

3;

und:

K.

VOGEL/KIRCHHOFF,

in:

Bonner Kommentar, Art. 104a, 1971, Rdn. 61. 75

Vgl.

GORONCY, D i e

Bundeskompetenzen

für die Forschungsförderung nach dem Entwurf des sog. Flurbereinigungsabkommens,

WissR 197, S. 135, S. 140ff; HIERONYMUS Deutsche Nationalstiftung für Kunst, WissR 1975, S. 2 0 3 , S. 2 0 9 f f ; SCHMIDT-BLEIBTREU/ KLEIN K o m m e n t a r ( F n . 74) R d n . 3; v. MAN-

GOLDT/KLEIN Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., 1974, Vorbemerkung VII. 1. c. vor Art. 70.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates

(MAIHOFER)

983

Damit schreiben wir auch dem Bund sowohl in den auswärtigen Beziehungen im Bereich der Kultur wie im inneren Verhältnis zu den Gliedstaaten der Länder als Staat das zu, was man Kulturhoheit zu nennen pflegt. h) Die sogenannte Kulturhoheit der Länder im Kulturstaat des Grundgesetzes Im Verfassungsstreit um das niedersächsische Schulgesetz, dem sog. Konkordatsstreit, hat das Bundesverfassungsgericht, in ausdrücklichem Gegensatz zur Weimarer Verfassung, nach den Grundentscheidungen des Grundgesetzes „die Länder zu ausschließlichen Trägern der Kulturhoheit" erklärt 76 . Dieser hier gebrauchten Redeweise von der ,,Kulturhoheit der Länder" hat schon Theodor Maunz zwei gewichtige Einwendungen entgegengesetzt. Einmal, daß der Gebrauch des Wortes „Hoheit im Zusammenhang mit Kultur" zu dem Mißverständnis führen könnte, „bei Erfüllung kulturpolitischer Aufgaben werde mit staatlicher Zwangsgewalt gearbeitet", oder gar „dem Staat komme eine Lenkung der Kultur zu" 7 7 . Um solche Mißverständnisse auszuschließen, gibt Maunz zu erwägen, die Bezeichnung „Kulturhoheit" zu ersetzen durch das Wort „Kulturbereich", „als Bezeichnung des Aufgabenumfanges des Staates in kulturellen Angelegenheiten". Zum anderen sieht sich die Redeweise von der „Kulturhoheit der Länder" auch „dem Einwand gegenüber, das die Länder von Anbeginn der Bundesrepublik an nicht für alle Aufgaben des Kulturbereichs zuständig gewesen sind und es heute noch weniger sind". Um auch hier ein drohendes Fehlverständnis auszuschließen, das bis heute verbreitet ist, hält Maunz es für „unbedenklich von einem Kulturbereich des Bundes oder auch, wenn man so will, von einer ,Kulturhoheit des Bundes' zu sprechen, die ungeachtet ihres größeren oder geringeren Umfangs von nicht unbedeutenderem rechtlichen Interesse ist, als der Kulturbereich oder die Kulturhoheit der Länder". Versteht man darum Kulturhoheit im heutigen Sinne als die „Wahrnehmung öffentlicher Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Rechtsprechungsbefugnis", also als die legislative, exekutive oder judikative Ausübung von Staatsgewalt, das aber heißt gerade im Kulturbereich auch als eine „leistende oder gewährende Gesetzgebung und Verwaltung", dann kommen wir bei der zugleich vertikalen und horizontalen Gewaltenteilung im Verfassungsstaat und Bundesstaat unserer Bundesrepublik Deutschland zu einer zwischen Bund und Ländern geteilten Kulturhoheit. Zu ihr stellt Maunz in seiner Untersuchung der „Abgrenzung des Kulturbereichs zwischen dem Bund und den Ländern" bis heute gültig fest: „Wie im Bundesstaat die Souveränität geteilt ist zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten, so ist auch der Kulturbereich — und damit in dem beschriebenen Sinn die Kulturhoheit — sowohl beim Bund wie auch bei den Ländern, jeweils in beschränktem Umfang, vorhanden, und zwar bei beiden so, daß sich die Bereiche wechselseitig ergänzen und ihre Summe den Gesamtbereich kultureller Staatsbetätigung ergibt". 76 77

BVerfGE 6, 309. Vgl. dazu und zum folgenden: T H . M A U N Z Die Abgrenzung des Kulturbereichs zwi-

sehen Bund und Ländern (Fn. 65) S. 257ff, Hervorhebung von mir.

984

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Vom „Verteilungsmaßstab" für die Zuständigkeitsaufteilung zwischen den beiden Kulturbereichen her gesehen verhalten diese sich dabei „wie die Ausnahme zur Regel", was einer Ausgangsvermutung für die Länderzuständigkeit im Kulturbereich entspricht, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nach dem Ergebnis dieser Erörterung der Frage der sogenannten Kulturhoheit können wir darum festhalten, daß eine solche „Hoheit" oder Zuständigkeit im Kulturbereich für die Wahrnehmung öffentlicher Gesetzgebungs- Verwaltungs- und Rechtsprechungsbefugnisse ebenso dem Bund wie den Ländern, in jeweils eingeschränktem Umfange im Verhältnis von Regel und Ausnahme zukommt. Was eine Kulturhoheit des Bundes im Bereich der Gesetzgebung, der Verwaltung wie der Rechtsprechung mit einschließt, die der Bund selbst im Bereich der oben aufgeführten ausschließlichen wie konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten nur zu einem geringen Teil bisher ausgeschöpft hat 78 . Aber auch bei den unbestreitbaren, wenn auch umstrittenen Verwaltungszuständigkeiten und entsprechenden Finanzierungskompetenzen nicht wirklich genutzt hat. c) Der eigenständige Verfassungsauftrag des Grundgesetzes

der Gemeinden im

Kulturstaat

Die heute gängige Redeweise von Bund und Ländern als den alleinigen Trägern unserer Staatlichkeit, der auch wir bisher gefolgt sind, versteht auch die Kulturverfassung unseres Bundesstaates als eine Zuständigkeitsordnung und Aufgabenverteilung zwischen dem Gesamtstaat: dem Bund, und den Gliedstaaten: den Ländern, in der die Gemeinden allenfalls als „Gliederungen der Länder", außerhalb der allein mit Bund und Ländern gleichgesetzten Staatlichkeit vorkommen 79 . Dabei ist in der heutigen Verfassungswirklichkeit ebenso unserer Kulturverfassung wie schon der Finanzverfassung die zunehmend eigenverantwortliche Rolle auch und gerade der Gemeinden als Träger von Kulturpolitik, bei der Wahrung unseres Kulturbesitzes in Museen und Archiven, in der Pflege unseres Kulturerbes bis hin zur Erhaltung und Erneuerung „kultureller Ensembles" bei der sog. Denkmalspflege, aber auch bis zur Förderung lebendigen Kulturgeschehens in Theatern und Galerien unübersehbar. Zurecht stellt deshalb Peter Häberle nunmehr die grundsätzliche Frage, ob nicht die „Kulturpolitik in der Stadt" als die Wahrnehmung eines gegenüber Bund und Ländern „eigenständigen Verfassungsauftrages" der Gemeinde begriffen werden müsse 80 . 78

79

Vgl. dazu nochmals: TH. MAUNZ Die Abgrenzung des Kulturbereichs zwischen Bund und Ländern (Fn. 65) S. 295. Vgl. zur Stellung der Gemeinden im Staatsaufbau: K . STERN Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1977, S. 293 ff, mit umfassendem Schrifttumsnachweis; vgl. zur eigenständigen Stellung der Gemeinden im Stufenbau der staatlichen Ge-

80

waltenteilung jetzt grundlegend: J . BURMEISTER Verfassungstheoretische Neukonzeption der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, Studien zum öffentlichen Recht und zur Verwaltungslehre, hrsg. von K. Stern, Bd. 1 9 , 1977. Dazu und zum folgenden im einzelnen: P. HÄBERLE Kulturpolitik (Fn. 9) S. l f f , S. 3 f f

und

S . 12

ff.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

985

Häberle gelangt bei der Darstellung der „empirischen Seite" der heutigen „Verfassungs- und Verwaltungswirklichkeit" der „Kulturpolitik der Stadt" zunächst zu einer Bestandsaufnahme jener „Politiken", „die von der Stadt und ihren Organen ausgehen: also die kommunalen Kulturaufgaben nicht nur wie die Schulen im übertragenen Wirkungskreis, sondern solche Kulturpolitiken im eigenen Wirkungskreis, die die Bühnen, Museen, Ausstellungen, Konzerte und Festivals, Preise" usw. betreffen. Dem fügt er die von ihm als „Kulturpolitik in der Stadt" bezeichneten, von den Bürgern selbst: privaten Gruppen wie öffentlichen Vereinigungen ausgehenden, spontanen wie organisierten kulturellen Aktivitäten hinzu, in denen sich als „ein Stück gelebter kultureller Freiheit" jene kulturelle Individualität wie Pluralität in Vereinsleben wie Denkmalspflege, in Bürgerinitiative wie Gemeindepolitik entfaltet, die wir als das Kulturleben und Kulturgeschehen einer Stadt, in Geschichte und Gegenwart vor Augen haben. Folgerichtig stellt sich Häberle angesichts dieser in ihrem Reichtum an Individualität wie Pluralität, an lebendiger Tradition wie wagender Innovation so überwältigenden Fülle und Kraft gemeindlichen Kulturlebens und Kulturgeschehens auch für die „normative Seite" die Frage, wie denn die diesem „eigenen Wirkungsbereich" der Gemeinden und in den Gemeinden entsprechende Rechtsgrundlage im Kulturverfassungsrecht unseres Bundesstaates beschaffen sei? Zwar finden sich in den Länderverfassungen vereinzelte „Kulturstaatsaufträge" für die Gemeinden, wie die in Art. 140 der Bayerischen Verfassung: „Kunst und Wissenschaft sind von Staat und Gemeinden zu fördern", dessen Abs. 2 lautet: „Sie haben insbesondere Mittel zur Unterstützung schöpferischer Künstler, Gelehrter und Schriftsteller bereit zu stellen, die den Nachweis ernster künstlerischer und kultureller Tätigkeit erbringen". Bis heute fehlt es jedoch selbst in den Verfassungen der Länder an einem eigenständigen und umfassenden Kulturverfassungsrecht der Gemeinden, die diese ausdrücklichen Kulturverfassungsaufträge für die Gemeinden als Folgerungen eines vorausgesetzten Kulturstaatsbegriffs verstehen. Nicht ergiebiger ist auch die Sichtung der in der Verfassungsrechtsprechung zur kommunalen Neugliederung sich findenden „fragmentarischen Hinweise auf kommunales Kulturverfassungsrecht", wie Häberle im einzelnen darstellt. Wenn kulturelle Gesichtspunkte überhaupt Erwähnung finden, bleibt ihnen, gegenüber den vorrangigen ökonomischen Gesichtspunkten, meist ein entscheidendes Gewicht versagt. Bezeichnend für diesen Nachrang der Kultur selbst in gemeindefreundlichen und selbstverwaltungsbewußten Landstrichen sind Bezugnahmen auf das „kulturelle Wohl" innerhalb des „kommunalen Gemeinwohlauftrages" wie in Art. 10 Abs. 2 der Gemeindeordnung Baden-Württembergs, der lautet: „Die Gemeinde schafft in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit die für das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wohl ihrer Einwohner erforderlichen öffentlichen Einrichtungen" 81 .

81

Vgl.

dazu:

P.

HÄBERLE

Kulturpolitik

( F n . 9 ) ; und gegen diesen normativen N a c h rang den empirischen V o r r a n g solcher „ K u l -

turpolitik in der S t a d t " , bis in die Gemeindehaushalte hinein ( a a O , S. 16 A n m . 3 4 ) .

986

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Nicht anders als im Gesetzesrecht der Länder steht es damit auch im Gesetzesrecht des Bundes, in denen wie etwa in § 1 Abs. 6 Bundesbaugesetz von „kulturellen Bedürfnissen" nach den „sozialen Bedürfnissen der Bevölkerung" oder wie etwa in § 1 Abs. 4 Nr. 1 des Städtebauförderungsgesetzes davon die Rede ist, daß „die bauliche Struktur in allen Teilen des Bundesgebietes nach den sozialen, hygienischen, wirtschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entwickelt" werden solle. Obwohl so, wie bemerkt, etwa in der Bayerischen Verfassung der Kulturstaat eindeutig und ausdrücklich vor den Rechtsstaat und Sozialstaat gestellt wird, stehen die „kulturellen Belange" im Gesetzesrecht des Bundes wie der Länder den sozialen, ja selbst den wirtschaftlichen Belangen der Bevölkerung durchgängig nach 82 . Eine vorbildliche Regelung stellt demgegenüber Art. 29 Abs. 1 des Grundgesetzes dar, wo es heißt: daß bei der Neugliederung des Bundesgebietes „die landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit sowie die Erfordernisse der Raumordnung und der Landesplanung zu berücksichtigen" sind 83 . Trotz dieses dem empirischen gelegentlich nachhinkenden normativen Befundes halten auch wir es für berechtigt, von einem „eigenständigen Verfassungsauftrag" der Gemeinden zur Kulturpolitik, von einem „kulturellen Auftrag der Gemeinden", von „kommunaler Kulturhoheit" zu sprechen. Auch wenn in der Tat diese Kulturhoheit der Gemeinden bislang verdeckt blieb „durch die dem Bund gegenüber zu verteidigende Kulturhoheit der Länder", aber auch im „Streit um die kommunale Neugliederung" mit ihrer „Uberbetonung des Effizienzgedankens" die kulturverfassungsrechtliche Seite im Hintergrund blieb 84 . Aus alledem läßt sich mit Häberle folgern: „Die Kulturverfassung in der Bundesrepublik Deutschland kennt als amtliche Kulturträger den Bund, die Länder und die Gemeinden". Häberle sieht diese Kulturhoheit auch und gerade der Gemeinden verbürgt durch Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes, der den Gemeinden das Recht gewährleistet, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln", sowie durch die entsprechenden Selbstverwaltungsgarantien der Länder, welche die Kulturselbstverwaltung im Kommunalbereich mit einschließt. So führt unsere Erörterung der Zuständigkeitsordnung und Aufgabenverteilung im Kulturstaat des Grundgesetzes am Ende zu der Einsicht, daß in ihm Bund, Länder und Gemeinden als eigenständige Träger der Kulturhoheit bei der gemeinsamen Auf-

82

Zu den „kulturellen Belangen" als „Schlüsselbegriff" des näheren: P. HÄBERLE Kulturpolitik ( F n . 9 ) S. 18.

83

Zum Begriff der „kulturellen Zusammenhänge" bei der Neufassung der Neugliederungsregelung des Art. 29 G G jetzt: EVERS/ BERKA in: Bonner Kommentar, Art. 2 9 n. F . , 1980, Rdn. 4 4 ; vgl. dazu auch P. HÄBERLE Kulturpolitik (Fn. 9) S. 18ff.

84

So erstmals richtungsweisend: P. HÄBERLE Kulturpolitik ( F n . 9 ) S. 2 3 ; vgl. auch aaO, S. 1; zum folgenden auch: aaO, S. 13; zur Uberbetonung des Effizienzgedankens besonders: HOPPE Verfassungsrechtliche und verwaltungspolitische Aspekte der kommunalen Gebietsreform, in: Grundfragen der Gebiets- und Verwaltungsreform in Deutschland, hrsg. von v. Wallthor und F . Petri, 1973, S. 73ff.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des m o d e r n e n Staates (MAIHOFER)

987

gäbe zusammenwirken, als die sich Kultur in einem Staat versteht, der als „kooperativer" oder gar als „unitarischer" Bundesstaat verfaßt ist 85 . In ihm gibt es so zwar eine „Kulturhoheit der Länder", keinesfalls jedoch ein „Kulturmonopol der Länder", weder nach der Seite des Bundes, noch nach der Seite der Gemeinden 86 . Die sogenannte Kulturhoheit der Länder erweist sich im Gegenteil als durch originäre Kompetenzen: unabgeleitete und damit eigenständige Verfassungsaufträge, ebenso von der Seite des Bundes wie der Gemeinden her begrenzt und eingeschränkt87. Was darum zunächst über die Ausgangsvermutung zugunsten einer Kompetenz der Länder, nach dem Kriterium von Regel und Ausnahme gesagt worden ist, gilt nach dem für die föderative Komponente unserer freiheitlichen Demokratie grundlegenden Prinzip der Subsidiarität88 ebenso auch zugunsten der originären Kompetenz der Gemeinden. Deshalb muß nach dem föderativen Prinzip einer subsidiären Legitimation auch und gerade für jede Staatstätigkeit im Kulturstaat des Grundgesetzes gelten: Was im jeweiligen Kulturbereich besser und wirksamer durch eine Kulturtätigkeit der Gemeinden an Kultur erhalten und gepflegt, geschützt und gefördert werden kann, hat die Vermutung für sich zum eigenständigen Verfassungsauftrag der Gemeinden zu gehören, ebenso wie entsprechend zu dem der Länder gegenüber dem Bunde. Aber ebenso auch muß umgekehrt in einem solchen nach dem Subsidiaritätsprinzip verfaßten und gestalteten Kulturstaat der allgemeine Grundsatz gelten: daß alle Kompetenz, so wichtig ihre Zuweisung als Verbürgung von Gewaltenteilung für die Freiheit von Kultur auch immer ist, als zugleich Arbeitsteilung der Staatstätigkeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden jeweils zugleich nach dem Kriterium begründet und gerechtfertigt werden muß, daß diese der Sache der Kultur förderlich und nicht hinderlich ist.

85

86

87

D a z u grundlegend: K . HESSE D e r unitari-

88

Z u m Subsidiaritätsprinzip als einem R a n g -

sche Bundesstaat, 1 9 6 2 , S. 12ff.

folgeprinzip,

D a z u n o c h m a l s : v. MANGOLDT/KLEIN B o n -

unten nach o b e n , mit der Maßgabe des V o r -

ner G r u n d g e s e t z

rangs der kleineren Einheit verteilt, n o c h im-

(Fn.

75)

Vorbemerkung

das die Zuständigkeiten

von

V I I l c , 2 vor A r t . 7 0 ; und besonders T H .

mer grundlegend: v. NELL-BREUNING Subsi-

MAUNZ D i e A b g r e n z u n g des Kulturbereichs

diaritätsprinzip,

zwischen B u n d und L ä n d e r n ( F n . 6 5 ) S. 2 5 8 .

1957ff,

Zögerlich z u m ebenso „eigenständigen V e r -

a u c h : MAUNZ/DÜRIG G r u n d g e s e t z A r t .

fassungsauftrag" des B u n d e s : P.

HÄBERLE

R d n . 5 4 ; w o g e g e n : BARION D i e sozialethi-

Kulturpolitik ( F n . 9 ) S. 2 3 , der den B u n d

sche Gleichschaltung der L ä n d e r und G e -

„als kulturpolitische T r ä g e r e i n h e i t " auf die

meinden durch den B u n d (in: D e r

„auswärtige Kulturpolitik ( A r t . 32 A b s . 1,

1 9 6 4 , S. 15), t r o t z der in A r t . 2 8 A b s . 2 G G

Bd.

7,

Staatslexikon, Sp.

8 2 6 f f ; vgl.

6.

Aufl.,

besonders 1,

Staat,

73 Ziff. 1 G G ) " beschränken will, was mit

statuierten Primärzuständigkeit der G e m e i n -

der v o n den Ländern nicht nur tolerierten,

den für die „örtlichen

sondern

nur einen „subsidiären Z u g des G G " erken-

mit

dem

in

vielfältigem

Bund

Zusammenwirken

akzeptierten

Verfassungs-

Angelegenheiten",

nen will; ebenso: K . STERN B o n n e r

Kom-

wirklichkeit, einer inwärtigen Kulturpolitik

mentar, A r t . 2 8 , R d n . 2 ; noch kritischer: K .

des Bundes,

HESSE G r u n d z ü g e ( F n . 2) S. 8 5 .

schwerlich auch rechtlich

vereinbaren ist.

zu

988

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Hat unser freiheitlicher Kulturstaat doch nicht nur den Verfassungsauftrag und das Staatsziel als Bundesstaat ein größtmögliches Maß an horizontaler Gewaltenteilung und föderativer Arbeitsteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu gewährleisten, sondern als Verfassungsstaat zugleich den gemeinsamen Auftrag und das umfassende Ziel, diese Freiheit der Kultur nicht einfach nur als eine formale Freiheit zu garantieren, sondern als materiale Freiheit zu realisieren, ohne welche die Sache der Kultur ein leeres Wort und ein schöner Schein bleibt. Was aber heißt dies: die Freiheit, die unser Kulturstaat meint, nicht nur als gesetzlich gesicherte Freiheit zu gewährleisten, sondern als gesellschaftlich erfüllte Freiheit zu verwirklichen? 89 2. Inhalte und Grenzen der Staatstätigkeit im Kulturstaat des Grundgesetzes Geht man auch hier von einem universalen: o f f e n e n Begriff von Kultur und einem demokratischen: freiheitlichen Begriff des Kulturstaates aus, dann stellt sich nun auch für die konstitutionelle, wie zuvor für die föderative Komponente unserer Demokratie, also nun auch für den Verfassungsstaat wie zuvor für den Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland, die über Zuständigkeitsordnung und Aufgabenteilung hinausweisende Frage nach den Inhalten, aber auch den Grenzen der Staatstätigkeit im Kulturstaat des Grundgesetzes. Nicht nur für den Bund, sondern, über die Homogenitätsklausel des Art. 28 auch für Länder und Gemeinden, kommt dabei einigen im Grundgesetz verbürgten Grundrechten unmittelbare Wirkung auf den Kulturbereich unseres Verfassungsstaates insgesamt zu. Zu diesen kulturellen Grundrechten gehören insbesondere: — die auf den Kulturbereich der Bildung und Erziehung bezogenen Grundrechte, wie die Gewähr der staatlichen Schulaufsicht über das gesamte Schulwesen, des Religionsunterrichts als eines grundsätzlich ordentlichen Lehrfachs der öffentlichen Schulen, sowie das Recht zur Errichtung von privaten Schulen (Art. 7 GG); ebenso wie die Gewähr des elterlichen Erziehungsrechtes als eines natürlichen Rechtes, das den Vorrang gegenüber dem Staat als Erziehungsträger hat und in das der Staat daher generell nur eingreifen darf, wenn der Eingriff das gebotene und adäquate Mittel ist, um Gefährdungen der Jugend abzuwehren (Art. 6 GG) 90 . — die auf den Kulturbereich der Kunst und Wissenschaft91, aber auch der Presse und des Rundfunks bezogenen Grundrechte, mit der Gewähr der Freiheit der Kunst, der Wissenschaft, der Forschung und der Lehre (Art. 5 Abs. 3 GG), der Gewähr 89

90

Dazu des näheren: W . MAIHOFER Freiheit, in: Politik für Nichtpolitiker, hrsg. von H. J. Schulz, 1969, S. 171 f f ; vgl. auch oben S. 205 ff. Zu den kulturellen Grundrechten im Bereich von Bildung und Erziehung im einzelnen: TH. OPPERMANN Kulturverwaltungsrecht (Fn. 9) S. 1 4 9 f f ; und auch: Bildung, in: I. von Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 5. A u f l . , 1979, S. 6 1 5 f f ; zur Bil-

91

dungspolitik grundlegend: R. DAHRENDORF Bildung ist Bürgerrecht, Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, 1965. Zu den kulturellen Grundrechten im Bereich von Kunst und Wissenschaft einführend: TH. OPPERMANN Kulturverwaltungsrecht (Fn. 9) S. 304 ff und S. 436 f f ; ebenso jetzt die Beiträge in dem Sammelband: P. HÄBERLE Kulturstaatlichkeit (Fn. 4), ebenfalls mit reichem Schriftennachweis.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

989

der Pressefreiheit und der Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film, sowie das Verbot einer Zensur (Art. 5 Abs. 1 GG). — die auf die Kulturbereiche des Glaubens und Bekenntnisses bezogenen Grundrechte, mit der Gewähr der Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und der Gewähr ungestörter Religionsausübung (Art. 4 GG), einschließlich der diese grundrechtliche Regelung im Bundesrecht ergänzenden Kirchenrechtsartikel der Weimarer Verfassung (Art. 140 GG), die das Verbot einer Staatskirche, aber auch die Gewähr der Selbstverwaltung der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften auch in die grundgesetzlicht Kulturverfassung übernehmen 92 . Für alle diese das Kulturbild des Grundgesetzes bestimmenden Grundrechtsgarantien 93 unserer konstitutionellen Demokratie: den unserem Verfassungsstaat Bundesrepublik Deutschland in Bund, Ländern und Gemeinden insgesamt zuzurechnenden bundeseinheitlichen Regelungen, stellt sich die eine und selbe Grundsatzfrage: Welche Grundrechtsauffassung, aber auch welches Staatsverständnis in diesen sog. kulturellen Grundrechten sich ausspricht? Eben diese Frage ist nicht zufällig im Zusammenhang mit dem Hauptgrundrecht des Kulturstaats im engeren Sinne, von dem deshalb auch unsere weitere Betrachtung ihren Ausgang nimmt: der Gewährleistung der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), schon vom Bundesverfassungsgericht beispielhaft gestellt und beantwortet worden. Das Bundesverfassungsgericht sieht dabei in Art. 5 Abs. 3 GG nicht nur ein subjektives Grundrecht: „Ein Freiheitsrecht für alle Kunstschaffenden und alle an der Darbietung und Verbreitung von Kunstwerken Beteiligten, das sie vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt in den künstlerischen Bereich schützt", im Sinne eines negativen Abwehrrechts also. Es sieht darin zugleich eine „objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst", die „dem modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung auch als Kulturstaat versteht, zugleich die Aufgabe (stellt), ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern" 9 4 . Hierin ist ein kulturstaatliches Grundrechtsverständnis angelegt, das wie Peter Häberle in seinen Erörterungen zum „kulturverfassungsrechtlichen Grundrechtsverständnis" feststellt, „bislang soweit ersichtlich weder dem Wort noch der Sache nach gefordert" worden ist 95 . Wird doch bisher zwar die Frage danach gestellt, „was Grundrechte für die Demokratie bedeuten": als die uneingeschränkte Mehrheitsherrschaft der absoluten Demokratie in die eingeschränkte Mehrheitsherrschaft einer konstitutionellen Demokratie verwandelnde, auch für eine machthabende Mehrheit unantastbare Rechte 96 ; und 92

Zu den kulturellen Grundrechten insgesamt:

93

P . HÄBERLE K u l t u r s t a a t ( F n . 4) S. l O f ; u n d

schon: Kulturverfassungsrecht (Fn. 7) S. 72 ff; zur „kulturellen Sicherheit" im besonderen auch: TH. MAUNZ Die kulturelle Sicherheit des Bürgers, in: Staat und Bürger, FS für W. Apelt, hrsg. von Th. Maunz u.a., 1958, S. 113 ff.

94 95

96

Zum „Kulturbild des Grundgesetzes" eindrücklich: TH. MAUNZ Die Abgrenzung des Kulturbereichs zwischen Bund und Ländern (Fn. 65) S. 260. BVerfGE 36, 321 (331). P . HÄBERLE K u l t u r v e r f a s s u n g s r e c h t ( F n . 7)

S. 72. Vgl. dazu oben S. 195ff.

990

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

auch: was Grundrechte für den Rechtsstaat bedeuten, als individuelle Freiheitsrechte des Einzelnen und zugleich negative Abwehrrechte gegen den Staat; ebenso aber auch: was Grundrechte für den Sozialstaat bedeuten, als soziale Teilhaberechte des Einzelnen und zugleich objektive Leistungsverpflichtungen des Staates; und zuletzt auch: was Grundrechte für alle diese Seiten unserer Staatlichkeit: die Demokratie, den Rechtsstaat wie den Sozialstaat bedeuten können, als „institutionelle Garantien", als „Verfassungsaufträge" und „Staatszielbestimmungen" 97 . Was aber, so stellt sich uns hier die Frage, bedeuten und fordern Grundrechte im Kulturstaat? Der freiheitliche Kulturstaat des Grundgesetzes versteht sich nicht als eine neue Seite unserer Staatlichkeit, die neben den anderen für sich besteht, sie setzt diese anderen Seiten schon immer voraus und bei ihnen an: die freiheitliche Demokratie als konstitutionelle wie als föderative, als Verfassungsstaat wie als Bundesstaat; den freiheitlichen Rechtsstaat, nicht einen unfreiheitlichen: obrigkeitlichen Rechtsstaat; den freiheitlichen Sozialstaat, nicht einen unfreiheitlichen: wohlfahrtsstaatlichen Sozialstaat, von dem unser Grundgesetz ausdrücklich sich abheben und absetzen will 98 . So wie darum der freiheitliche Kulturstaat selbst, die Ergänzung aber auch Berichtigung einer bloß als Rechtsstaat und Sozialstaat begriffenen freiheitlichen Demokratie darstellt, so müssen auch die kulturellen Grundrechte in einem solchen freiheitlichen Kulturstaat als Ergänzungen, aber auch Berichtigungen der Inhalte dieser Grundrechte wie des Verfassungsverständnisses unserer Staatlichkeit insgesamt verstanden werden. a) Kulturelle Freiheitsrechte Kulturstaates

und die Grenzen der Staatstätigkeit

eines

freiheitlichen

Die Verfassungsgarantien des Kulturstaates, wie sie in den oben aufgeführten individuellen Freiheitsrechten des Einzelnen und den ihnen entsprechend negativen Abwehrrechten gegen den Staat enthalten sind, bestimmen in einer durch die Grundrechte eingeschränkten und gebundenen Mehrheitsherrschaft, die wir konstitutionelle Demokratie nennen, die Grenzen aller Staatstätigkeit. Auch und gerade die eines freiheitlichen Kulturstaates, dessen Staatstätigkeit durch kulturelle Freiheitsrechte des Einzelnen und ihnen entsprechende negative Abwehrrechte gegen den Staat begrenzt und eingeschränkt ist. Diese Grenzen der Staatstätigkeit sind dem Kulturstaat nirgendwo enger und strenger gezogen als in dem empfindlichsten Bereich der Kultur einer Gesellschaft 97

Zum Ganzen: K. HESSE Grundzüge (Fn. 2) S. 112ff und S. 188ff; und besonders: H . H . KLEIN Grundrechte im demokratischen Staat, 2. Aufl., 1974; H . SCHEUNER Die Funktion der Grundrechte im Sozialstaat, Die Grundrechte als Richtlinie und Rahmen der Staatstätigkeit, D Ö V 1971, S. 505ff; P. HÄBERLE Grundrechte im Leistungsstaat W DStRL 30, 1972, S. 112ff; aber auch: Die

Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 2. Aufl., 1972, insbes. S. 92ff; und: 98

H.

GOERLICH

Wertordnung

und

Grundgesetz, 1973. Vgl. dazu im einzelnen: W. MAIHOFER Rechtsstaat und Sozialstaat (Fn. 3) S. 26ff; und dazu einführend auch die Beiträge in: E. Forsthoff (Hrsg.) Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

991

und der dementsprechenden Kulturpolitik des Staates: dem der „Künste und Wissenschaften", auf die sich die Verfassungsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG bezieht. Und von diesen beiden Kulturbereichen ist die Kunst geradezu das Exempel, an dem sich, auch noch in unserer Zeit, die den Namen wie die Sache einer „Kulturpolizei" nicht mehr für sich fortgelten lassen will, der Konflikt zwischen Kultur und Staat, auch ohne „Kulturkampf", am deutlichsten artikuliert. Worüber die zahlreichen auch in den vergangenen Jahrzehnten von Bundesverfassungsgericht, Bundesverwaltungsgericht und Bundesgerichtshof ergangenen Entscheidungen, und die nicht minder reichhaltige Auseinandersetzung mit Fragen der Kunstfreiheit und der Kunstpolitik in der Wissenschaft, ja selbst in der Öffentlichkeit, eindrucksvoll Zeugnis geben". Auch in den Verfassungsgerichtsentscheidungen ist die dort entwickelte Staatskonzeption eines Kulturstaates eine Frucht der auch in der Öffentlichkeit vielerörterten Entscheidungen zur „Kunstfreiheitsgarantie". In ihnen ist das Grundrechtsverständnis des Gesamtbereichs der Kultur am schärfsten und klarsten markiert. Aus ihnen läßt sich darum auch am deutlichsten ablesen, welches die Grenzen, aber auch die Inhalte der Staatstätigkeit im Kulturstaat des Grundgesetzes sind, oder doch sein sollen. Die Kunstfreiheitsgarantie, so heißt es dazu schon in einer frühen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, enthält für den Grundrechtsträger ein „individuelles Freiheitsrecht"10°. Diese „Gewährleistung betrifft sowohl den Bereich der künstlerischen Betätigung (Werkbereich) als auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks (Wirkbereich), schützt also nicht nur den Künstler, sondern auch den Mittler". Für beide Bereiche der Kunst verleiht somit dieses individuelle Freiheitsrecht den Grundrechtsträgern Schutz „vor Eingriffen der öffentlichen Gewalten in den künstlerischen Bereich", die sich in einem negativen Abwehrrecht niederschlägt, solche Eingriffe der öffentlichen Gewalten in den künstlerischen Bereich, gegenüber dem Staat mit Mitteln des Rechts abzuwehren; ja „alle im Kunstleben Tätigen" schon vor „hemmenden Einflüssen der staatlichen Gewalt auf ihre Arbeit" zu sichern, worauf diese Grundrechtsträger „den gleichen grundsätzlichen Freiheitsanspruch" haben 101 . Schon aus dieser grenzensetzenden Bedeutung der kulturellen Grundrechte: als individuelle Freiheitsrechte des Einzelnen und negative Abwehrrechte gegen den Staat, folgt für einen freiheitlichen Kulturstaat zugleich die Verpflichtung zu kultur99

Vgl. dazu neben den Zusammenfassungen und Sammelbänden von: TH. OPPERMANN Kulturverwaltungsrecht (Fn. 9) S. 4 3 6 f f , und P. HÄBERLE Kulturstaat (Fn. 4), im besonderen zur Kunstfreiheit: H . RICHTER Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, 1963; G . ERBEL Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie,

1966;

H.

THIEME/H.

WEHRHAHN

Die Freiheit der Künste und Wissenschaften, 1967; zur Kunstpolitik im besonderen: A . ARNDT Die Kunst im Recht (Art. 5 Abs. 3

100 101

G G ) , 1966: in Gesammelte Juristische Schriften, hrsg. von E . - W . Böckenförde, 1976, S. 4 3 3 f f , und: Die Aufgabe des Staates auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft, in: Politische Reden und Schriften (Fn. 39) S. 3 3 8 f f ; dazu auch: E. BUCHHOLZ Kunst, Recht und Freiheit, Reden und Aufsätze, 1966; und jetzt: J. BEUYS Kunst und Staat, in: Bitburger Gespräche. Jg. 1977/78, S. 135 ff. B V e r f G E 30, 173 ( 1 8 8 f f ) . B V e r f G E 36, 321 (332).

992

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

politischer Neutralität und kulturpolitischer Toleranz des Staates gegenüber der Kunst 1 0 2 . Beide Verpflichtungen des Staates zur Neutralität wie Toleranz sind Ausdruck der nach unserem heutigen Kulturverständnis vorausgesetzten Autonomie der Kultur, wie sie auch und gerade bei der künstlerischen Tätigkeit, als der „an sich die ganze kulturelle Sphäre kennzeichnender Wesenszug der schöpferischen Entfaltung in Eigengesetzlichkeit", behauptet wird 1 0 3 . Dieses hier am Beispiel der Kunst entwickelte kulturelle Verständnis des modernen Staates, das auch der Kulturstaat des Grundgesetzes voraussetzt, hat seinen Grund nicht nur in den geschichtlichen Erfahrungen unserer Epoche der Moderne, mit den kunstfeindlichen Auswirkungen eines vom Staate ausgeübten Kunstrichtertums über „entartete" oder erwünschte Kunst, ebenso aber auch mit den kunsttötenden Wirkungen eines vom Staate veranstalteten Kulturbetriebes, der Kultur zum Vehikel und Instrument der Politik herabsetzt und „einsetzt". Es hat seinen tieferen Grund, in der unserer heutigen Forderung nach einem freiheitlichen Kulturstaat zugrundeliegenden Einsicht, daß Kunst wie Wissenschaft, wie die Geschichte lehrt, zwar durch den Staat gefördert oder gehemmt werden kann, aber in jeder Zeit ihren eigenen Gesetzen folgt, diese Zeit auf ihre Weise „in Gedanken zu fassen", „ins Werk zu setzen". Nicht der Staat gibt nach diesem Verständnis der Kunst wie der Wissenschaft, das sich schon in unserer grundsätzlichen Vorerörterung abgezeichnet hat, den „Sinn" oder die „Werte", den „Stil" oder die „Richtung" vor, oder gar auf, die sich im Werk der Künste oder der Wissenschaften schöpferisch äußern sollen. Vielmehr entfaltet sich diese schöpferische Äußerung nach Gesetzen, die nicht nur im Wandel der Zeiten selbst sich wandeln, sondern die in der Zeit ihrer Entstehung von „dieser Zeit selbst" am allerwenigsten endgültig daraufhin beurteilt zu werden vermögen, was davon bleiben oder vergehen, fortwirken und weiterführen wird, zu neuem Sinnverstehen und Wertempfinden, zu neuen Stilrichtungen und Kunstentwicklungen. Eher kann so die Kunst (wie die Wissenschaft) umgekehrt, bei aller Ungesichertheit und „Vorläufigkeit" im Augenblick ihres Geschehens, dem Staat zeigen und sagen, was in dieser Zeit sich ereignet, was in unserer Welt eigentlich vorgeht, um was es in ihr für den Menschen „im Grunde" geht. Aus eben dieser grundlegenden Einsicht, die in unserer Epoche der Moderne das Verhältnis der Staaten zur Kultur im allgemeinen und zur Kunst im besonderen bestimmt, kommt auch Thomas Oppermann, in seiner Untersuchung des Verhältnisses von „Kunst und Staat unter dem Grundgesetz" zu der bemerkenswerten Feststellung: „Die Rückkehr zu einer nunmehr in neuartiger Weise grundrechtlich gewährleisteten Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 G G und den Länderverfassungen bedeutete daher mehr als eine beliebige Option des Verfassungsgebers zwischen einer Reihe denkbarer Lösungen, nämlich die auch rechtliche Anerkennung der tatsächlichen La102 103

BGH NJW 1975, S. 1884. So eindrücklich TH. OPPERMANN Kulturverwaltungsrecht (Fn. 9), unter Bezugnahme

auf H. BOLL Die Freiheit der Kunst, Melos, 1966, 393 ff.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

993

ge der Künste im modernen Industriestaat, der sie zwar noch fördern, ihnen aber nicht mehr die Werte ihres Schaffens vermitteln kann, sondern eher aus dem autonom entstandenen Kunstwerk einiges zur Erhellung seiner eigenen Existenz abzulesen vermag"10*. Im Gegensatz zur zurückhaltenden Auslegung des gleichlautenden Art. 142 der Weimarer Reichsverfassung (1919) wird nunmehr die autonome Sphäre auch der Kunst nicht mehr dadurch im Ergebnis relativiert, daß man künstlerische Betätigungen und Kunstwerke grundsätzlich als Meinungsäußerungen mitbetrachtet, die „damit dem Vorbehalte der allgemeinen Gesetze (Polizei- und Strafgesetze!) unterlägen", sondern die Kunstfreiheit als „eigenständiges Grundrecht" erkannt10s. Weshalb, nach anfänglichem Schwanken der Rechtsprechung, nun auch jedem Versuch eine Absage erteilt wird, „entgegen dem Wortlaut und der Systematik des Art. 5 G G die auf dessen Abs. 1 bezogenen Schranken in Abs. 2 auch auf die nach Abs. 3 verbürgten Freiheiten auszudehnen". Selbst wo künstlerische Aussagen mit eindeutigen Meinungsäußerungen verbunden sind, so daß sie zugleich unter Art. 5 Abs. 1 fallen, und somit auf diesem mittelbaren Wege die Schranken des Abs. 2 GG ins Spiel kommen, bleibt jetzt „grundsätzlich zu beachten, daß die Kunst nach dem Willen des Verfassungsgebers in Art. 5 Abs. 3 als ein kultureller Wert in besonderem Maße herausgehoben und freigemacht werden soll", wie Oppermann zurecht feststellt. An dieser grundlegend veränderten und inzwischen gefestigten Auffassung nicht nur der Theorie, sondern auch der Praxis unseres Kulturstaates, macht mit seltener Deutlichkeit den ganz anderen „Geist" sichtbar, aus dem sich dieser heute als ein wahrhaft freiheitlicher versteht. Auch wenn hier durchaus gelegentlich noch vorkonstitutionelle Reminiszenzen im Verfassungsverständnis und Kunstbegriff unseres freiheitlichen Kulturstaates nachgeistern 106 . Aus alledem wird die Kontur ebenso der durch die kulturellen Freiheitsrechte und entsprechenden negativen Abwehrrechte gesteckten Grenzen der Staatstätigkeit, wie der Konzeption eines freiheitlichen Kulturstaates überhaupt sichtbar, wie sie sich aus der vorausgesetzten Autonomie der Kultur und der durch sie geforderten Neutralität des Staates ergeben. Sie schließen, wie wir sahen, die äußerste Toleranz des Staates gegenüber der in Individualität und Pluralität sich äußernden und entfaltenden „Spontaneität" (Burckhard) der Kultur mit ein. Sie schließen andererseits alles das

104

105

TH.

OPPERMANN

Kulturverwaltungsrecht

(Fn. 9) S. 437. Dazu und zum folgenden im einzelnen: TH. OPPERMANN K u l t u r v e r w a l t u n g s r e c h t ( F n . 9 )

106

S. 438 ff. So etwa in dem glücklich gescheiterten ernsthaften Versuch, gerade die Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 G G „durch eine ausdrückliche Verpflichtung der Kunst auf das Sittengesetz einzugrenzen"; dazu im einzelnen nochmals: TH. OPPERMANN Kulturverwaltungsrecht (Fn. 9) S. 440f; dessen erklärte Absicht: „die Eigengesetzlichkeit der

Kunst in geringstmöglichem Maße staatlichem Eingriff auszusetzen", kann allerdings nur dadurch verwirklicht werden, daß die aus dem immanenten Gemeinwohlrecht der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 G G (Rechte anderer, Verfassungsmäßige Ordnung, Sittengesetz) folgenden staatlichen Einwirkungsmöglichkeiten wirklich auf die „Essentiala" (auch der „Verfassungsmäßigen O r d n u n g " und des „Sittengesetzes") eingeschränkt bleiben, das aber sind die „Rechte anderer".

994

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

aus den Möglichkeiten staatlicher Kulturpolitik aus, was diese Grenzen unbedingter „kulturpolitischer Neutralität" und „kulturpolitischer Toleranz" überschreitet. Daraus folgt nicht nur, daß dem Staat „jedes kulturpolitische Diktat, jeder Versuch kulturpolitischer Uniformierung bzw. jeder Künste oder Wissenschaften inhaltlich bestimmender Dirigismus ( , K u n s t r i c h t e r t u m ' und ,Wissenschaftsrichtertum') verschlossen ist 107 . Daraus folgt darüber hinaus, daß sich der Staat nicht nur aller danach unzulässigen Eingriffe in die Autonomie des Kulturbereichs enthält, sondern auch den von ihm zu gewährleistenden Schutz der kulturellen Freiheitsrechte des Einzelnen, auch gegenüber Dritten, ebenso in äußerster Neutralität und Toleranz, also ohne jegliche Privilegierung oder Diskriminierung, ihm mehr oder weniger „genehmer" oder „unangenehmer" Aktivitäten und „Spontaneitäten" der Kultur ausübt 108 . b) Kulturelle Teilhaberechte und die Inhalte der Staatstätigkeit eines freiheitlichen Kulturstaates Auch der Kulturstaat hat, wie alle Staatlichkeit auf der Grundlage einer liberalen: freiheitlichen Demokratie, wie sie das Grundgesetz fordert, eine zugleich liberale und demokratische Komponente. Die beide ihrem Prinzip nach ebenso fordern: Der Staat sind wir alle! Wie auch: Der Staat darf nicht alles! Die letztere Forderung erfüllt der demokratische: freiheitliche Kulturstaat, durch die eben erörterte, den kulturellen Freiheitsrechten entsprechende Setzung der Grenzen aller Staatstätigkeit. Auch und gerade der durch die jeweilige Mehrheit ausgeübten, in einer konstitutionellen Demokratie jedoch durch Grundrechtsverbürgungen, Minderheitenschutz, Gewaltenteilung und Rechtsbindung aller Staatsgewalt eingeschränkten Mehrheitsherrschaft. Eine solche konstitutionelle Demokratie, wie sie sich, über die Staatlichkeit des Rechtsstaates und des Sozialstaates hinaus, auch als freiheitlicher Kulturstaat entfaltet und gestaltet, hat jedoch zugleich immer auch die erste demokratische Komponente, auch und gerade in einem Kulturstaat zu verwirklichen. Für den ebenso gilt, für das Verhältnis und Verhalten des Staates zum Bereich der Kultur in unserer Gesellschaft: Der Staat sind wir alle! In einem insoweit nicht nur liberalen, sondern demokratischen Kulturstaat, gilt deshalb als Grundsatz auch für den Staat, soweit er etwas mit Kultur zu tun hat und etwas für Kultur tun kann: Die Kultur ist für alle da! Daraus folgt, über die aus dem liberalen Prinzip sich ergebende Neutralität und Toleranz des freiheitlichen Kulturstaates hinaus, das: was wir die Solidarität und Aktivität eines solchen Kulturstaates nennen, der für die Kultur da ist, wie die Kultur/«r den Menschen da ist, entsprechend den oben getroffenen grundsätzlichen Feststellungen. Sie erfüllt sich, in der Gewährleistung und Sicherstellung der kulturellen Teilhaberechte der Bürger eines solchen liberalen und demokratischen Kulturstaates.

107

So deutlich: R. SCHOLZ in: Maunz/Dürig/ Herzog/Scholz Grundgesetz, A r t . 5 III (1977) Rdn. 8. d; Hervorhebungen hinzugefügt.

los Ygj hierzu Möglichkeiten und Beispiele aus dem Kunstbereich bei: TH. OPPERMANN Kulturverwaltungsrecht (Fn. 9) S. 438 f.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

995

Peter Häberle hält diese kulturelle Teilhabe aller Bürger im freiheitlichen Kulturstaat des Grundgesetzes, in dem sich unser freiheitlicher Rechtsstaat wie der freiheitliche Sozialstaat überhaupt erst zu Gänze und Fülle heutiger Staatlichkeit vollendet, nicht nur für eine Frage demokratischer Partizipation aller Bürger an der „Sache: Kultur", sondern der demokratischen Identifikation unserer Bürger mit unserem Staat: Demokratie überhaupt 109 . Um dieses Recht des Bürgers auf kulturelle Teilhabe, an Teilhabe an der Kultur, geht es nicht nur in dem früher viel beschworenen „Bürgerrecht auf Bildung", sondern bei dem, was jetzt auch das „Bürgerrecht auf Kultur" überhaupt genannt wird. Ihm entsprechen, so wie oben die Klagebefugnisse bei den Abwehrrechten des Einzelnen, bestimmte kulturelle Leistungsverpflichtungen des Staates, da ohne diese kulturelle Teilhaberechte, in der kulturellen Wirklichkeit unserer Gesellschaft nicht real und realisierbar sind. Nicht also: nur formale Garantien des Gesetzes sind, sondern reale Chancen der Verwirklichung dieser Teilhaberechte, wie des Rechtes auf di e freie Wahl der Ausbildungsplätze und des Berufs (Art. 12 GG), was uns die Verfassungsgerichtsrechtsprechung nicht zuletzt zum Numerusclaususproblem gelehrt hat. Aber auch: ein mit dem allgemeinen Bürgerrecht auf Kultur verbürgtes Recht des freien Zugangs zu den durch Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisteten Möglichkeiten der Information durch die Medien der öffentlichen Meinung fordern, wenn bei diesem, zugleich für die politische Organisation unserer konstitutionellen Demokratie „schlechthin konstituierenden" Grundrecht der Meinungsfreiheit, auch andere Gesichtspunkte, als die der Kulturpolitik, bei dem mit ins Spiel kommen, was wir heute Medienpolitik nennen. Demgegenüber betreffen die Gewährleistungen des Art. 5 Abs. 3 G G den Kernbereich auch und gerade der Kultur einer Demokratie in der Epoche der Moderne, weit über das hinaus, was wir die „politische Kultur" zu nennen pflegen. Auch in ihm geht es um demokratische Teilhabe der Bürger an den kulturellen Möglichkeiten, die unser Grundgesetz mit der Gewährleistung der Kunstfreiheit und der Wissenschaftsfreiheit grundsätzlich allen Bürgern unseres Staates eröffnet. In diesem Sinne anerkennt auch das Bundesverfassungsgericht ein „Interesse der Allgemeinheit an einem ungehinderten Zugang zu den Kulturgütern" 110 . Dabei kann es sich jedoch nicht nur um den freien Zugang zu den „Gütern" unserer Kultur der Moderne handeln, die wir oben als Zeitalter der Erwerbskultur beschrieben und bezeichnet haben. Vielmehr: über die bloße Eröffnung vorhandener und bisher entstandener Möglichkeiten hinaus, um das, was wir heute die aktive Förderung und die positive Pflege 109

Dazu und zum folgenden nochmals: P. HABERLE Kulturstaat ( F n . 4) S. 3 7 f f ; vgl. im übrigen, zu den erst allmählich über Vorstellungen von einem „kulturellen Rechtsstaat" oder gar „kulturellen Sozialstaat" hinausführenden neueren Erörterungen zur Kulturstaatlichkeit, auch n o c h : O . JUNG Z u m

K u l t u r s t a a t s b e g r i f f , 1 9 7 6 ; U . SCHEUNER

Die

Bundesrepublik als Kulturstaat, in: Bitburger Gespräche, J g . 1977/78, S. 1 3 3 f f ; und jetzt: G . REUHL Kulturstaatlichkeit im Grundgesetz, J Z 1981, S. 321 ff. 110

B V e r f G E 3 1 , 2 2 9 (230); Hervorhebung von mir.

996

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

der Künste und Wissenschaften nennen. Jedenfalls überall da: wo sich kulturelle Produktivität nicht aus unserem ökonomischen System von selbst versteht und von selbst vollzieht, ohne daß es zu gefährdenden Manipulationen und Deformationen unserer „Kultur", durch einen vom Erwerbstrieb übermächtigten Kulturbetrieb und Kulturmarkt kommt. Gerade da: wo Kultur aus Kommerz nicht produziert wird, wo Kultur einfach nicht ökonomisch rentiert, bleibt für den freiheitlichen Kulturstaat ein weites Feld der Staatstätigkeit offen. Der er sich überall nicht verschließen kann und darf, wo ohne sie Kultur nicht stattfinden würde. Auch nicht, über den „Trägerpluralismus" schon der „staatlichen Träger" von Kulturpolitik in Bund, Ländern und Gemeinden hinaus, durch Privatinitiative und Selbstorganisation von „gesellschaftlichen Kräften" als Trägern von Kulturveranstaltungen und Kultureinrichtungen; von Museen und Galerien an, bis hin zu Theatern und Orchestern 111 . Zusammenfassend wird darum heute dieses, auch insoweit nach dem Subsidiaritätsprinzip aufzufassende Verhältnis, auch zwischen staatlichen Trägern und gesellschaftlichen Kräften dahin umschrieben: „Die kulturverfassungsrechtlichen Beziehungen werden damit nicht allein vom Verhältnis negativer (freiheitsrechtlicher) Ausgrenzung, sondern auch vom Verhältnis positiver staatlicher Förderung und gemeinsamer Kulturverantwortung von Staat und Gesellschaft verfaßt (institutionelle Kooperation von gesellschaftlichen und staatlichen Kulturträgern)". Das aber heißt: „Staatliche und gesellschaftliche Kulturpflege haben sich hiernach wechselseitig zu ergänzen und gemeinschaftlich diejenige Liberalität, Pluralität und Offenheit zu gewährleisten, die jede Gestaltung von Bildung, Kunst und Wissenschaft existenzhaft voraussetzt". Daraus folgt als Prinzip, daß ein solcher freiheitlicher Kulturstaat überall da gefordert ist, „eigene" staatliche Initiativen zu ergreifen: „wie die Unterhaltung und Einrichtung von Hochschulen, Akademien, Forschungsinstituten, Theatern, Museen, Orchestern, Bibliotheken usw.", wo ohne sie die verfassungsmäßige Garantie einer größten und gleichen Teilhabe und Mitwirkung aller Bürger an diesem Prozeß der Kultur nicht zu erfüllen ist. Der Individualität wie Pluralität der Kultur, der Tradition wie Innovation von Kultur fordert. Und der heute im Zeitalter der Weltkultur, früher ungeahnte Möglichkeiten der inwärtigen Kulturpolitik für Bund, Länder und Gemeinden eröffnet, von denen Kant im Gedanken an den erhofften Menschen als Weltbürger in jedermanns Person zu seiner Zeit nur träumen konnte. Aber auch gegenwärtig noch ganz unentwickelte Möglichkeiten der auswärtigen Kulturpolitik eines demokratischen: freiheitlichen Kulturstaates sich eröffnen. Der für seinen Teil Anteil hat und Verantwortung trägt für die angemessene nationale Repräsentanz unserer Kulturnation im geistigen Austausch und friedlichen Wettstreit der Weltkulturen. In dem sich, und durch den sich, wenn überhaupt, die von den geistigen Vätern unserer freiheitlichen Demokratie, Rousseau und Kant, mit gleicher Leidenschaft ersehnte künftige weltbürgerliche Gesellschaft

111

Dazu und zum folgenden: R. SCHOLZ Grundgesetz (Fn. 107) Art. 5 III, Rdn. 8. c.

1. Abschnitt. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (MAIHOFER)

997

der gesamten Menschheit vorbereitet. Was voraussetzt, daß diese Weltkulturen sich vor allem andern erst einmal als Kulturstaaten begreifen. Auch in diesem größeren Zusammenhange könnte sich dann jenes gute Wort bewahrheiten, das uns Theodor Heuss hinterlassen hat, und das eigentlich als Motto über einem Artikel zu Kultur und Staat, damit über Politik und Kultur stehen sollte: „ M i t Politik kann man keine Kultur machen; vielleicht kann man mit Kultur Politik machen".

2. Abschnitt

Richtlinien und Grenzen des Grundgesetzes für das Bildungswesen PETER G L O T Z u n d KLAUS FABER

Einführung Das Grundgesetz enthält nur wenige Bestimmungen, die sich ausdrücklich auf das Bildungswesen 1 (als Gesamtgebiet oder in Teilbereichen) beziehen. Dies gilt in gleicher Weise für Grundrechtsnormen, für institutionelle Garantien und organisatorische Regelungen oder für die Zuweisung von Bundeszuständigkeiten im Bildungsbereich. Das Grundgesetz unterscheidet sich damit von der Weimarer Verfassung, die einen besonderen Abschnitt mit Bestimmungen für „Bildung und Schule" enthielt (Art. 142 bis 150) und dem Reich weitreichende Zuständigkeiten im Bildungswesen zuwies (u.a. Art. 10 N r . 2, Art. 143 Abs. 2, Art. 146 Abs. 2 Satz3 und Abs. 3, Art. 148 Abs. 4) 2 . Auch nach der Verfassungsänderung von 1969, durch die der Bund neue Zuständigkeiten im Bildungsbereich erhielt 3 , liegt der weitaus überwiegende Teil der Bildungskompetenzen bei den Ländern. Im Konkordatsurteil (vom 26. 3. 1957) hat das Bundesverfassungsgericht diesen Zustand — für die Zeit vor 1969 — mit dem Begriff der „Kulturhoheit der Länder" beschrieben 4 . Auch vor 1969 gab es allerdings eine „Kulturhoheit" des Bundes 5 (wobei „Kultur" hier mehr meint als nur das Bildungswesen 6 ). Der Begriff „Kulturhoheit der Länder" enthält daher in erster 1

2

„Bildungswesen" hier verstanden als umfassende Politikbereichsbestimmung, wie sie auch dem Begriff „Bildungsplanung" in Art. 91 b GG zugrundeliegt; vgl. zu diesem Begriff A. DITTMANN Bildungsplanung als Gemeinschaftsaufgabe, 1975, S. 61 f. Dazu gehören u.a. die vorschulische Erziehung, das gesamte Schulwesen, die außerschulische Berufsbildung, das Hochschulwesen, die Weiterbildung und die Lehrerbildung. Zur Entwicklung der „Bildungsverfassung" von der Weimarer Verfassung zum Grundgesetz vgl. T. OPPERMANN Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 145ff, S. 548ff m. w. N.,

I.

RICHTER

1973, S. 288ff.

Bildungsverfassungsrecht

3 4 5

Näheres hierzu S. 1026f. BVerfGE 6, 309/354. T. MAUNZ Die Abgrenzung des Kulturbereichs zwischen dem Bund und den Ländern, in: Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 257/258; ähnlich OPPERMANN (Fn. 2) S. 556. Vgl. dazu die spätere, gegenüber der Beschreibung der Länderkulturhoheit in BVerfGE 6, 309/354 einschränkende Formulierung im Fernsehurteil, BVerfGE 12, 205/229. Zur Kritik am Begriff „Hoheit" vgl. MAUNZ a a O S. 2 5 7 f .

6

S. dazu die bei MAUNZ (Fn. 5) S. 259ff, OPPERMANN(Fn. 2) S. 556 ff angegebenen Beispiele.

1000

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Linie die zusammenfassende Beschreibung des Übergewichts der Gliedstaatenzuständigkeit in diesem Politikgebiet. Er bezeichnet schließlich, wenn auch mit nicht näher abgegrenztem Umfang, (als „Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder") einen nach Art. 79 Abs. 3 G G unentziehbaren Kernbereich von Landeszuständigkeiten in diesem Aufgabengebiet 7 . Die 1969 durch Verfassungsänderung erweiterten Bundeszuständigkeiten und die wachsende Bedeutung der Grundrechte des Grundgesetzes, vor allem des Grundrechts auf freie Wahl des Berufs und der Ausbildungsstätte nach Art. 12 Abs. 1 G G , haben den gesamtstaatlichen Einfluß auf das Bildungswesen im letzten Jahrzehnt zwar gestärkt. Die meisten für die Bürger wichtigen bildungspolitischen Entscheidungen fallen jedoch nach wie vor in den Ländern und durch die Länder. Das gilt auch für viele Gebiete, in denen der Bund über (Mit-)Zuständigkeiten verfügt oder das Grundgesetz unmittelbar einen verfassungsrechtlichen Rahmen für das Bildungswesen gibt: Der Bund kann z . B . mit den Ländern bei der Bildungsplanung zusammenwirken. Ob ein Planungsbeschluß für das einzelne Land verbindlich und ob und wie er durchgeführt wird, entscheiden die Länder. Der Parlaments- und Gesetzesvorbehalt im Schulwesen ist zwar auf Grundsätze der Bundesverfassung gestützt. Die Schulgesetzgebung gestalten jedoch allein die Landesparlamente (im Rahmen der durch das Grundgesetz weitgezogenen Grenzen). Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen bestimmt das Grundgesetz nicht allein durch „positive" Regelungen z. B. über Grundrechte oder Bundeszuständigkeiten. Auch das „Schweigen" des Grundgesetzes — die Zurückhaltung bei der Zuweisung von Bundeskompetenzen und bei Leitlinienbestimmungen für das Bildungswesen — ist eine Entscheidung der Verfassung, eine Entscheidung, die auch durch die Perspektive der ersten Jahre nach dem 2. Weltkrieg mitbestimmt ist: Damals war noch nicht klar, daß die Bildungsproblematik die soziale Frage des 20. Jahrhunderts sein würde — und von der Bildungsexplosion der 60er und 70er Jahre bestand noch keinerlei Vorahnung. Dem beschränkten Umfang der Vorgaben der Bundesverfassung für das Bildungswesen entsprechen nicht nur die Gestaltungsfreiheit der einzelnen Länder und die Unterschiede zwischen den Ländern in der Bildungspolitik — diese „Vielfalt" ist für ein föderativ geordnetes Gemeinwesen ein nicht nur zugelassenes, sondern geradezu erwartetes Ergebnis. Unter den deutschen Verhältnissen hat die bundesstaatliche Aufgabenverteilung im Bildungswesen noch eine andere Wirkung: Sie hat den „kooperativen Föderalismus" 8 in der innerbundesstaatlichen Zusammenarbeit der Länder (vor allem in der Kultusministerkonferenz) angelegt. In keinem vergleichbaren Bundesstaat gibt es ein ähnlich dichtes Kooperationsnetz der Gliedstaaten im Bildungsbereich 9 . Die Vereinheitlichungserfolge der

7

Zur Bedeutung der „Kulturhoheit" als „Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder" s. BVerfGE 6, 309/346f; 12, 205/229; vgl. zur allgemeinen Bestandsgarantie nach Art. 79 Abs. 3 G G die Hinweise in Fn. 244 a.

8

9

Vgl. dazu den Beitrag von H.-J. VOGEL S. 843ff sowie S. 855ff. M. BOTHE in: Die Befugnisse des Gesamtstaates im Bildungswesen — Rechtsvergleichender Bericht, bearbeitet im Max-PlanckInstitut für ausländisches öffentliches Recht

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1001

„Länderselbstkoordination" oder der Bund-Länder-Zusammenarbeit mögen — gemessen an den tatsächlichen Bedürfnissen der Bürger — unbefriedigend sein. Umfang und Dichte der Kooperationsinstrumente, für die es in keinem Politikgebiet mit überwiegender Länderzuständigkeit ein Vergleichsbeispiel gibt, machen aber jedenfalls auf der organisatorischen Seite den — nicht nur zeitweilig bestehenden — Bedarf an Koordination deutlich. Die „Bildungsverfassung" des Grundgesetzes „regelt" zwar nur in geringem Umfang, formt aber mittelbar, insbesondere durch die Kompetenzverteilung, das bildungspolitische Entscheidungssystem vor. „Politikverflechtung"10 ist nicht auf das Bildungswesen beschränkt, dort aber besonders ausgeprägt. Das Grundgesetz geht aus von der kulturellen, landsmannschaftlichen, aber auch politischen Eigenständigkeit der Länder; deshalb geht die häufig geäußerte grundsätzliche Kritik an der Verschiedenartigkeit vieler Regelungen in den einzelnen Bundesländern an unserer Verfassungsordnung vorbei. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet anders: Ist die Art der Kooperation, die zwischen den einzelnen Ländern trotz ihrer Eigenständigkeit unbestreitbar notwendig ist, damit ein Minimum an Einheitlichkeit im Bildungswesen gewahrt wird, jeweils angemessen? Oder begeben wir uns in die Gefahr, so eifrig zu koordinieren, daß die eigene Handschrift der Landesgesetzgeber unleserlich wird und daß insbesondere Schulen und Hochschulen selbst von einer Vielzahl bürokratischer Bestimmungen unzumutbar eingeengt werden? Es gibt durchschlagende Argumente gegen alle Zentralisten; der Glaube, daß es um Bildung und Erziehung in unserem Land besser stünde, wenn die Berufsschulen in Kiel, die Gymnasien in Traunstein, die Freie Universität Berlin und die Gesamtschulen in Wetzlar vom gleichen Bonner Kultusminister gesteuert würden, ist ein Irrglaube. Wir müssen uns aber ebenso vor der Gefahr hüten, daß wir durch eine allzu perfekte Koordination der Regierungen, ausgeübt durch unsere Beamten, die Entscheidungsfreiheit der Landesparlamente und erst recht die Entscheidungsfreiheit der einzelnen Bildungseinrichtungen allzu sehr einengen. Die Kultusminister bemühen sich ohne Zweifel, alles zu tun, um dem Bürger, der von einem Land ins andere wechselt, vergleichbare Lebensverhältnisse auch im Bildungswesen zu bieten. Hier liegt die Existenzberechtigung für die Kultusministerkonferenz. Aber die Kultusminister sind durch das Grundgesetz und die Länderverfassungen auch gehalten, die kulturelle und die bildungspolitische Eigenständigkeit der Länder zu wahren. Sie müssen der Gefahr begegnen, daß die pädagogische Kreativität und Beweglichkeit in den Bildungsinstitutionen durch allzuviel administrativ ausgeübte Koordination eingeschränkt wird. Ein herunter-koordinierter Föderalismus könnte dem Zentralismus in die Hände arbeiten. Der groß angelegte Ausbau unseres Bildungswesens und die Bereitschaft zu vernünftigen Kompromissen bleiben unbestreitbare Erfolge der Kultusministerkonferenz und des kooperativen Föderalismus. Dieser Föderalismus steht gerade zur Zeit und Völkerrecht, Heidelberg, Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.) 1976, S. 59, 76.

10

Vgl. dazu S. 1045 ff.

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6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

vor neuen Bewährungsproben. Die Problematik der gegenseitigen Anerkennung der Schulabschlüsse ist dafür nur ein Beispiel unter mehreren. Das Unbehagen der Bürger mit den Kultusministern würde weiter steigen, wenn die Bildungslandschaft der Bundesrepublik entweder in zwei ideologisch motivierte Lager auseinanderbrechen oder aber die Vielfalt der pädagogischen Landschaft bürokratisch eingeengt würde. Die Kultusminister bewegen sich in ihrer politischen Arbeit auf einem schmalen Grat; der durch Grundgesetz und Länderverfassungen vorgezeichnete Weg ist gefährlich. Deswegen darf sich niemand über die vielen Abstürze wundern. Der folgende Teil I gibt einen Überblick über Grundrechte und andere für Bildungsfragen wichtige Entscheidungen des Grundgesetzes sowie über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Bildungswesen. Teil II behandelt Aspekte der Grundrechtswirkung und der Abstimmungsverfahren im föderativen Bildungssystem. Teil III gibt Ansätze für eine Bewertung des bundesstaatlichen Entscheidungsprozesses im Bildungswesen und seiner Weiterentwicklung.

I. Grundgesetz und Bildungswesen 1. „Recht auf Bildung" a) Recht auf freie Wahl der

Ausbildungsstätte

Der Text des Grundgesetzes erwähnt ein „Recht auf Bildung" nicht. Einige Landesverfassungen garantieren dagegen ein Recht auf Bildung 11 (z.B. Art. 27 Verf. Bremen: „Jeder hat nach Maßgabe seiner Begabung das gleiche Recht auf Bildung. Dieses Recht wird durch öffentliche Einrichtungen gesichert."). Daß ein „Recht auf Bildung" im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes nicht aufgeführt wird, bedeutet jedoch nicht, daß die Bundesverfassung in diesem Gebiet keine grundrechtlich geschützten Positionen kennt. Elemente eines Rechts auf Bildung enthält das Grundrecht auf freie Wahl des Berufs, des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte nach Art. 12 Abs. 1 GG. Zum Schutzbereich dieses Grundrechts gehört auch die Ausbildung für einen Beruf. „Zumindest dann, wenn die Aufnahme eines Berufes . . . eine bestimmte Ausbildung voraussetzt, (sind) Beschränkungen im freien Zugang zu der vorgeschriebenen Ausbildung ähnlich streng zu beurteilen . . . wie Zulassungsvoraussetzungen für den Beruf selbst" 12 .

11

Vgl. dazu HEYMANN/STEIN Das Recht auf Bildung, AöR 97 (1972) S. 185/190 Fn. 21 u. 22, sowie Schule im Rechtsstaat, Veröffentlichungen des D . J . T . , Bd. I, 1981, S. 126ff auch zur Frage nach dem Rechtscharakter dieser Vorschriften und der Bedeutung völkerrechtlicher Konventionen über ein „Recht auf Bildung"; vgl. im übrigen generell zum „Recht auf Bildung": H . J . FALLER Bestand und Bedeutung der Grundrechte im

12

Bildungsbereich (mit besonderer Berücksichtigung des Rechts auf Bildung), in: E u G R Z 1981, 611. BVerfGE 33, 303/330 - erstes Numerusclausus-Urteil; Zugangsregelungen für Ausbildungsstätten sind in diesen Fällen nach der vom Bundesverfassungsgericht entwikkelten Stufentheorie zu beurteilen, vgl. dazu BVerfGE 7, 377/401 ff; 30, 292/315ff; 33, 303/337f.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1003

Im ersten Numerus-clausus-Urteil vom 18. 7. 1972 13 hat das Bundesverfassungsgericht diesen Grundrechtsschutz in Ausbildungsfragen von einem Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe zu einem Teilhaberecht erweitert. Das aus Art. 12 Abs. 1 G G in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete Teilhaberecht gibt einen Anspruch auf Zugang zu staatlichen Ausbildungseinrichtungen jedenfalls dort, wo der Staat, wie im Hochschulwesen, ein rechtliches oder ein faktisches Ausbildungsmonopol besitzt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Erweiterung von einem Abwehrrecht zu einem Teilhaberecht auf eine allgemeine, nicht nur für Art. 12 Abs. 1 G G wichtige Begründung gestützt: „ J e stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen" 14 . Im ersten Numerus-clausus-Urteil zieht das Bundesverfassungsgericht auch die — notwendigen — Grenzen für das durch Art. 12 Abs. 1 G G i. V. m. dem Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip garantierte Recht auf Zugang zur Ausbildungsstätte Hochschule: Der „fördernde", Teilhaberechte gewährende Grundrechtsschutz steht „unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann"; „dies hat in erster Linie der Gesetzgeber in eigener Verantwortung zu beurteilen, der bei seiner Haushaltswirtschaft auch andere Gemeinschaftsbelange zu berücksichtigen und nach der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 109 Abs. 2 G G den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen hat" 1 5 . Orientierungsdaten für die notwendige Abwägung des Gesetzgebers sind einerseits die „erkennbaren Tendenzen der Nachfrage nach Studienplätzen" (, „da eine ausschließliche Ausrichtung an den ohnehin schwierigen Bedarfsermittlungen auf eine unzulässige Berufslenkung und Bedürfnisprüfung hinauslaufen könnte, bei der die Bedeutung freier Selbstbestimmung als konstitutivem Element einer freiheitlichen Ordnung verkürzt würde"). Andererseits verpflichtet die Verfassung nicht etwa dazu, durch Investitionen und die Personalausstattung im Hochschulwesen „für jeden Bewerber zu jeder Zeit den von ihm gewünschten Studienplatz bereitzustellen". Im Bereich staatlicher Teilhabegewährung „würde es dem Gebot sozialer Gerechtigkeit . . . geradezu zuwiderlaufen, die nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mittel unter Vernachlässigung anderer wichtiger Gemeinschaftsbelange bevorzugt einem privilegierten Teil der Bevölkerung zugute kommen zu lassen". Der Gesetzgeber kann sich daher bei Ausbauentscheidungen „auch am vordringlichen Kräftebedarf für « BVerfGE 33, 303/329 ff. 14 BVerfGE 33, 303/330f; zu den damit zusammenhängenden grundrechtstheoretischen Fragen eines Teilhaberechts vgl. P. HÄBERLE Das Bundesverfassungsgericht im Leistungsstaat, in: D Ö V 1972, 729ff; FRIESENHAHN Der Wandel des Grundrechtsverständnisses,

15

Verhandlungen des 50. D. J . T., 1974, II G ; P. BADURA Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Staat, 1975, 17ff/32ff; E. STEIN Staatsrecht, 7. Aufl., 1980, S. 246ff. BVerfGE 33, 303/333.

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6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

die verschiedenen Berufe" orientieren, wenn „individuelle Nachfrage und gesamtgesellschaftlicher Bedarf" durch Studienberatung nicht zur Deckung gebracht werden können 1 6 . Diese gesamtgesellschaftliche Bedarfsplanung darf allerdings nicht bei den Zugangsvoraussetzungen für den Ausbildungsgang, beim Hochschulzugang also bei den Qualifikationsanforderungen für die Hochschulreife, ansetzen; es wäre insbesondere nicht zulässig, nur jeweils so vielen Bewerbern die für das Studium erforderliche Qualifikation und damit eine Hochschulzugangsberechtigung zuzusprechen, wie Ausbildungsplätze an den Hochschulen vorhanden sind. Eine derartige „Passung" der Zahl der Zugangsberechtigungen und der Ausbildungsplätze wäre nicht nur deshalb fragwürdig, weil sich danach die Zugangsvoraussetzungen nach den wechselnden Nachfrage- und Kapazitätsbedingungen unter Umständen von Zulassungstermin zu Zulassungstermin ändern müßten. Sie könnte auch nicht mit dem Grundsatz in Einklang gebracht werden, daß die Zugangsvoraussetzungen für einen Ausbildungsgang in einem angemessenen Verhältnis zu den Eignungsanforderungen für den Beruf stehen müssen, auf den die Ausbildung hinführen soll 1 7 . Eignungsanforderungen für den Ausbildungsgang und für den Beruf dürfen deshalb nicht von den schwankenden Nachfrage- und Ausbildungsplatzdaten abhängig gemacht werden; wäre es anders, wären damit einer — verfassungsrechtlich unzulässigen — Berufslenkung 1 8 durch die Hintertür alle Wege geöffnet. Diese verfassungsrechtlichen Grenzen hätte auch eine von den Hochschulen durchgeführte Eignungsprüfung zu berücksichtigen, die anstelle des in der Schule erworbenen Abiturs die Hochschulzugangsberechtigung verleihen soll 1 9 . Die in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien üblichen Zugangsprüfungen einzelner Hochschulen mit voneinander abweichenden, auch von den Ausbildungskapazitäten und der Nachfrage abhängigen Zugangsanforderungen können daher bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht auf das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland übertragen werden. Es ist im übrigen zu bezweifeln, ob eine Hochschuleingangsprüfung — anstelle des Abiturs — den von manchen erwarteten Entlastungseffekt für die Schulen haben könnte: Der Numerus clausus wirkt ja nicht nur insoweit auf die Oberstufe des Gymnasiums zurück, als er einen „Kampf um Zehntelnoten" — mit allen Folgen für das Schulklima und den Bildungsgang — begünstigt. Würde die Schule keine Hochschulreife mehr verleihen, könnten Schüler und Eltern — zu Recht — eine Vorbereitung auf die Hochschuleingangsprüfung verlangen, die anstelle der Schule über die Zugangsberechtigung entscheidet. Diesen Vorbereitungsaufgaben könnte sich auf die

16

BVerfGE 33, 303/334f; zur Frage, ob unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf Aufrechterhaltung vorhandener Kapazitäten besteht vgl. DALLINGER/BODE/DELLIAN Hochschulrahmengesetz, Kommentar, 1978, Rdn. 12 zu § 29 H R G ; zur Frage einer Pflicht zur Aufrechterhaltung und

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ggfls. zum Ausbau von Kapazitäten im Schulbereich vgl. die Nachweise in Fn. 48. BVerfGE 39, 258/270; 43, 291/320. Vgl. BVerfGE 33, 303/334. Vgl. dazu den Vorschlag von ROELLEKE/ KICKARTZ Entwurf eines Landesgesetzes über den Hochschulzugang in: Recht und Staat, 1976, 450/451.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1005

Dauer die Schule nicht entziehen. Mit einer Umstellung von einer Schulabschlußqualifikation auf eine Hochschuleingangsprüfung wäre also — für die Schule — letztlich wenig gewonnen. Solange man am Regelfall der „allgemeinen" Hochschulreife festhalten will, ist außerdem fraglich, ob eine notwendigerweise „punktuelle" Hochschuleingangsprüfung bessere Prognosen über die Studienerfolgschancen geben kann als ein (noch so mangelhafter) Qualifikationsnachweis der Schule. Die derzeit in der Erprobung befindlichen Tests für das Medizinstudium lassen sich nur unter dem Gesichtspunkt rechtfertigen, daß in den medizinischen Disziplinen ein grobes Mißverhältnis von Bewerbern und Studienplätzen besteht und daß die Tests zumindest einem Teil der Bewerber zusätzliche Chancen geben sollen; sie sind ein gerade noch akzeptabler Notbehelf, keine unbedenkliche oder gar zukunftsweisende Neuerung. Die mit dem Numerus clausus verbundenen Probleme sind im Kern nicht über die Hochschulzugangsberechtigung oder andere Ausleseverfahren (etwa bereits am Ende der Mittelstufe), sondern, wenn überhaupt, an anderer Stelle zu lösen oder wenigstens zu mildern: durch eine Sicherung und Erweiterung der Ausbildungskapazität an den Hochschulen und eine Steigerung der Attraktivität anderer Ausbildungsgänge. Übersteigt die Zahl der Bewerber diejenige der Ausbildungsplätze und ist deshalb eine Auswahl unter den Bewerbern notwendig, bei der auch Leistungsprüfungen eine Rolle spielen, wird es immer „Rückwirkungen" auf die Bildungseinrichtung geben, aus der die Bewerber kommen. Dieser Zusammenhang sollte auch in der bildungspolitischen Diskussion nicht geleugnet werden — wie dies leider immer wieder geschieht, wenn zugleich das angeblich bestehende (im internationalen Vergleich aber z. B. nicht zu belegende) „Uberangebot" an Akademikern und der „Leistungsstreß" an den Schulen beklagt werden. Bedarfsgesichtspunkte können allerdings — wie bereits erwähnt — bei der Entscheidung über den Ausbau der Ausbildungseinrichtungen berücksichtigt werden. Dieses „Steuerungsrecht" des Gemeinwesens 20 unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von einer unzulässigen staatlichen Berufslenkung über die Gestaltung der Zugangsvoraussetzungen zu einem Ausbildungsgang. Bei einer Steuerung über die Eignungsanforderungen könnten Bedarfsgesichtspunkte ohne jede verfassungsrechtliche Schranke, ohne Abwägung zwischen individualrechtlichen Positionen und Gemeinschaftsbelangen, über die Zuteilung von Bildungschancen entscheiden. Eine indirekte Steuerung über die Ausbauentscheidungen für Ausbildungsstätten muß demgegenüber vom Teilhaberecht der Bewerber ausgehen, das ein Zugangsrecht zu den staatlichen Einrichtungen mit einem rechtlichen oder faktischen Ausbildungsmonopol sichert. Eine Beschränkung des Rechts auf Hochschulzugang bei einem absoluten Numerus clausus, der einer objektiven Zulassungsvoraussetzung 21 für die Berufswahl gleichkommt, ist im übrigen bereits nach den allgemeinen vom Bundesverfassungsge-

20

OPPERMANN Gutachten C zum 51. D. J . T . , 1976, S. C 91.

21

Im Sinne der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Stufentheorie vgl. BVerfGE 7, 377/401 ff.

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6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

rieht zu Art. 12 Abs. 1 GG entwickelten Grundsätzen22 nur zulässig zur „Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut" (hier: die Funktionsfähigkeit der Universität als Voraussetzung für einen ordnungsgemäßen Studienbetrieb) und nur unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Für eine Beschränkung des am Gleichheitssatz orientierten Teilhaberechts gelten nach dem ersten Numerus-claususUrteil des Bundesverfassungsgerichts „eher noch strengere Anforderungen"; ein absoluter Numerus clausus für Studienanfänger ist danach nur verfassungsmäßig, wenn die vorhandenen, mit öffentlichen Mitteln geschaffenen Ausbildungskapazitäten erschöpfend genutzt werden und „Auswahl und Verteilung nach sachgerechten Kriterien mit einer Chance für jeden an sich hochschulreifen Bewerber erfolgen" 23 . Neben diesen materiellrechtlichen Anforderungen muß die Auswahl unter prinzipiell Gleichberechtigten im Numerus-clausus-Fall zudem formell-rechtlich durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes getroffen werden (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG) 24 . Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze zum Zugangsrecht zur Ausbildungsstätte „Hochschule" nach Art. 12 Abs. 1 GG i.V. m. dem Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip haben auch für andere „Ausbildungsstätten" Bedeutung, soweit der Staat dort ein faktisches, „nicht beliebig aufgebbares"25 oder ein rechtliches Ausbildungsmonopol besitzt. Dies gilt z.B. für weiterführende Schulen 26 oder für den Vorbereitungsdienst für Lehrer und Juristen. b) Recht auf Persönlichkeitsentfaltung Eine weiteren Ansatz für verfassungsrechlich gesicherte Positionen im Bildungswesen bietet das allgemeine Freiheits- und Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG, wiederum i.V. m. Art. 3 GG und Art. 20 GG. Das einzelne Kind hat nach Art. 2 Abs. 1 GG „ein Recht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit seiner Anlagen und Befähigungen" 27 . Das Entfaltungsrecht des Kindes28 steht allerdings unter dem Vorbehalt der in Art. 2 Abs. 1 GG genannten Eingrenzungen. Das Entfaltungsrecht hat auch im Bildungsbereich, insbesondere im Schulwesen, Bedeutung29 (soweit nicht Art. 12 Abs. 1 GG als spezielleres Grundrecht vorgeht 30 ). Es enthält, wie Art. 12 Abs. 1 GG, Elemente eines „Rechts auf

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27

BVerfGE 7, 377/401 ff; 30, 292/315 ff. BVerfGE 33, 303/338. Zur Ausgestaltung dieser Grundsätze im Hochschulzugangsverfahren vgl. auch BVerfGE 43, 291/317ff m. w. N. zur Rechtsprechung in Numerusclausus-Fragen; s. auch S. 1028 ff. BVerfGE 33, 303/337. BVerfGE 33, 303/331. Vgl. OPPERMANN (Fn. 20) S. C 9 0 f ; BVerfGE 58, 257/273 für Gymnasien. BVerfGE 45, 400/417; 58, 257/272.

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29

30

Vgl. zum Inhalt des kindlichen Entfaltungsrechts E. STEIN Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule, 1967, zu seiner Bedeutung im Bildungswesen insbesondere S. 3 7 f f ; OPPERMANN (Fn. 20) S. C 82ff; BVerfGE 58, 257/272ff. BVerfGE 47, 46/73f, 80; 53, 185/203; 58, 257/272 ff. Zur Abgrenzung zwischen Art. 12 Abs. 1 G G und Art. 2 Abs. 1 G G vgl. BVerfGE 58, 257/272 ff.

2 . Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

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Bildung" 31 , allerdings in anderer Ausprägung als das durch Art. 12 Abs. 1 garantierte Zugangsrecht zu Ausbildungsstätten. Der Schutz des Selbstentfaltungsrechts des Kindes nach Art. 2 Abs. 1 GG ist zunächst auf eine Grenzziehung gegenüber der staatlichen Bestimmungsmacht im Bildungswesen (vor allem nach Art. 7 Abs. 1 GG), „positiv" auf eine begrenzte Garantie der „Freiheit der Bildung" 32 ausgerichtet. Es sichert z.B. (nicht nur im Interesse des Erziehungsrechts der Eltern nach Art. 6 Abs. 2 GG, sondern auch des Entfaltungsrechts des Kindes) ein Mindestmaß an staatlicher Offenheit für die „Vielfalt der Anschauungen in Erziehungsfragen", soweit sich diese Offenheit „mit einem geordneten staatlichen Schulsystem verträgt" 33 , sowie an Toleranz und Zurückhaltung bei der Bestimmung der über eine bloße Wissensvermittlung hinausgehenden Erziehungsziele im öffentlichen Bildungswesen 34 . Die Abgrenzung zwischen dem Entfaltungsrecht des Kindes nach Art. 2 Abs. 1 GG und der Gestaltungsfreiheit des Staates im Schulwesen nach Art. 7 Abs. 1 GG „verläuft dabei etwa parallel zu der zwischen Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 7 Abs. 1 GG" 3 4 a (vgl. dazu S. 1012ff). Die aus Art. 2 Abs. 1 GG abzuleitenden Entfaltungsrechte des Kindes sind andererseits nicht auf Abwehr- und Abgrenzungsrechte beschränkt. Bereits die das Toleranzgebot sichernden Individualrechte erschöpfen sich nicht in bloßen Defensivfunktionen. „Im Schulverhältnis" ist ohnedies — wie im Bildungswesen allgemein — in vielen Fällen „bei der Frage nach der Grundrechtsrelevanz zwischen Eingriffen und Leistungen kaum zu unterscheiden" 35 . Art. 2 Abs. 1 GG i. V.m. Art. 3 GG und dem Sozialstaatsprinzip garantiert über Abwehrfunktionen hinaus ein Recht auf gleiche Chance zur Persönlichkeitsentwicklung im öffentlichen Bildungswesen. Wenn und soweit der Staat Bildungsangebote macht, hat er dabei, auch beim Zugang zu den Bildungseinrichtungen, den Gleichheitssatz zu beachten, insbesondere auch das besondere Differenzierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 GG) nach der „Herkunft" (i. S. sozialer, schichtenspezifischer Herkunft). Besteht ein staatliches Monopol für bestimmte Bildungsgänge, sichert Art. 2 Abs. 1 GG darüber hinaus, wie Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 3 und Art. 20 GG, ein Teilhaberecht 36 . Den Individualrechten nach Art. 2 Abs. 1 GG entspricht auf der Seite der Staatspflichten die auch auf Art. 7 Abs. 1 GG (wiederum i.V. m. dem Sozialstaatsgebot) beruhende „Aufgabe des Staates", „gleiche Bildungschancen herzustellen" 37 . Dabei ist Schule „nicht notwendig nur eine Anstalt zur Erschließung und Förderung von Begabungen", die ausschließlich oder überwiegend der Leistungsdifferenzierung

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32 33

34

B V e r w G E 4 7 , 201/206; 56, 155/158; offengelassen in B V e r f G E 4 5 , 400/417; vgl. dazu auch OPPERMANN (Fn. 2 0 ) S. C 85. HEYMANN/STEIN (Fn. 11) S. 2 0 9 ff. B V e r f G E 34, 165/183 f ü r das insoweit in die gleiche Richtung zielende Grundrecht nach A r t . 6 Abs. 2 G G . Vgl. zum Meinungsstand den Überblick bei OPPERMANN (Fn. 20) S. C 82 f f , C 92 f f , und RICHTER Referat v o r dem 5 1 . D. J . T., Sit-

zungsbericht M , 5 1 . D . J . T . , 1976, S. M 2 6 f f mit jeweils w . N . , sowie HEYMANN/ STEIN (Fn. 1 1 ) S. 2 0 9 f f . 34 » B V e r f G E 53, 185/203. 35 BVerwGE 56, 155/158; vgl. dazu auch B V e r f G E 47, 46/79. 3 6 Vgl. dazu S. 1 0 0 2 f f sowie Fn. 48; zur A b grenzung B V e r f G E 58, 257/272 ff. 3 7 B V e r f G E 34, 165/189.

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6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

und Leistungsauslese dienen muß; „sie soll auch zur Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und zu seiner Eingliederung in die Gesellschaft beitragen" 3 8 . Die Staatsaufgabe, „gleiche Bildungschancen" zu sichern, ist also nicht schon dadurch erfüllt, daß an alle Schüler formal gleiche Leistungsanforderungen gestellt werden. Das Bildungswesen, vor allem die Schule, muß auch die Unterschiede in der sozialen Ausgangslage und in den Entwicklungsrichtungen berücksichtigen. Dies macht (ähnlich wie bei der „Wert"-Orientierung der Erziehungsziele) einen Ausgleich zwischen verschiedenen Einzelinteressen erforderlich. „Die Schule" ist, wie das Bundesverfassungsgericht im Urteil zur hessischen Förderstufe feststellt, „nicht nur für den einzelnen, sondern für alle Schüler verantwortlich"; „insbesondere das hochbegabte Kind muß deshalb in Kauf nehmen, daß die Leistungsdifferenzierung im Unterricht einer öffentlichen Schule seine besondere Begabung nur in begrenztem Umfang berücksichtigen kann" 3 9 . Das aus Art. 2 Abs. 1 G G abzuleitende Grundrecht bezieht sich nicht nur auf „Ausbildungsstätten" i. S. des Art. 12 Abs. 1 G G 4 0 . Es gilt auch für andere öffentliche Bildungseinrichtungen, z . B . für den Grundschulbereich (bei dem zweifelhaft sein kann, ob er in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 G G fällt 41 ). Dabei sind allerdings — im Schulwesen vor allem die durch die staatliche Gestaltungsfreiheit nach Art. 7 Abs. 1 G G gezogenen — Grenzen zu berücksichtigen. Soweit es um Teilhaberechte geht, sind diese Grenzen an ähnlich strengen Maßstäben — oder noch strengeren (z. B. im Grundschulbereich) — auszurichten wie bei den durch Art. 12 Abs. 1 G G gesicherten Teilhaberechten. Der Gesetzgeber muß im übrigen in Abwägung mit anderen Gemeinschafts- und Individualgütern entscheiden, mit welchen bildungspolitischen Maßnahmen er das Entfaltungsrecht des Kindes gewährleisten will. Art. 2 Abs. 1 G G i . V . m . dem Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip setzt dabei zwar äußerste verfassungsrechtliche Grenzen. Der Gesetzgeber verfügt in diesem Rahmen jedoch über einen weiten Spielraum für unterschiedliche (und jeweils verfassungsrechtlich zulässige) Entscheidungen 42 . Diesen Spielraum würde er erst dann verlassen, wenn eine „quantitative Untergrenze der öffentlichen Bildungsvorsorge" 43 nicht mehr gewährleistet ist. Zu diesem nach dem Sozialstaatsgebot vom Staat zu garantierenden „Minimumstandard" gehört die Existenz und Fortentwicklung eines ausgebauten Bildungswesens mit ausreichenden Bildungschancen für alle Bürger 4 4 . Im Schulwesen wird diese sozialstaatliche Grundverpflichtung auch durch die in Art. 7 Abs. 1 G G verankerte Staatsverantwortung gestützt 45 , die dem „Ziel" dient, „ein Schulsystem zu gewähr-

38

40

41

42 43

BVerfGE 34, 165/188. BVerfGE 34, 165/189. Vgl. zur Abgrenzung BVerfGE 58, 257/ 272 ff. Vgl. BVerwGE 56, 155/157 zum Fall der Nichtversetzung im Grundschulbereich sowie allgemein BVerfGE 58, 257/272 ff. Vgl. dazu auch BVerfGE 34, 165/181 ff. OPPERMANN ( F n . 2 0 ) S . C

25.

44

45

Vgl. OPPERMANN (Fn. 20) S. C 21 ff; nach OPPERMANN (Fn. 20) S. C 25 gehört dazu auch die Staatsverpflichtung, „grundsätzlich ein Förderungssystem bereitzustellen"; vgl. dazu auch E. A. BLANKE Ausbildungsförderung im sozialen Rechtsstaat, in FamRZ 3/ 81, 226 ff. WIMMER Die Rechtspflicht zur öffentlichen Bildungsplanung, RdJB 1970, S. 65/66;

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1009

leisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet" 46 . Diese Staatsverantwortung findet z.B. in der allgemeinen Schulpflicht (im Grundsatz, nicht mit bestimmter Dauer) Ausdruck 47 , zu der als individualrechtliche „Kehrseite" ein — aus Kapazitätsgründen nicht einschränkbares — Zugangsrecht zur Pflichtschule (i.S. eines Teilhaberechts) gehört 48 . Der bundesverfassungsrechtlichen Garantie eines „Minimumstandards" im Bildungswesen entspricht so ein „Minimumgrundrecht" 49 im Bildungswesen nach Art. 2 Abs. 1 G G i. V.m. dem Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip . 2. Staatsverantwortung und Grundrechte im Schulwesen Vorbemerkung Grundrechtsnormen, Organisationsregeln und Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes wie das Sozialstaatsgebot sind im Bildungswesen, wie auch der Überblick über die verfassungsrechtlich gesicherten Individualrechte nach Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 G G zeigt, miteinander verbunden und verschränkt. Dieses wechselseitige Abhängigkeits- und Begrenzungsverhältnis prägt und bestimmt die Grundentscheidung für die Staatsverantwortung im Schulwesen nach Art. 7 Abs. 1 G G , die dem Staat, anders als in anderen grundrechtlich geschützten „Lebensbereichen", auch durch eine besondere objektive Ordnungsnorm eine Garantenstellung für die Grundrechtsverwirklichung zuweist. a) Staatliche Gestaltungsbefugnisse und

Religionsfreiheit

Nach Art. 7 Abs. 1 G G „steht das gesamte Schulwesen50 unter der Aufsicht des Staates". Die Bestimmung entspricht wörtlich der Vorschrift des Art. 144 Satz 1, 1. Halbsatz der Weimarer Verfassung. Art. 144 der Weimarer Verfassung geht wiederum auf ähnliche Staatsaufsichtsbestimmungen früherer deutscher Verfassungen zurück. § 153 der von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossenen Reichsverfassung vom 28. März 1849 oder Art. 23 Abs. 1 der Preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 enthalten z. B. vergleichbare Vorschriften. Die entsprechende Regelung der Reichsverfassung von 1849 zeigt die ursprüngliche Zielsetzung der Staatsaufsichtsvorschriften, die sich gegen die ältere geistliche Schulaufsicht richtete: „Das Unterrichtswesen steht unter der Oberaufsicht des Staates und ist, abgesehen vom Religionsunterricht, der Beaufsichtigung der Geistlichkeit als solcher enthoben."

Verpflichtung des Staates aus, ggfs. die Bildungseinrichtungen auszubauen.

HEYMANN/STEIN ( F n . 11) S. 193 m . w . N . ; OPPERMANN ( F n . 2 0 ) S . C 21 f. 46

Vgl. BVerfGE 26, 228/238; 34, 165/182.

49

R I C H T E R ( F n . 3 4 ) S . M 12 f.

47

HEYMANN/STEIN

50

Zum Schulbegriff vgl. H. HECKEL Deutsches Privatschulrecht, 1955, S. 218; ebenso

48

V g l . STEIN ( F n . 2 8 ) S . 41 f ; HEYMANN/STEIN

MAUNZ (1980) in

( F n . 11) S.

SCHOLZ Grundgesetz, Kommentar, Rdn. 9 zu Art. 7.

( F n . 11)

MANN ( F n . 2 0 ) S . C

S.

193,

OPPER-

25.

193 m . w . N .

in F n . 3 2 ; STEIN

und HEYMANN/STEIN gehen dabei nicht nur für den engeren Pflichtschulbereich von der

MAUNZ/DÜRIG/HERZOG/

1010

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Die politische Auseinandersetzung über die religiöse und weltanschauliche Ausgestaltung des Schulwesens (die sich nicht nur auf den Grundsatz der Staatsaufsicht bezog) führte in der Weimarer Verfassung zum sog. Schulkompromiß des Art. 146 WRV. Art. 146 Abs. 1 Satz 2 WRV sah die Gemeinschaftsschule als Regeleinrichtung vor. Die verschiedenen öffentlichen Schultypen der Länder — Bekenntnisschulen und Gemeinschaftsschulen — blieben jedoch bestehen, da das in Art. 146 Abs. 2 Satz 3 WRV vorgesehene Reichsschulgesetz nicht zustande kam. Art. 7 G G weicht wesentlich vom Schulkompromiß der Weimarer Verfassung ab. Er geht von der Gestaltungsfreiheit der Länder im Schulwesen aus 51 . In Art. 7 Abs. 2, 3 und 5 G G sind nur wenige Grundsätze für die bekenntnismäßige Gestaltung der Schulen und über die Rechte der Erziehungsberechtigten in diesen Fragen geregelt (u. a.: Bestimmungsrecht der Eltern über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht, Art. 7 Abs. 2; Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen, als ordentliches Lehrfach, Art. 7 Abs. 3 Satz 1 G G , siehe dazu auch die Ausnahmeregelung in Art. 141 G G ; auf Antrag Zulassung einer privaten Volksschule als Gemeinschaftsschule, Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule, wenn eine öffentliche Volksschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht, Art. 7 Abs. 5 GG 5 2 ). Weitergehende Einflußmöglichkeiten der Eltern auf die bekenntnismäßige Gestaltung der öffentlichen Schulen, wie sie etwa Art. 146 Abs. 2 WRV eingeräumt hatte, folgen aus Art. 7 G G nicht 53 . Art. 7 Abs. 3 G G setzt dabei voraus, wie auch Art. 7 Abs. 5 G G zeigt, daß die Länder verschiedene Lösungen wählen und öffentliche Schulen als „Gemeinschaftsschulen", als „Bekenntnis"- oder „Weltanschauungsschulen" einrichten können 54 . Die Schulformbeschreibung in Art. 7 Abs. 5 G G enthält keinen abschließenden Katalog mit fest umrissenen Schulbegriffen. Bei der Wahl zwischen verschiedenen zulässigen Schulformen muß der „demokratische Landesgesetzgeber" allerdings das Grundrecht auf Religionsfreiheit nach Art. 4 G G berücksichtigen543. Das durch Art. 4 Abs. 1 und 2 garantierte Grundrecht, das dem Kind zusteht und dem, jedenfalls bis zur Religionsmündigkeit des Kindes 55 , auch für die Ausübung der Erziehungsrechte der Eltern nach Art. 6 Abs. 2 G G Bedeutung zukommt, gibt zwar kein positives Bestimmungsrecht über die Einrichtung von Schulen bestimmter religiöser oder weltanschaulicher Prägung; es schließt jedoch das „Recht der Eltern ein, ihren Kindern die von ihnen für richtig gehaltene religiöse oder weltanschauliche Uberzeugung zu vermitteln". Es enthält insoweit ein individuelles Abwehrrecht gegen staatliche Maßnahmen, die diese persönliche, grundrechtlich geschützte Position beeinträchtigen 56 . Die Religionsfreiheit schützt dabei gerade „auch das Bekenntnis (die Weltanschauung) der Minderheit vor Beeinträchtigung durch die Mehrheit";

51 52

B V e r f G E 6, 309/355f; 41, 29/44ff. Zu den Einzelheiten dieser Bestimmungen vgl. MAUNZ (1980) a a O 4 7 - 5 3 g , 82 z u A r t . 7.

« Vgl. BVerfGE 41, 29/44f. 5 4 Vgl. BVerfGE 41, 29/46.

(Fn.

50)

54a

BVerfGE 41,29.

55

V g l . d a z u MAUNZ (1980) a a O ( F n . 50) R d n . 32 z u A r t . 7, DÜRIG (1977) a a O ( F n . 50)

56

B V e r f G E 41, 29/46 ff.

Rdn.

Rdn. 25 zu Art. 19 Abs. 3; vgl. auch Fn. 94.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1011

„je nach der konfessionellen oder weltanschaulichen Haltung der beteiligten Elternschaft könnte es sich daher ergeben, daß die Länder einzelne der nach Art. 7 Abs. 3 bis 5 G G zulässigen Schulformen nicht oder nur bei Sicherstellung ausreichender Ausweichmöglichkeiten zur öffentlichen Regelschule erklären dürfen" 5 7 . Das Grundrecht nach Art. 4 Abs. 1 und 2 G G ist andererseits nicht auf ein bloßes Abwehrrecht beschränkt. Es umfaßt gleichermaßen die negative und die positive Äußerungsform der Religionsfreiheit. Der Landesgesetzgeber hat das „ i m Schulwesen unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit . . . unter Berücksichtigung der verschiedenen Auffassungen durch einen für alle zumutbaren Kompromiß" im Wege des Ausgleichs und der Abstimmung zwischen den in Art. 7 und Art. 4 geschützten Rechtsgütern zu lösen (nach dem Prinzip der „ K o n k o r d a n z " 5 8 ) ; dabei ist vor allem das Gebot der Toleranz zu beachten, das auch in Art. 3 Abs. 3 und Art. 33 Abs. 3 G G Ausdruck findet 5 9 . Seit der nahezu vollständigen Abschaffung staatlicher Bekenntnisschulen in den 60er Jahren 6 0 hat das Spannungsverhältnis zwischen der Gestaltungsfreiheit des Staates nach Art. 7 G G und den Grundrechten nach Art. 4 G G in der Schulpolitik an Bedeutung verloren. Die Gemeinschaftsschule ist seither in allen Ländern als Schulform für die öffentliche Schule anerkannt. Für die Grund- und Hauptschulen (die „Volksschulen" nach Art. 7 Abs. 5 G G ) ist sie in den meisten Ländern die einzige Schulform. Die Gemeinschaftsschule weist in fast allen Ländern einen „ B e z u g " zum Christentum auf, der allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt ist. 1975 hat das Bundesverfassungsgericht über mehrere Verfassungsbeschwerden entschieden, die sich mit teilweise gegensätzlicher Zielsetzung, einerseits für die öffentliche Bekenntnisschule oder — umgekehrt — für die religiös-weltanschaulich neutrale Gemeinschaftsschule, gegen Formen der christlichen Gemeinschaftsschule in einigen Ländern wandten 6 1 . Alle mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen — in den Ländern unterschiedlichen — Regelungen zur Gemeinschaftsschule mit mehr oder weniger starkem „ B e z u g zum Christentum" sind danach mit dem Grundgesetz vereinbar. In einem Leitsatz der Entscheidung zur christlichen Gemeinschaftsschule badischer Überlieferung hat das Bundesverfassungsgericht die dafür maßgebliche Überlegung zusammengefaßt: „Eine Schulform, die weltanschaulich-religiöse Zwänge soweit wie irgend möglich ausschaltet sowie Raum für eine sachliche Auseinandersetzung mit allen religiösen und weltanschaulichen Auffassungen — wenn auch von einer christlich bestimmten Orientierungsbasis her — bietet und dabei das Toleranzgebot beachtet, führt Eltern und Kinder, die eine religiöse Erziehung ablehnen, nicht in einen verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt" 6 2 .

BVerfGE 41, 29/48. Vgl. dazu K. HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 1982, S. 26f. s» Vgl. BVerfGE 41, 29/48 ff. 57

60

58

61 62

Vgl. zur Entwicklung der konfessionellen Gestaltung des Schulwesens in den Ländern die zusammenfassende Darstellung in BVerfG E 41, 29/53 ff. BVerfGE 41, 29; 41, 65; 41, 88. BVerfGE 41, 29.

1012

b) Privatschulfreiheit

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen O r d n u n g

und >,Staatlichkeit" des Schulwesens

Die Bestimmungen über die Privatschulen in Art. 7 Abs. 4 GG sind ebenfalls im Zusammenhang mit „konfessionellen" Elternrechten und Schulgestaltungsfragen zu sehen (vgl. dazu auch die Sonderregelung in Art. 7 Abs. 5 G G für „Volksschulen"). Sie eröffnen — über die Sicherung von konfessionellen oder weltanschaulichen „Ausweichmöglichkeiten" 63 hinaus — aber insbesondere einen Freiraum für pädagogische Reformen und Alternativen. Die Vorschriften in Art. 7 Abs. 4 Satz 2 bis 4 GG entsprechen (abgesehen von unwesentlichen Abweichungen im Wortlaut) der Regelung in Art. 147 Abs. 1 WRV. Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG geht jedoch über die Rechtslage in der Weimarer Verfassung hinaus. Er garantiert ausdrücklich die Institution der Privatschule; er enthält ein grundrechtlich gesichertes Errichtungsrecht 64 . Die damit gewährleistete „Privatschulfreiheit" schließt ein staatliches Schulmonopol aus. Andererseits unterliegt auch das Privatschulwesen nach Art. 7 Abs. 1 GG der Staatsaufsicht. Die Ersatzschulen als wichtigster Teil des Privatschulwesens sind nach Art. 7 Abs. 4 Satz 2 unter einen staatlichen Genehmigungsvorbehalt gestellt. Art. 7 Abs. 4 Satz 3 verlangt vor allem für die „Lernziele" Gleichwertigkeit — nicht aber vollkommene Übereinstimmung — mit den öffentlichen Schulen; in dem dadurch gesicherten Freiraum können die Privatschulen den Unterricht eigenverantwortlich gestalten 65 . Die Schulbestimmungen in Art. 7 G G weisen der Privatschulfreiheit und damit einer begrenzten „Unterrichtsfreiheit" zwar einen verfassungsrechtlich gesicherten Platz im Schulwesen zu. Sie gehen aber, was diese Ausgrenzungen aus der Staatsverantwortung anbelangt, in der Gesamtgewichtung doch von einem Regel-AusnahmeVerhältnis, einem „eingeschränkten Staatsmonopol" 66 , aus. Art. 7 Abs. 1 G G enthält — vom Sozialstaatsgebot geprägt — eine Entscheidung für die grundsätzliche „Staatlichkeit" des Schulwesens. Die Staatsverantwortung im Schulwesen bildet dabei einerseits eine Voraussetzung, anderseits aber auch eine Grenze für die Verwirklichung bestimmter auf das Bildungswesen bezogener Grundrechte. Es ist kein Zufall, daß in einer Zeit der auseinanderfallenden Wertorientierungen, der „Segmentierung" der Gesellschaft, gerade die Staatsverantwortung im Schulwesen zum Zankapfel der politischen Szenerie wird. c) Zusammenwirken

von elterlicher und staatlicher

Erziehung

Eine vergleichbare Wechselbeziehung prägt auch das Verhältnis und die „Konkordanz" 6 7 der Gestaltungsfreiheit des Staates nach Art. 7 Abs. 1 GG und des elterlichen Erziehungsrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 G G (auch soweit das elterliche Erziehungsrecht nicht auf das Grundrecht der Religionsfreiheit, vgl. dazu S. lOlOf, bezogen

63

"

65

Vgl. dazu BVerfGE 41, 29/48. Vgl. BVerfGE 27, 195/200f. Daraus folgt nach BVerwGE 23, 347; 27, 360 ein grundsätzlicher Subventionsanspruch bei Ersatzschulen. BVerfGE 27, 195/200f; 34, 165/197.

66

67

OPPERMANN (Fn. 20) S. C 22; vgl. auch RICHTER (Fn. 34) S. M 11. BVerfGE 41, 29/50f f ü r das Verhältnis der staatlichen Gestaltungsbefugnisse nach Art. 7 G G zu den Individualrechten aus Art. 4 G G .

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1013

ist — „pädagogisches" im Gegensatz zum „konfessionellen" Elternrecht). Zu dem nach Art. 7 Abs. 1 G G der elterlichen Bestimmung grundsätzlich entzogenen „staatlichen Gestaltungsbereich gehört nicht nur die organisatorische Gliederung der Schule, sondern auch die inhaltliche Festlegung der Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele." „Daraus ergibt sich das Recht des Staates, die Voraussetzungen für den Zugang zur Schule, den Übergang von einem Bildungsweg zum anderen und die Versetzung innerhalb eines Bildungsweges zu bestimmen, einschließlich der Befugnis zur Entscheidung darüber, ob und inwieweit das Lernziel vom Schüler erreicht worden ist" 6 8 . Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule ist dabei „nicht darauf beschränkt, nur Wissensstoff zu vermitteln"; der „Auftrag des Staates, den Art. 7 Abs. 1 GG voraussetzt, hat vielmehr auch zum Inhalt, das einzelne Kind zu einem selbstverantwortlichen Glied der Gesellschaft heranzubilden" 69 . Die staatliche Bestimmungsmacht im Schulwesen gilt jedoch nicht unbeschränkt. Nach Art. 6 Abs. 2 G G sind Pflege und Erziehung „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht", über deren Verwirklichung die staatliche Gemeinschaft zu wachen hat. Im Gesamtbereich „Erziehung" hat das Grundgesetz, so das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur hessischen Förderstufe, gegenüber der Weimarer Verfassung „das individualrechtliche Moment verstärkt" und den Eltern auch für die Schulerziehung einen größeren, durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 G G grundrechtlich gesicherten Einfluß eingeräumt70. Der staatliche Erziehungsauftrag in der Schule nach Art. 7 Abs. 1 G G ist dabei jedoch „dem elterlichen Erziehungsrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet" 71 . „Die gemeinsame Erziehungsaufgabe von Eltern und Schule, welche die Bildung der einen Persönlichkeit des Kindes zum Ziel hat, verlangt ein sinnvoll aufeinander bezogenes Zusammenwirken der beiden Erziehungsträger" 72 . Gemeint sind damit nicht in erster Linie Formen der „kollektiven" Elternmitbestimmung in der Schule 73 . „Das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 G G ist ein Individualrecht, das jedem Elternteil einzeln zusteht. Es kann nicht durch Mehrheitsbildung ausgeübt werden" 74 . Dieses Individualrecht wird allerdings bei der Erziehung in der Schule nicht nur durch die Gestaltungsbefugnisse des Staates, sondern ebenso durch die kollidierenden gleichen Grundrechte anderer Eltern begrenzt. Die Lösung liegt auch hier, wie beim konfessionellen Elternrecht (vgl. S. lOlOf), in der „Konkordanz" der verschiedenen zu berücksichtigenden Grundgesetzbestimmungen. Wichtig ist dies z. B. für die Gestaltung der Erziehungsziele, bei der der Staat die verfassungsrechtlichen Gebote der Toleranz und Zurückhaltung zu beachten hat. Auch bei der Regelung der staatlichen Bildungswegangebote ist jedoch ein BVerfGE 34, 165/182 - hessische Förderstufe; ähnlich BVerfGE 47, 46/71 f - Sexualerziehung; 45, 400/415 — hessische Oberstufe. BVerfGE 47, 46/72. 7 ° BVerfGE 34, 165/183; 47, 46/74. 7 1 BVerfGE 34, 165/183. 7 2 BVerfGE 34, 165; 47, 46/74.

68

73

74

Zum Zusammenhang von individualrechtlichen Positionen und partizipatorischen Organisationsmodellen der Schule vgl. OPPERMANN (Fn. 20) S. C 38ff; s. dazu auch die Beschlüsse des 51. D . J . T . (1976), Abt. Schule im Rechtsstaat, Nr. 3. und 9. (Fn. 34), S. M 230ff. BVerfGE 47, 46/76.

1014

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Ausgleich zu suchen. „ D e r Staat muß in der Schule die Verantwortung der Eltern für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder achten und für die Vielfalt der Anschauungen in Erziehungsfragen soweit offen sein, als es sich mit einem geordneten staatlichen Schulsystem verträgt" 7 5 . Der Staat darf „nie den ganzen Werdegang des Kindes regeln wollen" und er muß im Rahmen des finanziell und organisatorisch Möglichen ein Schulsystem bereitstellen, „das den verschiedenen Begabungsrichtungen Raum zur Entfaltung läßt, sich aber von jeder ,Bewirtschaftung' des Begabungspotentials freihält" 7 6 . d) Exkurs: Staatliches Schulformangebot und Elternwahlrecht Daraus kann jedoch kein Recht der Eltern abgeleitet werden, daß der Staat eine bestimmte, an deren Wünschen orientierte Schulform zur Verfügung stellen muß — was angesichts der Vielfalt der Bildungsvorstellungen auch nicht durchführbar wäre 7 7 . Es liegt vielmehr, wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach ausgeführt hat, „grundsätzlich in der demokratischen Mehrheitsentscheidung des Landesparlaments, welche Schulform eingeführt werden soll" 7 8 . Andererseits darf das Wahlrecht der Eltern zwischen den vom Staat zur Verfügung gestellten Schulformen „nicht mehr als notwendig" begrenzt werden; eine staatliche Begabungsdiagnose und Bildungsprognose, die allein über die Zuweisung des Kindes zu einem der vorhandenen Bildungswege (in einer oder in verschiedenen Schulformen) entscheiden und „damit den Schüler auf seine Rolle in der staatlichen Gemeinschaft festlegen wollte" und das elterliche Bestimmungsrecht ausschaltete, wäre deshalb verfassungswidrig 79 . Das Bestimmungsrecht der Eltern bei der Bildungswegwahl kann deshalb nur eingeschränkt werden, wenn ihm die mangelnde Eignung des Kindes (nach den vom Staat für die Bildungsangebote festgesetzten Anforderungen) entgegensteht 80 . Das Übergangsverfahren von der vierjährigen Grundschule oder von der die Jahrgangsstufen 5 und 6 umfassenden Orientierungsstufe („Förderstufe") in die weiterführenden Schulen der Mittelstufe enthält in einigen Ländern derartige, das Wahlrecht der Eltern einschränkende (in den einzelnen Ländern im übrigen jeweils unterschiedlich gestaltete) Eignungsanforderungen (z. B. Probearbeiten, Mindestnotenanforderungen im Abgangszeugnis und in bestimmten Fällen mündliche und schriftliche Aufnahmeprüfungen). Andere Länder haben demgegenüber auf eine negativ-verbindliche staatliche Eignungsfeststellung am Ende der Jahrgangsstufe 4 oder 6 verzichtet. In diesen Ländern bleibt die Wahl der weiterführenden Schule nach einer Bildungswegberatung durch die Schule — „positiv" und „negativ" — der freien Entscheidung der Eltern überlassen; die Bewährung in der gewählten Schulform,

75

76 77

78

B V e r f G E 34, 165/183; ebenso B V e r f G E 47, 46/75. B V e r f G E 34, 165/183f. B V e r f G E 45, 400/415 f, B V e r f G E 53, 185/ 196. B V e r f G E 41, 46/107; 45, 400/415; B V e r f G E 53, 185/196.

79 80

Vgl. B V e r f G E 34, 165/192. Vgl. B V e r f G E 34, 165/184f, 192, 199; 45, 400/415; 53, 185/196; s. dazu auch G . EISELT Die Begrenzung schulorganisatorischer Entscheidungen von Legislative und Exekutive durch Kindes- und Elternrechte, in: D Ö V 1979, S. 845/852.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1015

z. B. bei der Versetzung in die nächsthöhere Klasse, entscheidet dann über den weiteren Bildungsweg. 81 Auch bei der Festlegung von Zugangsvoraussetzungen für die verschiedenen Bildungswege verfügt der Staat wohl über einen „weiten Ermessensspielraum". 82 Gerade bei der Bestimmung des Bildungswegs in der Mittelstufe kommt dem Elternwahlrecht, das „nicht mehr als notwendig" eingeschränkt werden darf 83 , jedoch eine besonders große Bedeutung zu. Die Abschaffung der negativ-verbindlichen staatlichen Eignungsprüfung in einigen Ländern wird auch mit der Unzuverlässigkeit 84 der Eignungsfeststellung und -prognose im Alter von 10 oder 12 Jahren begründet. Neuere Untersuchungen, die die Eignungsfeststellungen der Schule für die weitere Schullaufbahn am Ende der Klasse 4 und am Ende der Orientierungsstufe (Klasse 6) vergleichen, lassen eine verhältnismäßig hohe Fehlerquote bei den Bildungswegempfehlungen erkennen 85 . (Diese Fehlerquotenfeststellung bezieht sich nur auf die von der Schule selbst vorgenommene Korrektur von Eignungsprognosen. Eine falsche Bildungswegentscheidung aufgrund einer „negativen" Eignungsprognose — Beispiel: Übergang auf die Hauptschule und nicht auf das Gymnasium — kann im übrigen in der Schulpraxis, trotz der formal weitgehend gewährleisteten „Durchlässigkeit" des Schulsystems, in vielen Fällen nur schwer korrigiert werden. Zweifel an der Eignungsprognose werden vielfach gar nicht entstehen, weil sich die Eltern und das Kind mit der Entscheidung abgefunden haben und die Hauptschule auch bessere Schüler, aus verständlichen Gründen, behalten will.) Die Erfahrungen in den Ländern, die die Wahlentscheidung für die Eltern bereits seit längerer Zeit freigegeben haben, deuten zudem darauf hin, daß die an der Häufigkeit des späteren Schulartwechsels gemessene „Fehlerquote" im langjährigen Schnitt bei einer Entscheidung allein durch die Eltern nicht größer ist, als der entsprechende Anteil bei dem früheren Aufnahmeverfahren mit einer verbindlichen negativen Eignungsprognose. Dies spricht aber nicht etwa dafür, daß beide Verfahren, wenn schon nicht im Einzelfall, so doch im Gesamtschnitt, ungefähr zum gleichen Ergebnis führen. Denn eine Umstellung von einer verbindlichen staatlichen Eignungsfeststellung zum freien Elternwahlrecht war in den Ländern (jedenfalls auf längere Sicht) auch mit einer beachtlichen Erhöhung der Übergangsquoten zum Gymnasium und zur Realschule (soweit vorhanden, auch zur Gesamtschule) verbunden. Erfahrungen mit dem freien Elternwahlrecht sind dabei nicht nur für die

81

82

Vgl. zu den Länderregelungen den Uberblick im Bericht der Bundesregierung über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems vom 22. 2. 1978, B T Drucks. 8/1551, S. 15 ff; zu den Änderungen seit 1978 vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktionen der SPD und F . D . P . zum Bildungsföderalismus, BT-Drucks. 8/4458, S. 3. Vgl. BVerfGE 34, 165/189.

83 84

85

BVerfGE 34, 165/185. Vgl. dazu RICHTER (Fn. 34) S. M 21 ff; HEYMANN/STEIN (Fn. 11) S. 205, jeweils m. w. N. auch zu den Ergebnissen der Bildungsforschung. Vgl. ECKES/HAENISCH Schulversuch Gemeinsame Orientierungsstufe — Abschlußbericht des wissenschaftlichen Begleitteams, Schriftenreihe „Schulversuche und Bildungsforschung" des Kultusministeriums Rheinland-Pfalz Nr. 27, 1979, S. 290 ff.

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

1016

Bildungsforschung und -politik, sondern in gewissem Umfang ebenso für die rechtliche Bewertung von Bedeutung86. Auch verfassungsrechtliche Zweifel an der „Eignung" 87 einer verbindlichen staatlichen Eignungsentscheidung in diesem frühen Alter sind daher nicht leicht zu entkräften. Im Förderstufenurteil hat das Bundesverfassungsgericht88 den Vorrang des Elternwahlrechts u. a. mit der Begründung betont, daß die Entwicklung des Kindes von den „Interessen und Sozialvorstellungen der Familie" maßgeblich geprägt werde. Die Interessen des Kindes würden am besten von den Eltern wahrgenommen. Deshalb sei auch in Kauf zu nehmen, daß das Kind durch einen Entschluß der Eltern über den Bildungsweg Nachteile erleiden könnte, die bei einer „objektiven" staatlichen Begabtenauslese vielleicht zu vermeiden seien. Das Bundesverfassungsgericht geht also von einem Vorrang der Elternentscheidung auch dann aus, wenn die Eltern z. B. trotz einer als „objektiv" richtig anzusehenden staatlichen Eignungsprognose für das Gymnasium die Hauptschule für ihr Kind wählen. Diese Begründung für den Vorrang des Elternwahlrechts müßte im umgekehrten Fall — bei Zweifeln an der Zuverlässigkeit einer negativen staatlichen Eignungsfeststellung für ein zehn- oder zwölfjähriges Kind und dem Wunsch der Eltern nach einer „Höherstufung" — noch größeres Gewicht haben. e) Exkurs: Gesamtschule und

Elternwahlrecht

Der vom Bundesverfassungsgericht geforderte Vorrang für das Elternwahlrecht bezieht sich allerdings immer nur auf das vom Staat im Rahmen seiner schulpolitischen Gestaltungsfreiheit zur Verfügung gestellte Schulform- und Bildungswegangebot. Das Grundgesetz sichert zwar Elternwahlrechte bei den vorhandenen Bildungsangeboten, gibt aber „keinen Maßstab für die pädagogische Beurteilung von Schulsystemen" 8 9 . Auch für die Organisation der Schulformen und Bildungswege können jedoch äußerste verfassungsrechtliche Grenzen gezogen sein. Dem Staat ist es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts90 durch Art. 6 Abs. 2 GG z. B. verwehrt, „die Kinder übermäßig lange in einer Schule mit undifferenziertem Unterricht festzuhalten". Diese Grenzziehung setzt allerdings zunächst die gemeinsame Grundschule voraus. Die „traditionell bestehende und von einem allgemeinen Konsens getragene für alle gemeinsame Grundschule von mindestens vier Jahren" gehöre, so das Bundesverfassungsgericht im Förderstufenurteil, zu dem vom Grundgesetz geforderten, für die Entfaltung der verschiedenen Begabungsrichtungen offenen Schulsystem. Art. 7 Abs. 6 GG, nach dem „Vorschulen aufgehoben bleiben", und Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG, der auch bei Privatschulen eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern vermeiden will, zeigten ebenso, daß das Grundgesetz

86

Vgl. dazu die Abwägung zur Förderstufe in BVerfGE 34, 165/184 ff.

8 7

Vgl.

RICHTER

88

(Fn. 84); zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Eignung der Mittel bei Re-

89

dazu

HEYMANN/STEIN

und

90

gelungen im Schulwesen vgl. auch BVerfGE 41, 251/264f. BVerfGE 34, 165/184. BVerfGE 34, 165/185; BVerfGE 53, 185/ 196. BVerfGE 34, 165/184ff.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1017

von der gemeinsamen Grundschule ausgehe. Auch eine Verlängerung der Pflicht zum Besuch der gemeinsamen Schule von vier auf sechs Jahre hält das Bundesverfassungsgericht im Förderstufenurteil deshalb offenbar nicht nur in der in Hessen geltenden, differenzierenden Form mit dem Grundgesetz für vereinbar 91 . Über Beginn und Dauer der Pflicht zum Besuch einer für alle gemeinsamen Schule sagt das Grundgesetz nichts. „Zeitlich unbeschränkt", so das Bundesverfassungsgericht im Förderstufenurteil, sei der Gestaltungsspielraum der Länder in dieser Frage aber dennoch nicht 92 . Wo die Grenzen danach im einzelnen liegen, ist offen. Sie können nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls dann erreicht sein, wenn „das Wahl- und Bestimmungsrecht der Eltern angesichts nur noch einer einzigen vorhandenen obligatorischen Schulform mit einem vom Staat einseitig festgelegten Bildungsziel obsolet wird und leerläuft" 93 . Eine Pflichteinheitsschule mit einem Bildungsziel für alle Schüler bis zum Beginn der Volljährigkeit wäre danach verfassungswidrig. Ein bestimmtes Mindestmaß an Vielfalt und Differenzierung in den Bildungswegangeboten und an entsprechenden Elternwahlrechten muß nach dieser Grenzziehung gesichert sein, bevor der Schüler selbst grundrechtsmündig 94 wird. Das Differenzierungs- und Vielfaltsgebot zwingt allerdings nicht zur Aufgliederung in Schulformen (etwa nach dem herkömmlichen Schulsystem von Hauptschule, Realschule und Gymnasium); es kann auch durch die Bildungswegdifferenzierung in einer Schule (z. B. in der reformierten gymnasialen Oberstufe 95 ) erfüllt werden, wenn Wahlrechte der Eltern im notwendigen Umfang gesichert sind. Die vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich offen gelassenen (und bildungspolitisch umstrittenen) Fragen beziehen sich demnach darauf, wo die angedeutete zeitliche Obergrenze für eine „für alle gemeinsame Schule" liegt (6, 8 oder 10 Jahre — im internationalen Vergleich gibt es für jede dieser Varianten Beispiele) und wie stark Differenzierung und Vielfalt in den Bildungswegangeboten nach dieser angenommenen Zeitgrenze ausgeprägt sein müssen, um ein ausreichendes Elternwahlrecht (und das Entfaltungsrecht des Kindes) zu sichern. Bei der Beurteilung dieser Frage muß beachtet werden, daß eine negative staatliche Ausleseentscheidung in einem gegliederten Schulsystem das elterliche Wahlrecht auf Dauer und stärker eingrenzen kann als ein differenziertes Bildungsangebot in einer Schule mit Ubergangsmöglichkeiten, die „dem Kind möglichst lange und möglichst viele Bildungschancen offenhalten" 96 . Das Bestimmungsrecht der Eltern wird nicht nur durch die Möglichkeit, bestimmte Bildungswege für das Kind abzuwählen, sondern — positiv — auch dadurch verwirklicht, daß viele Wege

Vgl. dazu insbesondere die Argumentation in BVerfGE 34, 165/187ff. » BVerfGE 34, 165/187. 9 3 BVerfGE 45, 400/416 - hessische Oberstufe. 9 4 Vgl. dazu grundsätzlich DÜRIG (1977) aaO (Fn. 50) Rdn. 16ff zu Art. 19 Abs. 3; sowie zum Verhältnis von Kindes- und Elternrechten im Schulwesen OPPERMANN (Fn. 91

20) S. C 83 f, C lOOf; RICHTER ( F n . 34) S. M

95

96

20f; s. dazu auch § 1361a BGB (eingefügt durch Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vom 18 . 7. 1979, BGBl. I S. 1061). Vgl. dazu BVerfGE 45, 400/416; BVerfGE 53, 185/203 f. Vgl. dazu BVerfGE 34, 165/192 zur Förderstufe.

1018

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

möglichst lange gewählt werden können und so „die Gefahr einer das elterliche Wahlrecht beeinträchtigenden Vorentscheidung durch die Schule" verringert wird 97 . Dies spricht nicht für die unbegrenzte Verlängerung einer undifferenzierten Einheitsschule, wohl aber dagegen, die Gesamtschule als (mögliche) Pflichtschule (als „Regelmonopolschule") individualrechtlich nur danach zu beurteilen, ob sie formal Umfang und Intensität elterlicher Wahlentscheidungen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt erhält oder verkürzt. Das „Offenhalten" von Wahlmöglichkeiten in einer Schule mit differenzierten Angeboten bedeutet nicht nur Verzicht auf frühe elterliche Ausschlußentscheidungen, sondern gleichzeitig auch Gewinn an späteren Wahlchancen und -rechten. Schließlich ist bei der in dieser Frage anzustrebenden „Konkordanz" verschiedener Verfassungsbestimmungen über Individualrechte (von Eltern mit unterschiedlichen Interessen und Auffassungen über Schulform- und Bildungswegentscheidungen) und über objektive Organisationsgrundsätze auch zu berücksichtigen, daß Art. 7 Abs. 1 G G grundsätzlich von der Gestaltungsfreiheit des „demokratischen Landesgesetzgebers" im Schulwesen ausgeht. Die Grenzen für Schulformentscheidungen dürfen deshalb durch Bundesverfassungsrecht nicht zu eng gezogen werden. Bestandsgarantien für bestimmte Schulformen oder für ein bestimmtes Schulsystem enthält das Grundgesetz nicht. Das Bundesverfassungsgericht kann, wie die zurückhaltenden Entscheidungen des Gerichts zu Schulformfragen deutlich machen 98 , nicht der „heimliche Bundesgesetzgeber" im Schulwesen sein. Auch verfassungspolitisch wäre es deshalb ein bedenkliches Ergebnis, wenn, wie dies z. T. vertreten wird, durch eine Auslegung des Grundgesetzes die Einführung der Gesamtschule als Pflichtschule ausgeschlossen würde. Das vom Bundesverfassungsgericht geforderte Differenzierungsgebot ist auch in dieser Schulform zu erfüllen. Das Grundgesetz schreibt die Gesamtschule — wie z. B. auch die Förderstufe 99 — als Pflichtschule weder vor, noch schließt es sie aus 1 0 0 . Unter (verfassungs-) politischen Gesichtspunkten lassen sich allerdings durchaus Argumente für eine ausgleichende schulpolitische Linie in der Gesamtschulfrage anführen. Auch für die Konfessionsschulreform war es ein wichtiges Ziel, in den Ländern möglichst einen für Mehrheit und Minderheit zumutbaren Kompromiß zu finden (vgl. dazu S. lOlOf). Im Förderstufenurteil hat das Bundesverfassungsgericht diesen politischen Grundsatz auch für „umstrittene Schulreformen" angeführt, die „in einem freiheitlichen Staat, unter — soweit wie möglich — freiwilliger Beteiligung der Betroffenen vorangetrieben werden" sollten 1003 . In der Gesamtschulfrage könnte

BVerfGE 34, 165/192. Vgl. zur engen Begrenzung der bundesverfassungsrechtlichen Uberprüfung in Schulfragen auch B V e r f G E 53, 185/203. 9 9 Vgl. dazu B V e r f G E 34, 165/186 ff; MAUNZ Die Chancengleichheit in: Festschrift für Geiger, 1974, S. 545/554f. 100 Vg| z u r Spannweite der unterschiedlichen Positionen in dieser Frage HEYMANN/STEIN

(Fn. 11) S. 205f; H . HECKEL, Schulrecht 1976, Bilanz und Vorblick, in: D Ö V 1976,

97

98

S. 5 1 2 ; OPPERMANN ( F n . 20) S. C 1 0 3 f ; C H .

1003

STARK Staatliche Schulhoheit, pädagogische Freiheit und Elternrecht, in: D Ö V 1979, S. 269/275. BVerfGE 34, 165/199.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1019

dies bedeuten, es der freien Wahlentscheidung der Eltern zu überlassen, ob sie ihr Kind auf eine Gesamtschule (als einer „Regelschule" neben anderen) schicken wollen oder eine herkömmliche Schulform vorziehen. Eine derartige Regelung besteht z. B . in Hamburg. Sie enthält keinen Verzicht des Landesparlaments auf eine politische Entscheidung 1 0 0 b , ebensowenig wie etwa die landesgesetzliche Entscheidung für das freie Elternwahlrecht bei den herkömmlichen Schulformen (vgl. S. 1014ff) eine bildungspolitische Abstinenz des Parlaments belegt. Das Parlament legt danach vielmehr den gesetzlichen Rahmen für das Wahlangebot an Schulformen und Bildungsgängen fest, innerhalb dessen sich die Eltern frei entscheiden können. Das bereits bestehende Wahlangebot wird um eine zusätzliche Schulform, die Gesamtschule, erweitert 1 0 0 0 . Es handelt sich also nicht um ein schulpolitisches Entscheidungsmodell, bei dem regionale oder lokale, von Schülerjahrgang zu Schülerjahrgang wechselnde Elternmehrheiten mit zumindest faktisch bindender Wirkung für die Minderheiten unterschiedliche regionale oder lokale Schulsysteme einführen können. Das Schulsystem wird vielmehr für das ganze Land durch das vom Staat zur Verfügung gestellte Wahlangebot bestimmt (wie bereits beim herkömmlichen Schulangebot); die Eltern haben ein individuelles Wahlrecht für ihr Kind, kein kollektives Bestimmungsrecht über das Schulwesen anstelle des Landesparlaments 1 0 0 d . Eine derartige Lösung für die Gesamtschulreform (etwa nach dem Hamburger Modell) bietet eine Reihe von Vorzügen: Sie geht vom Grundsatz des freien Elternwahlrechts aus, wie bereits das freie Wahlrecht im herkömmlichen Schulsystem. Sie orientiert sich an dem auch vom Bundesverfassungsgericht betonten Prinzip, wesentliche Veränderungen soweit wie möglich unter Beteiligung und mit der Zustimmung der Betroffenen voranzubringen. Sie ist politisch kompromißfähig (erfüllt aber gerade deshalb natürlich nicht alle Forderungen aller Seiten), nicht nur im einzelnen Land, sondern bundesweit: Sie kann die Auseinanderentwicklung in zwei (oder mehr) bildungspolitische Landschaften mit sich gegenseitig ausschließenden Schulsystemen verhindern. Sie läßt einen „Wettbewerb" verschiedener Schulformen zu, ohne daß deshalb die Bürger Nachteile haben, wie bei einem „Wettbewerb", der von den Ländern, auf dem Rücken der betroffenen Bürger, gegeneinander geführt wird 1 0 0 e .

100b

So aber die Kritik von K. NEVERMANN, Elternwille, Anatomie eines mythischen Begriffs, in: Bildung und Politik, Heft 10, 1979, S. 1 3 / 2 0 f f . NEVERMANN vergleicht da-

bei aber das kollektive Elternrecht mit einer Parlamentsentscheidung. Bei dieser — hier nicht gestellten — Alternative spräche in der Tat mehr für eine Entscheidung des Parlaments. 1 0 0 c Zu den schulorganisatorischen Konsequenz e n vgl. EISELT ( F n . 80) S . 852 f.

iood£)er ¡ n d i e s e m Zusammenhang verwandte Begriff des „Elternwillens" ist undeutlich und mißverständlich. In der Weimarer Verfassung (Art. 146 Abs. 2 WRV) bezeichnete

100c

er kollektive konfessionelle Elternrechte. In der öffentlichen Debatte werden die beiden, auch politisch unterschiedlich zu bewertenden Themenbereiche des in bestimmten Umfang grundrechtlich gesicherten individuellen Elternwahlrechts und des kollektiven „Elternwillens" häufig nicht auseinandergehalten — mit unerfreulichen Folgen: Forderungen, den „Elternwillen" zu beachten, können ganz verschiedene und in der Gesamtschulfrage geradezu entgegengesetzte Ziele verfolgen; umgekehrt ebenso die Ablehnung des „Elternwillens" als Orientierungsmaßstab für die Bildungspolitik. Vgl. dazu auch S. 1032f.

1020

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Die Entscheidung für das individuelle Elternwahlrecht in der Gesamtschulfrage hat — selbstverständlich — nicht nur Vorzüge: Für die Gesamtschulgegner enthält sie die Gefahr, daß sich die Gesamtschule im Urteil einer großen Mehrheit bewähren kann und daß damit langfristig, wie in der Bekenntnisschulreform, die Grundlage für den Konsens über eine neue („pädagogische", nicht konfessionelle) „Gemeinschaftsschule" geschaffen wird. (Diesen Bewährungserfolg könnte die Gesamtschule, wenn auch vielleicht erst nach einer längeren Übergangsphase, aber ebenso bei einer Teilung der Bundesrepublik in unterschiedliche bildungspolitische Großregionen erreichen.) Die Gesamtschulanhänger müssen demgegenüber auf Entwicklungschancen in einem „Modelland" verzichten, in dem die Gesamtschule die einzige öffentliche Schule ohne Konkurrenzdruck sein könnte; sie sehen vielleicht die Gefahr darin, daß die Gesamtschule in der Konkurrenz „vor O r t " mit anderen Schulformen ihre Integrationsziele nicht in vollem Umfang erreichen kann oder, darüber hinaus, den Wettbewerb „verliert". (Im Wettbewerbstest steht die Gesamtschule aber ohnedies, nicht nur in den Stadtstaaten.) Schließlich gibt es ein grundsätzliches Problem: In den Städten, vor allem in den Stadtstaaten, können vier Schulformen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Gesamtschule) nebeneinander bei — jedenfalls im Vergleich zu ländlichen Gebieten — zumutbaren Schulwegen angeboten werden, in einigen dünn besiedelten ländlichen Gebieten dagegen nicht. Auch dafür gibt es aber eine mögliche Lösung. In diesen ländlichen Gebieten könnte die Gesamtschule anstelle der Hauptschule die Regeleinrichtung bilden, mit einem gegenüber der Hauptschule viel breiteren Bildungsangebot. Wahlrechte der Eltern werden dadurch nicht beeinträchtigt; sie könnten nach wie vor die Realschule oder das Gymnasium wählen. Außerdem würden damit auch in ländlichen Gebieten bessere Bildungswahlmöglichkeiten gesichert; die Unterschiede in der Stadt-Land-Entwicklung beim Ubergang in weiterführende Schulen könnten langfristig ausgeglichen werden 100f .

ioof £>;e Hauptschule wurde in den Stadtstaaten auch vor der Einführung der Gesamtschule in zunehmendem Umfang von den Eltern „abgewählt". Dies zeigt im übrigen, daß auch das herkömmliche Schulsystem solche Veränderungen als Ergebnis des Elternwahlrechts zuließ; vgl. zu den damit zusammenhängenden verfassungsrechtlichen und schulorganisatorischen Fragen EISELT (Fn. 80), S. 852f. In einigen Städten besteht außerdem die Gefahr, daß die Hauptschule zur „Restschule" für Ausländerkinder werden kann (vgl. zur Situation der Hauptschule in Berlin J . LOHMANN, In Berlin ist die Hauptschule längst „umgekippt", in: Frankfurter Rundschau vom 28. 8. 1980). Eine derartige Entwicklung kann auch in den Stadtstaaten zu der Überlegung zwingen, ob das Schulformangebot geändert werden muß. Das Er-

gebnis wäre in jedem Fall nicht ein anderes „dreigliedriges" Schulsystem mit stark gegeneinander abgegrenzten Formen, sondern ein Wahlbereich verschiedener Schularten mit unterschiedlicher Angebotsbreite und in Teilbereichen vergleichbaren Funktionen (Realschule, Gymnasium, Gesamtschule). Die früher vorherrschende strenge Funktionstrennung wird im übrigen seit einiger Zeit auch in den herkömmlichen Schulformen aufgelockert: In einigen Ländern kann ein Hauptschulabschluß nach Klasse 10 auch zum Besuch der gymnasialen Oberstufe berechtigen, ein Mittelstufenabschluß des Gymnasiums dagegen nicht unbedingt in allen Fällen; er kann, wie z. B. in der Regel der Realschulabschluß, auch „ n u r " den Ubergang zur Fachoberschule eröffnen.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

f ) Parlaments- und Gesetzesvorbehalt

1021

im Schulwesen

Für die Gestaltung des Schulwesens haben nicht nur die materiell-rechtlichen Grenzen Bedeutung, die sich aus dem Grundgesetz ergeben. Das Bundesverfassungsgericht hat in den 70er Jahren mit der Rechtsprechung zum Parlaments- und Gesetzesvorbehalt im Schulwesen auch formellrechtlich wichtige Regeln entwickelt100^. In der Entscheidung zur Neuordnung der gymnasialen Oberstufe in Hessen wird dazu zusammenfassend festgestellt: „Das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes verpflichten den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen im Schulwesen selbst zu treffen und nicht der Schulverwaltung zu überlassen. . . . Das gilt insbesondere für die der staatlichen Gestaltung offenliegende Rechtssphäre im Bereich der Grundrechtsausübung." 101 . Diese Rechtsprechung hat sich im Schulrecht, wie das Bundesverfassungsgericht bereits in einer Entscheidung zum Sexualkunde-Unterricht aus dem Jahre 1977 formuliert hat, „jedenfalls dem Grundsatze nach durchgesetzt" 102 . Sie hat in Anlehnung an frühere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu anderen Rechtsgebieten 103 die herkömmliche Lehre vom „besonderen Gewaltverhältnis" im Schulrecht 104 überwunden. Anordnungen im „besonderen Gewaltverhältnis" galten nach dieser auf monarchische Staatskonzeptionen zurückzuführenden Lehre als Hausgut der Verwaltung, für deren Regelung der parlamentarische Gesetzgeber nicht zuständig war oder jedenfalls gesetzliche Grundlagen nicht verlangt wurden. Die rechtsstaatlich-demokratische Ausfüllung dieses „rechtsfreien Raums" im Schulverhältnis ist zunächst auf das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 G G ) gestützt. „Die weitreichende Bedeutung der Schulbildung für das gesamte Gemeinwesen und seine Bürger" verlangt, daß der freiheitssichernde rechtsstaatliche Grundsatz der Gesetzmäßigkeit auch im Schulverhältnis angewandt wird. Ebenso gebietet das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), „daß die Ordnung wichtiger Lebensberei-

100

eBVerfGE 34, 165/192f - hessische Förderstufe; BVerfGE 41, 251/259 f - Speyer-Kolleg; BVerfGE 45, 400/417f - hessische Oberstufe; BVerfGE 47, 46/78ff - Sexualkunde; erneut bestätigt durch BVerfGE 58, 257/268ff — Schulausschluß; zur Bedeutung der Rechtsprechung des BVerfG zum Gesetzesvorbehalt, auch unter dem Gesichtspunkt eines Vergleichs mit der Rechtsprechung in den Vereinigten Staaten, vgl. H . N . WEILER Equal Protection, Legitimacy, and the Legalization of Education: The Role of the Federal Constitutional Court in West Germany, in: D. L. KIRP School Days, Rule Days: Regulation and Legalization in American Education, im Druck; zur auch unter Vergleichsaspekten interessanten Rolle der Rechtsprechung in den Vereinigten Staaten bei der Weiterentwicklung des Bildungswesens s.

auch D . L. KIRP Law, Politics, and Equal Educational Opportunity: The Limits of Judicial Involvement, in: Harvard Educational Review 47, 2 (May 1977), 117-137. 1 0 1 BVerfGE 45, 400/417f. 1 0 2 BVerfGE 47, 46/78 m . w . N . ; vgl. auch BVerfGE 58, 257/268 m. w. N . ™ BVerfGE 33, 1 - Strafvollzug; 33, 125/159f - Facharztrecht; 33, 303/337, 346 - Numerus clausus; 40, 237/248f — Rechtsschutzverfahren im Strafvollzug. 1 0 4 In einem „besonderen Gewaltverhältnis" sollten nach der früheren Auffassung u. a. Beamte, Richter, Soldaten, Gefangene und Schüler stehen; vgl. zu den rechtsstaatlichen Aspekten und zur Diskussion über die Ablösung dieser Lehre G. STURM Die Schule im Rechtsstaat, in: R D J B 1974, l/3ff.

1022

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

che zumindest in ihren Grundzügen vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber selbst verantwortet und in einem öffentlichen Willensbildungsprozeß unter Abwägung der verschiedenen, unter Umständen widerstrebenden Interessen gestaltet" wird 1 0 5 . Der „Gesetzgeber", der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die „wesentlichen" Entscheidungen im Schulwesen zu regeln hat, ist also grundsätzlich der parlamentarische Gesetzgeber, nicht die zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtigte Exekutive 106 . Die Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat vor allem auf die Gefahr hingewiesen, daß der Parlaments- und Gesetzesvorbehalt zu einer Erstarrung und allgemeinen Verrechtlichung (oder Vergesetzlichung) im Schulwesen führen könne 107 . Außerdem sei der Begriff „wesentlich" wenig geeignet, die dem Gesetzgeber vorbehaltenen Entscheidungen eindeutig abzugrenzen. Das Bundesverfassungsgericht ist in der Entscheidung zur Einführung der Sexualerziehung in der Schule auf diese Kritik eingegangen 108 . Es hat dabei betont, daß bei der Abgrenzung behutsam vorzugehen und die Gefahr „einer zu weitgehenden Vergesetzlichung" zu beachten sei. „Wesentlich" sei zunächst ein „heuristischer" Begriff, der im Grunde nur die Binsenwahrheit ausspreche, daß die wirklich wichtigen Dinge in einer parlamentarischen Demokratie vor das Parlament gehörten. Einen Ansatzpunkt für eine nähere Bestimmung geben nach dieser Entscheidung aber die Regelungen über den Gesetzesvorbehalt bei Eingriffen in Grundrechte (vgl. Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG). Im grundrechtsrelevanten Bereich bedeutet daher „wesentlich" in der Regel „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte". Zu den vom Gesetzgeber zu treffenden Regelungen gehören nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dementsprechend z . B . die folgenden Fragen: die Einführung der obligatorischen Förderstufe und die Festlegung der wesentlichen Merkmale dieser Schulform 109 ; Voraussetzungen und Verfahren für einen als Ordnungsmaßnahme verhängten Ausschluß von einer Einrichtung des zweiten Bildungsweges 110 ; bei der Neuordnung der gymnasialen Oberstufe zumindest die Auflösung des Klassenverbandes und die Einführung des Kurssystems sowie die Festlegung des Ausbildungsziels und die Grundsätze der Leistungsbewertung 111 ; die Einführung einer Sexualerziehung in den Schulen und dabei insbesondere „die Festlegung der Erziehungsziele (,Groblernziele'), die Frage, ob Sexualerziehung als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip oder als besonderes Unterrichtsfach mit etwaigen Wahl- oder Befreiungsmöglichkeiten durchgeführt werden soll, das Gebot der Zurückhaltung und Toleranz sowie der Offenheit für die vielfachen im sexuellen Bereich möglichen Wertungen und das Verbot der Indoktrinierung der Schüler,

1° 5 B V e r f G E 4 1 , 251/259f. 1 0 6 Vgl. dazu B V e r f G E 4 1 , 251/260, 2 6 5 f ; 47, 46/79. 1 0 7 Mit dieser Kritik setzt sich neuerdings auch B V e r f G E 58, 257/269ff ausführlich auseinander; vgl. dazu auch S. 1044. los B V e r f G E 47, 46/79.

Vgl. B V e r f G E 34, 165/192 f. Vgl. B V e r f G E 4 1 , 251/262 ff. i » Vgl. B V e r f G E 45, 4 0 0 / 4 1 8 f f ; der Bereich des Gesetzesvorbehalts wird in dieser Entscheidung im einzelnen offengelassen, z. B. bei der Festlegung des Fächerkatalogs.

110

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1023

ferner die Pflicht, die Eltern zu informieren" 1 1 2 ; die „wesentlichen Bestimmungen über die zwangsweise Schulentlassung" 1123 . In der Entscheidung zur Einführung der Sexualerziehung hat das Bundesverfassungsgericht auch Grenzen für den Bereich des Parlaments- und Gesetzesvorbehalts gezogen, die erkennen lassen, wie die vom Gericht geforderte „behutsame Abgrenzung" in einem konkreten Sachgebiet aussehen kann. Es ist danach insbesondere nicht etwa Aufgabe des Parlaments, „alle Modalitäten der Sexualerziehung", insbesondere die Feinlernziele und die dafür zweckmäßigsten Unterrichtsmethoden durch förmliches Gesetz zu regeln 1 1 3 . Trotz dieser Einschränkung ist nicht zu verkennen, daß die vom Bundesverfassungsgericht in Einzelfällen angewandten Kriterien für die Bestimmung der „wesentlichen Entscheidungen" insgesamt ein verhältnismäßig dichtes Netz an Vorgaben enthalten. Die Normsetzung der Länder im Schulwesen entspricht diesen Anforderungen vielfach noch nicht. Für die erforderliche Neuordnung ist, wie in anderen Rechtsgebieten, in denen ein früher angenommenes „besonderes Gewaltverhältnis" nach rechtsstaatlich-demokratischen Grundsätzen abzulösen ist, dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist einzuräumen 1 1 4 . Nachdem die Landesparlamente, was ihre originären Kompetenzen betrifft, auf vielen anderen Gebieten — auch durch die Entwicklung übernationaler Zusammenschlüsse — politisches Terrain verloren haben, könnten ihr hier neue Aufgaben zuwachsen, wenn sie sie nur ergreifen. Da Regierungsfraktionen aber allzuoft — und unabhängig von ihrer politischen Färbung — sich lediglich als Geleitzüge der Regierungen verstehen, verschenken sie häufig Gestaltungsfreiheit an die Administrationen. 3. Wissenschaftsfreiheit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG 1 1 5 erklärt Wissenschaft, Forschung und Lehre für frei (wobei „Wissenschaft" den Oberbegriff für „Forschung" und „Lehre" bildet). „Wissenschaftsfreiheit" gibt ein individuelles Abwehrrecht gegen staatliche Einwirkungen auf den Prozeß der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse, das jedem zusteht, „der wissenschaftlich tätig ist und tätig werden will" 1 1 6 . Uber dieses

112 112a 113

114

115

Vgl. BVerfGE 47, 46/82 f. BVerfGE 58, 257/274 f. BVerfGE 47, 46/82f; vgl. zur Abgrenzung der „wesentlichen" Entscheidungen und zur Beurteilung des von der Kommission Schulrecht des D. J. T. vorgelegten Entwurfs für ein Landesschulgesetz (Fn. 11), das Anforderungen des Gesetzesvorbehalts Rechnung tragen soll, BVerfGE 58, 257/268ff. Vgl. dazu BVerfGE 41, 251/266 ff; zur Entwicklung des Schulrechts vgl. Schule im Rechtsstaat (Fn. 11), S. 25ff. Vgl.

zu

Einzelfragen

z. B.

SCHOLZ

(1977)

aaO (Fn. 50) Rdn. 8 1 ff zu Art. 5 Abs. 3 sowie die zusammenfassende Darstellung

m. w. N. zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und zur Kritik an dieser Rechtsprechung STEIN (Fn. 1 4 ) S. 1 9 8 f f ; z u

116

den Fragen eines aus Art. 5 Abs. 3 G G abgeleiteten Teilhaberechts s. auch CH. STARCK Staatliche Organisation und staatliche Finanzierung als Hilfen zu Grundrechtsverwirklichungen, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, S. 480/499ff m. w. N. BVerfGE 15, 256/263f; 35, 1 1 2 f ; zur Abwehrfunktion im einzelnen vgl. BVerfGE 35, 79/112f; zum Begriff „Wissenschaftler" v g l . SCHOLZ a a O ( F n . 5 0 ) R d n . 1 1 9 z u A r t . 5

Abs. 3.

1024

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Abwehrrecht hinaus enthält Art. 5 Abs. 3 G G nach dem Hochschul-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 117 eine „objektive Wertentscheidung" des Grundgesetzes die auch das „Einstehen des Staates, der sich als Kulturstaat versteht, für die Idee einer freien Wissenschaft" und „seine Mitwirkung an ihrer Verwirklichung" durch Schutz und Förderung verlangt. Daraus folgt die staatliche Pflicht, die für die Pflege einer freien Wissenschaft und ihrer Vermittlung an die nachfolgende Generation notwendigen „personellen, finanziellen und organisatorischen Mittel" — im Ergebnis: „funktionsfähige Institutionen für einen freien Wissenschaftsbetrieb" — bereitzustellen. Auch nach dem Eintritt in die Hochschule als „Korporation" bleibt der „unabstimmbare" Kernbereich wissenschaftlicher Betätigung der Selbstbestimmung des einzelnen Grundrechtsträgers vorbehalten. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus dem Teilhaberecht des Wissenschaftlers sogar ein Recht auf staatliche organisatorische Maßnahmen (in der Hochschule) ab, die diesen Freiheitsraum schützen sollen, soweit „das unter Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten möglich ist". Zwar garantiere Art. 5 Abs. 3 G G weder die überlieferte „Ordinarien-Universität", noch schreibe sie überhaupt eine bestimmte Organisationsform vor. Die neuere Form der „Gruppenuniversität", bei der neben den Hochschullehrern auch andere „Gruppen", z. B. die wissenschaftlichen Mitarbeiter, an der Hochschulselbstverwaltung beteiligt sind, sei dementsprechend grundsätzlich mit Art. 5 Abs. 3 G G vereinbar. Dies gilt nach dem Hochschul-Urteil allerdings nur, wenn die eindeutig abzugrenzende, „homogene" Gruppe der Hochschullehrer (mit einer nach Art. 5 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 3 G G grundrechtlich herausgehobenen Stellung) bei unmittelbar die Lehre betreffenden Fragen einen „maßgebenden Einfluß" (z. B. durch Zuweisung von mindestens der Hälfte der Stimmen) und bei unmittelbar die Forschung und die Hochschullehrerberufung betreffenden Fragen einen noch weitergehenden, „ausschlaggebenden Einfluß" in den Entscheidungsgremien erhält 118 . Dieser engen organisationsrechtlichen, aus Art. 5 Abs. 3 G G abgeleiteten Grenzziehung für die „Gruppenuniversität", die die Parlamente in Bund und Ländern binden soll, kann man mit guten Argumenten widersprechen. Zwei Mitglieder des Senats, der das Hochschul-Urteil gefällt hat, haben dies in einem Minderheitsvotum ausführlich getan 119 . Die abweichende Meinung dieses Minderheitsvotums richtet sich gegen die einseitige Ausrichtung an einer Wertentscheidung — an der grundrechtlichen Teilhabeposition des Hochschullehrers — ohne ausreichende Berücksichtigung anderer Wertentscheidungen der Verfassung, die, wie z. B. die Teilhaberechte der Hochschulzugangsberechtigten nach Art. 12 Abs. 1 G G , in die Abwägung mit einzubeziehen seien. Die notwendige Interessenabwägung zwischen verschiedenen Wertentscheidungen eröffne, so das Minderheitsvotum, eine „Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten" auch in Organisationsfragen. Die Entscheidung über den " 7 Vgl. BVerfGE 35, 79/114. Vgl. BVerfGE 35, 79/80, Leitsatz 8; vgl.

118

119

auch BVerfGE 43, 242/269 zu den Kriterien für einen „maßgebenden Einfluß". Vgl. BVerfGE 35, 79/1480.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1025

Ausgleich der verschiedenen Interessen und Werte stehe nach der rechtsstaatlich-demokratischen Staatsverfassung des Grundgesetzes dem demokratisch-legitimierten Parlament als Gesetzgeber zu (abgesehen vom äußersten Grenzfall einer „offensichtlich fehlsamen" Beurteilung120, die hier aber nicht nachgewiesen sei und auch nicht nachgewiesen werden könne). Mit dem Hochschul-Urteil habe sich deshalb „das Bundesverfassungsgericht unter Überschreitung seiner Funktion an die Stelle des Gesetzgebers" gesetzt 121 . Eine größere hochschulpolitische Bedeutung hat die in der Mehrheitsentscheidung und im Minderheitsvotum geführte Auseinandersetzung heute kaum noch. Durch einfaches Bundesrecht, durch § 38 des Hochschulrahmensgesetzes, ist eine noch restriktivere Regelung, als im Hochschul-Urteil gefordert, vom sicherlich „zuständigen" Bundesgesetzgeber getroffen worden 122 . Unzweifelhaft hat das Hochschulurteil die parlamentarische Szenerie aber beeinflußt — zugunsten der konservativen Position. Die Hochschulsituation im — nach der Verfassungslage hier durchaus vergleichbaren — Österreich zeigt, daß hier sehr zeitgebundene und sehr „politische" Wertentscheidungen getroffen wurden. 4. Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Bildungswesen Vor der Verfassungsänderung von 1969 stand dem Bund in Bildungsfragen123 auf dem Gebiet der Gesetzgebung im wesentlichen nur die Befugnis zur Regelung der außerschulischen Berufsbildung zu. Die Zuständigkeit für die außerschulische Berufsbildung wird aus den Gesetzgebungskompetenzen nach Art. 74 Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft) und Nr. 12 (Arbeitsrecht) abgeleitet124. Von dieser Zuständigkeit hat der Bund für die berufliche Bildung, „soweit sie nicht in berufsbildenden Schulen durchgeführt wird" 125 , u. a. mit dem Berufsbildungsgesetz vom 14. 8. 1969 126 , mit dem Berufsbildungsförderungsgesetz vom 23. 12. 1981 (Neufassung nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum früheren Ausbildungsplatzförderungsgesetz)127 und mit den die Berufsbildung betreffenden Teilen der Handwerksordnung Gebrauch gemacht. Regelungen zur Berufsbildung in diesen und in weiteren Bundesgesetzen werden dabei z. T. auch auf andere speziellere Bundeszuständigkeiten gestützt (Art. 74 Nr. 1, 17, 19 GG) 1 2 8 . Vgl. BVerfGE 35, 79/165. Vgl. BVerfGE 35, 79/155f. 122 Vgl. zur Kritik an dieser Regelung STEIN (Fn. 14) S . 201 f. 123 Vgl. zur Kompetenzverteilung und -abgrenzung im — weiteren — „Kulturbereich" MAUNZ (Fn. 5); zur tatsächlichen Bundesbeteiligung an Bildungsfragen, die in vielen Fällen ohne ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage erfolgt ist, vgl. OPPERMANN (Fn. 2) S. 556 ff. 124 Vgl. zur Ableitung und zum Umfang der 121

Gesetzgebungsbefugnis

K.-H.

FRIAUF

Die

Abgrenzung der Gesetzgebungskompeten-

125

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127

128

zen im Bereich der beruflichen Bildung, 1975 m. w. N. zur Rechtsprechung und zum Meinungsstand. § 2 Abs. 1 Berufsbildungsgesetz (vgl. Fn. 126). B G B l . I S. 1112, zuletzt geändert durch Berufsbildungsförderungsgesetz v. 23. 12. 1981 (BGBl. I S. 1692). B G B l . I S. 1692; Ausbildungsplatzförderungsgesetz aufgehoben durch BVerfGE 55, 274. Vgl. dazu § 79, 87, 91 Berufsbildungsgesetz (Fn. 126); zur Bundeszuständigkeit nach Art. 74 Nr. 19 G G auch außerhalb der Be-

1026

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Die Grundlage für das Fernunterrichtsschutzgesetz vom 24. 8.1976 129 bilden ebenfalls Bundeskompetenzen, die bereits vor 1969 bestanden (vor allem Art. 74 N r . 1, N r . 11 GG). Für bestimmte Teilbereiche des Bildungswesens haben auch andere bereits vor 1969 bestehende Bundeszuständigkeiten Bedeutung 130 . Dazu gehört u. a. die Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 N r . 13 G G zur „Förderung der wissenschaftlichen Forschung", von der allerdings der Bund, abgesehen vom Graduiertenförderungsgesetz 131 , bislang noch keinen Gebrauch gemacht hat. Durch die Verfassungsänderung von 1969132 erhielt der Bund neue Zuständigkeiten im Bildungswesen. Die Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 N r . 13 G G wurde um die Kompetenz zur „Regelung der Ausbildungsbeihilfen" erweitert. Auf ihr beruht das Bundesausbildungsförderungsgesetz vom 26. 8. 1971 133 . Die Geldleistungen, auf die nach diesem Gesetz ein Rechtsanspruch besteht, werden nach Art. 104a Abs. 3 G G z. T. vom Bund getragen. Die Rahmengesetzgebung des Bundes erstreckt sich seit 1969 auch auf „die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens" (Art. 75 N r . l a GG) 1 3 4 . Auf diese Zuständigkeit (und in Teilbereichen 135 auch auf andere bereits vor 1969 bestehenden Bundeskompetenzen z.B. nach Art. 74a Abs. 1 G G und nach Art. 75 N r . 1 GG) wird das Hochschulrahmengesetz vom 26. 1. 1976136 gestützt. Von den 1969 eingeführten Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern sind für das Bildungswesen vor allem die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a Abs. 1 Nr. 1 beim „Ausbau und Neubau von Hochschulen einschließlich der Hochschulkliniken" und nach Art. 91 b G G bei der „Bildungsplanung" wichtig. Im Hochschulbau wird das Kooperationsverfahren bei der gemeinsamen Rahmenplanung und Finanzierung z . T . durch Art. 91 a G G selbst (Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 und 5), im einzelnen durch ein Bundesgesetz 137 nach Art. 91 a Abs. 2 G G bestimmt. Art. 91 b G G geht bei der Bildungsplanung und der Forschungsförderung von einer freiwilligen Zusammen-

r u f s b i l d u n g i. e. S. vgl. W . DODENHOFF Z u r

129

Gesetzgebungskompetenz des Bundes, die Zugangsvoraussetzungen für das Studium der Medizin zu bestimmen, in: DVB1. 1980, S. 897. BGBl. I S. 2525; vgl. zu den Kompetenzgrundlagen FABER/SCHADE Fernunterrichtsschutzgesetz, 1980, Einl. Rdn. 8, Rdn. 1 - 8 zu § 12, Rdn. 1 - 4 zu § 13.

130

Vgl. d a z u MAUNZ ( F n . 5) S. 259 f.

131

i. d. F. der Bekanntmachung v. 22. 1. 1976 (BGBl. I S. 207), zuletzt geändert durch Gesetz v. 28. 3. 1978 (BGBl. I S. 445). 21. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Finanzreformgesetz) v. 12. 5. 1969 (BGBl. I S. 359), 22. Änderungsgesetz v. 12. 5. 1969 (BGBl. I S. 363). (BGBl. I S. 1409) i. d. F. der Bekanntmachung vom 9. 4. 1976 (BGBl. I S. 989), zu-

132

133

letzt geändert durch Art. 16 Haushaltsbegleitgesetz v. 20. 12. 1982 (BGBl. I S. 1857). 134 Vgl. zur Reichweite der Bundeskompetenz n a c h A r t . 75 N r . 1 a G G

SCHMIDT-BLEIB-

TREU/KLEIN, Grundgesetz, Kommentar, 5. Aufl., 1980, Rdn. 12 zu Art. 75. »5 Vgl. z. B. §§ 42ff; §§ 76ff H R G . 136 BGBl. I S. 185. 137 Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe „Ausbau und Neubau von Hochschulen" (Hochschulbauförderungsgesetz) vom 1 . 9 . 1969 i. d. F. der Änderungsgesetze vom 3. 9. 1970 (BGBl. I S. 1301) und vom 23. 12. 1971 (BGBl. I S. 2140) sowie des Hochschulrahmengesetzes (Fn. 136). Vgl. zur Planungspraxis und zur Wirkung der Gemeinschaftsaufgabe S. 1034 f.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1027

arbeit aus. Bund und Länder „können" danach auf diesen Gebieten „aufgrund von Vereinbarungen . . . zusammenwirken". Durch ein Verwaltungsabkommen vom 25 . 6. 1970 138 haben Bund und Länder eine gemeinsame Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung errichtet. Zu ihren Aufgaben gehört es insbesondere, einen „langfristigen Rahmenplan für eine abgestimmte Entwicklung des gesamten Bildungswesens vorzubereiten" und den Regierungschefs von Bund und Ländern zur Entscheidung vorzulegen (vgl. Art. 2 Nr. 1, Art. 9 des Verwaltungsabkommens). Der Bildungsgesamtplan von 1973 139 ist das wichtigste Ergebnis der Arbeit der BundLänder-Kommission. Modellversuche gehören — in ihrer vorbereitenden, begleitenden und kontrollierenden Funktion — als Teil des Planungsprozesses zur gemeinsamen Bund-Länder-Bildungsplanung; nach Art. 91 b Satz 2 G G können daher Bund und Länder, im Gegensatz zur Durchführung von Planungsbeschlüssen, auf diesem Gebiet gemeinsam die Kosten tragen 140 . Für das Bildungswesen hat schließlich — mittelbar — auch die Bestimmung des Art. 104 a Abs. 4 G G Bedeutung. Danach kann der Bund unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft) den Ländern „Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden" gewähren und zwar auf der Grundlage eines Bundesgesetzes oder einer Verwaltungsvereinbarung in Verbindung mit dem Haushaltsgesetz (Art. 104a Abs. 4 Satz 2 GG). Derartige Finanzhilfen wurden vom Bund z. B. für den Studenten wohnraumbau und für den Ausbau von Einrichtungen der beruflichen Bildung 1 4 1 geleistet. Die Ausführung von Bundesgesetzen, die „Umsetzung" von Planungsbeschlüssen bei den Gemeinschaftsaufgaben oder die Durchführung von Investitionen ist Sache der Länder, soweit nicht das Grundgesetz im Einzelfall etwas anderes bestimmt oder zuläßt (Art. 30, 70; Art. 83 G G für die Ausführung von Bundesgesetzen). Für Verwaltungsaufgaben im Bildungswesen sind dementsprechend ganz überwiegend die Länder zuständig. Zu den wenigen Ausnahmebestimmungen des Grundgesetzes gehört — neben Art. 91 a und b G G , die auf der Planungsebene eine Form der Mischverwaltung zulassen, welche im sachlichen Umfang über das Gebiet der Bundesgesetzgebung hinausgeht — z. B. Art. 87 Abs. 3 G G . Dieser Artikel erlaubt es, unter bestimmten Voraussetzungen im Bereich der Bundesgesetzgebung Bundeseinrichtungen mit Verwaltungsaufgaben zu errichten. Auf diese Bestimmung ist die Errichtung des Bundesinstituts für Berufsbildung 142 gestützt.

Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1970, S. 891 f ( „ B L K Abkommen"). Vgl. zur Planungspraxis und zur Wirkung der Gemeinschaftsaufgabe. S. 1035 ff. 139 ßT-Drucks. 7/1474. 1 4 0 Vgl. dazu die das BLK-Abkommen (Fn. 138) ergänzende „Rahmenvereinbarung zur koordinierten Vorbereitung, Durchführung und wissenschaftlichen Begleitung von Mo138

141

142

dellversuchen im Bildungswesen" vom 7. 5. 1971 (GMB1. 71, S. 284). Nach § 8 der Rahmenvereinbarung tragen Bund und Länder in der Regel je die Hälfte der Kosten. Vgl. dazu den „Zwischenbericht" der Bundesregierung vom 28. 6. 1977, BT-Drucks. 8/698. Vgl. § 60 Berufsbildungsgesetz (Fn. 126), § 6 Berufsbildungsförderungsgesetz (Fn. 127).

1028

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

II. Einheitlichkeit und Vielfalt im föderativen Bildungswesen — Verfassungsrechtliche und -politische Fragen 1. Unitarisierung durch Grundrechte? a) Grundsatz und Ausnahme nach dem ersten Numerus-clausus-Urteil Bemühungen, ein Mindestmaß an bundesweiter Einheitlichkeit zu sichern, fanden im Bildungswesen nicht erst in den neuen, 1969 durch Verfassungsänderung geschaffenen Gemeinschaftsaufgaben und Bundeszuständigkeiten (vgl. dazu S. 1026f) Ausdruck. Entwicklungstendenzen zu einem „unitarischen Bundesstaat" 143 und Forderungen nach Abstimmung und Harmonisierung auch im Zuständigkeitsbereich der Länder sind gerade im Bildungswesen seit langem zu erkennen. Die 1948 gegründete Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder, der 1954 eingerichtete Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen, der Wissenschaftsrat (Abkommen von 1957) und der Deutsche Bildungsrat (Abkommen von 1965) zeigen — auch für die Zeit vor 1969 — auf der institutionellen Seite Dauer und Intensität der Abstimmungsbedürfnisse 144 . Auch die Grundrechte des Grundgesetzes sichern in Verbindung mit dem Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip — bundesweit — einen „Minimumstandard" an Bildungsangeboten und Bildungschancen; dieser markiert in der Regel jedoch nur die äußerste Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen. Innerhalb dieser Grenzen ist der Staat grundsätzlich frei, zwischen verschiedenen verfassungsrechtlich zulässigen Möglichkeiten zu wählen. Für den Zuständigkeitsbereich der Länder bedeutet dies, daß der Landesgesetzgeber „prinzipiell nicht gehindert ist, von der Gesetzgebung anderer Länder abweichende Regelungen zu treffen, auch wenn dadurch die Einwohner eines Landes im praktischen Ergebnis mehr belastet oder begünstigt werden" 1 4 5 . Diesem durch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigten Grundsatz 146 steht insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht entgegen, „da dieser mit Rücksicht auf die föderalistische Struktur die Kräfte freisetzen und nicht zur Uniformität zwingen will"; der allgemeine Gleichheitssatz verpflichtet nur dazu, innerhalb eines Landes auf Gleichbehandlung zu achten 147 . In der ersten Numerus-clausus-Entscheidung 148 hat das Bundesverfassungsgericht von diesem Grundsatz, der die „föderativen" Unterschiede „prinzipiell" rechtfertigt, allerdings eine Ausnahme zugelassen: Einseitige Begünstigungen der Einwohner eines Landes können danach eine verfassungsrechtlich unzulässige Ungleichbehandlung der Staatsbürger anderer Bundesländer bewirken, wenn es „bei einer in die Zuständigkeit des Landesgesetzgebers fallenden Materie um einen Lebenssachverhalt" geht, „der seiner Natur nach über die Ländergrenzen hinausgreift und eine für 143

Vgl. zu der allgemeinen, nicht auf das Bildungswesen beschränkten Entwicklung K. HESSE, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 12 ff.

144

V g l . dazu OPPERMANN ( F n . 2 ) S. 5 4 8 ff.

i « BVerfGE 33, 303/352. 1 4 6 BVerfGE 32, 346 m . w . N . ; BVerfGE 33, 303/352. 1 4 7 Vgl. BVerfGE 33, 303/352. i" e BVerfGE 33, 303/352 ff.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1029

alle Staatsbürger der Bundesrepublik in allen Bundesländern gleichermaßen gewährleistete Rechtsposition berührt". Dies sei gerade beim Hochschulwesen als einem „zusammenhängenden System" der Fall, „in dem einerseits nicht alle Studiengänge überall angeboten werden können und das andererseits eine Nutzung der Ausbildungskapazitäten über die Ländergrenzen hinweg erfordert". Diesem Systemzusammenhang entspricht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch die Einbeziehung des Hochschulbaus in die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a G G . Bei einem derartigen „übergreifenden Lebenssachverhalt" muß nach der ersten Numerus-clausus-Entscheidung der Landesgesetzgeber deshalb besonders sorgfältig prüfen, ob eine Bevorzugung seiner „Landeskinder" mit der Wertentscheidung der Verfassung nach Art. 12 Abs. 1 G G für ein „allen Deutschen gewährleistetes Recht zur freien Wahl der Ausbildungsstätte" zu vereinbaren ist. Bei einem „absoluten" (bundesweiten) Numerus clausus gefährde eine generelle Landeskinderklausel den Wesensgehalt des Grundrechts; sie sei deshalb nach Art. 12 Abs. 1 G G i. V. m. Art. 3 Abs. 1 G G nicht zulässig. Uber diese Bewertung von Landeskinder-Regelungen hinaus gibt die gleiche Entscheidung 149 auch Kriterien für die bundeseinheitliche Gestaltung des Zulassungsverfahrens bei einem absoluten Numerus clausus. Zu einem derartigen Verfahren gehört vor allem die Anwendung möglichst „einheitlicher Auswahlkriterien". Den nach Art. 75 N r . 1 a G G zuständigen Bund trifft dabei die gleiche Handlungspflicht wie die Länder. Falls eine Bundesregelung dementsprechend nicht „in angemessener Frist" zustandekommt, sei zu prüfen, „was die Länder — etwa durch Abschluß von Staatsverträgen — ihrerseits unternehmen können und müssen, um ihrer Mitverantwortung für eine kooperative Verwirklichung des Grundrechtsschutzes gerecht zu werden". Dieser „unitarische" Ansatz der Rechtsprechung hat auch Kritik ausgelöst 150 . Ungeklärt ist nach dem ersten Numerus-clausus-Urteil, wann im einzelnen ein „seiner Natur nach" über die Ländergrenzen hinausgreifender „Lebenssachverhalt" vorliegen soll. Unklar ist ebenso, ob und inwieweit der „Wesensgehalt" des allen Deutschen gewährleisteten Grundrechts nach Art. 12 Abs. 1 G G auch Minimalelemente einer länderübergreifenden „Freizügigkeit" bei der Wahl der Ausbildungsstätte sichert, wie dies die Ableitung im ersten Numerus-clausus-Urteil 151 nahelegt. Ebensowenig ist nach dem Urteil geklärt, ob derartige unitarische Züge der Grundrechte zu einer Art Gemeinschaftsaufgabe, einer „bündischen Gemeinschaftskompetenz", führen sollen, die etwa in der Form einer Staatsvertragsgesetzgebung als neuem Grundtypus landespolitischer Aktivität — gegen die dem Grundgesetz zugrundeliegende Vorstellung — die duale Kompetenzstruktur des Bundesstaates zunehmend

' « BVerfGE 33, 303/356ff. 150

Vgl. d a z u z. B. DÜRIG (1973) a a O (Fn. 50) R d n . 2 4 2 A z u A r t . 3 A b s . 1; H . R U P P A r t . 3

G G als Maßstab verfassungsgerichtlicher Kontrolle, in: BVerfG und Grundgesetz, Zweiter Band, Verfassungsauslegung, 1976,

S. 364/384 f; ohne Einschränkung zustimmend dagegen z. B. J. LÜCKE Bundesfreundliches und bürgerfreundliches Verhalten, in: Der Staat, 1978, S. 341/348 f. m . w. N . f ü r beide Auffassungen. BVerfGE 33, 303/353 f.

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

1030

ersetzt 152 . Die Kritik kann sich dabei selbstverständlich nicht gegen die — gewollte — vereinheitliche Wirkung eines Bundesgesetzes (hier: des Hochschulrahmengesetzes) richten, das sich immer an dem bundesweit angelegten Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG orientieren muß, sondern vor allem gegen die Veränderungen der bundesstaatlichen Struktur durch eine „dritte Ebene" der Ländergemeinschaft mit weitgehenden Unitarisierungspflichten153. b) Grenzen des Unitarisierungsansatzes Für den Numerus-clausus-Bereich ist die damit skizzierte Problematik inzwischen z. T. entschärft worden. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer späteren Entscheidung 154 der unitarisierenden Wirkung des Grundrechts nach Art. 12 Abs. 1 GG selbst Grenzen gesetzt. Es ist insbesondere dem nach seiner Auffassung vorliegenden „Mißverständnis" entgegengetreten, es sei eine nach seiner eigenen Rechtsprechung verfassungsrechtlich begründete Forderung, bei einem absoluten Numerus clausus „die Notengebung der Schulen im Interesse der Hochschulzulassung unter allen Umständen vergleichbar zu halten und bis zur Herstellung der Vergleichbarkeit Ersatzregelungen vorzusehen". Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet zwar, so das Bundesverfassungsgericht, den Gesetzgeber (in Bund und Ländern), bei einem absoluten Numerus clausus „Auswahlregelungen in steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken nach sachgerechten, auch für die Benachteiligten zumutbaren Kriterien zu treffen." Dem Gesetzgeber steht dabei aber ein „gewisser eigenverantwortlicher Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum" bei der Auswahl, Gewichtung und Gestaltung der Kriterien zu. Der Bundesgesetzgeber kann z. B. auch Länderquoten zum Ausgleich von länderspezifischen Bewertungsunterschieden einführen und damit — in „bildungspolitischer Neutralität" gegenüber der Schulpolitik der einzelnen Länder — eine rigide bundesweite Vereinheitlichung der Notengebung vermeiden. Die aus Art. 12 Abs. 1 GG (i. V. m. dem Gleichheitssatz) abzuleitenden Unitarisierungspflichten sind durch diese Entscheidung in ihrem sachlichen Anwendungsgebiet, in der Wirkungsintensität und in der Anwendbarkeit auf andere, nicht Numerus-clausus-Fragen betreffende Gebiete deutlich eingegrenzt worden. Abweichend von dieser Eingrenzungstendenz ist im Schrifttum, z. T. in Anlehnung an das erste Numerus-clausus-Urteil, versucht worden, aus den Grundrechten (i. V. m. anderen Strukturprinzipien des Grundgesetzes) Unitarisierungsgebote im Bildungswesen (also nicht nur für das Auswahlverfahren in Numerus-clausus-Studiengängen) zu entwickeln. Ein derartiges „allgemeines Unitarisierungsgebot" 155 oder ein auf bestimmte Verhaltenspflichten z. B. bei der Anerkennung von Abschlüs-

152

So die kritischen Fragen von RUPP (Fn. 150) S. 385.

153

Vgl. RUPP (Fn.

154

150). 155

Vgl. B V e r f G E 43, 291/341 ff m. w. N. zur Numerus-clausus-Rechtsprechung aaO S. 313. Vgl. dazu z. B. LÜCKE (Fn. 150) S. 3 4 6 f f m. w . N.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1031

sen, beschränktes Gebot zur „Zusammenarbeit"156 wird, in unterschiedlichen Kombinationen, u. a. aus dem Grundrecht nach Art. 12 Abs. 1 GG, aus Art. 3 Abs. 1 GG und aus dem (auf dem Bundesstaatsprinzip beruhenden) Grundsatz der Bundestreue abgeleitet157. Solche verfassungsrechtlich begründeten Verhaltensgebote können allerdings in keinem Fall zu einer umfassenden Vereinheitlichungspflicht im Bildungswesen führen, weil andernfalls die föderative Ordnung aufgegeben würde. Sie müssen also von vornherein auf bestimmte Pflichtbereiche eingegrenzt sein, z. B. auf die Sicherung einer „bürgerfreundlichen, koordinativen Rechtsordnung" (ohne inhaltlich identische Regelungen) „für übergreifende Lebenssachverhalte"158 oder auf die Verpflichtung, die Bildungsabschlüsse und Berechtigungen anderer Bundesländer ohne Prüfung der am Recht des jeweiligen Aufnahmelandes gemessenen „Gleichwertigkeit" anzuerkennen159. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind derartige Ableitungen bislang nicht aufgenommen worden. Das Bundesverfassungsgericht hat es in der Entscheidung zur hessischen Förderstufe 160 noch grundsätzlich offengelassen, ob die Länder im Schulwesen „über den durch Art. 6 und 7 GG gezogenen Rahmen hinaus" zu einer Kooperation verpflichtet sind. Nach dieser Entscheidung wäre eine entsprechende, möglicherweise bestehende Kooperationspflicht jedenfalls dadurch erfüllt, daß Länderabkommen oder Bund-Länder-Abkommen die Einführung einer für alle Schüler verbindlichen Förderstufe zulassen, wenn auch nicht vorschreiben. Enge Grenzen für verfassungsrechtliche Bindungen an Kooperationspflichten und -Vereinbarungen aus dem Grundsatz der Bundestreue ziehen auch spätere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Selbst wenn z. B. der Landesgesetzgeber Regelungen trifft, die nicht mit einer Vereinbarung der Kultusministerkonferenz (hier mit der Vereinbarung zur Neuordnung der gymnasialen Oberstufe von 1972) im Einklang stehen, liegt darin — „offensichtlich" — noch „kein Vorstoß gegen den Grundsatz der Bundestreue; denn eine Deutung des Grundsatzes, die aus diesem eine durchgängige Bindung des Landesgesetzgebers an Vereinbarungen der Länderexekutiven herleitet, geriete in offenen Widerspruch mit der föderativen Ordnung des Grundgesetzes und — damit zusammenhängend — der demokratischen Ordnung in den Ländern" 161 . Dieser restriktiven Eingrenzung der aus dem Grundsatz der Bundestreue (oder aus anderen bundesverfassungsrechtlichen Prinzipien) abzuleitenden Verhaltenspflichten entspricht auch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Anerkennung von Hochschulzugangsberechtigungen. Danach besteht, wenn die Anforderungen der Länder für die Hochschulzugangsberechtigungen (als subjektive

156

157

I. RICHTER Alternativen zur Kompetenzverschiebung im Bildungsföderalismus, in: DÖV 1979, S. 185/188, 191 ff. V g l . d a z u LÜCKE ( F n . 1 5 0 ) S. 3 4 6 f f ; R I C H TER

158

(Fn. 156).

L Ü C K E ( F n . 1 5 0 ) S. 3 5 6 ff.

159

RICHTER ( F n . 1 5 6 ) S. 1 9 2 f .

160

BVerfGE 34, 165/194 f. BVerfGE 45, 400/421; vgl. dazu auch BVerfG E 53, 185 zur Entscheidung der Landesgesetzgeber für unterschiedliche Schulformen.

161

1032

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Zulassungsvoraussetzungen ) nicht übereinstimmen, keine bundesverfassungsrechtliche Pflicht, nicht-gleichwertige Abschlüsse und damit verbundene Zugangsberechtigungen anzuerkennen 161 ". (Bei materieller Gleichwertigkeit, die nicht Identität in allen sachlichen Einzelanforderungen oder in Verfahrensbestimmungen verlangt, besteht dagegen ein Anerkennungsanspruch.) Daraus folgt allerdings umgekehrt nicht, daß das „Aufnahmeland" durch Bundesverfassungsrecht — etwa nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung im Landesbereich — daran gehindert wäre, materiell nicht-gleichwertige Abschlüsse von Bewerbern aus anderen Bundesländern (von „Nicht-Landeskindern") anzuerkennen. Das Gleichbehandlungsgebot steht einer Anerkennung in diesen Fällen schon deshalb nicht entgegen, weil sich die „Landeskinder" und „Nicht-Landeskinder" bei von Bundesland zu Bundesland voneinander abweichenden subjektiven Zulassungsvoraussetzungen nicht in der „gleichen" Lage befinden: Die Landeskinder können sich auf die Anforderungen im eigenen Land ausrichten, die Nicht-Landeskinder in aller Regel dagegen nur auf die Anforderungen in ihrem Herkunftsland. Die Anerkennung unterliegt in diesen Fällen vielmehr, was die durch Bundesverfassungsrecht gezogenen Grenzen anbelangt, „der schul- und bildungspolitischen Entscheidung" des Aufnahmelandes 162 . Bildungspolitisch und vor allem aus der Sicht der betroffenen Bewerber kann dieses Ergebnis in vielen Einzelfällen nicht befriedigen, in denen jungen Menschen die Anerkennung von Bildungsabschlüssen wegen der föderativen Anforderungsunterschiede verweigert wird. Nicht jede „vernünftige" und bürgerfreundliche bildungspolitische Forderung — z. B. die nach einer unbürokratischen innerstaatlichen Anerkennung ohne gegenseitige „Güteprüfung" und Schulformzensur — kann jedoch in den Rang einer verfassungsrechtlichen Handlungspflicht der Länder erhoben werden. Die notwendige Trennung von politisch Möglichem und verfassungsrechtlich Gebotenem ist im übrigen hier auch durch verfassungspolitische Gesichtspunkte begründet: Ein allgemeines oder begrenztes Unitarisierungs- oder Kooperationsgebot, das mit der Verfassungsbeschwerde durchzusetzen sein soll, würde die Gewaltenteilungsund Dezentralisierungsfunktionen der föderativen Ordnung in diesem Gebiet im Ergebnis aufheben 163 und das Handeln jedes einzelnen Landes — und damit auch des einzelnen Landesgesetzgebers — von einer Koordination und Zustimmung aller Länder abhängig machen. Das wäre das Ende der Eigenstaatlichkeit der Länder und der Anfang der Bürokratenherrschaft in der „Grauzone". Auch ein Ausgleich (Konkordanz) von Grundrechtspositionen, des aus dem Bundesstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatzes der Bundestreue und der ebenfalls aus der föderativen Ordnung folgenden Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Länder führt dementsprechend nicht zu einem allgemeinen, rechtlich durchsetzbaren Koordinationsgebot für „übergreifende Lebenssachverhalte" oder zu einer allgemeinen Pflicht, Abschlüsse und Berechtigungen anderer Länder ohne Gleichwertigkeits-

1613

Vgl. Beschluß des BVerwG vom 2. 2. 1979,

162

Vgl. Beschluß des BVerwG aaO (Fn. 161a)

163

BVerfGE 45, 400/421. - Vgl. hierzu auch

in D V B 1 . 1 9 7 9 , S. 351 f ; a. A . LÜCKE ( F n .

150) S. 362 m. w. N .

S. 352. H . - J . VOGEL, S. 8 0 9 f f .

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1033

prüfung anzuerkennen. Der vom Bundesverfassungsgericht im ersten Numerus-clausus-Urteil entwickelte Ausnahmesatz zum Verhältnis von föderativer Struktur und unitarisch wirkendem Grundrechtsschutz ist vielmehr eng zu begrenzen. Er kann nicht allgemein auf das Bildungswesen ausgedehnt werden. Die aus dem Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens folgende Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme spricht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im übrigen sogar eher gegen als für eine Eingrenzung der Entscheidungsfreiheit der einzelnen Länder. Der Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens verpflichtet den Bund, so das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zu Bestimmungen des Hochschulrahmengesetzes 164 , bei der Ausübung der ihm (nach Art. 75 Nr. 1 a GG) zustehenden Kompetenzen zur Zurückhaltung im Interesse der Entscheidungsfreiheit der Länder in „schul- und bildungspolitischen" Fragen. Wenn die Vereinheitlichungswirkung der Bundesgesetzgebungskompetenzen danach durch das verfassungsrechtliche Gebot des bundesfreundlichen Verhaltens eingeschränkt wird, kann aber der gleiche verfassungsrechtliche Grundsatz im Verhältnis der Länder untereinander nicht zu einer allgemeinen Vereinheitlichungspflicht im Bildungswesen — und damit notwendigerweise zur Einschränkung der Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Länder — führen. Eine verfassungsrechtliche Pflicht zum kooperativen, „unitarisch wirkenden" Grundrechtsschutz durch Bund und Länder kann bei den verschiedenen Kompetenzträgern (soweit sie im gleichen Umfang zuständig sind) nur dann bestehen, wenn sie diesen Schutz materiell-rechtlich nach den gleichen verfassungsrechtlichen Grundsätzen zu sichern haben. Ein Auslegungsergebnis, nach dem der zuständige Bundesgesetzgeber nach dem Grundsatz der Bundestreue nicht vereinheitlichen darf, die Länder als „Gemeinschaft" aber nach dem gleichen Prinzip umfassend vereinheitlichen müssen, wäre unverständlich. Im Ergebnis bedeutet dies, daß den Bildungspolitikern der Länder und des Bundes ein Höchstmaß an bürgernahem Pragmatismus und politischem Gleichgewichtssinn zugemutet ist. Wenn sie ihre bildungsideologischen Prinzipien nach dem „Reinheitsgebot" verfechten, treiben sie viele Bürger, die von Land zu Land wechseln wollen, in die Verzweiflung; wenn sie die Kultusministerkonferenz zu einem Oberkultusministerium werden ließen, zerstörten sie die geistige Basis für die Eigenstaatlichkeit der Länder. 2. Vereinheitlichung durch Bund-Länder-Zusammenarbeit und durch Länderselbstkoordination 165

a)

Bund-Länder-Zusammenarbeit

Da das Grundgesetz nur wenige Vorgaben mit unmittelbar vereinheitlichender Wirkung für das Bildungswesen enthält und dem Bund nur in geringem Umfang Gesetzgebungszuständigkeiten im Bildungswesen zuweist (vgl. S. 1025 ff), kommt den

164

Vgl. dazu BVerfGE 43 , 2917348 ff.

165 Vgl z u J e n ; n diesen Abschnitten behandelten Fragen allgemein auch H . - J . VOGEL, S. 809 ff.

1034

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Kooperationsinstrumenten zwischen den Ländern und zwischen Bund und Ländern besondere Bedeutung zu. Die 1969 eingeführten Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a Abs. 1 Nr. 1 G G (Hochschulbau) und nach Art. 91 b G G (Bildungsplanung) dienen zwar nicht ausschließlich (oder überwiegend) einem Vereinheitlichungsbedürfnis im engeren Sinne; ihre Funktion kann aber diese Zielsetzung einschließen. Art. 91a Abs. 1 G G deutet dies an: Der Bund wirkt an der Erfüllung der Länderaufgaben im Hochschulbau (und bei den anderen Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a G G ) mit, „wenn diese Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und die Mitwirkung des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist". Das im Grundsatz in Art. 91 a G G angelegte Entscheidungssystem der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau setzt allerdings von vornherein den Vereinheitlichungswirkungen der Gemeinschaftsaufgabe enge Grenzen. Die tatsächlichen Auswirkungen einer Bundesmitfinanzierung im Hochschulbau zwischen 1969 und 1980 sollen dabei nicht unterschätzt werden. Die Bundesmitwirkung hat dazu beigetragen, die Ausbildungskapazität im Hochschulwesen, bei steigender Nachfrage und unter den Bedingungen von absoluten Zulassungsbeschränkungen, zu erweitern 166 . Sie hat in gewissem Umfang die unterschiedliche finanzielle Leistungskraft der Länder in diesem Aufgabengebiet ausgeglichen und damit die Voraussetzungen für ein regional ausgewogenes Hochschulangebot verbessert 167 . Umgekehrt haben die 1980 beschlossenen pauschalen Kürzungen der Bundesmittel Disparitäten erzeugt; selbstverständlich wirken sich derartige Kürzungen quantitativ auf den Hochschulbau aus. Ein über solche „allgemeinen" Wirkungen hinausgehender, unmittelbar „steuernder" Einfluß des Bundes auf die Struktur und auf die regionale oder lokale Verteilung des Hochschulangebots wird jedoch durch Art. 91a G G nur in begrenztem Umfang eröffnet. Der gemeinsame Rahmenplan wird nach dem Hochschulbauförderungsgesetz im Planungsausschuß mit Dreiviertelmehrheit gefaßt, wobei die Länder je eine Stimme, die Vertreter der Bundesregierung zusammen elf Stimmen führen 168 . Es genügen für einen Beschluß also die Stimmen des Bundes und von sechs Ländern. Ein Hochschulbauvorhaben kann jedoch nur mit Zustimmung des Landes in den Rahmenplan aufgenommen werden, in dessen Gebiet die Hochschule liegt 169 . In der Praxis tendiert dieses Verfahren zu einer Beschlußfassung nach dem Einstimmigkeitsprinzip. Alle von den Ländern, zumeist ohne vorherige Abstimmung mit dem Bund, neugegründeten und erst danach für die Rahmenplanung angemeldeten Hochschulen sind dementsprechend in die Mitfinanzierung einbezogen worden. Der Bund kann Vorhaben nicht selbst beantragen, höchstens anregen. Er hat daher, abgesehen von 166 Vgl. dazu etwa die Leistungsbilanz aus der Sicht der Bundesregierung in der Antwort der Bundesregierung vom 27. 8. 1980 auf die Große Anfrage der Fraktionen der SPD und F . D . P . zur Entwicklung des Hochschulbereichs, BT-Drucks. 8/4459, insbesondere S. 7 ff. 167

Vgl. zu diesem Ziel der Gemeinschaftsaufga-

168

169

be § 2 Nr. 1 des Hochschulbauförderungsgesetzes (Fn. 137). § 7 Hochschulbauförderungsgesetz (Fn. 137). Vgl. Art. 91 a Abs. 3 Satz 2 G G ; zu den Einzelheiten des Verfahrens vgl. E. BÖNING Hochschulrahmenplanung, in: WissR, 1978, Beih. 6, S. 33, 44ff.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1035

dem Einfluß, den er allein dadurch erhält, daß er Mittel in bestimmter Höhe zur Verfügung stellt, kaum Möglichkeiten, auf den Planungsprozeß lenkend einzuwirken; wesentliche Mitspracherechte stehen ihm bei der regionalen Verteilung und der strukturellen Gestaltung des Hochschulangebots, jedenfalls in der Planungswirklichkeit, nicht zu 1 7 0 . Logischerweise ergeben sich daraus zwei Konsequenzen. Erstens konnte der Bund auch fragwürdige Investitionen, beispielweise im Klinikbau, nicht verhindern; er konnte nicht einmal vernünftige Standards bei der Eingrenzung der Baukosten durchsetzen. Zweitens steht und fällt der (geringe) Einfluß des Bundes mit dem Geld, das er für den Hochschulbau ausgibt. Die fragwürdige (später allerdings wieder korrigierte) Finanzpolitik des Bundes von 1980 hat somit nicht nur den Bundeseinfluß geschwächt, sondern der Gemeinschaftsaufgabe insgesamt geschadet. Auch die Festlegung des Finanzierungsanteils des Bundes auf die Hälfte der „Ausgaben in jedem Land" durch Art. 91 a Abs. 4 Satz 1 G G begrenzt die Einflußmöglichkeiten des Bundes. Eine flexible Kostenbeteiligung ist bewußt ausgeschlossen worden, auch um die Bevorzugung einzelner Länder oder Ländergruppen nach politischen Affinitäten auszuschließen. Der Preis für diese — in der Motivation verständliche — Regelung ist allerdings die damit verbundene Einschränkung der Ausgleichswirkung der Bundesmitfinanzierung zwischen finanzstarken und finanzschwachen Ländern. Die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau nähert sich daher im Gesamtbild einer Sonderregelung für den Finanzausgleich in einem bestimmten Ausgabengebiet. Eine inhaltlich steuernde Gestaltung des Sachgebiets „Hochschulwesen" erlaubt die Gemeinschaftsaufgabe auch mittelbar nicht 171 . Noch stärker begrenzt ist der Wirkungsgrad der Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsplanung" nach Art. 91 b G G . In der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung 172 , die vor allem einen gemeinsamen langfristigen Rahmenplan für eine abgestimmte Entwicklung des gesamten Bildungswesens und dessen „Fortschreibung" vorzubereiten hat 1 7 3 , führen die Vertreter der Bundesregierung elf Stimmen und die Vertreter der Landesregierungen je eine Stimme 174 . Beschlüsse werden, wie im Planungsausschuß nach dem Hochschulbauförderungsgesetz, mit Dreiviertelmehrheit gefaßt, also mit den Stimmen des Bundes und von sechs Ländern 175 . Die Kommission gibt jedoch nur Empfehlungen für den Rahmenplan; über die Empfehlungen (einschl. der Sondervoten der in der Kommission überstimmten Minderheit) entscheiden die Regierungschefs von Bund und Ländern. Ein Beschluß setzt dabei die Zustimmung von mindestens neun Regierungschefs voraus. Er bindet nur diejenigen, die ihm zugestimmt haben 176 . Die Parlamente von Bund und Ländern werden durch die Beschlüsse der Regierungen in keinem Fall gebunden.

170

V g l . B Ö N I N G ( F n . 169) S. 4 7 f , 5 0 f.

171

Vgl. dazu BÖNING (Fn. 169) S. 46ff; sowie P. GLOTZ Scheitert die Bildungsplanung? in: Tutzinger-Studien, 1/1976, S. 17/24ff. Errichtet durch Bund-Länder-Verwaltungsabkommen vom 25. 6. 1970 ( „ B L K - A b -

172

173 174 175 176

kommen"), vgl. Fn. 138; vgl. dazu auch 1026 f und 1041 ff. Vgl. Art. 2 Nr. 1 und 6 BLK-Abkommen. Vgl. Art. 7 Abs. 2 BLK-Abkommen. Vgl. Art. 7 Abs. 3 BLK-Abkommen. Vgl. dazu Art. 2, Art. 9 Abs. 1 und 2 B L K Abkommen.

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6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Auch bei diesem Entscheidungsprozeß kann also formal mit einer qualifizierten Mehrheit beschlossen werden. Die politische Zuordnung der Landesregierungen und die daraus folgenden „Bündnisse" schließen aber in bildungspolitischen Grundsatzfragen einen derartigen Mehrheitsbeschluß praktisch aus. Die Nicht-Bindung der überstimmten Minderheit verstärkt den Zwang zur Einstimmigkeit, da eine abgestimmte Entwicklung im Bildungswesen auf die Dauer nur dann gesichert werden kann, wenn dem Bildungsplanungsbeschluß alle Länder zustimmen 177 . Dieses faktische Einstimmigkeitsprinzip führt in der Entscheidungspraxis dazu, daß für wichtige bildungspolitische Streitfragen eine Einigung in der Sache nicht gefunden werden kann. Im Bildungsgesamtplan von 1973 gilt dies z. B. für die Gesamtschulfrage 178 , für die Einführung der für alle verbindlichen Orientierungsstufe 179 und für die Gestaltung der Lehrerbildung. Andere ebenfalls ungeklärte Streitfragen werden durch Ausklammern, durch eine Darstellung der unterschiedlichen Standpunkte oder durch einen Formelkompromiß „gelöst". Die Einigungsfähigkeit in Sachfragen und in der Vorhabenplanung hat dabei seit Beginn der 70er Jahre kontinuierlich abgenommen 180 . Eine ursprünglich durchaus wirksame Interessenklammer bildet vielleicht noch die der Bund-Länder-Kommission ebenfalls aufgegebene Abstimmung des Finanzierungsbedarfs im Bildungswesen 181 . Gemeinsame Planungsbeschlüsse mit Angaben zum Finanzbedarf können die Position der Bildungsressorts in Bund und Ländern gegenüber den Finanzministerien stärken. Die darin zu erkennende Funktionsverschiebung von einer horizontalen Gewaltenteilung zur vertikalen Machtverteilung zwischen verschiedenen Sachinteressen und ihren „Sachwaltern", die die föderalen Staatsaufbauschichten durchschlägt, entspricht einem allgemeinen, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägten Zug im „kooperativen Föderalismus" der Exekutiven 182 . In der ursprünglichen Zielsetzung war aber die gemeinsame Bildungsplanung gerade so nicht gemeint: Sie sollte über einem bloßen Ressort- und Sachinteressenverbund hinaus, wie er — ohne den Bund — bereits früher in der Kultusministerkonferenz angelegt war, die Entwicklung im Bildungswesen mit anderen „gesamtstaatlich" wichtigen Aufgabengebieten (Sozial-, Wirtschafts-, Gesellschaftspolitik usw.) auf der Ebene der Regierungsplanung verbinden. Auch die Funktion als Ressortbündnis ist allerdings brüchig geworden: Wenn Finanzierungsfragen einen geeigneten Debattenstoff für politische Auseinandersetzungen geben, lockert sich auch dieses Interessenband (auch und gerade in Zeiten knapper werdender Ressourcen). 177 Yg[ dazu Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Bildungspolitische Zwischenbilanz, 1976, S. 85. i7e Vgl. zu den damit verbundenen verfassungsrechtlichen und -politischen Problemen S. 1016 ff. Vgl. zur verfassungsrechtlichen Beurteilung S. 1014 ff. 180 Vgl d a z u auch die kritische Bewertung des Bundesministers f ü r Bildung und Wissenschaft (Fn. 177) S. 8 2 f , sowie GLOTZ (Fn. 179

171) S. 21 f f , J. BURCKHARDT Einheitlichkeit und Vielfalt im Bildungssystem - Zur A u f gabe des Bundes im Bildungsbereich, in: A u s Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", 1980, B 35/80 S. 41/42, 46. 1 8 1 Vgl. A r t . 2 Nr. 5 B L K - A b k o m m e n (Fn. 138). 182 v g l . W . ZEH Musterfall Gemeinschaftsaufgaben, in: Der Bürger im Staat, 1979, S. 15/ 18 f.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1037

In diesem Punkt wird eine allgemeine Schwäche des Planungsinstruments deutlich: Die gemeinsame Planung umfaßt keine gemeinsame Finanzierung der Planungsdurchführung wie beim Hochschulbau (abgesehen von Modellversuchen, die als Teil des Planungsprozesses gemeinsam finanziert werden können 183 ). Die Zuständigkeit für die Durchführung der Planung folgt der sonst geltenden Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern. Sie liegt also ganz überwiegend bei den Ländern. Auch dies schränkt die tatsächliche Verbindlichkeit der Planungsbeschlüsse, neben allen anderen Faktoren mit ähnlicher Wirkung, erheblich ein. Die Parlamente sind ohnehin frei; aber auch die Regierungen halten sich häufig nicht an eingegangene Bindungen in gemeinsamen Beschlüssen 184 . Angesichts dieser Situation ist entweder eine — in Zeiten harter politischer Polarisierung wenig wahrscheinliche — Verfassungsrevision notwendig — oder die Koordinierungs-Instrumente Bund-Länder-Kommission und Planungsausschuß Hochschulbau geraten zuweilen in Gefahr, die Bürokratie von F R A N Z K A F K A S „Schloß" zu bestätigen. Die sachlich unbegründete, jedenfalls undifferenzierte, pauschale Kürzung der Hochschulbaumittel durch den Bund 1980 und die wenig kooperative Haltung verschiedener Länder bei der Beratung der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans zwischen 1980 und 1982 haben hinter die Reform von 1969 Fragezeichen gesetzt. Trotz dieser überwiegend kritischen Bilanz gibt es auf absehbare Zeit (ohne Verfassungsänderung) keine Alternative zur gemeinsamen Bildungsplanung: Es besteht ein nicht zu leugnender Abstimmungsbedarf zwischen Bund und Ländern auch auf diesem Politikgebiet. Eine Zusammenlegung der Kultusministerkonferenz und der Bund-Länder-Kommission nach dem Vorbild anderer Fachministerkonferenzen kommt aus einer Reihe von Gründen nicht in Frage 1841 . Die Bund-Länder-Kommission soll, soweit sie für die Bildungsplanung zuständig ist, „das ständige Gesprächsforum für alle Bund und Länder gemeinsam berührenden Fragen des Bildungswe-

183 Vgl. dazu die entsprechende Bund-LänderRahmenvereinbarung vom 7. 5. 1971 (Fn. 140). 184 Vgl. dazu die allgemeine Kritik des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft (Fn. 177) S. 82 f, sowie die Beispiele bei K . FABER Vielfalt und Einheitlichkeit im Bildungswesen — Bundesstaatliche Aufgabenverteilung und parlamentarische Verantwortung in: Bildung und Erziehung, 1978, S. 211/217. 1843

Mit welchen Schwierigkeiten zu rechnen wäre, zeigen allein schon die Bestrebungen, zwischen den beiden Institutionen streng abzugrenzen, vgl. dazu Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Fn. 177) S. 82f. Die damit vorgezeichnete Aufgabenabgrenzung zwischen der Kultusministerkonferenz und der Bund-Länder-Kommission setzt

sich übrigens innerhalb der Länderressorts fort (Planungs- und andere Verwaltungseinheiten). Eine ähnliche, in gewissem Umfang unvermeidliche Gremien- und Aufgabenorientierung gibt es, wenn auch an anderen Abgrenzungskriterien ausgerichtet, ebenso auf der Bundesseite, z . B . bei den Aufgabenfeldern Bildungsplanung und Hochschulbau/Hochschulwesen. Welche Integrationsbindung jeweils überwiegt — die formal-interne oder die aufgabenbezogen-externe —, läßt sich natürlich nicht allgemein feststellen; in gewissem Umfang „teilt" aber die von ZEH (Fn. 182) beschriebene vertikale Machtverteilung nach „Interessen" nicht nur die „Regierungen", sondern auch kleinere Organisationseinheiten wie Ministerien.

1038

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

sens" sein 1 8 4 b . Für diese Funktion stehen andere, geeignetere Gremien nicht zur Verfügung. Die Schwächen des Instruments liegen nicht in der formalen Entscheidungsstruktur. Sie sind auch nicht in erster Linie durch die jeweils aktuellen bildungspolitischen Auseinandersetzungen bestimmt. Sie geben vielmehr, konzentriert in einem Gremium, ziemlich genau den allgemeinen „Zustand" der Entscheidungsprozesse im föderativen Bildungssystem wieder. Neben den Kooperationsinstrumenten der beiden bildungsbezogenen Gemeinschaftsaufgaben gibt es besondere Bund-Länder-Gremien z. B. für die Abstimmung der Ausbildungsinhalte in der beruflichen Bildung. Der Bund ist für den außerschulischen, die Länder sind für den schulischen Teil des Ausbildungsgangs zuständig. Gemeinsame Ausschüsse 185 sollen die Ausbildungsordnungen des Bundes mit den entsprechenden Rahmenlehrplänen der Länder abstimmen 186 . Der Abschluß eines neuen, ursprünglich von Bund und Ländern gemeinsam für notwendig gehaltenen Verwaltungsabkommens, das das Kooperationsverfahren verbessern sollte, ist 1978 gescheitert 187 . Wichtige Entscheidungen über die gemeinsame Bildungspolitik von Bund und Ländern sind auch außerhalb der speziell mit Bildungsfragen befaßten Bund-LänderGremien (Bildungsplanung, Hochschulbau, Abstimmung in der beruflichen Bildung) gefallen. Dazu gehört z . B . der 1977 gefaßte Beschluß der Regierungschefs von Bund und Ländern zur Begrenzung der Numerus-clausus-Fächer bei der Hochschulzulassung 1 8 8 . Der Sache nach enthält dieser Beschluß eine Bildungsplanungsentscheidung; er ist jedoch nicht in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung oder in einem anderen für die Bund-Länder-Zusammenarbeit im Bildungswesen eingerichteten Gremium (z.B. im Planungsausschuß nach dem Hochschulbauförderungsgesetz) vorbereitet worden. Diese „Abkoppelung" von den speziell mit Bildungsfragen befaßten gemeinsamen Abstimmungseinrichtungen gibt einen deutlichen Hinweis auf die Einschätzung der Entscheidungsstärke dieser Gremien. Selbstverständlich garantiert andererseits auch die Einschaltung der Ebene der Regierungschefs (ohne Vorbereitung durch die dafür vorgesehenen Gremien) nicht in jedem Fall den Erfolg. Auch dort kann, unter den Bedingungen des Einstimmigkeitsprinzips, eine Initiative bereits am Einspruch eines Landes scheitern 1881 .

i84b V g l. Art 1 B L K - A b k o m m e n (Fn. 138). Vgl. dazu das „Gemeinsame Ergebnisprotok o l l " vom 30. 5. 1972 sowie den Verfahrensbeschluß vom 8. 8. 1974, Text jeweils in: Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. llOf. 186 Vgl z u J e n Ergebnissen dieser Abstimmung und zur Bewertung des Abstimmungsverfahrens Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 41 ff sowie die Stellungnahme der Kultusministerkonferenz zum Bericht der Bundesregierung („Stellungnahme der L ä n d e r " ) vom 20./21. 4. 1978, abgedruckt in: B T Drucks. 8/1956, S. 12/25ff.

185

187 Ygj dazu den Beschluß der Bundesregierung vom 21. 6. 1978, der den Bericht der Bundesregierung vom 22. 2. 1978 (vgl. Fn. 81) ergänzt („Schlußfolgerungen der Bundesregierung"), BT-Drucks. 8/1956, S. 3f. 188

i88a

Beschluß vom 4. 11. 1977, abgedruckt in BMBW-Informationen Bildung und Wissenschaft 11/77 vom 17. 11. 1977. Vgl. dazu die Darstellung der Verhandlungen über ein neues Verwaltungsabkommen in der beruflichen Bildung in den Schlußfolgerungen der Bundesregierung (Fn. 187) S. 3 f ; s. auch den bei H . LENZ Die Landtage als staatsnotarielle Ratifikationsämter?, in:

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1039

Die Kooperationsgremien von Bund und Ländern können zusammenfassend bewertet, abgesehen von wenigen Teilgebieten, in denen der Bund über stärkere Kompetenzen verfügt, nicht die ihr von vielen zugeschriebene Funktion erfüllen, in bestimmten Grundfragen vor allem im Interesse der betroffenen Bürger ein Mindestmaß an Einheitlichkeit im Bildungswesen zu sichern. Die vereinheitlichenden Wirkungen der Kooperation sind insgesamt gering. Legt man den Maßstab des Unitarisierungserfolgs z.B. an die gemeinsame Bildungsplanung an, so ist das Ergebnis eindeutig: Sie ist an dieser Aufgabe gescheitert189. b) Länderselbskoordination Eine ähnlich kritische Bewertung trifft für die Selbstkoordinierung der Landesregierungen, vor allem in der Kultusministerkonferenz, nicht in gleicher Weise zu. Sie hat, im Gegensatz zu den Kooperationsinstrumenten zwischen Bund und Ländern, durchaus spürbare unitarisierende Wirkungen, vielfach allerdings nicht auf den Gebieten, für die in der öffentlichen Diskussion und von den Bürgern eine Vereinheitlichung erwartet wird. Die Länderselbstkoordinierung weist gegenüber der BundLänder-Kooperation im Bildungswesen, vor allem bei der Bildungsplanung, den Vorzug auf, daß sie zwischen Partnern stattfindet, die alle für die Durchführung der Beschlüsse gleich zuständig sind. Es gibt zwischen den Ländern kein Kompetenzgefälle und keine Furcht, daß ein Abstimmungspartner (bei der Bund-Länder-Kooperation der Bund) langfristig Zuständigkeiten der anderen an sich ziehen will (oder kann). Diese Homogenität in der Kompetenzmacht und der Interessenlage erklärt zum größten Teil den Wirkungsunterschied zwischen Selbstkoordinierung und Bund-Länder-Zusammenarbeit. Umgekehrt formuliert: Die (im Gegensatz zu anderen Gebieten der Bund-Länder-Zusammenarbeit) auch nicht annähernd „ausgeglichene" Kompetenzverteilung bei den Partnern der Bund-Länder-Kooperation im Bildungswesen (Bund mit nur wenigen eigenen Zuständigkeiten, Länder mit starken Kompetenzen) und die unterschiedlichen Interessenpositionen des (nicht-,.saturierten") Gesamtstaates und der Gliedstaaten in der Kompetenzfrage bilden bleibende Störfaktoren. Diese Störfaktoren fordern Abgrenzungsbestrebungen auf der Länderseite geradezu heraus 190 ; auch die beste politische Absicht kann sie auf die Dauer nicht überwinden. Das damit gezeichnete — positiv wirkende — Bild der Länderselbstkoordinierung bedarf allerdings auch deutlicher Korrekturen. In der Kultusministerkonferenz haben auch formal alle Partner gleiche Rechte; eine bundesweit wirkende Entscheidung setzt also Einstimmigkeit voraus. Vielfach enthalten die Beschlüsse (und zum Teil auch die „Vereinbarungen") nur Empfehlungen, an die sich die Minister auch in ihren Verhaltenspflichten gegenüber Landesregierung und Landesparlament nicht gebunden fühlen und nicht gebunden sind. Die Landesparlamente sind, wie bei der Bund-Länder-Kooperation, ohnedies durch Beschlüsse der Exekutiven rechtlich D Ö V 1977, S. 157/162 geschilderten Fall (Verhandlungen über ein neues Abkommen zur Bildungsberatung).

189

190

Vgl. die Gesamtbewertung von GLOTZ (Fn. 171). Vgl. Fn. 184a.

1040

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

nicht zu verpflichten. Das Einstimmigkeitsprinzip hat bei der Selbstkoordinierung der Länder die gleichen Folgen wie bei der Bund-Länder-Kooperation: Es schließt eine Einigung in umstrittenen politischen Grundsatzfragen in aller Regel aus. Die in der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern offen gebliebenen Streitfragen können daher auch von der Selbstkoordinierung der Länder nicht gelöst werden. In den mehr als 30 Jahren ihrer Arbeit hat die Kultusministerkonferenz dennoch annähernd 1000 Vereinbarungen zur Vereinheitlichung zwischen den Ländern getroffen. Diese Vereinbarungen enthalten nicht nur Formelkompromisse oder unverbindliche Absichtserklärungen. Sie sind auch keinesfalls nur dann geschlossen worden, wenn in wichtigen Fragen der Bildungspolitik ein „Konsens" oder jedenfalls eine Art „Waffenstillstand" zwischen den Ländern und den großen Parteien bestand (einen neuerdings immer wieder beschworenen und alle wesentlichen Meinungsunterschiede lösenden „Grundkonsens" hat es in der Bildungspolitik nie gegeben). Ein großer Teil der getroffenen Beschlüsse liegt vielmehr außerhalb der öffentlichen Streitzone der „großen" Bildungspolitik. In diesem „streitfreien" Raum werden viele „technische" Vereinbarungen der Exekutiven mit oft erheblichen, aber zunächst nicht erkennbaren Auswirkungen abgeschlossen (übrigens nicht nur in der Bildungspolitik). Einige Abkommen geraten nachträglich (teilweise mit beträchtlichem Zeitabstand zum Abschluß der Vereinbarung) in die öffentliche Kritik 1 9 1 . Bei nicht wenigen Vereinbarungen ist die Frage berechtigt, ob — aus der Sicht der Bürger — überhaupt ein zwingendes Vereinheitlichungsbedürfnis besteht oder ob, falls dem so ist, die Vereinbarung nicht detaillierter und perfektionistischer den Sachverhalt „regelt", als dies für das Vereinheitlichungsziel notwendig ist 1 9 2 . Daneben gibt es aber selbstverständlich auch eine große Zahl von sinnvollen und notwendigen Vereinbarungen. In ihren Vereinheitlichungswirkungen, auch für die Verwaltung, übertreffen diese Abkommen vielfach bundesgesetzliche Regelungen (im Bildungswesen und auf anderen Gebieten). Es wird zwar häufig geleugnet, ist aber dennoch so: Für bestimmte Bereiche des Bildungswesens gibt es eine Art bundesweiter Zentralverwaltung, nicht des Bundes, sondern der Exekutivkoordination der Länder 1 9 3 . Daß dies — da es die Landesparlamente angeht — auch überaus problematisch sein kann, liegt auf der Hand. Wie die Bund-Länder-Kooperation kennt auch die Länderselbstkoordination die Zusammenarbeit auf der Ebene der Regierungschefs. Zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Kooperationsebene gehört das von den Regierungschefs der Länder 1964 beschlossene, zuletzt 1971 „fortgeschriebene" Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens („Ham191

192

Ein Beispiel dafür ist die Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe v. 7. 7. 1972, abgedruckt in: Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 72ff. Vgl. dazu G. LEHMBRUCH, Ein später Sieg Bismarcks?, in: Der Bürger im Staat, 1979, S. 34/35. Lehmbruch weist zu Recht darauf

193

hin, daß die Unitarisierung nicht selten eher im Interesse der Verwaltung als in dem der Bürger liegt. In einigen begrenzten Gebieten auch mit Beteiligung der Bundesexekutive; vgl. zum ganzen auch GLOTZ (Fn. 171) S. 26ff.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1041

burger Abkommen") 1 9 4 . Das Abkommen beschreibt (auch in seinen Änderungsfassungen) im wesentlichen den Stand der beim Abschluß erreichten Entwicklungen. Grundlegende Entscheidungen über umstrittene bildungspolitische Fragen, die die Länder (oder einen Teil der Länder) zu einer Korrektur ihrer Bildungspolitik verpflichten, sind darin nicht getroffen worden — wie dies von einer einstimmig zu beschließenden Vereinbarung auch nicht anders zu erwarten ist. Der Absicht, abgeschlossene Entwicklungen durch Regierungsabkommen jeweils „festzuschreiben", sind in einer Zeit wichtiger Veränderungen im Bildungswesen natürliche Grenzen gesetzt. Das ursprüngliche Vereinheitlichungsziel kann das Abkommen heute nicht mehr sichern, auch wenn man seine uneingeschränkte rechtliche Geltungskraft für die Regierungen, gegen die tatsächliche Entwicklung, behaupten will 195 . Äußeres Indiz für diesen Verlust an Verbindlichkeit ist die Tatsache, daß das Abkommen seit 1971 — trotz erheblicher Veränderungen im Schulwesen fast aller Länder — nicht mehr neu gefaßt wurde. Neuere Vereinbarungen der Länder zu wichtigen Fragen der Bildungspolitik versuchen die Einigung dadurch gegen „Abweichungen" zu sichern, daß von vornherein die Gesetzgeber einbezogen werden. Staatsverträge können durch die Zustimmung der Landesparlamente den Rang von Landesgesetzen erhalten. Kündigungsklauseln mit entsprechenden Fristen binden auch die Landesgesetzgeber. Diesen Weg hat die Selbstkoordinierung der Länder z.B. bei der Hochschulzulassung (Numerusclausus-Staatsverträge), aber auch in anderen Gebieten, z.B. im Fernunterricht 196 , beschritten; dabei sind auch gemeinsame für alle Länder zuständige Verwaltungseinrichtungen (sog. Zentralstellen) geschaffen worden. Auch diese Gesetzgebungskoordinierung unterliegt allerdings den Bedingungen des Einstimmigkeitsprinzips im Entscheidungsprozeß: Fragen, die bereits zwischen den Landesregierungen streitig bleiben, können erst recht nicht durch eine kombinierte bundeseinheitliche Ländergesetzgebung gelöst werden. 3. Parlaments Verantwortung und Koordination der Regierungen Die Stellung der Parlamente ist in Politik und Wissenschaft vor allem bei den BundlÄndtr-Gemeinschaftsaufgaben, insbesondere bei den Gemeinschaftsaufgaben mit einer Finanzierungsbeteiligung des Bundes (vor allem nach Art. 91 a GG), kritisch untersucht worden 197 . Das Ergebnis dieser Kritik ist hinreichend bekannt: Einfluß

194

Abgedruckt in: Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 69ff. Es ist zweifelhaft, ob dieses A b k o m m e n , das die Parlamente rechtlich nicht bindet (vgl. § 20 des Abkommens), noch in allen Teilen weitergilt. Die tatsächliche Entwicklung ist auch durch Entscheidungen der Landesgesetzgeber z . B . zu den Schulformen (Gesamtschule) über die in dem A b k o m m e n beschriebene Schulstruktur in wesentlichen Fragen hinausgegangen. Von dem A b k o m m e n sind übrigens sowohl so-

195 196

197

zialdemokratisch/sozialliberal als auch von der Union regierte Länder abgewichen. Vgl. dazu Fn. 194. Staatsvertrag über das Fernunterrichtswesen v o m 16. 2. 1978 (GVB1. N R W 1979 S. 102). Vgl. zur kaum noch zu überschauenden Literatur zum Thema „Gemeinschaftsaufgab e n " z. B . SCHARPF/REISSERT/SCHNABELPo-

litikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976 (mit einer ausführlichen Lite-

1042

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen O r d n u n g

und Kontrollmöglichkeiten der Parlamente des Bundes und mehr noch der Länder sind weitgehend ausgeschaltet. Wenn sich die Exekutiven geeinigt haben, können jedenfalls die Landesparlamente diese Einigung kaum noch korrigieren. Ein Einwirkungsversuch einzelner oder aller zwölf Parlamente vor der Beschlußfassung der koordinierten Exekutiven verspricht von vornherein wenig Erfolg. Art. 91a Abs. 4 Satz 4 G G stellt zwar die Durchführung der Planungsbeschlüsse der Exekutiven formal unter den Vorbehalt des Haushaltsgesetzes. Faktisch steht die Regierungskooperation bei den Gemeinschaftsaufgaben aber weitgehend außerhalb der parlamentarischen Kontrolle 198 . Dies gilt vor allem für die Kontrolle durch die Landesparlamente. Die Gefahren dieser Exekutivkooperation zeichnen sich für die Kritiker deutlich ab: Sie unterbricht den Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Willensbildungsprozeß und dem Exekutivhandeln; sie kann, unter dem Regime des Einstimmigkeitsprinzips, zur Selbstblockierung führen, die die ursprünglichen Sachziele der Kooperation in Frage stellt; sie verändert damit das politische Entscheidungssystem 1 9 9 ; „der Parlamentarismus und mit ihm die Parteien werden ausgeschaltet zugunsten einer bürokratischen Räterepublik" 2 0 0 . Dieses Bild wirkt überzeichnet, wenn man den Blick nur auf einzelne Gemeinschaftsaufgaben richtet. Der Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung kann z . B . , isoliert betrachtet, wohl kaum „systemsprengende" Kraft zugesprochen werden, vor allem wenn man ihre tatsächlichen Ergebnisse berücksichtigt. In die Bewertung muß jedoch das Gesamtergebnis der Exekutivkooperation einbezogen werden. Dabei fällt auf, daß sich die Kritik am Funktionsverlust von Parlamenten und Parteien z . T . nur gegen die Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern richtet. Besonders deutlich ist diese einseitige Konzentration der Kritik bei politischen Stellungnahmen (von Parteien, Landtagen oder Landesministern 201 ). Nicht selten ist es ein und derselbe Kritiker, der die Gemeinschaftsaufgaben wegen der Ausschaltung der Parlamentskontrolle in Frage stellt, die Selbstkoordination der Länderexekutiven aber für völlig unproblematisch hält. Die Selbstkoordinierung der Landesregierungen zeigt jedoch die gleichen gegen Parlamente und Parteien wirkenden Merkmale wie die Zusammenarbeit bei den Gemeinschaftsaufgaben. Sie sind dort genau genommen noch dadurch verstärkt, daß bei der Länderselbstkoordination das parlamentarische Element des Gesamtstaates — der Bundestag — fehlt, das gegenüber einer Kooperation der Regierungen im Vergleich noch die besten Durchsetzungschancen hat (auch,

raturübersicht); G . KISKER Kooperation im Bundesstaat, 1971; G . LEHMBRUCH Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1976; H . LAUFER D a s föderative System der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage, 1981. Zur zunehmend kritischen Tendenz des Schrifttums vgl. Z E H (Fn. 182) S. 13. 198 YG] Z ß P LEHNER Politikverflechtung — Föderalismus ohne Transparenz, in: D e r Bürger im Staat, 1979, S. 3 / 6 f f ; LENZ (Fn.

188a) S. 158; ZEH (Fn. 182) S. 16f sowie GLOTZ (Fn. 171), S. 26ff zu den Verhältnissen im Bildungsbereich. 199

Vgl.

z. B.

SCHARPF/REISSERT/SCHNABEL

(Fn. 197) S. 63; LENZ (Fn. 188a) S. 161ff; LEHNER ( F n . 198) S. 7 f ; Z E H ( F n . 182) S. 18. 200

Vgl. LEHMBRUCH (Fn. 197) S.

201

Vgl. dazu ZEH (Fn. 182) S. 18 mit Nachweisen zu verschiedenen Stellungnahmen.

112f.

2 . Abschnitt. Richtlinien und G r e n z e n für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1043

aber nicht nur, durch die Kontrolle über die größeren Finanzmittel). In die wissenschaftliche Kritik an der ,,Politikverflechtung" im kooperativen Föderalismus wird dementsprechend zunehmend auch die Länderselbstkoordination in den „Grauzonen" der „dritten Ebene" einbezogen202. Das Netz der Verflechtung ist nicht nur dort geknüpft, wo neue Partner — der Bund — nach neuen Regeln — bei den Gemeinschaftsaufgaben — mitwirken. Das ältere Netzwerk der Länderexekutivgemeinschaft umfaßt weitaus mehr Aufgabengebiete und die „Netzmaschen" sind dort mindestens ebenso eng wie bei den Gemeinschaftsaufgaben. Die Exekutivkooperation im Bildungswesen zeigt dies besonders deutlich (vgl. S. 1033ff). Die schwache Stellung der Landesparlamente gegenüber der Koordination der Landesregierungen ist inzwischen oft genug beschrieben und „belegt" worden 203 . Die Regierungsmehrheit im Landtag und vor allem die Opposition als wesentlicher parlamentarischer Kontrollfaktor stehen bei Vereinbarungen der Landesregierungen vor einer Ratifikationslage, die ihnen kaum noch Raum für Gestaltung und Korrekturen läßt. Sie können nicht einmal genau erkennen, welcher Verantwortungsteil an der Vereinbarung „ihrer" Regierung zuzurechnen ist. Die Regierungsmehrheit wird, soweit sie politische Loyalität zur Regierung nicht von vornherein bindet, leicht mit dem kaum zu entkräftenden Argument überzeugt, daß ein anderer Kompromiß nicht zu erreichen war und daß auch die Regierungen anderer Bundesländer mit der gleichen politischen Couleur dem Verhandlungsergebnis zugestimmt haben. Die Opposition wird mit einem ähnlichen, nur mit anderen Beispielen belegten Hinweis auf ihr „nahestehende" Landesregierungen politisch entwaffnet. Den ersten Numerus-clausus-Staatsvertrag von 1972 hat z.B. in allen Landesparlamenten die jeweilige Regierungsmehrheit gebilligt und die Opposition abgelehnt204. Weder bei der Regierungsmehrheit noch bei der Opposition in den elf Landesparlamenten konnte es über den Ausgang der Abstimmungen Illusionen geben. Das Ergebnis — die in Wirklichkeit von den vereinigten Exekutiven beschlossene und gestaltete bundeseinheitliche Ländergesetzgebung — stand von vornherein fest. Die Landtage sind in diesem Koordinationsverfahren nur noch „staatsnotarielle Ratifikationsämter"; die Politiksteuerung im kooperativen Föderalismus ist Sache der Regierungen205. Auch der Wähler wird politisch entwaffnet. Einige Fragen machen dies deutlich: Kann eine Landtagsopposition vor der Wahl glaubwürdig behaupten, sie würde als Regierungspartei einem derartigen Staatsvertrag nicht zustimmen? Wen soll der Wähler — bei welcher Wahl — wählen, wenn er mit den Ergebnissen der Regierungskooperation nicht zufrieden ist? Und schließlich — zugespitzt, aber im Kern wohl richtig: Gibt es in der Verfassungswirklichkeit einen realisierbaren Weg, mit dem das Volk „in Wahlen und Abstimmungen" auf diesem Gebiet „die Staatsgewalt ausüben" kann (Art. 20 Abs. 2 GG)? 202

Vgl. z . B . KISKER ( F n . 197) insbesondere S. 133ff; müssen Staat,

H.

KLATT

Die

sich wehren, 1979,

203

Länderparlamente

in:

Der

S. 2 0 / 2 1 f, 2 6 f ;

Bürger

S. z. B . die N a c h w e i s e in F n . 1 9 8 , 2 0 2 ; vgl. auch die Empfehlungen der Landtagspräsi-

im

denten v o m 6. 5. 1 9 7 6 , s. dazu LENZ ( F n .

LEHMBRUCH

188 a) S. 1 5 7 f , F n . 1.

( F n . 192) S. 3 4 f f ; LENZ ( F n . 1 8 8 a ) S. 158,

204

Vgl. BURCKHARDT ( F n . 180) S. 4 5 .

1 6 2 f ; ZEH ( F n . 1 8 2 ) S. 1 7 f .

205

Vgl. LENZ ( F n . 1 8 8 a ) S. 1 5 7 f , 1 6 3 .

1044

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Eine weitere Wirkung der Exekutivkooperation besteht darin, daß sie die Politikentscheidung in Vorbereitungsausschüsse der Regierungen verlagert — verlagern muß. Denn die Regierungschefs oder Minister können ja nicht selbst die Verträge im Detail ausarbeiten und aushandeln. In Wahrheit entscheiden also die Beamten, die Politiker leisten die Unterschrift 206 . Damit soll kein Vorwurf der Machtanmaßung erhoben werden: Die Beamten haben den notwendigen Auftrag von ihren Ministern erhalten. Das Entscheidungsverfahren läßt in diesem Punkt gar keine Alternativen zu. Auch die Erweiterung des Parlaments- und Gesetzesvorbehalts im Schulwesen (vgl. dazu S. 1021 ff) wird an diesem parlamentsfreien Kooperationssystem nichts ändern können. Die Diskussion über die neuere Rechtsprechung blendet den bundesstaatlichen Aspekt häufig aus. Die Kritik an der Erweiterung des Gesetzesvorbehalts warnt andererseits vor einer Gesetzesflut und einem Gesetzesperfektionismus. Die Gesetzgebung der Volksvertretung wird damit, bevor sie überhaupt stattgefunden hat, unter den Verdacht der „Bürokratisierung" gestellt. Der ohne Parlamentseinwirkung wuchernde Dschungel von oft nicht veröffentlichten, schwer auffindbaren und immer wieder geänderten Erlassen im Schulwesen wird dabei aber „übersehen". Landesminister beklagen die drohende ,,Verrechtlichung" durch Parlamentsgesetze; dieselben Minister treffen aber in ihrer eigenen Erlaß- und Verordnungsproduktion tagtäglich perfektionistische Detailregelungen 207 . Ausgeklammert bleibt aus dieser parlamentskritischen Argumentation zu „Gesetzesflut" und „Bürokratisierung" in der Regel die Selbstkoordination der Landesregierungen. Die Normsetzung der Exekutiven und die Vereinbarungspraxis auf überregionaler Ebene hängen aber durchaus miteinander zusammen. Ein großer Teil der Vereinbarungsmaterien fällt als „wesentliche Entscheidung" im Schulwesen unter den Parlaments- und Gesetzesvorbehalt (vgl. S. 1022f). Sollen die Vereinbarungen in die Praxis umgesetzt werden, sind demnach elf in bestimmten Fragen übereinstimmende landesgesetzliche Regelungen notwendig. Die beste „Sicherung" gegen Abweichungen geben dabei Staatsverträge (vgl. S. 1041), die notwendigerweise den Parlamentseinfluß und die Wählerkontrolle einschränken und ein starres, nur schwer änderbares Normengeflecht schaffen 2073 . Auch wenn die Regierungen nur durch Verwaltungsvereinbarungen, nicht durch Staats Verträge, Absprachen über einheitliche Regelungen treffen, die dann noch von den elf Parlamenten in Gesetzen beschlossen werden müssen, unterscheiden sich die Wirkungen nur unwesentlich von einem Staatsvertragssystem. Auch in diesem Fall stehen die Landtage vor einer Art Ratifikationslage — mit allen Konsequenzen. Daß eine Einigung zwischen allen Landesregierungen in wichtigen, auch in der Öffentlichkeit umstrittenen

206

V g l . G L O T Z ( F n . 1 7 1 ) S. 2 7 f .

207

Vgl. H . SIMON Gesetzesflut und Gesetzesperfektionismus, Referat vor dem 53. D . J . T . 1980; vgl. dazu auch B V e r f G E 58, 197) S. 170 ff.

207a

So z. B . auch LENZ (Fn. 188a) S. 163 zu den Auswirkungen des erweiterten Parlaments-

und Gesetzes Vorbehalts im Schulwesen; ähnlich Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 58 ff; der verfassungspolitischen Analyse (aber nicht den Schlußfolgerungen) in diesem Bericht stimmt auch KLATT (Fn. 202) S. 23 zu. S. auch S. 1029 f.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen füi das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1045

Grundsatzfragen des Bildungswesens häufig nicht erreicht werden kann (vgl. dazu S. 1035ff, 1039ff), bietet dabei nur wenig Trost: Wenn und soweit sich die Regierungen geeinigt haben, ist der Entscheidungsspielraum der Parlamente gering. Was als Ergebnis bleibt, ist deshalb ein wenig befriedigender Befund: Durch die Koordination der Regierungen wird das eigentliche Ziel des Parlamentsvorbehalts wieder in Frage gestellt, eine öffentliche, durchschaubare und in der politischen Verantwortung auch für den Wähler deutlich zuzuordnende Entscheidung der Volksvertretung für wichtige grundrechtsrelevante Fragen zu sichern. Der Marsch auf der „Einbahnstraße der Entparlamentarisierung" 208 ist im kooperativen Föderalismus auch durch einen erweiterten Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt auf die Dauer nicht zu stoppen, solange die Exekutivkooperation wie bisher fortgeführt wird. „Bürokratisierung" als diffuser Begriff kann sehr verschiedene Tatbestände meinen. Einen, auch für das Bildungswesen, durchaus berechtigten Kern enthält er dann, wenn er auf die Abkoppelung des Exekutivhandelns vom öffentlichen Willensbildungsprozeß — nicht nur, aber notwendigerweise auch in den Volksvertretungen — hinweisen will. „Entparlamentarisierung" und „Bürokratisierung" hängen insoweit zusammen. Im Schulwesen wird dieser Zusammenhang, wenn überhaupt, häufig nur im Verhältnis Landesparlament/Landesexekutive/Schulverwaltung/einzelne Schule gesehen und diskutiert. Die „Grauzone" der Exekutivkooperation auf der dritten Ebene spielt in der öffentlichen Debatte noch keine große Rolle. Der „Zangenangriff" auf die Parlamentsverantwortung (von „unten" und „oben") bleibt so verborgen, ebenso die allgemeine administrativ-zentralisierende Wirkung der Regierungskooperation, die an der Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative vorbeigeht.

III. Bundesstaatliche AufgabenVerteilung im Bildungs wesen — Funktion, Bewährung und Neuordnung 1. Exekutivföderalismus und Politikverflechtung Der politische Entscheidungsprozeß im Bildungswesen wird vor allem durch die verschiedenen Formen der Zusammenarbeit zwischen den Ländern und zwischen Bund und Ländern im „kooperativen Föderalismus" geprägt (vgl. dazu S. 1033ff). Im Gesamtsystem der Zusammenarbeit der Regierungen kommt wiederum der Kooperation im Bildungs wesen großes Gewicht zu. Die Probleme im bildungspolitischen Entscheidungssystem kennzeichnen deshalb in vielen Fällen — exemplarisch — die allgemeine Exekutivkooperation im „kooperativen Föderalismus". In anderen vergleichbaren Bundesstaaten, z . B . in den Vereinigten Staaten, in Kanada oder in der Schweiz, wird weitaus unbefangener als in der Bundesrepublik Deutschland anerkannt, daß der kooperative Föderalismus ein „Exekutivföderalismus" sein muß 209 . Die Zusammenarbeit zwischen den Gliedstaaten und zwischen

208

Vgl. LEHNER (Fn. 198) S. 8.

209

V g l . d a z u LEHMBRUCH ( F n . 192) S. 34 f.

1046

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

dem Zentralstaat und den Gliedstaaten kann — ohne grundlegende Änderung der bundesstaatlichen Struktur — nur als Kooperation der Regierungen und ihrer Verwaltungen organisiert werden 210 . Im Bundesstaat (mit dualer Kompetenzstruktur) besteht, wie bei der internationalen Zusammenarbeit, ein „Kontaktprivileg der Exekutiven". Eigenständige Kooperationsgremien der vereinigten Landesparlamente — etwa ein gemeinsamer Kultur- und Haushaltsausschuß mit Abgeordneten aus 11 Landtagen — müßten nicht nur zu einem außerordentlich schwerfälligen Entscheidungsprozeß führen; bei einem derartigen Kooperationsverfahren ließe sich außerdem nicht vermeiden, daß der einstimmig zu beschließende Kompromiß letztlich doch maßgeblich von den vereinigten Exekutiven und ihren Administrationen gestaltet wird. Schließlich würde das einzelne Gesamtparlament in den elf Ländern bei einem Beschluß über die erzielte Einigung wiederum vor einer Ratifikationslage stehen, die keinen größeren Spielraum einräumt, als ein nur von den Exekutiwertretern ausgehandelter Kompromiß211. Die Gliedstaatenzusammenarbeit im „kooperativen Föderalismus" kennen auch andere demokratisch-parlamentarische Bundesstaaten. Allerdings arbeiten die anderen Bundesstaaten nicht mit einem ebenso engmaschig angelegten Kooperationsnetz wie in der Bundesrepublik Deutschland. In keinem anderen Bundesstaat gibt es vor allem für das Bildungswesen ein ähnlich umfassendes Kooperationssystem der Gliedstaaten mit Vereinbarungen und gemeinsamen Einrichtungen wie die Selbstkoordinierung der Länder in der Bundesrepublik212. Zum Teil sind diese Unterschiede zwischen den Bundesstaaten dadurch zu erklären, daß die föderative Aufgabenverteilung dem Zentralstaat (nach Verfassungsänderungen vor allem in den letzten 20 Jahren) größere Zuständigkeiten im Bildungswesen zuweist als dem Bund in der Bundesrepublik. (Dies gilt z.B. für Österreich; ein größeres, durch Exekutivkooperation der Gliedstaaten zu befriedigendes Vereinheitlichungsbedürfnis besteht dementsprechend dort nicht.) Aber auch Bundesstaaten wie Kanada mit einer (jedenfalls vor der letzten Verfassungsänderung) im Vergleich zur Bundesrepublik noch stärker föderativ ausgerichteten Ordnung (und mit noch geringeren Zentralstaatszuständigkeiten im Bildungswesen) kennen kein vergleichbar dichtes Kooperationssystem in der Bildungspolitik. Unterschiede in der Kompetenzverteilung reichen daher für eine Erklärung der besonderen Lage in der Bundesrepublik nicht aus. Die Nachteile des „Exekutivföderalismus" in unserem Bundesstaat und der Wirkungen des Einstimmigkeitsprinzips werden in Wissenschaft und Publizistik (abgesehen von, im weitesten Sinne, interessengebundenen Stellungnahmen) weitgehend übereinstimmend beurteilt, auch wenn man die Kooperation nicht in erster Linie am Verlust an politischer Legitimation, sondern nur an ihrer Entscheidungseffizienz mißt. Problemlösungen sind nur noch auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner 210

211

Vgl. dazu LEHMBRUCH (Fn. 192) S. 3 4 f f ; LENZ (Fn. 188a) S. 161 f f ; ZEH (Fn. 182) S. 16 f f . Vgl. dazu die ausführliche Schilderung eines derartigen Kooperationsverfahrens bei LEHMBRUCH ( F n . 1 9 2 ) S . 3 4 ; z u d e n v e r f a s -

sungsrechtlichen, den Grundsatz der Gewaltenteilung berührenden Problemen der Einschaltung der Parlamente in den Verhandlungsprozeß vgl. LENZ (Fn. 188 a) S. 160 f. 212

V g l . BOTHE ( F n . 9 ) S . 5 9 , 7 6 .

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1047

möglich. Durch „Zellteilung" vermehren sich „die bürokratischen Vorkonferenzen, Kommissionen, Arbeitsgruppen"; „Entscheidungen reifen jedoch erst an Punkten heran, an denen Krisendruck, Verfassungsgerichtsurteile, ,Sachzwänge' oder eine Mischung aus Erschöpfung und Ratlosigkeit die Lösungen diktieren" — so beschreibt H . LENZ 213 zutreffend, auch für das Bildungswesen, den Zustand im kooperativen Föderalismus 214 . Es ist also nicht der „Erfolg" bei der Lösung wichtiger Sachprobleme, der den Umfang und den weiteren Ausbau des Kooperationssystems rechtfertigt. Auch über den neben Effizienzverlusten zu zahlenden Preis für die „Politikverflechtung" im kooperativen Föderalismus kann es kaum Illusionen geben: Die politische Legitmationsbasis im föderativen Staat wird durch Entparlamentarisierung und Exekutiwerflechtung brüchiger; die Reformenergien der Parteienkonkurrenz werden durch die — unvermeidlichen — Allparteienkoalitionen geschwächt 215 . Das einstimmig beschließende Entscheidungssystem der Regierungen und die darin angelegten Allparteienkoalitionen haben nur scheinbar einen höheren Legitimationsgrad als demokratisch-parlamentarische Mehrheitsentscheidungen. Eine nähere Betrachtung deckt schnell die durch keine „Konsenstheorie" auszugleichenden Legitimationsverluste im Exekutivföderalismus auf: Die Öffentlichkeit des politischen Willensbildungsprozesses und die damit verbundenen Integrationswirkungen gehen durch Entparlamentarisierung weitgehend verloren; die Wählerkontrolle und die politische Legitimationsfunktion von Wahlen sind durch die einstimmig beschließenden Allparteienkoalitionen der Exekutivkooperation in Frage gestellt 216 . Nur tiefliegende Motivationskräfte können angesichts dieser Nachteile die anhaltenden institutionellen Erfolge und die Machtgewinne der Exekutivkooperation

213

214

LENZ (Fn. 188a) S. 162f; vgl. dazu auch S. 1033 ff. LENZ (Fn. 188a) S. 163 Fn. 7 gibt einen Uberblick über die „mit beruhigender Regelmäßigkeit" wiederkehrenden Entscheidungsmuster: „ — An erster Stelle stehen befristete (aber verlängerbare) Konservierungen des status quo (Moratorium). — Entscheidungsaufschub verspricht auch die Verkoppelung einer Problemlösung mit der Erfüllung von Sonderforderungen (Junctim-Veto). — Verbreitet ist weiter die Verlagerung politisch konsensunfähiger Entscheidungen auf Expertenkommissionen (technokratische Einkapselung). — Relativ hohe Einigungsfähigkeit ist zu erwarten bei der Abwehr überhöhter Besoldungswünsche (etatistische ad hoc-Kartelle). — Punktuelle Allparteien-Solidarität stellt sich stets dann ein, wenn es darum geht, parlamentarisch nicht integrierte popu-

listische Proteste zu entschärfen oder zu kanalisieren (Brokdorf-Effekt). — Das andere politische Extrem ist der demonstrative Austausch von Maximalforderungen zur Erfüllung politischer Basisaufträge (Alibikratie). — Konfliktmindernd erscheint zuweilen das gemeinsame Verkünden staatstragender Leerformeln (Bulletinismus). — In jedem Fall gedankensparend ist die Liquidation von Grundsatzreformen infolge Zeitablaufs, wachsender Konsensdefizite, Resignation oder akuter Problemzwänge (Normalzustand). Das könnte nach Satire klingen, ist aber fatale Realität im kooperativen Föderalismus'." "

V g l . L E H M B R U C H ( F n . 1 9 7 ) S . 1 5 8 f f ; DERS.

216

Vgl. dazu auch die kritische Analyse von

2

( F n . 192) S. 3 4 f f ; LENZ ( F n . 1 8 8 a ) S. 1 6 2 f . KISKER ( F n .

197) S.

120ff, 229f;

DERS.

Neuordnung des bundesstaatlichen Kompetenzgefüges und Bund-Länder-Planung, in: Der Staat, 1975, S. 169/180; s. auch S. 1041ff.

1048

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

erklären. Es ist zwar richtig, daß die Exekutivkooperation für die Regierungen und Verwaltungen „Vorteile" hat — auch in ihrer Alibi- und Abwehrfunktion gegenüber Parlamenten, „Öffentlichkeit" und Interessengruppen. Dementsprechend dient die Unitarisierung durch Exekutivkooperation in der Praxis manchmal mehr den Interessen der Verwaltungen als denjenigen der Bürger. Im Bildungswesen werden bezeichnenderweise häufig gerade diejenigen Fragen nicht durch die Exekutivkooperation vereinheitlicht, für die die Bürger einheitliche Regelungen fordern 2 1 7 . Das Kooperationssystem kann aber letztlich nicht allein durch das Exekutivinteresse erklärt werden. K. HESSE 218 hat die auf Vereinheitlichung zielenden Faktoren im „unitarischen Bundesstaat" der Bundesrepublik Deutschland beschrieben. Die Tendenz zur „Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse", zur durch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung gebotenen „Egalisierung", umfaßt in der Bundesrepublik auch den Zuständigkeitsbereich der Länder 2 1 9 . Das deutsche Föderalismusverständnis und die deutsche Föderalismuswirklichkeit sind „unitarisch überformt" 2 2 0 . „Politikverflechtung" durch Exekutivkooperation ist in der Bundesrepublik älter als die Gemeinschaftsaufgaben; auch eine Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben würde deshalb die Faktoren nicht beseitigen, die zu ihrer Entstehung geführt haben 2 2 1 , ebensowenig eine Abschaffung der Instrumente der Länderselbstkoordination. Die Ursachen für die Politikverflechtung im Exekutivföderalismus sind weder in der Konstruktion der Kooperationsgremien noch in der Durchsetzungskraft der Exekutiven und ihrer Bürokratien zu finden; sie liegen tiefer. Eine Bewertung der geltenden bundesstaatlichen Aufgabenverteilung im Bildungswesen und die Suche nach Alternativen müssen deshalb dort ansetzen, wo diese Ursachen liegen: bei der Frage, welche Funktion die föderative Staatsaufgliederung im Bildungswesen unter den deutschen Bedingungen und nach deutschem „Verständnis" erfüllen soll. 2. Kriterien f ü r eine Bewertung der Aufgabenverteilung; mögliche Alternativen G . LEMBRUCH222 hat auf die entwicklungsgeschichtlichen Wurzeln aufmerksam gemacht, die den deutschen Exekutivföderalismus der Gegenwart mit dem „bündischen Unitarismus" im obrigkeitsstaatlichen Bundesstaat der Bismarck-Verfassung von 1871 verbinden. Die „Polarisierung" im Parteiensystem seit den 70er Jahren hat, so seine These, zwar auch den Bundesrat „politisiert", ein Trend, der vor allem durch unterschiedliche „Mehrheiten" in Bundestag und Bundesrat gefördert wurde 2 2 3 . Der Konsensdruck bei Gesetzen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, und die unitarisierenden Tendenzen im „kooperativen Föderalismus" erzwingen andererseits Allparteienkoalitionen. Die parteipolitische Konfrontation steht dazu in einem entscheidungslähmenden Widerspruch 2 2 4 . Eine Einigung auf einen Minimal217

Vgl. LEHMBRUCH (Fn. 192) S. 35.

222

LEHMBRUCH (Fn. 197) S. 43ff.

218

K . HESSE ( F n . 143) S. 12ff.

223

V g l . LEHMBRUCH ( F n . 197) S. 125 ff.

219

HESSE (Fn. 143) S.

224

220

LEHMBRUCH (Fn. 192) S. 35.

Vgl. LEHMBRUCH (Fn. 197) S. 158ff; im ganzen zustimmend LENZ (Fn. 188a) S. 162f.

221

So die zutreffende Analyse von ZEH (Fn. 182) S. 18.

19ff.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1049

konsens setzt voraus, daß der Parteienwettbewerb von den vereinigten Exekutiven stillgelegt wird. Der parlamentsfreie Exekutivföderalismus signalisiert, so L E H M BRUCH, einen „späten Sieg Bismarcks" 225 . Der deutsche Föderalismus unterscheidet sich nicht nur in seiner Entstehungsgeschichte vom Föderalismus in anderen Ländern mit starken demokratisch-parlamentarischen Wurzeln, z.B. in den Vereinigten Staaten, der Schweiz oder Kanada 226 . Das weitaus dichtere Verflechtungsnetz im deutschen kooperativen Föderalismus und die Stellung der Länderexekutiven im Bundesrat bilden weitere Merkmale, die die Bundesrepublik von anderen Bundesstaaten absetzen. In keinem vergleichbaren Bundesstaat verfügen die Exekutiven der Gliedstaaten über so umfassende Mitwirkungsrechte bei der Willensbildung des Zentralstaates, vor allem in der Gesetzgebung, wie die Länderregierungen im Bundesrat der Bundesrepublik 227 . Der Begriff der „Doppelherrschaft" kennzeichnet unter den Bedingungen des deutschen Parteiensystems durchaus treffend nicht nur das Verhältnis von Bundesregierung und Bundestagsmehrheit zur Bundestagsopposition und Bundesratsmehrheit 228 (seit 1969), sondern auch die (noch unbeweglichere) Machtverteilung im kooperativen Exekutivföderalismus. Es ist mehr als fraglich, ob diese „Herrschaftsteilung" zwischen parteipolitisch konkurrierenden Entscheidungsträgern dauerhaft eine „freiheitssichernde Machtbalance" wahren kann, wie dies z.T. angenommen wird 2 2 9 . Im Gegensatz zum „klassischen" Föderalismusverständnis, das eine Staatsgliederung „von unten nach oben" mit weitgehender Eigenständigkeit der politischen Entscheidungsprozesse auf allen Aufbauebenen zum Ziel hat, sind bei einer „bündischen" Föderalismuskonzeption Legitmations- und Kontrollverluste unvermeidlich. Der Kooperationszwang für die Exekutiven und die Sicherung eines Machtgleichgewichts durch gegenseitige Kontrolle konkurrierender politischer Kräfte sind nur in begrenztem Umfang miteinander in Einklang zu bringen. Daß die Kooperation auf verschiedenen Ebenen, mit unterschiedlichen Partnerkreisen und nach unterschiedlichen Entscheidungsregeln stattfindet (Bundestag/Bundesregierung/Bundesrat, Bund-Länder-Kooperation, Länderselbstkoordination), ändert daran nur wenig: Nur wenn durch Wahlen der Konsenszwang aufgehoben oder doch wesentlich gemildert wird, können sich Wettbewerb, gegenseitige Kontrolle und damit „Machtbalance" wieder voll entfalten. Das läßt sich allenfalls für eine Landtagswahl, die die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat verändert, oder für eine Bundestagswahl behaupten, die zu gleichen politischen Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat führt. Der Exekutivföderalismus in der Bund-Länder-Kooperation und noch deutlicher in der Länderselbstkoordination steht dagegen, unabhängig von solchen Wahlergebnissen, auf Dauer unter einem Konsensdruck: Nur die Rollen und „Gewichte" 225

V g l . LEHMBRUCH ( F n . 1 9 2 ) S. 3 6 f .

226

V g l . LEHMBRUCH ( F n . 1 9 2 ) S. 3 4 .

227

Vgl. BOTHE (Fn. 9) S. 16 f; Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 65.

228

V g l . L E H M B R U C H ( F n . 1 9 7 ) S . 1 7 4 ; s. d a z u

auch K. STERN Die föderative Ordnung im

229

Spannungsfeld der Gegenwart, in: Politikverflechtungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 55, 1975. Kritisch zu diesem Ansatz LEHMBRUCH (Fn. 197) S. 170ff.

1050

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

können durch Wahlergebnisse ausgetauscht werden, nicht der Einigungszwang auf der Grundlage des Einstimmigkeitsprinzips2291. Es bleibt als „Gewinn" gegenüber einem Einheitsstaat, daß eine Exekutive und ein Parlament nicht allein bestimmen können und die Verflechtungssysteme der „gleichberechtigten" Exekutiven und Bürokratien in den verschiedenen Politikgebieten (z.B. in der Bildungspolitik oder bei der Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur) in gewissem Umfang unabhängig voneinander, mit oder ohne Beteiligung des Bundes, entscheiden230. Ob sich dieser Unterschied im Verhältnis zum Bürger allerdings wesentlich (als „Freiheitssicherung") auswirkt, ist eine andere Frage: Die Machtverteilungswirkung der föderativen Ordnung wird bei der Selbstkoordination der Exekutiven für den Bürger zumindest teilweise dadurch wieder aufgehoben, daß sie ihm in aller Regel keine Möglichkeit läßt, sich mit Aussicht auf Erfolg an eine parlamentarische Opposition zu wenden. Ein Entscheidungssystem, das anstelle einer Parlamentsmehrheit einen einstimmigen Beschluß der Exekutiven verlangt, enthält zwar insofern Elemente der Machthemmung und -trennung, als es für Entscheidungen generell höhere formale Zustimmungserfordernisse — Allparteienkoalitionen — voraussetzt und die Entscheidungszuständigkeiten auf verschiedene Gremien verteilt. Es schaltet die machthemmende Wirkung der Parteienkonkurrenz und von Wahlen — und damit auch deren Legitimationsfunktionen — aber gleichzeitig weitgehend aus. Die Funktionen der Machtbalancierung, der Gewalthemmung, der Legitimation und Integration reichen als Rechtfertigungsgründe für den Exekutivföderalismus demnach nicht aus: Alle diese Funktionen werden durch Kooperationssysteme der Exekutiven entweder überhaupt nicht oder jedenfalls nicht besser gesichert als durch eine parlamentarische Mehrheitsentscheidung der Volksvertretung des Gesamtstaats. Die Aufgliederung der Staatsmacht in einem Bundesstaat wird immer bestimmte Koordinationsbedürfnisse zwischen den Gliedstaaten und zwischen dem Zentralstaat und den Gliedstaaten auslösen, falls nicht dem Zentralstaat in allen Aufgabengebieten ein eindeutiges Ubergewicht zukommt. Koordinationsformen der Exekutiven im „kooperativen Föderalismus" kennen dementsprechend viele vergleichbare Bundes229a

D i e s beschreibt auch den wesentlichen U n terschied zwischen einer Bundesgesetzgebung, die der Zustimmung des Bundesrates bedarf, und einer einstimmig zu beschließenden Entscheidung der Exekutiven im „ k o operativen Föderalismus". Bundestag und Bundesrat können mit Mehrheit entscheiden; die Mehrheitsverhältnisse in beiden Gesetzgebungsorganen können durch Wahlen verändert werden. Die Bundesgesetzgebung und die Exekutivkoordination im „kooperativen Föderalismus" führen daher, was K o n sensbedarf und Parteienwettbewerb anbelangt, nicht von vornherein zu den gleichen politischen Entscheidungsstrukturen, wie dies in der öffentlichen Debatte über den Bildungsföderalismus zum Teil behauptet wird.

Selbst wenn im Bundestag und im Bundesrat unterschiedliche Mehrheiten bestehen, wirkt sich der Konsensdruck anders aus als bei der Länderselbstkoordination: Im Bundesrat hat kein einzelnes Land eine Art „Veto-Posit i o n " , die gegen die Absicht aller anderen Partner einen Beschluß verhindern kann (vgl. zu den Auswirkungen von Veto-Positionen die in Fn. 1 8 8 a angeführten Beispiele). Der Entscheidungsprozeß findet bei der Bundesgesetzgebung in wesentlichen Phasen im Parlament und öffentlich statt, und zwar, im Gegensatz zur Länderselbstkoordination, vor einer definitiven Selbstbindung der E x e kutiven, «O

V g l . H E S S E ( F n . 1 4 3 ) S.

21.

1051

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

Staaten 231 . „Perfekte" Lösungen, die jeden Abstimmungsbedarf im Bereich der Gliedstaatenzuständigkeit vermeiden, gibt es für die Kompetenzverteilung nicht, falls den Gliedstaaten Aufgaben von einigem Gewicht verbleiben sollen. „Exekutivföderalismus" und „Politikverflechtung" sind insoweit der unvermeidliche Preis für die Vorzüge einer föderativen Ordnung. Umfang und Dichte des Verflechtungsnetzes und des damit begründeten Einflusses der Exekutiven und Bürokratien übersteigen jedoch in der Bundesrepublik das für Bundesstaaten (mit ausgeprägt demokratischparlamentarischen Traditionen) „übliche" Maß. Versuche, diese Verflechtungstendenzen zu rechtfertigen, stützen sich mehr oder weniger deutlich auf eine Umdeutung der „traditionellen" Föderalismuskonzeption. Der „moderne" Föderalismus dient danach weniger dazu, die Eigenständigkeit der Gliedstaaten, die damit vorausgesetzte Vielfalt der Länderregelungen und die horizontale Gewaltenteilung und -trennung zu sichern; er verwirklicht sich vielmehr auch (möglicherweise überwiegend) in der Harmonisierungsaufgabe der Ländergemeinschaft, die „eine natürliche, den Anforderungen einer modernen Welt entsprechenden Fortbildung unseres Verfassungslebens" erkennen lasse 231a . Dieser „modernen" Föderalismuskonzeption entspricht die im Vergleich zu anderen Bundesstaaten geringe Toleranz für regionale und lokale Unterschiede in der Bundesrepublik. Eine Bewertung der bundesstaatlichen Aufgabenverteilung im Bildungswesen der Bundesrepublik muß sich der Frage stellen, ob Alternativen zum Exekutivföderalismus mit Unitarisierungsaufgaben nicht notwendigerweise eine Korrektur dieses „bündischen" Föderalismusverständnisses voraussetzen. Zurückgeführt auf die im Kern „einfachen" Entscheidungsfragen heißt dies: Kann — und sollte — es eine (Haupt-)Aufgabe der Länder sein, in ihrem Zuständigkeitsbereich, vor allem in der Gesetzgebung, nicht nur für zeitlich oder sachlich begrenzte Ausnahmefälle, sondern auf Dauer und in wichtigen Politikgebieten bundeseinheitliche Regelungen durch die Exekutivkooperation zu sichern? — Ein „ N e i n " auf diese Frage drängt sich nach der kritischen Würdigung der sachlichen Ergebnisse und vor allem der Auswirkungen des umfangreichen Verflechtungsnetzes der Exekutivkooperation (hier: im Bildungswesen) auf das politische Entscheidungssystem im Bundesstaat auf 2 3 2 . Die Folgefrage

Vgl. dazu BOTHE (Fn. 9) S. 37ff. 231a Vgl. zu diesen „Auslegungsrichtungen" die Darstellung in: Kommission für die Finanzreform („Troeger-Kommission"), Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, 1966, S. 10. 2 3 2 Zur Kritik an diesem „bündischen" Födera-

231

lismusverständnis

vgl.

LEHMBRUCH

(Fn.

197) S. 170ff; R. JOCHIMSEN Staatsbündischer Zentralismus der Exekutiven oder parlamentarischer Bundesstaat? in: Die Neue Gesellschaft, Heft 4, 1978, S. 300; s. dazu auch SCHRECKENBERGER Föderalismus als politischer Handlungsstil, in: VerwA 69

(1978) S. 341/348; KISKER Neuordnung (Fn. 216) S. 180. Zur verfassungsrechtlichen Problematik der Kooperationsverflechtung — auch mit Blick auf A n .

79 A b s . 3 G G

-

vgl. KISKER

(Fn.

197) S. 298 ff; die Kritik Kiskers an der Exekutivkooperation kann auch für die umgekehrte Frage Bedeutung haben, welchen Spielraum Art. 79 Abs. 3 G G für eine Bundeskompetenzerweiterung läßt, wenn und soweit — in einem notwendigen Vereinheitlichungsgebiet — sich als Alternative dazu lediglich die Fortführung oder Intensivierung der Kooperation stellt; s. dazu auch Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 64f.

1052

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

stellt sich dann zwangsläufig: In welchen Aufgabengebieten (zunächst der Länder, aber in der Folge auch des Bundes) besteht tatsächlich ein nicht nur im Exekutiv-, sondern vor allem im Bürgerinteresse liegendes und nicht nur vorübergehend vorhandenes Vereinheitlichungsbedürfnis ? Auch hier ist die Antwort (jedenfalls für das Bildungswesen) in einigen Grundfragen eindeutig: Nicht alles, was die Exekutiven vereinheitlichen oder vereinheitlichen wollen, ist, für den Bürger, auch wirklich vereinheitlichungsbedürftig. Ein Beispiel — für viele — mag dies belegen: Die Anerkennung der Bildungsabschlüsse (z. B. auch der Gesamtschulabschlüsse) zwischen den Bundesländern ist eine berechtigte Forderung 2 3 3 . Für die Anerkennung ist es aber nicht notwendig, alle Details der daraufhinführenden Bildungsgänge zu vereinheitlichen, bis hin zu Stundentafeln für die Einzelfächer. (Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz orientieren sich jedoch häufig an diesem perfektionistischen Anerkennungsmodell, das nur wenig Freiraum für abweichende Regelungen der Länder und auch der Schulen läßt. Dieses innerstaatliche gegenseitige „Mißtrauen" ist im übrigen kaum verständlich, wenn man zum Vergleich die unbürokratische Anerkennung von ausländischen Abschlüssen nach der Europäischen Konvention über die Gleichwertigkeit von Reifezeugnissen vom 11. 12. 195 3 2 3 4 heranzieht, die sich — ohne „inhaltliche" Uberprüfung — ausschließlich danach richtet, ob der Bewerber in seinem Herkunftsland zum Hochschulzugang berechtigt ist 2 3 5 .) Auf der anderen Seite besteht jedoch weitgehend Ubereinstimmung 236 — zwischen den Ländern, zwischen Bund und Ländern und auch zwischen den Parteien —, daß an bestimmten „Nahtstellen" des Bildungswesens auch im Zuständigkeitsbereich der Länder einheitliche Rahmenregelungen notwendig sind. Uber die Regelungsmaterien und die Regelungsintensität, die dieses „Mindestmaß an gesamtstaatlicher Einheit im Bildungswesen" 237 sichern sollen, mag im einzelnen Streit bestehen. Ein Kernbereich gemeinsamer Forderungen ist jedoch, trotz heftiger und kontrovers geführter Debatten über „den" „Bildungsföderalismus" 238 , die diese Gemeinsamkeit

233

So z. B . auch Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 55, und Stellungnahme der Länder (Fn. 186) S. 21 f, 24, 2 9 ; vgl. zu den Vereinheitlichungsforderungen allgemein die Zusammenfassung in den Schlußfolgerungen der Bundesregierung (Fn. 187) S. 5 f .

234

B G B l . 1955 II S. 599.

235

Eine vergleichbare Anerkennungsregelung für Hochschulzugangsberechtigungen, die in den Bundesländern erworben wurden, könnte im übrigen auch durch Bundesgesetz (auf der Grundlage des Art. 75 N r . 1 a G G ) getroffen werden. Mit einer derartigen bundesgesetzlichen Regelung wäre aber nur ein Teilbereich der Anerkennungsproblematik gelöst. F ü r die meisten Bildungsabschlüsse besitzt der Bund keine Regelungskompetenz.

236 Y g j d a z u die zusammenfassende Darstellung der Forderungen im Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) und in der Stellungnahme der Länder (Fn. 186) in den Schlußfolgerungen der Bundesregierung (Fn. 187) S. 3 ff. 237

238

So die Formulierung in den Schlußfolgerungen der Bundesregierung (Fn. 187) S. 7. Vgl. dazu die Dokumentation des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, Zum Thema: Bildungsföderalismus — Diskussionsbeiträge, Meinungen und K o m mentare zum Bericht der Bundesregierung über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems, B M B W , Schriftenreihe Bildung und Wissenschaft 16, 1980.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1053

im Ansatz eher verdeckt haben, bereits seit längerer Zeit zu erkennen. Es gibt z. B. — in der Sache — kaum Meinungsverschiedenheiten darüber, daß die Anerkennung der Bildungsabschlüsse nicht nur „befristet" (wie z . T . nach den geltenden Ländervereinbarungen), sondern auf Dauer gesichert sein muß. Das gleiche gilt für die Regelung der Dauer der Schul- und Bildungspflicht oder für die Abstimmung des gemeinsamen Ausbildungsgangs im Betrieb und in der Berufsschule, für die jeweils verschiedene Kompetenzträger — Bund oder Länder — zuständig sind 2 3 9 . Zieht man den Schluß aus den beiden gestellten Fragen — nach der „Funktion" einer Länderzuständigkeit im föderativen System und nach dem Umfang der sachlich notwendigen Vereinheitlichung —, kommen die damit beschriebenen Gebiete als Gegenstand von Bundeskompetenzen in Betracht. Unabhängig von der tatsächlichen, wenn auch in der öffentlichen Diskussion wenig sichtbaren Minimal-Übereinstimmung über den Vereinheitlichungsbedarf, ist dieser zunächst „isoliert" gezogene Schluß aber auch an allgemeineren Kriterien für Neuordnungsvorschläge zu messen. Sachlich zwingende Gründe für eine umfassende Vereinheitlichung im Bildungswesen und damit (tendenziell) für eine Abschaffung des föderativen Bildungswesens sind (auch ohne Berücksichtigung der durch Art. 79 Abs. 3 G G gezogenen Grenzen) nicht zu erkennen und werden, soweit ersichtlich, in der politischen Debatte auch nicht geltend gemacht. Unitarisierungstendenzen und -forderungen im Zuständigkeitsbereich der Länder sind unter verfassungspolitischen Gesichtspunkten ohnedies kritisch zu bewerten. Alle Neuordnungsüberlegungen zur Aufgabenverteilung im Bildungswesen sollten sich daher von vornherein auf das unbedingt Notwendige bei der Bestimmung des Vereinheitlichungsbedarfs beschränken und an diesem Maßstab auch bereits bestehende Bundeszuständigkeiten überprüfen. Sie müssen sich daran messen lassen, ob und inwieweit sie geeignet sind, den Kooperationsbedarf der Exekutiven einzugrenzen. Sie sollten deshalb vor allem darauf überprüft werden, ob sie die Entflechtung der Exekutivkooperation auf denjenigen Vereinheitlichungsgebieten fördern, in denen, auch nach der neueren Rechtsprechung zum Parlaments- und Gesetzesvorbehalt im Schulwesen 240 , gesetzliche Regelungen erforderlich sind.

239

Ähnlich die Vorschläge von GLOTZ (Fn. 171) S. 33 f und in der Koalitionsvereinbarung zwischen C D U und F . D . P . vom 5. 12. 1976 in Niedersachsen, abgedruckt in: Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 113 f. Die Vorschläge im Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 55 f, S. 65 (Nr. 385) und in den Schlußfolgerungen der Bundesregierung (Fn. 187) S. 7 umfassen diese Gebiete ebenfalls. Sie gehen allerdings (wie auch diejenigen von Glotz und in der Koalitionsvereinbarung aaO) z. T . darüber hinaus, z. B. mit der Forderung nach einheitlichen Regelungen für die „Ubergänge und Abschlüsse im Bildungswesen" (und nicht nur für die gegenseitige Anerkennung).

240 Vg] z u d e n verfassungspolitischen Konsequenzen aus dem Parlaments- und Gesetzesvorbehalt im Schulwesen H. ROTTER Dem Bund mehr Kompetenz — Der „kooperative Föderalismus" reicht nicht mehr aus, in: Die Zeit vom 10. 9. 1976; G. APEL Zwang zur Einheit — Plädoyer für eine Rahmenkompetenz des Bundes in Sachen Schule, in: Die Z e i t v o m 12. 11. 1 9 7 6 ; FABER ( F n . 1 8 4 ) S .

218 ff; Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 58ff; vgl. allgemein zur Problematik einer bundeseinheitlichen Ländergesetzgebung Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Drucks. 7/5924, S. 128.

1054

6. Kapitel. Kuhurstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Diese Anforderungen lassen eine Reihe von Schlußfolgerungen 2 4 1 zu: — Eine Neuordnung der Zuständigkeiten im Bildungswesen sollte sich nicht zum Ziele setzen, die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern nach Bildungsbereichen aufzuteilen (etwa für das Hochschulwesen, das Schulwesen oder die Weiterbildung). Der Systemzusammenhang — z . B . bei den Übergangs- und Abschlußqualifikationen — spricht gegen diese Trennung. Die Problematik der Abschlußanerkennung zeigt, daß im deutschen Bildungswesen gerade dort der Vereinheitlichungsbedarf groß ist. Eine Erweiterung der Bundeskompetenzen kommt deshalb in erster Linie für Nahtstellen- und Strukturentscheidungen in Frage (Abschlüsse, und damit zusammenhängend — Mittelstufenabschlüsse, Ubergang in die berufliche Bildung — Dauer der Bildungspflicht). — Uber die bereits bestehenden Bundeskompetenzbereiche hinaus sollten aus den gleichen Gründen keine neuen konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten gefordert werden, die eine Vollregelung für ganze Teilbereiche des Bildungswesens erlauben würden. Dies schließt nicht aus, daß bereits bestehende konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeiten nach Gesichtspunkten des sachlichen Zusammenhangs (berufliche Bildung in Betrieb und Schule 2 4 2 ) ergänzt werden. — Eine umfassende (Rahmen-)Kompetenz des Bundes für das Bildungswesen 2 4 3 ist nicht notwendig und auch nicht sinnvoll. — Neue Bundeskompetenzen-sollten Gesetzgebungszuständigkeiten sein. — Die bestehenden Mischfinanzierungsinstrumente im Bildungswesen, vor allem die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau, sollten — in einer Art Gegengeschäft — abgelöst werden. Falls eine Finanzierungsbeteiligung des Bundes an den Bildungsausgaben der Länder auch langfristig notwendig erscheint, sollte ein flexibles Verfahren gewählt werden, das möglichst die Einrichtung von ständigen Kooperationsgremien der Exekutiven und eine Privilegierung bestimmter Bildungsbereiche durch besondere Verfassungsvorschrift („Hochschulbau") vermeidet sowie in der Regel befristete Finanzierungsbeteiligungen (nach dem jeweils vorrangigen Bedarf) vorsieht. Eine entsprechende Regelung könnte an die Vorschrift des Art. 104 a Abs. 4 G G (möglicherweise unter Beschränkung auf eine bundesgesetzliche Regelung) angelehnt werden 2 4 4 . — Für die Abstimmung der Bildungspolitik zwischen Bund und Ländern ist, nach einer Neuordnung, keine besondere Verfassungsvorschrift notwendig. Die dann noch erforderliche Exekutivkooperation sollte in der Intensität und im sachlichen Umfang eingeschränkt werden.

241

Vgl. G Ö T Z (Fn. 170) S. 2 9 f ; im

Grundsatz

(wenn auch nicht in Einzelfragen) vergleichbar die allgemeinen, nicht auf das Bildungswesen bezogenen, verfassungspolitischen Neuordnungskriterien von KISKER Neuordnung (Fn. 216) S. 180ff; vgl. dort auch S. 185 („begrenzte Bundeszuständigkeiten im Schulrecht", verbunden mit einer Zurück-

242

243

nahme des Bundeseinflusses in anderen Bereichen). FRIAUF (Fn. 124) geht davon aus, daß der Bund bereits nach Art. 74 N r . 11 G G über eine entsprechende Zuständigkeit verfügt. So aber die Vorschläge von I. RICHTER ö f fentliche Verantwortung für berufliche Bild u n g , 1 9 7 0 , S . 101 f u n d A P E L ( F n . 2 4 0 ) .

244

Vgl. FABER ( F n . 184) S. 214.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1055

— Neben den bildungsbezogenen Gemeinschaftsaufgaben sollten auch Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes in die Überlegungen einbezogen werden, Kompetenzen auf die Länder (zurück) zu übertragen 2443 . Soweit es nur um die Erweiterung der Bundeskompetenzen geht, erfüllen die Gebiete der Bildungsabschlüsse, der Bildungspflicht und der Abstimmung der Ausbildungsinhalte in der beruflichen Bildung diese Voraussetzungen für Neuordnungsvorschläge 2 4 5 . Damit ist (selbstverständlich) kein „endgültiger" Katalog für Neuordnungsvorhaben beschrieben, sondern vielmehr nur die Richtung für mögliche Alternativen zur geltenden Aufgabenverteilung angedeutet. Für eine eingehende Prüfung und für die Debatte über Vorschläge zu einer Verfassungsänderung bleibt ohnedies genügend Zeit. Eine konkrete These für eine denkbare Änderung kann allerdings dazu dienen, den notwendigen Dialog einzuleiten und aus der unverbindlichen Feststellung eines allgemeinen Unbehagens über Politikverflechtung, Entparlamentarisierung und Exekutivföderalismus herauszuführen. Was die Entflechtungswirkungen von Neuordnungsvorschlägen anbelangt, ist andererseits eine allgemeine Einschränkung zu machen: Auch der Verzicht auf Bundeskompetenzen, die Abschaffung von Gemeinschaftsaufgaben und die Erweiterung der Bundeskompetenzen um notwendige Vereinheitlichungsgebiete kann nur die Voraussetzungen dafür verbessern, daß die Exekutivkooperation eingegrenzt wird. O b und inwieweit sie tatsächlich eingeschränkt wird, hängt auch davon ab, ob, nicht zuletzt in der Öffentlichkeit, das Verständnis dafür gestärkt wird, daß zu einem föderativen Bildungswesen notwendigerweise Vielfalt und Wettbewerb zwischen den Ländern gehören. Die Entwicklung zum Exekutivföderalismus ist in der Bundesrepublik seit langem angelegt. Verfassungsänderungen können Korrekturen einleiten. Uber ihre Wirkung entscheiden aber letztlich diejenigen, die die Verfassung anwenden, mit ihr „leben" und durch sie „betroffen" werden.

244a p ü r e ¡ n e n Verzicht auf Bundeskompetenzen k o m m e n dabei auch Zuständigkeiten außerhalb des Bildungsbereichs in Betracht; vgl. dazu KISKER N e u o r d n u n g (Fn. 216) S. 184f. — D i e Notwendigkeit, bei einer N e u o r d nung auch Überlegungen einzubeziehen, Zuständigkeiten wieder auf die Länder zurückzuübertragen, hat im übrigen auch die Bundesregierung betont; vgl. dazu Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 65 sowie Schlußfolgerungen der Bundesregierung (Fn. 187) S. 3. In der öffentlichen Debatte teilweise auch im Schrifttum — ist dies allerdings kaum beachtet w o r d e n ; allein aus diesem G r u n d werden auf Art. 79 A b s . 3 G G gestützte, z . T . sehr pauschal begründete Argumente den Neuordnungsvorschlägen kaum gerecht; im Ergebnis ebenso, allerdings ohne Berücksichtigung der R ü c k übertragungsvorschläge, RICHTER (Fn. 156)

245

S. 193 Fn. 51. Zur allgemeinen Problematik der durch Art. 79 A b s . 3 G G gezogenen Grenzen vgl. im übrigen P. LERCHE Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, 1968, S. 46; KISKER (Fn. 197) S. 2 9 8 f f ; K . HESSE Bundesstaatsreform und Grenzen der Verfassungsänderung, A ö R 98 (1973) S. 1. Formulierung, Einzelabgrenzung des Sachbereichs (etwa: Bildungsabschlüsse oder Anerkennung von Bildungsabschlüssen; vgl. dazu auch Art. 57 E W G - V e r t r a g als Regelungsmodell) und Regelungsintensität (Rahmen- oder konkurrierende G e s e t z k o m p e tenz) sind auch von der Bundesregierung offengelassen worden; vgl. Schlußfolgerungen der Bundesregierung (Fn. 187) S. 7. Zur Notwendigkeit, in diesen Gebieten gesetzliche Regelungen zu treffen, vgl. Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 59.

1056

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

3. Bewährung und Neuordnung Das im Grundgesetz angelegte föderative Bildungssystem — im weiteren Sinne die gesamte „Bildungsverfassung" — kann nicht nur unter dem Gesichtspunkt beurteilt werden, ob und inwieweit die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern problematische Entwicklungen zur „Politikverflechtung" ausgelöst oder begünstigt hat und den Verhältnissen in der Bundesrepublik gerecht wird. Eine Gesamtbewertung der Bildungsverfassung führt, unabhängig von der Notwendigkeit von Teilkorrekturen, zu einem positiven Ergebis. „Der" Bildungsföderalismus steht weder nach dem Meinungsbild in der politischen Debatte, noch nach dem vom Grundgesetz für Verfassungsänderungen eröffneten Spielraum (Art. 79 Abs. 3 GG) zur Disposition. Die Vorzüge einer föderativen Ordnung im politischen Entscheidungssystem der Bundesrepublik stehen, auch für das Bildungswesen, außer Streit 246 . Es ist ein vernünftiges, auch vom Verfassungsgeber in den hohen Mehrheitsschwellen für Grundgesetzänderungen berücksichtigtes Prinzip (Zweidrittel-Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat, vgl. Art. 79 Abs. 2 GG), Verfassungen nicht aus jedem aktuellen Anlaß zu ändern. Die Verfassung legt die Grundlage für die Ordnung des politischen Lebens. Sie setzt deshalb Stabilität und Beständigkeit voraus. Sie begünstigt gegenüber Verfassungsänderungsbestrebungen — zu Recht — Beharrungsmomente in der konstituierten Machtverteilung und -balance. Sie nimmt deshalb auch (für längere Zeit) Entwicklungen in Kauf, die, über die normalen und notwendigen Reibungsverluste eines machtverteilenden politischen Systems hinaus, von vielen als problematisch erkannt werden und die für Grundgesetzänderungen vorausgesetzte verfassungspolitische „Problemqualität" aufweisen. (Ein Beispiel dafür ist die über viele Jahre ohne ausreichende verfassungsrechtliche Grundlagen erfolgte Mitfinanzierung von Länderaufgaben durch den Bund 246a vor der Finanzverfassungsreform von 1969.) Die Verfassung soll, jedenfalls im Regelfall, erst dann geändert werden, wenn über einen längeren Zeitraum Erfahrungen mit dem vorhandenen Instrumentarium gewonnen werden konnten und eine große Mehrheit der „tragenden" politischen Institutionen von der Notwendigkeit einer Änderung überzeugt ist. Ein Hinweis auf die im Grundgesetz angelegten Beharrungsmomente und auf die voraussichtlich lange Dauer der politischen Meinungsbildung in verfassungspolitischen Fragen mag, vor allem unter „tagespolitischen" Gesichtspunkten, davon abschrecken, das Thema „Verfassungsänderung" überhaupt aufzugreifen. Die lange Dauer einer verfassungspolitischen Debatte ist jedoch kein Grund, sie gar nicht erst anzufangen. Politische Probleme können in der Regel — auch langfristig — kaum gelöst werden, wenn man sie aus der öffentlichen Meinungsbildung ausklammert und „schweigend" auf günstigere historische Bedingungen (etwa auf eine große Koalition) oder auf den Druck der Sachzwänge wartet. Das Grundgesetz errichtet zwar Schranken für Verfassungsänderungen. Es ist aber für Korrekturen offen, sofern sie sich an den Grundentscheidungen der Verfassung orientieren (hier an dem Grundsatz einer 246

So auch der Bericht der Bundesregierung (Fn. 81) S. 64.

246i

V g l . dazu den Bericht der „Troeger-Kommission" (Fn. 231a) insbesondere S. 14f.

2. Abschnitt. Richtlinien und Grenzen für das Bildungswesen (GLOTZ/FABER)

1057

— wirksamen — Aufteilung, Balancierung und Legitimation der Staatsmacht im Bundesstaat). Die Tendenz zur Politikverflechtung im Bundesstaat der Bundesrepublik ist in der Bund-Länder-Kooperation vor allem seit der Verfassungsänderung von 1969, in der älteren Länderselbstkoordination über einen noch längeren Zeitraum zu erkennen. Sie sollte zumindest Anlaß für kritische Fragen sein, ob wir auf diesem Entwicklungsweg unseres politischen Systems weitergehen wollen. Korrekturmöglichkeiten bieten sich im Bildungswesen auch unterhalb der Schwelle einer Verfassungsänderung. Die Koordination im Exekutivföderalismus kann in der Dichte und im Instrumentarium auch ohne Grundgesetzänderung in gewissem Umfang eingeschränkt werden. Auf bestimmten Gebieten — für die Sicherung der Minimalelemente an gesamtstaatlicher Einheit (bei der Anerkenneung der Bildungsabschlüsse, der Bildungspflicht, der Abstimmung in der beruflichen Bildung, vgl. S. 1053) — ist sie jedoch im Interesse der Bürger nach der jetzt geltenden Aufgaben Verteilung zwischen Bund und Ländern unverzichtbar. Ein Abbau aller Koordinationsinstrumente oder ein umfassender, einseitiger Rückzug des Bundes aus der Kooperation ist daher weder möglich, noch sinnvoll. In beiden Richtungen — bei einem begrenzten Abbau der Verflechtung (der auch mehr Toleranz für Vielfalt und Wettbewerb verlangt) und bei der Sicherung der notwendigen einheitlichen Rahmenbedingungen 247 — ist, wenn man so will, eine „Bewährungsprobe", bereits vor einer Verfassungsänderung, gestellt (nicht für den „Bildungsföderalismus", sondern für die an der Kooperation Beteiligten). Die Kernproblematik der Politikverflechtung ist allerdings nur auf der Ebene der Bundesverfassung 248 , durch eine Neuordnung der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern im Bildungswesen, zu lösen. Es wäre unrealistisch, anzunehmen, daß aus der politischen Diskussion über die föderative Aufgabenverteilung machttaktische Argumente (das Kalkül mit vorhandenen oder mittelfristig erwarteten politischen Mehrheiten im Bund und in den Ländern) ausgeschlossen werden könnten. Richtung und Ergebnis der verfassungspolitischen Überlegungen dürfen sie jedoch nicht bestimmen 249 . Die Verfassung setzt einen Rahmen für politische Entscheidungen im Bundesstaat — für verschiedene politische Mehrheiten und Konzeptionen. Sie dient nicht dazu, bestimmte jeweils im Rahmen der Verfassung zulässige politische Positionen (in der Bildungspolitik oder in anderen Politikgebieten) zu begünstigen oder zu benachteiligen. Die notwendige Debatte über die Neuordnung der Aufgaben verteilung im Bildungswesen kann deshalb, auch langfristig, nur zum Erfolg führen, wenn sie das eigentliche Ziel — die Stärkung der Funktionsfähigkeit und der Legitimationsbasis des demokratisch-parlamentarischen Bundesstaats — nicht aus den Augen verliert. 247

Zum bislang unbefriedigenden Stand der von den Ländern 1978 angekündigten Vereinbarungen, die dieses Mindestmaß an Einheitlichkeit sichern sollen, vgl. Antwort der Bundesregierung vom 26. 8. 1980 auf die Kleine Anfrage zum Bildungsföderalismus (Fn. 81).

248

V g l . d a z u LENZ ( F n . 1 8 8 a ) S . 163.

249

Zur Kritik an tagespolitisch-taktisch orientierten verfassungspolitischen Vorschlägen vgl. auch KISKER Neuordnung (Fn. 216) S. 181.

3. Abschnitt

Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften PAUL MIKAT

I. Staats kirchenrechtliche Strukturelemente des Grundgesetzes Bei aller vorrangigen Bedeutung, die dem Verfassungs- und Vertragsrecht des Bundes und der Länder für das Verhältnis des Staates zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland unbestritten zukommt, so sind doch auf diesem komplexen Feld nicht nur juristische, sondern auch politisch-soziologische, ja selbst theologische Faktoren für die verfassungsrechtliche und mehr noch für die verfassungspolitische Verortung zu berücksichtigen, ganz zu schweigen von dem hohen Stellenwert, den im deutschen Staatskirchenrecht die Präsenz der Geschichte einnimmt; die in vielfacher Hinsicht exzeptionellen Besonderheiten der staatskirchenrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland sind ohne diese Präsenz schwerlich zu verstehen. Die daraus resultierenden weitgefächerten Problemstellungen können im folgenden nicht behandelt werden, unsere Ausführungen haben sich vielmehr auf die im G G enthaltenen verfassungsrechtlichen Normen zu beschränken 1 , wiewohl es gilt, den Blick stets freizuhalten für die vielschichtigen Implikatio-

1

Das Staatskirchenrecht in der Bundesrepublik Deutschland hat seit 1949 eine intensive Bearbeitung erfahren, wohl nicht zuletzt deshalb, weil eine Vielzahl von verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Problemen gerade im Verhältnis von Staat und Kirche gleichsam wie in einem Brennglas eingefangen wird. Eine Reihe von Gesamtdarstellungen liegt heute vor, sie vermitteln insgesamt einen umfassenden Uberblick und zeigen sowohl den weitgehenden Konsensus in Grundsatzfragen wie auch die kontroverse Behandlung spezieller Probleme. Genannt seien: P. MIKAT Kirchen und Religionsge-

Eherecht, hrsg. von J . LISTL, Bd. I, 1974, S. 2 9 - 1 6 1 ; K . HESSE Die Entwicklung des Staatskirchenrechts seit 1945, in: J Ö R N . F. Bd. 10 (1961), S. 3 - 1 2 1 ; H . QUARITSCH/H. WEBER (Hrsg.) Staat und Kirchen in der B u n d e s r e p u b l i k , 1967; A . FRHR. VON CAMPENHAUSEN Staatskirchenrecht, 1973; U .

SCHEUNER Schriften zum Staatskirchenrecht, h r s g . v o n J . LISTL 1 9 7 3 ; P . MIKAT R e l i g i o n s -

rechtliche Schriften. Abhandlungen zum Staatskirchenrecht und Eherecht, hrsg. von J . LISTL, B d . I u n d II, 1974; E.FRIESENHAHN und

U.

SCHEUNER

in V e r b ,

mit J.

LISTL

m e i n s c h a f t e n , in: K . A . BETTERMANN/H. C .

(Hrsg.) Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Band

NIPPERDEY/U.

Die

1974, 2. B a n d 1975; K . H . KÄSTNER D i e

Grundrechte, Bd. IV/1, 1960, jetzt in: P. MIKAT Religionsrechtliche Schriften. Abhandlungen zum Staatskirchenrecht und

Entwicklung des Staatskirchenrechts seit 1961, in: J Ö R N . F . Bd. 27 (1978), S. 2 3 9 - 2 9 6 ; P. MIKAT (Hrsg.) Kirche und

SCHEUNER

(Hrsg.)

1060

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

nen, für die historischen wie für die staatssoziologischen Determinanten, deren wechselbezüglicher Zusammenhang mit den Normen der Verfassung eine umfassende Würdigung der staatskirchenrechtlichen Ordnung überhaupt erst ermöglicht 2 . Dies gilt vor allem für die Stellung der beiden großen christlichen Kirchen als bedeutenden gesellschaftlichen Kräften, der das GG — bedingt durch die Rezeption der sogen. „Kirchenartikel" der WRV, die nur noch ganz verallgemeinernd den Begriff „Religionsgesellschaften" verwendet — nicht expressis verbis Rechnung getragen hat. Die mit der einebnenden Terminologie der WRV angelegten nivellierenden Tendenzen gelangten jedoch bereits in der Weimarer Zeit nicht zur Entfaltung, zumal in Art. 137 WRV die historisch überkommene Qualifizierung und Differenzierung verfassungsrechtlich sanktioniert worden war. Überdies akzentuierte dann die staatskirchenrechtliche Praxis der Länder durch die Kirchenverträge, z.B. die Konkordate Bayerns (1924), Preußens (1929) und Badens (1932) sowie die entsprechenden Verträge mit den evangelischen Landeskirchen, die nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich relevante Stellung der Kirchen, die dann nach 1945 noch betonter in Erscheinung trat, was sich nicht zuletzt in den einschlägigen Bestimmungen der Länderverfassungen zeigt, in denen durchweg von „Kirchen und Religionsgemeinschaften" die Rede ist. Die angesichts der Verfassungsterminologie verkürzenden Formeln „Staat und Kirche" und „Kirche und Staat", die in Schrifttum und Rechtsprechung dominieren, markieren zugleich den geschichtlich fundierten und staatssoziologisch legitimierten besonderen Rang der Kirchen, sie machen schließlich eine für das deutsche Staatskirchenrecht typische Stufung deutlich, die verfassungsrechtlich durchaus gerechtfertigt ist, da das GG keine schematisch undifferenzierte Gleichbehandlung der Religionsgesellschaften gebietet 3 . Das — und nicht nur die im Rahmen dieses Handbuches gebotene Kürze und Konzentration — rechtfertigt auch, betont das Verhältnis von „Staat und Kirche" in der Bundesrepublik Deutschland hier zu behandeln.

2

Staat in der neueren Entwicklung, 1980. Weitere Nachweise: CH. MÖCK Staat und Kirchen. Bibliographie zu ihrem rechtlichen Verhältnis in der Bundesrepublik Deutschland, Berichtszeit 1 9 6 8 - 1 9 7 7 , 1979. Zu dem mehrschichtigen Problemkreis vgl. grundsätzlich P. MIKAT Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen, in: Religionsrechtliche Schriften I (Fn. 1), S. 3 0 3 f f ; DERS. Die religionsrechtliche Ordnungsproblematik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Religionsrechtliche Schriften I (Fn. 1), S. 3 7 7 f f sowie DERS. Bemerkungen zur Ortsbestimmung und Aufgabenstellung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Religionsrechtliche Schriften I (Fn. 1), S. 4 1 3 f f ; im Anschluß an die vornehmlich in diesen Beiträgen aufgeworfenen Fragestellungen vgl.

3

besonders deren eindringliche Behandlung durch P. HÄBERLE Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, in: D Ö V 1976, S. 7 3 - 8 0 . Zu den Prinzipien der neueren Verfassungsinterpretation vgl. K . HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 12. A u f l . , 1980, S. 20 ff. Zur Terminologie sei schließlich angemerkt, daß hier unter Staatskirchenrecht das v o m Staat gesetzte oder auch zwischen Staat und Kirche vereinbarte Recht zu verstehen ist, während der Begriff Religionsrecht in einem umfassenderen Sinne auf die Gesamtheit der staatlichen Rechtsnormen weist, die dem religiösen Interesse Rechnung tragen. Vgl. dazu HESSE (Fn. 1) S. 2 7 f und die dort angeführte Literatur.

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1061

Trotz der im Verhältnis zur Weimarer Zeit zu verzeichnenden deutlichen Kompetenzverlagerung staatskirchenrechtlicher Regelungsbereiche zu Gunsten der Länder und trotz der nach wie vor großen Bedeutung des staatskirchenrechtlichen Vertragsrechts wird das Verhältnis von Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland entscheidend geprägt durch das G G , dessen Art. 4 und 140 Fundament und Rahmen zugleich abgeben für das Verhältnis von Staat und Kirche im Bund und in den Ländern. Art. 4 und 140 G G sind zwar nach dem systematischen Aufbau des G G getrennt, bilden aber funktionell — wie auch verfassungsgeschichtlich — eine aus mehreren Komponenten bestehende Einheit, zu der auch Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3, Art. 7 Abs. 2, 3, Art. 123 Abs. 2 sowie Art. 141 G G gehören. Bei der rechtlichen Bestimmung des Grundverhältnisses von Staat und Kirche sind vornehmlich die Art. 4 und 140 G G , worauf mit Recht vor allem ALEXANDER HOLLERBACH hingewiesen hat, daher von vornherein immer zusammenzusehen, sie dürfen mit Rücksicht auf den Sinngehalt der beiden Fundamentalnormen für das komplexe Gesamtgefüge nicht getrennt werden 4 . Dies läßt auch das Bundesverfassungsgericht in seinem für die Bereichsscheidung von staatlicher und kirchlicher Ordnung nach dem Bonner Grundgesetz außerordentlich bedeutsamen Beschluß vom 21. 9. 1976 anklingen, wenn es ausführt, daß Grundrechtsverwirklichung und Statusproblematik notwendig insoweit teilidentische Sachbereiche betreffen, als es „Tatbestände innerhalb des Bereiches der Kirche gibt . . ., die zugleich . . . zur staatskirchenrechtlichen Ordnung (Art. 140 GG) rechnen und in ihrer funktionalen Bedeutung auf Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der kollektiven kirchlichen Bekenntnisund Kultusfreiheit (Art. 4 G G ) angelegt sind" 5 . Diese substantiell grundrechtsbezogene Sicht in kirchlichen Standortfragen im pluralistischen Gemeinwesen beruht auf dem Wirkzusammenhang zwischen individueller und kollektiver Verwirklichung religiöser Interessen, wonach die Freiheit des religiösen Bekenntnisses sich nicht in der Freiheit des Einzelnen zum privaten und öffentlichen Bekenntnis erschöpft, sondern zu ihrer Effektuierung auch der Kirchenfreiheit in ihrem Vollsinn bedarf, eine Sicht, die vor allem durch das Bundesverfassungsgericht betont herausgestellt wurde 6 . Die demgemäß weit ausgreifende — und auch in die Praxis umgesetzte — individuell und korporativ bezogene Inhaltsbestimmung religionsfreiheitlicher Gewährleistungen zeigt zugleich eine gegenüber der Weimarer Zeit entscheidende Akzentverschiebung an, die das Problem „Trennung von Staat und Kirche" erfahren hat. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1918, der zum Ende des monarchischen Systems und damit auch zum Ende des bis dahin noch vorhandenen landesherrlichen Kirchenregiments geführt hatte, gab der von verschiedenen geistesgeschichtlichen und politischen Strömungen seit den Tagen der Aufklärung forcierten Forderung nach radikaler Trennung von Staat und Kirche neuen Auftrieb, aber die WRV

4

Vgl. A. HOLLERBACH Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: W D S t R L Heft 26 (1968), S. 60 sowie DERS. Die verfassungs-

5 6

rechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HdbStKirchR I, S. 216. BVerfGE 42, 312 (322). Vgl. BVerfGE 42, 312 (323).

1062

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

vermied die Absage an die geschichtliche Kontinuität; sie bekannte sich zwar grundsätzlich zum Trennungsprinzip, verband jedoch dieses Prinzip mit Elementen der überkommenen staatskirchenrechtlichen Ordnung zu einem heterogenen System, das sich als durchaus tragfähig erweisen sollte, da es offen angelegt war und deshalb neuen Entwicklungen im Verhältnis von Staat und Kirche nicht entgegenstand. So fand das vornehmlich in Art. 137 Abs. 1—3 W R V 7 statuierte Trennungsprinzip 8 in Art. 137 Abs. 5 W R V 9 gravierende Korrekturen im Sinne einer verfassungsrechtlichen Aufnahme und Fortführung geschichtlich bewährter Strukturen. Auch die in Art. 138 Abs. 1 WRV gebotene Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften, ebenfalls Ausdruck des Trennungsprinzips, wurde nicht durchgehalten, sie blieb Programmsatz. Ganz abgesehen davon, daß Art. 138 Abs. 2 W R V ausdrücklich eine umfassende vermögensrechtliche Bestandsgarantie den Religionsgesellschaften gab, hat das Reich, das die Grundsätze für die Ablösung der auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften aufstellen sollte, solche Grundsätze niemals aufgestellt — und auch wohl nicht aufstellen können —, und zudem bestimmte Art. 137 WRV, daß bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes gem. Art. 138 WRV die bisherigen Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften auch weiterhin zu gewähren waren. Mehr noch: die W R V stand einer Erhöhung der bisherigen Staatsleistungen nicht im Wege, so wurden denn trotz des Ablösungsgebotes von Anfang an neue Dotationen an die Kirchen für zulässig gehalten und auch entsprechend begründet 1 0 . Ließ schon die WRV für einen Rekurs auf radikale Trennungsvorstellungen nur wenig Raum, so hat — trotz der durch Art. 140 G G erfolgten wortgleichen Inkorporierung nahezu sämtlicher Weimarer Kirchenartikel in das G G — heute auf Grund des gewandelten Verhältnisses von Staat und Gesellschaft 1 1 das Trennungs-

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8

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Art. 137 Abs. 1 bis 3 WRV lautet: (1) Es besteht keine Staatskirche. (2) Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluß von Religionsgesellschaften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen Beschränkungen. (3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde. Vgl. dazu statt vieler G . ANSCHÜTZ Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl., 1933 (unveränderter Nachdruck 1968), Art. 137, A n m . 1. Art. 137 Abs. 5 WRV lautet: Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechts, soweit sie

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solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Schließen sich mehrere derartige öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften zu einem Verbände zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. Vgl. allg. dazu W. WEBER Die Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften, 1948; ferner zum damaligen Meinungsstand bes. TH. P. WEHDEKING Die Kirchengutsgarantien und die Bestimmungen über Leistungen der öffentlichen H a n d an die Religionsgesellschaften im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 1971, S. 125. Vgl. vor allem dazu E.-W. BÖCKENFÖRDE Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1063

prinzip eine inhaltlich neue Qualität erhalten, die wenig mit radikalen laizistischen Trennungsforderungen gemein hat. Die Trennung von Staat und Kirche wird keineswegs aufgehoben, aber sie ist als Ausdruck religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates wie der Eigenständigkeit von Staat und Kirche zum Fundament einer partnerschaftlichen Nähe von Staat und Kirche geworden, die dem gewandelten Selbstverständnis des freiheitlich-demokratischen Rechts- und Sozialstaates entspricht, der nicht mehr im antinomistischen „Gegenüber" oder im beziehungslosen „Nebeneinander" zur Gesellschaft existiert 12 . So wenig von einer Identität von Staat und Gesellschaft gesprochen werden kann, so sehr ist aber auch zu sehen, daß beide, Staat und Gesellschaft, heute in einer sehr differenzierten Verschränkungslage stehen. In ihr begegnet der Staat (begegnet nicht nur im „Gegenüber", sondern in einem auf Mitwirkung und Selbstgestaltung bedachten „Miteinander") den gesellschaftlichen Kräften, zu denen auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften als soziale Kräfte, als „öffentliche Potenzen" 1 3 — wie auch andere sozialwirksame Gruppen und Verbände — gehören. Mag die komplexe Vielfalt der damit angesprochenen Fragen im einzelnen noch durchaus kontrovers sein, so ist doch weithin unbestritten, daß dem neuen Verhältnis von Staat und Gesellschaft auch ein neues Verhältnis von Staat und Kirche korrespondieren muß, dem das staatstheoretisch noch im antinomistischen Dualismus von Staat und Gesellschaft wurzelnde ältere Trennungsdenken nicht mehr zu entsprechen vermag. Es liegt ganz auf dieser Linie, wenn Art. 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 G G heute nicht als Ausdruck der Indifferenz, sondern als Ausdruck einer religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates verstanden wird, die Förderung und positive Zusammenarbeit nicht verwehrt. Dazu stellt das in Art. 137 Abs. 3 WRV i . V . m . Art. 140 G G niedergelegte - lediglich durch den Gemeinwohlvorbehalt begrenzte — kirchliche Selbstbestimmungsrecht eine Komplementärentscheidung dar, die zwar als institutionelle Sicherung durch die weite Auslegung des Art. 4 G G nicht obsolet geworden ist, wohl aber von dieser Auslegung her ihre besondere Gewichtung erfährt; denn bei dem kraft Bundesverfassungsrecht abgesicherten freien Wirken der Kirchen im politischen Gemeinwesen handelt es sich der Sache nach um einen zentralen Anwendungsbereich der Religionsfreiheit im korporativen Sinne, da volle Glaubensfreiheit und das Recht auf ungestörte Religionsausübung ohne die Freiheit der Religionsgemeinschaften, in ihrem Bereich selbständig zu bestimmen, sonst rudimentär würden 1 4 . Das erkennt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 25. März 1980 ausdrücklich an, wenn es ausführt, daß sich „die Garantie freier Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten . . . als notwendige, wenngleich rechtlich selbständige Gewährleistung (erweist), die der

Sozialstaat der Gegenwart, in: Rechtsfragen der Gegenwart (Festgabe für W. Hefermehl), 1972, S. 1 1 - 3 6 ; DERS. Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 183), 1973.

12

Vgl. P. MIKAT Starker oder schwacher Staat, in: Politik als gelebte Verfassung (Festschrift für F. Schäfer), 1980, S. 34 f.

13

S o HOLLERBACH ( F n . 4 ) S. 8 5 .

14

Vgl. MIKAT Kirchen und Religionsgemeinschaften (Fn. 1) S. 89.

1064

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung dieser Aufgabe unerläßliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt" 1 5 . Obwohl sich das Gesamtsystem der Beziehungen von Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland einer schlagwortartigen Typisierung und monokausalen Erklärungsversuchen entzieht, läßt sich das im Grundgesetz enthaltene Gesamtgefüge staatlich-kirchlicher Zuordnung als ein System bezeichnen, in dem sich auf dem Boden des Trennungsprinzips umfassende Religionsfreiheit mit staatlich-kirchlicher Bereichsscheidung unter Aufrechterhaltung bereichsübergreifender Nahtstellen verbindet. Ausdruck und Folge dieses „deutschen Modells", dem ungeachtet seiner partiellen Rückbindung an einen über Jahrhunderte zu verfolgenden entwicklungsgeschichtlichen Prozeß modelltypische Bezüge für eine sachgerechte Ausbalancierung staatlicher und sozialer Mächte der modernen Industriegesellschaft bescheinigt werden 16 , sind die Grundsätze der Nichtidentifikation, der Parität und der religiös-weltanschaulichen Neutralität sowie der — besonders im Schul- und Bildungswesen — zentral bedeutsame Toleranzgedanke.

II. Das Grundrecht der Religionsfreiheit Das die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit sowie die Freiheit religiöser Betätigung umfassende, in Art. 4 Abs. 1 und 2 G G statuierte Grundrecht der Religionsfreiheit beinhaltet mehr als nur die Sicherung individueller Freiheit 17 , es ist als in Art. 1 Abs. 1 G G wurzelndes Recht 18 zugleich „Grundstein eines freiheitlichen geistigen Lebens" 1 9 . Der Begriff „Religionsfreiheit" begegnet uns freilich nicht in Art. 4 G G , sondern lediglich in Art. 136 Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 G G ; dennoch aber stellt Art. 4 G G die verfassungsrechtliche Zentralnorm der individuellen und korporativen Religionsfreiheit dar. Ähnlich wie in Art. 8 der UN-Deklaration der Menschenrechte und in Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention enthält Art. 4 G G die wesentlichen Ausprägungen des Menschenrechts Religionsfreiheit, Ausprägungen, die im einzelnen auf differenzierte historische Entwicklungslinien verweisen, die sich jedoch heute einer strengen randscharfen Trennung weithin entziehen 20 . Die umfassende Bedeutung, die die Religionsfreiheit 21 nicht zuletzt dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Beziehungen von Staat und Kirche erlangt hat, darf zwar nicht zu dem Schluß verleiten, Art. 140 G G habe

15 16

17

18

BVerfG in: NJW 1980, S. 1895, Leitsatz 3. Vgl. KÄSTNER (Fn. 1) S. 252f; sowie K. G. MEYER-TESCHENDORF Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, 1979, S. 118 ff. Vgl. U. SCHEUNER Das System der Beziehungen von Staat und Kirchen im Grundgesetz, in: HdbStKirchR I, S. 51 ff. Vgl. BVerfGE 33, 23 (28f).

19

20

21

SCHEUNER ( F n . 17) S. 52; vgl. auch J .

LISTL

Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 363. Vgl. zur Glaubensfreiheit BVerfGE 12,1 (4); zur Gewissensfreiheit BVerfGE 12, 45 (54 f) ; zur Kultusfreiheit BVerfGE 24, 236 (245). Zur Stellung dieses Begriffes in der Tradition des deutschen Staats- und Religionsrechts vgl. LISTL ( F n . 19) S. 365.

1065

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

damit seine eigentlich tragende Bedeutung für das Verhältnis von Staat und Kirche verloren, läßt aber wohl den Schluß zu, daß das Verhältnis von Staat und Kirche durch Art. 4 G G eine breitere Fundierung als in früheren Zeiten gefunden hat. Nicht zuletzt kann in dieser Tatsache der Abschluß eines historischen Prozesses gesehen werden, der von der Religionsfreiheit als einem Recht der Fürsten und Reichsstände hin zur Religionsfreiheit als einem Recht der Individuen und Religionsgemeinschaften führte. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung und überwiegend auch in der Rechtswissenschaft wird heute davon ausgegangen 22 , daß die Religionsfreiheit nicht nur die Freiheit umfaßt, zu glauben oder nicht zu glauben und dieses frei und ungehindert aussprechen zu können, sondern, wie S C H E U N E R zutreffend betont, ebenso auch die Freiheit des kultischen Handelns in Gemeinschaft und religiöser Vereinigung einbezieht, daß sie aber auch z . B . das elterliche Erziehungsrecht in religiöser Hinsicht, Akte und Formen religiöser Werbung, caritative Sammlungen und Hilfeleistungen, die religiöse Gemeindebildung und die Verbindung mit anderen religiösen Gemeinschaften auch über die Staatsgrenzen hinaus garantiert 23 , wobei entscheidend ist, daß es, freilich unbeschadet der hier nicht näher zu erörternden Schrankenproblematik 24 , dem zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichteten Staat verwehrt ist, zu Glaubens- oder Weltanschauungsfragen wertend Stellung zu nehmen 25 . Eindringlich hat U L R I C H S C H E U N E R darauf aufmerksam gemacht 26 , daß die Religionsfreiheit wie die meisten grundrechtlichen Verbürgungen auch Normen objektiven Gehaltes enthält; S C H E U N E R spricht vom „objektiven Inhaltskern" des Art. 4 G G , zu dem das Neutralitätsgebot ebenso gehört wie das Paritäts- und Toleranzgebot. Mögen auch die Begriffe „Neutralität", „Parität" und „Toleranz" expressis verbis uns im Art. 4 G G nicht begegnen, der Sache nach sind „Neutralität", „Parität" und „Toleranz" als Normen objektiven Gehaltes im Art. 4 G G enthalten und gehören zu seiner Sinnfülle; sie stellen somit auch unverzichtbare Interpretamenta bei der Verwirklichung der Religionsfreiheit und bei der Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche dar, ohne die die rechtliche Verortung der Kirche in unserem freiheitlich-demokratischen politischen Gemeinwesen schwerlich gedacht werden kann. Als verfassungsrechtliches Prinzip ist das Neutralitätsprinzip kein gleichsam „außerstaatlicher", verfassungsrechtlich vorgegebener Wert an sich, ihm eignet eine Ambivalenz, deren vielschichtige Bedeutung K L A U S S C H L A I C H umfassend dargestellt hat 27 . Die Ambivalenz wird augenfällig bei den gegenläufigen, im gegen22

23

Vgl. dazu die profunde Untersuchung von J . LISTL Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Bd. 1), 1970, und die dort gegebenen reichhaltigen Hinweise auf Rechtsprechung und Literatur. So U .

SCHEUNER D i e

Religionsfreiheit

im

Grundgesetz, in: D Ö V 1967, S. 585ff; vgl. auch die dort angegebene Literatur.

24

Vgl. dazu die Ausführungen von R. HERZOG in: T H .

"

MAUNZ/G.

DÜRIG/R.

HERZOG/R.

SCHOLZ Grundgesetz, Art. 4, Rdn. 75, 88ff, lllff. Vgl. BVerfGE 12, 1 (4).

26

V g l . SCHEUNER ( F n . 17) S. 5 0 f f .

27

Vgl. KL. SCHLAICH Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, vornehmlich im Kulturverfassungs- und Staatskirchenrecht, 1972, S. 154 ff, 192 ff, dort auch umfangreiche Nachweise zum Meinungsstand.

1066

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

wärtigen Schrifttum meist stillschweigend vorausgesetzten Bedeutungsvarianten, die diesem staatskirchenrechtlichen Zentralbegriff grundsätzlich unterlegt werden. Zielrichtung ist einmal die Begrenzung staatlicher Machtfülle im Sinne eines Eingriffsoder Parteinahmeverbotes des Staates, zum anderen aber auch die Begrenzung öffentlich wirksamer Kräfte der Gesamtgesellschaft als Ausdruck einer prononciert vertretenen „Staatlichkeit des Staates" 2 8 . Beide Standortbestimmungen determinieren ihre jeweiligen Ergebnisse. Der Gedanke staatlicher Machtbegrenzung beinhaltet in erster Linie das Prinzip der Nichtintervention und das staatliche Privilegierungsverbot, wobei es sich im Hinblick auf die Nichtintervention wesentlich um eine — heute unstreitige — Mindestgewährleistung handelt, mit der dem Staat um der Unabhängigkeit der Kirchen willen verboten wird, in deren Eigenbereich durch hoheitliches Tätigwerden einzuwirken. Positivrechtlicher Ausdruck dessen ist das kirchliche Selbstbestimmungsrecht des Art. 137 Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140 G G ; sein sachlicher Gehalt ist allerdings mit dem Grundsatz der Nichtintervention allenfalls segmenthaft abgedeckt 29 . Auch das im Kern unproblematische Privilegierungsverbot findet seine rechte Berücksichtigung, wenn es von seinem Charakter als staatskirchenrechtlicher Minimalgarantie im säkularisierten Gemeinwesen verstanden wird. Anerkannten Rechts ist insoweit, daß das Neutralitätsgebot untersagt, bestimmte Bekenntnisse zu bevorzugen, wobei unter Bevorzugung nicht Begünstigungen jeglicher Art zu verstehen sind, sondern nur diejenigen, die sich — gemessen am Ganzen des Verfassungscorpus — als sachlich ungerechtfertigt und damit unvertretbar darstellen. Das Privilegierungsverbot entspricht daher seinem Wesen nach dem Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 G G und läßt demnach Differenzierungen durchaus zu, soweit sie auf sachgemäßen Erwägungen beruhen 30 . Das in dieser Weise entfaltete Neutralitätsdenken entspricht einem verfassungsgeschichtlich in der deutschen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts wurzelnden Systemzusammenhang zwischen Staat, Kirche und Gesellschaft, bei dem staatliche Zurückhaltung und kirchliche, konfessionelle Freiheit korrespondieren. „Neutralität bewegt sich so", wie S C H L A I C H es formuliert, „zwischen den Prinzipien der Trennung, Toleranz und Parität, die alle auf Freiheit (teils des Staates, teils der Kirchen) zielen" 3 1 . Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet sich dieses traditionelle Neutralitätsverständnis im Sinne einer Begrenzung staatlichen Machtanspruchs 32 , freilich nicht auf das Staatskirchenrecht allein beschränkt, sondern „eingebettet in die allgemeine Neutralität des Staates gegenüber der Pluralität der Wertvorstellungen seiner Bürger . . . Staatskirchenrechtlich verschafft Neutralität in diesem Sinne den Kirchen die Freiheit, nach dem eigenen Maßstab zu leben und zu wirken und gebietet dem Staat, sich des Eingriffs und der Parteinahme zu enthalten" 3 3 . Daß Neutralität unter einem derartigen Blickwinkel bei einer Uberbetonung 28

29

V g l . d a z u MEYER-TESCHENDOKF ( F n . 16) S .

30

1 4 5 ff.

31

SCHLAICH ( F n . 2 7 ) S . 1 3 2 .

32

Vgl. die Rechtsprechungsnachweise Fn. 29.

33

SCHLAICH ( F n . 2 7 ) S . 133 f.

Aus der Rechtsprechung zur staatlichen Nichtidentifikation vgl. BVerfGE 18, 385 ( 3 8 6 f ) ; 30, 415 (428); 42, 312 (321 f, 332).

S o T H . MAUNZ ( F n . 2 4 ) A r t . 1 4 0 , R d n . 4 9 .

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1067

des Abwehrcharakters mitunter nicht gänzlich frei ist von antistaatlichen, desintegrierenden Affekten — dies meist im Gefolge einer überholten Grundrechtssicht — soll nicht verschwiegen werden. Auch in der auf die Begrenzung öffentlich wirksamer Kräfte der Gesamtgesellschaft gerichteten Variante des Neutralitätsdenkens kehrt der mit historischen Hypotheken der Nationalstaatlichkeit belastete Themenkreis Staat und Gesellschaft wieder, der insbesondere in der Mitte der sechziger Jahre dieses Jahrhunderts in die Auseinandersetzung um die Koordinationslehre einmündete. Neutralität bedeutet hier vor allem „sich nicht identifizierende Allgemeinheit" und „virtuelle Allumfassendheit" des Staates (HERBERT KRÜGER), wobei die Sphäre des staatlicher Fürsorge zugänglichen Allgemeinen zur Vermeidung verbotener Parteinahme nach K R Ü G E R nur diejenigen Lagen umfassen soll, „die sich jedem Bürger als Kreatur in gleicher existenzieller Dringlichkeit stellen" 34 . Abzielend auf die Souveränitätsproblematik heißt das in letzter Konsequenz: Trennung, Indifferenz und Laizismus 35 . Der so eingeschlagene Weg kann letztlich zu einer Gefährdung, wenn nicht gar Aufhebung der Religionsfreiheit führen, wie die unter Berufung auf das Neutralitätsprinzip noch vor nicht allzu langer Zeit behauptete Verfassungswidrigkeit der Kindertaufe zeigt 36 ; hier ist H O L L E R B A C H uneingeschränkt zuzustimmen, der anmerkt, daß Neutralität als Rechtsbegriff so verstanden zum Kampfinstrument einer bestimmten EmanzipationsIdeologie pervertiert wird 37 . Die bereits dargestellte qualitative Akzentverschiebung religionsfreiheitlicher Gewährleistungen unter dem Grundgesetz macht im Verhältnis zur Weimarer Zeit 38 deutlich, daß besonders das mit dem Neutralitätsprinzip im wesentlichen verbundene Parteinahmeverbot des Staates in religiös-weltanschaulichen Fragestellungen weder einseitig auf die Begrenzung staatlicher Machtfülle gerichtet ist, noch daß es laizistische Unduldsamkeit des Staates gegenüber den öffentlich wirksamen Kräften der Gesellschaft beinhaltet. Auf der Grundlage des Staats- und Gesellschaftsverständnisses des Grundgesetzes postuliert Neutralität vielmehr die Verpflichtung der Rechtsordnung, „den Staatsbürgern die Möglichkeit (zu erhalten), ihren religiösweltanschaulichen Überzeugungen auch im öffentlichen Leben soweit wie möglich Geltung zu verschaffen" 39 . In dieser Rücksicht kann Neutralität jedenfalls nicht das Verbot für die staatliche Gewalt bedeuten, das Vorhandensein religiöser Tatbestände zur Kenntnis zu nehmen und religiöse Unterschiede zu berücksichtigen. Neutralität — und in engem Zusammenhang damit Parität — wird vielmehr unter dem geltenden Verfassungsrecht, das einer positiven Berücksichtigung des Religiösen offen ist, dadurch verwirklicht, daß der Staat mit Rücksicht auf die hohe Sozialbedeutung der

34

35

36

H . KRÜGER Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 527. So vor allem E. FISCHER Trennung von Staat und Kirche. Die Gefährdung der Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., 1971. Vgl. J . KAHL Erziehung ohne Religion, in: Club Voltaire, Bd. IV (1970), S. 51.

37

38 39

So A. HOLLERBACH Neutralität, Pluralismus und Toleranz in der heutigen Verfassung, in: J . SAUER (Hrsg.) Zum Verhältnis von Staat und Kirche, 1976, S. 16f. Vgl. oben S. 1061 ff. VON C A M P E N H A U S E N ( F n . 1) S . 1 9 9 .

1068

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Kirchen und Religionsgemeinschaften einheitliche Rahmenbedingungen setzt, die durch die jeweiligen Religionsgemeinschaften — angesichts der Vielfalt im Tatsächlichen auch in rechtlich unterschiedlicher Weise — tätig ausgefüllt werden. Unter diesem Aspekt beinhaltet auch das Verbot der Staatskirche gem. Art. 137 Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 G G — das eine, wenn auch nicht die alleinige positivrechtliche Leitlinie des Neutralitätsprinzips darstellt — nicht die Verpflichtung des Staates, religiös-weltanschauliche Tatsachen zu ignorieren; denn das hieße, das Staatskirchenverbot des Grundgesetzes in ein Verfassungsprinzip umzudeuten, demzufolge die Staatsbürger so zu behandeln wären, als hätten sie keinerlei religiöse Bindungen 40 . Gerade dies verbietet aber Art. 4 G G , nach dessen Wertentscheidung religiöse Belange auch im säkularisierten Staat des Grundgesetzes nicht irrelevant, sondern geschütztes Rechtsgut der Verfassung sind. Die auch zum „objektiven Inhaltskern des Art. 4 G G " 4 1 gehörende Neutralität des Staates ist demnach nicht einseitig festgelegt, sondern inhaltlich offen und als auf die pluralistische Wirklichkeit bezogener Rechtsgrundsatz positiven Ausformungen zugänglich. Daraus ist zwar kein konkretes staatskirchenrechtliches Modell mit einer das gesetzgeberische Ermessen zwingend bindenden Wirkung abzuleiten; Neutralität kann in diesem Sinne wohl aber ein „weitmaschiges Netz" bedeuten, dessen Konkretisierung auf der Grundlage der Art. 4 und 140 G G dem Gesetzgeber als Staatsaufgabe obliegt. Aus rechtsvergleichender Sicht ist dabei die Feststellung interessant, daß selbst unter der strikten französischen Trennungsgesetzgebung das Neutralitätsprinzip einen Begriffswandel vom diskriminierenden Antiklerikalismus zur „neutralité positive" im Sinne einer offenen Neutralität im pluralistischen Gemeinwesen erfahren hat 42 . Ganz ähnliche, rechtsgrundsätzlich in der Weite zwischen skeptischem Indifferentismus und staatlichem Parteinahmegebot angesiedelte Inhaltsvarianten lassen sich an Hand der Grundsätze der Nichtidentifikation, der Parität und der Toleranz aufzeigen; hier kann in prinzipieller Hinsicht weitgehend auf das zum Neutralitätsprinzip Gesagte verwiesen werden. Besonders der Grundsatz der Nichtidentifikation als dem Neutralitätsprinzip verwandter Auslegungsmaßstab staatlich-kirchlicher Verschränkungen läßt nochmals die Legitimationsprinzipien des freiheitlich-pluralen Staates deutlich akzentuiert hervortreten. Negativ-abgrenzend zielt er auf ein schon aus Art. 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 G G abzuleitendes und damit unproblematisches Verbot staatskirchlicher Formen 43 . Die eigentlichen Fragen stellen sich auch hier im „positiven Bereich". Auf der Grundlage der dargestellten religionsfreiheitlichen Verbürgungen des Grundgesetzes ist der eigentliche Rechtfertigungsgrund positiven staatlichen Handelns hierbei im Gedanken gesellschaftlicher Freiheit zu suchen, der eben keine — ablehnende oder zustimmende — Parteinahme des Staates bedeutet, wohl aber den jeweiligen Verbänden und Gemeinschaften die Möglichkeit 40

Vgl.

A.

FRHR.

VON

CAMPENHAUSEN

H . NAWIASKY/C. LEUSSER/ E .

in:

42

GERNER/K.

SCHWEIGER/H. ZACHER D i e V e r f a s s u n g des

Freistaates Bayern, 1976, vor Art. 142, Rdn. 24. 41

V g l . SCHEUNER ( F n . 17) S. 61.

43

Dazu J. RIVERO De l'ideologie à la règle de droit: La notion de la laïcité dans la jurisprudence administrative, in: La Laïcité 1960, S. 2 7 7 ff. Vgl. dazu BVerfGE 19, 220.

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1069

gewährt, ihre grundrechtlich verbürgten Garantien auch durch eigenverantwortliches und vor der Gesamtgesellschaft verantwortetes Handeln zu nutzen. Daß an aktuellen Konfliktproblemen kein Mangel besteht und es sich hier durchaus nicht um Fragen von rein akademischem Interesse handelt, zeigen beispielhaft der Streit um das bischöfliche Beanstandungsrecht im Problembereich theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten und das zum Prüfstein staatlicher Nichtidentifikation und Toleranz erwachsene Schulgebet44. Während die spannungsreiche Beziehung zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit zur Schulgebetsproblematik in anderem Zusammenhang noch kurz angesprochen werden soll, sei zur Theologenausbildung an staatlichen Fakultäten und Hochschulen, deren Komplexität sich aus ihrer Doppelfunktion als organisationsrechtlich staatlichen Einrichtungen mit genuin kirchlicher Aufgabenstellung ergibt, hier lediglich angemerkt45: Ebensowenig wie ein laizistisch gebundenes Verständnis der institutionellen Garantie freier Forschung und Lehre dem weltanschaulich freien und neutralen Wissenschaftsbegriff des Art. 5 Abs. 3 GG entspricht, ebensowenig genügt es dem Neutralitätsprinzip, das konkordatsrechtlich abgesicherte kirchenbehördliche Placet in Personal- und Anstellungsfragen aus tagespolitischer Rücksichtnahme in ein bloßes Stellungnahmerecht umzudeuten. Glaubens- und Sittenfragen, die in diesem Problembereich allein entscheidend sind, entziehen sich der Beurteilung und Bewertung durch den Staat. Daß divergierende Interessenlagen bestehen können, soll nicht bestritten werden, sie unter Berücksichtigung der durch die Verfassung vorgegebenen Wertentscheidungen zu lösen, ist jedoch eine Aufgabe, der sich der Staat nicht unter Hinweis auf vorgeblich an kollidierenden Grundrechtsinteressen orientierten Stellungnahmen entziehen darf. Spätestens seit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 10. 1965 46 gehört es zum festen Bestand der höchstrichterlichen Rechtsprechung, daß das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht nur den einzelnen Staatsbürgern, sondern auch den Religionsgemeinschaften und ihren Untergliederungen als Grund44

45

Zum Schulgebet vgl. allg. K. G. MEYER-TESCHENDORF Religionsfreiheit in der Staatsschule — Das Schulgebet als Prüfstein für staatliche Neutralität und Nicht-Identifikation, in: ZevKR Bd. 23 (1978), S. 202ff und aus der Rspr. BVerfG, in: N J W 1980, S. 575 ff. Vgl. zum ganzen Problemkreis E . - L . SOLTE Theologie an der Universität. Staats- und Kirchenrechtliche Probleme der Theologischen Fakultäten (Jus Ecclesiasticum, Bd. 13), 1971; U. SCHEUNER Rechtsfolgen der konkordatsrechtlichen Beanstandung eines katholischen Theologen (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Bd. 13), 1980; J. MÜLLER-VOLLBEHR Staat und Kirche — Universität und Theologie. Aktuelle Probleme der Theologenausbildung an staatlichen Hochschulen, in: ZevKR Bd. 24 (1979), S. 1 ff; P. MIKAT Staatskirchenrechtliche Bemerkun-

46

gen zur Nihil-obstat-Problematik, in: AkathKR 148. Bd. (1979) S. 93ff. BVerfGE 19, 129 (132), näherhin heißt es dort: „Religionsgesellschaften und andere juristische Personen, deren Zweck die Pflege oder Förderung eines religiösen Bekenntnisses oder die Verkündung des Glaubens ihrer Mitglieder ist, können Träger des Grundrechts aus Art. 4 GG sein". Vorangegangen war bereits die Entscheidung vom 28. 4. 1965 (BVerfGE 19, 1), in der das Bundesverfassungsgericht der Neuapostolischen Kirche die Verfassungsbeschwerde aus Art. 3 GG eröffnete; bezogen war diese Anerkennung der Grundrechtsfähigkeit allerdings noch nicht auf die korporative Wirkung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, sondern auf die Stellung der Neuapostolischen Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts.

1070

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

rechtsträgern zusteht 47 , und daß das Grundrecht der Religionsfreiheit somit individuelle und korporative Wirkung entfaltet 48 . Als Individualrecht berücksichtigt dieses Grundrecht „das Bedürfnis des Menschen nach weltanschaulicher Orientierung und Ausrichtung seines Lebens" 49 , woraus R O M A N H E R Z O G den bedenkenswerten Schluß zieht, daß der freiheitlich-demokratische, am Fundamentalprinzip der Menschenwürde orientierte Staat schon auf Grund der rechtlichen Anerkennung dieses Bedürfnisses daran gehindert sei, den Kirchen und Religionsgemeinschaften, zu deren wichtigsten Funktionen die Befriedigung dieses grundlegenden anthropologischen Verlangens als Essentiale gehört, insgesamt indifferent oder gar ablehnend gegenüberzustehen50. Zum Inhalt und Umfang der korporativen Gewährleistungen dieses Grundrechts hat das Bundesverfassungsgericht in einer Anzahl von bedeutsamen Entscheidungen Leitlinien gesetzt, die die verbandsrechtliche Aktualisierung in besonderer Deutlichkeit hervortreten lassen. Danach genießen nicht nur die Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst, sondern auch diejenigen Vereinigungen vollen Grundrechtsschutz, die sich die — auch nur partielle — Pflege des religiösen und weltanschaulichen Lebens zum Ziel gesetzt haben 51 . „Voraussetzung dafür ist aber", wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 16. 10. 1968 ausgeführt hat, „daß der Zweck der Vereinigung gerade auf die Erreichung eines solchen Ziels gerichtet ist. Das gilt ohne weiteres für organisatorisch oder institutionell mit Kirchen verbundene Vereinigungen wie kirchliche Orden, deren Daseinszweck eine Intensivierung der gesamtkirchlichen Aufgaben enthält. Es gilt aber auch für andere selbständige oder unselbständige Vereinigungen, wenn und soweit ihr Zweck die Pflege oder Förderung eines religiösen Bekenntnisses oder die Verkündigung des Glaubens ihrer Mitglieder ist. Maßstab für das Vorliegen dieser Voraussetzungen kann das Ausmaß der institutionellen Verbindung mit einer Religionsgemeinschaft oder die Art der mit der Vereinigung verfolgten Ziele sein" 52 . Das Bundesverfassungsgericht hat auch zu der kontroversen Frage Stellung genommen, in welchem Umfang das Selbstverständnis der Kirche für die Verwirklichung der korporativen Gewährleistung zu berücksichtigen ist, eine Frage, die vor allem im Zusammenhang mit Art. 137 Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140 GG von

47

Art. 19 Abs. 3 GG bedarf. Letzteres nimmt J. ISENSEE an, wobei er in bezug auf Art. 19 Abs. 3 GG jedoch nur von einem „Medium" zur Begründung der Grundrechtsfähigkeit von Religionsgemeinschaften spricht, vgl. J. ISENSEE Kirchenautonomie und sozialstaatliche Säkularisierung in der Krankenpflegeausbildung, 1980, S. 46.

Anders noch die Staatsrechtslehre in der Weimarer Zeit. Vgl. statt vieler G. ANSCHÜTZ Die R e l i g i o n s f r e i h e i t , in: G . ANSCHÜTZ/R. T H O -

48

MA Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1932, S. 681, wo es heißt, die Religionsfreiheit beinhalte lediglich „die dem Individuum staatlich gewährleistete rechtliche Möglichkeit, sein Verhältnis zu allen religiösen Fragen nach Belieben zu gestalten." Das Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 19, 129 (132), hat nicht ausdrücklich dazu Stellung genommen, ob die korporative Wirkung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sich aus dem Wesen der Religionsfreiheit selbst ergibt, oder ob es hierzu des Rückgriffs auf

49

HERZOG ( F n . 24) A r t . 4, R d n . 13; aus d e r

so

Rspr. vgl. BVerfGE 30, 415 (423). Vgl. HERZOG ebda.; im Ergebnis ebenso

51

HESSE ( F n . 2) S. 158, 192. Vgl. B V e r f G E 19, 129 (132); 24, 236 ( 2 4 6 f ) . B V e r f G E 24, 236 (247).

52

1071

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

Bedeutung ist. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist dem Eigenverständnis der Kirche, „soweit es in dem Bereich der durch Art. 4 Abs. 1 GG als unverletzlich gewährleisteten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wurzelt und sich in der durch Art. 4 Abs. 2 GG geschützten Religionsausübung verwirklicht", sogar ein besonderes Gewicht beizumessen 53 . Das Bundesverfassungsgericht tritt damit nicht in Widerspruch zur weltanschaulich neutralen Position des Staates, der gerade um einer bedachtsamen Neutralität willen gehalten ist, Identifizierungen mit einer bestimmten Gruppe zu vermeiden. Vielmehr erweist sich die Entscheidung des Gerichts als einer solchen Neutralität durchaus entsprechend; denn ein Ausgleich unter den im intermediären Terrain des „öffentlichen" vorhandenen Gruppen und Verbänden kann nur gelingen, wenn der Staat dem Selbstverständnis jeder dieser an der Gestaltung des Gemeinwesens mitwirkenden Mächte ein ausreichendes Gewicht beimißt. Was dabei ausreichend ist, ist eine Frage des Einzelfalls, keine Bedenken bestehen aus Neutralitätsüberlegungen jedenfalls dagegen, kirchlichem, in Art. 4 G G wurzelndem Eigenverständnis dort durch einen Verweis staatlicher Rechtsnormen auf innerkirchliche Regelungen zu entsprechen, wo es, wie z.B. bei der Anknüpfung der Kirchensteuerpflicht an innerkirchliche Mitgliedschaftsregelungen — die Taufe und Wohnsitz zum Bezug haben 54 — auf Materien ankommt, deren Regelung dem Staat grundsätzlich entzogen sind. Wie jedes andere Grundrecht hat Art. 4 Abs. 1 und 2 G G zunächst — wenn auch nicht nur und in erster Linie — eine schützende, gegen den Staat gerichtete abwehrende Funktion, die mit dem Begriff „negative Religionsfreiheit" charakterisiert wird. Kernstück der negativen Religionsfreiheit ist, daß kein Bürger gezwungen werden kann, sich religiös zu betätigen und einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft anzugehören. G E R H A R D A N S C H Ü T Z sprach hier anschaulich von der „Freiheit des Schweigens" 55 , einem notwendig der Religionsfreiheit immanenten Grundrechtsbereich, der seinen deklaratorischen Ausdruck in Art. 136 Abs. 3 und 4 WRV i. V. m. Art. 140 G G gefunden hat. Art. 136 Abs. 3 S. 2 WRV i. V . m . Art. 140 GG, der ein Fragerecht der Behörden nach der Religionszugehörigkeit im Zusammenhang mit statistischen Erhebungen und von der Religionszugehörigkeit abhängigen Rechten und Pflichten statuiert, stellt keine Durchbrechung dieses Grundrechts dar, beschränkt sich doch das Fragerecht allein auf die äußere Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, nicht aber auf die innere, glaubensmäßige Zugehörigkeit, eine Selbstverständlichkeit im religiös-weltanschaulich neutralen Staat, der die Glaubensüberzeugung seiner Staatsbürger nicht nachprüfen kann und darf 5 6 . So ist z.B. die Frage nach der Religionszugehörigkeit im Zusammenhang mit der Steuerveranlagung ein zulässiges Verlangen, dem unter Berufung auf Art. 4 G G nicht mit Erfolg begegnet werden kann 5 7 . Aktualisierungsformen der negativen Religionsfreiheit fin-

53

So ausdrücklich BVerfG, in: N J W 1980, S. 1895 (Leitsatz 2); ebenso schon BVerfGE 24, 236 (246ff); 44, 37 (49f). 5" Vgl. BVerfGE 30, 415 (Leitsatz und S. 423 f).

55

ANSCHÜTZ ( F n . 8) A r t . 136, A n m .

4.

« Vgl. BVerfGE 30, 415 (426). 57 Vgl. BayVerfGH, in: ZevKR Bd. 14 (1968/ 69), S. 164 (169).

1072

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

den sich insbesondere im Kirchensteuerrecht58, im Kirchenaustrittsrecht59 und in der Schul- und Anstaltsseelsorge60. Für das Kirchensteuerrecht gilt insoweit der Grundsatz, daß nur diejenigen Personen zur Kirchensteuerpflicht herangezogen werden dürfen, die einer steuerberechtigten Religionsgemeinschaft angehören61, eine Problematik, die in der Mitte der sechziger Jahre besonders unter dem Aspekt der Entrichtung der Kirchensteuer bei glaubensverschiedenen Ehen und bei Ehen, in denen nur ein Ehegatte einer steuerberechtigten Kirche angehörte, stark diskutiert wurde. Desgleichen nimmt der Staat beim Kirchenaustrittsrecht Rücksicht auf die Belange jedes Einzelnen, dessen freier Entscheidung es obliegt, ob er einer Religionsgemeinschaft angehören will oder nicht. Der Wahrung dieser Entscheidungsfreiheit dient es auch, wenn Art. 6 Abs. 3 S. 3 GG, der eine besondere Ausprägung der Religionsfreiheit darstellt, es verbietet, Lehrer gegen ihren ausdrücklichen Willen zur Erteilung von Religionsunterricht zu verpflichten. Ebenso besteht für die Schüler die Möglichkeit der Abmeldung vom Religionsunterricht. Entsprechendes gilt für die Anstaltsseelsorge, die zwar in Art. 141 WRV i. V.m. Art. 140 GG ihre verfassungsrechtliche Absicherung erfahren hat, wobei jedoch jeder Zwang im Rahmen dieser Rechts- und Lebensbereiche verboten ist. Wenngleich die negative Religionsfreiheit besonders unter verfassungsgeschichtlichem Aspekt den eigentlichen Ausgangspunkt und Kern der Religionsfreiheit bildet, so gewann doch im System des Grundgesetzes die „positive Religionsfreiheit" gesteigerte Bedeutung. Ausgehend von der Tatsache, daß „die .Religionsausübung' zentrale Bedeutung für jeden Glauben und jedes Bekenntnis hat", muß der Begriff Religionsausübung' nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „gegenüber seinem historischen Inhalt extensiv ausgelegt werden" 62 . Dementsprechend gehört zum Hauptanwendungsbereich des Grundrechts der Religionsfreiheit nicht dessen negative Seite, sondern die Möglichkeit zu positiver ungestörter Religionsausübung mit unmittelbarer Außenwirkung in den weltlichen Bereich 63 , die selbst die Freiheit zur Abwerbung umfaßt64. Es ist daher „dem religiös-neutralen Staat verwehrt, Religionsfreiheit als negativ verstandene Ausklammerung der Religion aus dem öffentlichen Leben und als Verdrängung des religiösen Phänomens ins individuelle Gewissen und in den Privatbereich zu interpretieren"65. Normativer Ausgangspunkt dieser Feststellung ist die sachliche Verklammerung von Art. 4 GG mit

s8

Vgl. P. MIKAT Grundfragen des Kirchensteuerrechts unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen, in: Religionsrechtliche Schriften I ( F n . 1 ) , S. 5 4 7 f f ; H . E N G E L H A R D T D i e K i r -

59

chensteuer in der Bundesrepublik Deutschland, 1968; H . MARRE Das kirchliche Besteuerungsrecht, in: HdbStKirchR II, S. 5ff. Vgl. P. MIKAT Grundfragen des staatlichen Kirchenaustrittsrechts, in: Religionsrechtlic h e Schriften I ( F n . 1), S. 4 8 3 ff; A .

FRHR.

VON CAMPENHAUSEN D e r A u s t r i t t a u s d e n

Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR I, S. 657ff. 60

Vgl.

K.

ALBRECHT

Anstaltsseelsorge,

in:

HdbStKirchR II, S. 701 ff; R. SEILER Seelsorge in Bundeswehr und Bundesgrenzschutz, in: HdbStKirchR II, S. 685ff. 6 1 Vgl. dazu BVerfGE 19, 206; 19, 226; 19, 268; 1 9 , 282; 30, 4 1 5 . 6 2 BVerfGE 24, 236 (246). « Vgl. BVerfGE 41, 29 (49). Vgl. BVerfGE 12, 1 (4). 65

L I S T L ( F n . 1 9 ) S . 3 6 8 ; v g l . a u c h SCHEUNER

(Fn.

17) S.

52.

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1073

Art. 137 Abs. 5 WRV i. V . m . Art. 140 G G , durch welche die Ausstrahlungswirkung der Religionsausübung in die Öffentlichkeit ausdrücklich auf organisatorischer Ebene anerkannt wird. Der Staat des Grundgesetzes nimmt damit nicht trotz, sondern wegen seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität Rücksicht auf die nicht allein im sozial-caritativen Bereich erkennbare Bedeutung positiver Religionsausübung für das Gemeinwesen als Ganzes. Gerade in der Effektuierung positiver Grundrech tsverwirklichung liegt die Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines „freien geistigen Prozesses, in dem sich die maßgeblichen Wertauffassungen frei von staatlicher Beeinflussung bilden sollen" 66 . Um dieses die Pluralität des politischen Gemeinwesens konstituierenden Prozesses willen verbieten sich verfassungsfremde, dem Staat des Grundgesetzes eine laizistische Grundhaltung unterstellende Ordnungsvorstellungen, die das Neutralitätsverständnis des Grundgesetzes in ein Gebot zur Ignorierung religiös-weltanschaulicher Uberzeugungen umdeuten 6 7 , wie denn auch andererseits aus Art. 4 G G ein umfassendes Anspruchsdenken nicht hergeleitet werden kann. Gerade weil Maß und Grenze der Berücksichtigung des Religiösen schwerlich durch eine letztlich willkürlich bleibende Deduktion gewonnen werden können, sollte auch gesehen werden, daß vertragliche Vereinbarungen am ehesten den divergierenden Interessenlagen begegnen können. Mit dem Instrumentarium des Vertragsrechts ist die Möglichkeit gegeben, die wechselseitigen Eigenvorstellungen von Staat und Kirche auf einen ausgleichenden Standort zurückzuführen. Hiermit bietet sich zugleich der geeignete Ansatz für die vom Bundesverfassungsgericht postulierte Herstellung einer praktischen Konkordanz zwischen staatlicher und kirchlicher O r d nung 6 8 . Besonders im Bereich des Schul- und Bildungswesens wird allerdings erkennbar, daß weder die negative noch die positive Religionsfreiheit absolute Maßstäbe für die inhaltliche Ausformung von Art. 4 G G bilden. Angesichts der Pluralität der Gesellschaft lassen sich die oft unvermeidlichen Spannungen zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit oft erst durch eine Verhältnisbestimmung dieser beiden Entscheidungsgrößen lösen 69 . Vor allem würde es nicht dem Toleranzgebot entsprechen, würden die religiöse Auffassung der Mehrheit oder die religiöse oder areligiöse Auffassung der Minderheit absolut gesetzt werden.

«

HESSE ( F n . 2 ) S . 1 5 8 .

67

Diese im verfassungsrechtlichen Schrifttum heute kaum noch diskutierte Extremposition findet sich durchgängig bei FISCHER (Fn. 3 5 ) . Das Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 42, 312 (340), erblickt hinsichtlich des Gemeinwohlvorbehalts „in der Schrankenformel des Art. 137 Abs. 3 WRV heute die Basis für eine Konkordanz zwischen staatlicher und kirchlicher Ordnung . . ., die es gestattet, auf beiden Seiten davon auszugehen, daß staatliche Gesetze nicht die den Kirchen we-

68

69

sentlichen eigenen Ordnungen beeinträchtigen und daß kirchliche Gesetze nicht die für den Staat unabdingbare Ordnung kränken werden". In BVerfGE 41, 29 heißt es dazu in Leitsatz 3: „Es ist Aufgabe des demokratischen Landesgesetzgebers, das im Schulwesen unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen „negativer" und „positiver" Religionsfreiheit nach dem Prinzip der „ K o n k o r d a n z " zwischen den verschiedenen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern zu lösen".

1074

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Bei der dem Landesgesetzgeber obliegenden Ausgestaltung der Schulform wäre danach die Anbindung des Schulunterrichts an christliche Bezüge in Ländern mit von der Bevölkerung her deutlicher konfessioneller Prägung nicht schlechthin verboten70. Es ist dann allerdings im Hinblick auf diejenigen Erziehungsberechtigten, die keine religiöse Erziehung ihrer Kinder wünschen, eine „geistige Vergewaltigung"71 im Sinne eines Anspruchs auf Verbindlichkeit der religiösen Lehrinhalte zu vermeiden. Andererseits gilt aber auch, daß ein einzelner Schüler in einer christlichen Gemeinschaftsschule das Erziehungsziel der Schule, das in bezug auf das Christentum in erster Linie auf der „Anerkennung eines prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat" 72 , beruht, nicht durch eine der Schulklasse aufgezwungene Negation jeglicher religiöser Betätigung gefährden darf. Ein derartiger Prüfstein der Toleranz ist und bleibt das Schulgebet, zu dessen verfassungsrechtlicher Zulässigkeit nunmehr eine der Diskussion vorläufig ihre Schärfe nehmende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorliegt. Danach ist auch an bekenntnisfreien Schulen grundsätzlich ein außerhalb des Religionsunterrichts gesprochenes freiwilliges, überkonfessionelles Schulgebet nicht zu beanstanden, es sei denn, daß ein widersprechender Schüler der Teilnahme nicht in zumutbarer Weise ausweichen kann73. Ähnliche Probleme stellen sich bei der Frage der Zulässigkeit des „Kreuzes im Gerichtssaal"74 und bei der — auf Grund der nunmehr erfolgten Novellierung der einschlägigen verfahrensrechtlichen Bestimmungen als Rechtsproblem weitgehend überholten — Eidesverweigerung aus Glaubensüberzeugung75. Wiewohl hier keine Verpflichtung eines Verfahrensbeteiligten zur Duldung einer bestimmten religiösen Symbolik besteht, wird von ihm doch die Erklärung zu verlangen sein, inwiefern er durch eine derartige Symbolik in seiner religiösen oder weltanschaulichen Ausrichtung verletzt ist 76 . Die Diskussion um Maß und Grenze der Berücksichtigung des Religiösen kehrt wieder in der grundsätzlicheren Erörterung zur Abwehr und Leistungsbezogenheit des Grundrechts der Religionsfreiheit allgemein, eine Problematik, die auf die Funktion der Grundrechte im demokratischen und sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes hinweist. Im Sinne einer verfassungsrechtlichen Skizzierung der speziell die Religionsfreiheit angehenden Fragenbereiche ist in diesem Zusammenhang grundsätzlich darauf hinzuweisen, daß das Grundrecht der Religionsfreiheit wie jedes andere



Vgl. B V e r f G E 41, 65 ( 7 8 f ) ; vgl. auch BVerfG E 41, 29, wo es in Leitsatz 4 heißt: „ E i n e Schulform, die weltanschaulich-religiöse Zwänge soweit wie irgend möglich ausschaltet sowie Raum für eine sachliche Auseinandersetzung mit allen religiösen und weltanschaulichen Auffassungen — wenn auch von einer christlich bestimmten Orientierungsbasis her — bietet und dabei das Toleranzgebot beachtet, führt Eltern und Kinder, die eine religiöse Erziehung ablehnen, nicht in

einen verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt". 71

S o LISTL ( F n . 1 9 ) S. 3 7 2 .

B V e r f G E 41, 65 (78 f). ™ Vgl. BVerfG, in: N J W 1980, S. 575ff. 7 4 Vgl. dazu B V e r f G E 35, 366 (373ff). " Vgl. dazu B V e r f G E 33, 23 (30ff) mit abweichender Ansicht S. 35 (36ff, 42). 72

76

Insoweit differenzierend zu B V e r f G E 366

die A n m .

1974, S. 491 f.

von

W.

RÜFNER i n :

35, NJW

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1075

Grundrecht seinem Wesen nach einmal ein subjektiv öffentliches Recht gegen unberechtigte Beeinträchtigungen durch die staatliche Gewalt darstellt. Inwieweit über diese unstreitige Abwehrfunktion hinaus die immer deutlichere Hinwendung des Staates zur sozialen Sicherung und Förderung der Staatsbürger und der ihn repräsentierenden Sozialverbände durch den tätigen Ausbau staatlicher Leistungssysteme grundrechtlich verbürgte Teilhabeansprüche konstituiert, ist in verfassungstheoretischer wie auch staatssoziologischer Sicht kontrovers. Das Bundesverfassungsgericht hat dies mit Rücksicht darauf, daß Freiheitssicherungen ohne die Herstellung ihrer tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtswertes praktisch entbehren, zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, die Frage eines originären, aus dem jeweiligen Grundrecht herzuleitenden konkreten Leistungsanspruchs jedoch aus gutem Grund offengelassen 77 . Für die Religions- und Kirchenfreiheit sind unbeschadet der noch ausstehenden staats- und gesellschaftswissenschaftlichen Abklärung der Gesamtthematik 7 8 sonderrechtliche Ausformungen derartiger Teilhabegarantien in der Gewährleistung der Staatsleistungen (Art. 138 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 G G ) , der Kirchensteuer (Art. 137 Abs. 6 WRV i. V. m. Art. 140 G G ) und der Anstaltsseelsorge (Art. 141 WRV i. V. m. Art. 140 G G ) enthalten. Auch die Garantie des Religionsunterrichtes gem. Art. 7 Abs. 3 G G und die kirchenvertraglich abgesicherte Einrichtung theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten dürfte ebenso wie die Statusgewährleistung des Art. 137 Abs. 5 WRV i. V. m. Art. 140 G G unter den Aspekt der leistungsstaatlichen Ausprägung grundrechtlicher Verbürgungen kraft ausdrücklicher gesetzlicher oder in sonstiger Weise rechtsverbindlicher Zuweisung zu subsumieren sein. Dabei ist, worauf besonders hinzuweisen ist, unerheblich, ob eine voll ausgeschöpfte Religions- und Kirchenfreiheit unter dem Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes dies auch fordert. Unter dem Stichwort der „Kirchenförderung im Leistungsstaat" liegt das Schwergewicht der Problematik auf der Verfassungsangemessenheit der Förderung als Reflex der Frage nach Umfang und Grenzen staatlicher Förderung von Verbänden mit öffentlicher Wirksamkeit im allgemeinen. Ein konkretes staatskirchenrechtliches Modell ist daraus nicht abzuleiten, wohl aber der Grundsatz, daß aus der sich ausweitenden sozialstaatlichen Mittelvergabe im weitesten Sinne und der im politischen Raum entsprechend festzustellenden Anspruchshaltung der Verbände die Kirchen nicht deshalb ausgenommen werden dürfen, nur weil die von ihnen repräsentierten Belange religiöser Natur sind 7 9 . Neben ihrer umfassenden individuellen und korporativen Verbürgung eignet der Religionsfreiheit schließlich eine institutionelle Seite. Dabei wird unter institutioneller Religions- und Kirchenfreiheit hier der verfassungsrechtliche Bedingungszusammenhang zwischen individueller und korporativer Grundrechtsverbürgung einer-

77

78

Vgl. BVerfGE 33, 303 (330ff); 43, 291 (313ff): sog. numerus-clausus-Urteile. Zum Meinungsstand vgl. allg. W. MARTENS Grundrechte im Leistungsstaat, in: W D S t R L Heft 30 (1972), S. 21 ff; H . H .

RUPP Vom Wandel der Grundrechte, in: A ö R B d . 101 (1976) S. 161 ff. 79

Z u m G a n z e n MEYER-TESCHENDORF ( F n . 16)

S. 135 ff, 142 ff, 177, 197f.

1076

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

seits und den das Grundverhältnis zwischen Staat und Kirche im weiteren ordnenden Bestimmungen andererseits verstanden, vornehmlich also die im Grundgesetz selbst enthaltene Institutionalisierung kirchlicher Selbstbestimmung in eigenen Angelegenheiten als Ausfluß religionsfreiheitlicher Bereichsscheidung staatlicher und kirchlicher Gewalt. Religionsfreiheit ist damit unter dem Blickwinkel einer institutionellen Garantie im wesentlichen Kirchenfreiheit, ergänzt und erläutert durch die charakteristische Besonderheit des Art. 137 Abs. 5 WRV i. V. m. Art. 140 GG, der die Kirchenfreiheit als öffentliche Freiheit mit rechtserheblicher Wirkung festlegt. Zwar ist hier im grundsätzlichen wie im einzelnen vieles noch streitig 80 , doch besteht angesichts des verfassungsrechtlichen Textbefundes Ubereinstimmung darin, daß die Kirchenfreiheit im Grundgesetz auch als objektiver Grundwert mit Einrichtungscharakter insoweit verankert ist, als sie von Verfassungs wegen selbstbestimmte Freiheit mit normativ-öffentlicher Wirksamkeit kirchlichen Handelns nach außen begründet. Der hohe Stellenwert des Grundrechts der Religionsfreiheit im Gesamtgefüge des Grundgesetzes und hier speziell innerhalb des Grundrechtskataloges zeigt sich augenfällig darin, daß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG im Gegensatz zu Art. 135 WRV keine Einschränkungsmöglichkeit durch einfaches Gesetzesrecht kennt und auch nicht der Verwirkungsvorschrift des Art. 18 GG unterliegt. Es wäre jedoch verfehlt, daraus zu folgern, der Religionsfreiheit seien überhaupt keine Schranken gesetzt. Auch sie ist letztlich „begrenzte Freiheit", ist an immanente Schranken der Verfassungsordnung verwiesen, Schranken, die sie nicht gefährden, sondern sichern. Wenngleich es keinen Streitpunkt mehr darstellt, daß derartige immanente Schranken nicht dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 1 GG zu entnehmen sind81, ist Art. 4 GG doch der Wertordnung des Grundgesetzes insgesamt unterstellt82. „So wenig Religionsfreiheit ein Vorrecht für christlich geprägte ,abendländiche' Uberzeugungshaltungen ist, so wenig bietet dies Grundrecht die Legitimationsgrundlage für beliebige, womöglich unsittliche oder gar kriminelle Verhaltensweisen"83. An der Wertordnung des Grundgesetzes sind daher Konflikte im Bereich der Religionsfreiheit zu messen, aus ihr ergibt sich, daß kollidierende Grundrechte anderer eine Abwägung im Einzelfall erfordern84, wobei die im fehlenden Schrankenvorbehalt deutlich gemachte wertsetzende Bedeutung dieses Grundrechts in einer Art Wechselwirkung verlangt, den „sachlichen Grundwertgehalt" 85 der Religionsfreiheit als unantastbaren Kernbereich in jedem Falle zu erhalten.

Vgl. umfassend zum institutionellen Gehalt der Grundrechte P. HÄBERLE Die Wesensgehaltgarantie des A r t . 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre v o m Gesetzesvorbehalt, 2. A u f l . , 1972. 8 1 Vgl. B V e r f G E 32, 98 (107). « Vgl. B V e r f G E 12, 1 (4f). 80

83

v.

CAMPENHAUSEN

Ausführungen

des

(Fn. 1) S.

65;

vgl.

die

Bundesverfassungsge-

84 85

richts (BVerfGE 12, 1 (4)), wonach das Grundrecht der Religionsfreiheit nur diejenige Religionsausübung schützt, „die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat". Vgl. B V e r f G E 4 1 , 29 (50). S o LISTL ( F n . 1 9 ) S . 3 9 4 .

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1077

III. Staatskirchen verbot und kirchlicher Körperschaftsstatus (Art. 137 Abs. 1 und 5 WRV i. V. m. Art. 140 G G ) Trotz der durch das Staatskirchenverbot des Art. 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 G G zum Ausdruck gebrachten Scheidung des staatlichen und des kirchlichen Bereichs in der Wurzel haben die Kirchen auf Grund ihrer Anerkennung als Körperschaften des öffentlichen Rechts gem. Art. 137 Abs. 5 WRV i. V. m. Art. 140 G G organisationsrechtlich eine Sonderstellung, die begrifflich an genuin staatlichen Reservaten orientiert ist. Abs. 1 und Abs. 5 des Art. 137 WRV bilden damit gleichsam eine aus zwei Komponenten bestehende Einheit. Wer begrifflich erfassen will, was unter Staatskirchenverbot zu verstehen ist, hat dies immer im Blick auf das nur scheinbar dem Verbot institutioneller Verbindung von Staat und Kirche widersprechende öffentlich-rechtliche Organisationsstatut zu untersuchen; soll andererseits der Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechts in seiner Verbindung mit den Kirchen auf seine inhaltliche Ausformung geprüft werden, zeigt Art. 137 Abs. 1 WRV Interpretationsrichtlinien auf, die von vornherein einer Einordnung dieses Rechtsstatus in die allgemeine staatsbezogene Begrifflichkeit der Körperschaft des öffentlichen Rechts entgegenstehen. Verfassungssystematisch ist daher die bereits bei Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung historisch überholte Auslegung des Begriffs „Staatskirche" gem. Art. 137 Abs. 1 WRV im Sinne von Staatskirchentum vergangener Prägung nicht mehr aktuell 86 . Gerade im Rahmen des Sinnzusammenhangs mit Art. 137 Abs. 5 WRV und der verfassungskräftigen Garantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts dient das Staatskirchenverbot heute im wesentlichen — formelhaft verkürzt — der Freiheit der Kirche vom Staat, der Freiheit der Kirche im Staat und der dem notwendig korrespondierenden Freiheit des Staates von der Kirche 87 , Freiheit dabei freilich nicht mißverstanden als aus der Institutionenrivalität von Staat und Kirche erwachsenes Mißtrauen gegeneinander, sondern im Hinblick auf die durch das öffentlich-rechtliche Organisationsstatut von Verfassungs wegen getroffene Wertentscheidung, verstanden als sozial-partnerschaftliche Mitverantwortung beider Daseinsmächte für das gemeine Ganze, für das öffentliche im Verständnis neuerer staatsund gesellschaftstheoretischer Sicht. Das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 137 Abs. 1 WRV gefolgerte Verbot staatskirchlicher Rechtsformen 88 dient daher mit Blick auf die Statusgewährleistung nicht dem Verbot jeglicher staatlich-kirchlicher Verschränkungen, sondern will in erster Linie der Aushöhlung rechtlicher Eigenständigkeit und Unabhängigkeit beider Daseinsmächte wehren 89 , was zugleich etwaige, dem System der Kirchenhoheit entsprechende staatliche Aufsichtsrechte über die

86

Zum Rechtszustand der Landeskirchenrechte und des Reichskirchenrechts am Ausgang des 19. Jahrhunderts vgl. W. KAHL Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik, Erste Hälfte, 1894, S. 204ff.

87

88

89

Vgl. MIKAT Kirchen und Religionsgemeinschaften ((Fn. 1), S. 44ff. Vgl. BVerfGE 19, 206 (216); B a y V e r f G H 21, 153 (156). Vgl. B V e r f G E 18, 385 (386f); ähnlich BVerfG E 30, 415 (428); 42, 312 (321 f, 332).

1078

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Kirche ausschließt 90 . Berücksichtigt man z. B. die im Erhalt der Anstaltsseelsorge, dem Fortbestand der christlichen Gemeinschaftsschule und auch dem Sonn- und Feiertagsschutz durch die Verfassung selbst konkretisierten übergreifenden Nahtstellen zwischen Staat und Kirche, so beinhaltet ein gegenwartsorientiertes Verständnis des Staatskirchenverbots im Grundsatz ein Identifikationsverbot des Staates mit einer bestimmten religiös-weltanschaulichen Auffassung. Eben dies meint auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 14. 12. 1965, in dem es ausführt: „ D a s Grundgesetz legt durch Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 G G sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 G G dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse" 91 . Die damit intendierte Befreiung von wechselseitigen Abhängigkeiten zielt dementsprechend auf Scheidung der Aufgabenbereiche unter Aufrechterhaltung einverständlicher Wahrnehmung der für das soziale Ganze nach dem beiderseitigen Selbstverständnis gemeinsam bestehenden Aufgaben. In diesem Sinne ist es auch zulässig und weiterhin gerechtfertigt, von Koordination im Verhältnis von Staat und Kirche zu sprechen, soweit darunter ein am Problemhorizont gesamtgesellschaftlicher öffentlicher Aufgaben orientiertes politisches Prinzip verstanden wird. Dies vorausgesetzt, ist auch der Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechts, der den altkorporierten Kirchen als „geborenen" Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts 92 kraft Bundesverfassungsrechts zukommt, und auf dessen Verleihung die übrigen Religionsgemeinschaften unter bestimmten Kautelen einen Rechtsanspruch besitzen, mehr als nur ein „rätselhafter Ehrentitel" 93 . Die Stellung der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts ist auch mehr als ein — wenn auch verfassungsrechtlich legitimiert — historisches Relikt, sie ist vielmehr durchaus im Rahmen eines freiheitlich-politischen Gemeinwesens sinnvoll, rechtfertigt sich, wie die Erfahrung vor allem auch nach 1945 zeigt, als angemessene, mit Religionsfreiheit und Parität zu vereinbarende institutionelle Lösung eines Verfassungsproblems der modernen Gesellschaft. Sie ist eines unter anderen verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Mitteln, durch das rechtlich gewährleistet werden soll, daß die politische Gesellschaft für Aufgaben, die ihr innerhalb eines freiheitlich-politischen Gemeinwesens zufallen, funktionsfähig ist 94 . Materiellrechtlich handelt es sich dabei um einen Verfassungsstatus sui generis, der den Kirchen allgemeine Rechtsfähigkeit zuerkennt — soweit sie diese, wie es meist bei den kleineren Religionsgemeinschaften der Fall ist, nicht als eingetragener Verein schon vorher besaßen — und ihnen durch die Zuordnung zum Bereich des öffentli90 91 92

93

Instruktiv insoweit KAHL (Fn. 86) S. 350. BVerfGE 19, 206 (216). Vgl. E. FRIESENHAHN Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: HdbStKirchR I, S. 553 ff. So aber R. SMEND Staat und Kirche nach

94

dem Bonner Grundgesetz, in: ZevKR Bd. 1 (1951), S. 9. MIKAT Bemerkungen zur Ortsbestimmung (Fn. 1), S. 427f. Vgl. bes. auch K. G. MEYER-TESCHENDORF

Der

Körperschaftsstatus

der Kirchen, in: AöR Bd. 103 (1978), S. 289 ff.

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1079

chen Rechts den Weg zu spezifisch von diesem Rechtsstatus abhängigen Gestaltungsrechten ermöglicht. Dazu gehören insbesondere die öffentlich-rechtliche Dienstherrenfähigkeit, die autonome Organisationsgewalt mit Wirkung für den weltlichen Bereich und das verfassungsrechtlich in Art. 137 Abs. 6 WRV i. V. m. Art. 140 G G gesondert garantierte kirchliche Besteuerungsrecht. In dieser Verleihung öffentlichrechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten an die gesellschaftliche Institution Kirche besteht nur scheinbar ein Widerspruch zum säkularisierten Charakter des modernen Staates. Auch hier liegen die Wurzeln eines gegenwartsrationalen Verständnisses in der angesprochenen komplexen Verschränkung staatlich-gesellschaftlicher Kräfte, die zunehmend der weitergehenden Frage Raum geben, inwieweit auch anderen Kräften von öffentlicher Bedeutsamkeit der Bereich des „öffentlichen" mit normativer, wenn auch eigener Wirksamkeit zu eröffnen ist. Damit soll nicht gesagt werden, daß den Kirchen bereits auf Grund ihrer Sozialbedeutung auch normativ-organisationsrechtlich ein entsprechender Status zukäme. Das ist bei den Kirchen ebensowenig wie bei den übrigen Verbänden der Fall. Erkennt der Staat jedoch die Kirchen als Integrationskräfte an, die den Bereich des Partikularen überschreiten und denen eine das Gesellschaftsganze umgreifende Bedeutung zukommt, und befindet der Staat auf Grund einer „vorkonstitutionell" getroffenen Wertung diese Wirksamkeit als förderlich für den Bestand des politischen Gemeinwesens insgesamt, so ist eine Statusanhebung auf die Ebene des öffentlichen Rechts, wenn auch kein anspruchsrechtlich verbürgter, so doch ein legitimer rechtlicher Ausdruck dieser Bewertung 95 . O b dieser Status als Gesamtrechtsstatus zu bezeichnen ist, bleibe hier dahingestellt, ohnehin sollte diese Frage nicht überbewertet werden. Zu beachten ist insofern nur, daß der Verfassungsstaat rechtliche Sonderzuweisungen, zu denen auch organisationsrechtliche Statusbegünstigungen gehören, nur erlaubt, wenn diese sich aus der Gesamtordnung der Verfassung zu legitimieren wissen. Der teilweise behauptete Charakter der Statusqualität als Verlegenheitsbezeichnung für ein Bündel überkommener Privilegien wird diesem Grundsatz demnach nicht gerecht 96 . Der fortschreitenden Theorie vom öffentlichen als verfassungstheoretischem Problem erscheinen derartige Kategorien im übrigen obsolet. Neue Aspekte des öffentlich-rechtlichen Status weisen hier die Frage auf, ob es einen Gesamtbereich des „öffentlichen" mit normativer Erheblichkeit gibt, der zwischen dem öffentlich-rechtlichen im staatsbezogenen Sinne und dem Privaten anzusiedeln ist. Die Prüfung dieser insbesondere im Rahmen eines allgemeinen Verbänderechts angesiedelten Problematik ist noch nicht abschließend erfolgt. Von Interesse ist indes die einstweilen erst in Ansätzen vorhandene Überlegung, die den öffentlich-rechtlichen Status der Kirchen gleichsam als „Pionier" eines Staatsverbänderechts begreift und paradigmatisch am kirchlichen Sonderrechtsstatus Probleme allgemeiner staatlich-gesellschaftlicher Zuordnungsfra95

96

Vgl. dazu jetzt J. TRÖDER Staatskirchenrechtliche Gesamtstatusprobleme in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, Diss. iur. (Bochum), 1979. Vgl. dazu K. HESSE Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich,

1956, S. 67; ferner R. SMEND Zur Gewährung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an Religionsgemeinschaften gem. Art. 137 Abs. 5 WRV, in: ZevKR Bd. 2 (1952/53), S. 376.

1080

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

gen erörtert 97 . Richtig an dieser Weichenstellung ist jedenfalls, daß das Statusproblem zugleich einen Reflex der Frage nach dem Wesen des Staates auf verfassungsorganisatorischem Gebiet bedeutet, die dazu erforderliche umgreifende staats- und gesellschaftstheoretische Grundlagenschau aber noch aussteht.

IV. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht des Art. 137 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG Art. 137 Abs. 3 W R V i. V. m. Art. 140 G G gewährleistet das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in „ihren" Angelegenheiten unter dem Vorbehalt des für alle geltenden Gesetzes 98 . Zu den eigenen Angelegenheiten im Sinne dieser Vorschrift gehören alle diejenigen Bereiche der Rechtsetzung, Rechtsprechung und Verwaltung, die „durch den kirchlichen Auftrag umschrieben und für den Vollzug des Dienstes nach dem Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft unentbehrlich" 99 sind. Da nun aber Art. 137 Abs. 3 W R V selbst nicht regelt, welches diese „eigenen" Angelegenheiten im einzelnen sind, stellt sich sogleich die Frage, wer im Streitfall für die Festlegung des Umfangs dieser Gegenstände zuständig ist 1 0 0 . Unproblematisch ist dabei eine Beurteilung der rein innerkirchlichen Aufgaben im eigentlichen Sinne, also derjenigen Tätigkeitsbereiche, die ausschließlich geistlich-religiöser Natur sind. Hier kommt allein den Kirchen das Recht eigener Bestimmung von Art und Umfang der jeweiligen, ausschließlich an Hand religiöser Kategorien zu beurteilenden Angelegenheiten zu, deren Beurteilung dem Staat auf Grund seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität entzogen ist; die staatliche Gerichtsbarkeit hat insofern lediglich die Funktion einer Art von Mißbrauchskontrolle. Besondere Probleme ergeben sich erst bei denjenigen Aufgaben, deren Wahrnehmung Auswirkungen in den staatlich-rechtlichen Bereich zeigt, wobei die Bedeutung dieser Frage dadurch verstärkt wird, daß es „kaum eine Angelegenheit (gibt), die die Kirchen nach ihrem Selbstverständnis eigenständig zu ordnen berufen sind, . . . die nicht mit Auswirkungen .hinübergreift' in einen Bereich des öffentlichen, des Gesellschaftlichen, also in den Bereich, innerhalb dessen der Staat ordnen kann" 1 0 1 . Hier ist zu prüfen, ob über Umfang und Reichweite dieser Gegenstände den Kirchen selbst, dem Staat oder unabhängigen Gerichten, die an Hand objektiver Kriterien wie dem der Natur der Sache judizieren, die Kompetenz-Kompetenz zukommt. Wenngleich heute, worauf SCHLAICH zutreffend hinweist, dem kirchlichen Recht allgemein das Vertrauen entgegengebracht wird, „daß es staatliche Interessen nicht verletze, daß es die Verantwortung auch für die staatlichen Interessen selbst wahrnehme" 1 0 2 , und alle drei Meinungen im Ergebnis

97

98

Dazu eingehend MEYER-TESCHENDORF ( F n . 9 4 ) S. 289ff. Zum folgenden vgl. die eingehende Darstellung von K. HESSE Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR I, S. 409ff.

99

v . CAMPENHAUSEN ( F n . 4 0 ) A r t . 1 4 2 , R d n .

20. I»» Vgl. dazu HESSE (Fn. 98) S. 424 ff. H» BVerfGE 42, 312 (334). 1 0 2 K. SCHLAICH Der „dritte W e g " — eine kirchliche Alternative zum Tarifvertragssystem?, in: J Z 1980, S. 214.

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1081

im wesentlichen konvergieren dürften, bedarf die Problematik mit Rücksicht auf eine Rechtsfolge von elementarer rechtlicher Bedeutung der Klärung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nämlich unterstehen alle diejenigen rein innerkirchlichen Maßnahmen nicht der Schranke des für alle geltenden Gesetzes, die in unmittelbarer Zweckbeziehung zu dem geistlich-religiösen Auftrag der Kirche stehen und keine unmittelbaren Rechtswirkungen in den staatlichen Zuständigkeitsbereich haben. Denn, so legt das Bundesverfassungsgericht dar, infolge ihrer „öffentlichen Rechtsstellung und öffentlichen Wirksamkeit . . ., die sie (seil, die Kirchen) aus ihrem besonderen Auftrag herleiten und durch die sie sich von anderen gesellschaftlichen Gebilden grundsätzlich unterscheiden, ist kirchliche Gewalt zwar öffentliche, aber nicht staatliche Gewalt. Nur soweit die Kirchen vom Staat verliehene Befugnisse ausüben oder soweit ihre Maßnahmen den kirchlichen Bereich überschreiten oder in den staatlichen Bereich hinausreichen, betätigen die Kirchen mittelbar auch staatliche Gewalt mit der Folge, daß ihre Selbstbestimmung eine in der Sache begründete Einschränkung e r f ä h r t . . . Ist die Kirche nur im Bereich ihrer innerkirchlichen Angelegenheit tätig geworden, dann liegt kein Akt der öffentlichen Gewalt vor, gegen den der Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde gegeben sein könnte. Die von Verfassungs wegen anerkannte Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der kirchlichen Gewalt würde geschmälert werden, wenn der Staat seinen Gerichten das Recht einräumen würde, inner-kirchliche Maßnahmen, die im staatlichen Zuständigkeitsbereich keine unmittelbaren Rechtswirkungen entfalten, auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen. Deshalb sind insoweit die Kirchen im Rahmen ihrer Selbstbestimmung an das ,für alle geltende Gesetz' im Sinne des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV nicht gebunden"103 (Hervorhebung vom Verf.). Entsprechend dazu legt nicht jedes allgemeine Gesetz den Kirchen Schranken auf, vielmehr können, wie das Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle ausführt, „zu den für alle geltenden Gesetzen . . . nur solche Gesetze rechnen, die für die Kirche dieselbe Bedeutung haben wie für den Jedermann. Trifft das Gesetz die Kirche nicht wie den Jedermann, sondern in ihrer Besonderheit als Kirche härter, ihr Selbstverständnis, insbesondere ihren geistig-religiösen Auftrag beschränkend, also anders als den normalen Adressaten, dann bildet es insoweit keine Schranke" 104 (Hervorhebungen von Seiten des Gerichts). Daraus erhellt, daß die Fragen, ob eine Regelung als eigene — innerkirchliche —, staatliche oder gemeinsame Angelegenheit — mit unmittelbarer Wirkung innerhalb des kirchlichen und des staatlichen Bereichs — einzuordnen ist, ob eine Angelegenheit der Schranke des allgemeinen Gesetzes unterliegt, und wer über den Umfang der eigenen Angelegenheiten bestimmt, eng miteinander verknüpft sind. Wenn das Bundesverfassungsgericht dabei zwischen ausschließlich innerkirchlichen Maßnahmen, die keiner Schranke unterliegen, und kirchlichen Maßnahmen mit unmittelbarer Außenwirkung in den staatlich-rechtlichen Bereich unterscheidet (hierzu kommen noch Maßnahmen im Bereich, der auf dem Staat verliehenen Befugnissen beruht), unterstellt es erkennbar nur die Angelegenheiten der Schranke des für alle geltenden B V e r f G E 18, 385 (387f).

104

B V e r f G E 42, 312 (334).

1082

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

Gesetzes (und auch diese nicht ausnahmslos), die herkömmlich als „gemeinsame Angelegenheiten" von Staat und Kirche begriffen werden, während die Angelegenheiten, die dem tradierten Sprachgebrauch entsprechend als „eigene Angelegenheiten" verstanden werden, keiner Schranke unterstehen. Eigene Angelegenheiten im Sinne von Art. 137 Abs. 3 WRV und eigene Angelegenheiten im Sinne der im wissenschaftlichen Schrifttum üblichen Trennung von den staatlichen Angelegenheiten wären dann ein Unterschied. Der Unterschied ist jedoch nur ein scheinbarer, wenn Art. 4 G G zur Beleuchtung der Problematik hinzugenommen wird, wodurch sich einmal mehr die enge Verzahnung von Art. 4 und 140 G G zeigt. Verband sich in der Weimarer Zeit noch ein stärker akzentuiertes Trennungsdenken mit betont etatistischen Elementen, wie die Anerkennung einer fortbestehenden Staatsaufsicht in den sog. „res externae" zeigt, so hat sich das Grundgesetz im Gegensatz dazu von dem Bestreben nach strikter Bereichsscheidung gänzlich gelöst. Insbesondere nimmt das Grundgesetz auf das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften durch Art. 4 G G in der Weise Rücksicht, daß es den einzelnen und den ihn repräsentierenden Religionsgemeinschaften überläßt zu entscheiden, was zur Religionsausübung gehört und was nicht, daß es das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften in Fragen von Umfang und Inhalt religiöser Lebensverwirklichung also zentral berücksichtigt. Von diesem Verständnis her kann es daher allein den Religionsgemeinschaften selbst obliegen, darüber zu befinden, was zum unaufgebbaren, elementaren Bestand der kirchlichen Ordnung gehört, was demnach schrankenlos gewährleistete eigene Angelegenheit ist, gleichgültig, ob diese Angelegenheit Reflexe in der Ordnung des politischen Gemeinwesens zeitigt. Die Frage, ob eine von den Kirchen als eigene Angelegenheit reklamierte Materie zugleich unmittelbar, gegenwärtig und wesensbezogen zur Ordnung des säkularisierten Gemeinwesens gehört und damit prinzipiell der Schranke des Art. 137 Abs. 3 WRV unterliegt, entscheidet sich materiell danach, was der objektiven Zweckbeziehung nach unter Berücksichtigung des durch Art. 4 GG geschützten Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaften als eigene Angelegenheit in diesem weiteren Sinn anzusehen ist. Die damit innerhalb der Aufgabenproblematik letztlich zu treffende Abwägung zwischen kirchlicher Freiheit und staatlicher Gemeinwohlverantwortung kehrt wieder bei der inhaltlichen Bestimmung der Schrankenklausel, die auch heute noch eines der schwierigsten Probleme des Staatskirchenrechts darstellt. Bei den Versuchen, dem sachlichen Inhalt des Gemeinwohlvorbehalts definitorisch gerecht zu werden, wird häufig übersehen, daß es sich hierbei nicht um eine alle Fälle nahtlos erfassende Generalklausel handelt, daß vielmehr die Prüfung für den jeweiligen Einzelfall neu erfolgen muß 105 . So kann es nicht verwundern, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 21. September 1976 106 die noch vom Bundesgerichtshof im Jahre 1956 im Anschluß an JOHANNES HECKEL vertretene Formulierung nicht aufgegriffen hat, wonach es sich bei den die kirchliche Selbstbestimmung beschränkenden

105

Vgl. M. HECKEL Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: W D S t R L Heft 26 (1968), S. 47.

106

BVerfGE 42, 312.

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1083

Gesetzen nur um solche handeln könne, „die sich als Ausprägung und Regelung grundsätzlicher, für unseren sozialen Rechtsstaat unabdingbarer Postulate darstellen" 1 0 7 . Wie der vier Jahre später zum Krankenhausgesetz des Landes NordrheinWestfalen ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu entnehmen ist, die auf das die „Jedermann-Formel" enthaltene sog. „Bremer-Mandats-Urteil" ausdrücklich mehrfach hinweist, ist unter der „Jedermann-Formel" nichts anderes zu verstehen als eine Güterabwägung zwischen Kirchenfreiheit und Schrankenklausel 108 , wobei, wie das Gericht weiter ausführt, „jedoch dem Eigenverständnis der Kirchen . . . ein besonderes Gewicht beizumessen" 1 0 9 ist. Am konkreten Fall der Prüfung des Krankenhausgesetzes auf seine Verfassungsmäßigkeit hat das Bundesverfassungsgericht daraus folgende, über den entschiedenen Einzelfall hinaus bedeutsame Schlüsse gezogen: „ O b und wieweit danach der Landesgesetzgeber durch das in Art. 140 G G , Art. 137 Abs. 3 WRV für kirchliche Einrichtungen . . . gewährleistete Selbstbestimmungsrecht etwa grundsätzlich (Hervorhebung des Gerichts) gehindert wäre, gesetzliche .Schranken' zu errichten, die in die vorhandenen eigenständigen Regelungen im Strukturbereich christlicher Krankenhäuser eingreifen und einer eigenverantwortlichen Fortentwicklung der dort bestehenden Ordnung entgegenstünden, . . ., bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. Denn selbst dann, wenn man in den angegriffenen Regelungen prinzipiell (Hervorhebung des Gerichts) ein für alle geltendes Gesetz im Sinne von Art. 137 Abs. 3 WRV sieht, ist damit noch nicht gesagt, daß diese staatliche Rechtsetzung in jedem Falle dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht vorgeht . . . Ein gesetzlicher Eingriff in die Organisation der kirchlichen Krankenhäuser läßt sich mithin nicht mit dem bloßen Hinweis rechtfertigen, die kirchliche Betätigung auf dem Gebiet der krankenhausärztlichen Betreuung und Versorgung wirke im modernen sozialen Rechtsstaat zwangsläufig in den staatlichen Zuständigkeitsbereich hinein und entfalte dort Auswirkungen, deren Lenkung und Regelung dem Staat nicht vorenthalten werden dürften. Daß christlicher Caritas und Diakonie im Staatsbereich ein hoher Stellenwert zukommt, bedeutet noch nicht, daß sie auch staatlicher Reglementierung unterworfen werden müssen. Der Gesetzgeber ist vielmehr auch dann, wenn er auf den Gebieten gemeinsamer Wahrnehmung von öffentlichen Aufgaben' durch Staat und Kirche mit seinen Reformvorstellungen den unantastbaren Kern des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nicht berührt, gehalten, Sinn und Geist der grundgesetzlichen Wertordnung zu beachten" 110 . Von besonderem Interesse ist dabei, daß das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang zugleich klarstellt, daß das kirchliche Selbstbestimmungsrecht seinem Wesen nach als notwendige, zur Verwirklichung voller Kirchenfreiheit unerläßliche Ergänzung erscheint 111 , und daß als Folgerung daraus das kirchliche Selbstbestimmungsrecht bei einem Entfallen von Art. 137 Abs. 3 WRV durch Art. 4 Abs. 1 und 2 G G ausgefüllt würde. 107

B G H Z 2 2 , 3 8 3 ( 3 8 7 ) ; J . HECKEL D a s s t a a t s -

kirchenrechtliche Schrifttum der Jahre 1930 und 1931, in: V e r w A r c h B d . 37 (1932), S.

282ff, bes. S. 284. So BVerfG, in: N J W 1980, S. 1895ff.

BVerfG, in: N J W 1980, S. 1896. "O BVerfG, in: N J W 1980, S. 1896. 1 1 1 Das stimmt überein mit der gleichlautenden 109

T h e s e v o n LISTL ( F n . 2 2 ) S . 3 7 8 .

1084

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen O r d n u n g

V. Staatsleistungen, Ablösungs auftrag und Kirchenguts garantie (Art. 138 WRV i. V. m. Art. 140 G G ) Für JOSEF ISENSEE gehört es „ z u den Merkwürdigkeiten des Grundgesetzes, daß die Verfassung des Leistungsstaates Staatsleistungen nur in einer Randbestimmung erwähnt und sich auch hier nicht auf die gegenwartsmächtige Wirksamkeit des Sozialstaates bezieht, sondern auf die Bewältigung von Verfassungsgeschichte . . , " 1 1 2 . U n d in der Tat hat es mit dem damit angesprochenen Art. 138 W R V 1 1 3 eine besondere Bewandtnis. Neben der Bestandsgarantie der dort normierten Leistungen des Staates an die Kirchen sieht das Gesetz zugleich deren — wenngleich entschädigungspflichtige — Ablösung für die Zukunft vor. Wir haben bereits eingangs versucht deutlich zu machen, daß dieser Zwiespalt ein Ergebnis der historischen Situation nach 1918 war, in der man zwar mit der Verankerung des Kirchensteuerrechts in Art. 137 Abs. 6 WRV den Kirchen um ihrer Unabhängigkeit willen eigene Finanzquellen erschließen wollte (die Berechtigung der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften zur Erhebung von Kirchensteuern dient damit nicht der institutionellen Verbindung von Staat und Kirche, sondern im Gegenteil der Entflechtung staatlich-kirchlicher Verschränkungen), im dauernden Fortbestand der nicht minder wichtigen finanziellen Zuwendungen des Staates an die Religionsgemeinschaften aber die Gefahr einer zu starken Bindung sah, die es, wenn schon nicht sofort zu verhindern, so doch auf Dauer aufzuheben galt 1 1 4 . Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Inkrafttreten dieses Verfassungsauftrags läßt die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften jedoch bereits auf sich warten. Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur. Doch wenden wir uns zunächst dem Begriff der Staatsleistung zu. Unter Staatsleistungen, die dem Ablösungsauftrag unterliegen, sind nur diejenigen finanziellen Zuwendungen des Staates an die Religionsgemeinschaften zu verstehen, die ,,in das historisch ausgebildete System der staats-kirchenrechtlichen Beziehungen" 1 1 5 gehören. Betroffen von der Weimarer Regelung des Art. 138 Abs. 1 WRV sind demnach nur jene finanziellen Zuwendungen des Staates (sog. positive Staatsleistungen) und vielfältigen Abgabenbefreiungen der Kirchen auf Grund staatlich-rechtlicher Regelung (sog. negative Staatsleistungen), die dem Staat als historische Verpflichtung

J . ISENSEE Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: H d b S t K i r c h R II, S. 51, mit umfangreicher Bibliographie S. 51 f. » 3 Art. 138 W R V lautet: (1) D i e auf G e s e t z , Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. D i e G r u n d s ä t z e hierfür stellt das Reich auf. 112

114

(2) D a s Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen werden gewährleistet. Z u m folgenden U . SCHEUNER Staatliche und kommunale Leistungspflichten an die Kirc h e n ( A r t . 138 A b s . 2 W R V ) , in: MIKAT K i r -

che und Staat in der neueren Entwicklung ( F n . 1), S. 2 6 7 - 2 8 6 ; ferner WEBER ( F n . 10); WEHDEKING ( F n . 10). 115

WEBER ( F n . 10) S. 4 7 .

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1085

aus der Zeit vor 1919 erwachsen sind 1 1 6 , vornehmlich also die mit der Säkularisation des Kirchengutes durch den Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803 begründete Entschädigungspflicht des Staates. Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 28. April 1965 zur Definition der Staatsleistungen ausgeführt: „Der Begriff der ,Staatsleistung' in Art. 138 W R V umfaßt nicht nur Geldzahlungen und Naturalleistungen, die der Staat zu den sächlichen und persönlichen Kosten der Religionsgemeinschaften beiträgt. Zweck des Art. 138 W R V sollte sein, ,die vermögensrechtliche Stellung der Kirche, soweit sie auf dem bisherigen Zusammenhang mit dem Staate beruht, bis zur Neuregelung des finanziellen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche aufrechtzuerhalten' . . . Von diesem Grundsatz ausgehend, hat das Reichsgericht in mehreren Entscheidungen die Befreiung der Kirchen von verschiedenen Steuern als Staatsleistungen anerkannt mit der Begründung, daß die Steuerfreiheit ,einen wesentlichen Teil derjenigen Unterstützung bildete, die der Staat der Kirche zur Bestreitung ihrer Bedürfnisse gewährte, und daß er, wenn sie nicht bestanden hätte, statt ihrer entsprechende Leistungen an die Kirche hätte machen müssen' . . . Zusätzlich hat das Reichsgericht ausgesprochen, die Gewährung kirchlicher Steuerfreiheiten seitens der Länder werde — von besonders gelagerten Fällen abgesehen — regelmäßig die rechtliche Bedeutung einer solchen ,negativen Staatsleistung' haben; denn .überall, wo der Kirche Steuerfreiheit gewährt ist, handelt es sich aller Regel nach um einen Bestandteil der zwischen Staat und Kirche bestehenden vermögensrechtlichen Beziehungen, die nach Art. 138,173 W R V bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes aufrechterhalten werden sollen' . . , " 1 1 7 . Diese Definition nimmt zugleich Bezug auf das formale Erfordernis, an dem der Erlaß von Ablösungsgesetzen durch die Länder bis heute gescheitert ist. Ganz unabhängig von den bestehenden vertraglichen Bindungen setzt die Ablösung durch die Länder den vorherigen Erlaß eines Grundsatzgesetzes durch den Bund voraus, an dem es bisher fehlt. O b es dazu überhaupt kommt, ist überdies fraglich. SCHEUNER ist hier zuzustimmen, der anmerkt, daß der verfassungsrechtliche Auftrag zwar nicht durch bloßen Zeitablauf erloschen ist. „Allerdings wird man, da Art. 138 Abs. 1 bereits als unausgeführte Vorschrift in das Grundgesetz übergegangen ist, dem Auftrag dieser Bestimmung keine zeitliche Dringlichkeit mehr beimessen können, und die weitere Nichtausführung dürfte daher nicht als Mißachtung eines dringlichen Verfassungsgebotes erscheinen. In jedem Fall aber läßt das Gebot des Art. 138 Abs. 1 der staatlichen Entschließung einen gewissen Spielraum, der auch durch vertragliche Abmachungen näher ausgefüllt werden darf, nach denen der Staat einen vollen Ausgleich gewähren würde — das entspricht sowieso Art. 138 Abs. 1 — oder die Ablösung nur im Wege der Vereinbarung mit den Religionsgemeinschaften vornehmen werde" 1 1 8 . O b auf lange Sicht die vom Weimarer Verfassungsgesetzgeber einstmals intendierte finanzielle Entflechtung von Staat und Kirche überhaupt noch einmal an Aktualität gewinnen wird, ist nicht nur eine offene Frage, sondern auch eine cura 116

V g l . ISENSEE ( F n . 1 1 2 ) S . 5 2 s o w i e SCHEU-

117

B V e r f G E 19, 1 (13F).

NER (Fn. 114) S. 2 7 5 f .

118

SCHEUNER (Fn. 114) S. 2 7 6 f .

1086

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung

posterior, zumal überdies eine dauernde wiederkehrende Geldrente an Stelle einer einmaligen finanziellen Abgeltung der bestehenden Verbindlichkeiten allgemein für durchaus zulässig gehalten wird 1 1 9 . Die neuerdings auf den behaupteten Charakter des Art. 138 Abs. 1 WRV als „Institutionsliquidation" gestützte gegenteilige Ansicht 120 verkennt, daß die Frage einer finanziellen Entflechtung von Staat und Kirche mit Rücksicht auf den Gesamtkontext sozialstaatlicher Mittelvergabe, in den bereits begrifflich auch die Staatsleistungen gehören, zukünftig unter dem Gesichtspunkt kulturstaatlicher Förderung ein anderes Gewicht erhält. K. G. M E Y E R - T E S C H E N D O R F spricht in diesem Zusammenhang mit Recht von einer gebotenen Umkehrung der Fragestellung: „Kirchenförderung nicht mehr als staatskirchenrechtliches Privileg, sondern als kulturstaatliche Normalität" 121 , eine Problematik, die auf die allgemeine Fragestellung nach dem Inhalt religiös-weltanschaulicher Neutralität weist und oben bereits ausgebreitet wurde. Art. 138 Abs. 1 WRV bildet mit seiner Gewährleistung der Staatsleistungen eine Ergänzung zur allgemeinen Garantie des Kirchengutes gem. Art. 138 Abs. 2 WRV 1 2 2 . Nach dieser Bestimmung sind „Eigentum und andere Rechte" der Religionsgemeinschaften und damit das gesamte Kirchengut verfassungskräftig gegen säkularisierende Eingriffe und Beeinträchtigungen geschützt 123 . Zum Schutzgegenstand der Vorschrift gehört somit „der gesamte vermögensrechtliche Bestand der Religionsgesellschaften, der den Zwecken des Kultus, des Unterrichts und der Wohltätigkeit dient . . . Die Zweckbestimmung stellt klar, daß die Garantie einen funktionellen Sinn hat. Sie soll das den kirchlichen Aufgaben gewidmete Vermögen sichern, auch wenn es diesem Zweck nur mittelbar, etwa durch Erbringung von Einnahmen, dient" 124 . Dieser Zweck des Art. 138 Abs. 2 WRV wird, worauf wiederum S C H E U N E R ZU Recht hingewiesen hat 125 , stets auch bei einer Prüfung der Fortgeltung kommunaler Leistungspflichten, inbesondere in Gestalt der Kirchenbaulast, zu beachten sein, wenn es darum geht, unter dem Aspekt des „Wegfalls der Verhältnisse" ein Entfallen kommunaler Pflichten in Erwägung zu ziehen 126 . Wenn Art. 138 Abs. 2 WRV vor Bestrebungen schützen soll, die auf Entzug oder Beschränkung titulierter kirchlicher Ansprüche zielen, wird gerade der Gedanke des „Wegfalls der Verhältnisse" an diesem Normzweck mit besonderer Strenge zu messen sein.

VI. Verfassungspolitischer Ausblick Der Problembereich Staat und Kirche, dem wir uns zugewandt haben, konnte in unserer Darstellung nicht in Einzelheiten ausgebreitet werden, die Begrenzung auf 119

V g l . ISENSEE ( F n . 1 1 2 ) S . 7 4 s o w i e v . PENHAUSEN ( F n . 1 ) S .

und

CAM-

Statsgewalt,

in:

QUARITSCH/WEBER

(Fn. 1) S. 4 4 - 7 8 .

169.

S o z . B . H . J . BRAUNS S t a a t s l e i s t u n g e n an d i e

123

Kirchen und ihre Ablösung, 1970, S. 64 ff.

124

SCHEUNER ( F n . 1 1 4 ) S . 2 7 3 .

121

MEYER-TESCHENDORF ( F n . 1 6 ) S .

125

SCHEUNER ( F n . 1 1 4 ) S . 2 8 5 .

122

Dazu grundlegend J. HECKEL Kirchengut

126

Nachweise der Rechtsprechung bei SCHEUNER (Fn. 114) S. 2 8 0 f f .

120

142.

V g l . SCHEUNER ( F n . 1 1 4 ) S . 2 7 4 f .

3. Abschnitt. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (MIKAT)

1087

einige zentrale Fragestellungen war geboten. Zahlreiche Fragen mußten ausgespart werden, wozu insbesondere auch das für das Staat-Kirche-Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland so wichtige Vertragskirchenrecht gehört, dem nach wie vor große Bedeutung zukommt, wie die zahlreichen Konkordate und Kirchenverträge, die nach 1949 geschlossen wurden, anschaulich belegen. Natürlich soll nicht bestritten werden, daß es im freien Ermessen des Staates — wie auch der Kirche — steht, ob er mit den Kirchen Verträge schließen will oder nicht; darauf hat nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich hingewiesen 127 . Hier handelt es sich letztlich um Fragen politischer Opportunität, die sich allerdings an der — von uns an anderer Stelle ausführlich erörterten — Koinzidenz von werthaften Zielvorstellungen und tatsächlichen Bedürfnissen sowohl der Gesamtgesellschaft als auch der religiösen Kräfte orientieren sollten 128 . Verfassungsrechtswissenschaft und Verfassungspolitik können hierbei nicht übersehen, daß Staat und Gesellschaft, insbesondere wenn sie auf Kulturtraditionen aufbauen, die sich in einem langen geschichtlichen Prozeß entwikkelt haben und die bei allem Wandel der Zeit auch in der Gegenwart lebenskräftig sind, ein erhebliches Eigeninteresse daran haben müssen, die religiösen Kräfte in ihrer öffentlichen Potentialität zu aktivieren. Im pluralen, freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ist die Bewältigung der damit gegebenen Aufgaben — für die vor allem auch das auf Zusammenwirken angelegte Vertragskirchenrecht sich als angemessen und geeignet erweist — Staat und Kirche bleibend auferlegt.

127

Vgl. BVerfGE 19, 1 (12).

128

V g l . MIKAT O r d n u n g s p r o b l e m a t i k ( F n . 1) S.

410.

7. Kapitel

Staatliche Funktionen Ubersicht 1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung ( T H O M A S E L L WEIN) I. Grundlegung 1. Zur Systematik des Grundgesetzes 2. Staatsfunktionen a) Zur Staatsfunktionslehre . . b) Staatsfunktionen und Gesetz . II. Gesetz und Gesetzgebung 1. Gesetz und Parlament a) Rechtsstaatlicher Gesetzesbegriff b) Die Entscheidung des Grundgesetzes 2. Gesetzesbereich und Gesetzesinitiative a) Allgemeine und besondere föderalistische Bedingungen . . b) Die föderalistische Aufgabenteilung c) Die Gemeinschaftsaufgaben . d) Die Ermittlung des Gesetzesbedarfs 3. Gang der Gesetzgebung a) Vorbereitungsphase und Gesetzesinitiative b) Parlamentarische Phase . . . c) Interorgan-Phase 4. Sonderformen der Gesetzgebung 5. Probleme des Gesetzgebungsprozesses a) Gefährdung demokratischer Prinzipien b) Gefährdung rechtsstaatlicher Prinzipien c) Gefährdung föderalistischer Prinzipien

1093 1095 1095 1096

1097 1097 1099 1100 1100 1101 1103 1104 1106 1106 1107 1108 1111

6. Probleme des Gesetzes 1119 a) Der legislatorische Pragmatismus 1119 b) Gesetz - Politik - Planung . 1120 III. Regierung und Verwaltung 1. Bundes- und Landesverwaltung — Organisation und Probleme . a) Die Regelungen des Grundgesetzes b) Folgen des Nebeneinander von Bundes- und Landesverwaltung 2. Rechtskultur und Verwaltungskultur 3. Strukturwandel der Verwaltung . a) Funktionale Veränderungen . b) Strukturelle Veränderungen . 4. Veränderungen der Regierungsfunktionen a) Darstellungs- und Beurteilungsprobleme b) Erweiterung der Regierungsfunktionen und Identitätsprobleme

1123 1124

1125 1127 1129 1129 1131 1133 1133

1136

IV. Staatswandel und Staatsreform 1. Zur Ratio des Grundgesetzes . 1140 2. Planung als grundlegende Regierungsfunktion 1142 3. Staatsreform 1145

1112 1113 1115 1117

2. Abschnitt. Öffentlicher Dienst (JOSEF ISENSEE)

I. öffentlicher Dienst als verfassungsrechtliches Thema 1. Der wesenhafte Bezug zum Staat 1149

1090

7. Kapitel. Staatliche Funktionen 2. Die Unterscheidung von Dienst und Amt 1150 3. öffentliche Ämter außerhalb des öffentlichen Dienstes 1151

II. Die gegenseitige Abhängigkeit von öffentlichem Dienst und verfassungsrechtlicher Grundordnung 1. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des öffentlichen Dienstes . 2. Der öffentliche Dienst in seiner Bedingtheit durch die Verfassung a) Das Amt der Republik ... b) Die Herrschaftsordnung der parlamentarischen Demokratie c) Der Leistungsauftrag des sozialen Rechtsstaats 3. Die Verfassung in ihrer Bedingtheit durch den öffentlichen Dienst a) Der öffentliche Dienst als Verfassungsvorausetzung . . b) Das Beamtentum als geschichtlicher Wegbereiter deutscher Verfassungsstaatlichkeit III. Der Zugang zum öffentlichen Dienst 1. Der Sinn des Art. 33 II G G . . a) Chancengleichheit durch Leistungsauslese b) Organisationsnorm und Grundrecht 2. Voraussetzung der ZugangsGleichheit: das verfügbare öffentliche Amt a) Organisations- und haushaltsrechtliche Vorentscheidungen b) Ämterbesetzung und Beschäftigungspolitik 3. Kriterien des Ämter-Zugangs . a) Die Eignung für das Amt . . b) Die Gleichheit aller Deutschen c) Verbot eignungsfremder Maßstäbe d) Sonderfall: Parteipatronage . 4. Der grundrechtliche Schutz des Bewerbers 5. Kompetenz und Verwaltungsverfahren a) Die Personalhoheit des Ressortministers

1151 1152 1152

1153 1156

1158 1158

1159

1160 1160 1160

1161 1161 1161 U 62 1162 1163 1163 1164 1165 1166 1166

b) Verfahrensrechtliche Voraussetzungen 1167 6. Rechtliche Eignungsauslese oder politische Wahl — die dienstrechtliche Gewaltenteilung in der Demokratie 1168 IV. Die grundgesetzliche Garantie des Berufsbeamtentums 1. Der Funktionsvorbehalt (Art. 33 IV GG) a) Die Schutznorm zugunsten der Berufsbeamten b) Der Vorbehaltsbereich der hoheitsrechtlichen Befugnisse c) Rechtspolitische Folgerungen 2. Die Strukturgarantie Art. 33 V G G a) Kernbestand von Strukturprinzipien b) Tradition und Evolution . . c) Der Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der Grundstruktur der Verfassung d) Das verfassungsrechtliche Bild des Berufsbeamtentums in den hergebrachten Grundsätzen e) Der Regeltypus des Lebenszeitbeamten und die Zulässigkeit von Ausnahmen f) Die normative Kraft der hergebrachten Grundsätze . . . g) Adressaten der Strukturgarantie 3. Sonderstatus und allgemeine Rechtsgleichheit 4. Grundrechte und Rechtsschutz . a) Der Bereich des Amtes . . . b) Das Dienstverhältnis c) Der Privatbereich 5. Mitbestimmung V. Verfassungsrechtliche Besonderheiten des Richterstatus und des Soldatenstatus 1. Der Berufsrichter 2. Der Berufssoldat

1170 1170 1171 1174 1176 1176 1176

1178

1179

1182 1184 1185 1186 1187 1188 1188 1189 1190

1191 1192

VI. Verfassungsrechtliche Aspekte 1. Die Kehrseite der grundgesetzlichen Garantie des Beamtentums 1193 2. Das arbeitsrechtliche Regelungsverfahren und die demokratische Staatsverfassung 1194

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1091

3. Das Arbeitsverhältnis als öffentliches Dienstverhältnis eigener Art 1196 VII. Die Gesetzgebungskompetenzen für das Recht des öffentlichen Dienstes 1197

4.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (WOLFGANG

HEYDE)

I. Die dritte Gewalt als besondere staatliche Grundfunktion 1. Art. 92 GG und die anderen verfassungsrechtlichen Grundlagen der Rechtsprechung a) Die Gerichtsbarkeit im System des gewaltenteilenden Rechtsstaats b) Rechtsprechung als staatliche Aufgabe c) Rechtsschutz durch Gerichte des Bundes und der Länder . 2. Begriff und Eigenart der Rechtsprechung 3. Weitere Aufgaben der Rechtspflege II. Die Gerichte — Ubersicht 1. Geschichtlicher Rückblick . . . 2. Grundaussagen des Art. 95 Abs. 1 und Abs. 3 GG 3. Fachgerichtsbarkeiten a) Die fünf Gerichtszweige . . b) Gerichte für besondere Sachgebiete c) Verwaltungsmäßige Zuordnung 4. Verfassungsgerichtsbarkeit (der Länder) 5. Rechtsprechung durch außerstaatliche Gerichte a) Schiedsgerichte b) Kirchliche Gerichte 6. Rechtsschutz durch internationale und supranationale Gerichte

3.

5.

1199

6. 7.

1199 1201 1202 1202 1205 1206 1207 1208 1208 1211 1212 1213 1215 1215 1216 1217

III. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen für die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren 1. Die allgemeine Bedeutung der Gerichtsverfassung und des Verfahrensrechts 1218 2. Die Gewährleistung des Weges zu den Gerichten 1219

8.

a) Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG b) Wirkungsvoller Rechtsschutz c) Grundrechtsschutz durch Verfahrensgestaltung Der gesetzliche Richter und das Verbot von Ausnahmegerichten Der Anspruch auf rechtliches Gehör Das Recht auf ein faires Verfahren a) Allgemeine Grundsätze . . . b) Chancengleichheit beim Zugang zu den Gerichten . . Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehungen Besondere Grundrechte des Beschuldigten a) Bestimmtheit der Strafbarkeit b) Verbot der Doppelbestrafung c) Keine Todesstrafe Der Grundsatz der Öffentlichkeit

IV. Organe der Rechtspflege 1. Die Stellung des Richters nach dem Grundgesetz a) Das Richterverhältnis . . . . b) Der Richter als unparteilicher Dritter c) Sachliche Unabhängigkeit . . d) Persönliche Unabhängigkeit e) Ehrenamtliche Richter . . . . 2. Nichtrichterliche Organe der Rechtspflege a) Rechtspfleger b) Staatsanwalt c) Vertreter des öffentlichen Interesses d) Rechtsanwalt e) Notar V. Die Funktion der Rechtssprechung im sozialen Rechtsstaat 1. Die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung a) Bindung „an Gesetz und Recht" b) Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung c) Politische Dimension der Rechtsanwendung 2. Probleme der Gerichtsbarkeit in unserer Zeit a) Rechtsgewährung als „knappes Gut"

1219 1220 1222 1223 1224 1225 1225 1227 1228 1229 1229 1230 1231 1231

1232 1232 1235 1236 1237 1237 1240 1240 1240 1241 1242 1242

1243 1243 1245 1247 1248 1248

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1092 b) Vom Gesetzes- zum Richterstaat 1249 c) Justizpraxis und Rechtssoziologie 1251

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (HELMUT SIMON)

Einführung

1253

I. Geschichtliche und rechtsvergleichende Einführung 1. Vorläufer des Bundesverfassungsgerichts 1254 2. Rechtsvergleichender Überblick 1258 II. Das Bundesverfassungsgericht und seine Richter 1. Entstehungsgeschichte und Rechtsgrundlagen 2. Zuständigkeiten und Verfahrensarten a) Organ- und Bund-LänderStreitigkeiten b) Verfassungsbeschwerden der Staatsbürger c) Abstrakte und konkrete Normenkontrolle d) Wahlrechtsstreitigkeiten . . . e) Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung

1261 1263 1263 1264 1265 1266 1267

3. Status und politisches Gewicht des Gerichts 4. Das Verhältnis zu supranationalen Gerichten a) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg b) Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg 5. Zur Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen 6. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts III. Legitimation und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Zur Legitimation und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit 2. Zum Verhältnis von Recht und Politik und der Appell zur Selbstbeschränkung 3. Zu den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit a) Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit . b) Grenzen der Interpretationsmacht

1268 1269

1269

1270

1271 1273

1275

1278 1279 1280 1283

IV. Zusammenfassende Würdigung und Reformüberlegungen 1287

1. Abschnitt

Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung THOMAS ELLWEIN

I. Grundlegung 1. Zur Systematik des Grundgesetzes Anders als die Verfassung der Vereinigten Staaten, der ein eigener Begriff von Gewaltenteilung zugrundeliegt1, unterscheidet das Grundgesetz zwischen den Bestimmungen über die (obersten Bundes-) Organe und denen über die staatlichen Funktionen. Nur im Abschnitt IX ,Die Rechtsprechung' sind organisatorische und funktionale Bestimmungen miteinander verbunden. Bundestag und Bundesrat, der ihnen verbundene Gemeinsame Ausschuß, Bundespräsident und Bundesregierung haben dagegen ihren eigenen Platz in der Verfassung. Für die Gesetzgebung des Bundes und für die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung stehen die Abschnitte VII und VIII des G G bereit2. Ihnen kann man bedingt auch noch Abschnitt VIII a, der sich den Gemeinschaftsaufgaben zuwendet, Abschnitt X über das Finanzwesen und Abschnitt X a mit den Regelungen für den Verteidigungsfall zurechnen. Gemäß der Arbeitsteilung in diesem Handbuch stehen nachfolgend die Abschnitte VII und VIII im Mittelpunkt3. Die Systematik des Grundgesetzes ist jedoch nur scheinbar eindeutig. In den Abschnitten über die Gesetzgebung und die Verwaltung des Bundes finden sich neben der Regelung des Gesetzgebungsgangs in der Hauptsache die Teile des G G , welche die Aufgab enteilung zwischen Bund und Ländern und die Mitwirkung der Länder an der Formulierung und Durchführung der Bundespolitik näher bestimmen.

1

2

V g l . z . B . E . FRAENKEL D a s

amerikanische

Regierungssystem, 2. Aufl., 1962, S. 236ff. In seinem .Schriftlichen Bericht . . . über die Abschnitte III. Der Bundestag' usw. weist der Abgeordnete des Parlamentarischen Rates Dr. Dr. h. c. LEHR allerdings bereits darauf hin, daß eine reinliche Scheidung nicht gelungen sei und „die Bestimmungen über die Bildung einerseits und die Funktionen andererseits dieser Organe in enger Wechselwirkung" stünden. Parlamentarischer Rat,

3

Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Anlage zum sten. Bericht der 9. Sitzung des Pari. Rates am 6. Mai 1949. Angesichts der Tatsache, daß die hier zu behandelnden staatlichen Funktionen im G G an verschiedenen Stellen angesprochen sind, bedeutet diese Zuwendung zu den beiden Abschnitten selbstverständlich nur eine redaktionelle Schwerpunktbildung.

1094

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Organisatorische und funktionale Gesichtspunkte sind dabei vermischt, zwei ganz unterschiedliche Aufgaben einer föderalistischen Verfassung intentional miteinander verbunden. Dabei läßt sich in der Hauptsache so unterscheiden, daß die Art. 70 bis 74 G G die föderalistische Aufgabenverteilung und die Art. 76 bis 82 den Gang der Gesetzgebung und hier insbesondere die Mitwirkung des Bundesrates regeln, die Art. 83 bis 85 das Zusammenwirken von Bund und Länder bei der Ausführung der Bundesgesetze bestimmen und Art. 86 die Organisationsgewalt der Bundesregierung gegenüber bundeseigenen Behörden anspricht. Die folgenden Art. 87 bis 91 wenden sich der bundeseigenen Verwaltung einschließlich der Streitkräfte zu. Die nachgeschobenen Gemeinschaftsaufgaben ergänzen das erste dieser vier Vorschriftenbündel, berühren aber auch das dritte; der ebenfalls nachgeschobene Abschnitt über den Verteidigungsfall berührt alle vier. Im Vergleich zur Verfassung der Vereinigten Staaten, die mit den drei grundlegenden Abschnitten dem Gewaltenteilungsschema folgt und in dieses Schema auch die Aufgabenteilung zwischen Union und Einzelstaaten einfügt, erweist sich damit das Grundgesetz als relativ kompliziert. Das hat organisatorisch im wesentlichen zwei Gründe: Erstens die besondere Stellung des Bundesrates, der weder eine zweite Kammer, wie der amerikanische Senat, noch eine reine Regierungsvertretung ist 4 ; zweitens die Tatsache, daß der Bund nur begrenzt über eine eigene Verwaltung verfügt, sich in der Hauptsache also auf die Verwaltung der Länder angewiesen sieht. Dem entspricht das Grundgesetz mit Zugriffsmöglichkeiten des Bundes auf die Länderverwaltungen, denen umgekehrt wieder Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder korrespondieren. Neben solchen organisatorischen gibt es Erklärungen für die genannte Kompliziertheit, die auf Besonderheiten der deutschen Verfassungsgeschichte und der deutschen politischen Kultur' verweisen 5 . Solche Besonderheiten kommen auch in der ,Staatsfunktionenlehre' zum Ausdruck. Prinzipiell erscheint es an sich angebracht, die Behandlung der funktionalen Regelungen und die der föderalistischen Aufgabenteilung zu trennen. Das stößt aber auf Schwierigkeiten, weil manche der ersteren im Grundgesetz nur wegen der letzteren Aufnahme gefunden haben. Rechtsstaatliche Uberlieferung und Föderalismus bewirken damit eine Konkretisierung der Verfassung — allerdings nicht durchgängig: Aus rechtsstaatlichen wie aus föderalistischen Gründen ist z.B. das Verordnungsrecht der Bundesregierung relativ genau präzisiert, wohingegen sich das Regieren* kaum angesprochen findet.

4

Ich halte daran trotz der v o m Bundesrat selbst häufig verwandten Begrifflichkeit fest und beziehe mich auf das Verständnis im Parlamentarischen Rat, demzufolge der Bundesrat sich in einer deutlichen Zwischenstellung befinden sollte. „ N u r in den v o m Grundgesetz ausdrücklich genannten Ausnahmefällen ist der Bundesrat eine ,echte' Zweite Kammer. In diesen Fällen ist seine Zustimmung erforderlich." Parlamentarischer Rat, Schrift-

5

licher Bericht S. 33. Vgl. TH. ELLWEIN Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1977, S. 2 8 5 f f . und H . v. MANGOLD Das Bonner Grundgesetz, 1. Aufl. 1 9 5 3 , S. 2 6 3 f f . Zu diesem Begriff vgl. D . EASTON The Political System: A n Inquiry into the State of Political Science. 1953; G. DOEKER (Hrsg.) Vergleichende Analyse politischer Systeme. Comparative Politics, 1971, S. 57ff.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1095

Die folgende Darstellung berücksichtigt stärker den funktionalen als den föderalistischen Aspekt, nachdem letzterem in diesem Handbuch das 5. Kapitel gewidmet ist. Allerdings werden sich Wiederholungen und Überschneidungen nicht ganz vermeiden lassen. Das gilt auch im Verhältnis zum 2. Abschnitt des 3. Kapitels, in dem unter dem Aspekt des parlamentarischen Systems vom Verhältnis zwischen Parlament und Regierung die Rede ist. 2. Staatsfunktionen a) Zur

Staatsfunktionslehre

Werden Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung als , Staatsfunktionen' bezeichnet, entspricht das der Uberlieferung in der deutschen Staatslehre und Staatsrechtslehre 6 . Diese Uberlieferung ist von dem Nebeneinander des Gewaltenteilungs- und des Rechtsstaatsprinzips bestimmt. Sie führt zu der Unterscheidung zwischen den formalen, die ,Mittel* des Staates bezeichnenden und materialen Funktionen, wie etwa der Rechts- oder Friedensfunktion des Staates7. R I C H A R D T H O M A bezeichnet das als Juristische Unterscheidung' der drei Funktionen Gesetzgebung, Verwaltung Rechtsprechung: „Die Anordnungen und Handlungen der staatlichen Gewalthaber und ihres Behördenstabes können vom Standpunkte sehr verschiedener wissenschaftlicher oder praktischer Interessen betrachtet und danach, indem man sie der Staatskörperschaft zurechnet, als deren ,Funktionen' bezeichnet und unterschieden werden. Einer Betrachtung vom Standpunkt der Rechtswissenschaft drängt sich vor allem die Tatsache auf, daß der moderne Staat das Recht — wiewohl nicht ausschließlich, so doch ganz überwiegend — selbst gestaltet und zwar (wiederum nicht ausschließlich aber ganz überwiegend) als Gesetzgeber gestaltet, indem er Rechtsnormen erläßt oder aufhebt 8 ." Von der Gesetzgebung ist die ,Exekutive' oder ,Verwaltung' zu unterscheiden. „Die Verwaltung kann man insofern, als sie auf Grund und im Rahmen der Gesetze eine mehr freie Zwecktätigkeit entfaltet, ,Regierung' nennen, während sie im übrigen ,Vollziehung' (im engeren Sinne) heißt. Diese Einteilung ist, richtig verstanden, so gemeint, daß alle legitimen Betätigungen der Staatsgewalt darunter subsumiert werden, d. h. alle Ausübung von Staatsgewalt, die sich nicht als Gesetzgebung oder als Rechtsprechung darstellt, zu der umfassenden ,Funktion' der Verwaltung zu rechnen ist, einschließlich der Betätigung der Staatsgewalt in Außenpolitik und Kriegsführung oder im gegenseitigen bundesstaatlichen Verhältnis von Reich und Ländern 9 ." Dem Verweis auf T H O M A eignet hier systematische und praktische Bedeutung. Praktisch dient die Anlehnung an das ANSCHÜTz/THOMA'sche Handbuch der WeimaVgl. G. JELLINEK Allgemeine Staatslehre. Kap. 18: Die Funktionen des Staates, 2. Aufl., 1905, S. 580ff. Vgl. z. B. U . MATZ Der überforderte Staat. Zur Problematik der heute wirksamen Staatszielvorstellungen, in: W. HENNIS u. a. (Hrsg.) Regierbarkeit: Studien zu ihrer Problematisierung, 1977.

8

9

R. THOMA Die Funktionen der Staatsgewalt. Grundbegriffe und Grundsätze, in: G. ANSCHÜTZ/R. THOMA (Hrsg.) Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Band 1932, S. 108 f. Ebenda S. 109.

1096

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

rer Verfassung der eigenen Entlastung. In diesem Handbuch findet sich eine bis heute qualitativ nicht mehr erreichte systematische Darstellung einer deutschen föderalistischen Verfassung. Sie ersetzt zwar keinen (aktuellen) Grundgesetzkommentar, ist aber unentbehrlich, wenn man sich um das Verständnis einer Tradition bemüht, in der das Grundgesetz wie die Weimarer Reichsverfassung steht. Die Tradition äußert sich in einer unverwechselbaren ,Rechtskultur', im Blick auf die wir auch systematisch an R. T H O M A anknüpfen. Die Rechtskultur ermöglicht eine Betonung der Form, welche diese weitgehend von ihren (jeweiligen) Inhalten unabhängig macht. Das erlaubte 1918 einen grundlegenden politischen Strukturwandel bei erheblicher Formkontinuität; die rechtskulturell geprägten Formen ließen sich auch nach 1945 im neuen Verfassungsprozeß wieder übernehmen. b) Staatsfunktionen

und Gesetz

Die Betonung der Form staatlichen Handelns sichert einerseits (politische) Beteiligung und andererseits Einordnung dieses Handelns in einen Formenkreis, den man allgemein mit ,Rechtsordnung' umschreibt. Die Zugehörigkeit zur Rechtsordnung gewährleistet (richterliche) Nachprüfbarkeit vieler Staatshandlungen; sie wirkt zugleich auf die ,Form' zurück. Das wird am Gesetz besonders deutlich. Es bildet deshalb im folgenden den Mittelpunkt unserer Darstellung des Tuns von Parlament und Regierung, die von Besonderheiten der deutschen Rechtskultur und ihren Auswirkungen auf die Verwaltungskultur ausgeht. Dieser Rechtskultur zufolge sind die Funktionen des Staates auf das Recht bezogen und werden durch die Nähe zu ihm interpretiert. G E O R G M E Y E R erklärte zum Ende des 1 9 . Jahrhunderts, also in einer Zeit, in der ,das Gesetz' überwiegend noch (abstrakte und generelle) Konditionalprogramme enthielt, obgleich sich der positivistische Gesetzesbegriff schon durchgesetzt und dem Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet hatte, die Form des Gesetzes beliebig zu nutzen: „Verwaltung und Justiz sind der Gesetzgebung untergeordnet. Aber das Verhältnis beider zur Gesetzgebung und zum geltenden Recht überhaupt ist ein wesentlich verschiedenes. Für die Justiz sind nur Rechtsgrundsätze, für die Verwaltung sowohl Rechtsgrundsätze als Zweckmäßigkeitsrücksichten maßgebend. Die Justiz ist demnach eine bloße Ausführung der Gesetze, die Verwaltung ist teils eine Ausführung derselben, teils ein freies Handeln innerhalb der vom Gesetze gezogenen Schranken 10 ." R. T H O M A formuliert das zum Ende der Weimarer Republik: „Die lebensnotwendige Funktion des Staates ist die Verwaltung. Der Gesetzgeber könnte für eine Weile verstummen, die Pforten der Gerichtshöfe könnten verschlossen bleiben und dennoch vermöchte der Staat in Frieden oder Krieg kraftvollstes Leben zu entfalten. Wo aber die Vollziehung der Gesetze in Verfall gerät und die Initiative einer Regierung mangelt, da schwindet die Herrschaft, durch welche das Volk auf seinem Gebiet zum Staat geballt wird, und wird der Staat zerschlagen und zerbröckelt. Indes 10

G . MEYER Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes, 5. Aufl. 1899, S. 24; z u m politischen Gesetzesbegriff vgl. TH. ELLWEIN D a s Erbe

der Monarchie in der deutschen Staatskrise. Zur Geschichte des deutschen Verfassungsstaates. München, 1954.

1097

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

ist dies eine soziologische Betrachtung. Rein juristisch gesehen ist die Gesetzgebung die fundamentale Funktion des Staates. Denn sie gestaltet die Rechtsordnung, insbesondere auch das Verfassungsrecht. Die Rechtsordnung aber setzt aller legitimen Verwaltung und Rechtssprechung die Rechtsgrundlagen, Formen und Grenzen 1 1 ." Aus solchen Vorüberlegungen ergibt sich folgende Aufgabenstellung: Wir haben zum ersten im Blick auf die Gesetzgebung jene Rechtskultur zu beleuchten, zum zweiten die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern darzulegen, zum dritten den Gesetzgebungsprozeß zu schildern und viertens zu fragen, welche Folgen das (zunächst selbstverständliche) Beibehalten der Rechtskultur in dem Sinne hat, daß eine bestimmte Form zwei ganz unterschiedliche Zwecke erfüllt: die Beteiligung des Parlaments oder — im Bundesstaat: — die Beteiligung eines gleichberechtigten föderalistischen Partners und die Zuweisung alles in dieser Form Geregelten zur Rechtsordnung'. Kritische Fragen in dieser Richtung erhalten ihre Impulse sowohl aus der Parlaments- als auch aus der Bürokratiekritik — hier aus der Klage über ein Zuviel an Regelungen. Später wird der so angesprochenen Rechtskultur eine eigene Verwaltungskultur gegenüberzustellen sein, um die gegenseitige Bedingtheit der legislativen und der exekutiven Staatsfunktion — immer im Sinne R. T H O M A ' S — darlegen zu können.

II. Gesetz und Gesetzgebung 1. Gesetz und Parlament a) Rechtsstaatlicher

Gesetzesbegriff

Nach deutscher Tradition aktualisiert sich Staatsgewalt zunächst im Gesetz. Das Gesetz ist damit das entscheidende politische Führungsmittel. „Einen Staat, in dem die Befugnisse der Verwaltung gesetzlich fest begrenzt sind und nur in Ubereinstimmung mit den Gesetzen ausgeübt werden können, bezeichnet man als Rechtsstaat 12 ." Im Rahmen dieser Tradition steht auch Art. 20 G G , wenn er in Abs. (3) festlegt: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtssprechung sind an Gesetz und Recht gebunden." Diesem unstrittigen Verfassungsprinzip entspricht allerdings kein ebenso unstrittiger Gesetzesbegriff. Es war vielmehr seit je umstritten, ob ein Gesetz neben den unentbehrlichen formellen Voraussetzungen, daß es nämlich in den für die Gesetzge-

11

R . THOMA ( F n . 8) S.

12

G . MEYER (Fn. 10) S. 24. Diese Tradition läßt sich nicht bestreiten, auch wenn man darauf hinweisen kann, daß der R e c h t s s t a a t ' außerhalb Deutschlands keine unmittelbare begriffliche Entsprechung hat. Ein solcher Hinweis findet sich bei H . RIDDER D i e soziale O r d nung des Grundgesetzes, in: J . MÜCK ( H r s g . ) Verfassungsrecht (Bad Wildunger Beiträge zur Gemeinschaftskunde, B d . 4) S. 2 2 3 f f , der

llOf.

die spezifisch deutsche Rechtsstaatlichkeit gegen eine allgemeine demokratische Tradition stellt. Fraglos gibt es einen, hier nicht weiter auszuführenden Z u s a m m e n h a n g zwischen der Entstehung dieser Rechtsstaatlichkeit und dem Verfassungsrahmen der konstitutionellen Monarchie, in dem es nicht zur H e r r schaft des Parlaments k o m m e n konnte. Vgl. T H . ELLWEIN ( F n .

10).

1098

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

bung vorgeschriebenen Formen zustandegekommen sein muß, auch materiellen Ansprüchen zu genügen hat. Bejaht man das, gibt es neben einem formalen einen inhaltlichen Gesetzesbegriff. Er führt einerseits dazu, daß man zwischen der Rechtsetzung durch Gesetzgebung und derjenigen, welche auf andere Weise geschieht — etwa auf dem Verordnungswege oder durch die Ausbildung von Gewohnheitsrecht —, unterscheiden und andererseits das formelle Gesetz auch daraufhin prüfen muß, ob es inhaltlichen Anforderungen genügt. Als solche inhaltliche Anforderungen sind — sieht man einmal von der Möglichkeit des pervertierten Gesetzes und den ihm gegenüber bestehenden Maßstäben ab — im späten 19. Jahrhundert in Deutschland vor allem die nach der Allgemeinheit und Abstraktheit des Gesetzes aufgestellt worden. G. M E Y E R führt dazu aus, es herrsche Ubereinstimmung, daß es Aufgabe der Gesetzgebung sei, Rechtssätze aufzustellen. „Streitig ist dagegen, ob ein Rechtssatz bzw. ein Gesetz eine allgemeine Regel enthalten muß 1 3 ." An diesem Streit hat sich praktisch eine Generation von Staatsrechtslehrern beteiligt. C A R L S C H M I T T nahm ihn später zum Anlaß, einen ,rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff' zu formulieren. Die ,Herrschaft des Gesetzes' galt für ihn als eine leere Redensart, „wenn sie nicht durch einen bestimmten Gegensatz ihren eigentlichen Sinn bekommt. Diese rechtsstaatliche Grundvorstellung enthält sowohl geschichtlich wie gedanklich die Ablehnung der Herrschaft von Menschen, sei es eines einzelnen Menschen, sei es einer Versammlung oder Körperschaft, deren Wille an die Stelle einer für alle gleichen, im voraus bestimmten generellen Norm tritt. Herrschaft des Gesetzes bedeutet vor allem und in erster Linie, daß der Gesetzgeber selbst an sein Gesetz gebunden ist und seine Befugnis zur Gesetzgebung nicht das Mittel einer Willkürherrschaft wird. Die Bindung des Gesetzgebers an das Gesetz ist aber nur so lange möglich, als das Gesetz eine Norm mit gewissen Eigenschaften ist: Richtigkeit, Vernünftigkeit, Gerechtigkeit usw. Alle diese Eigenschaften setzen voraus, daß das Gesetz eine generelle Norm ist. Ein Gesetzgeber, dessen Einzelmaßnahmen, Spezialanweisungen, Dispense und Durchbrechungen ebenso als Gesetz gelten, wie seine generellen Normierungen, ist in keiner denkbaren Weise an sein Gesetz gebunden; die ,Bindung an das Gesetz' ist für diejenigen, die beliebig ,Gesetze' machen können, eine bedeutungslose Redensart 1 4 ." So bedeutsam diese Auseinandersetzung für die Entwicklung einer systematischen Rechtswissenschaft ist und so wenig man auf das Bemühen um ein Verständnis dessen, was ,Gesetz' bedeutet, verzichten darf, so sehr muß man auch betonen, daß die Verfassung hier ihre eigene Antwort gibt und das Gesetz einer bestimmten Herrschaftsstruktur zuordnet. Sie postuliert damit im Ergebnis etwas, was C. S C H M I T T auch in polemischer Absicht als politischen Gesetzesbegriff bezeichnet hat: „Für die rechtsstaatliche Auffassung ist das Gesetz wesentlich Norm und zwar eine

13

G . MEYER (Fn. 10) S. 22 A n m . 1; in dieser A n m . eine Übersicht über die beiden streitenden Lager zum Zeitpunkt des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

14

C.

SCHMITT Verfassungslehre,

1954, S . 139.

Neuausgabe

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung

(ELLWEIN)

1099

Norm mit bestimmten Qualitäten: eine rechtliche (richtige, vernünftige) Regelung generellen Charakters. Gesetz im Sinne des politischen Gesetzesbegriffs ist konkreter Wille und Befehl und ein Akt der Souveränität. . . . Gesetz in einer Demokratie ist der Wille des Volkes; lex est quod populus jussit." Allerdings, so heißt es weiter, verschiebe die angenommene Souveränität des Gesetzes' nur die Antwort auf die Frage nach der tatsächlichen Souveränität. Da sich dieser aber im Konfliktsfalle nicht ausweichen lasse, müsse es notwendig einen politischen Gesetzesbegriff geben, „den keine Rechtsstaatlichkeit zu beseitigen vermag 15 ." b) Die Entscheidung des

Grundgesetzes

Das Grundgesetz erweist sich demgegenüber als eindeutig. Es verzichtet auf einen Gesetzesbegriff, legt aber die .Aufgabe' der Gesetzgebung fest und mit ihr zugleich deren Form. Gesetzgebung ist zuletzt Sache der Volksvertretung, des Parlaments. Im Parlament sind bestimmte Voraussetzungen gewährleistet. Der Entwurf kann ausgiebig und kontrovers diskutiert werden; die Diskussion findet öffentlich statt; eine gewisse Beteiligung interessierter Gruppen ist möglich. Auch das Grundgesetz setzt damit in der Regel auf das Verfahren, in dem ein Gesetz zustandekommt und dem demokratische Qualität eignet. Es läßt dagegen die Frage offen, wie ein Gesetz inhaltlich beschaffen sein soll. Diese Frage muß sich durch die Tätigkeit des Gesetzgebers beantworten; sie kann sich heute anders beantworten als gestern. Die rechtstheoretische Diskussion über den Gesetzesbegriff erweist sich damit auch als eine Diskussion, welche im Gesetzgeber ihren Adressaten sucht. Es entscheidet aber ebensowenig die Rechtswissenschaft wie irgendeine Elite, was Gesetz ist, sondern ausschließlich der Gesetzgeber selbst, dieser seinerseits gebunden an die Notwendigkeit, sich im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu bewegen. Abschnitt VII GG hat in diesem Verständnis zuerst die Aufgabe, den Weg oder die Form des Gesetzgebungsprozesses verbindlich zu regeln. Wird diese Form eingehalten, spricht die Vermutung für die .Gültigkeit' des Gesetzes. Bestehen an ihr Zweifel inhaltlicher Art, wobei es dann um die Vereinbarkeit mit der verfassungsmäßigen Ordnung gehen muß, kann es zur Überprüfung dieser Vereinbarkeit kommen. Für sie sind wieder eigene Formen vorgeschrieben. Das Grundgesetz legt die Form und damit die Beteiligung der verschiedenen obersten Bundesorgane in der ihnen jeweils — d. h. nicht immer gleichen — gemäßen Weise fest. Dabei gilt es vor allem das zu sichern, was sich nicht von selbst versteht, also die Beteiligung des Parlaments und des föderalistischen Organs. In solcher Betrachtungsweise sind inhaltliche Überlegungen und Postulate nicht beiseite-, sondern dorthin geschoben, wohin sie gehören: In den Bereich der politischen Auseinandersetzung, der immer zugleich auch der Bereich ist, in dem man sich um politischen Konsens bemüht. Was .richtig', .vernünftig', oder .gerecht* ist, läßt sich weder durch die Verfassung festlegen, noch elitär verfügen oder von Gerichten entscheiden. Es muß erkämpft und errungen werden. In der Auseinandersetzung geht

15

Ebenda S. 146 f.

1100

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

es um die zu verwendenden Maßstäbe. Das Grundgesetz gibt für sie in den Grundrechten und im Rechtsstaats- wie im Sozialstaatsprinzip Vorgaben, ohne sie der Interpretation zu entziehen. So hält die Verfassung das zu ordnende Ganze wandlungsfähig, indem es die Formen der Auseinandersetzung, der Verfahren und der Beschlüsse so weit als möglich festlegt, die Ergebnisse des politischen Prozesses16 dagegen nur an wenige ,Verfassungsaufträge' und an die ,Grundwerte', wie sie sich im Zusammenhang mit den Grundrechten ergeben, bindet. Das Gesetz aber, was immer es sonst für Funktionen im Gemeinwesen hat, ist auf das Parlament bezogen, in dem der demokratische Prozeß trotz aller Einschränkungen, welche die Parlamentarismuskritik heute vorträgt, seinen Höhepunkt findet. Eine solche Hervorhebung der durch die Verfassung erfolgenden Sicherung der Form des Gesetzgebungsverfahrens und auch der des Gesetzes darf allerdings nicht davon ablenken — deshalb empfiehlt sich der Blick auf die , Rechtskultur' —, daß die Form sich auch auf den Inhalt auswirkt. Tatsächlich drängt die Rechtskultur den Gesetzgeber in der Regel dazu, eher abstrakte und generelle Gesetze zu formulieren. Einzelfall- oder befristete Gesetze gelten (noch immer) als etwas, das man ,an sich' vermeiden sollte. Was als Regel gilt, beeinflußt die Sprache des Gesetzes. Sie ist nicht in erster Linie daran orientiert, die Klarheit des konkreten politischen Beschlusses zum Ausdruck zu bringen; das Gesetz kommt im Bewußtsein aller Beteiligten als künftiger Teil der Rechtsordnung zustande. Diese Wirkung der Form auf den jeweiligen Inhalt wiederum eignet sich nicht für alle Arten politischer Beschlüsse; hier setzt die Gesetzeskritik an, soweit sie nicht schon früher ansetzt und sich dann auf den tatsächlichen oder vermeintlichen Verlust legislatorischer Qualitäten bezieht. 2. Gesetzesbereich und Gesetzesinitiative a) Allgemeine und besondere föderalistische

Bedingungen

Eine Verfassung wäre nicht genötigt, den Bereich zu beschreiben, der nur durch Gesetz geordnet oder gestaltet werden darf. Sie wäre auch überfordert, wenn sie über Umfang und Grenzen der staatlichen Aufgaben Auskunft geben sollte 17 . Deshalb muß man jeweils empirisch ermitteln, was im Rahmen eines parlamentarischen Systems durch Gesetz geregelt wird. Es klärt zugleich, welche Stellung das Parlament im politischen Prozeß einnimmt. Dabei muß es eher als Ausnahme gelten, daß die

16

17

D a z u grundsätzlich B V e r f G E 5/85 ff, v. a. S. 197 ff. Die Diskussion über die materiellen Staatsfunktionen stellt sich zu einem Teil als Ersatz dafür dar, daß es bisher weder möglich ist, für die öffentlichen Aufgaben eine überzeugende Systematik zu finden, noch gar es gelingt, sie vollständig zu erfassen. Vgl. dazu zuletzt G . F . SCHUPPERT Die öffentliche Aufgabe als Schlüsselbegriff der Verwaltungswissenschaft, in: Verwaltungsarchiv 1980, S. 309ff. Im übrigen schließe ich mich unbeschadet der

Notwendigkeit, etwa durch Grundrechte eindeutige Grenzen staatlicher Tätigkeit festzulegen, systematisch der Auffassung von H . KRÜGER Allgemeine Staatslehre, l . A u f l . , 1964, S. 760, an, daß der moderne Staat keine allgemeingültige Antwort auf die Frage nach der besten F o r m des menschlichen Zusammenlebens bedeutet, sondern bestenfalls „ d i e jeweils bestmögliche Auseinandersetzung mit einer sich stellenden Lage, die für jedes Volk durchaus eigenartige Züge zeigt".

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1101

Verfassung selbst den Gesetzesvorbehalt ausspricht. Zumeist wird es sich in solchen Fällen um Eingriffe in grundrechtlich oder anders gewährleistete Bereiche handeln. Für eine föderalistische Verfassung ergeben sich andere Notwendigkeiten. In ihr muß zum einen verbindlich die Verteilung der staatlichen Aufgaben zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten geregelt und zum anderen bestimmt werden, in welcher Weise das föderalistische Organ, sofern es ein solches gibt, an der zentralstaatlichen Willensbildung zu beteiligen ist. Das Grundgesetz spricht deshalb sehr viele Gesetzesvorbehalte aus, die zu einem kleinere Teil rechtsstaatlichen Erfordernissen im engeren Sinne entsprechen, zum großen Teil in den Bereich der genannten Aufgabenteilung fallen und wieder zu einem kleineren Teil politisch dazu bestimmt sind, die Mitwirkung des Bundesrates zu garantieren. Das Nebeneinander dieser drei Gruppen von Gesetzesvorbehalten führt zu einer großen Ausdehnung des schon im Grundgesetz angesprochenen Bereiches der Gesetzgebung. In ihm wirkt sich außerdem intensivierend aus, daß der Bund nur in begrenztem Umfang über eine eigene Verwaltung verfügt, sich zur Ausführung der Gesetze vielmehr im allgemeinen der Landesverwaltungen bedienen muß, denen er mittels des Gesetzesbefehles — an dessen Zustandekommen der Bundesrat beteiligt ist — gegenübertreten kann. b) Die föderalistische

Aufgabenteilung

Verfassungssystematisch bereitet es keine besonderen Schwierigkeiten, die staatlichen Aufgaben auf das Ganze und die Glieder zu verteilen. In der Regel spricht man eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Glieder aus (Art. 30 und Art. 70 GG) und zählt die dem Gesamtstaat zukommenden Aufgaben vollständig auf. Das Grundgesetz geht in diesem Rahmen insofern einen eigenen Weg, als es zwischen der ausschließlichen und der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes und dessen Recht zur Rahmengesetzgebung in bestimmten Fällen unterscheidet (Art. 71—75), diesen Gesetzgebungsbereichen aber, in denen es dank einer klaren Kompetenzverteilung kaum zu Streitigkeiten kommen kann, noch die ,Gemeinschaftsaufgaben' nach Art. 91 a G G zur Seite stellt. Hier kann der Bund „bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder" mitwirken. Das führt zu einer doppelten Vermischung von Bundes- und Landeszuständigkeiten, weil zum einen fast bei allen Bundesaufgaben die Länder am Vollzug beteiligt sind und zum anderen der Bund an Landesaufgaben in einer Weise beteiligt ist, die zu einer gesonderten Form der Willensbildung (Politikverflechtung) führt 1 8 . In den drei vorgenannten Bereichen kann der Bund dagegen seine Zuständigkeit nur aktualisieren, indem er den Weg der Gesetzgebung einschlägt. Der deutsche Föderalismus gründet formal nicht auf einer realen Aufgabenteilung, sondern auf der Aufteilung von Gesetzgebungskompetenzen; er ist damit gesetzgebungsträchtig. Das wird heute viel beklagt; es muß aber auch aus der deutschen Geschichte verstanden werden.

18

Vgl. dazu: Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, 1966, und G. KISKER Kooperation im Bundesstaat. Eine

Untersuchung zum kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, 1971.

1102

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Art. 73 nennt elf Bereiche der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes, nämlich die Außenpolitik, die Verteidigung und den Zivilschutz, das Staatsangehörigkeits-, Paß-, Einwanderungswesen, das Währungs- und Münzwesen, die Einheit des Zoll- und Handelsgebietes mit allen die Bundesgrenzen berührenden Fragen, die Bundeseisenbahnen, den Luftverkehr, das Post- und Fernmeldewesen, die Rechtsverhältnisse des im Bundesdienst stehenden Personals, den gewerblichen Rechtsschutz, das Urheber- und das Verlagsrecht, zentrale Polizeiaufgaben und die Statistik für Bundeszwecke. In diesen Bereichen haben die Länder gemäß Art. 71 G G eine Gesetzgebungsbefugnis nur aufgrund ausdrücklicher Ermächtigung in einem Bundesgesetz. Im Falle der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes behalten dagegen die Länder die Gesetzgebungsbefugnis bis der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch macht. Das kann er gemäß Art. 72 (2) unter drei verschiedenen Voraussetzungen: Entweder läßt sich etwas durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam regeln oder aber eine landesrechtliche Regelung beeinträchtigt die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit. Diese beiden Voraussetzungen haben sich trotz unterschiedlicher Verfassungskommentare als problemlos erwiesen. Die dritte, daß ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, wenn „die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert", bildet dagegen nach verbreiteter Meinung das trojanische Pferd des Zentralismus im föderalistischen System. Tatsächlich sind fast alle Möglichkeiten der konkurrierenden Gesetzgebung, wie sie Art. 74 in — nach mehreren Verfassungsänderungen — heute 28 Ziffern aufzählt, inzwischen vom Bund aktualisiert, wobei sich in der Regel die ,Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse' als das Vehikel bewährt hat, auf dem man unter Umgehung einer klaren Bedürfnisprüfung die Kompetenzverschiebung zum Bund hin vornehmen konnte. Zu den genannten Bereichen gehören in der Hauptsache: Das bürgerliche und das Straf-Recht, der Strafvollzug und die Gerichtsverfassung, das Personenstandswesen, das Vereins- und Versammlungsrecht, das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer, die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge, die Wiedergutmachung und die Fürsorge, das Wirtschaftsrecht, das Recht der Kernenergie, das Arbeitsrecht und die Sozialversicherung, das Kartellrecht, die Forschungsförderung, die Landwirtschaftsförderung, das Boden-, das Gesundheits- und das Lebensmittelrecht, das Straßenverkehrsrecht und — Ziff. 24 — „die Abfallbeseitigung, die Luftreinhaltung und die Lärmbekämpfung". Dieser Katalog, seit 1949 mehrfach erweitert, weist den Hauptteil der ,großen' Politikbereiche — neben der internationalen vor allem die Rechts-, Wirtschafts-, Agrar-, Verkehrs- und Sozialpolitik — dem Bund zu, wobei sich von Anfang an der Aktualisierung der Bundeskompetenz im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung wenig Hinternisse in den Weg gestellt haben. Das bedeutet umgekehrt, daß den Ländern abgesehen von ihren umfangreichen Mitwirkungsrechten (in der Bundespolitik) und ihrer mit der Bundeskompetenz gleichmäßig angewachsenen Verwaltungsmacht nur wenig ,große' Gestaltungsbereiche verblieben sind — Teile des Bildungs-

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1103

wesens und das Verwaltungsorganisationsrecht hier in erster Linie zu nennen. Diese Feststellung gilt um so mehr, als man 1969 das Institut der Gemeinschaftsaufgaben in die Verfassung eingeführt und mit der Einfügung von Art. 74 a, der die „Besoldung und Versorgung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes" in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung verweist, auch im engeren Organisationsbereich auf die Möglichkeit landesindividueller Gestaltung verzichtet hat. Das offenbart ein deutliches Bemühen, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse* stärker zu betonen als die Möglichkeit, von Land zu Land Unterschiede zu bewahren. Neben der ausschließlichen und der konkurrierenden Gesetzgebung ist schließlich noch die Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG zu nennen, die dem Bund unter den Voraussetzungen des Art. 72 hinsichtlich der allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens, der allgemeinen Rechtsverhältnisse von Presse und Film, des Jagdwesens, des Naturschutzes, der Landschaftspflege, der Bodenverteilung, der Raumordnung, des Wasserhaushaltes, des Melde- und Ausweiswesens zusteht. Ursprünglich gehörten zu diesem Katalog auch die „Rechtsverhältnisse der im öffentlichen Dienst" Stehenden, was durch Einfügung des Art. 74 a, der in der Kompetenzordnung über das Recht einer Rahmengesetzgebung hinausgeht, aber weithin obsolet erscheint. c) Die Gemeinschaftsaufgaben Während die Regelungen der Art. 70 ff im Grundgesetz deutlich dem Prinzip der Aufgabenteilung folgen, also auf der Annahme beruhen, daß im Bundesstaat die staatlichen Aufgaben entweder vom Bund oder von den Ländern wahrzunehmen sind, hat man in der Bundesrepublik im weiteren Zusammenhang mit der Raumordnung19 schon früh (Förderung des Zonenrandgebietes) auch eine Aufgabenvermischung für notwendig und nützlich gehalten und sie mit der durch die Große Koalition 1969 herbeigeführten Verfassungsänderung weitgehend institutionalisiert. Die auf die Theorie vom kooperativen Föderalismus zurückgehenden Gemeinschaftsaufgaben20 sind nach Art. 91 a zwar auf 1) den Aus- und Neubau von Hochschulen, 2) die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und 3) die Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes beschränkt — ergänzt durch die Bestimmung des Art. 91 b, daß Bund und Länder bei der Bildungsplanung und der Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung zusammenwirken können. Diese Beschränkung ist scheinbar noch verstärkt, weil es einleitend heißt, der Bund wirke „bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder" mit, „wenn diese Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und die Mitwirkung des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist", was man durchaus restriktiv auslegen könnte. Tatsächlich hat sich aber die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" in Verbindung mit dem Bundesraumordnungsge-

19

20

Vgl.

W.

BRUDER/TH.

ELLWEIN

(Hrsg.)

Raumordnung und staatliche Steuerungsfähigkeit (PVS-Sonderheft 1979), 1980. Vgl. zur Entwicklung des Begriffes R. KUNZE Kooperativer Föderalismus der Bundesrepu-

blik Deutschland. Zur Staatspraxis der K o o r dinierung von Bund und Ländern, 1968; die Gemeinschaftsaufgaben sind in dem in Fn. 18 erwähnten Gutachten grundgelegt.

1104

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

setz und dem zwischen Bund und Ländern vereinbarten Bundesraumordnungsprogramm 21 als der Motor einer Entwicklung erwiesen, in der es zu einer noch engeren Verflechtung von Bund und Ländern gekommen ist als es schon die Mitfinanzierung vieler Landes- und Gemeindevorhaben durch den Bund mit sich gebracht hat 22 . Verfassungssystematisch bilden die Gemeinschaftsaufgaben einen Sonderfall, den es mehr in Zusammenhang mit der förderalistischen Konstruktion des G G als in dem mit der Gesetzgebung abzuhandeln gilt. Nur ein Teil dieser Aufgabengruppe erfordert eigene gesetzliche Regelungen. Unsere Hinweise an dieser Stelle erscheinen dennoch angebracht, weil hier der Verbund zwischen Bund und Ländern, wie er durch die Gesetzgebungskompetenz hier und die Verwaltungskompetenz dort, begründet ist, besonders sichtbar und problematisch wird. Die Gemeinschaftsaufgaben lassen sich — hier setzt die prinzipielle verfassungspolitische Kritik an, die seit etwa 1978 ständig lauter geworden ist und inzwischen zu dem politischen Postulat einer deutlichen Rückkehr zum Prinzip der klaren Aufgabentrennung führt — verfassungspolitisch sowohl als Versuch interpretieren, ein hohes Maß an , Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse* mit der Möglichkeit raumbezogen anpassungsfähiger Politik zu verbinden, als auch als Aufhebung des in Bund und Ländern parlamentarisch bestimmten Föderalismus bezeichnen. Eine solche Kritik muß einbeziehen, daß sich im Verhältnis von Staat und Gemeinden eine ähnliche Entwicklung vollzieht, weil immer mehr Gemeindeaufgaben vermittelt über die Mitfinanzierung des Staates in staatliche Planungen einbezogen und damit zugleich stärker als früher zentralen Richtlininen unterworfen werden. Ohne auf die damit angesprochenen Problembereiche hier schon einzugehen, läßt sich vorwegnehmen, daß an den Gemeinschaftsaufgaben, an den mit ihnen verbundenen Programmen und den diesen Programmen zugeordneten Finanzressourcen etwas sichtbar wird, was die verfassungssystematisch vorgesehene Position des Gesetzes verändert. d) Die Ermittlung

des

Gesetzesbedarfs

Entsprechend der ursprünglichen Position des Gesetzes versteht sich zunächst von selbst, daß sich jedenfalls in großen Teilen der inneren Politik zum einen die Zuständigkeit des Bundes und zum anderen .politische Führung' im Gesetzgebungsprozeß ereignen. Dieser findet unbeschadet des Rechtes der Bundesregierung und des Bundesrates auf Gesetzesinitiative und unbeschadet der Mitwirkung des Bundesrates im weiteren Verfahren im Bundestag statt. Nach Art. 76 G G werden deshalb Gesetzesvorlagen „beim Bundestag . . . eingebracht". Faktisch stammen die meisten Vorlagen von der Bundesregierung; ihre Vorlagen haben zudem eine viel größere Chance, zum Schluß verabschiedet zu werden 23 . Darüber herrscht in der einschlägigen Literatur oft Verwunderung; daß die Gesetzesinitiative des Parlaments selbst eine

21

22

Raumordnungsgesetz 1 9 6 5 ; Bundesraumordnungsprogramm 1975. Vgl. F . SCHARPF u. a. Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976.

23

Die Parlamentsstatistik findet sich vor allem in: Deutscher Bundestag (Hrsg.) Dreißig Jahre Bundestag, 1979.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1105

so geringe Rolle spielt, wird gern in Zusammenhang mit einem behaupteten Funktionsverlust des Parlaments gebracht. Solche Überlegungen gehen jedoch am Wesen des parlamentarischen Systems vorbei. In diesem System stellt die Regierung den aktiven und initiativen Teil der politischen Führung dar. Sie verfügt über den Apparat und ein großer Teil der Bedürfnisse, welche in den Gesetzgebungsprozeß einfließen, werden vom Apparat erkannt und verarbeitet. Im Apparat muß selbstverständlich auch der größte Teil der diffizilen und zeitraubenden legislatorischen Vorarbeiten stattfinden. Daß sie dort stattfinden, bedeutet keinen Macht- oder Bedeutungsverlust des Parlaments, sondern eher dessen Entlastung. Das Parlament kann in der Regel davon ausgehen, daß eine Regierungsvorlage die bestehende Rechtslage berücksichtigt und daß der Regierungsapparat groß genug ist, um eine gewisse Abstimmung des umfangreichen, komplizierten und in vielfältiger Weise untereinander verflochtenen Gesetzgebungsprozesses zu gewährleisten. Erst in der Phase nach solchen Vorarbeiten, in denen es um die erste Bedürfnisprüfung und die Prüfung der Realisierungsmöglichkeiten geht, wird das Parlament mit seiner spezifischen Arbeitsweise sinnvoll tätig: mit seiner politischen Prüfung und Kontrolle, mit seiner Diskussion des Entwurfs unter verschiedenen Aspekten, wie sie in den verschiedenen Parlamentsausschüssen zur Geltung kommen, mit der kontroversen Erörterung schließlich, innerhalb derer jede Einzelentscheidung auf ihre Übereinstimmung mit einem Programmrahmen überprüft und dann so oder so bewertet werden kann. Das alles erhält seinen Sinn durch das relative Maß an Öffentlichkeit, in dem dieser Prozeß abläuft. Die Beteiligung des Parlaments sichert der öffentlichen Diskussion zeitlichen Spielraum, während die Regierung mit Entscheidungen, die sie allein zu treffen vermag, die Öffentlichkeit durchaus überfahren', d. h. vor vollendete und — vor allem im internationalen Bereich — meist irreversible Tatsachen stellen kann. Das ,Recht' der Gesetzesinitiative als Teil des Gesetzgebungsprozesses i. e. S. erscheint vor diesem Beurteilungshorizont zweitrangig. Es liegt zunächst selbstverständlich bei der Regierung und wird von ihr im Regelfall wahrgenommen. Daß auch im Parlament selbst Gesetze eingebracht werden können, versteht sich in anderer Weise von selbst; es gibt vor allem der Opposition die Möglichkeit, Einzelthemen legislatorisch auszuformulieren. Im übrigen hatten unter den Bedingungen des Grundgesetzes besonders solche parlamentarischen Gesetzesinitiativen eine größere Chance, bei denen die Regierungsfraktionen einen Entwurf der Bundesregierung übernahmen, um den ersten Durchgang beim Bundesrat zu erübrigen, vielfach also, um Zeit zu sparen. Das Initiativrecht des Bundesrates entspricht dessen Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren; es ist nur selten wahrgenommen worden. Weder Bundestag noch Bundesrat bestreiten — unabhängig von den parlamentarischen oder politischen Konstellationen — den Führungsanspruch der Bundesregierung. Erörterungen dieser Art müssen nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte mithin nicht daran anknüpfen, daß die Bundesregierung ein eindeutiges Initiativübergewicht gegenüber dem Bundestag hat. Heute stellt sich eher die Frage, ob das Parlament seine spezifische Arbeitsweise und damit auch seine besondere politische Funktion im Willensbildungsprozeß (noch) durchhalten kann, wenn zum einen die

1106

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Zahl der Gesetze einen weitgehend arbeitsteiligen und spezialisierten Prozeß im Bundestag erzwingt und wenn sich zum anderen die Gesetzesentwürfe nach dem Maße ihrer eigenen Spezialisierung und Differenzierung oft einer grundsätzlichen politischen Debatte entziehen. Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, werfen wir einen Blick auf das Verfahren selbst. 3. Gang der Gesetzgebung a) Vorbereitungsphase und Gesetzesinitiative Nach Art. 76 und 77 GG durchläuft der Gesetzgebungsprozeß im Regelfall drei deutlich voneinander unterscheidbare Phasen24. In der ersten Phase wird regierungsintern oder parteiintern vorbereitet. Parteiinterne Vorarbeiten können in beliebigen Verfahren durchgeführt werden. Für die regierungsinternen Vorarbeiten finden sich dagegen bindende Regelungen teils in der Geschäftsordnung der Bundesregierung und teils in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien. Diese Regelungen müssen sicherstellen, daß Entwürfe eines Ministeriums rechtzeitig mit anderen, interessierten Häusern abgestimmt werden, daß die Beteiligung des Justizoder des Finanzministeriums gewährleistet — in bestimmten Bereichen gibt es weitere Beteiligungsrechte — und das Bundeskanzleramt frühzeitig unterrichtet wird. Auf Einzelheiten brauchen wir nicht einzugehen: Die einschlägigen Regeln und das Eigeninteresse der Beteiligten stimmen im Normalfall voll überein. Kein Ministerialreferent wird einen Entwurf auf den Weg bringen, ohne diesen Weg so weit als möglich abzusichern. Die Absicherung geschieht durch frühzeitige regierungsinterne Beteiligung solcher, welche eine Beteiligung fordern könnten, und durch frühzeitige Unterrichtung der politischen Führung, die zunächst im einzelnen Ministerium selbst ggf. aber auch im Bundeskanzleramt grünes Licht geben muß. In diese Vorbereitungsphase fällt auch die Beteiligung externer Gruppen und Gremien. Sie hat zu einer Konzentration und Kanalisation des Verbandseinflusses in Bonn beigetragen, weil dabei Spitzenverbände privilegiert werden. § 23 (3) der GGO II d Bundesministerien bestimmt ausdrücklich, Verbände seien „im allgemeinen" nicht heranzuziehen, deren „Wirkungskreis sich nicht über das gesamte Bundesgebiet erstreckt". Eine Sonderstellung nehmen weiter die kommunalen Spitzenverbände ein, die bei der ministeriellen Gesetzesvorbereitung anzuhören sind, wenn man finanzielle und personelle Konsequenzen für die Gemeinden erwarten muß. Dieses Verfahren wurde erst nach langen Auseinandersetzungen eingeführt; es schafft einen kleinen Ausgleich im Verhältnis zwischen Gemeinden und Ländern, nach dem letztere ihre Anliegen voll im Bundesrat vertreten können und dabei auch den Anspruch erheben, für „ihre" Gemeinden zu sprechen.

24

Zum

Folgenden

TH.

ELLWEIN/A.

GÖRLITZ

Parlament und Verwaltung. Teil 1: Gesetzgebung und politische Kontrolle, 1968, und TH. ELLWEIN (Fn. 4) S. 261 f f ; hier eine Auswahl aus der höchst umfänglichen verfassungsrechtlichen und politikwissenschaftlichen Li-

teratur, letztere im Blick auf den Bundestag teils deskriptiv, teils kritisch; die Länderparlamente wurden seltener Gegenstand gründlicher Analyse. Zur Information in diesem Zusammenhang ist die Zeitschrift für Parlamentsfragen' unentbehrlich.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung

(ELLWEIN)

1107

Ob die erste Phase später mit einem direkten Kabinettsbeschluß nach vorausgegangener Diskussion im Kabinett endet oder — bescheidener — mit einem Beschluß, der im Umlaufverfahren zustandekommt, ist für die rechtliche Qualität des Beschlusses unerheblich. Das von der Verfassung vorgeschriebene Gesetzgebungsverfahren läßt die Unterscheidung von ,wichtigen' und weniger wichtigen Gesetzen nicht zu; es kennt nur die Unterscheidung nach verfassungsändernden, zustimmungspflichtigen und anderen Gesetzen, also nach verschiedenen Mehrheiten, welche für das Zustandekommen von Gesetzen gefordert sind. Während das Grundgesetz für die erste Phase keine Vorschriften macht, sondern sie praktisch der Zuständigkeit des Bundeskanzlers und der Bundesregierung für die Organisation des Regierungsapparates (Organisationsgewalt i. e. S.) und für die Regelung seiner Verfahrensweisen überläßt, sofern sich diese Phase regierungsintern abspielt, muß es für eine Zwischen- und für die dritte Phase, in denen es um das Zusammenwirken von vier gleichberechtigten obersten Bundesorganen geht, verZwischenphase bindliche, d. h. streitausschließende Regelungen treffen. Für die (Gesetzesinitiative i. e. S.) ist geregelt, daß Vorlagen der Bundesregierung zunächst dem Bundesrat zuzuleiten sind (Art. 76 (2)), der zu ihnen binnen sechs Wochen Stellung nehmen kann. Nur im Ausnahmefalle kann die Regierung schon nach drei Wochen — dies die ursprünglich im GG festgelegte Frist — ihren Entwurf dem Bundestag zuleiten; eine Stellungnahme des Bundesrates, die später eingeht, hat sie unverzüglich weiterzugeben. Initiativen des Bundesrates werden wie alle Gesetzesvorlagen beim Bundestag eingebracht', werden aber zunächst der Bundesregierung zugeleitet, welche sie innerhalb von drei Monaten dem Bundestag zuzuleiten und dabei ihre Auffassung darzulegen hat.

b) Parlamentarische Phase Liegt die Vorlage im Bundestag, beginnt die zweite Phase. Für sie verzichtet das Grundgesetz wiederum auf eigene Regelungen, weil das, was in dieser Phase geschieht, in die Zuständigkeit des Bundestages fällt, im Rahmen des Grundgesetzes die eigene Organisation und die einzelnen Verfahren zu regeln. Das Grundgesetz legt lediglich in Art. 42 fest, daß der Bundestag, d. h. sein Plenum öffentlich verhandelt und daß zu einem Beschluß die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich ist, sofern das Grundgesetz nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt. Alle übrigen Bestimmungen finden sich in der umfangreichen Geschäftsordnung des Parlaments, durch die der konstitutionalisierte Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit in eine Form gebracht ist, welche als solche so weit als möglich dem Streit entzogen sein soll. Die internen Regelungen des Bundestages für diese zweite Phase verbleiben im Rahmen der parlamentarischen Tradition. Ihrzufolge finden in der Regel drei Lesungen im Plenum des Parlaments statt, zwischen denen die detaillierte Beratung der Entwürfe und der Stellungnahmen zu ihnen in den Ausschüssen erfolgt. Analog zum Parlament verhandeln gleichzeitig die Fraktionen — teils als Plenum, teils vertreten durch ihre einschlägigen Arbeitskreise. In dieser zweiten Phase, auf die wir wieder

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7. Kapitel. Staatliche Funktionen

nicht näher eingehen, erweist sich der Bundestag als ,Arbeitsparlament', in dem den Plenardebatten zu den einzelnen Gesetzesvorlagen in der Regel keine große Bedeutung zukommt, viele Entwürfe sogar ohne jede Debatte im Plenum verabschiedet werden, während in den Ausschüssen des Parlaments intensiv debattiert und auch im Detail abgestimmt wird. Dabei kann es zu einer effektiven Mitarbeit der Opposition im Detail kommen, auch wenn diese im übrigen prinzipiell den Entwurf ablehnt. Das Zusammenwirken von Mehrheit und Minderheit in den Ausschüssen hat zur Folge, daß in der Bundesrepublik sehr viele Gesetze zuletzt einvernehmlich Zustandekommen. Allerdings spielt in diesem Zusammenhang auch das Mitspracherecht des Bundesrates, auf das die Bundestagsmehrheit Rücksicht nehmen muß, eine gewichtige Rolle. Es stärkt ggf. bundestagsintern die Stellung der Opposition; der legislatorische Anpassungsprozeß beginnt nicht erst dort, wo formelle Entscheidungen zu fällen sind. Der Gesetzgebungsprozeß in der Bundesrepublik ist damit insgesamt durch eine Reihe von Anpassungsmechanismen gekennzeichnet: Bund und Länder stimmen sich schon im Vorfeld der Gesetzgebung ab, unabhängig davon, ob diese Abstimmung wegen der späteren unverzicht- oder unüberstimmbaren Mitwirkung der Länder notwendig ist; im Parlament sieht sich die Opposition im Blick auf das konkrete Gesetz nicht nur auf öffentliche Kritik verwiesen; in der dritten Phase kommt es schließlich zum formellen Zusammenwirken von Bundestag und Bundesrat, das von vornherein mehr auf Kooperation als auf Konfrontation angelegt ist.

c)

Interorgan-Phase

Die dritte Phase beginnt, wenn das Gesetzgebungsverfahren im engeren Sinn abgeschlossen ist: „Die Bundesgesetze werden vom Bundestag beschlossen." (Art. 77 (1) Satz 1). Die werden nach dem Beschluß dem Bundesrat zugeleitet, der entsprechend dem Verfahren nach Art. 77 entweder zustimmen oder aber binnen drei Wochen die Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangen kann. Dieser Ausschuß, für den es eine eigene, mit Zustimmung des Bundesrates vom Bundestag beschlossene Geschäftsordnung gibt, stellt in mancher Hinsicht das eigentümlichste Organ dar, welches das Grundgesetz geschaffen hat. Es wird von Bundestag und Bundesrat paritätisch zusammengesetzt und spiegelt mit den Verschiebungen, welche sich nach der Ausrechnung gemäß d'Hondt ergeben können, die politischen Stärkeverhältnisse beider wider. Da der Vermittlungsausschuß geheim tagt, die Weisungsgebundenheit der Bundesratsvertreter ausdrücklich aufgehoben ist und Landesregierungen wie Fraktionen besonders befähigte und zugleich legitimierte Vertreter in den Ausschuß entsenden müssen, handelt es sich nach Verhandlungsstil und -praxis um ein ausgesprochen elitäres Gremium, dessen Vorschlägen eine hohe Durchsetzungschance zukommt. Der Vermittlungsausschuß .vermittelt' zwischen Bundesrat und Bundestag, bevor es zu einem eindeutigen Streit gekommen ist. Praktisch liegt zum Beginn der dritten Phase der Beschluß des Bundestages vor. Fordert auf diesen Beschluß hin der Bundesrat die Einberufung des Vermittlungsausschusses, gibt er damit seine Beden-

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1109

ken und Einwände zu erkennen, legt sich aber noch nicht fest. Dem Ausschuß bleibt deshalb in den meisten Fällen ein Spielraum, den er — wieder in den meisten Fällen — dazu nutzt, einen Kompromiß zu finden. Uber ihn stimmt der Bundestag erneut ab, jedoch ohne öffentliche Diskussion. Das schließt politische Überlegungen in den Fraktionen nicht aus, setzt sie vielmehr voraus. Im Anschluß an die Tätigkeit des Vermittlungsausschusses und ggf. an den Nachbeschluß des Bundestages, ergeben sich für den Bundesrat zwei verschiedene Möglichkeiten, je nachdem, ob zu einem Gesetz seine Zustimmung erforderlich ist oder nicht. Ist ersteres der Fall, scheitert das Gesetz, sofern der Bundesrat den Kompromiß des Vermittlungsausschusses ablehnt. Ist letzteres der Fall, kommt es zum Einspruch des Bundesrates gemäß Art. 77 (3) und (4), der innerhalb einer verbindlichen Frist einzulegen ist. Dieser Einspruch kann vom Bundestag durch Beschluß zurückgewiesen werden. Fand sich im Bundesrat eine qualifizierte Mehrheit von mindestens zwei Dritteln seiner Stimmen, ,,so bedarf die Zurückweisung durch den Bundestag einer Mehrheit von zwei Dritteln, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages". Das Procedere der dritten Phase hat bislang nur zu wenig Auseinandersetzungen geführt. Zum Streit ist es dagegen deshalb gekommen, weil der Bundesrat zielstrebig den Kreis der zustimmungspflichtigen Gesetze ausgedehnt hat. Dazu gaben die mannigfachen Verfassungsänderungen und -erweiterungen Gelegenheit. Vor allem aber wirkte sich Art. 84 (1) GG aus. „Um die Länder vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich der Verwaltung zu schützen" (BVerfGE 55 , 274/319), macht das Grundgesetz in dieser Vorschrift das Zustandekommen von Bundesgesetzen, die Vorschriften über das Verwaltungsverfahren enthalten oder die Einrichtung der Landesbehörden regeln, von der Zustimmung des Bundesrates abhängig. Regelungen dieser Art sind häufig. Der Begriff des „Verwaltungsverfahrens" wird in der Staatspraxis des Bundesrates eher großzügig interpretiert. Der Bundesrat vertritt außerdem die sog. Mitverantwortungstheorie, nach der sich die Zustimmung des Bundesrates auf das ganze Gesetz als eine gesetzgebungstechnische Einheit bezieht, nicht aber nur auf die die Zustimmungsbedürftigkeit auslösenden Vorschriften. Allerdings ist ein Änderungsgesetz, sofern es nicht schon selbst eigenständige zustimmungsbedürftige Vorschriften enthält, nur dann zustimmungsbedürftig, wenn es Regelungen ändert, die die Zustimmungsbedürftigkeit des geänderten Gesetzes ausgelöst haben (BVerfGE 37, 363/381). In seinem Urteil vom 10. 12. 1980 (BVerfGE 55, 274/320f) hat das Bundesverfassungsgericht den Kreis der zustimmungsbedürftigen Normen über die bisherigen Maßstäbe hinaus noch erweitert (vgl. hierzu näher die Ausführungen im Beitrag von H.-J. V O G E L , Die bundesstaatliche Ordnung des GG, S. 809ff). Da inzwischen mehr als die Hälfte aller Gesetze als zustimmungspflichtig gilt, kann man von einem erheblichen Positionsgewinn des Bundesrates sprechen. Zur dritten Phase gehört schließlich das Inkrafttreten des jeweiligen Gesetzes. Es setzt zum einen voraus, daß das Verfahren gemäß Art. 77 abgeschlossen und damit die für den Gesetzgebungsprozeß vorgeschriebene Form eingehalten ist und daß zum anderen der Bundespräsident nach Gegenzeichnung das Gesetz ausfertigt. Zu dieser Ausfertigung ist der Bundespräsident nicht in jedem Falle gehalten. Er muß immer

1110

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

prüfen, ob das Gesetz formal korrekt zustandegekommen ist, eine Prüfung, die noch im Verfahren selbst, also vor der Gesetzesverkündung erfolgen soll (formelle Prüfung). Strittig ist, ob der Bundespräsident auch inhaltlich die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes überprüfen und im Zweifel daraus Konsequenzen ziehen darf (materielle Prüfung). Angesichts der starken Stellung des Bundesverfassungsgerichtes bestand oft eine gewisse Neigung, die Stellung des Bundespräsidenten als schwach einzustufen. Politisch dürfte kein Präsident gut beraten sein, es an diesem Punkt auf eine Machtprobe ankommen zu lassen. Sehr wohl kann aber eine Situation eintreten, in der andere Partner am Prozeß dankbar sind, wenn der Bundespräsident aufgrund von Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes dieses bis zum Ende der Legislaturperiode liegen läßt, an dem alle nicht verabschiedeten Gesetze hinfällig sind. KLAUS STERN schlägt auch unter Hinweis auf das faktisch von allen bisherigen Bundespräsidenten wahrgenommene inhaltliche Prüfungsrecht vor, von einer Mitwirkung „rechtswahrender N a t u r " des Bundespräsidenten bei der Gesetzesausfertigung zu sprechen 25 . Art. 82 (1) G G bestimmt schließlich, daß „die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustandegekommenen Gesetze" nach Gegenzeichnung vom Bundespräsidenten ausgefertigt und verkündet werden. Gesetze und Rechtsverordnungen sollen dabei eine Regelung über den Zeitpunkt ihres Inkrafttretens enthalten (Art. 82 Abs. 2 GG). Fehlt sie, dann tritt das Gesetz oder die Rechtsverordnung automatisch mit dem 14. Tage nach Ablauf des Tages in Kraft, an dem das Bundesgesetzesblatt ausgegeben worden ist. Die drei in der Hauptsache an der Gesetzesgebung beteiligten Organe unterscheiden sich in charakteristischer Weise. Sie haben zwar alle das Recht der Selbstbestimmung ihrer Arbeitsweise im Blick auf die Gesetzgebung, aber nicht in gleicher Weise Recht und Möglichkeit, ihr Arbeitspensum und den Arbeitsrhythmus festzulegen. Volle Souveränität kommt hier nur der Bundesregierung zu. Für sie ergeben sich lediglich dann Fristen, wenn sie eine Gesetzesvorlage des Bundesrates an den Bundestag weiterleitet oder wenn sie gemäß Art. 113 (1) bei haushaltswirksamen Gesetzen den Bundestag zur Aussetzung der Beschlußfassung oder ihn gemäß Art. 113 (2) zu neuer Beschlußfassung auffordert bzw. gemäß (3) einem solchen Gesetz die Zustimmung versagt. Für den Bundestag gibt es überhaupt keine Fristen. Man kann ihn aber auch nicht als souverän in Bezug auf die eigene Arbeitsleistung ansprechen, weil ein großer Teil dieser Arbeit aus Regierungsvorlagen besteht, welche nur bedingt vorhersehbar und damit einplanbar sind. Die enge Verbundenheit ändert an diesem Faktum erfahrungsgemäß nichts; sie bewirkt allenfalls, daß man sich angesichts des Endes einer Legislaturperiode auf eine gemeinsame Vorgehensweise, praktisch auf eine Prioritätenliste einigt. Da dies häufig vorkommt, muß man von einer notorischen Überlastung des Bundestages sprechen. Am deutlichsten eingeschränkt ist die Souveränität in der eigenen Arbeitsgestaltung beim Bundesrat. Ihm wird angesichts der Terminierung im ersten wie im zweiten Durchgang sogar weithin die Tagesordnung vorgegeben und er muß auch seine Ausschußsitzungen an den Terminplan der beiden 25

K. STERN Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Band II, 1980, S. 228ff.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1111

anderen Organe anpassen. Der Bundesrat kommt deshalb immer wieder in Termindruck. Er erweist sich schon deshalb nicht als ,Parlament' im engeren Sinne des Wortes, als ihm eben diese Souveränität in der eigenen Arbeitsplanung fehlt 2 6 .

4. Sonderformen der Gesetzgebung Das Grundgesetz muß neben dem Normalfall des Gesetzgebungsverfahrens, gekennzeichnet durch eine bestimmte Hierarchie der Beteiligung, Vorkehrungen für die Fälle treffen, in denen die Regelungen des Normalfalls nicht funktionieren oder nicht ausreichen. Gerade in diesem Zusammenhang erweist sich die ,Rechtskultur' als besonders prägend; alle Detailregelungen finden sich analog schon in der Weimarer Verfassung; das von G . ANSCHÜTZ/R. THOMA herausgegebene Handbuch faßt sie systematisch zusammen. Wir begnügen uns an dieser Stelle mit einigen wenigen Hinweisen. Das Grundgesetz sieht für den Fall, daß das Zusammenwirken der genannten Bundesorgane nicht funktioniert, den Gesetzgebungsnotstand gemäß Art. 81 vor und es bestimmt durch Art. 115 c und d, daß im Verteidigungsfall die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ausgeweitet wird und ggf. ein abgekürztes Verfahren der Gesetzgebung stattfinden darf. Außerdem kann nach Art. 115e ein Gemeinsamer Ausschuß an die Stelle von Bundestag und Bundesrat treten, wenn im Verteidigungsfall nach Festlegung dieses Ausschusses der Bundestag am Zusammentreten oder am rechtzeitigen Zusammentreten gehindert ist. Diese Bestimmungen des Grundgesetzes seien hier als Vorsorgebestimmung nur erwähnt; sie wurden weithin mit der Begründung eingeführt, daß man im wie auch immer gearteten Ausnahmefall nicht einfach auf ein vermeintliches ius eminens der Exekutive oder auf deren Zuständigkeit im Zweifelsfalle zurückweichen oder -greifen, sondern ein Mindestmaß an rechtsstaatlicher, d . h . vorher vereinbarter Form gewährleisten wolle. In ähnlicher Weise sieht das Grundgesetz von Anfang an auch seine eigene Weiterentwicklung vor. Es ermöglicht neben dem (selbstverständlichen) Verfassungswandel, durch den es im Rahmen der gegebenen Formen zu inhaltlichen Veränderungen kommt ( z . B . zu einer stärkeren Führungsposition des Kanzlers oder zu einer stärkeren Stellung des Kabinetts), die auch wieder rückgängig gemacht werden können, auch die konkrete Verfassungsänderung gemäß Art. 79 G G . Im Verfassungswandel ist im Vergleich zu 1949 die Stellung des Bundesrates viel stärker geworden. Die Verfassungsänderungen korrespondieren damit, indem sie zu einem großen Teil Kompetenzverschiebungen von den Ländern zum Bund oder Neuregelungen der Steueraufteilung mit sich brachten. Darin kommt eine zentralistiscbe Tendenz zum Ausdruck, die bis zu einem gewissen, im einzelnen schwer auszumachenden Maße durch den Positionsgewinn des Bundesrates konterkariert wird. Unstreitig gewinnen jedenfalls die Landesregierungen im Bund einen Teil des politischen Einflusses

26

Vgl. Bundesrat ( H r s g . ) Der Bundesrat als Verfassungsorgan und als politische Kraft, 1974, und oben S. 899 ff.

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7. Kapitel. Staatliche Funktionen

zurück, auf den sie im Land durch Abgabe von Kompetenzen an den Bund verzichten. Da sie gleichzeitig, wie schon erwähnt, Verwaltungsmacht gewinnen, bleibt die Machtbalance ggf. gewahrt. Das gilt aber nur für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, nicht für das Verhältnis zwischen Regierungen und Parlamenten: Die Gewichtsverlagerung zum Bund hin bei gleichzeitiger stärkerer Einschaltung des Bundesrates stärkt die Regierungskomponente und schwächt die parlamentarische. Wir kommen darauf zurück. An Verfassungsänderungen stellt das Grundgesetz nur die Anforderungen, daß zum einen die Änderung ausdrücklich angesprochen wird und zum anderen jeweils zwei Drittel der Mitglieder des Bundestages und der Stimmen des Bundesrates zustimmen. Außerdem sind Grundprinzipien der Verfassung von jeder Veränderung ausgenommen, nämlich „die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung" und die ,,in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze". Formal handelt es sich um ,geringe' Anforderungen. Politisch setzt eine Verfassungsänderung unter solchen Bedingungen dagegen einen relativ weitreichenden Konsens oder aber eine in dieser Größenordnung kaum vorstellbare Mehrheit voraus. Tatsächlich ist der Konsens gemeint: Das Grundgesetz läßt es nicht nur zu, sondern hält ausdrücklich die Möglichkeit bereit, daß aufgrund eines solchen Konsens' faktische Entwicklungen in der Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern berücksichtigt oder die Regeln des politischen Prozesses geändert werden. Im übrigen sollte bei einer Verfassung, die wegen der föderalistischen Problematik relativ weitgehend ins Detail gehen muß, die formelle Möglichkeit der Verfassungsänderung als selbstverständlich gelten. Es mag dann eher eine Frage des politischen Stils sei, ob man sich mehr um anpassende Regelauslegung bemüht oder zur formellen Verfassungsänderung schreitet. In ihr kommt jedenfalls der Verfassungskonsens noch am ehesten zum Ausdruck.

5. Probleme des Gesetzgebungsprozesses Das Grundgesetz soll durch die Gewährleistung der für den Gesetzgebungsprozeß vorgeschriebenen Form demokratische, rechtsstaatliche und föderalistische Prinzipien sichern. Demokratie erfordert, daß sich Gesetzgebung öffentlich ereignet und die Mehrheit entscheidet. Die Minderheit muß aber die Chance haben, abweichende Ansichten so zur Geltung zu bringen, daß die Komponente der Meinungsbildung auch im Prozeß der politischen Willensbildung zum Zuge kommt. Das Rechtsstaatsprinzip fordert u. a., daß Rechtssicherheit gewährleistet ist; der Bürger hat Anspruch auf Vertrauensschutz. Was dies im einzelnen bedeutet, wird in dem Beitrag von E. B E N D A (s. oben S. 497ff) näher dargestellt. Der Föderalismus schließlich ist nicht allein gewährleistet, wenn die formalen Bestimmungen über die Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern eingehalten werden. Diese Aufgabenteilung muß auch inhaltlich sinnvoll praktiziert werden. Deshalb sind beide Partner am Willensbildungsprozeßbeteiligt. Eine solche Auflistung von Prinzipien ist weder vollständig noch von vorneherein plausibel. Sie taugt aber dazu, ,Probleme' anzusprechen, wie sie sich im Gesetzgebungsprozeß der Bundesrepublik ergeben haben.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

a) Gefährdung

demokratischer

1113

Prinzipien

Das Grundgesetz sichert die Beteiligung des vom Volke gewählten Parlaments am Gesetzgebungsprozeß. Kein Gesetz kommt ohne den Beschluß des Bundestages zustande. Die Möglichkeit der Rechtssetzung durch Rechtsverordnung ist gemäß Art. 80 (1) G G eindeutig begrenzt und an den Willen des Bundestages rückgebunden; aus der internationalen Rechtsentwicklung, vor allem aus den rechtsetzenden Möglichkeiten der Europäischen Gemeinschaft, ergeben sich zwar Zuständigkeitsverminderungen für das nationale Parlament — so wie sich im föderalistischen Staat für die Parlamente der Gliedstaaten Einbußen ergeben —, der Bundestag hat sie aber international gutgeheißen und sich hier eigene Beteiligungsmöglichkeiten zu sichern gesucht 27 . Dennoch haben sich fraglos qualitativ Form und Wirkung der Beteiligung des Parlaments im Verlaufe der Parlamentsgeschichte der letzten 100 Jahre und damit auch in der Bundesrepublik geändert. Art und Umfang dieser Änderung können hier nicht ausführlich erörtert, aber auf drei wesentliche Ursachen zurückgeführt und in Zusammenhang mit ihnen kurz dargestellt werden. Die erste Ursache liegt in der Vermehrung der Zahl wie des Umfanges vieler Gesetze — der Umfang des Einkommensteuergesetzes hat sich z . B . bei weitgehender Beibehaltung des formalen Aufbaus von 1949 bis 1979 ziemlich genau verzehnfacht. Die zweite Ursache liegt im qualitativen Bereich der Intensivierung der Staatstätigkeit, aus dem sich die zwingende Notwendigkeit der zunehmenden Spezialisierung des einzelnen Gesetzes ergibt. Die dritte Ursache hängt mit der Veränderung von Politik und Politikvollzug schlechthin zusammen, die in immer stärkerem Maße zu Programmen, Planungen usw. führt, in deren Rahmen das einzelne Gesetz dann einen bestimmten Platz bekommt, so daß weniger die Entscheidung über das Gesetz als die Entscheidung über diesen Platz das eigentliche Politikum ausmacht. Auf solche ,Ursachen' hat das Parlament unterschiedlich reagiert. Die Reaktionen führen zu den hier anzusprechenden Veränderungen 28 . Ein Mehr an Gesetzen bedeutet ein Mehr an Arbeit. Die Regierung bewältigt es, indem sie ihren Apparat vergrößert. Dem Parlament ist dieser Weg versperrt. Unabhängig von der Diskussion über parlamentarische Hilfsdienste und die persönliche Amtsausstattung der Parlamentarier muß im Parlament letztendlich die eigentliche parlamentarische Arbeit von den Parlamentariern getan werden. Ihre Zahl läßt sich nicht beliebig vermehren, man hat sie innerhalb der deutschen Entwicklung sogar eher vermindert. Wer auf vermehrte Arbeit nicht durch die Bereitstellung von zusätzlichem Personal reagieren kann, muß seine Arbeitsweise verändern. Im Vergleich zum Reichstag der Zeit vor 1919 und auch noch bedingt im Vergleich zum

27

28

Vgl. F. SCHÄFER Der Bundestag. Eine Darstellung seiner Arbeitsweise, verbunden mit Vorschlägen zur Parlamentsreform, 2. Aufl., 1975. Zum Folgenden U. THAYSEN Parlamentsreform in Theorie und Praxis. Zur institutionel-

len Lernfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems. Eine empirische Analyse der Parlamentsreform im 5. Deutschen Bundestag, 1972.

1114

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Reichstag der Zeit nach 1919 hat der Bundestag seine Arbeitsweise dahingehend geändert, daß er die relativ gründliche Gesetzesberatung zwar beibehalten hat — die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches durch den Reichstag im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gilt bis heute als ein Muster parlamentarischer Gesetzesarbeit —, sie aber immer mehr arbeitsteilig vollzieht. Damit sind die Ausschüsse in vieler Hinsicht an die Stelle des Plenums getreten. Ausschüsse ,vertreten' jedoch nicht einfach das Plenum; sie haben auch ihre eigene Sichtweise. Vereinfacht: Der Bundestag hat auf die vermehrte Arbeit mit Spezialisierung in der Arbeitsbewältigung reagiert. Er hätte auch auf die gründliche Gesetzesberatung verzichten können — es gibt dafür manche Vorbilder im britischen Unterhaus —, um sich ganz auf die Diskussion der jeweiligen politischen Implikationen zu konzentrieren. Diese Alternative, in den langen Diskussionen zur Parlamentsreform immer wieder erörtert, lag zuletzt aber weit von der deutschen Tradition ab. Das Parlament versteht sich weiterhin als Arbeitsparlament und weicht auf die Ausschüsse aus. Damit versetzt es sich zugleich in die Lage, die zunehmende Spezialisierung der Gesetzgebung auch parlamentarisch nachzuvollziehen. In den Ausschüssen sind die Fraktionsspezialisten mit den Spezialisten des betreffenden Ressorts ,unter sich'. Das beschleunigt die Beratung, befördert aber auch die Bevorzugung der ressort- oder klientelspezifischen Gesichtspunkte. Spezialisierung bedeutet immer einen Rückzug aus der Öffentlichkeit. So wie schon das Parlamentsplenum oft nur ungeduldig die Auseinandersetzungen der Spezialisten erträgt, findet auch die Öffentlichkeit keinen Zugang zu ihnen. Ersatzweise werden einschlägig spezialisierte Teilöffentlichkeiten tätig. Damit ist ein sich selbst verstärkender Prozeß der Politiksegmentierung in Gang gekommen, durch den relevante Teile von Politik aus der öffentlichen Diskussion verschwinden. Was in ihr übrig bleibt, wirkt oft wie ein Zerrbild von Politik, weil nun die persönlichen Streitigkeiten und tatsächlich oder scheinbar ideologische Gegensätze dominieren, während es in der parlamentarisch-politischen Arbeit realiter überwiegend um — durchaus auch heftige — Auseinandersetzung in Spezialfragen geht. Im Ergebnis entzieht sich der Bundestag keinesfalls der politischen Auseinandersetzung, gibt ihr vielmehr in den zahlreichen Ausschüssen im Detail viel mehr Gelegenheit als ein Parlament, in dem die Plenarverhandlungen überwiegen. Die Auseinandersetzung findet aber nicht in der Öffentlichkeit statt: Innerparlamentarische Arbeitsteilung und unvermeidliche Spezialisierung verändern damit die Position des Parlaments29. Sie ist keinesfalls durch Schwäche oder Funktionsverlust gekennzeichnet. Das Parlament nimmt vielmehr eine starke Stellung im politischen Prozeß ein. Seine Stärke ergibt sich allerdings durch Mitwirkung im Detail. Sie wird auch durch Ausdehnung des legislatorischen Bereichs gesichert. Umgekehrt bedeutet diese Ausdehnung tendenziell Festlegung des Parlaments auf das Detail und potentiell den Verlust der Fähig29

Systemtheoretisch betrachtet fügt sich damit das Parlament so nachhaltig in das politische System ein, daß es seine Vermittlerrolle zum sozio-kulturellen System hinüber gefährdet; in der deutschen Verfassungstradition: Das Parlament gehört immer mehr zum ,Staat'

und entfernt sich entsprechend von der ,Gesellschaft'. Im Text läßt sich das nicht ausführen, weil die staats- und demokratietheoretisehen Implikationen aus Platzgründen nicht zureichend erörtert werden konnten.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1115

keit, sich der jeweiligen Zusammenhänge zu vergewissern. Das spiegelt sich in den qualitativen Veränderungen des Gesetzes wieder, auf die wir sogleich zurückkommen. Thematisch ausgespart bleibt hier die veränderte Rolle des Abgeordneten, die immer stärker auch durch Spezialistentum geprägt erscheint, jenseits dessen für den , Volksvertreter' gelegentlich nur eine (oft peinlich pathetische) Routine übrig bleibt — im Wahlkreis sind Spezialistenerfahrungen und -erfolge meist nur bedingt verwertbar.

b) Gefährdung

rechtsstaatlicher

Prinzipien

Die quantitative Erweiterung des Gesetzbestandes und die damit veränderte, vielfach durch hohe Spezialisierung gekennzeichnete Qualität eines großen Teiles der Gesetze hat Rückwirkungen auf die Gültigkeit rechtsstaatlicher Prinzipien. In der Hauptsache wird die seit der Abkehr vom Volksrecht stattfindende Entfremdung zwischen Recht und Rechtsgenossen verstärkt. Dazu trägt bei, daß sich auch die zwischen Recht und Rechtsgenossen vermittelnden rechtsnahen Berufe mehr und mehr der Rechtsspezialisierung beugen müssen. Das schwächt ihre Autorität, ermöglicht es, sie gegeneinander auszuspielen und vermindert gemeinsam mit anderen analogen Entwicklungen die Rechtssicherheit im Sinne von Rechtsklarheit und Rechtsgewißheit. Benutzt man diesen Zusammenhang als Beurteilungshorizont, läßt sich aus ihm keine unmittelbare Kritik am Gesetzgebungsprozeß ableiten. Anders liegt es bei den Ergebnissen dieses Prozesses. Angesichts ihrer großen Zahl muß es in den Gesetzen Fehler und Mängel geben. Das ließe sich an Beispielen illustrieren, kaum allerdings systematisch nachweisen. Die zahlreichen Beispiele für sprachlich wenig überzeugende oder einfach überflüssige Gesetzesbestimmungen erlauben nur Zweifel an der Qualität der Gesetze, erbringen keinen Nachweis. Für den zweiten kritischen Ansatz gibt es mehr Belege: Im Gesetzgebungsprozeß wird in der Regel gründlich gearbeitet. Das gewährleistet, daß man trotz der großen Zahl der Gesetze und der ständigen Notwendigkeit, sie zu ändern, rechtstechnisch einigermaßen einwandfrei verfährt. Allerdings muß man dazu alle rechtstechnischen Möglichkeiten nutzen, ohne zu fragen, ob so nicht eine partielle Hyperrationalität entsteht, die für Außenstehende nicht mehr nachzuvollziehen ist. In Nordrhein-Westfalen wurden 1978 20 Gesetze mit durchschnittlich 20,6 Paragraphen und durchschnittlich 23 Verweisungen erlassen. Bei den 145 Verordnungen handelte es sich um durchschnittlich 4,5 Paragraphen und 7,2 Verweisungen. Das rechtstechnische Instrument der Verweisung wird mithin benutzt, um die Abstimmung zwischen immer mehr und sich auch immer mehr überschneidenden Gesetzen und Verordnungen zu erreichen. Diese Abstimmung gelingt; man verzichtet gleichzeitig aber auf ein wichtiges Stück an Brauch- und Lesbarkeit von Gesetzen. Wer mit vielen Verweisungen operiert, wendet sich von vorneherein nur noch an die, welche professionell mit dem Gesetz umgehen. Die quantitative Entwicklung der Gesetzgebung hängt mit einem höheren und anderen Regelungsbedarf zusammen. Sie folgt aber auch dem Umstand, daß man sich einmal daran gewöhnt hat, Gesetze von vorneherein nur für bestimmte Fristen zu

1116

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

verabschieden oder aber ihre Änderung als ein selbstverständliches Element von Gesetzgebung zu betrachten. Von den erwähnten 20 Gesetzen des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahre 1978 waren 7 ,neu', bei 13 handelte es sich um Änderungen bestehender Gesetze. 1979 erwiesen sich 12 von den insgesamt 36 Gesetzen als ,neu', 1980 7 von 28. Der Gesetzgeber, der sich auf die Gesetzesveränderung als rechtstechnisches Instrument einläßt, gewinnt eine Möglichkeit der Aktualisierung und folgt mit einem für andere Gegebenheiten bestimmten Verfahren einem erheblich gewachsenen Bedarf. Zugleich nimmt er aber auch in Kauf, daß sich der Rechtsbestand ständig ändert, was Rechtssicherheit vermindert und den Umgang mit dem Gesetz ebenso wie seinen Vollzug erschwert oder sogar unmöglich macht. Stellt man das eben erwähnte Beispiel anders herum dar, waren im Herbst 1981 von den 20 Gesetzen des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahre 1978 noch 3 unverändert in Kraft. Zum gleichen Zeitpunkt waren von den 1979 erlassenen 36 Gesetzen noch 14 unverändert und auch von den 1980 verabschiedeten 28 Gesetzen war bereits die Hälfte nach einem knappen Jahre wieder verändert, für die Zukunft obsolet geworden (Haushaltsgesetze) oder ganz durch ein anderes Gesetz ersetzt. Ein solches Veränderungstempo erscheint umso atemberaubender, je mehr man an die Gewöhnungszeiten denkt, die man in Behörden einkalkulieren muß, bevor man mit einem verläßlichen Vollzug von Gesetzen rechnen kann. Rechtsförmlichkeit wird derart insgesamt durch ein deutliches Übermaß in der Anwendung rechtstechnischer Hilfsmittel und durch die Bereitschaft, ständig auch am bereits verabschiedeten Gesetz zu arbeiten, gewährleistet. Die Konsequenzen für das Rechtsbewußtsein werden in Kauf genommen. Diejenigen, welche Gesetzentwürfe formulieren, wenden zu ihrer Entlastung ein, sie stünden unter dem Druck vermehrter richterlicher Überprüfung. Man kann mit diesem Argument aber kaum das Bestreben begründen oder entschuldigen, möglichst alle denkbaren Gerichtsurteile schon im Gesetz vorwegzunehmen und im Gesetz den Gesetzeskommentar gleich mitzuliefern. Es erscheint (mir) auch ziemlich sicher, daß es sich hier um ein sekundäres Argument handelt. Primär dürfte man von der Erfahrung ausgehen, daß der größte Teil der Gesetze und Verordnungen unmittelbar doch nur im Binnenbereich des politischen Systems, vorwiegend also im Verhältnis von Bund und Ländern und im Verhältnis von Ländern und Gemeinden wirksam wird. Später gehen zwar mittelbare Wirkungen von Vollzugsbehörden aus; der Rückgriff auf den Gesetzesbefehl selbst ist dabei aber nur selten erforderlich. Wieder am Beispiel: Von den 1978 bis 1980 in Nordrhein-Westfalen verkündeten 458 Gesetzen und Verordnungen bezogen sich 377 auf Angelegenheiten der öffentlichen Hand selbst, nur 81 wandten sich unmittelbar an den einzelnen Bürger oder an näher bestimmte Gruppen in der Gesellschaft. Diese Relation hat ihren Grund in der begrenzten Gesetzgebungskompetenz der Länder. Vereinfacht kann man wohl mit der Faustregel arbeiten, daß der Gesetzgeber allenfalls mit einem Drittel seiner Gesetze unmittelbar über das engere politische System hinauswirkt, während er die übrigen Gesetze benötigt, um Organisation und Tätigkeit des politischen Systems zu bestimmen. Diese Tätigkeit wendet zu einem Teil wieder nach außen; interne Anweisungen rufen externe Wirkungen hervor. Der Rückbezug auf das behördliches Handeln auslösende Gesetz ist aber von

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1117

anderer Art als man sich ihn' ursprünglich, fixiert auf Konditionalprogramme vorgestellt hat 30 . Rechtsstaatliche Prinzipien sind demzufolge durch die quantitative Entwicklung der Gesetzgebung gefährdet. Diese Entwicklung wird man vorwiegend in Zusammenhang mit den Veränderungen des modernen Staates und den ihnen zugrundeliegenden Veränderungen der Gesellschaft sehen müssen. Die jeweiligen Mehrheiten können den Prozeß wohl nur verlangsamen oder beschleunigen; sie verursachen ihn nicht. Die Ursachen liegen im weitesten Sinne national im ständigen sozialen "Wandel und international in der in allen Lebensbereichen zunehmenden Verflechtung. Als wichtigste Folge muß gelten, daß der Staat sich nicht nur vom Ordnungszum Leistungs- oder Daseinsvorsorgestaat wandelt, sondern immer stärker Zukunftsvorsorge treiben muß 31 . So wirkt ein Teil der Vermehrung der Gesetze fast schicksalhaft. Allerdings ergibt sich die quantitative Entwicklung zum Teil auch daraus, daß man den Gesetzgebungsprozeß relativ einfach gestaltet hat. Das erlaubt das rasche Eingehen auf Klientel- oder Interessenwünsche und eine ständige Anpassung vieler gesetzlicher Vorschriften. Letztere ist für die Verwaltung oft leichter als die Veränderung der eigenen Verfahren und Gewohnheiten, macht aber die Gesetzgebung zur Funktion der Exekutive: Die Gefährdung des Rechtsstaates, wie sie sich aus der Korrelation von Rechtsmenge und möglicher Rechtskenntnis ergibt, hängt auch damit zusammen, daß die Gesetzgebung immer mehr im Dienste exekutiver Bedürfnisse steht. Nur vor diesem Beurteilungshorizont kann man m. E. die These vom Bedeutungsverlust des Parlaments ernsthaft diskutieren, wenn und insoweit sie nämlich einem Bedeutungsverlust des Gesetzes entspricht. c) Gefährdung

föderalistischer

Prinzipien

Den derzeitigen deutschen Föderalismus kennzeichnet nicht eine deutliche Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern, innerhalb derer es auch zu klaren — im .föderalistischen Geiste' durchaus gewollten — Unterschieden zwischen den Ländern in den ihnen vorbehaltenen politischen Gestaltungsbereichen kommt. Kennzeichnend ist vielmehr die zunehmende Politikverflechtung im Sinne einer weithin gemeinsamen Politikformulierung, die deshalb, weil man sich einigen muß, zur Bevorzugung des kleinsten gemeinsamen Nenners führt, und einer entsprechenden Politikdurchsetzung 32 . Die Verflechtung bewirkt, daß sich Bund und Länder in einer Unzahl von Gremien und Verfahren verständigen, ihre Politik aufeinander abstimmen, Teile dieser Politik vollends miteinander vermischen und dann einvernehmlich vollziehen.

30

Eine mit gesetzgebungswissenschaftlichen Kriterien arbeitende systematische Durchforstung des Gesetzesbestandes gibt es z. Zt. allenfalls in den ersten Anfängen. Die Beispiele im Text stammen aus der Tätigkeit der Kommission für Gesetzes- und Verwaltungsvereinfachung des Landes Nordrhein-Westfalen; ich bin einigermaßen sicher, daß in anderen

31

Bundesländern die Dinge ähnlich liegen. Im übrigen vgl. P. NOLL Gesetzgebungslehre, 1976. Vgl. R. HERZOG Verwaltung und Verwaltungsrecht in einer freiheitlichen Industriegesellschaft. Sitzungsbericht L. zum 48. Deutschen Juristentag, 1970.

32

S o F . SCHARPF u . a. ( F n . 2 2 ) .

1118

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Diese besondere Art des kooperativen Föderalismus erzwingt eine immer weitergehende Konkordanz von Bund und Ländern und zugleich ein Ausklammern derjenigen Themen, hinsichtlich derer man zur Konkordanz nicht bereit ist. Als besonders gutes Beispiel kann die Reform der Oberstufe höherer Schulen dienen, an der nach der neueren Rechtssprechung der (Landes-)Gesetzgeber zu beteiligen ist. Da nur eine rechtsförmliche Gesamtentwicklung mitsamt der Koordination von 11 Gesetzgebern möglich wäre, findet eine solche Entwicklung nicht statt. Unter föderalistischem Aspekt erscheint die Bundesrepublik derart als Konkordanzdemokratie, in der die großen Parteien unabhängig von ihren jeweiligen Wahlergebnissen auf Zusammenarbeit hin angelegt sind. Das steht zumindest bedingt im Widerspruch zu dem konkurrenzdemokratischen Bild, welches die nämlichen Parteien in den politischen Auseinandersetzungen auf Bundes- und Landesebene von sich zeichnen. Daß auch dieses Bild nicht ganz eindeutig ist, wurde schon in Zusammenhang mit den Überlegungen zum Arbeitsparlament gesagt, in dem sinnvollerweise die meisten Gesetze nach gemeinsamer Arbeit auch einvernehmlich Zustandekommen. Hier interessiert die föderalistische Komponente. Der zumindest partielle Widerspruch zwischen der in der Politikverflechtung praktizierten Konkordanzdemokratie und der auf parlamentarischer Ebene dargestellten Konkurrenzdemokratie erklärt sich zu einem erheblichen Teil daraus, daß die besonderen Kooperationsformen im deutschen Föderalismus — wie übrigens ähnlich die zwischen Ländern und Gemeinden — eindeutig die Exekutiven in den Mittelpunkt stellen und dem Parlament in Land und Bund nur wenig Gestaltungsmöglichkeiten lassen. Der Bundestag beschließt zwar als Haushaltsgesetzgeber z . B . generell politische Programme, die dann mit den Ländern gemeinsam und unter zusätzlichem Einsatz von Landesmitteln durchgeführt werden. Weil diese Gemeinsamkeit aber jeweils abgesprochen, durch Stillhalteabkommen (z.B. im Besoldungs- und Dienstrecht) herbeigeführt oder vertraglich abgestimmt werden muß, sieht sich der Bundestag auf den generellen Beschluß beschränkt, wenn er nicht im Rahmen des Haushaltsplanes Festlegungen treffen kann, die zumindest die finanzielle Ausstattung einzelner Programmteile fixieren und so als Vorgabe in den Bund-Länder-Verhandlungen wirken. Sehr viel schwächer erscheint der Landeshaushaltsgesetzgeber. Er muß entweder Landesmittel generell bereitstellen, damit dann die Regierung mit dem Bund entsprechende konkrete Absprachen treffen kann, oder aber er wird vor die Tatsache solcher Absprachen gestellt, angesichts derer es politisch widersinnig wäre, die Landesmittel zu verweigern. So wirkt sich der Sog des jeweils größten Haushaltes voll im Landesbereich aus und es verstärkt sich durch die zunehmende Politikverflechtung der Charakter des deutschen Föderalismus als eines Verwaltungsföderalismus, in dem es zu zunehmendem Einflußverlust der Landesparlamente kommt. Die Landesregierungen können dagegen angesichts der ihnen dabei zufließenden Verwaltungsmacht der legislatorischen Gewichtsverschiebung zum Bunde hin mit größerer Gelassenheit zusehen. Seit 1949 ist es jedenfalls zu einer solchen Gewichtsverschiebung ohne nennenswerten Widerstand der Länder gekommen. Ob die Erfahrungen mit den Gemeinschaftsaufgaben hier eine Umkehr bewirken, sei dahingestellt. Es erscheint immerhin möglich.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1119

Für die Bundesgesetzgebung hat diese Entwicklung zur Folge, daß ähnlich wie bei internationalen Verträgen, welche der Bundestag zum Schluß durch Gesetz nur zur Kenntnis nehmen, nicht mehr materiell beeinflussen kann, eine näher bestimmbare Gruppe von Gesetzen auf Vorabsprachen zwischen den Exekutiven des Bundes und der Länder beruht, die nur noch eine legislatorische Bestätigung zulassen. Begnügte sich der Bundestag damit nicht, müßte er im Bundesrat mit entsprechenden Revisionswünschen rechnen, die dann der Vermittlungsausschuß übernimmt. Gewichtiger wirkt aber als Funktionsänderung des Organs Parlament, daß die Politikformulierung des Bundes zu weitgehend in Absprache mit den Ländern erfolgt — jedenfalls in bedeutsamen Politikbereichen —, um noch eine ,offene' Begegnung von Parlament und Regierung zuzulassen. Die Regierung kann zum Zeitpunkt der parlamentarischen Debatte nicht mehr zurück oder sie kann es nur, wenn man einen erheblichen Aufwand von neuen Verhandlungen auf sich nimmt. Die Tatsache, daß Einvernehmen erzielt ist, wirkt jedenfalls als Entscheidungsargument. Es wirkt in einem Länderparlament oft schon deshalb noch stärker als im Bundestag, weil das Verhandlungsgewicht der einzelnen Landesregierung geringer ist und sie über weniger Möglichkeiten verfügt, die Verhandlungen wieder aufnehmen zu lassen. Konsequenzen dieser Art lassen sich allerdings erst diskutieren, wenn man die Dinge auch unter exekutivischem Aspekt betrachtet hat.

6. Probleme des Gesetzes a) Der legislatorische

Pragmatismus

Im empirisch analysierbaren Gesetzgebungsprozeß des Bundes muß es als Problem angesehen werden, daß das Parlament seine spezifische Rolle in diesem Prozeß nur noch eingeschränkt wahrnehmen kann, daß weiter das Parlament als Gesetzgeber zwar seine Beteiligungsposition sichert, damit aber zugleich zur Vermehrung der Gesetze und mit ihr zur Gefährdung des Rechtsstaates beiträgt und daß schließlich neben der wegen der internationalen Verflechtung unvermeidlichen Stärkung der Exekutive auch die föderalistische Struktur der Bundesrepublik Regierungen und Verwaltungen in ihrem Verhältnis zum Parlament stärkt. Man kann deshalb sagen, daß das Parlament seinen Anteil an der politischen Führung nur bewahrt, indem es früher als unstrittig geltende Prinzipien ständig uminterpretiert. Die durch die Verfassung gesicherte Form des politischen Prozesses läßt damit dessen stets mitzudenkende und an den einzelnen Organen festzumachende Qualitäten nicht unberührt. Dies gilt auch für die Form des Gesetzes im engeren Sinne. Wie ausgeführt, liegt unserer Darstellung ein politischer Gesetzesbegriff' zugrunde. Er rückt die Beteiligung des Parlaments in den Vordergrund. Das Gesetz erscheint als diejenige Form parlamentarischer Beschlußfassung, die unmittelbar verbindlich wirkt. Trotz relativer Gültigkeit der Maxime, daß Gesetze abstrakt und generell zu sein hätten, muß sich das Parlament, um durch Beschlüsse seinen Führungsanteil zu sichern, darauf einlassen, daß Gesetze Einzelfallregelungen enthalten, befristet sind, das ihnen entsprechende Verwaltungsverfahren schon mitbestimmen oder aber Ermächtigungen aussprechen, die auf relativ vage Zielvorstellungen

1120

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

hin erteilt werden, ohne daß man — wie bei vielen Fördergesetzen — diese Ziele wirklich verbindlich machen kann. Das alles verändert die Gesetze qualitativ. Noch tiefgreifender erscheint die Veränderung in Bezug auf den Zeitpunkt des Beschlusses: Dieser beendet immer seltener eine politische Diskussion, sondern ist selbst Bestandteil eines Programmes oder einer längerfristigen Planung, zu der eben auch gehört, daß in einer bestimmten Phase ein Gesetz oder eine Gesetzesänderung notwendig wird. Diskutiert man diese Zusammenhänge, so erscheint es notwendig, ein Bekenntnis zum legislatorischen Pragmatismus voranzustellen, sich also nicht nur von einer liberalen und rechtsstaatlichen Gesetzestheorie zu distanzieren, sondern auch den Unterschied zum philosophischen Gesetzesbegriff und zu den überlieferten Vorstellungen von ,Norm' zu betonen. Die den eben geäußerten Andeutungen immanente Kritik soll vielmehr ihren Ansatzpunkt durchaus beim Parlament finden. Sie soll davon ausgehen, daß die historische ,Macht' des Parlaments nie darin bestand, politische Ziele in der Diskussion zu erarbeiten, Politik also vorzubereiten. Das Parlament war nie Regierung, nie der aktive, treibende Teil der politischen Führung. Seine Position erhielt Gewicht dadurch, daß sie am Ende des politischen Willensbildungsprozesses unentbehrlich war und damit in der Regel solche Prozesse auch wirklich beendete. Der parlamentarische Gesetzesbeschluß bedeutete das Ende der ihm vorausgegangenen politischen Auseinandersetzung; sein Ergebnis ging in die ,Ordnung* — verändernd, ergänzend, verdeutlichend — ein und war damit einerseits von relativer Dauer und andererseits eindeutig in seinen Folgen.

h) Gesetz — Politik — Planung Gegenüber dieser historischen Situation, wie sie weithin im 19. Jahrhundert bestand und sich in den parlamentarischen Monarchien und Demokratien auch an der Zeit ablesen läßt, die man sich gemeinhin für das Zustandekommen eines Gesetzes nahm, erscheint die derzeitige Entwicklung einerseits durch die stürmische Beschleunigung des Gesetzgebungsprozesses gekennzeichnet und andererseits durch das engere Zusammenrücken der beschließenden Parlamentsmehrheit und der sie führenden und beeinflußenden Regierung, hinter der wiederum ein imposanter und produktiver Apparat steht, der auf beide Druck ausübt. Die Verwaltung — gemeint: ihr Führungskern — hat es gelernt, den Gesetzgeber in Dienst zu nehmen, d.h. zumindest bei administrativen Problemen immer auch die Möglichkeit zu erörtern, ob nicht durch Gesetzesänderungen oder Erweiterungen des durch Gesetz festgelegten Bereiches diese Probleme vermindert werden könnten. Das Gesetz erscheint in anderer Weise verfügbar als früher. Man muß sich weniger darauf einrichten, wenn seine Veränderbarkeit und sogar seine rasche Veränderbarkeit zumindest für die Ministerialbürokratie im Bereich des Möglichen liegt. Gesetzgebung erweist sich insoweit als Teil des politischen Prozesses, nicht mehr als dessen jeweiliges Ende. Der Vergleich mit der Vergangenheit hat dabei eine analytische, nicht schon eine kritische Funktion. Es gilt zu sehen, was sich verändert hat. Das Warum bereitet dann keine größeren Schwierigkeiten; hier muß man auf den

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

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Wandel von Staat und Gesellschaft zurückgreifen, der in vielen Einzelheiten nach Gründen und Folgen umstritten sein mag, nicht aber in seinem Kern: Politik und Gesetzgebung bemühen sich darum, den Übergang von einer noch bedingt statischen zu einer sich ständig verändernden Gesellschaft nachzuvollziehen, die mit Industrialisierung und Urbanisierung nicht einen neuen, nunmehr für einige Zeit dauerhaften Zustand erreicht, sondern nur die Grundlagen für weiteren ständigen Wandel gelegt hat. Wie immer auch im einzelnen zu qualifizieren: Politik reagiert darauf weniger durch das Setzen und Stabilisieren von Ordnungen, sondern durch Leistungen, Maßnahmen, Steuerungsbemühungen, dadurch also, daß sie Zukunft vorwegnimmt und sich so selbst zu einem Teil des Veränderungsprozesses macht. Damit verliert sie die Distanz zu ihm und ist in ihren Hervorbringungen immer unmittelbar von ihm und seinen Unwägbarkeiten betroffen. Im weiteren Sinne sind die Instrumentarien einer solchen Politik — zu unterscheiden von Entwicklungen, in denen Politik auf Gesellschaftsveränderungen mit einem Mehr an Ordnungen, öffentlichen Einrichtungen und Leistungen reagiert hat 33 — Zukunftsentwürfe, Programme und Planungen, mithin — ich bediene mich eines verfremdenden Ausdruckes — gedankliche Hervorbringungen, die im Fluß der Veränderungen diese zu beeinflussen geeignet, aber auch imstande sind, sich an die Veränderungen anzupassen oder ihnen angepaßt zu werden. Vereinfacht: Man bemüht sich um ein flexibles Instrumentarium, um ein Programm der Forschungspolitik etwa, das über eine gewisse Zeit für seine Adressaten einigermaßen verläßlich ist, in dem man aber auch Schwerpunkte verändern oder neu einfügen, mit dem man also ,lernen', Entwicklungen gedanklich verarbeiten kann. Mit F R I E D E R N A S C H O L D geht es um Planung als „das Handeln eines Systems, das durch Rückkoppelungsprozesse einerseits aufgrund einer gewissen Umweltautonomie sich zielstrebig zu verhalten versucht, andererseits aus den rückgekoppelten Interaktionen mit der Umwelt zu lernen bemüht ist" 3 4 . Im Rahmen von Planung verändert sich nicht die Notwendigkeit, wohl aber die Art politischer Entscheidungen. Sie kommen zeitlich dort zustande, wo im Planungsprozeß eine Auswahl unter verschiedenen Alternativen erfolgt. In der Regel rechnet man das einer ,zweiten Hauptphase' im Planungsprozeß zu 3 5 . Ihr folgt dann die dritte, in der es um die Verwirklichung des geplanten Entscheides durch Einsatz des entsprechenden Instrumentariums geht. Zu diesem Instrumentarium gehört neben den personellen und finanziellen Ressourcen auch das Gesetz.

33

Der Plural bezieht die Zeit der Ablösung der mittelalterlichen Ständegesellschaft durch den modernen Staat und dessen spätere Reaktionen auf die erste und die zweite industrielle Revolution ein, Prozesse, deren Ursache und Verlauf mitsamt den wissenschaftlichen Reaktionen darauf z. B. von H . MAIER Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft), 1969, u n d R . KOSEL-

LECK Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung

34

35

und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 1967, aufgearbeitet worden sind. F . NASCHOLD Anpassungsplanung oder politische Gestaltungsplanung, in: W. STEFFANI (Hrsg.) Parlamentarismus ohne Transparenz, 1971, hier S. 77. Vgl. etwa B. LUTTERBECK Parlament und Information. Eine informationstheoretische und verfassungsrechtliche Untersuchung, 1977, S . 13 f.

1122

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Nicht jedes Gesetz, wohl aber viele Gesetze erhalten ihren Platz im politischen Prozeß oder auch ihren Stellenwert in diesem Prozeß im Rahmen politischer Planung. Sie werden benötigt, um eine bestimmte Realisationsstufe dieser Planung zu erreichen. Da das Parlament nicht selbst plant, bedeutet dies, daß sie zum entsprechenden Zeitpunkt vom Parlament abverlangt werden — deshalb ist das Parlament nicht souverän in seiner Arbeitsgestaltung und in seiner Mehrheit überaus eng mit der Regierung verbunden, mit der man unter dem nämlichen Erfolgszwang steht. Es bedeutet zugleich, daß eben auch das Gesetz immer häufiger nicht Bestandteil der rechtlichen Ordnung eines Lebensbereiches ist, sondern der Programmverwirklichung dient, selbst Ziele enthält, deren Erreichen von im Gesetzgebungsprozeß noch nicht bekannten Umständen abhängt usw. Dabei bleibt es gleichgültig, in welchem Umfang es im Gesetz noch um Gebote und Verbote geht, die sich an alle oder doch an größere Gruppen wenden — ein erheblicher Teil der Gesetze wird benötigt, um politischen Willen innerhalb der öffentlichen Hand durchzusetzen —, entscheidend ist vielmehr, daß viele Gesetze ihre Aufgabe nicht erfüllen, indem es sie gibt und man sie einhält, sondern indem sie eine Stufe auf einem Weg darstellen, der im einzelnen klar sein mag, der aber doch, weil sich die Verhältnisse ändern können, ins Ungewisse führt, oder indem sie einen Eventualfall als Möglichkeit konstruieren (vgl. die gesetzlich mögliche Berufsausbildungsabgabe, mit der sich Drohungen oder Anreize verbinden). Für Beispiele ist hier kein Platz; das Abwasserabgabegesetz wäre ein gutes Beispiel, das 1980 verhandelte Chemikaliengesetz wäre ein anderes, weil es auf die Schwierigkeiten des Gesetzgebers verweist, technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen auf der Spur zu bleiben, was nur gelingt, wenn man sie abstrakt vorwegnimmt. Die Umweltschutzgesetzgebung verweist mit den entsprechenden Konsequenzen für die Verwaltung auf genügend Problemfelder, die sichtbar machen, wie schwierig es ist, ein Ziel festzulegen und auf dieses Ziel hin Meßgrößen zu benennen, ohne daß der Gesetzgeber verbindlich festlegen kann, was auf welche Weise zu messen ist — auch die Entwicklung der Schadstoffe ist ja im Fluß. Ohne eine rechtsdogmatische Erörterung über den Gestaltwandel des Gesetzes zu beabsichtigen, reichen diese wenigen Überlegungen schon aus, um festzustellen: In dem Maße, in dem das Gesetz als Instrument einer planenden oder auf Planung beruhenden und sie verwirklichenden Politik beruht, nimmt es an der Realität von Planung teil. Planung läßt sich realiter am besten als ein Gemenge von Beobachtungen, Mitwirken und Lernen verstehen; sie erweist sich am tauglichsten dort, wo sie genügend Offenheit bewahrt, um Fehler korrigieren, neue Bedürfnisse befriedigen, unvorhergesehene Entwicklungen verarbeiten zu können. Das alles hat Rückwirkungen auf das eingesetzte Instrumentarium. Um ihretwillen müssen Gesetze auf Korrekturmöglichkeiten hin angelegt sein, muß man mit ihnen Erfahrungen' sammeln, muß man auf sie hin Evaluations- und Implementationsforschung betreiben 36 . Das

36

Vgl. H . WOLLMANN Politik im Dickicht der Bürokratie, Levithan-Sonderheft 3 / 1 9 7 9 , und P. MAYNTZ (Hrsg.) Vollzugsprobleme der Umweltpolitik. Empirische Untersuchung

der Implementation von Gesetzen im Bereich der Luftreinhaltung und des Gewässerschutzes, 1978.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

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macht aber nur einen Sinn, wenn man auch zu Konsequenzen bereit ist. Gesetze als Teil des Planungsprozesses kommen unter den für diesen Prozeß selbstverständlichen Vorbehalten zustande. Man hat deshalb schon erwogen, ob es so etwas wie ein ,Gesetz auf Probe' geben kann. Auch dies verdeutlicht die Problematik des Instruments — ein Instrument im Wandel — wie die des Gesetzgebers, dessen Beteiligung an der politischen Führung sich in der Gesetzgebung äußert, nicht in der Planung oder im Entwurf politischer Programme 37 . ,Sein' Instrument gerät damit in den Sog anderer Instrumente. R. T H O M A hat die Gesetzgebung als „fundamentale Funktion des Staates" bezeichnet. Wir erleben demgegenüber einen Einbruch in die tradierte Rechtskultur, eine geschichtliche Zäsur in den 60er und 70er Jahren. Aus ihr ergeben sich auch die Akzente, welche man heute bei der verfassungspolitischen Einordnung von Regierung und Verwaltung setzen muß.

III. Regierung und Verwaltung 1. Bundes- und Landes Verwaltung — Organisation und Probleme Föderalismus und Selbstverwaltung sind in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert — anders als z . B . in den Vereinigten Staaten — so konstruiert, daß Gemeinden, Länder und Bund zwar in der jeweiligen Spitze einen eigenen Organbestand haben, im übrigen aber organisatorisch aufeinander angewiesen sind 38 . Die Länder bedienen sich in ihrer .Verwaltung' der Gemeindeverwaltungen; der Bund bedient sich der Länder- und damit wiederum der Gemeindeverwaltungen. Die .öffentliche Hand' bildet eine gegliederte Einheit, allerdings mit dem entscheidenden rechtlichen Unterschied, daß der Bundesgesetzgeber auf die Landesverwaltungen angewiesen ist, dafür aber die Landesregierungen an der Bundesgesetzgebung beteiligt werden, während die Länder sich der Gemeinden bedienen, ohne diese entsprechend in die eigene Willensbildung einzubeziehen 39 . Dieser Unterschied ist jedoch nur ,rechtlich'. Politisch und in ihrer Verwaltungskraft ist manche Großstadt dem vorgeordneten Regierungspräsidium oder einem übergeordneten Ministerium durchaus ebenbürtig und der Verkehr dieser Institutionen stellt sich unbeschadet der legalen Kompetenzordnung auch als eine Kommunikation von Gleichberechtigten dar. Verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch ist im Zusammenhang mit den Staatsfunktionen maßgeblich, daß der Bund, weil er nur begrenzt über eine eigene

37

Vgl. dazu den Beitrag von H . P. SCHNEIDER in diesem Band und die dort Fn. 132 angeführte Literatur sowie D . FRANK Politische Planung im Spannungsverhältnis zwischen Regierung und Parlament, 1976, und die Problemübersicht von E. H . RITTER Theorie und Praxis parlamentarischer Planungsbeteiligung. Zur Renaissance der Planungsdiskussion, in: Der Staat, S. 413ff.

38

39

Vgl. H . HEFFTER Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, 1950; E. R. HUBER Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1798, 5 Bände seit 1957. Dagegen wenden sich seit Jahren die kommunalen Spitzenverbände. In der Staatspraxis läßt sich umgekehrt beobachten, daß Länderbeamte in Verhandlungen mit dem Bund großen Wert darauf legen, die berufenen Vertreter der Gemeindebelange zu sein.

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7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Verwaltung verfügt, sich vielmehr im allgemeinen auf die Länderverwaltungen angewiesen sieht, fast zwangsläufig zum einen die Regierungsfunktion stärker betont und zum anderen auf Ersatzhandlungen ausweicht. Dazu gehören das Einrichten von Quasi-Behörden 4 0 oder wie in den Vereinigten Staaten ein erheblicher Teil der Ressortforschung, mit dem man sich Unterlagen und Informationen beschafft, die man mangels nachgeordneter Behörden nicht oder nicht nach eigenen Gesichtspunkten aufbereitet verwaltungsintern erhält. Betrachtet man die Verwaltung als ein Informationssystem, in dessen Mitte oder Kern sich die Ministerien (Verwaltungsführung) befinden, handelt es sich beim Bund um einen Kern ohne Fleisch, im Jargon um eine ,Dame ohne Unterleib'. Vor diesem Hintergrund ist die folgende Zusammenfassung zu sehen: a) Die Regelungen des

Grundgesetzes

Das Grundgesetz spricht analog zu den Art. 30 und 70 in Art. 83 eine Vermutung zugunsten der Verwaltungskompetenz der Länder aus. Sie „führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zuläßt". ,Eigene Angelegenheit' bedeutet u.a., daß die Länder im Regelfall auch die Behördeneinrichtung und das Verwaltungsverfahren festlegen, „soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen" (Art. 84 (1)). Die Bundesregierung „kann mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen" (ebenda (2)). Neben diesem Regelfall, für den Art. 84 die Aufsicht des Bundes näher bestimmt, gibt es den (gedachten) Ausnahmefall des Art. 85, wonach die Länder Bundesgesetze ,, im Auftrage des Bundes" ausführen. Hier sind die Zugriffsrechte des Bundes etwas größer; es ergibt sich ein Weisungsrecht; die Verwaltungsvorschriften können sich auch auf die Ausbildung der Beamten und Angestellten erstrecken; bei den Mittelbehörden wirkt der Bund personalpolitisch mit; die Bundesaufsicht erstreckt sich auf „Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit". „In bundeseigener Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau werden geführt der Auswärtige Dienst, die Bundesfinanzverwaltung, die Bundeseisenbahnen, die Bundespost und nach Maßgabe des Art. 89 die Verwaltung der Bundeswasserstraßen und der Schiffahrt" (Art. 87 (1) Satz 1). Für diese bundeseigene Verwaltung, später sind die Streitkräfte gemäß Art. 87 a, die Bundeswehrverwaltung gemäß Art. 87b und die Luftverkehrsverwaltung gemäß Art. 87d hinzugekommen, erläßt nach Art. 86 die Bundesregierung, „soweit nicht das Gesetz Besonderes vorschreibt", die allgemeinen Verwaltungsvorschriften und regelt die Einrichtung der Behörden. Art. 87 ermächtigt dazu, was inzwischen auch realisiert ist, durch Bundesgesetz „Bundesgrenzschutzbehörden, Zentralstellen für das politische Auskunfts- und Nachrichtenwesen, für die Kriminalpolizei und zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes" usw. zu errichten. In diesem Zusammenhang 40

Vgl. B. BECKER Zentrale nichtministerielle Organisationseinheiten der unmittelbaren Bundesverwaltung. Eine dimensionale Strukturanalyse, in: Verwaltungsarchiv 1979, S.

149ff, und G. F. SCHUPPERT Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, 1981.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1125

werden außerdem die länderübergreifenden „sozialen Versicherungsträger" und die Bundesbank erwähnt. Bei den Bundesstraßen ist in Art. 90 eindeutig geklärt, daß die Länder die einschlägige Auftragsverwaltung übernehmen, ähnlich wie das der nachgeschobene Art. 87 c für die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie ermöglicht. Von Art. 87 Abs. 3 Satz 1, der die Möglichkeit der Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden vorsieht, ist rege, von Satz 2 „Erwachsen dem Bunde auf Gebieten für die ihm die Gesetzgebung zusteht, neue Aufgaben, so können bei dringendem Bedarf bundeseigene Mittel- und Unterbehörden mit Zustimmung des Bundesrates und der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages errichtet werden", dagegen nur sparsam Gebrauch gemacht worden. Das beweist einerseits, daß die föderalistischen Sperren funktionieren, d . h . die vom Bund bei einem Verwaltungsausbau zu überwindenden Hürden groß genug sind, und andererseits, daß die Verwaltungsvermischung keine Schwierigkeiten bereitet. Von ,Verwaltungsvermischung' kann man aus der Sicht des Bürgers sprechen, für den so oft unklar bleibt und auch nicht relevant ist, ob seine Gemeinde ihm gegenüber ein Bundes- oder ein Landesgesetz vollzieht, oder ob eine Fördermaßnahme vom Land oder vom Bund stammt. Verfassungssystematisch sorgfältig zu unterscheiden werden Bundes-, Landes- und Gemeindezuständigkeiten in der Praxis oft ununterscheidbar und überlappen sich in vielen Bereichen auch tatsächlich. Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern kann nicht konfliktlos sein. Die Konflikte haben sich bisher aber kaum im engeren Verwaltungsverbund ausgewirkt und sind auch selten in ihm entstanden. Deshalb mußten die Vorschriften des Grundgesetzes über die Bundesaufsicht (Art. 84 (3) und (4) G G und den Bundeszwang (Art. 37 GG) nicht ernstlich erprobt werden. Die verfassungspolitische Problematik liegt nicht im Detail, sondern in der spezifischen Form des Föderalismus, wie er durch den Verwaltungsverbund auf der einen Seite und die Politikverflechtung auf der anderen gekennzeichnet ist.

b) Folgen des Nebeneinander von Bundes- und Landesverwaltung Der Grundsatz des Landesvollzugs von Bundesgesetzen führt zu Konsequenzen, die z . T . schon angesprochen wurden. Die erste besteht sicher darin, daß sich der Bund zu einer extensiven Gesetzgebung veranlaßt sieht, weil das — abgesehen von den rechtsstaatlichen Gründen und abgesehen von einer Verwaltungstradition, welche die richterliche Nachprüfung von Verwaltungsakten relativ leicht macht — der problemloseste Weg ist, um Anweisungen an die Landesverwaltungen zu geben. An der Gesetzgebung ist der Bundesrat und mit ihm die Verwaltungsführung der Länder beteiligt; was man zum Schluß verabschiedet, ist in der Regel ein Kompromiß. Viele denkbaren Schwierigkeiten im Verhältnis Bund-Länder sind damit in die Vorphase der Gesetzgebung verlegt, die Durchführungsphase bereitet weniger Probleme als es der Fall wäre, wenn man z.B. auf dem Verhandlungswege Maßnahmenbündel beschließen und durchsetzen wollte. Der Weg über die Gesetzgebung erzwingt ein hohes Maß an Generalisierung. Dies ist festzustellen vor dem Hintergrund einer Entwicklung, in der zwei unter-

1126

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

schiedliche Traditionsströme zusammenflössen: Die Tradition der an ,Land und Leuten' orientierten, auf Gewohnheiten beruhenden, von örtlichen Bedürfnissen geprägten, in ihrem Tätigkeitsbereich zwar nicht definierten, immer jedoch beschränkten vorwiegend örtlichen Verwaltung, die wegen der Bindung an Gewohnheiten zwar schwerfällig, wegen der unmittelbaren örtlichen Zuwendung aber — vor allem im Notfall — auch recht flexibel war und ist, und die Tradition einer an rationalen Prinzipien orientierten, den (definierten) staatlichen Funktionen zugewandten, die Einheit des Staats widerspiegelnden, gemäß Aufgabenzuweisung tätigen, mehr oder weniger durchnormierten, hierarchisch konstruierten vorwiegend überörtlichen Verwaltung. In der Durchmischung beider Traditionen erwies sich das Element rational konstruierter Verwaltung in der Regel als stärker. Das gilt in Deutschland vermehrt, weil der Staat sich der Selbstverwaltung und der Gesamtstaat sich der Gliedstaatsverwaltungen ,bedienen' mußte und muß, deren wie auch immer gearteter Autonomie stärker der normierte und richterlich nachprüfbare Gesetzesbefehl entspricht als das Instrumentarium, welches sonst verwaltungsintern bereitsteht. So ist dem Bund jeder Einfluß auf die Personalpolitik der Länder verwehrt und müssen auch die Gemeinden in dieser Hinsicht weithin als unbeeinflußbar gelten — ein wichtiges Disziplinierungs- und Sanktionsmittel fehlt. Ähnlich liegt es mit der Zuweisung finanzieller Ressourcen. Sie erfolgt zwar ,von oben nach unten', aber nicht in direktem Zusammenhang mit Verwaltungsbefehlen oder -intentionen. Auch die Organisationsgewalt ist ,nach unten' eingeschränkt und kann im Verhältnis vom Bund zu den Ländern nur mittels Gesetz, das regelmäßig der Zustimmung des Bundesrates bedarf, wahrgenommen werden. Im Verhältnis der Länder zu den Gemeinden ist nicht einmal davon die Rede. Werden derart nicht die Bedingungen des Verwaltungshandelns entscheidend von oben nach unten festgelegt, vermindern sich auch die verwaltungsinternen Möglichkeiten der Anweisung usw. Das Gefüge der Verwaltungskompetenzen im Bundesstaat führt zu vermehrter Gesetzgebung und er verstärkt die generalisierende Tendenz, die moderner und rationaler Verwaltung ohnehin zueigen ist. Sie wirkt sich auch dort aus, wo man aus planerischer Notwendigkeit ,konkret' vorbereiten und entscheiden müßte. Viele dieser Vorbereitungen fließen in der Bundesrepublik in Programme ein, welche trotz konkreter Aufgabenstellung der Tendenz der Durchnormierung unterliegen. Wegen dieser Tendenz werden Pläne und Programme oft als Vorschriften mißverstanden, so daß ein Defizit in der Planerfüllung zu einer Art Vorschriftenverletzung gerät41. In seiner Konsequenz ist das planungsgefährdend; es steht jedenfalls im Widerspruch zu dem selbstverständlichen Postulat an jede Planung, ihre eigene Revision ständig zu stimulieren und jederzeit zu ermöglichen42. Man weicht diesem Problem vielfach aus, indem man die Programme unmittelbarer Verbindlichkeit entkleidet und sie zu ,Angeboten' z.B. an die Gemeinden macht. Das führt einerseits zur ,Politik des 41

Darauf hat F. WAGENER immer wieder hingewiesen, z . B . : Die Bedeutung des Gesetzesvorbehaltes in der modernen Verwaltung, in: H. J. v. OERTZEN (Hrsg.) Antworten der öffentlichen Verwaltung auf die Anforderungen

42

der heutigen Gesellschaftssysteme, 1980, S. 13 ff. Vgl. C . BOHRET Grundriß der Planungspraxis. Mittelfristige Programmplanung und angewandte Planungstechniken, 1975.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1127

goldenen Zügels', weil man den Gemeinden diese Angebote durch entsprechende Zuschüsse schmackhaft machen muß, während man andererseits in vielen Bereichen auf die Koordination von unten' setzt, die man denjenigen überläßt, welche Angebote aufgreifen. Beides macht die Stellung der Gemeinden widersprüchlich, weshalb man keinesfalls von einer Entmündigung der Gemeinden sprechen kann. Schließlich sei wenigstens noch darauf hingewiesen, daß das Verwaltungsgefüge mitsamt dem Einbeziehen der kommunalen Selbstverwaltung zwei ganz unterschiedliche Konsequenzen haben kann. Da die Funktion der Verwaltung sich nicht darin erschöpft, die ihr übertragenen Aufgaben verläßlich zu erledigen, ihr vielmehr immer auch eine (regionale) Integrationsfunktion und eine Funktion der Staatsrepräsentation zukommt, kann das Verwaltungsgefüge zum Erlebnis der Einheit der öffentlichen Hände beitragen und damit möglicherweise von der Idealität des Föderalismus und der Selbstverwaltung wegführen. Er kann umgekehrt auch bewirken, daß es als relative Schwächung empfunden wird, wenn im Falle von Bundesgesetzen dem Bund die Vollzugsverantwortung fehlt und Länder oder Gemeinden, welche vollziehen, der Beschlußverantwortung ledig sind. Politikverflechtung und Verwaltungsverbund können wie ein ,Verschiebebahnhof der Verantwortung' wirken, angesichts dessen die Vorteile des komplizierten Willensbildungsprozesses ggf. schwinden. Das gilt umso mehr, als immer stärker auch der Haushalt der Länder als Führungsmittel gegenüber den Gemeinden benutzt wird, so wie es sich ähnlich mit dem Bundeshaushalt ereignet. Dieser erweist sich nicht (mehr) in erster Linie als abhängige Variable der beschlossenen, in ihren Kosten ermittelten Politik, für die man im Plan Kostennachweis und Zahlungsermächtigung findet, sondern als flexibles Instrument, das z . B . viele Fördermittel einbezieht, mit deren Hilfe man Mittel anderer — der Länder, sonstiger Gebietskörperschaften, aber auch Privater — in die gewünschte Richtung lenken will, um so die Effizienz des Mitteleinsatzes zu vermehren. Bei — heute vielleicht nicht mehr vorstellbarer — klarer Aufgabenteilung wäre das nicht möglich. 2. Rechtskultur und Verwaltungskultur Die Folgen des Verwaltungsverbundes lassen sich weithin auf die Grundentscheidung des Verfassungsgebers von 1949 zurückführen; zumindest werden sie durch die Grundentscheidung tendenziell verstärkt. Selbstverständlich erfaßt das aber nur einen Teil der Entwicklung, der sich zudem als ,Teil' kaum isolieren läßt. Deshalb sind immer wieder prinzipiellere Entwicklungstendenzen ins Auge zu fassen, wie es schon in Zusammenhang mit dem Parlament und dem Gesetz als seiner wichtigsten Hervorbringung geschehen ist. Wegen des Initiativübergewichts der Exekutive wenden wir uns jenen Tendenzen aber noch einmal ausführlicher zu. Dabei soll einleitend idealtypisch von der deutschen Rechts- und Verwaltungskultur die Rede sein, um später Abweichungen von ihr ermitteln zu können. Die deutsche Rechtskultur, wie sie sich im 19. Jahrhundert und vielfach — aber keinesfalls nur — unter dem Einfluß des Rechtspositivismus entwickelt hat 43 , er43

Vgl. TH. ELLWEIN Das Erbe der Monarchie (Fn. 12).

1128

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

scheint vor allem durch eine spezifische Formalisierungsleistung gekennzeichnet. Ihr geht eine Abkehr von Begründungen oder Rechtfertigungen des Staates aus seinen Zwecken oder Aufgaben voraus. Der Staat wird mit Hilfe seiner besonderen ,Mittel' analysiert; das ihm von MAX WEBER zugesprochene ,Monopol der physischen Gewaltsamkeit' tritt in den Mittelpunkt des Interesses. Rechtskulturell kommt es zu einer ,Bändigung', einer Art rechtsstaatlichen Domestizierung dieser Mittel, indem man sie an Formen des Verfahrens wie der Ergebnisse des jeweiligen Verfahrens bindet. Das soll Rationalität und Transparenz, weiter Beteiligung jedenfalls des Parlaments, und schließlich durch die weitgehende Anlehnung dieser Formen an die Rechtsordnung u. a. richterliche Kontrolle der Mittelanwendung gewährleisten. Die Formalisierungsleistung setzt auf der einen Seite die Unterscheidung der staatsinternen Handlungen von denen mit externer Wirkung voraus. Während staatsintern ihre Organisationsgewalt und die besonderen Gewaltverhältnisse' der Exekutive einen vergleich weise großen Gestaltungsspielraum öffnen, stehen mit Außen wirkung im wesentlichen nur Instrumente zur Verfügung, die entweder, wie das Gesetz, unmittelbar zur Rechtsordnung gehören oder aber, wie der Verwaltungsakt, sich auf Anweisungen oder Ermächtigung aus der Rechtsordnung beziehen müssen. Typisch für diese Formalisierung dürfte die Lehre von der , Rangordnung der Rechtsquellen' sein 4 4 . Auf der anderen Seite muß im Rahmen dieser Entwicklung das ,Recht' verfügbar werden. Die Ausbildung eines besonderen öffentlichen Rechts ermöglicht solche Verfügbarkeit und stellt zugleich Möglichkeiten bereit, wie man in der Form des Rechts künftige Handlungen determiniert. Rechtssystematisch erscheint diese Handlungsorientierung des (öffentlichen) Rechts als ein novum, das nicht auf Deutschland beschränkt bleibt, hier aber einen besonderen Rang erhält. Er kommt auch im Rechtsstaat zum Ausdruck, geschichtlich eine weniger auf unmittelbare Beteiligung und mehr auf Domestizierung der Staatsgewalt gerichtete Denkfigur, mit der sich freilich auch die Gefahr des Mißbrauchs verbindet. 1933 wurde sie aktuell. Rechts- und verfassungspolitisch ist anzumerken, daß sich erstens die Formalisierung nicht auf das gesamte Instrumentarium ausdehnen ließ — der Haushalt mit seinen konkreten Zwecksetzungen ist das beliebteste Beispiel dafür, das staatliche Personal, immer auch eine gewichtige Ressource bietet andere — und daß zweitens mit wachsender Staatstätigkeit die Unterscheidung zwischen dem staatsinternen Bereich, in dem das Impermeabilitätsprinzip gelten sollte, weil eben die ,Staatsperson' als eigenständige Größe zu verstehen war 4 5 , und dem Bereich staatlichen Wirkens in die Gesellschaft hinein immer schwieriger wurde. Der Wandel vom , Ordnungszum Leistungsstaat' bedeutet derart, daß mehr staatliche Einrichtungen ins Leben traten und für sie nur mit Einschränkungen die Zugehörigkeit zur Staatssphäre im engeren Sinne behauptet werden konnte. Mit der demokratischen Verfassung ergaben sich weitere Probleme: Die zu denkende Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ist zwar nicht mit der Demokratie unvereinbar; der Eigenständigkeit des Staates sind an 44

Vgl.

A.

HENSEL

Die

Rangordnung

der

Rechtsquellen, insbesondere das Verhältnis von Reichs- und Landesgesetzgebung, in: G .

ANSCHÜTZ/R. THOMA H a n d b u c h des D e u t 45

sehen Staatsrechts (Fn. 8) 2. Band S. 313ff. Vgl. H . H . RUPP Grundfragen der heutigen Verwaltungslehre, 1965.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1129

dieser aber Grenzen gesetzt. Das kann hier nicht theoretisch ausgeführt, es kann nur angedeutet werden. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß zunehmende Staatstätigkeit zu vermehrtem Einsatz jener ,Mittel' führt. Je mehr sie der Rechtsordnung zugehören, desto umfangreicher und zugleich flexibler, ja fluktuierender wird diese. Das bedeutet aber wohl unvermeidlich einen Qualitätsverlust des Rechts. Die deutsche Verwaltungskultur — der Begriff ebenfalls positiv genommen, weil es sich um eine beachtliche Hervorbringung von Menschen handelt — besteht in ihrem Kern darin, daß die deutsche Verwaltung als vielschichtige soziale Entität im 19. Jahrhundert in einem langwierigen, aber höchst erfolgreichen Prozeß zu einem eigenen sozialen System geformt wurde, das seine Identität nicht zuletzt durch die enge Bindung an die Rechtsordnung erhielt. Praktisch bedeutet das eine zumindest überwiegende Orientierung an generalisierten, nur in der ihnen zugesprochenen Form ergehenden Anweisungen. Verwaltung wurde primär als ,Vollzug' begriffen. Nur der Regierung wollte man die ,freie Zwecktätigkeit' zugestehen, jenen Teil des Staatshandelns, der sich nicht in bestimmte Formen bringen läßt. Aber schon das Verhältnis der Regierung zu der ihr unterstellten Verwaltung sollte sich wieder an dem durch Zugehörigkeit oder Nähe zur Rechtsordnung gekennzeichneten Formenkreis orientieren. Daraus ergab sich dann ein in der Realität variationsreicher Gesamtzustand der Verwaltung, den später M. WEBER zum Idealtypus verdichtet hat. Aus ihm ist für unseren Zusammenhang wichtig die möglichst weitgehende Ablösung der Verwaltung von ihrem sozialen Umfeld, wie sie in der Hauptsache in der Hervorhebung des (personenunabhängigen) Amtes und in der strikten Einbindung jeden Amtes in die Amtshierarchie sichtbar wird. Sie verbietet es — mit Ausnahme der kommunalen Selbstverwaltu'ng — letztlich, daß die örtlich Betroffenen an der Formulierung des jeweiligen Verwaltungsauftrages beteiligt werden. Verwaltung wird zur abstrakten, d. h. beliebig einsetzbaren Staatsfunktion, die einem ganz von seinen Zwecken und Aufgaben abgelösten Staatsbegriff entspricht, demzufolge sich der Staat die Aufgaben so stellt, wie es die jeweilige geschichtliche ,Lage' (H. KRÜGER) erfordert. Allerdings erweist sich die Abstraktheit der Verwaltungsfunktion insofern als eingeschränkt, als die Verwaltung gegenüber den sich stellenden Aufgaben nicht disponieren kann und darf. Alle Aufgaben werden ihr zugewiesen; der Aufgabenzuweisung entspricht die Ressourcenzuweisung-, neue Aufgaben erfordern auch neue Ressourcen. Gemäß jener Verwaltungskultur ist die deutsche Verwaltung auf Erweiterung angelegt. Die Erweiterung könnte nur vermieden werden, wenn der Auftraggeber den Auftragsbestand regelmäßig überprüft. Im übrigen kann man zusammenfassen, daß von den bereits angesprochenen zwei Grundformen der Verwaltung die spätere die frühere überlagert hat. Damit tritt die Orientierung an ,Land und Leuten' zurück und die an einzelnen Aufgabenbereichen, Politiksegmenten, Zielbündeln usw. in den Vordergrund.

3. Strukturwandel der Verwaltung a) Funktionale

Veränderungen

Der Verwaltung kommt unter den Bedingungen der deutschen Verwaltungskultur neben der unmittelbaren Funktion, die ihr zugewiesenen Aufgaben wirksam und wirt-

1130

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

schaftlich zu erfüllen, mittelbar die Funktion zu, zum einen den ihr zugewiesenen räumlichen Zuständigkeitsbereich politisch zu integrieren und zum anderen in ihm Herrschaft zu repräsentieren. Wieweit diese mittelbaren Funktionen unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen unabhängig von der jeweiligen und damit unterscheidbaren .politischen Kultur' sind, sei hier nicht erörtert. An den Veränderungen hinsichtlich der mittelbaren Funktion lassen sich jedenfalls strukturelle Veränderungen in folgender Weise diskutieren: Idealtypisch stellt die ,vollziehende Gewalt' eine Einheit dar. Sie ist hierarchisch aufgebaut, wirkt von unten nach oben als Informations- und von oben nach unten als Führungssystem und paßt sich der Komplexität ihrer Umwelt durch eine entsprechende interne Ausdifferenzierung an. Organisationsgeschichtlich ist diese Ausdifferenzierung nicht durch einfache Organisationsvergrößerung erfolgt, sondern durch den Ausbau von Fach- und Sonderverwaltungen. Abgesehen von der kommunalen Selbstverwaltung, welche auf ihre Weise aber auch am Segmentierungsprozeß teilnimmt, hat sich damit der räumliche Bezug der Verwaltung abgeschwächt. Zugleich sind die Verwaltungseinheiten immer größer geworden (Kreiseinteilung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Gemeinde- und Kreisgebietsreform in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts) und die Regionen der allgemeinen Verwaltung dienen nicht mehr unbedingt als Vorgabe für die besonderen Verwaltungszweige, diese schaffen sich vielmehr eigene räumliche Bezüge. Damit vermindert sich der Integrationswert der staatlichen Verwaltung, wobei offen bleibt, ob die kommunale Selbstverwaltung daraus Gewinn zieht. Manche Anzeichen sprechen für eine solche Entwicklung 46 . Die (räumliche) Integrationsfunktion war in der Vergangenheit eng mit der anderen Funktion von Verwaltung verknüpft, örtlich Herrschaft zu repräsentieren. Die Leistung des ,modernen Staates' besteht darin, die Einheit der Staatsgewalt und damit der Herrschaft durchgesetzt und mit der Einheit der Staatsbürgerschaft verbunden zu haben. Diese Leistung setzte den Aufbau einer flächendeckenden und im Rahmen der Staatszuständigkeit allzuständigen staatlichen Verwaltung voraus, deren interne funktionale Differenzierung (etwa nach polizeilichen und nach finanziellen Funktionen) überschaubar bleiben mußte. Die Allzuständigkeit wiederum gewährleistete von oben nach unten den für das Wahrnehmen der Führungsfunktion notwendigen Überblick und die Transparenz der Verantwortlichkeitsstruktur; von innen nach außen war durch sie wenigstens in begrenztem Umfang die Koordination der einzelnen Verwaltungsmaßnahmen gewährleistet. Eine fürsorgliche' Verwaltung konnte aus örtlicher Kenntnis heraus die notwendigen Eingriffe abstufen und Prioritäten in der Leistungserbringung setzen, welche auch an örtlichen Bedürfnissen zu messen waren. Demgegenüber setzt die jüngere Verwaltungsentwicklung nahezu durchgängig auf die Optimierung der Verwaltungsfähigkeiten in bestimmten Aufgabenbereichen. Das entspricht der Verwissenschaftlichung oder zumindest der wissenschaftlichen 46

Die hierher gehörigen Grundbegriffe z. B. bei F . W A G E N E R Neubau der Verwaltung. Gliederung der öffentlichen Verwaltung und

ihrer Träger nach Effektivität und Integrationswert, 1969.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1131

Anleitung vieler Verwaltungsaufgaben. Es entspricht auch einem allgemeinen Trend zur Spezialisierung und Arbeitsteilung. Es schwächt aber die Fähigkeit der Verwaltung zur internen Koordination. Verwaltungsleistung wird vielmehr immer häufiger fach- oder bereichsspezifisch erbracht, so daß sich nach außen hin die einzelnen Verwaltungsleistungen zeitlich oder inhaltlich behindern können. Außerdem werden die fachspezifischen Besonderheiten unvermittelter nach außen abgegeben als dort, wo eine allgemeine Verwaltung als Filter zwischen speziellen Anforderungen hier und den Betroffenen dort, die fachlich Laien sein müssen, wirkt. Ohne das weiter auszuführen, stellen wir nur fest, daß im Rahmen dieser Entwicklung die Repräsentation politischer Herrschaft (und Ordnung) durch Verwaltung geschwächt wird und der (früher selbstverständliche) Staatsbezug der Verwaltung immer mehr mit einem Fachbezug konkurriert. Die hierarchische wird zu einer koordinierten Verwaltung, die klassische Bürokratie im Sinne M. W E B E R ' S wird durch die professionelle Bürokratie ergänzt und zu Teilen auch abgelöst. Man kann dies auch so ausdrücken: Der Staatsbezug der öffentlichen Verwaltung schwächt sich ab, ihre bürokratische Eigenständigkeit tritt stärker hervor.

b) Strukturelle

Veränderungen

Die dieser Entwicklung im einzelnen zugrundeliegenden Ursachen lassen sich an der fachspezifischen Ausdifferenzierung der Verwaltung und an dem sich daraus ergebenden Bedarf an Koordination ablesen. Letzterer führt z. T. zur Veränderung des staatlichen Instrumentariums. Politische Programme und Planungen sind nicht nur für den jeweiligen Zielbereich bedeutsam. Sie dienen auch der Koordination, der Orientierung verschiedener Verwaltungszweige und -ebenen. Sie bedeuten zugleich oft einen Verzicht auf klare Verbote und Gebote. Die öffentliche Hand tritt als Anbieter auf und begibt sich in Entscheidungssituationen, in denen ihr Angebot in der Güterabwägung mit anderen Zielwerten konkurriert. Darin wird eine eigentümliche Schwäche sichtbar — unvermeidbar, wenn es nicht mehr um das verbindliche Ordnen, sondern entscheidend auch um Leistung und Gestaltung, um Vorgriff auf die Zukunft geht —, weil politische Programme und Planungen auf unterstellte Voraussetzungen stoßen, deren Eintreten oft nicht in der Verfügungsmacht des Planers liegt. In der Folge schiebt man mit der Möglichkeit, aus Programmangeboten auszuwählen, einen Teil der Koordination der politischen Maßnahmen ,nach unten' ab, so wie man es an anderer Stelle wegen sich überlappender Zuständigkeiten dem Bürger überläßt, die sich ggf. widersprechenden Anforderungen einzelner Ämter auf einen Nenner zu bringen. An dem zunehmenden Koordinationsbedarf und an den Schwierigkeiten, ihn zu befriedigen, kann man zugleich auch ablesen, wie relativ selbständig die einzelnen Verwaltungseinrichtungen geworden sind. Ihr Merkmal ist eben häufig nicht mehr, auf Vollzug hin angelegt zu sein. Sie geben vielmehr aus eigener Kompetenz etwas zum befohlenen Vollzug hinzu. Im Blick auf die überlieferte Verwaltungskultur bedeutet dies, daß die relativ strikte vertikale Gliederung der Verwaltung durch eine horizontale Aufteilung ergänzt worden ist. Das hat zum Abbau der traditionellen Hierarchie geführt, die

1132

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

immer umfassend zu verstehen war und die es heute nur noch in den einzelnen Verwaltungssegmenten gibt. Neben ihr hat sich die Kommunikation der Spezialisten erweitert und ist zu einer unentbehrlichen Voraussetzung des Funktionierens der Verwaltung geworden 47 . Sie wiederum erlaubt es, die fachliche Spezialisierung bis relativ weit nach oben im Verwaltungsaufbau durchzuhalten. Die Differenzierung erfolgt derart nicht nur organisatorisch, nicht nur im Auf- und Ausbau verschiedener Verwaltungszweige, sie erfolgt auch innerhalb dieser Zweige. Das hat es insgesamt der Verwaltung ermöglicht, sowohl eine erhebliche Aufgabenvermehrung als auch eine grundlegende Veränderung des Auf gaben Vollzugs zu verarbeiten. Die Veränderung erfolgte allerdings nicht durchgängig; neben Behörden, welche überwiegend bis heute idealtypisch ,vollziehen', treten andere, deren Freiraum viel größer oder bei denen Vollzug etwas grundlegend anderes ist, nämlich das fachlich selbständige Ausfüllen allgemeiner Rahmenanweisungen oder -intentionen. Die angesprochene Verwaltungskultur hat sich insofern als wandlungsfähig erwiesen, als in ihrem Rahmen der Schritt zur Ausdifferenzierung von Fachverwaltungen, zum relativen Abbau der Hierarchie und zur relativen Verselbständigung einzelner Verwaltungszweige — in früheren Zeiten gelang sie in der Regel nur der Forstverwaltung — möglich wurde. Mit ihm paßte sich Verwaltung veränderten Umweltforderungen an, verstärkte aber auch ihre soziale Distanz zur ,verwalteten' Umwelt. Die Ausdifferenzierung führte zu einer Aufgliederung, aber nur bedingt zu einer Zersplitterung: Die Verwaltungskultur erwies sich als flexibel genug, um einige ihrer Elemente zurückzuentwickeln, damit auch noch der neue Bestand im ,System' Verwaltung bleiben konnte. Die Systembildung hatte allerdings die Konsequenz, daß viele Führungsfunktionen, die früher gegenüber' der Verwaltung wahrgenommen wurden, nun in die Verwaltung hineinverlegt sind und daß diese Verwaltung auch auf heteronome Führungsfunktionen, etwa auf die Gesetzgebung erheblichen Einfluß erhält. Dies gilt desto mehr, je weniger es heute möglich ist, zwischen Regierung und Verwaltung begrifflich und funktional zu unterscheiden. Beides erscheint durch den politischen Teil der Verwaltung, der in den letzten Jahren ständig größer geworden ist, bis zur UnUnterscheidbarkeit miteinander verbunden. Die Rechtskultur führt zur Ausbildung einer Form, die sich darin als h a n d lungsfähig' erweist, daß sie unterschiedlichste Inhalte in sich aufnimmt, sie allerdings — von Extremen wie nach 1933 einmal abgesehen — in der Regel durch die Anpassung an die Form auch prägt. Die Verwaltungskultur führt zum Entstehen eines Gefüges, das man als System analysieren kann 4 8 und das durch die Gewohnheiten der Beteiligten und Betroffenen stabilisiert erscheint, solange jedenfalls eine Systemleistung darin besteht, solche Gewohnheiten zu stützen und zu tradieren. Das System Verwaltung erweist seine Wandlungsfähigkeit darin, daß es von vornherein nicht auf bestimmte Zwecke festgelegt war, mithin auf Zweckänderungen auch durch einfache Systemän-

47

48

Vgl. TH. ELLWEIN Regieren und Verwalten. Eine kritische Einführung, 1976, S. 122ff. Vgl. N . LUHMANN Soziologie des politischen Systems, in: DERS. Soziologische Aufklä-

rung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Band 1, 3. Auflage, 1972, S. 154ff.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1133

derungen reagieren kann. Dabei stellt sich als einfachste Änderung die ständige Vergrößerung des Systems dar, die allerdings auch den Systemcharakter gefährden kann. Mit dieser Vergrößerung hat man den Wandel von den Ordnungs- zu den Leistungs- oder Daseinsvorsorgeaufgaben ebenso bewältigt wie den zur gegenwärtigen Situation, in der das politische System mit Hilfe der Verwaltung eine sich ständig verändernde Gesellschaft in der Veränderung stabilisieren soll. Die neue Aufgabenstellung wirkt sich zunächst auf die Regierungsfunktion aus, bleibt aber nicht ohne Folgen für die öffentliche Verwaltung. Dabei werden einige Akzente in der tradierten Verwaltungskultur neu gesetzt: Die Verwaltungskultur führte einmal zum Ausbilden einer einheitlichen Verwaltung mit weithin verselbständigtem Binnenbereich bei weithin heteronomer Führung. Das erstere erwies sich als wichtige Voraussetzung für die Ausformung der öffentlichen Verwaltung zu einem eigenen System, das sich aber mittels seiner systembildenden Kraft mehr und mehr auch gegenüber der ursprünglich hereronomen Führung eine gewisse Autonomie erwarb. Sie besteht teils im unmittelbaren Einfluß auf die politische Führung, wie er vor allem von der politischen Verwaltung49 im engeren Sinne ausgeht, und teils darin, daß die Verwaltung als System Außenanforderungen entweder nur nach eigenen Regeln verarbeitet oder aber daß derjenige, der solche Forderungen formuliert, Bestand, Kapazität und damit Struktur der Verwaltung berücksichtigt. Damit verlor und verliert die Verwaltung ihre dienende Funktion, nicht weil sie ,Bürokratie' und in ihr Herrschsucht angesiedelt ist, sondern weil sie als System zu groß und zu komplex ist, um heteronom geführt werden zu können. Der Vorgang der Systembildung aber, an dem neben der Verwaltung selbst vor allem die vereinheitlichend wirkende Rechtswissenschaft teilhatte und noch hat, bedeutet in seinem Kern eben die Herausarbeitung eines Grundbestandes von Gemeinsamkeiten der öffentlichen Verwaltung, der ihr im übrigen eine fast beliebige Spezialisierung erlaubt. Damit erst wird Verwaltung zu einem auch beliebig einsetzbaren Instrument, mit dem sich scheinbar alles erreichen läßt. Die — im Vergleich zu früher — weitgehende Allzuständigkeit der Regierung ist nur vor dem Hintergrund einer Verwaltungsentwicklung denkbar, die zunächst einmal alle Grenzen fachlicher und potentieller Leistungsfähigkeit weit hinausgeschoben hat. 4. Veränderungen der Regierungsfunktionen a) Darstellungs- und

Beurteilungsprobleme

Das Grundgesetz steht in der Tradition der deutschen Rechts- und Verwaltungskultur. Es weist entsprechend den Erfahrungen der Zeit vor 1933 der Regierung und vor allem dem Bundeskanzler institutionell eine starke Stellung zu. Sie äußert sich im parlamentarischen System in einer deudichen Selbständigkeit gegenüber dem Parlament und innerhalb des Exekutivbereiches in einer relativ weitgehenden Organisationsgewalt gegenüber der unterstellten Verwaltung. Einschränkungen ergeben sich aus dem Gesetzesvorbehalt, aus dem Haushaltsrecht des Parlaments, aus dem föderali-

49

V g l . T H . ELLWEIN ( F n . 4 7 ) S . 1 5 5 .

1134

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

stischen Verwaltungsverbund und aus der Chance der parlamentarischen Opposition, im Bundesrat konkurrierenden Einfluß auszuüben, d. h. in konkordanzdemokratischen Verfahren etwas von dem zu erreichen, was sich in der im Bundestag überwiegenden konkurrenzdemokratischen Struktur nicht erreichen läßt. Trotz solcher Einschränkungen wird niemand die Wirkungsmöglichkeiten der Bundesregierung gering einschätzen, so wie niemand die Macht der Landesregierungen unterschätzen wird, welche das große, noch immer wachsende Potential der öffentlichen Verwaltung leiten und sich — z. B. über die Personalpolitik — weit über das ihnen zustehende Weisungs- und Aufsichtsrecht hinaus verfügbar machen können. Die Regierung nimmt mit dem Parlament und den dieses tragenden Partei(spitzen) die politische Führung gemeinsam wahr, bildet in ihr aber eindeutig den aktiven und initiativen Kern. Der Hinweis auf Wirkungsmöglichkeiten oder Macht kann aber nicht verbergen, daß ,Regierung' ggf. aus guten Gründen nie definiert und theoretisch nie zureichend erfaßt war. Man hat sie in den Staatswissenschaften vielmehr meist als selbstverständlich betrachtet, sie wegen der Definitionsprobleme augeklammert oder schlechthin mit dem Staat identifiziert, um dann dessen Aufgaben, Funktionen, Begrenzungen, Kontrolle usw. in Zusammenhang mit der Regierung zu reflektieren oder um einschlägige Überlegungen auf die Regierung zurückzubeziehen 50 . Im Verfassungsstaat sind entsprechend die , Regierungsfunktionen' vor allem dort thematisiert worden, wo es um die Kompetenzabgrenzung zu anderen obersten Staatsorganen und wo es um das Verhältnis der Regierung zu der ihr nachgeordneten, weithin aber auch durch das Gesetz, also mittels Parlamentsbeteiligung geführten Verwaltung ging und geht. Fehlt es derart an eindeutigen theoretischen Vorgaben, erscheint es abwegig, von Veränderungen der Regierungsfunktionen zu sprechen. Dennoch haben sie sich offenkundig ereignet. Tätigkeitsumfang und Tätigkeitsweise etwa der Regierung Schmidt 1976 bis 1980 unterscheiden sich grundlegend von dem, was in dieser

50

Abgesehen von den Ausführungen in dem Handbuch

von

G.

ANSCHÜTZ/R.

THOMA

(Fn. 8) haben sich früher um dieses Thema vor allem bemüht. R. SMEND Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform, in: Festgabe für W . Kahl, 1923, und U . SCHEUNER, Der Bereich der Regierung, in: Festschrift für Rudolf Smend, 1952, S. 253ff, der S. 2 6 8 meint: „ D a der Begriff der Regierung auf das Ganze des Staates, auf seine Zielsetzung und Leitung abstellt, reicht er im Kern über die Unterscheidung der Gewalten hinaus." Man kann den Begriff nur gewinnen, wenn man nach Staat, Staat und Recht und nach dem „Wesen des Politischen" fragt. Umgekehrt (S. 2 7 2 ) : „ D e r Begriff des Politischen kann nur vom Staate her, und zwar vom Ganzen des Staates aus be-

stimmt werden, auch wenn es sich dann weiter bei ihm darum handelt, innerhalb des vielschichtigen Gefüges des modernen Staates die innere Sphäre der eigentlichen politischen Entscheidung und Selbstbestimmung näher abzustecken. Von dieser Grundlage her ist Politik schöpferische Entscheidung über die das staatliche Ganze berührenden Ziele und die Erringung und Ausübung sozialer Macht zu ihrer Durchsetzung." Zu den sonst üblichen Begriffen vgl. etwa G . KASSIMATIS Der Bereich der Regierung, 1967. Meine eigenen Überlegungen zu diesem Thema finden sich in TH. ELL WEIN Regierung und Verwaltung. Band 1: Regierung als politische Führung, 1970; hier u. a. S. 169 Näheres zum Politikbegriff.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung

(ELLWEIN)

1135

Hinsicht die Regierung Adenauer von 1949 bis 1953 aufwies, der es doch zuerst oblag, mit den schlimmsten Kriegsfolgen fertig zu werden und die Rückkehr der Bundesrepublik in den Kreis souveräner Staaten vorzubereiten. Solche Unterschiede werden gemeinhin anhand des Haushaltsvolumens, der Staatsquote am Sozialprodukt, an der Zahl und am Umfang der Gesetze und Verordnungen und nicht zuletzt am Wachstum des öffentlichen Dienstes nachgewiesen. Alle solche und ihnen verwandte Indikatoren lassen sich auch im längerfristigen Vergleich benutzen; das , Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit' wurde schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts diskutiert. Die Indikatoren machen aber nur quantitative Entwicklungen sichtbar. Was sich qualitativ ereignet, wird so kaum sichtbar. In qualitativer Sicht erscheint es nützlich, von der vorhin angesprochenen Rechtskultur auszugehen. Mit ihr setzte man auf die Form, tat das im 19. Jahrhundert sicher aber nicht ohne ein inhaltliches Vorverständnis. Ihm entsprach eher eine Begrenzung der Staatstätigkeit. Das Festlegen der Form bringt das insofern zum Ausdruck, als sie sich nicht für alle denkbaren Arten staatlicher Tätigkeit eignet, vielmehr begünstigt, was sich abstrakt und generell vordenken, regeln und damit konkreten Anwendungsfällen vorgeben läßt. Qualitativ beruhte die deutsche Rechtskultur, wie sie zuletzt durch den Rechtspositivismus geschaffen und durchgesetzt wurde, auf der Vorstellung, der Staat lasse sich zwar in seiner Zuständigkeit nicht dogmatisch begrenzen, wohl aber in der Wahl seiner Mittel festlegen. In der späteren Entwicklung — die Zeit zwischen 1933 und 1945 immer ausgeklammert — ist es deshalb nur selten zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung über den Umfang der Staatstätigkeit gekommen. Dafür standen die Mittel stets zur Diskussion; sie mußten zumindest der Form nach manipuliert werden, wenn sich die Elemente der Generalität und Abstraktion nicht mit dem, was konkret zu tun war, vereinbaren ließen. Im Blick auf diese Mittel läßt sich nun feststellen, daß der Strukturwandel der Politik die früher eingebürgerte und jedenfalls denkmögliche Unterscheidung zwischen dem richtungsbestimmenden ,regere' und der konkreten politischen Antwort auf Bedürfnisse und Notwendigkeiten aufhebt. Man orientiert im Rahmen der Rechtskultur allenthalben den „Vollzug' an abstrakt und generell wirkenden Normen und Formen, durchmischt aber zugleich inhaltlich grundlegende Entscheidungen und konkrete Regelanwendung immer mehr. Als Beispiel sei die Entscheidung über den Bau eines Kernkraftwerkes genannt. Mit der Durchmischung entfällt die Distanz zwischen demjenigen, der Ziele und Normen festlegt, und demjenigen, der die erforderlichen Maßnahmen durchführt. Politische Führung läßt sich nicht mehr auf das Setzen von Zeichen und Daten, auf die Oberaufsicht oder auf das Schaffen von grundlegenden Ordnungen beschränkt denken, Politik nicht als das Herbeiführen gesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen verstehen. Damit bedeutet Regieren eben auch nicht mehr, die für die Entscheidungsdurchsetzung erforderlichen Aktivitäten zu erbringen. Politische Führung manifestiert sich vielmehr in dem einen wie in dem anderen, in grundlegenden und abstrakten Vorgaben hier und in konkreten Einzelentscheidungen dort, die sich oft zunächst sogar nur örtlich auswirken und den engen Verbund zwischen örtlicher und überörtlicher Politik geradezu voraussetzen. In der Fülle dieses Tuns wird erst sichtbar, mit welchem Bild von Zukunft sich Politik

1136

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

mit gegenwärtigen Verhältnissen, Veränderungstendenzen, tatsächlichen oder vermeintlichen Bedürfnissen und konkreten Lageerfordernissen auseinandersetzt51. Eine vorwiegend ordnende Politik erscheint mehr der Gegenwart verbunden. Moderne politische Führung agiert demgegenüber im Wandel, wie er sich kaum ordnen, allenfalls steuern und beeinflussen läßt, sofern man jedenfalls jeweils die Ursache des Wandels zu erkennen vermag. Regieren hieß im Mittelalter und in früheren Zeiten, sieht man vom Machterwerb und vom Machterhalt ab, Sicherung des Friedens, nach innen des Rechtsfriedens und nach außen des Völkerfriedens. Demgegenüber stellt sich der neuzeitliche Staat auf Aktion; er gestaltet, indem er ordnet und unzählige Maßnahmen an einem ,Bild' von der (zukünftigen) Gesellschaft orientiert. Diese Gestaltung vollzieht sich bis weit in die Neuzeit hinein unter insofern günstigen Bedingungen für den Staat, als zum einen die Fülle der realen Gestaltungsmöglichkeiten begrenzt und zum anderen auch die Zahl der Anforderungen nicht allzu groß war. Damit reduzierten sich auch die Gegensätze. Im Vergleich zu solchen, zumindest idealtypisch einfacheren Verhältnissozusagen ins Undefinierte hinein sen haben sich heute die Regierungsfunktionen erweitert, auch wenn man theoretisch nach wie vor von ursprünglichen' Staatsfunktionen ausgehen kann. Zugleich handelt es sich um eine andere Qualität des Entscheidungsprozesses, in dem es weniger um das Stiften von Ordnung und das Schlichten von Streit und mehr darum geht, jeweils für eine von verschiedenen Möglichkeiten zu optieren, ohne bei dieser Option über umfassende Information und Gewißheit zu verfügen. Kennzeichnend für politische Entscheidungen ist heute — immer: bis zu einem gewissen Maße, da es hier darum geht, Veränderungen zu pointieren —, daß mit ihnen kein Streit beendet wird, weil die Entscheidung noch nicht selbst das Ergebnis ist oder weil sie unter Bedingungen zustandekommt, angesichts derer sie von vornherein auch revidierbar erscheint. Umgekehrt läßt sich aber nur schwer im Nachhinein klären, welcher Streitpartner (häufig: Mehrheit und Minderheit) mit seiner Beurteilung realitätsnäher lag, da sich die Realität durch die Folgen der Entscheidung verändert hat. Im Zusammenhang mit der Forschungspolitik, in der es zu Optionen zugunsten bestimmter Forschungsschwerpunkte kommt, kann man z. B. einige Jahre später, wenn sich die Forschungslandschaft mehr oder weniger verändert hat, kaum mehr ausmachen, welcher Teil der Veränderungen der Forschungspolitik zuzusprechen ist oder was eine andere Forschungspolitik hätte bewirken können 52 . b) Erweiterung der Regierungsfunktionen und Identitätsprobleme Dies wiederum verweist auf einen nächsten Aspekt, unter dem man den Wandel der Regierungsfunktionen sehen muß: Der bürgerliche Rechtsstaat und mit ihm die oben 51

52

Dies macht nach Methode und Ergebnis sehr gut die Studie von M. G . SCHMIDT C D U und SPD an der Regierung. Ein Vergleich ihrer Politik in den Ländern, 1980, deutlich. Hier wäre darauf hinzuweisen, daß dieser Tatbestand seit geraumer Zeit Regierungen

dazu verführt, positive Entwicklungen so in ihre Rechenschaftsberichte oder in andere einschlägige Publikationen aufzunehmen, als ob es sich um von ihnen erzielte .Erfolge' handele.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1137

angesprochene Rechts- und Verwaltungskultur beruhten auf der Vorstellung, zwischen Staat und Gesellschaft lasse sich präzise unterscheiden. Die Leistung der neuen Wissenschaft vom öffentlichen Recht beruhte im 19. Jahrhundert eben darauf, dieser Unterscheidung zum Leben zu verhelfen, die Staatsperson etwa von der Person des Monarchen abzulösen oder zwischen den Beamten als Amtsträgern und als Individuen möglichst konsequent zu unterscheiden. Die Gegenwart kennt demgegenüber eine weitgehende Vermischung von staatlichen und gesellschaftlichen Funktionen. Wieder gilt das in einem doppelten Sinne. Zum einen sind Aufgabenbereiche vermischt, werden also entweder vom Staat und von anderen oder gemeinsam vom Staat und von gesellschaftlichen Gruppen oder Industrieunternehmen bewältigt. In den Anfangszeiten der Bundesrepublik wurde das unter dem Begriff der Verbändeherrschaft oder des Verbändeeinflusses diskutiert; heute sieht man deutlicher als typisches Merkmal auch die Zusammenarbeit, wie es in dem zur Kennzeichnung benutzen Begriff des Ndokorporatismus aufscheint 53 . Zum anderen ist die deutliche Unterscheidung zwischen den gesellschaftlichen Verhaltensweisen hier und dem staatlichen Instrumentarium dort so nicht mehr möglich, nachdem der Staat immer mehr Angebote macht, für sie wirbt, ins Wirtschaftsgeschehen durch Einzelmaßnahmen eingreift, die allgemeine Gewerbeförderung des 19. Jahrhunderts längst durch örtlich sehr konkrete Förderungsmaßnahmen, aber auch überörtlich durch zahllose Programme ergänzt hat, die zwar generell wirken sollen, jedoch nur in Zusammenarbeit mit Privaten verwirklicht werden können. Dabei ergeben sich selbstverständlich Grenzen, welche z. B. in der Debatte über die mögliche und notwendige Privatisierung öffentlicher Aufgaben eine Rolle spielen, aber keinesfalls durch das , Wesen' des Staates oder durch seine Verfassung gezogen sind. Sie können es schon deshalb nicht, weil der Aufgabenbestand der öffentlichen Hand kaum überschaubar und jedenfalls nicht systematisch erfaßt ist. Potentiell ,kann' dieser Staat, sieht man vom Eingriff in den grundrechtlich geschützten Kernbereich einmal ab, ,alles'. Er kann z. B. einen individuellen Wohnungsfinanzierungszuschuß davon abhängig machen, ob lt. Plan das vorgesehene Kinderzimmer nach Süden liegt. Er könnte dementsprechend später auch kontrollieren, ob man sich an eine solche Auflage hält. Gerade deshalb ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, auf ständig noch wachsende Anforderungen an die öffentliche Hand und auf eine ebenfalls noch ständig wachsende reale Zuständigkeit hin zu fragen, ob jener potentiellen Zuständigkeit auch — eingeschränkt selbstverständlich von den begrenzten Ressourcen — die intellektuellen und organisatorischen Fähigkeiten der öffentlichen Hand entsprechen 54 . Unbeschadet einer heftigen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion über Bürokratie und Bürokratisierung, Staatsüberforderung, Staatsversagen, Staatsverdrossenheit usw. entzieht sich der Staat zunächst dieser Frage, indem er sich als 53

Zum aktuellen Diskussionsstand vgl. etwa U . v. ALEMANN/R. HEINZE (Hrsg.) Verbände und Staat. Vom Pluralismus zum Korporatismus. Analysen, Positionen, Dokumente, 1979.

54

Zu einem Teil mündet das in die Diskussion ein, welche unter dem Stichwort ,Regierbarkeit' geführt wird. Vgl. dazu F. LEHNER Grenzen des Regierens. Eine Studie zur Regierungsproblematik hochindustrialisierter Demokratien, 1979.

1138

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

öffentliche Hand präsentiert, über eine große Vielfalt der Erscheinungsformen von Politik verfügt und zunehmend mehr beweist, daß die Regierung nicht nach zentralen Vorgaben den politischen Prozeß beherrscht und mit ihm den sozialen Wandel steuert und reguliert. Tatsächlich begnügt sich die politische Führung im engeren Sinne oft mit einem Nebeneinander von sehr allgemeinen Globalzielen — mustergültig dafür die des Bundesraumordnungsprogrammes55 — und konkreten Einzelmaßnahmen. Die Fixierung des Bildes der (angestrebten) Zukunft in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Verhältnissen und den in ihnen tatsächlich oder scheinbar erkennbaren Entwicklungen ereignet sich damit nicht in einem großartigen politischen Akt, nicht in einer deutlichen Schwerpunktbildung oder der Konzentration aller Kräfte auf einen Bereich, sondern in unzähligen kleinen Schritten, an denen unzählige öffentliche Instanzen mitsamt ihrem jeweiligen sozialen Umfeld beteiligt sind. Sie können sich durchaus widersprechen oder zumindest behindern. Reale Politik erweist sich so als flächendeckend und in ihrem Instrumentarium ziemlich offen, sie findet aber auch (notwendig) auf einem Niveau eingeschränkter Rationalität statt, in der Form des ,muddling through' (C. E. LINDBLOM)56. Das wird ihr immer wieder vorgeworfen und muß auch als Ergebnis jeder einschlägigen Defizitanalyse sichtbar werden. Es ist aber die unvermeidliche Folge des Defizits an globalen, d. h. ideologischen Zukunftsentwürfen, an präzisen Prognosemöglichkeiten und an Planungstechniken, mit deren Hilfe Pläne die Entwicklung bestimmen und sie zugleich aufnehmen und verarbeiten, Folge also der Begrenztheit intellektueller Kapazität und der — anthropologisch argumentiert — Unberechenbarkeit des Menschen. Es ist allerdings auch die unvermeidliche Folge einer weitgehenden Ausdifferenzierung der politischen Entscheidungsstruktur, welche die wünschenswerte Beteiligung sehr vieler erlaubt und die durch solche Beteiligung hervorgerufene Einschränkung von Rationalität hinnimmt, wie sie allein schon Folge des stets ungleichen Informationsniveaus sein kann. Föderalismus und Selbstverwaltung müssen in ihrer Konsequenz eine Ausdifferenzierung von Politik bewirken, soweit sie sich nicht nach Landes- und Gemeindegrenzen segmentieren läßt. Auch hier bedeutet die Form eine gewichtige Vorgabe für die möglichen Inhalte. Eine auf Kompromissen, Einschränkungen, Verhandlungen und mit all dem immer wieder auch auf Zufälligkeiten beruhende Politik ist verfassungspolitisch gewollt. Erstaunlich mag nur sein, daß man darüber immer wieder erschrickt. Das Grundgesetz regelt solche Ausdifferenzierung, äußert sich aber im übrigen allenfalls indirekt zu den Regierungsfunktionen. Es steckt nur mit den Staatszielbestimmungen wie auch mit den Grundrechten einen Rahmen ab, der das Regieren bestimmt. Der konkreten Bundesregierung zugewandt erweist es sich vorwiegend als prozeßorientiert. Die Form steht im Vordergrund. Ob im damit gegebenen Rahmen die Ressortplanung eine mehr oder weniger große Rolle spielt, ob das Parlament, 55

Vgl. W . VÄTH Raumplanung. Probleme der räumliche Entwicklung und Raumordnungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1980.

Einführung, 1975, K . LOMPE Gesellschaftspolitik und Planung. Probleme politischer Planung in der sozialstaatlichen Demokratie, 1971, und B. SCHÄFERS (Hrsg.) Gesellschaft-

56

Zur Diskussion dieses Themas ist auf C . LAU Theorien gesellschaftlicher Planung. Eine

liehe Planung. Materialien zur Planungsdiskussion in der B R D , 1973, zu verweisen.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1139

indem es der mittelfristigen Finanzplanung zustimmt, sich eines Teiles seiner Haushaltsrechte begibt, ob der Vorrang des Bundeskanzlers auch eine entsprechende Amtsausstattung zuläßt, ist im Grundgesetz nicht geregelt. Der Versuch, etwa aus Art. 65 herauszulesen, daß wegen der Verantwortlichkeit des Ministers für sein Ressort die Planungszuständigkeit des Kanzlers oder des Kabinetts eingeschränkt bleiben müsse 5 7 , bleibt für die politische Realität irrelevant. Keinerlei Auskunft gibt das Grundgesetz auch über die Art, in der sich die Regierung informieren soll, in der sie koordiniert oder sich öffentlichen Konsens beschafft. Auch hinsichtlich der ,Mittel' gibt es einen großen Spielraum, wie es einige Konstruktionen im Haushalt beweisen. O b weiter die jeweilige Bundesregierung eher ihre Integrationsfunktion optimiert oder eher die der Repräsentation nach außen, ob sie sich stärker mit dem ,Staat' identifiziert oder deutlich in Konfrontation mit der Opposition agiert, ob sie sich mehr mit dem Führen der ihr unterstellten Verwaltung begnügt oder aber eine Auswahl unter denkbaren Zukünften trifft und entschieden auf die Ausgewählte hinarbeitet, ist von den politischen Konstellationen und ihren sozialen und ökonomischen Randbedingungen abhängig. Insofern erweist sich für den, der solche Randbedingungen nicht als Diktat betrachtet und nicht nur als Veränderung betrachtet, was sich als revolutionäre Entwicklung gebärdet 58 , die Bandbreite der Möglichkeiten als ungeheuer groß. Das G G gibt der eher verwaltenden wie der aktiv verändernden Bundesregierung eine Chance. Es ordnet nur einen Teil der Prozesse, in denen Regierungsfunktionen wahrgenommen werden; diese selbst ergeben sich aus dem jeweiligen politischen Prozeß und seinen Randbedingungen. Das G G riskiert sehr unterschiedliche Entwicklungen. Eine solche, hier entschieden vertretene pragmatische Position erübrigt keinesfalls die Frage nach dem, was Politik empirisch ,kann' und was sie normativ ,soll'. Sie kann empirisch alles das nicht, was durch eine weitgehende Ausdifferenzierung des Prozesses der politischen Willensbildung unmöglich wird. Sie kann kein Gesamtkonzept verwirklichen oder auch nur anstreben, das sich im Vorgriff auf die Zukunft zu weit von der Gegenwart und den höchst gegenwärtigen Mandataren in der Demokra57

Einen solchen Versuch haben z. B. K . H . FRIAUF u n d K . STERN in ihren B e i t r ä g e n z u m

58

,Erste(n) Bericht zur Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung', vorgelegt von der ,Projektgruppe für Regierungs- und Verwaltungsreform', (August 1969), unternommen. Dies wendet sich gegen solche, meist politökonomischen Ansätze, die im Ergebnis die systemimmanente Planungsschwäche kapitalistischer oder pluralistischer Gesellschaften belegen wollen und so stark ihrer eigenen Defizitanalyse verhaftet sind, daß sie das Ausmaß der realen Veränderungen und das der politischen Einwirkung darauf nicht wahrnehmen oder wahrhaben wollen. Unbeweglichkeit, Erstarrung usw. des Systems werden

in solcher Sicht zum topos. Bei W. D . NARR liest man z. B. in der (deplazierten) Einleitung zu M. G . SCHMIDT (Fn. 51): „Wieviele einzelne und Gruppen sind immer wieder ausgezogen, ,das System' das Fürchten zu lehren, sprich: Veränderungen in G a n g zu setzen, und wie viele sind früher oder später zu einem Teil dieses .Systems' geworden" (S. XII), das sich demzufolge (bisher) nicht verändern läßt und in dem deshalb die Figur des ,mündigen Bürgers' fast nur ein „ ö k o n o m i scher und politischer Werbegag (ist), ein sehr gewitzter und einflußreicher freilich". — Im übrigen gibt es inzwischen auch schon ,Restriktionsanalysen' der Gegenseite, etwa H.KELLER (Hrsg.) Das Jahrzehnt der Utopisten, 1979.

1140

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

tie entfernt. Sie kann schließlich, weil Regieren im konkreten Bezug erfolgt, nicht einfach theoretischen Konstrukten folgen und sich über deren Begrenztheit in der Informationsaufnahme und -Verarbeitung, in der Alternativenabklärung und in der Prognose hinwegsetzen. Sie läßt sich auch nur bedingt verwissenschaftlichen. Die empirischen Grenzen des Regierens gilt es auszuloten. Die der Bundesregierung gesetzten Grenzen sind dann noch enger, eben weil sie ,nur' eine konkurrierende Regierung ist und weil sie kein wie auch immer geartetes Monopol auf die Auswahl zwischen mehreren denkbaren Zukünften hat. Wird heute die Uberforderung der Regierung behauptet oder die Unregierbarkeit moderner Industriegesellschaften beklagt, hat das seine Berechtigung nur in dem Maße, in dem es der Regierung nicht (mehr) gelingt, diese ihr gesetzten Grenzen rational zu reflektieren und das Ergebnis der Reflexion genauso öffentlich zu machen wie die Ankündigung von Plänen und die Behauptung von Erfolgen 5 9 . Jene Reflexion wird allerdings um so weniger nahegelegt, je mehr ein bürokratischer Apparat bereitsteht, dessen Leistungsfähigkeit nach Maßgabe weiterer Ausdifferenzierung nahezu beliebig steigerbar erscheint. Die Regierungsfunktionen drängen den Staat auf Zuwachs. Der Staat arbeitet schon flächendeckend und ist zumindest versucht, überall die Intensität der politischen Steuerung und Durchdringung gesellschaftlichen Handelns zu steigern. Für den tatsächlichen Zuwachs bleibt es unerheblich, wieweit er auf Anforderungsdruck zurückgeht oder auf die Optimierung steuernder und funktionierender Funktionen innerhalb eines Wandlungsprozesses. Wer plant, wird immer versuchen, die dabei zu unterstellenden Voraussetzungen durch entsprechenden Einfluß und Ressourceneinsatz in ihrem tatsächlichen Eintreten auch abzusichern. Was die Regierung dagegen tun ,soll', kann hier nicht erörtert werden. Es muß sich aus dem politischen Prozeß, aus Meinungsaustausch, Konkurrenz und Uberzeugungskraft ergeben.

IV. Staatswandel und Staatsreform 1. Zur ratio des Grundgesetzes Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung finden sich im Grundgesetz als Staatsfunktionen so angesprochen, wie es der Tradition entspricht, in der das Grundgesetz steht. Sie sind mithin auf bestimmte Organe verteilt, in ein eindeutiges Verhältnis zueinander gebracht und schließlich so stringent in ihrer Form konzipiert, daß man bei weitreichenden inhaltlichen Unterschieden die Form einhalten muß (und kann). Das Grundgesetz setzt also auf die Form und gewährleistet über sie den politischen Prozeß in demokratischer Ordnung, wie er auf Transparenz, Öffentlichkeit, Beteili-

S9

Diese hier etwas apodiktisch vorgetragene Überlegung kann im gegebenen Zusammenhang nicht näher begründet werden; sie zielt auf einen spezifischen Erfolgszwang, dem sich die Konkurrenzdemokratie unterwirft und in dessen Gefolge man Mißerfolge nicht

eingestehen, dem politischen Gegner Erfolge nicht zugestehen und die günstigen Randbedingungen von Erfolgen dann nicht diskutieren darf, wenn sie von der eigenen , Leistung' ablenken können.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1141

gung, Entscheidungsrecht der Mehrheit und Kontrolle der Staatstätigkeit zielt. Demgegenüber legt das Grundgesetz keinen Staatszweck fest und grenzt das staatliche Handlungsfeld nur bedingt ein. Die Grundrechte und das Rechts- und das Sozialstaatspostulat deuten solche Zwecke und zugleich Grenzen nur an; sie müssen jeweils durch politische Entscheidungen konkretisiert werden 60 . Die apostrophierte Tradition ist zum Ende der Weimarer Republik in dem berühmten Handbuch von G. A N S C H Ü T Z und R. T H O M A noch einmal fast lückenlos erfaßt und vorgestellt. Wie hier zwischen der ,Satzungsgewalt' und ,Regierung und Verwaltung' unterschieden, die förmliche Gesetzgebung, der Vorbehalt der Exekutive und die außerordentlichen Ermächtigungen angesprochen und in Zusammenhang mit Regierung und Verwaltung diejenigen Handlungsbereiche hervorgehoben werden, bei denen es um parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle geht, das veranschaulicht den Bezug auf eine Zeit, in der es zur Ausbildung des ,Verfassungsstaates' vornehmlich in dem Sinne einer geregelten Beteiligung des Parlaments und einer Möglichkeit richterlicher Nachprüfung aller Staatshandlungen ging, während dieses Handeln selbst weitaus weniger problematisch erschien. Das Setzen auf die Form hat hier seine historische Begründung. Mit ihr stößt man freilich auch auf die relativ eindeutige Voraussetzung solchen Denkens, wie sie in der Vorstellung vom eigenständigen, in seine Handlungen zu isolierenden Staat, der in der Hauptsache Ordnungen stiftet und ihre Einhaltung gewährleistet, beruht. Eine der offenen Fragen ist deshalb die nach der Partizipation in einem weitergehenden Sinn 61 . Diese Frage wendet sich bekanntlich immer wieder auch gegen eine Form, welche die repräsentativen Elemente der modernen Demokratie gegenüber den unmittelbaren begünstigt. Das Grundgesetz hat sich als Verfassung dort uneingeschränkt ,bewährt', wo die gegenwärtige politische Realität mit der angesprochenen Tradition noch zu größeren Teilen übereinstimmt. Es hat dagegen dort Kritik heraufbeschworen oder zumindest eine Reformdiskussion notwendig gemacht, wo die auf eine bestimmte Form bauende ratio des Grundgesetzes durch den tatsächlich sich vollziehenden Staatswandel in Frage gestellt worden ist oder in Frage gestellt zu werden scheint. Dabei konzentrierten sich einschlägige Überlegungen auf das Organ, welches am wenigsten wandlungsfähig ist, also auf das Parlament, und auf das Instrument, welches am meisten vom Wandel betroffen erscheint, also das Gesetz. Es muß aber deutlich sein, daß die Wandlungen, auf die man sich einstellen will, im Handlungsfeld von Regierung und Verwaltung am greifbarsten sind. Hier stößt man auf das Schnittfeld, in dem sich Anforderungsdruck und eine Exekutive begegnen, die bereitwillig neue bürokratische und wissenschaftliche Techniken und Verfahren übernimmt, Wirklichkeit immer mehr ausschnittweise auf den Plan oder ins Modell bringt, um dann anhand von Plan oder Modell zu operieren. Das wirkt sich auf

60

61

D a z u zuletzt J . ISENSEE Verfassung ohne soziale Grundrechte. Ein Wesenszug des Grundgesetzes, in: Der Staat, 1980, S. 3 6 7 f f . Vgl. dazu U . v. ALEMANN (Hrsg.) Partizipation — Demokratisierung — Mitbestimmung.

Problemstand und Literatur in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Eine Einführung, 1975.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1142

Situation und Arbeitsweise des Parlaments aus. Reformintentionen, welche überwiegend darauf zielen, das Parlament der Exekutive ebenbürtiger zu machen, seinen Informationsstand zu verbessern, ihm unmittelbaren Zugang zu den der Regierung verfügbaren Daten zu verschaffen, seinen Apparat zu vergrößern, seine Position in der Öffentlichkeit durch vermehrte Aktualität zu stärken, verbleiben mithin im traditionellen Rahmen und wenden sich nur der Gewichtsverteilung zwischen den obersten Organen zu 6 2 . Zur Rede steht aber der Rahmen selbst, stehen vor allem die Regierungsfunktionen, weil an ihnen der Wandel noch am deutlichsten hervortritt. Unterscheidet man hier nach Information, Koordination, Planung, Entscheidung, Mittel- und Konsensbeschaffung 6 3 , drängen sich Ursachen, Erscheinungsweisen und Folgen jenes Wandels in jedem dieser Bezüge auf: Bei der Information geht es um Quantitäten, welche einen qualitativen Umschlag mit sich bringen; bei der Koordination geht es um die vielfältige Ausdifferenzierung des Apparates der öffentlichen Hand; bei der Planung geht es um die andere Rolle der Zukunft in sich ständig ändernden Verhältnissen; bei der Entscheidung stellen sich wie bei der Konsensbeschaffung neuartige Partizipationsprobleme; bei der Mittelbeschaffung tritt weniger die Begrenztheit der Ressourcen und mehr — im Unterschied zu früher — das Problem der Folgewirkungen des sich vermehrenden Ressourceneinsatzes hervor; bei der Konsensbeschaffung schließlich wird zum Problem, daß sich angesichts des unüberschaubaren Handlungsfeldes die Personalisierung der Politik geradezu aufdrängt und ,Führung' damit eine neue Qualität erhält. Das Grundgesetz sieht seiner ratio gemäß solchen Entwicklungen gegenüber den Staatswandel als Folge des sozialen Wandels durchaus vor, solange die Form beibehalten werden kann. Damit erweist es sich als entwicklungsfördernd und -hemmend zugleich. Dies wird z. B. anschaulich, wenn man sich vergegenwärtigt, mit welchen Vorstellungen die Enquete-Kommission Verfassungsreform ihre Arbeit begonnen und noch im Zwischenbericht von 1972 operiert hat, während später im Schlußbericht von 1977 auf alle grundlegenden Änderungsvorschläge verzichtet wird. 1977 will man den verfassungsändernden Gesetzgeber kaum mehr dem Grunde nach bemühen, dem noch 1972 zu Teilen eine Totalrevision der Verfassung angesonnen wurde 6 4 . 2. Planung als grundlegende Regierungsfunktion Wie wiederholt ausgeführt, werden die funktionalen Veränderungen, welche das Grundgesetz kaum behindert, aber auch ohne Ziel in dem Sinne einer weiterwirken62

63

64

Vgl. dazu neben den Verfassungskommentaren TH. STAMMEN(Hrsg.) Strukturwandel der modernen Regierung, 1967. Dazu

TH.

ELLWEIN

( F n . 50) u n d

DERS.

(Fn.4). Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages: Fragen der Verfassungsreform, Zwischenbericht 1973, in: Zur Sache 1/73; dieselbe: Beratungen und Empfehlungen zur

Verfassungsreform I und II, in: Zur Sache 3/ 76 und 2/77. Im Schlußbericht fällt auf, daß der Komplex .Planung' ganz weitgehend auf Teil II (Bund und Länder) abgeschoben ist und im Teil I (Parlament und Regierung) keine nennenswerte Rolle mehr spielt. Dennoch sind einige der später anzudeutenden Überlegungen selbstverständlich auch von der Kommission ventiliert worden.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1143

den Staatsfunktionslehre läßt, am meisten in Zusammenhang mit der politischen Planung sichtbar und auch in Praxis und Wissenschaft diskutiert. Dies hat wenig mit der oft kritisierten Planungseupborie der Zeit nach 1966 zu tun, in der nicht selten politische Pläne mit ihrer eigenen Verwirklichung verwechselt worden sind, was von den Risiken politischer Planung ablenkte und in einzelnen Planungsbereichen die Enttäuschungen vorprogrammierte. In unserem Zusammenhang steht .Planung' für den Versuch, Politik systematisch innerhalb der ständigen Veränderung von Gesellschaft zu betreiben und dabei die Ungewißheiten und Unsicherheiten, die man mit vielen politischen Entscheidungen in Kauf nehmen muß, einerseits sichtbar zu machen und andererseits soweit als möglich zu vermindern. Damit stehen der Zeithorizont (Zeitplanung) und die wenigstens z. T. vorweggenommene Koordination (durch Planung) im Vordergrund. Materiell wird daraus deutlich, daß die tatsächlich und allenthalben stattfindende Planung nur als ein mehr oder weniger gut beschreibbarer und theoretisch zu durchdringender Prozeß zu verstehen ist. Keineswegs handelt es sich um ein Vorgehen, das zum einen flächendeckend die verschiedenen Politikfelder erfaßt und übergreift und zum anderen zu einer Hierarchie von Planungen und Plänen führt, aus der sich die jeweils notwendigen Einzelentscheidungen verbindlich ableiten lassen. Institutionell stellt sich in diesem Zusammenhang in erster Linie die Frage nach der Rolle des Parlaments, das traditionell an bestimmten Entscheidungen, praktisch aber nur schwer an Prozessen teilnehmen kann. Dem entspricht auf einer anderen Ebene das Problem einer Bürgerbeteiligung, die im frühen Planungsstadium kaum sinnvoll und möglich erscheint, im späteren aber allenfalls noch zu punktuellen Korrekturen führen kann. Regierungsplanung als Prozeß: Deskriptiv gehören zu diesem Prozeß die politischen Leitentscheidungen oder strategischen Leitziele, wie man sie etwa in den Regierungserklärungen findet und wie sie damit von einer Regierung aufgrund der Wahl im Parlament und im engen Verbund mit der die Regierung tragenden Mehrheit formuliert werden, weiter die Koordination von einzelnen Fachplanungen mitsamt dem Versuch, die expliziten und impliziten Voraussetzungen dingfest zu machen, welche einzelne Fachplanungen im Blick auf andere Politikfelder unterstellen, und schließlich diejenigen Planungsimpulse, mit denen die Regierung auf Teile und Einrichtungen der öffentlichen Hand wie auf das Verhalten Privater einwirken möchte, teils um in bestimmten Politiksektoren formulierte Ziele, teils um in einem begrenzten Raum strukturelle und damit ökonomische Verbesserungen zu erreichen. Als Beispiel sei die Gesetzgebung zum Wasserhaushalt mitsamt dem Wasserabgabengesetz genannt, weil es die Zeitperspektive gut verdeutlicht und ebenso das Bemühen, mittels politischer Planung Zielvorgaben, an denen sich auch die Planung Privater oder anderer Teile der öffentlichen Hand ausrichten könnte, zu setzen. Entscheidend bleibt, daß es keinen Plan und auch kein umfassendes Planungssystem gibt, vielmehr Planung in jedem der Regierung zuzuordnenden Bereich unentbehrlich ist und deshalb koordiniert werden muß. Die Planungsfunktion der Regierung äußert sich vorwiegend in solcher Koordination. Wer (mit Autorität) koordiniert, muß und kann dabei seine Präferenzen ins Spiel bringen, von ihm gehen aber nicht die vielen denkbaren Impulse aus. Regieren heißt demgemäß auch, aus Pia-

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7. Kapitel. Staatliche Funktionen

nungsvorhaben eine Auswahl zu treffen. Die Regierung kann sich angesichts ihrer flächendeckenden Zuständigkeit nicht um eine Politik ,aus einem Gruß' bemühen; der Politik des ,muddling through' entspricht eine Koordination, welche die Widersprüche zwischen den einzelnen Planungen vermindert und zwischen ihnen und den vorhandenen Ressourcen vermittelt. In solchem Prozeß nehmen auch Entscheidungen ihren Platz ein, welche in der überlieferten Form ergehen, also Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsakte usw. Qualitativ neu erscheint nach wie vor, daß solche Entscheidungen vielfach unmittelbar Teil des Prozesses und damit von vornherein befristet, revidierbar und dergestalt in spezifischer Weise nicht ,endgültig' sind. Regierung und Verwaltungsführung schaffen in der Praxis immer wieder neu Situationen, in denen unter den dann gegebenen, teils vorausgesehenen, teils überraschenden Bedingungen Entscheidungsbündel ins Spiel gebracht werden. Solche Situationen wiederholen sich. Die Wiederholung ist verfahrensnotwendig. In ihr spiegelt sich das Auseinandersetzen mit sich wandelnden Verhältnissen. Es bewirkt eine deutliche Unterscheidung zwischen den Planungsakteuren und denen, welche auf den Planungs- als Gesamtprozeß einwirken sollen und wollen, dies aber nur punktuell tun können. Planung als Prozeß hat wenig mit der Zielfestlegung und dem Zielerreichen früherer Politik — oder zumindest dem Verständnis davon — zu tun. Deshalb muß es zwangsläufig zu Spannungen zwischen den prozeßgestaltenden Akteuren in Regierung und Verwaltung und denen kommen, deren Mitwirkung sich entweder in Formen, die durch den Prozeß schon relativiert sind, oder aber zu einem Zeitpunkt ereignet, in dem es nur noch um das Detail, nicht mehr um das Prinzip gehen kann. Umgekehrt erscheint solche Spannung nicht derart unvermeidbar, daß davon eine Gefährdung des Regierungssystems ausgeht. Auch wenn man ursprünglich das Verhältnis von Parlament und Regierung vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Gesetzesbefehl und Vollzug im Sinne einer Staatsführung zur gesamten Hand konstruiert hat, schließt das heute eine stärkere Beteiligung des Parlaments am Planungsvollzug keineswegs aus. Allerdings lassen sich in den Landtagen wohl leichter Entwicklungen dieser Art einleiten als im Bundestag 65 . Aber auch der Bundestag hat als Arbeits-, d. h. als Ausschußparlament durchaus die Möglichkeit, sich frühzeitig mit Fachplanungen auseinanderzusetzen und das nicht erst bei Gelegenheit einschlägiger 'Gesetzesberatung zu tun. Das begünstigt allerdings eher konkordanz- als konkurrenzdemokratische Verfahren. Die tradierte Form der Entscheidung im Parlament provozierte das Für und Wider, das Ja und Nein; die Minderheit konnte ein Gesetz ablehnen, auch wenn sie an der Einzelformulierung in ihrem Sinne verbessernd mitwirkte. Verfahrenstechnisch und -logisch beruht dagegen jeder Planungs-

65

D a z u zuletzt mit Anführung der Literatur zu den Länderparlamenten E . H . RITTER Theorie und Praxis parlamentarischer Planungsbeteiligung, in: Der Staat, 1980, S. 413ff, der u. a. W . GRAF VITZTHUM P a r l a m e n t u n d Pla-

nung. Zur verfassungsrechtlichen Zuordnung

der Funktionen von Bundesregierung und Bundestag bei der politischen Planung, 1978, und C . BRÜNNER Politische Planung im parlamentarischen Regierungssystem — dargestellt am Beispiel der mittelfristigen Finanzplanung, 1978, auswertet.

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung

(ELLWEIN)

1145

prozeß zwar immer wieder auf einer Auswahl unter verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten. Viel stärker wirkt hier aber die Möglichkeit, Planungen zu erweitern, zwischen unterschiedlichen Vorstellungen einen Ausgleich zu schaffen. Planende Politik orientiert sich mehr am ,sowohl-als auch' und am ,auch noch'. Davon muß in aller Regel die Opposition profitieren. Sie rückt so aber auch näher an die Regierung heran. Die in der Bundesrepublik weithin beobachtbare Tendenz zur Konkordanz-, zumindest zur Verhandlungsdemokratie, geht nicht nur auf spezifische Bedingungen im Verhältnis zwischen Bund und Ländern oder Staat und Gemeinden zurück, sondern auch auf die Dominanz der Planung als herausragender Regierungsfunktion. Um ihretwillen erweist sich Regieren mehr und mehr als eine Art Prozeßmanagement, angesichts dessen Beteiligung im Prozeß selbst und nicht erst anläßlich des jeweiligen out-put erfolgen muß, will sie wirksam sein. Das gilt für die politische Führung der Gemeinde und für das Verhältnis der Gemeindevertretung zu ihr ganz ähnlich; auf dieser Ebene ist dann auch der Bürger den politischen Gremien näher. Seine Beteiligung bietet sich also an, stößt aber auf das Problem, daß sie sich nie auf den gesamten Prozeß beziehen kann. Allenfalls lassen sich die beteiligungsoffenen Prozeßphasen verlängern.

3. Staatsreform Die Parlamente haben auf die bisherige Entwicklung vielfach und darin auch von Gerichten unterstützt, reagiert, indem sie ihr ureigenstes Instrument stärker ins Spiel brachten. Sie erweiterten den Gesetzesvorbehalt. Damit gerät das Gesetz noch mehr in den Sog einer Entwicklung, von der oben die Rede war. Die Parlamente haben weiter ihren Zugriff über die traditionellen Möglichkeiten erweitert, über die sie neben der Gesetzgebung verfügen. Das gilt vor allem für die Haushaltsgesetzgebung. Die Parlamente haben schließlich zumindest in Zusammenhang mit der Landesplanung neue Beteiligungsformen entwickelt und teils in der Nähe der Gesetzgebung, teils in der parlamentarischen Beratung von Regierungsverordnungen erreicht, daß etwa die kommunale Neugliederung nicht nur in ihrer allgemeinen Zielsetzung, sondern auch als konkretes Entscheidungswerk öffentlich beraten wurde. Eine solche parlamentarische Debatte und Legitimation von Regierungsbeschlüssen läßt sich wohl auch in anderen Zusammenhängen erreichen. In der bisherigen Praxis drängt selbstverständlich die Opposition auf die Erweiterung der Parlamentsmitwirkung, während sich die Mehrheit leichter auch mit bloßen Beratungsfunktionen zufrieden gibt. Die Parlamente haben umgekehrt versucht, ihre eigenen Arbeitsvoraussetzungen zu verbessern, was von der Vergrößerung des parlamentarischen Apparates bis zur Festlegung einer im einzelnen sehr weitgehenden Berichtspflicht der Regierung geht. Was sich derart als Reaktion des Parlaments auf die sich wandelnden Regierungsfunktionen abzeichnet, erweist sich bisher zumeist als Bemühen um Anpassung. Insofern gibt es weniger eine Parlamentsreform als viele Vorgänge und Prozesse, welche es dem Parlament erleichtern sollen, mit der Regierung Schritt zu halten. Tendenziell scheinen dafür die Chancen bei der Informationsbeschaffung und bei der Einflußnahme auf Fachplanungen relativ groß. Grenzen der Anpassung zeigen sich in

1146

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

der Hauptsache dort, wo sich zugleich die wichtigste Funktion der politischen Führung abzeichnet, nämlich in der Koordination und damit Steuerung des (unübersichtlichen und keineswegs widerspruchsfreien, von politischen Konflikten überlagerten) Planungsprozesses. Hier kann von einer Führung zur gesamten Hand nicht (mehr) und allenfalls im Blick auf diese Koordinationsfunktion kann von einem Funktionsverlust der Parlamente die Rede sein. Allerdings handelt es sich in Wahrheit nicht um einen Verlust, sondern um mangelnde Teilhabe an einem bei der Regierung festzustellenden Funktionszuwachs. Dieser Mangel verdeutlicht zugleich, daß die traditionellen Grundformen der parlamentarischen Demokratie und der ,planende Staat' noch nicht zureichend miteinander verbunden sind. Ein solches Defizit abzubauen, ist die wichtigste Reformaufgabe der kommenden Jahre. Mit ihr muß man die spezifischen Fähigkeiten und Funktionen des Parlaments in den Planungsprozeß einbringen. Das kann allerdings denknotwendig wieder nur in einem langwierigen Prozeß geschehen; eine spektakuläre Reform wäre zum Scheitern verurteilt. Wandlung im Rahmen des Grundgesetzes ist gefragt, nicht Änderung der Verfassung. Die theoretischen und praktischen Probleme liegen auf der Hand. Eine in einem Wandlungsprozeß sich ereignende Staatsreform setzt, verläßt man sich nicht einfach auf Entwicklungszwänge, Konsens der politischen Kräfte voraus. Auf Bund und Länder bezogen: In konkurrenzdemokratischem Verfahren müßte man bewirken, daß man im Parlament stärker auch konkordanzdemokratische Strukturen verankert und eine Mitwirkung des Parlaments an der politischen Planung als dem eigentlichen Kern politischer Führung sichert. Das konkordanzdemokratische Element wiederum ist wegen der Langfristigkeit der politischen Planung ebenso notwendig wie wegen der planungstheoretischen Vorgabe, daß ,gute' Planung ,offen' bleibt und erst in den vorgesehenen Entscheidungsphasen zu kontroversen Alternativen führt. Berücksichtigt man diese Konsequenz nicht und arbeitet bei der Planung ähnlich zusammen wie heute bei der Gesetzgebung, wird sich vermutlich der konkurrenzdemokratische Umgangsstil noch mehr von der realen Politik ablösen, um die Auseinandersetzung ganz auf das unterschiedliche Personalangebot zu reduzieren. Bislang sträuben sich Mehrheiten meist dagegen, die Beteiligungsmöglichkeiten der Minderheiten zu vergrößern. Im Zustand zumindest relativer politischer Konfrontation oder Polarisierung kann aber auch die Minderheit zögern, sich zu sehr auf Zusammenarbeit einzulassen, weil das ggf. die Mehrheit entlastet und so die Chance des politischen Wechsels vermindert. Nichts erweist sich in der Politik als so schwierig wie die rationale Anpassung der politischen Strukturen an unabweisbare Bedürfnisse. Politische Planung ist unabweisbar. Die Beteiligung des Parlaments an ihr ist ein unabweisbares Bedürfnis, weil nur so das Parlament seine Position im politischen Gefüge bewahren kann und weil nur so die politische Planung mit eben diesem Gefüge vereinbar wird, sich ihm also nicht zugunsten rein plantechnischer Effizienz entzieht. Die damit sich stellende verfassungspolitische Aufgabe läßt sich nur lösen, wenn man aufhört, die aus der deutschen Rechtskultur stammenden Formen auch für Entscheidungsinhalte zu nutzen, welche sich jenen Formen entziehen oder sie gefährden. Tendenziell muß man den Prozeß politischer Planung von dem der Gesetzgebung soweit ablösen, daß dem Gesetz die Grundlage von Planung vorbehal-

1. Abschnitt. Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung (ELLWEIN)

1147

ten bleibt, es aber nicht dem Zugriff der Planung zum Opfer fällt. Das wiederum wird nur möglich, wenn Information und Beteiligung des Parlaments auf anderem Wege sichergestellt sind. Das Grundgesetz zeichnet solche anderen Wege nicht vor, verbietet sie aber auch nicht. Es benennt jedoch die Kräfte, die darüber zu beraten und zu entscheiden haben. Zu den Funktionen von Parlament und Regierung gehört es deshalb immer auch, Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Funktionen sorgfältig zu prüfen und nach Maßgabe des Möglichen zu verbessern. Wird diese Aufgabe nicht wahrgenommen, kann es zu Krisen kommen. In der Bundesrepublik mehren sich die Zeichen beginnender Krisen. Verfassungspolitik müßte dem begegnen, indem sie verhindert, daß Politik atemlos weiterdrängt und sich damit ähnlich wie es mit der Verwaltung schon weithin geschehen ist von ihrem sozialen Umfeld abhebt. Demokratische Politik ist ohne den ständigen Austausch mit diesem Umfeld nicht denkbar.

2. Abschnitt

öffentlicher Dienst J O S E F ISENSEE

I. öffentlicher Dienst als verfassungsrechtliches Thema 1. Der wesenhafte Bezug zum Staat Der öffentliche Dienst umfaßt die abhängigen Berufe, die dem Vollzug der Staatsaufgaben gewidmet und in die Staatsorganisation einbezogen sind. Der Umfang des öffentlichen Dienstes liegt freilich nicht in jeder Hinsicht fest. Die Grenzen fließen im umgangssprachlichen, im gesetzessprachlichen wie im literarischen Gebrauch 1 . Auch das Grundgesetz, das vom „öffentlichen Dienst" spricht, schafft keinen Begriff, der — wenigstens im eigenen Kontext — eindeutig und unverrückbar wäre 2 . Es ist daher angebracht, Inhalt und Umfang des öffentlichen Dienstes eigenständig zu umschreiben. Die einleitende Definition grenzt den Gegenstand der anstehenden verfassungsrechtlichen Untersuchung ab. In dieser Bestimmung weist der öffentliche Dienst, wie näher zu zeigen sein wird, ein hohes Maß an verfassungsrechtlich bedeutsamer Homogenität auf — trotz aller (ebenfalls verfassungserheblichen) inneren Differenziertheit. Die verfassungsrechtliche Eigenart des öffentlichen Dienstes ergibt sich aus dem Sondercharakter des Staates, der sich von allen sonstigen („gesellschaftlichen") Verbänden unterscheidet. Struktur und Funktion des staatlichen Dienstgebers prägen das Dienstverhältnis, öffentlicher Dienst ist Staatsdienst. Daher hängt seine Reichweite ab von der Reichweite der Staatsgewalt. Diese manifestiert sich in verschiedener organisatorischer Gestalt. Daher kann der öffentliche Dienst nicht von vornherein auf einen bestimmten Organisationsbereich, etwa auf den hoheitlichen oder den unmittelbar staatlichen, beschränkt werden. Träger des öffentlichen Dienstes sind sowohl der Bund als auch die Länder. Ebenfalls gehören dazu die mittelbar staatlichen Institutionen, die Körperschaften der kommunalen und sozialen Selbstverwaltung,

1

Dazu mit Nachw.: G . PFENNIG Der Begriff des öffentlichen Dienstes und seiner Angehörigen, 1960; C . H . ULE in: G R IV/2, 1962, S. 5 4 3 - 5 6 2 ; I. v. MÜNCH öffentlicher Dienst, in: I. VON MÜNCH (Hrsg.) Besonderes Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 1982, S.

2

8—11; K . STERN Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, S. 2 6 0 - 2 6 2 ; W. RUDOLF in: W D S t R L 37 (1979) S. 1 9 1 - 1 9 3 . S. dazu PFENNIG (Fn. 1) S. 6 7 - 8 0 .

1150

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

desgleichen die sonstigen Verwaltungsträger, und zwar unabhängig davon, ob sie öffentlichrechtlich oder privatrechtlich verfaßt sind 3 . Der öffentliche Dienst setzt sich in seiner wesenhaften Staatsbezogenheit ab von den Berufen der Privatwirtschaft. In der Unterscheidung der beiden Berufsbereiche wirkt sich die verfassungstheoretische Fundamentalunterscheidung von Staat und Gesellschaft aus: Der Staat als Träger demokratischer Herrschaft hebt sich ab von der Gesellschaft als der öffentlichen Entfaltung der grundrechtlichen Freiheit, zu der die wirtschaftlichen Freiheitsrechte gehören 4 . Die Gesellschaft ist auch der Ort des kirchlichen Dienstes, obwohl dieser zahlreiche Parallelen zum staatlichen aufweist. Die Kirchen sind zwar Körperschaften des öffentlichen Rechts, gleichwohl vom Staate verfassungsrechtlich getrennte Institutionen. Sie stehen auf eigenem grundrechtlichen Fundament. Kirchlicher Dienst ist nicht öffentlicher Dienst 5 . Der öffentliche Dienst läßt sich positiv beschreiben als Zusammenfassung verschiedener beruflicher Status. Er umschließt — den Berufsbeamten, das klassische Urbild des Staatsbediensteten, — den Berufsrichter und den Berufssoldaten als beamtenähnlichen Sonderstatus des öffentlichen Rechts, — den Arbeitnehmer (Vertragsbediensteten) der öffentlichen Hand als neuartigen Status des Privatrechts. Das Dienstrecht ist also der Oberbegriff für: das Beamtenrecht, das Richter- und Soldatenrecht sowie das Arbeitsrecht des Staatsbereichs. 2. Die Unterscheidung von Dienst und Amt Dienstrecht ist Berufsrecht. Es umfaßt die Pflichten und Rechte, die dem Bediensteten aus seiner beruflichen Beziehung zum Staat als Dienstherrn (bzw. in arbeitsrechtlicher Terminologie: Arbeitgeber) zukommen. Themen des Dienstrechts sind etwa: Begründung und Beendigung des Dienstverhältnisses, Pflichten und Rechte des Bediensteten, kollektive Vertretung beruflicher Interessen und Regelungskompetenz des Staates. Vom Rechtsbereich des Dienstes ist der des Amtes zu unterscheiden: „Amt" verstanden als der Kreis staatlicher Aufgaben (Funktionen), deren Besorgung dem Bediensteten überantwortet ist und um deretwillen das Dienstverhältnis besteht 6 . So 3

Der Begriff „ ö f f e n t l i c h e r Dienst" wird häufig auf die Tätigkeit im Dienste juristischer Personen des öffentlichen Rechts beschränkt (so die Legaldefinition des § 15 III Arbeitsplatzschutz-Gesetz i. d. F. v. 2 1 . 5 . 1968, BGBl. 1968 I, S. 5 5 1 ; RUDOLF (Fn. 1) S. 192 f). A u s verfassungsrechtlicher Sicht ist es jedoch nicht angebracht, privatrechtliche Verwaltungsträger, die der Staat als Instrumente f ü r seine Zwecke, etwa die Daseinsvorsorge, geschaffen hat, von vornherein aus Begriff und Gesetzlichkeit des öffentlichen Dienstes auszuklammern, da diese

4

5

6

Rechtsträger zur demokratischen Legitimationszone der Staatsgewalt gehören, nicht zur grundrechtlichen der Gesellschaft. Zu der Unterscheidung: E . - W . BÖCKENFÖRDE (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, 1 9 7 6 ; J . ISENSEE in: Der Staat 20 (1981) S. 1 6 1 - 1 7 6 . Zum kirchlichen Dienstrecht: J . FRANK in: HdbStKirchR Bd. II 1975, S. 6 6 9 - 7 2 5 ; J . JURINA Das Dienst- und Arbeitsrecht im Bereich der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, 1979. Das W o r t „ A m t " ist mehrdeutig. V o n dem funktionellen Amtsbegriff des Textes sind zu

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

1151

hat für den Finanzbeamten die Gehorsamspflicht dienstrechtlichen Charakter, ebenso sein Gehaltsanspruch. Amtsrechtlich ist dagegen sein Arbeitsprogramm, das sich aus den Normen des Steuerrechts und des Verwaltungsorganisationsrechts ergibt. Er hat also einen zweifachen Status, den dienstrechtlichen und den amtsrechtlichen (funktionsrechtlichen). Als Bediensteter hat der Beamte eigene Rechte und Pflichten, während er als Amtsträger Kompetenzen des Staates ausübt. Dienstrechtlich ist der Finanzbeamte verpflichtet, bestimmte Arbeit zu leisten; amtsrechtlich wird das Ergebnis seiner Tätigkeit (der Steuerbescheid) dem Staat zugerechnet, der durch seinen Amtsträger handelt. Der öffentliche Dienst ist um der Staatsaufgaben willen da. Das Dienstrecht ist auf das Amtsrecht zugeordnet als Mittel auf den Zweck. Die Staatsauf gaben liegen zwar jenseits des Dienstrechts, aber sie geben ihm erst seinen Sinn. 3. öffentliche Ämter außerhalb des öffentlichen Dienstes Nicht jedes Amt wird in einer Form des öffentlichen Dienstes ausgeübt. a) Außerhalb des öffentlichen Dienstes liegt die Wahrnehmung von Staatsfunktionen durch ehrenamtlich Tätige und durch „beliehene" Private. Dem Ehrenamt fehlt die Eigenschaft des Berufs 7 . Der „Beliehene" (Beisp.: der Notar) ist nicht in die Staatsorganisation eingegliedert. b) Der öffentliche Dienst beschränkt sich auf die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit. Sein Feld ist der Vollzug der vorgegebenen Staatsaufgaben, nicht deren Definition. Außerhalb liegt der politische Raum, in dem die Auseinandersetzung über die Staatsaufgaben stattfindet und die Entscheidung über das Vollzugsprogramm fällt. Gesetzgebung und Regierung entziehen sich dem öffentlichen Dienst. Er erfaßt also nicht das Mandat des Abgeordneten und das Amt des Ministers, obwohl im Zuge der Professionalisierung der Politik auch hier besondere Berufsrechte (vor allem hinsichtlich Besoldung und Versorgung) entstanden sind.

II. Die gegenseitige Abhängigkeit von öffentlichem Dienst und verfassungsrechtlicher Grundordnung 1. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des öffentlichen Dienstes Das Recht des öffentlichen Dienstes entfaltet sich zumeist unterhalb der Verfassung auf den Ebenen des einfachen Gesetzes, der Rechtsverordnung und (soweit es die

unterscheiden die Bedeutung von „ A m t " als Behörde (Postamt) und die Bedeutung als Dienstposten (Planstelle). Der Gebrauch der Termini „ D i e n s t " und „ A m t " in den Gesetzen ist oft nicht klar und nicht folgerichtig. Zur Vielfalt der Bedeutungen: H . J . WOLFF/ O . BACHOF Verwaltungsrecht II, 4. Aufl.

1976, § 73, § 109 I b ; W . LEISNER in: 7

AöR

93 (1968) S. 1 6 1 - 1 9 9 . Vgl. B V e r f G E 6, 376 (384 f) - Ehrenbeamte in kommunalen Vertretungskörperschaften kein öffentlicher Dienst. Zum Recht des Ehrenbeamten: R . STOBER, Der Ehrenbeamte in Verfassung und Verwaltung, 1981.

1152

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Vertragsbediensteten betrifft) des Tarifvertrages. Das Grundgesetz befaßt sich nur in wenigen Bestimmungen mit dieser Materie. Und diese sind abstrakt, ergänzungsbedürftig, angelegt auf Ausfüllung und Ausführung durch das Gesetz. Aber selbst wenn das Grundgesetz diese Regelungen nicht aufwiese und das Thema „öffentlicher Dienst" völlig ausklammerte, behielte der öffentliche Dienst seine verfassungsrechtliche Prägung. Er bildet das personale Instrument der staatlichen Herrschaft. Die Verfassung aber bestimmt, wer dieses Instrument handhabt; sie trifft Vorgaben über Ziele und Grenzen. Auf der anderen Seite ist der öffentliche Dienst die Wirksamkeitsbedingung der verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen. Der Ordnungsplan der Verfassung bedarf des öffentlichen Dienstes. Er ist angewiesen auf die Effizienz und die Loyalität der Vollzugsorgane, wenn er Wirklichkeit gewinnen will. Staatsverfassung und Staatsdienst bedingen sich gegenseitig.

2. Der öffentliche Dienst in seiner Bedingtheit durch die Verfassung

a) Das Amt der Republik Das republikanische Prinzip prägt die Gestalt des öffentlichen Dienstes stärker als jedes andere Prinzip der Verfassung. Der Zusammenhang ist allerdings heute nahezu in Vergessenheit geraten. Denn „Republik" erscheint im gängigen Verständnis lediglich als Absage an die Erbmonarchie, also als verblaßte verfassungshistorische Momentaufnahme aus dem Jahre 1918. In Wahrheit aber ist Republik eine machtvolle Tradition, die sich seit der altrömischen res publica kontinuierlich und mannigfaltig entwickelt. In dieser Tradition bewegt sich auch das Grundgesetz 8 . Das republikanische Prinzip trennt den staatlichen Bereich vom privaten und unterwirft ihn einem besonderen, strengeren Gesetz. Eigeninteresse und Gruppeninteresse, die sich im nichtstaatlichen Raum legitim entfalten, sind aus dem Staat verbannt. Er ist ausschließlich auf das Wohl des ganzen Volkes ausgerichtet („Res publica res populi"). Das Prinzip des Privatbereichs ist die Freiheit, das des Staates ist das Amt 9 . In die Form des Amtes gegossen, erscheint die Staatsgewalt für die Amtsinhaber als ein Bündel von Pflichten, die nach festen Regeln im Dienst für die Allgemeinheit zu erfüllen sind. Im Zeitalter der absolutistischen Monarchie hatte die republikanische Amtsidee den Sinn, die Staatsgewalt der Despotenlaune und der Privatwillkür des Fürsten zu entwinden. Im Zeitalter der pluralistischen Demokratie ist es ihre Aufgabe, die Amtswalter aus ihren gesellschaftlichen Verstrickungen zu lösen, aus Sonderinteressen, aus Partei-, Gewerkschafts- und sonstigen Verbandsloyalitäten auf die einzig

8

9

Zum Sinngehalt und zur aktuellen Bedeutung der republikanischen Tradition: J . ISENSEE in: J Z 1 9 8 1 , S. 1 - 8 (Nachw.); W . HENKE in: J Z 1 9 8 1 , 2 4 9 - 2 5 1 . Zur republikanischen Ämterordnung: W . LEISNER Grundlagen des Berufsbeamtentums, 1 9 7 1 , S. 2 9 - 3 4 . Zur Idee des Amtes:

H. KRÜGER Allgemeine Staatslehre, 2. A u f l . 1966,

S.

253-275;

DERS.

in:

W.

LEISNER

(Hrsg.) Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975, S. 1 0 1 - 1 1 9 ; W . LOSCHELDER V o m besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, 1982.

2. Abschnitt, ö f f e n t l i c h e r Dienst (ISENSEE)

1153

legitime Amtsloyalität festzulegen: Dienst für die Allgemeinheit, die ihren Willen im Verfahren der parlamentarischen Demokratie zu erkennen gibt. Der Amtsinhaber ist Treuhänder des Volkes. Es ist ihm verwehrt, das Amt, das ihm übertragen ist, zu anderen Zwecken als denen des Treugebers auszuüben: etwa zur Förderung privater politischer Ideale, zur Durchsetzung von Verbandsinteressen, zum selbstherrlichen Machtgenuß, zur Selbstbedienung statt zum Dienst für andere. Das Amt verlangt Entprivatisierung, Versachlichung, Unbestechlichkeit, Einordnung, Disziplin, Dienstbereitschaft. Es ist kein Medium egozentrischer Selbstverwirklichung. Es verkörpert das Gegenethos zu Eigennutz und Eigenwilligkeit, wie sie von den Grundrechten, und zwar nicht nur dem Eigentumsgrundrecht, freigesetzt werden. Der Staatsdiener hat in der Amtsführung ein gewisses Maß an Askese zu leisten. Diese Leistung wird dadurch erleichtert, daß er außerhalb des Amtes die grundrechtlichen Freiheiten genießt und insoweit wie jedermann seine Eigeninteressen legitim geltend machen kann. Die Doppelrolle des Bediensteten als Amtswalter und als Grundrechtsträger erzeugt allerdings auch die Gefahr, daß das grundrechtslegitime private Engagement auf die Amtsführung übergreift. Das Amt ist keine Pfründe, die zur wirtschaftlichen Versorgung ihres Besitzers geschaffen ist10. Die Versorgung, die der Staat seinen Bediensteten schuldet, ist die Folge, nicht aber der Zweck des Amtes. Das republikanische Amtsethos der ausschließlichen Gemeinwohl-Orientierung ist kein Widerspruch zur grundrechtlichen Freiheit, sondern ihre Voraussetzung. Die grundrechtsdifferenzierte, pluralistische Gesellschaft bedarf der staatlichen Amtsverfassung als ihres Gegenüber, das die für alle geltenden Bedingungen des friedlichen Zusammenlebens, die Rahmenordnung der Toleranz, die Idee des Ganzen gewährleistet11. b) Die Herrschaftsordnung der parlamentarischen Demokratie aa) Bedeutet Republik Herrschaft für das Volk, so Demokratie Herrschaft durch das Volk. Der Bedienstete ist in seiner Eigenschaft als Staatsbürger gleichberechtigtes Mitglied des Volkes, von dem die Staatsgewalt ausgeht. Aber er besitzt in seiner Eigenschaft als Bediensteter keinen besonderen, eigenen Anteil an der Staatsgewalt. Das Amt empfängt seine Legitimation nicht aus den individuellen Grundrechten des Amtsinhabers, sondern aus dem Willen des Staatsvolkes, den es in der demokratischen Repräsentationsordnung kundgibt. Medien der Legitimation sind: Gesetz und innerbehördliche Weisung, Ernennung und Amtsübertragung — Rechtsakte also, die unmittelbar oder mittelbar auf Entscheidungen der parlamentarischen Volksvertretung zurückgehen. Die einzelne Amtshandlung (etwa eine Polizeiverfügung) ist das letzte Glied einer Legitimationskette, die ihren Ursprung im Volk hat, über das 10

Das historische Gegenbild zum republikanischen A m t stellt die patrimoniale Gewalt des Mittelalters dar: der erbliche Eigenbesitz von A m t und Lehen. Dazu O . HINTZE Der Beamtenstand, 1911 (Nachdruck 1963), S. 1 9 f .

11

Vgl. E. FORSTHOFF Rechtsgutachten, FORSTHOFF/V.

in:

MÜNCH/SCHICK/THIEME/

ULE/MAYER Verfassungsrechtliche Grenzen einer Reform des öffentlichen Dienstrechts, 1973, S. 22.

1154

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Parlament zur parlamentarisch fundierten und repräsentierten Regierung hin und vom Ressortminister abwärts, über alle Stufen seines Geschäftsbereichs hinab, bis zum konkret handelnden Amtswalter reicht. Die Weisungshierarchie der Exekutive, in die der Amtswalter eingegliedert ist, ist die Voraussetzung für die politische Verantwortung, die der Minister, und nur er (nicht etwa der nachgeordnete Amtswalter), für sein Ressort gegenüber Parlament und Öffentlichkeit trägt. Der Minister kann nur verantworten, was seiner Weisungsmacht unterliegt. Die Verwaltungshierarchie, mit ihr die Weisungsgebundenheit und die Gehorsamspflicht der Amtswalter, sind daher Folgen und Funktionsbedingungen der parlamentarischen Demokratie 12 . Der Amtswalter kann sich also nicht aus der Abhängigkeit emanzipieren, ohne die parlamentarische Kontrollkompetenz zu verkürzen und seine demokratische Legitimation zu gefährden, es sei denn, die Verfassung selbst gestattete die Durchbrechung der demokratischen Regel für einen Sondertatbestand13. Die Demokratie verbietet dem öffentlichen Dienst die politische Eigenmächtigkeit in der Amtsführung. Das demokratische Prinzip steckt daher den Möglichkeiten einer Mitbestimmung des öffentlichen Dienstes verfassungsrechtliche Grenzen. Das Verwaltungspersonal, seine Mitbestimmungsgremien und seine Gewerkschaften haben keine demokratische Legitimation, von sich aus über die Ausübung der Staatsgewalt zu entscheiden und die Herrschaftsbefugnisse, die der parlamentarischen Repräsentation des Staatsvolkes vorbehalten sind, ganz oder teilweise zu übernehmen. Demokratie-notwendig ist die Weisungsgebundenheit, nicht aber die totale Reglementierung der Verwaltung von oben herab, die Auslöschung jedweder Eigenentscheidung oder gar blinder Gehorsam. Im Gegenteil: Demokratie ist angewiesen auf Eigenverantwortung des Amtswalters, Initiative in den Bahnen von Kompetenz und Verfahren, Entscheidungsfreude in der Erfüllung des Amtsauftrages, Mut zum Widerspruch gegen rechtswidrige oder zweckwidrige Weisungen, loyale Kritik, denkenden Gehorsam. Das demokratische Prinzip begrenzt aber auch die Loyalität. Sie beschränkt sich auf die amtlichen Beziehungen. Sie wird den Staatsorganen geschuldet, nicht aber den Personen, die als Organwalter fungieren, auch nicht den politischen Parteien, denen die Mitglieder der Parlamentsmehrheit und der Regierung angehören. bb) Die Parteien sind unentbehrlich für das Leben der Demokratie. Sie sind Mittler der demokratischen Willensbildung, aber sie sind nicht deren Basis. Basis ist

12

Zur Hierarchie als Instrument der Demokratie: H . KELSEN V o m Wesen und W e r t der Demokratie, 2. Aufl., 1929, S. 6 9 - 7 7 ; E . W. BÖCKENFÖRDE Organisationsgewalt, 1964, S. 88; W . LEISNER Mitbestimmung im öffentlichen Dienst, 1970, S. 4 4 - 4 6 ; H . LECHELER Personalpolitik und Personalführung in der öffentlichen Verwaltung, 1972, S. 32—36. — Allgemein zum Verhältnis Demokratie — öffentlicher Dienst: C . H . ULE

13

in: G R IV/2, 1962, S. 6 4 5 - 6 6 3 ; LEISNER (Fn. 9) S. 1 3 - 2 9 , 3 6 - 4 1 ; J . ISENSEE Beamtenstreik, 1970, S. 1 1 6 - 1 2 5 . Verfassungsrechtlich begründete Ausnahmen von der Weisungsgebundenheit sind die Unabhängigkeit der Mitglieder des Bundesrechnungshofes (Art. 114 II 1 G G ) und die Freiheit des Hochschullehrers auf den Gebieten von Forschung und Lehre (Art. 5 III 1 GG).

1155

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

das Volk, das in staatlich organisierter Form handelt. Repräsentanten des Volkes sind Parlament und Regierung, nicht aber die Regierungsparteien. Eine Partei vertritt nicht mehr und nicht weniger als ihre Mitglieder und Anhänger — also eine Gruppe der Gesellschaft. Die Beamten sind aber die „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei", wie die Weimarer Reichsverfassung die Stellung des öffentlichen Dienstes in der parlamentarischen Demokratie (und nicht nur in der von Weimar) deutlich beschreibt 14 . Ein Parteiprogramm als solches ist für den Inhaber eines Exekutivamtes schlechthin unbeachtlich. Parteipolitik kann nicht unmittelbar, am Parlament und am Ressortminister vorbei, auf die Exekutive einwirken. Ihr steht nur der Weg über die Institutionen der gewaltenteiligen Repräsentativdemokratie offen. Sie kann, unter Wahrung der verfassungsmäßigen Kompetenzen und Verfahren, in Gesetze oder ministerielle Weisungen einfließen und in dieser staatsamtlichen Qualität Verbindlichkeit für den Amtswalter erreichen. Der öffentliche Dienst bedarf der Distanz zu den politischen Parteien. Darin liegt kein Widerspruch zum Prinzip der Parteiendemokratie, sondern eine Voraussetzung. Denn die Parteiendemokratie ist die institutionalisierte Möglichkeit des Wechsels der Staatsführung, des Wechsels der Parteien, der Personen und der Programme. Die demokratische Regierung beruht auf zeitlich begrenztem, widerruflichem Vertrauen. Der öffentliche Dienst aber ist in seinem Kern auf lebenslängliche Dauer und berufliche Sicherheit angelegt. Er verkörpert das Beharrende gegenüber dem Wechsel des Politischen. Das Beharrungselement darf aber nicht den Wandel vereiteln und damit das ganze System in den Immobilismus führen. Eine Verwaltung, die sich mit der bisher „regierenden" Partei identifiziert, blockiert die demokratische Evolution, die eine andere Partei an die Macht bringt; sie entartet beim Regierungswechsel zur antiparlamentarischen Obstruktionsgewalt. Die Exekutive besitzt demokratische Legitimation nur, soweit sie gefügiges und bewegliches Instrument der jeweiligen Regierung ist. Die gleiche Loyalität, die sie der heute amtierenden Regierung schuldet, muß sie für jede künftige verfassungsmäßige Regierung erbringen. Loyalität bedeutet unvermeidlich parteipolitische Neutralität. Die Neutralität bezieht sich jedoch nur auf die Amtsführung. Der Bedienstete, der sein Amt regierungsloyal und parteipolitisch neutral führt, kann sich in seiner außeramtlichen Existenz als Staatsbürger parteipolitisch (gleich, ob regierungsfreundlich oder oppositionell) engagieren. cc) Amtsneutralität und Loyalität des öffentlichen Dienstes sind Funktionsbedingungen der demokratischen Gewaltenteilung, die den Bereich der politischen Führung durch das Parlament und die parlamentarisch fundierte Regierung absetzt 14

Die zitierte Norm des Art. 139 I WRV gilt als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums über Art. 33 V G G fort. Dazu:

Verh. 48. D J T 1970, O 3 9 - 4 3 ; W. WIESE Der Staatsdienst in der Bundesrepublik Deutschland, 1972, S. 147-258; E. BENDA

C . H . U L E R e c h t s g u t a c h t e n , in: FORSTHOFF

in:

u. a. (Fn. 11) S. 532. Zum Verhältnis des öffentlichen Dienstes zur Politik und zu den politischen Parteien: H . QUARITSCH, in:

RITT, Politische Parteien und öffentlicher Dienst, 1982, S. 2 9 - 5 1 ; J. ISENSEE, ebda, S. 52-78.

BAUM/BENDA/ISENSEE/KRAUSE/MER-

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1156

von dem Bereich der Ausführung des politischen Willens durch die an Gesetz und Recht gebundenen Organe der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit. Die Gewaltenteilung wird ermöglicht durch die Gewähr der unbedingten Dienstbereitschaft, wie sie das Beamtenrecht mit seiner hoheitsrechtlichen Struktur und dem Streikverbot bietet 15 . Der Gesetzgeber kann die Gewaltenteilung dadurch sichern, daß er auf Grund der Ermächtigung in Art. 137 I G G die Wählbarkeit der Angehörigen des öffentlichen Dienstes beschränkt und somit das passive Wahlrecht beschneidet, das an sich den Angehörigen des öffentlichen Dienstes als Grundrecht zusteht wie allen Staatsbürgern 16 . Das Grundgesetz ermöglicht die Einbuße an grundrechtlicher Gleichheit und Freiheit, um Personalunionen zu verhindern zwischen Gesetzgebung und Gesetzesvollzug, zwischen den Subjekten und den Objekten der parlamentarischen Kontrollaufgaben. Der Gesetzgeber erhält die (freilich nur begrenzt wirksame) Möglichkeit, einer „Verbeamtung der Parlamente" gegenzusteuern, also der Tendenz, daß sich die Wahlbewerber überproportional aus dem öffentlichen Dienst rekrutieren, weil dieser im Unterschied zu privaten Berufen die Risiken des Parlamentarierdaseins auffängt 17 . Das Grundgesetz ermöglicht — die Inkompatibilität: die Unvereinbarkeit von Parlamentsmandat und Exekutiv- oder Richteramt — oder eine F o r m der Ineligibilität: den Entzug des passiven Wahlrechts, begrenzt auf eine bestimmte Vertretungskörperschaft, bezogen auf einen bestimmten Zeitraum 1 8 . Bei der (heute geltenden) Inkompatibilitätslösung behält der Bedienstete das passive Wahlrecht; er m u ß sich erst nach einem Wahlerfolg zwischen Mandat und Amt entscheiden. Bei einer Ineligibilitätslösung müßte er dagegen schon vor der Wahl, ohne Rücksicht auf ihren Ausgang, sein Dienstverhältnis bzw. die Ausübung des Amtes aufgeben, um überhaupt die Wählbarkeit zu erlangen. Die grundgesetzliche Ermächtigung zur Wählbarkeitsbeschränkung bezieht sich auf Beamte, Angestellte des öffentlichen Dienstes 1 9 , Berufssoldaten auf Zeit und Richter, nicht dagegen auf Arbeiter. Die Eingriffe können für alle staatlichen und kommunalen Vertretungsgremien getroffen werden. Die verfassungsrechtliche Ermächtigung reicht so weit wie die Gefahr von Entscheidungskonflikten und Strukturverfilzungen 2 0 .

c) Der Leistungsauftrag

des sozialen

Rechtsstaats

aa) Der Rechtsstaat ergänzt die demokratische Gehorsamspflicht um die persönliche Verantwortung, die er dem einzelnen Bediensteten für die Rechtmäßigkeit seiner Amtshandlungen abverlangt 21 . Die Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) wird hier von der institutionellen Ebene auf die dienstrechtliche übertragen und in Dienstpflichten umgesetzt. Jeder einzelne Amtswalter hat Gesetz 15

V g l . LEISNER ( F n . 9 ) S .

16

Dazu etwa mit weit. N a c h w . : G . STURM Die

36-41.

18

N ä h e r : SCHLAICH ( F n . 16) S. 2 1 1 - 2 2 3 .

19

Dazu gehören auch die leitenden Angestellten der privatrechtlich organisierten Versorgungsbetriebe der öffentlichen H a n d (BVerf-

I n k o m p a t i b i l i t ä t , 1 9 6 8 ; W . LEISNER D i e U n -

vereinbarkeit von öffentlichem A m t

und

P a r l a m e n t s m a n d a t , 1967; J . HENKEL, A m t AöR

20

1 0 5 ( 1 9 8 0 ) S . 1 8 8 - 2 4 3 ; K . A . BETTERMANN

21

und

Mandat,

1 9 7 7 ; K . SCHLAICH i n :

i n : F S - U l e , 1 9 7 7 , S. 2 6 5 - 2 8 6 . 17

G E 38, 326 (338f)). Vgl. B V e r f G E 38, 326 (339).

Z u m Verhältnis sozialer Rechtsstaat — öffentlicher Dienst: ULE (Fn. 12) S. 6 6 3 - 6 6 9 ;

D a z u : B V e r f G E 4 0 , 296 (321); SCHLAICH

LEISNER ( F n . 9 ) S . 4 1 - 5 8 ; ISENSEE ( F n . 1 2 )

( F n . 16) S. 2 3 0 - 2 4 2 .

S.

125-133.

1157

2. Abschnitt, ö f f e n t l i c h e r Dienst (ISENSEE)

und Recht zu wahren, obwohl er in die Weisungshierarchie der Exekutive eingegliedert ist. Die demokratische Loyalität darf nicht auf Kosten der rechtsstaatlichen Integrität geübt werden. Der Konflikt zwischen der rechtlichen Individualverantwortung des Bediensteten und der politischen Globalverantwortung des Ministers ist damit angelegt. Der Gesetzgeber hat für einen praktikablen Ausgleich zu sorgen 22 . Mit der persönlichen Verantwortlichkeit des Bediensteten ergibt sich die Gefahr, daß die Entschlußkraft gelähmt wird, daß juristische Pedanterie und Ängstlichkeit überhand nehmen. Das Grundgesetz trifft dagegen Vorsorge; es mindert das haftungsrechtliche Risiko des Amtsträgers bei Ausübung von Hoheitsfunktionen. Gemäß Art. 34 GG haftet die Anstellungskörperschaft, nicht der einzelne Bedienstete dem Geschädigten für Amtspflichtverletzungen. Dem Bediensteten droht der Rückgriff nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit. Die verfassungsrechtliche Haftungsbegünstigung ist allerdings zu eng bemessen; sie beschränkt sich auf Hoheitstätigkeit, obwohl die öffentliche Verwaltung sich heute in weitem Maße in privatrechtlicher Form vollzieht 23 . bb) Die Legalität gibt der Staatsverwaltung eine spezifische Qualität, die sie von Privatunternehmen unterscheidet — trotz aller gemeinsamen Züge wie der Rationalität der Zweckverfolgung und der büromäßigen Organisation 2 4 . Für das Privatunternehmen bedeutet das Gesetz nur Schranke, für die Staatsverwaltung dagegen auch Form, Inhalt und Grund des Handelns. Der rechtsstaatliche Sondercharakter des Staates wird daher vernachlässigt, wenn man ihn lediglich als Dienstleistungsunternehmen, der Art nach gleich denen der Privatwirtschaft, betrachtet 25 . Dem Sondercharakter des Staates muß das Recht des öffentlichen Dienstes Rechnung tragen. Staatsspezifisch sind auch die verfassungsrechtlichen Impulse, welche die Aktivität der Verwaltung steuern. Aus der liberalen Idee, die sich im Rechtsstaat verkörpert, folgt ein vom Gesetzgeber näher auszuformulierender Leistungsauftrag an die vollziehenden Gewalten und damit ein Arbeitsprogramm für den öffentlichen Dienst: die Gewährleistung der Sicherheit der Bürger und ihres Rechtsschutzes. Die Pflichten des öffentlichen Dienstes sind eine Bedingung dafür, daß die Rechte der Bürger gewahrt und erfüllt werden können. Ein zusätzlicher Tätigkeitsbereich öffnet sich mit dem sozialen Staatsziel: die Sorge des Staates für einen effektiven Mindeststandard an sozialer Gerechtigkeit. Der Staat ist im Dienst des liberalen wie des sozialen Verfassungszwecks nicht Konkurrent der privaten Leistungsträger, sondern ihre Ergänzung, ihr Gegenpol. Er erbringt die Leistungen, zu denen die Gesellschaft nicht fähig ist. Er kompensiert

22

23

24

Die geltende gesetzliche Regelung: §§ 55f B B G , §§ 3 7 f B R R G . Kritisch zur Anknüpfung der Amtshaftung an die Rechtsform: F. OSSENBÜHL, Staatshaftungsrecht, 2. A u f l . 1978, S. 1 7 f . Dazu MAX WEBER Wirtschaft und Gesellschaft (Studienausgabe) 2. Hbd., 1964, S. 1047-1062.

25

Gegen die Gleichstellung des Staates mit einem privaten Dienstleistungsunternehmen: HINTZE (Fn. 1 0 ) S. 1 2 f ; FORSTHOFF ( F n . 1 1 ) S.

24-38;

R.

SCHOLZ

in:

W.

LEISNER

(Hrsg.) Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975, S. 1 8 0 - 1 9 8 ; J . ISENSEE ebda. S. 2 8 - 3 0 .

1158

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

gesellschaftliches Versagen und korrigiert gesellschaftliches Fehlverhalten. Um dieser Zwecke willen besitzt er exklusive Hoheitsgewalt: die Fähigkeit, seine Programme einseitig festzusetzen und einseitig durchzusetzen. cc) Der öffentliche Dienst ist nicht nur Instrument des sozialen Rechtsstaats. Er ist zugleich dessen Gegenstand und Aufgabe. Er bedarf selbst des rechtsstaatlichen und des sozialen Schutzes. Auch zu Gunsten der Bediensteten gelten die verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien und das Verfassungsziel der sozialen Gerechtigkeit. Daraus ergibt sich für das Dienstrecht: die rechtliche Anerkennung der schutzwürdigen beruflichen Belange, die Durchsetzbarkeit der Ansprüche, die freiheitsermöglichende Begrenzung der Dienstpflichten, die sozial gerechte Gestaltung der Arbeitsbedingungen, nicht zuletzt die angemessene Abgeltung der Dienste und die soziale Sicherung. Diese Derivate des sozialen Rechtsstaats sind um des einzelnen Bediensteten willen da, aber auch um des Gemeinwohls willen. Denn die rechtliche und die wirtschaftliche Absicherung ist die unerläßliche Voraussetzung für eine rechtlich integre, unbestechliche Amtsführung. Das Prinzip des Rechtsstaats garantiert Distanz zwischen Bürger und Staatsorganisation. Diese Distanz ist zwar für den öffentlichen Bediensteten aufgehoben, soweit er in die Staatsorganisation eingegliedert ist und deren Funktionen wahrnimmt. Aber er geht nicht mit seiner ganzen Person im Amt auf. Der Rechtsstaat sichert ihm einen außeramtlichen Freiraum der privaten und gesellschaftlichen Entfaltung; in diesem Bereich kommt dem Bediensteten grundsätzlich die gleiche grundrechtliche Freiheit zu wie jedem Staatsbürger. Überdies schützt der Rechtsstaat auch Sonderinteressen der Bediensteten, die sich aus dem Dienstverhältnis gegenüber dem Dienstherrn ergeben. Die Verfassung fordert daher den schonenden, differenzierenden Ausgleich zwischen den Belangen der Allgemeinheit und denen des einzelnen Bediensteten, zwischen den besonderen Anforderungen des öffentlichen Amtes und der staatsbürgerlichen Gleichheit. Diese abstrakten Prinzipien des sozialen Rechtsstaats ergeben noch keine dienstrechtliche Konzeption. Es ist nicht möglich, das geltende Recht des öffentlichen Dienstes aus den höchsten Staatsziel- und Staatsformbestimmungen der Verfassung zu deduzieren oder es als die ihnen allein gemäße Ordnung auszuweisen. Das Grundgesetz enthält aber konkretere Normen, welche wesentliche Strukturen des Beamtenrechts und damit einen Teilbereich des öffentlichen Dienstrechts festlegen 26 . 3. Die Verfassung in ihrer Bedingtheit durch den öffentlichen Dienst a) Der öffentliche Dienst als Verfassungsvoraussetzung Der öffentliche Dienst ist in bestimmtem Maße das Werk der Verfassung. Aber die Verfassung ist auch das Werk des öffentlichen Dienstes. Sie ist von ihm abhängig, wie die Aufführung einer schwierigen Sinfonie abhängt vom Niveau des Orchesters. Die Verfassungsvoraussetzung wird besonders spürbar in den Versuchen junger Staaten der Dritten Welt, die Verfassungsmuster der westlichen Demokratien zu überneh-

26

Dazu unten S. 12 ff und S. 45 ff.

1159

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

men. Die Rezeption kann nur gelingen, wo ein dem Leistungsanspruch der Verfassung gemäßer, leistungsfähiger und leistungswilliger öffentlicher Dienst bereitsteht. So kann die Rechtsstaatlichkeit dort keine Wurzeln schlagen, wo die Bestechung nicht ausgerottet und noch nicht einmal illegitim ist, also dort, wo der Staat seinen Bediensteten keine angemessene Besoldung gewährt oder wo sich angesichts übermächtiger Gruppenbindung ein republikanisches Amtsethos nicht hinreichend entwickelt hat 27 . Die Staatsverfassung wird auch inhaltlich geprägt durch die Dienstverfassung. Die deutsche Form der Demokratie ist nur begreifbar aus der Eigenart des deutschen Beamtentums: Berufsprinzip und Lebenszeitprinzip, parteipolitische Amtsneutralität und rechtliche Absicherung gegenüber dem politischen Wechsel, Legitimation aus Ernennung und fachlicher Leistung statt aus Wahl und politischem Vertrauen. Ein öffentlicher Dienst, der aus Wahlen hervorgeht oder als Beutegut für den jeweiligen Wahlsieger zur Versorgung seiner parteipolitischen Klientel dient („spoils system"), konstituiert eine andere Demokratie. b) Das Beamtentum als geschichtlicher 'Wegbereiter deutscher Verfassungsstaatlichkeit Als die parlamentarische Demokratie in Deutschland eingeführt wurde, war das Beamtentum schon voll entwickelte, traditionsreiche Institution. Es hatte seine Strukturen im wesentlichen ausgebildet im 18. und 19. Jahrhundert, und zwar in den Verfassungsepochen der aufgeklärt-absolutistischen und der konstitutionellen Monarchie28. Das Beamtentum ist dem Vorwurf ausgesetzt, es sei vordemokratisch, also rückständig, den Verfassungszuständen seiner Entstehung unlösbar verhaftet, der grundgesetzlichen Demokratie fremd 29 . Verfassungsgeschichtlich und verfassungsrechtlich ist die These unhaltbar. Dasselbe Argumentationsmuster könnte auch eine Polemik begründen gegen die „vordemokratischen" Institutionen der Menschenrechte, der Gewaltenteilung, des Rechtsstaates, des Sozialstaates, sogar des Parlamentarismus. Die Argumentation verkennt, daß das demokratische Verfassungsprinzip die geschichtlich gewordene Gesamtgestalt des Gemeinwesens nicht total neu konstituiert, daß es sich mit anderen Verfassungsprinzipien verschränkt, daß es auf Verfassungsvoraussetzungen gründet, die eine relative Eigenständigkeit gegenüber der Verfassungsentwicklung besitzen, und daß der öffentliche Dienst zu diesen Voraussetzungen gehört. Die „vordemokratische" Entstehung des Beamtentums ist alles andere als Ausweis seiner Rückständigkeit. Mit dem Beamtentum bilden sich erste Züge deutscher Verfassungsstaatlichkeit aus: Amtsidee und Willkürverbot, Gesetzesherrschaft 27

D a z u : J . H . KAISER in: KAISER/MAYER/ULE

Recht und System des öffentlichen Dienstes, 1973, Bd. 1, S. 24f, RUDOLF (Fn. 1) S. 191. 28

Z u r Entwicklung des B e a m t e n t u m s : HINTZE ( F n . 10) S. 1 6 - 6 5 ; F . KERN D i e Institution

des Berufsbeamtentums im kontinental-eu-

r o p ä i s c h e n Staat, 1952; H . HATTENHAUER, 29

Geschichte des Beamtentums, 1980. Zu dieser pseudo-historischen Polemik gegen das Beamtenrecht: H . QUARITSCH ( F n . 14) S. 3 5 f ; ISENSEE (Fn. 12) S. 1 1 0 - 1 1 2 .

1160

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

statt persönlicher Macht, Regelhaftigkeit und Rationalität der Leistungsbürokratie, rechtlich fixierte, arbeitsteilige Kompetenzordnung. Wesentliche Momente der republikanischen, der gewaltenteiligen, der liberal-rechtsstaatlichen und der sozial-leistungsstaatlichen Verfassung werden im Beamtentum vorbereitet, vorgeprägt und vorweggenommen 30 . H E G E L konnte den Staatsbeamten als den Träger der allgemeinen Staatsidee, abgehoben von dem gesellschaftlichen Privatinteresse, darstellen 31 : der Sache nach daher als Sachwalter des republikanischen Prinzips. In der preußischdeutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts mußte die Beamtenschaft die Verfassung ersetzen, solange es noch keine Verfassung gab 32 . Die demokratischen Verfassunggeber von Weimar und Bonn hatten guten Grund, die hergebrachte Institution des deutschen Beamtentums anzuerkennen, sie in die neue Ordnung einzubeziehen und ihr anzuverwandeln.

III. Der Zugang zum öffentlichen Dienst 1. Der Sinn des Art. 33 II GG

a) Chancengleichheit

durch

Leistungsauslese

Das Grundgesetz gewährleistet jedem Deutschen „nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte" (Art. 33 II). Die Verfassung bietet damit Chancengleichheit. Chancengleichheit aber bedeutet: Auslese nach Eignung, und zwar allein nach Eignung. Eignungsfremde Unterscheidungsmerkmale sind verpönt: so Geschlecht und soziale Herkunft, Familienstand und soziale Bedürftigkeit, politische oder gesellschaftliche Beziehungen, Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer politischen Partei, einer Gewerkschaft, einer Konfession oder Weltanschauung. Die Personalentscheidung richtet sich ausschließlich nach den Anforderungen, die das zu besetzende Amt an seinen künftigen Inhaber stellt. Der gleiche Zugang, den das Grundgesetz vorsieht, konvergiert mit dem Leistungsprinzip 33 . Die verfassungsgebotene Leistungsauslese gilt gleichermaßen für die öffentlichrechtlichen Dienstverhältnisse wie für die Arbeitsverhältnisse des Staatsbereichs.

b) Organisationsnorm

und

Grundrecht

Die Leistungsauslese soll gewährleisten, daß nur geeignete Bewerber ein öffentliches Amt erhalten und daß von mehreren geeigneten Bewerbern möglichst der bestgeeig-

30

D a z u LEISNER ( F n . 9 ) S .

31

G . W . F. HEGEL Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1 8 2 1 , §§ 289, 2 9 4 . Dazu H.-J. SCHOEPS Preußen - Geschichte eines Staates, 1 9 8 1 , S. 175, 4 3 7 - 4 4 2 . - Zum Typus des deutschen Beamtenstaates: F. FLEINER in: Festgabe für O t t o Mayer, 1 9 1 6 , S. 1 - 5 7 .

32

13-59.

33

Zum Leistungsprinzip: H. KRÜGER Das Leistungsprinzip als Verfassungsgrundsatz, 1 9 5 7 ; W . TIETGEN in: FS-DJT Bd. II, 1960, S. 3 3 0 - 3 3 5 ; W . LEISNER (Fn. 9) S. 6 0 - 8 0 ; W . JUNG Der Zugang zum öffentlichen Dienst nach A r t . 33 II G G , Diss. Saarbrükken 1978, S. 2 8 - 1 4 0 .

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

1161

nete zum Zuge kommt 3 4 . Das Auswahlprinzip dient der Funktionstüchtigkeit der Verwaltung und der Rechtsprechung. Es sichert das fachliche Niveau und die rechtliche Integrität des öffentlichen Dienstes. Es schützt vor Dilettantismus, vor parteipolitischer, vor gewerkschaftlicher und sonstiger gruppenpolitischer Verfilzung. In zweiter Linie dient die Verfassungsnorm auch dem Interesse des einzelnen Bewerbers. Sie gewährleistet ihm eine sachgerechte, rein auf amtliche Gesichtspunkte konzentrierte Entscheidung. Sie verbietet Willkür und Ämterpatronage. Die Zugangsregelung hat also Doppelcharakter: Sie ist objektive Norm des Staatsorganisationsrechts und subjektives Grundrecht des einzelnen Bewerbers 35 . 2. Voraussetzung der Zugangs-Gleichheit: das verfügbare öffentliche Amt a) Organisations-

und haushaltsrechtliche

Vorentscheidungen

Der Staat hat die Chancengleichheit zu wahren, wenn er ein öffentliches Amt besetzt. Oh er aber ein Amt besetzt, ist nicht Gegenstand der Garantie des Art. 33 II GG, sondern eine Voraussetzung, die ihrerseits auf der Voraussetzung beruht, daß überhaupt eine besetzbare Stelle vorhanden ist. Legislative und Exekutive treffen innerhalb ihrer jeweiligen Zuständigkeit die Entscheidungen darüber, ob und zu welchem Zweck ein Dienstposten geschaffen wird und ob ein freier Posten besetzt, gesperrt, gestrichen oder umgewidmet wird 36 . Diese Entscheidungen finden ihre Maßstäbe nicht im Zugangsregulativ, sondern in den Staatsaufgaben, die den Personalbedarf auslösen. Der Staat hat politischen Spielraum in der Entscheidung über seine Aufgaben und in der Planung der aufgabenabhängigen Personalkapazität. Gleichwohl sind die Aufgaben nach Art und Umfang weithin durch Verfassungsgebote und Sachnotwendigkeiten vorgezeichnet. Die politische Beweglichkeit endet überdies an der Grenze der Finanzierbarkeit. Auf der anderen Seite bietet die Besetzung oder Nichtbesetzung von Stellen nur enge Möglichkeiten für eine expansive oder restriktive Finanzpolitik, weil die Personalkapazität sich nicht beliebig verändern läßt. b) Ämterbesetzung

und

Beschäftigungspolitik

Die (Nicht-)Besetzung ist Folge politischer Vorentscheidungen. Aber sie taugt wenig als Instrument einer Spar-, Konjunktur- oder Beschäftigungspolitik. Das Dienstrecht ist dafür zu starr 37 . Personalentscheidungen haben zumeist langfristige und unaufhaltsame Folgen, sie eignen sich daher nicht zum Mittel für kurzfristige Ziele wie Haushaltsausgleich, Konjunktursteuerung oder Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Ein Staat, der Dienstposten dazu schüfe und besetzte, um Arbeitslosigkeit zu min34

Zur Verfassungspflicht, den bestgeeigneten Bewerber auszuwählen: BVerwGE 24, 235 (239 - Nachw.).

35

D a z u : T H . MAUNZ i n : M A U N Z / D Ü R I G / H E R -

keiten: H . LECHELER A r b e i t s m a r k t u n d ö f -

ZOG/SCHOLZ Grundgesetz, Stand 1981, Art. 33/Rdn. 12; J. ISENSEE, in: FS-BVerwG, 1978, S. 3 3 9 - 3 5 1 . Zur staatlichen Organisationsgewalt über die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst: BVerf-

fentlicher Dienst, 1979, bes. S. 5 5 - 7 9 (Nachw.); DERS. in: ZBR 1980, S. 1 - 8 ; I. v. MÜNCH in: ZBR 1978, S. 1 2 5 - 1 2 9 .

36

37

G E 7, 377 (398); 17, 371 (377); ISENSEE (Fn. 35) S. 338f. Zu den beschäftigungspolitischen Möglich-

1162

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

dem verkehrte das Amt in eine soziale Pfründe, deren Sinn Versorgung wie Beschäftigungstherapie wäre. Neue Stellen für Lehrer können nur aus einem neuen schulischen Bedarf gerechtfertigt werden, wie er sich aus größerem Unterrichtsprogramm, Zunahme der Schülerzahl oder Verkleinerung der Klassen ergibt, nicht aber aus dem Interesse der Lehramtsbewerber an ihrer beruflichen Versorgung. Wenn ein (politisch zu bestimmender) wachsender Arbeitsbedarf des Staates zu einer beschäftigungspolitisch erwünschten Stellenvermehrung führt, so ist das legitime Folge, aber nicht legitimierender Grund. 3. Kriterien des Ämter-Zugangs a) Die Eignung für das Amt Das Grundgesetz umschreibt das Zugangs-Kriterium wort-aufwendig als „Eignung, Befähigung und fachliche Leistung". Es ist müßig, hinter den verschiedenen Wörtern eine jeweils besondere Bedeutung zu suchen 38 . Denn in Wahrheit bedeuten sie alle dasselbe: die Gesamtheit der Eigenschaften, die das Amt von seinem Inhaber fordert. „Eignung, Befähigung und fachliche Leistung" sind Verweisungsbegriffe. Sie beziehen sich auf das zu besetzende Amt. Das Amt verkörpert bestimmte, dienstrechtlich definierte Leistungserwartungen, denen der Bewerber gewachsen sein muß. Diese hängen ab von der Art des jeweiligen Dienstverhältnisses, der Laufbahn, den wahrzunehmenden Aufgaben und sonstigen Merkmalen, die das einschlägige Dienstrecht festlegt. Der Leistungsstandard, dem der Bewerber um eine Beamtenstelle zu genügen hat, ist im wesentlichen schon durch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums vorgezeichnet, die das Grundgesetz als Richtmaß nennt (Art. 33 V GG). Die Eignungsmerkmale sind so verschiedenartig wie die Erfordernisse des Amtes, auf das sich die Eignung bezieht. Eignung umfaßt intellektuelle Eigenschaften (prüfungsmäßig nachgewiesene Fachkenntnisse), praktische (pädagogische Fähigkeiten des Lehrers), physische (gesundheitliche Tauglichkeit, bestimmtes Lebensalter) und ethische (charakterliche Zuverlässigkeit, Verfassungstreue). Eignungsmerkmale können für alle Ämter gleich sein (Altersgrenzen); sie können spezifisch auf ein besonderes Amt, eine einzelne Gattung von Ämtern, eine bestimmte Laufbahn zugeschnitten sein. Sie bilden einen Mindeststandard (das Bestehen der notwendigen Eingangsprüfung), ebenso aber auch das Maß des Vergleichs zwischen mehreren Bewerbern (die Note, mit der diese die Eingangsprüfung bestanden haben). Wenn die Dienstpflichten, die aus einem Amt folgen, verfassungsrechtlich zulässig sind, so sind es auch die korrespondierenden Eignungsmerkmale. Konkreter: Wenn das Grundgesetz von den Beamten Verfassungstreue verlangt, so hält es auch nur jenen Bewerbern den Zugang zu einer Beamtenstelle offen, welche die Gewähr künftiger Pflichterfüllung bieten. Das ethische Eignungskriterium kann daher nicht verfassungsrechtlich gerügt werden als Benachteiligung wegen einer politischen An-

38

„Eignung" ist nach h. M. der Oberbegriff (vgl. BVerfGE 47, 330 (336f)). Beisp. eines untauglichen Versuchs, die drei Merkmale

voneinander abzugrenzen: F. MATTHEY in: v. MÜNCH (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, 2. Bd., 1976, Art. 33/Rdn. 1 3 - 1 5 .

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

1163

schauung, also als Verletzung des Art. 3 III G G . Im übrigen scheidet das Diskriminierungsverbot des Art. 3 III G G von vornherein als möglicher Maßstab für den Zugang zum öffentlichen Dienst aus. Denn die Zugangs-Gleichheit des Art. 33 II G G geht als Sonderregelung den allgemeinen Gleichheitsnormen (Art. 3 I—III G G ) vor 3 9 . b) Die Gleichheit aller Deutschen Das Grundgesetz gewährleistet die Zugangs-Gleichheit „jedem Deutschen". Es verbietet damit eine Unterscheidung nach Geburtsort, Wohnsitz, Studienort und sonstigen regionalen Merkmalen. Länder und Gemeinden dürfen ihre eigenen Bürger nicht den auswärtigen vorziehen. Die Zugangs-Gleichheit ist Ausdruck der Rechtsgleichheit im Bundesstaat, die Art. 33 I G G als allgemeine Norm sanktioniert. Die bundesstaatliche Homogenität wird in begrenztem Umfang abgeschwächt (nicht aber in Frage gestellt) durch Länder-Proporz und Heimatverbundenheit: Maximen, denen nach Art. 36 G G die Personalpolitik des Bundes folgen soll. Die Zugangs-Gleichheit gilt nur für die Deutschen im Sinne des Art. 116 G G , nicht dagegen für Ausländer. Damit wird die demokratische Basis des Gleichheitsrechts sichtbar. Das Grundgesetz hält die Ausübung der Staatsgewalt nur den Angehörigen des Volkes offen, von dem die Staatsgewalt ausgeht. Das demokratische Prinzip des Grundgesetzes schließt daher die Ausländer vom Wahlrecht und von den staatsleitenden, politischen Ämtern aus. Jedoch sperrt es ihnen nicht schlechthin den Zugang zum öffentlichen Dienst. Denn im öffentlichen Dienst geht es nicht (wie in der Wahl) um die Bildung des Volkswillens, sondern um die Ausführung des Volkswillens, der sich zuvor bereits im demokratischen Prozeß konstituiert hat. Deshalb läßt das Beamtenrecht die Verbeamtung eines Ausländers im Ausnahmefall zu, wenn dienstliche Interessen es rechtfertigen, obwohl das Erfordernis der deutschen Staatsangehörigkeit an sich zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art. 33 V G G ) gehört 40 . Der Deutschen-Vorbehalt des Art. 33 II G G behält trotzdem grundsätzliche Bedeutung: Die Ausländer haben nicht teil an der verfassungsrechtlich garantierten Chancengleichheit. Ihre Bewerbungen müssen nicht berücksichtigt werden. Es entspricht dem Sinn dieser Regelung, daß der Staat grundsätzlich deutsche Bewerber bevorzugt 41 . c) Verbot eignungsfremder

Maßstäbe

Die Garantie der Zugangs-Gleichheit nach Maßgabe der Eignung schließt notwendig das Verbot der eignungsfremden Differenzierung ein. Daher ist es eigentlich überflüs35

40

Das BVerfG hält dagegen Art. 3 III G G für anwendbar und rechtfertigt vor diesem Grundrecht die Beamtenpflicht zur Verfassungstreue (E 39, 334 ( 3 6 7 - 3 6 9 ) ) . Das Beamtenrecht verlangt die Deutscheneigenschaft ( § 4 1 1 B R R G , § 7 1 1 B B G ) , läßt aber Dispens zu (§ 4 II B R R G , § 7 II B B G ) . Das Erfordernis der deutschen Staatsangehörigkeit ist hergebrachter Grundsatz nach

41

Art. 33 V G G (richtig: G . SCHWERDTFEGER Teilgutachten Ausländerintegration, in: Verh. 53. D J T , Bd. I, Teil A, 1980, A 72). Zur grundrechtlichen Stellung des Ausländers im öffentlichen Dienst mit weit. Nach.: J.

ISENSEE

91—96;

M.

Ausländer,

in:

WDStRL

BIRKENHEIER 1976,

GER ( F n . 4 0 ) A

S.

87-89;

71-73.

32

(1974),

Wahlrecht

S. für

SCHWERDTFE-

1164

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

sig, daß das Grundgesetz die Unabhängigkeit der Ämterzulassung vom religiösen Bekenntnis eigens feststellt und diese Feststellung sogar mehrfach trifft (Art. 33 III 1 und Art. 140 G G iVm. Art. 136 II WRV). Diese negative Zugangsregelung enthält nicht mehr als eine Verdeutlichung der Rechtslage, die bereits kraft der ZugangsGleichheit des Art. 33 II G G besteht. Die Gesamtheit der möglichen amts-irrelevanten, also verfassungswidrigen Merkmale läßt sich nicht rechtlich katalogisieren. Die Beamtengesetze zählen beispielhaft einige auf: „Geschlecht, Abstammung, Rasse, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen, Herkunft oder Beziehungen" 4 2 . Diese Aufzählung hat einen guten staatspädagogischen Sinn. Juristisch wesentlich ist jedoch, daß die verfassungsrechtliche Grundentscheidung über den Ämterzugang im Eignungsprinzip des Art. 33 II G G enthalten ist und die Differenzierungsverbote keinen eigenständigen Gehalt haben. So kann die Konfession ausnahmsweise doch ein Eignungsmerkmal, mithin ein legitimes Zugangskriterium nach Art. 33 II G G , bilden, wenn ein konfessionsgebundenes Amt (etwa das eines Religionslehrers) zu besetzen ist; das Differenzierungsverbot des Art. 33 III G G tritt hier zurück 4 3 . d) Sonderfall:

Parteipatronage

Die gefährlichste Form der eignungsblinden Personalauslese ist die Parteipatronage 4 4 . Die Regierenden der Parteiendemokratie stehen in der Versuchung, die Personalhoheit zugunsten der Berufs- und Karrierewünsche der jeweiligen Anhänger ihrer Partei auszubeuten und im öffentlichen Dienst parteipolitische Hörigkeitsbeziehungen zu stiften, welche die Amtsloyalität, das Rückgrat der administrativen Rechtlichkeit, überlagern, wenn nicht gar ablösen. Die Versuchung ist besonders groß, weil der zumeist unmerkliche und unbeweisbare Machtmißbrauch sich weithin der rechtlichen und politischen Kontrolle entzieht. Die Patronage, von einer Partei geübt, erzeugt politischen Anpassungsdruck auf die anderen, die fürchten, ins Hintertreffen zu geraten, wenn sie korrekt bleiben. Eine neue Regierung, die als Hinterlassenschaft ihrer Vorgängerin auf einen parteipolitisch homogenen öffentlichen Dienst als oppositionelle Phalanx trifft, neigt um der politischen Selbstbehauptung willen dazu, gegenzusteuern dadurch, daß sie ihrerseits protegiert. Als politischer Kompromiß mag sich anbieten, daß sich alle Parteien auf einen Verteilungsschlüssel für freie Stellen einigen und jede von ihnen Einfluß im Rahmen ihres Anteils gewinnt. Aus der Sicht des Grundgesetzes ist die partei-paritätische Patronage ebenso unzulässig wie die partei-einseitige. Das Grundrecht der politischen Parteien, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken (Art. 21 I G G ) , rechtfertigt nicht 42 43

44

§ 8 I 2 BBG, § 7 BRRG. Zur verfassungsrechtlichen Besonderheit des konfessionsgebundenen und des geschlechtsrelevanten Amtes: BVerfGE 39, 334 (368); BVerwGE 19, 252 (260); 47, 330 (354). Dazu: TH. ESCHENBURG Ämterpatronage, 1 9 6 1 ; WIESE ( F n . 14) S. 2 3 9 - 2 5 8 ; W .

LEIS-

NER Demokratie, 1979, S. 133-136; H . H. VON ARNIM Ämterpatronage durch politische Parteien, 1980; B. SCHMIDT-BLEIB-

TREU/F. KLEIN K o m m e n t a r z u m G r u n d g e -

setz für die Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl. 1980, Art. 33/Rdn. 7; K. DYSON in: Die Verwaltung 12 (1979), S. 129-160; K. SEEMANN in: Die Verwaltung 13 (1980), S. 137—156; DERS. in: Die Verwaltung 14 (1981), S. 133-156; BENDA (Fn. 14), S. 4 0 - 4 5 ; ISENSEE (Fn. 14), S. 5 2 - 7 8 ; BETTERMANN ( F n . 1 6 ) , S . 2 8 6 .

1165

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

ihren Zugriff auf den öffentlichen Dienst. Zwischen dem Parteiengrundrecht und der Zugangs-Gleichheit besteht kein rechtliches Spannungsverhältnis; die Normen beziehen sich auf verschiedene Sachverhalte.

4. Der grundrechtliche Schutz des Bewerbers Aus der Zugangs-Gleichheit, die der Leistungsfähigkeit des Staates dient, erwächst dem einzelnen Bewerber ein Grundrecht 4 5 . Dieses Gleichheitsgrundrecht ergänzt das Freiheitsgrundrecht der Berufswahl (Art. 12 1 1 G G ) . Die freie Berufswahl gilt auch für die Berufe des öffentlichen Dienstes. Aber sie bietet dem Bewerber nur Unabhängigkeit der Entscheidung vor dem Staat (status negativus). Sie verschafft ihm nicht die Staatsgarantie dafür, daß er eine Stelle findet, die seiner Berufsentscheidung entspricht 4 6 . Eine solche Garantie ergibt sich auch nicht aus der Zugangs-Gleichheit. Immerhin konstituiert sie einen status positivus des Bewerbers. Er erhält zwar keinen Anspruch auf das gewünschte Amt, wohl aber ein formelles subjektives öffentliches Recht auf eine sachgerechte, rein eignungsbezogene Beurteilung. Die Chancengleichheit schlägt zugunsten des geeigneteren, zulasten des weniger geeigneten Bewerbers aus. Sie gibt daher nicht ein Recht auf eine günstige, sondern ein Recht auf eine korrekte Entscheidung. Das tatsächliche Risiko, das die Freiheit der Berufswahl begleitet, entfällt damit nicht; aber es wird begrenzt und kalkulierbar 4 7 . Eine vergleichbare grundrechtliche Rationalitätsgewähr hat der Bewerber um einen Arbeitsplatz in der Privatwirtschaft nicht. Der Bewerber kann das Gleichheitsgrundrecht gerichtlich durchsetzen, und zwar über die Verwaltungsgerichtsbarkeit, soweit er sich um ein öffentlichrechtliches Amt, oder über die Arbeitsgerichtsbarkeit, soweit er sich um einen Arbeitsplatz bewirbt. Die Verfassungsbeschwerde ist möglich (Art. 93 1 4 a G G , § 90 I B V e r f G G ) . Einklagbar ist aber allein das Recht des Bewerbers, daß über seinen eigenen Antrag eignungsgerecht entschieden wird. Er kann nicht die Ernennung des bevorzugten Mitbewerbers anfechten und so dessen Dienstverhältnis für die Dauer der Rechts-

45

Zur Grundrechtsqualität mit Nachw.: TIETGEN ( F n . 33) S. 3 3 5 - 3 5 2 ; MAUNZ ( F n . 35) A r t . 3 3 / R d n . 11, 1 6 f ; ISENSEE ( F n . 35) S.

46

47

347-351. Anders ist die Rechtslage für Ausbildungsverhältnisse innerhalb des öffentlichen Dienstes wie die des Studien- und Gerichtsreferendars. Der Bewerber hat auf Grund der freien Wahl der Ausbildungsstätte (Art. 12 I 1 G G ) den materiellen Anspruch auf Zugang zum staatlichen Ausbildungsmonopol im Rahmen der Kapazität. Dazu: BVerwGE 6, 13 (14-18); 47, 330 (332f, 340); 47, 365 (367f); BVerfGE 39, 334 (371-373). Die Abweisung eines Bewerbers mangels fachlicher, physischer, ethischer etc. Eignung kann, falls sie fehlerhaft ist, eine Dis-

kriminierung bewirken, nicht aber einen Freiheitsentzug, also auch kein Berufsverbot. Zum propagandistischen Mißbrauch des juristischen Terminus „Berufsverbot": BVerfGE 39, 334 (370 f). Zur speziellen Problematik der Verfassungstreue als Zugangskriterium m. Nachw.: R. MUSSGNUG in K. DOEHRING U. a. Verfassungstreue im öffentlichen Dienst europäischer Staaten, 1980, S. 416-465; E. DENNINGER in: W D S t R L 37 (1979) S. 3 2 - 3 5 ; H . H . KLEIN ebda. S. 83 — 89. Rechtsvergleichung in der Extremis t e n f r a g e : DOEHRING u . a . o p . c i t . ; E . W . BÖCKENFÖRDE/C.

TOMUSCHAT/D.

C.

UM-

BACH (Hrsg.) Extremisten und öffentlicher Dienst, 1981.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1166

Streitigkeit einer unzumutbaren Rechtsunsicherheit aussetzen. Eine „Beamten-Konkurrentenklage" ist unzulässig48. Das Gericht hat mit dem Maßstab des Art. 33 II G G nur eine begrenzte Möglichkeit, die Personalentscheidung der Verwaltung zu überprüfen. Es kann eine Entscheidung aufheben, weil sie auf eignungsfremden Kriterien gründet. Aber es kann sie nicht selbst treffen und einem Bewerber als dem bestgeeigneten das Amt zuweisen. Die optimale Personalauslese ist ein Verfassungsideal, das sich nicht zu einem subsumtionsfähigen Rechtssatz verdichtet hat. Denn die Personalentscheidung besteht nicht in einer bloßen Normanwendung. Sie setzt die Würdigung eines komplexen Sachverhaltes an vielfältigen (zum Teil konkretisierungsbedürftigen) Eignungsgesichtspunkten voraus. Sie erfordert eine Prognose im Einzelfall, die sich von der Person und von dem Amt des Beurteilenden nicht völlig ablösen läßt. Die Personalentscheidung ist also trotz der verfassungsrechtlichen Determinanten ein Stück Personalpolitik. Diese kommt im Gewaltenteilungssystem der Exekutive zu. Die Gerichtsbarkeit hat deren Einschätzungsprärogative zu respektieren49. Die richterliche Kontrollkompetenz endet dort, wo die Norm des Art. 33 II G G keine juristisch vollziehbare Aussage bereitstellt. 5. Kompetenz und Verwaltungsverfahren a) Die Personalhoheit des Ressortministers „Personelle Maßnahmen haben häufig weitreichende Folgen und staatspolitische Bedeutung. Die Berufung eines fachlich wenig befähigten Beamten kann die Arbeit eines ganzen Verwaltungszweiges auf Jahre hinaus beeinträchtigen oder lähmen, ganz zu schweigen von den Gefahren, die dem Staatswesen durch die Berufung illoyaler oder ungetreuer Beamter entstehen können. Die Personalhoheit über die Beamten ist darum ein wesentlicher Teil der Regierungsgewalt" 50 . Die Entscheidung über den Zugang zum öffentlichen Dienst liegt deshalb in Bund und Ländern bei dem zuständigen Ressortminister als dem Inhaber der Personalhoheit 51 . (Diese materielle Entscheidungskompetenz ist zu unterscheiden von der formellen Kompetenz zur Ernennung, die im Bereich des Bundesdienstes dem Bundespräsidenten nach Art. 60 G G zukommt.) Der parlamentarisch verantwortliche Minister vermittelt mit seiner Personalentscheidung die demokratische Legitimation. Die Legitimation ginge verloren, wenn die eigentliche Entscheidungskompetenz auf parlamentarisch unverantwortliche Stellen überginge (etwa auf Standesvertretungen der Bediensteten oder den Personalrat) 52 48

Die Zulässigkeit ist streitig. D a z u mit weit. Nachw.:

TIETGEN

(Fn. 33)

S.

342;

messen oder als Beurteilungsspielraum qualifiziert werden.

W.

SCHICK in: DVB1. 1 9 7 5 , 7 4 6 f ; E . - L . SOLTE

50

in: Z B R 1 9 7 2 , S. 1 1 1 - 1 1 4 ; DERS. in: N J W

51

1 9 8 0 , S. 1 0 2 7 ; JUNG ( F n . 3 3 ) S. 172 - 2 0 7 ; E s ist eine müßige, im praktischen Ergebnis belanglose Frage, ob die unvertretbaren Elemente der Verwaltungsentscheidung als E r -

D a z u näher H . LECHELER Die Personalgewalt öffentlicher Dienstherren, 1 9 7 7 , insbes.

ISENSEE ( F n . 3 5 ) S. 3 5 4 - 3 5 6 . 49

Zitat: B V e r f G E 9, 2 6 8 ( 2 8 2 f ) .

S. 1 4 2 - 2 1 3 . 52

Dazu: BVerfGE 9, 268 ( 2 7 8 - 2 9 1 ) sche Personalvertretung.

Bremi-

1167

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

oder wenn sich die Bediensteten allein durch Kooptation ergänzten und dem Minister allenfalls die formelle Ausführung der Kooptationsentscheidung verbliebe 53 . b) Verfahrensrechtliche

Voraussetzungen

Die Wirksamkeit des verfassungsrechtlichen Auswahlprinzips entscheidet sich im Verwaltungsverfahren. Alle materiellen Gleichheits- und Eignungskriterien können durch ein willkürliches oder ein laxes Verfahren unterlaufen werden. Die Verfassung schreibt das Verfahren nicht im einzelnen vor. Aber sie stellt grundsätzliche Anforderungen. U m des einzelnen Bewerbers willen sind rechtliches Gehör, Begründungszwang und andere rechtsstaatliche Garantien eines fairen Verfahrens geboten. Alle Mitbewerber müssen unter den gleichen Bedingungen antreten, damit nicht einer auf Kosten des anderen unzulässig begünstigt wird. Die Allgemeinheit kann nur vor ungeeigneten Bewerbern geschützt werden, wenn die Einstellungsbehörde dem Untersuchungsgrundsatz folgt und alle eignungsrelevanten Umstände, gegebenenfalls unter Inanspruchnahme der Amtshilfe, ermittelt 54 . Sie kann nach allen Tatsachen fragen, die für die Prognose der dienstlichen Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit bedeutsam werden können — allerdings auch nur nach diesen Tatsachen. Zu diesen gehört die Zugehörigkeit zu einer kommunistischen, nationalsozialistischen oder sonst substantiell verfassungsfeindlichen (wenn auch nicht unbedingt formell verbotenen) Organisation — als Indiz für die praktische Haltung zur grundgesetzlichen Ordnung und für die präsumtive Gewähr beamtenrechtlicher Verfassungstreue. — Die rechtsstaatlich gebotene Aufklärung der eignungsrelevanten Tatsachen darf nicht durch lebensfremde Vermutungen, durch ungerechtfertigte Frageverbote und durch überzogenen Datenschutz vereitelt werden. Wer sich um Aufnahme in den öffentlichen Dienst bewirbt, hat die sachdienlichen Auskünfte zu erteilen. Der Gesetzgeber leistete dem Auswahlprinzip des Art. 33 II G G einen Bärendienst, wenn er das Verfahren in alle Einzelheiten hinein reglementierte und einen Schematismus von Ermittlungspflichten wie Ermittlungsverboten, von Beweisregeln und Beweis verboten einführte. Die Behörde bedarf eines Mindestmaßes an Beweglichkeit, wenn sie ihrer verfassungsrechtlichen Verantwortung genügen und sich ein gediegenes Urteil über die Persönlichkeit des Bewerbers bilden soll, ein Urteil, „das zugleich eine Prognose enthält und sich jeweils auf eine von Fall zu Fall wechselnde

53

Aus diesem Grunde steht auch bei der Berufung des Hochschullehrers der eigenverantwortliche Letztentscheid dem Minister zu, obwohl die Hochschulen kraft ihrer Autonomie Vorschlagsrechte besitzen. Dazu BVerfGE 35, 79 (133f, 144, 163f). - Zur verfassungsrechtlichen Problematik der Richterwahl durch Kooptation: E.-W. BÖKENFÖRDE Verfassungsfragen der Richterwahl, 1974, S. 8 0 - 8 6 . - Zum rechtspolitischen Gedanken einer „Selbstverwaltung" der Richterschaft in ihren Personalangele-

54

genheiten: Verh. 40. DJT, Bd. II, 1954, Teil C (vgl. bes. H . P. IPSEN ebda., C 11 ff, 24ff; A. ARNDT ebda C 43ff). Zu den Streitfragen über das Verwaltungsverfahren hinsichtlich der Gewähr der Verfassungstreue, jeweils mit Nachw.: DENNINGER ( F n . 4 7 ) S. 3 2 - 3 5 ; KLEIN ( F n . 4 7 ) S . 8 3 - 9 1 ; M . KRIELE in: N J W 1979, S. 1 - 8 ; K . G . MEYER-TESCHENDORF in: Z B R

S.

261-269;

MUSSGNUG

428-431, 445-457.

(Fn. 47)

1979,

S.

1168

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Vielzahl von Elementen und deren Bewertung gründet" 55 . Die Behörde kommt nicht ohne Regeln und formalisierte Nachweise aus (Prüfungszeugnisse samt Notenskalen, Gesundheitszeugnisse etc.). Aber sie bedarf auch, wenn sie ihrer verfassungsrechtlichen Verantwortung genügen will, der nicht schematisierbaren Würdigung des Einzelfalles, mithin der Menschenkenntnis, der Lebenserfahrung, der Vorsicht, des Augenmaßes", des Takts, der praktischen Verwaltungsvernunft. Die Einstellungsbehörde ist auch deshalb zu besonderer Sorgfalt in der Vorbereitung ihrer Entscheidung verpflichtet, weil sie einen Fehlgriff später kaum noch korrigieren kann. Mit der Ernennung eines Beamten auf Lebenszeit ergibt sich für diesen die verfassungsrechtlich gewährleistete Statussicherheit, die Stabilität des Amtes. Das Disziplinarverfahren bietet dem Dienstherrn nur eine beschränkte Handhabe, um einen unzuverlässigen, und überhaupt keine Handhabe, um einen unfähigen Beamten aus dem Dienst zu entfernen. Der Prüfungsaufwand hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Er kann wachsen oder sinken mit der Bedeutung, der Selbständigkeit, der Kontrollierbarkeit und der Gefahrengeneigtheit des Amtes 56 . Die Abstufung entspricht der Zweckmäßigkeit. Insbesondere ist sie ein Gebot der Verwaltungsökonomie 57 . Dagegen hat sie nichts zu tun mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Ubermaßverbot) 58 . Dieser Grundsatz, der heute Gefahr läuft, im populären Sprachgebrauch seinen rechtlichen Sinn und seine rechtliche Kontur zu verlieren, verbietet Grundrechtseingriffe, die nicht im Blick auf ein legitimes Eingriffsziel geeignet, erforderlich und angemessen sind 59 . Grundrechtseingriffe finden aber in der Regel überhaupt nicht statt, wenn die Einstellungsbehörde ihr Wissen über eignungserhebliche Umstände auswertet und sich im Wege der Amtshilfe zusätzliche relevante Information von anderen staatlichen Stellen beschafft 60 . Die Behörde greift auch nicht schon dadurch in die Grundrechte des Bewerbers ein, daß sie von ihm Auskünfte verlangt, die notwendig sind, um über seine Bewerbung urteilen, also um die Sachentscheidung treffen zu können, die er selbst beantragt und die ihm einen rechtlichen Vorteil bringen soll. Die Ermittlung der eignungsrelevanten Tatsachen dient sogar positiv dem Schutz der Grundrechte. 55 Zitat: B V e r f G E 39, 334 - Urteil über die Gewähr der Verfassungstreue (s. auch ebda. S. 353 f). — Gegen ein Ubermaß an Formalisierung der Personalpolitik: LECHELER (Fn. 51) S. 2 4 1 - 2 4 4 . 56

Nach diesen Kriterien ist erhöhte Sorgfalt nicht nur für den Bereich der polizeilichen und der militärischen Sicherheit („sicherheitsempfindliche Ämter") geboten, sondern erst recht für den der Schule. Der Lehrer übt aus grundrechtlicher Sicht gefahrengeneigte, kaum kontrollierbare pädagogische Gewalt aus, die mehr durch seine Person als durch allgemeine Normen geprägt wird. Auch das A m t des Lehrers ist „sicherheitsempfindlich" — im Blick auf die Sicherheit der Grundrechte von Schülern und Eltern, im

57

58

59

60

Blick auch auf den ethischen Grundkonsens des freiheitlichen Gemeinwesens, der auch in der Schule aufgebaut, zerstört und verändert wird. Der Untersuchungsgrundsatz des § 24 V w V f G beläßt der Verfahrensökonomie Raum. Zu deren Grenzen: KRIELE (Fn. 54) S.5f. Heute wird allerdings zunehmend jede Verfahrensmaßnahme unbesehen als Frage der „Verhältnismäßigkeit" deklariert (so etwa im Beschluß der BReg über die Regelanfrage, Bulletin Nr. 6 v. 19. 1. 1979). Grundlegend dazu: P. LERCHE Ubermaß und Verfassungsrecht, 1961. Z u t r e f f e n d : KRIELE ( F n . 5 4 ) S . 6 ; TESCHENDORF ( F n . 5 4 ) S . 2 6 8 f .

MEYER-

1169

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

Es geht um die Grundrechte der Bürger, die mit dem zu besetzenden Staatsamt künftig zu tun haben werden. Die Eignungsprüfung eines Lehramtskandidaten ist (auch) ein präventiver Schutz für die Grundrechte der Schüler und der Eltern. Daher gerät die Prüfung der Gewähr dienstlicher Zuverlässigkeit und Verfassungstreue nicht notwendig in Widerstreit mit dem grundrechtlichen Gebot der Toleranz 6 1 . Denn die Eignungsauslese soll Amtswalter hervorbringen, welche die Staatspflicht zur Toleranz gegen jedermann üben, aber nicht solche, die mangels Eignung für ihre Amtsführung die Toleranz der Bürger strapazieren. 6. Rechtliche Eignungsauslese oder politische Wahl — die dienstrechtliche Gewaltenteilung in der Demokratie Die Alternative zur rechtlich gebundenen Eignungsauslese ist die politische Wahl. Diese öffnet den Zugang zu den Ämtern in Parlament und Regierung sowie zu den Organen der Selbstverwaltung. Für die politischen Wahlämter gilt nicht Art. 33 II G G , sondern das passive Wahlrecht, das rein egalitär ist und keine rechtlichen Differenzierungsgebote kennt. Die Freiheit der Wahl verträgt keine vorgegebenen Entscheidungsmaßstäbe. Die Wahl ist kein mögliches Verfahren der Rechtsanwendung. Volkswahl oder Parlamentswahl sind daher unvereinbar mit dem Eignungsprinzip des Art. 33 II G G . Sie kommen für den öffentlichen Dienst nicht in Betracht 62 . Auf der anderen Seite kann die Eignungsdifferenzierung des öffentlichen Dienstes nicht auf die Führungsämter der Demokratie angewendet werden. Diese Ämter verlangen politische, nicht aber eignungsrationale, fachspezialisierte Qualitäten; die politische Eignung läßt sich nicht wie die fachliche gesetzlich definieren. Die politischen Ämter der Demokratie legitimieren sich nicht aus dem Leistungsprinzip, sondern aus dem politischen Vertrauen des Volkes. Die Wahl ist die souveräne Bekundung dieses Vertrauens. Sie gibt ein Mandat nur auf Zeit und vielfach auch nur auf Abruf. Der öffentliche Dienst dagegen ist dem politischen Prozeß entrückt. Er steht auf einem rechtlichen Fundament, das dauerhafte berufliche Sicherheit um den Preis fachlicher Leistung und Loyalität gewährleistet. Parteipolitische Gesichtspunkte sind von Verfassungs wegen aus der Leistungsauslese verbannt, während sie legitim den Ausschlag bei der politischen Wahl geben. Das vertrauenslegitimierte Amt der politischen Führung und das leistungslegitimierte Amt des öffentlichen Dienstes haben jeweils ihre eigene verfassungsrechtliche Grundlage und ihre eigene innere Konsequenz. Die beiden Formen des Amtes lassen sich grundsätzlich nicht vermischen und kombinieren. Der Ausnahmetatbestand des „politischen Beamten" bestätigt die Regel der Formen-Inkompatibilität. Beide 61

Nach G . DÜRIG haben die Bürger gleichsam ein Grundrecht auf öffentliche Bedienstete, die in ihrem dienstlichen Verhalten die Grundrechte wahren, und auf eine entsprechende Personalauslese (in: MAUNZ/DÜRIG (Fn. 35) Art. 3, Abs. III/Rdn. 12). - Dagegen wendet DENNINGER die Maximen der Toleranz und der „Freiheit von Angst" ein-

62

seitig an zugunsten des Bewerbers um ein Amt (Fn. 47) S. 42f. Zur speziellen verfassungsrechtlichen Problematik der Volkswahl des Landrats in Bayern: B a y V G H E 12, 91 ( 1 0 1 - 1 1 1 ) ; zur Richterwahl durch einen Ausschuß nach Art. 98 I V G G : BÖCKENFÖRDE ( F n . 5 3 ) b e s . S. 61 ff.

1170

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Ämtertypen haben ihren gesonderten Platz in der demokratischen Staatsorganisation. Die Ämter-Alternative schafft eine dienstrechtliche Gewaltenteilung. Die duale Trennung von politischen Führungsämtern und fachbezogenen Vollzugsämtern überlagert die klassische Dreiteilung der Staatsgewalten63. Die dienstrechtliche Grenze läuft durch die Exekutive hindurch; sie scheidet Regierung von Verwaltung. Dagegen verknüpft das duale System Regierung mit Gesetzgebung, Verwaltung mit Rechtsprechung.

IV. Die grundgesetzliche Garantie des Berufsbeamtentums Das Grundgesetz gewährleistet Bestand und Form des Berufsbeamtentums als „öffentlich-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis". Die institutionelle Garantie hat zwei Seiten: — den Vorbehalt eines bestimmten Wirkungskreises für die Beamten (Funktionsvorbehalt des Art. 33 IV GG) und — die Gewährleistung der hergebrachten Gestalt des Berufsbeamtentums (Strukturgarantie des Art. 33 V GG). 1. Der Funktionsvorbehalt (Art. 33 IV G G ) a) Die Schutznorm zugunsten des

Berufsbeamtentums

Das Grundgesetz behält die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes vor, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen (Art. 33 IV GG). Damit trifft die Verfassung die Grundsatzentscheidung für den Berufsbeamten und gegen den Arbeitnehmer (aber auch gegen den beliehenen Privatunternehmer) als Träger hoheitlicher Staatsfunktionen 64 . Der Bonner Verfassunggeber wollte eine Barriere errichten gegen die Abschaffung des Berufsbeamtentums, wie sie in der Sowjetzone vollzogen worden war 65 . Er ging davon aus, daß der hauptberuflich tätige Beamte am besten die Gesetzmäßigkeit und parteipolitische Unabhängigkeit der Verwaltung sichern könne. Er besitze dazu die beruflich begründete innere Sicherheit und Unabhängigkeit. Die Neutralität des Beamten gegenüber den widerstreitenden Interessen sei — ebenso wie die Unabhängigkeit des Richters — eine Garantie des Rechtsstaats 66 . In der Tat bietet der Beamtenstatus die besondere Gewähr der Rechtmäßigkeit, Zu-

63

64

Zu dieser Unterscheidung: MAX WEBER Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: J . WINCKELMANN (Hrsg.) Gesammelte politische Schriften 3. Aufl., 1971, S. 334f, 3 5 1 - 3 6 9 und passim; DERS. Wirtschaft und Gesellschaft (Studienausg.) 2 H b d . , 1964, S. 1 0 4 7 - 1 0 6 2 ; H . HELLER Staatslehre, 3. Aufl. 1963, S. 205. Ein öffentlich-rechtliches Dienstund Treueverhältnis ist auch das Dienstverhältnis

des Richters und des Soldaten. Für die Zulässigkeit sonstiger öffentlich-rechtlicher Dienstverhältnisse BVerfGE 49, 137 ( 1 4 1 - 1 4 4 ) . D a z u auch P. LERCHE Verbeam-

65

tung als Verfassungsauftrag?, 1973, S. 12-20. Darüber bestand Konsens zwischen den Vertretern der C D U , SPD und F D P in den Verfassungsberatungen. Nachw.: J ö R N . F. 1 (1951) S. 314f.

2 . Abschnitt, ö f f e n t l i c h e r Dienst (ISENSEE)

1171

verlässigkeit und Stetigkeit des Dienstes. Eine wichtige Grundlage der Stetigkeitsgewähr ist das beamtenrechtliche Streikverbot 67 . Das Beamtenrecht ist auf die spezifischen Erfordernisse des Staates zugeschnitten, im Unterschied zum Arbeitsrecht, das sich auf dem Boden der Privatwirtschaft entwickelt hat und seinen Gegebenheiten verhaftet bleibt. Der Staat ist von Verfassungs wegen verpflichtet, grundsätzlich alle Bediensteten des Hoheitsbereichs zu verbeamten. Diesem objektiven Verfassungsauftrag korrespondiert allerdings nach herrschender Meinung kein subjektives Recht des einzelnen Arbeitnehmers, der in der Hoheitsverwaltung beschäftigt ist, auf Übernahme in das Beamtenverhältnis 68 . Im übrigen bildet der Verfassungsauftrag zur Verbeamtung nur eine Regel, die Ausnahmen duldet. Dem Staat verbleibt ein (freilich enger) personalpolitischer Entscheidungsspielraum. Er kann ausnahmsweise auch einen Arbeitnehmer mit Hoheitsaufgaben betrauen (bzw. einen beliehenen Unternehmer einsetzen). Aber die Ausnahme bedarf der besonderen Rechtfertigung, und eine Durchbrechung der Regel muß Ausnahme bleiben 69 . Es wäre nicht mehr rechtfertigungsfähig und damit verfassungswidrig, wenn das Tarifpersonal im Hoheitsbereich die Beamten an Zahl und Bedeutung überträfe und das dienstrechtliche Bild bestimmte. Der Sinn des Art. 33 IV GG ist der Schutz des Beamtentums. Daher wird dem Beamten ein Mindestmaß an Wirkungsmöglichkeiten gewährleistet. Aber er wird nicht auf dieses Maß beschränkt. Das Grundgesetz läßt seine Tätigkeit im außerhoheitlichen Raum zu. Es enthält nur einen Funktionsvorbehalt, nicht auch eine Funktionssperre 70 .

b) Der Vorbehaltsbereich der hoheitsrechtlichen

Befugnisse

Der Funktionsvorbehalt hat bisher nur geringe praktische Bedeutung erlangt, weil sich kein Interpretationskonsens über den Umfang des Vorbehaltsbereichs entwickelt hat und der Grenzverlauf zwischen dem hoheitlichen und dem nichthoheitlichen Sektor der Staatstätigkeit streitig ist 71 . Konsens besteht nur über Teilgebiete, die eindeutig dem einen oder dem anderen Sektor zuzuordnen sind. 66

67

68

69

S o d i e B e g r ü n d u n g d e r A b g . STRAUSS u n d

REIF - N a c h w . : J ö R 1, S. 3 1 5 . Ähnlich auch später B V e r f G E 9, 2 6 8 (282): „ D e n n die Zuverlässigkeit und Unparteilichkeit des ö f fentlichen Dienstes hängt nach wie v o r in erster Linie v o n den Berufsbeamten ab". Dazu mit N a c h w . : ISENSEE Beamtenstreik, 1970, S. 8 3 - 1 0 7 .

70

S o die h. M . etwa: MAUNZ (Fn. 35) A r t . 33/ R d n . 4 1 ; W . THIEME D e r A u f g a b e n b e r e i c h

des Angestellten im öffentlichen D i e n s t . . ., 1 9 6 3 , S. 3 2 . A . A . W . O T T O in: Z B R 71

1956,

S. 236. Z u r umstrittenen Auslegung des Vorbehaltsbereichs der hoheitsrechtlichen Befugnisse (jeweils mit weit. N a c h w . ) : OTTO (Fn. 70) S.

V g l . H . J . W O L F F / O . BACHOF V e r w a l t u n g s -

2 3 3 — 2 4 4 ; J . JUNG D i e Z w e i s p u r i g k e i t

recht II, 4. A u f l . 1976, § 1 0 7 II b 1. Die h . M . bedarf freilich der kritischen U b e r p r ü fung.

öffentlichen Dienstes,

Dazu B V e r f G E 9 , 2 6 8 ( 2 8 4 ) : P . LERCHE ( F n . 6 4 ) S . 4 9 - 5 3 ( N a c h w . ) ; F. OSSENBÜHL

Eigensicherung und hoheitliche Gefahrenabw e h r , 1981, S. 3 6 - 4 3 .

1970,

S.

des

106-192;

ISENSEE ( F n . 6 7 ) S . 8 4 - 9 6 ; W . LEISNER D e r

Beamte als Leistungsträger, in: LEISNER (Hrsg.) Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975, S. 1 2 1 - 1 4 5 ; LERCHE (Fn. 6 4 )

S.

20-35;

C.

H.

ULE

FORSTHOFF u . a. ( F n . 1 1 ) S . 4 4 9 — 4 6 0 .

in:

1172

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

aa) Der Funktionsvorbehalt bezieht sich ausdrücklich nur auf die „ständige" Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen. Ein vorübergehender Arbeitsbedarf der Verwaltung erfordert also nicht die Einstellung von Lebenszeitbeamten 72 . Die „hoheitsrechtliche" Qualität fehlt den einfachen Hilfstätigkeiten, denen die eigene Entscheidungsverantwortung abgeht: den Diensten der Schreibkraft, des Fahrers, des Hausmeisters etc. 73 . Auch die Fiskalverwaltung liegt außerhalb des Vorbehalts. Wo die Verwaltung nach kaufmännischen Grundsätzen arbeitet und sich in Ziel und Verfahren der Privatwirtschaft anpaßt, ist der Beamte fehl am Platz 74 . bb) Auf der anderen Seite gehört nach allgemeiner Auffassung das obrigkeitliche Handeln zum Vorbehaltsbereich 75 . „Obrigkeitlich" ist die Befehls- und Zwangsgewalt, die dem Staat als Element seiner Souveränität eigen ist. Die typische Erscheinung des obrigkeitlichen Imperiums ist der Eingriff des Staates in den Rechtskreis des Bürgers. Zu dem „beamtenfesten" Kern von Staatsfunktionen gehören somit Polizei und Ordnungsverwaltung, Finanzwesen und Landesverteidigung, desgleichen die Ministerialverwaltung (wegen ihres behördeninternen Weisungsrechts und wegen ihrer Nähe zur politischen Regierungsfunktion). Es ist nicht erforderlich, daß eine hoheitliche Maßnahme dem Bürger gegenüber unmittelbar sichtbar wird. Hoheitlich handelt nicht nur der Unterschriftsbeamte, sondern auch jener, der behördeninterne Vorbereitungsarbeit leistet. cc) Zwischen den beiden Extrembereichen von Staatstätigkeiten, die sich dem Funktionsvorbehalt eindeutig entziehen oder die eindeutig von ihm erfaßt werden, liegt die umstrittene Materie der staatlichen Daseinsvorsorge. Der Auslegungsstreit bewegt sich um die Frage, ob „hoheitsrechtlich" nur der (obrigkeitliche) Eingriff oder auch die Leistung des Staates sei. Die verschiedenen Auffassungen lassen sich im wesentlichen auf drei Grundpositionen zurückführen: Der Vorbehaltsbereich umfasse 1. allein den obrigkeitlichen Eingriff 76 , 2. auch die Leistungen des Staates, die in der Form des öffentlichen Rechts („schlicht-hoheitlich") erbracht werden, nicht aber die „verwaltungsprivatrechtlichen" Leistungen 77 , 3. alle Staatstätigkeiten, die öffentlichen Aufgaben gewidmet sind, ohne Rücksicht auf die Rechtsform 78 . 72

73

74

Ernährungsämter und Wirtschaftsämter dienten bei der Beratung des Grundgesetzes als Beispiele für Staatsauf gaben, die keine Daueraufgaben waren und nicht den Einsatz von Beamten notwendig machen sollten (Nachw. in: JöR 1, S. 315). Dazu mit Nachw.: OTTO (Fn. 70) S. 236;

tums. Näher: J. ISENSEE in: D Ö V 1970, S. 3 9 9 - 4 0 2 , 404F. 75

So mit weit. Nachw.: Otto (Fn. 70) S. 2 3 8 - 2 4 4 ; ISENSEE (Fn. 67) S. 85f; ULE (Fn. 71) S. 459f; LEISNER (Fn. 71) S. 122, 134 f.

76

S o e t w a JUNG ( F n . 7 1 ) S . 1 3 0 - 1 9 2 ; W . THIE-

LEISNER ( F n . 7 1 ) S . 1 3 3 f .

ME i n : FORSTHOFF U. a. ( F n . 1 1 ) S . 3 4 8 - 3 5 4 ;

Wenn der Staat privatwirtschaftlich handelt, muß er sich auch des privatwirtschaftskonformen Arbeitsrechts bedienen. Der Fiskalbeamte widerspricht dem Sinn und der hergebrachten Struktur des Berufsbeamten-

ISENSEE ( F n . 6 7 ) S . 8 4 - 9 6 . 77

78

So die „mittlere" Lösung LERCHES (Fn. 64) S. 2 0 - 3 5 . So LEISNER (Fn. 70) S. 1 2 1 - 1 4 5 .

1173

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

Das verfassungsrechtliche Auslegungsproblem erledigt sich nicht dadurch, daß der Gesetzgeber die Berufung in das Beamtenverhältnis nicht nur für hoheitsrechtliche Aufgaben zuläßt, sondern auch für solche Aufgaben, die aus Gründen der Sicherung des Staates oder des öffentlichen Lebens nicht ausschließlich Personen übertragen werden dürfen, die in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis stehen ( § 4 B B G , § 2 II B R R G ) . Als typische Sicherungsaufgaben gelten Bahn und Post, als typische Sicherungsmittel, die das Beamtenrecht bereitstellt, Streikverbot, Dienstgeheimnis und Disziplinargewalt 79 . Der Gesetzgeber kann die Verfassungsnormen, denen er unterworfen ist, nicht authentisch auslegen. Daher bleibt die Möglichkeit bestehen, daß die Sicherungsaufgaben im Sinne der Beamtengesetze durch die hoheitsrechtlichen Befugnisse im Sinne des Grundgesetzes ganz oder teilweise abgedeckt werden 80 . Die hoheitsrechtliche Eigenschaft ist nicht allein eine Frage der Rechtsform, und zwar deshalb nicht, weil die jeweilige Rechtsform der Leistungsverwaltung mehr historischen Zufälligkeiten folgt als einem rationalen Prinzip. Überdies könnte der Staat sonst kraft des Wahlrechts, das er über die hoheitliche oder privatrechtliche Form der Daseinsvorsorge beansprucht, auch über die Anwendbarkeit des Funktionsvorbehalts entscheiden 81 . Maßgeblich ist vielmehr die Substanz der Staatsfunktion. Aus ihrer Eigenart rechtfertigt sich die Eigenart des Beamtenstatus. Das staatsspezifische Dienstrecht des Beamten folgt den Erfordernissen der staatsspezifischen Tätigkeit. Ausschließlich dem Staat vorbehalten ist die obrigkeitliche Gewalt; sie dient als Mittel zur Erfüllung staatlicher Aufgaben. Aber die besondere Qualität des Staatlichen kann auch eine Staatsfunktion, die sich nicht auf hoheitliche Eingriffsmacht stützt, erlangen: auf Grund ihres Inhalts, ihres Zweckes, ihrer Legitimation 82 . Das gilt sogar für Leistungen, die nicht notwendig dem Staat obliegen, die zumindest partiell auch Private erbringen können, wie Verkehr, Energieversorgung, soziale Sicherheit, Erziehung, Ausbildung, wissenschaftliche Forschung. Wenn der Kultur- und Sozialstaat Aufgaben an sich zieht und gesellschaftliche Kräfte zurückdrängt, so bedarf er dazu der besonderen Legitimation. Sie kann darin liegen, daß gemeinwohlwichtige Aufgaben nicht den Zufälligkeiten und Unsicherheiten des gesellschaftlichen Lebens überlassen bleiben dürfen und daß die Verstaatlichung die Gewähr der Gesetzmäßigkeit und Stetigkeit bietet. Der Staat widerspräche sich selbst, wenn er derartige Aufgaben dem Tarifpersonal zuwiese und damit der Streikgefahr aussetzte, wie sie in der Privatwirtschaft besteht. — Der Umstand, daß der Staat, und nicht ein Privater, eine Leistung erbringt, kann auch den Inhalt der Leistung spezifisch prägen. So unterscheidet sich die Staatsschule wesentlich von der Pri79

Vgl. O T T O ( F n . 70) S. 241 f; C . H . U L E B e -

81

amtenrecht, 1970, § 2 B R R G / R d n . 6; U . BATTIS B B G , 80

1 9 8 0 , § 4 / 3 ; ISENSEE ( F n . 6 7 )

S. 9 7 - 1 0 1 . So fallen für OTTO die Sicherungsaufgaben unter den Vorbehalt des Art. 33 IV G G (Fn. 70) S. 241 f.

82

Für das Kriterium der Handlungsform: RUDOLF (Fn. 1) S. 202f. Kritisch dazu: J . BURMEISTER ebda. S. 203; F. OSSENBÜHL ebda., S. 305f; A. VON MUTIUS ebda. S. 308. Die Gleichsetzung hoheitsrechtlich = obrigkeitlich (Nachw. s. oben Fn. 76) erweist sich daher als zu eng.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1174

vatschule dadurch, daß sie nicht von einer Gruppe der pluralistischen Gesellschaft getragen wird, sondern von der staatlichen Allgemeinheit; daß Erziehung und Unterricht nicht privaten Tendenzen folgen, sondern den staatlichen Zielen der Integration und Konsensbildung; daß die Lehrtätigkeit nicht private Grundrechtsausübung des Lehrers ist, sondern grundrechtsgebundene Staatskompetenz. Die Aufgabe des Lehrers verlangt den Beamtenstatus, der Amtsethos, Rechtsbindung und dienstliche Zuverlässigkeit, einschließlich der Verfassungstreue, in besonderem Maße sicherstellt. Im übrigen ist die Leistung des Lehrers untrennbar an obrigkeitliche Voraussetzungen gebunden (Schulpflicht, Schulordnung und Prüfung) — und schon deshalb hoheitsrechtlich im engsten Verständnis des Art. 33 IV GG 83 . Der Zusammenhang der obrigkeitsrechtlichen und der „schlichten" Staatsfunktion besteht auch in der Sozialversicherung: die sozialen Leistungen sind verknüpft mit Versicherungspflicht und Abgabengewalt 84 . Doch auch ohne einen solchen Konnex darf die Leistungsgewalt des Kultur- und Sozialstaats nicht unter ein minder anspruchsvolles dienstrechtliches Gesetz gestellt werden als die Abgabengewalt, die wesentlich um der Leistungsgewalt willen ausgeübt wird. Es ist im übrigen ein allgemeines Gebot der dienstrechtlichen Konsequenz, daß der Staat, der einer kleinen Gruppe von Bediensteten gemeinwohlwichtige Funktionen überträgt, auch sicherstellt, daß diese Funktionselite ihre Macht allein im Allgemeininteresse ausübt. Die Leistungsverwaltung wird daher vom Funktionsvorbehalt erfaßt. Das gilt nach der heute herrschenden Auslegung zumindest dann, wenn die Verwaltung sich in der Form des öffentlichen Rechts bewegt 85 . Die Auslegung neigt dazu, den Begriff „hoheitsrechtlich" dynamisch zu verstehen und den Gegebenheiten des Kultur- und Sozialstaats anzupassen.

c) Rechtspolitische

Folgerungen

aa) Die Entwicklung des öffentlichen Dienstes ist weithin am Grundgesetz vorbei gelaufen. Die Aufteilung der Dienstposten zwischen Beamten und Vertragsbediensteten — die „Zweispurigkeit" des öffentlichen Dienstes — ist in ihrer gegenwärtigen

83

Bei den Verfassungsberatungen wurde das Lehreramt dem Beamtenvorbehalt zugerechnet, unter Hinweis auf die Staatlichkeit der Schule und auf die Schulpflicht (so VON MANGOLDT Nachw. in: J ö R 1, S. 320). Grundlegend: W . LEISNER in: ZBR 1980, S. 361 —372. — Zum Hochschullehrer: B V e r w G E 49, 137 (141).

84

Zu den „hoheitsrechtlichen" Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit: W . LOSCHELDER i n : Z B R 1 9 7 7 , S. 2 6 5 - 2 7 2 .

85

Die Beschränkung des Funktionsvorbehalts auf die öffentlich-rechtliche Tätigkeit und die Ausklammerung der verwaltungs-privatrechtlichen Leistung (so etwa LERCHE (Fn. 6 4 ) S. 2 0 - 3 5 ; RUDOLF (Fn. 1) S. 2 0 0 - 2 0 5 )

bleibt, verfassungsrechtlich gesehen, auf halbem Wege stehen und ist dogmatisch inkonsequent. Für diese „halbe" Lösung sprechen jedoch pragmatische Argumente: daß in weiten Kreisen des Tarifpersonals nicht die Bereitschaft vorausgesetzt werden kann, die besonderen Pflichten des Beamten zu übernehmen; daß eine umfassende Ausdehnung des Beamtenstatus ohne Rücksicht auf die Beamtenreife der Betroffenen leicht zur inneren Auflösung des Beamtentums führen kann. Dazu: A . KÖTTGEN Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie,

aaO S. 4 2 .

1928,

S.

148-152;

LERCHE

1175

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

Form in vielen Bereichen willkürlich, unvereinbar mit dem Funktionsvorbehalt des Art. 33 IV G G 8 6 . Das Tarifpersonal hat sich in der Hoheitsverwaltung hypertrophisch ausgedehnt. So kommt in der Zivilverwaltung der Bundeswehr auf fünf Arbeitnehmer ein Beamter 8 7 , obwohl die Landesverteidigung eine typische Hoheitsaufgabe bildet und sogar die einfachen technischen Dienste dieses Bereichs zumeist sicherheitsempfindlich sind 88 . Unter den gegebenen Verhältnissen beginnt die Reform des öffentlichen Dienstes damit, daß der regelwidrige status quo abgebaut und die verfassungsrechtliche Regel in die Praxis umgesetzt wird. Das bedeutet, daß künftig jeder freie Dienstposten, der zu einem hoheitsrechtlichen Zweig der Verwaltung gehört, einem Beamten übertragen wird, es sei denn, daß besondere Gründe des Einzelfalls die Zuweisung an einen Arbeitnehmer rechtfertigen. Überdies ergibt sich aus dem Verfassungsauftrag des Art. 33 IV G G die Pflicht des Dienstherrn, den Arbeitnehmern, die regelwidrig hoheitsrechtliche Befugnisse wahrnehmen, die Übernahme in das Beamtenverhältnis anzubieten 89 . bb) Ein Reformgesetzgeber, der die Zweispurigkeit des öffentlichen Dienstes überwinden und einen einheitlichen Status einführen will, hat unter der Geltung des Art. 33 IV G G keine andere Wahl als den Status des öffentlich-rechtlichen Dienstund Treueverhältnisses. Das Grundgesetz enthält keine Statusgarantie des Vertragsbediensteten, die ein Gegengewicht zu Art. 33 IV G G abgeben könnte. Die Ablösung des Arbeitnehmers durch den Beamten stößt daher in der Regel nicht auf verfassungsrechtliche Bedenken. Ausgenommen sind freilich Randfunktionen der Verwaltung, die dem hergebrachten Status des Beamten, wie er von Art. 33 IV G G festgeschrieben wird, wesensfremd sind: die kurzfristigen Verwaltungsaufgaben und die erwerbswirtschaftliche Fiskaltätigkeit, die den Kaufmann und nicht den Beamten fordert, sowie die einfache, mechanische Arbeit, falls diese nicht (wie die technischen, handwerklichen Dienste im Rahmen der Versorgungsbetriebe) unmittelbar notwendig für die Funktion der Verwaltung ist und den besonderen Anforderungen des Staatsdienstes (einseitige Verfügbarkeit, Sicherheitserfordernisse usw.) unterliegt. Staatsfunktionen aber, die sich den besonderen Gemeinwohlgarantien des Beamtenstatus entziehen, 86

87

Am 30. 6. 1979 waren 3 1 % aller Angehörigen des öffentlichen Dienstes Beamte oder Richter und 69% Arbeitnehmer. Von den Vollbeschäftigten waren 1,71 Mio. Beamte oder Richter, 1,28 Mio. Angestellte und 0,82 Mio. Arbeiter. Unter den Teilzeitbeschäftigten waren 44 Tsd. Beamte oder Richter, 282 Tsd. Angestellte und 265 Tsd. Arbeiter. Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die B R D , 1980, S. 415. Zur Entwicklung der Zweispurigkeit und ihren Ursachen: JUNG (Fn. 71) S. 3 2 - 9 0 ; Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstes, 1973, S. 1 6 - 9 3 . Am 30. 6. 1979 waren im Verteidigungsbereich vollbeschäftigt: 27569 Beamte, 56712

88

89

Angestellte, 89697 Arbeiter. Quelle: Statistisches Jahrbuch 1980 (Fn. 86) S. 416. Dazu näher: Der Bundesminister der Verteidigung, Weißbuch 1979, Zur Sicherheit der B R D und zur Entwicklung der Bundeswehr, 1979, S. 242 f. Auch die einfachen technischen Dienste, die von der h . M . nicht als hoheitsrechtlich im Sinne des Art. 33 IV G G betrachtet werden, können Sicherungsaufgaben im Sinne des § 4 / 2 B B G und § 2 II B R R G sein. Nach h . M . gibt aber Art. 33 IV G G dem einzelnen Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Verbeamtung (Fn. 68).

1176

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

lösen die Frage aus, ob sie nicht reif sind zur Privatisierung. Ansonsten jedoch hält sich das Grundgesetz eine Dienstrechtsreform offen, die ein einheitliches Dienstrecht im beamtenrechtlichen Rahmen anstrebt 90 . 2. Die Strukturgarantie (Art. 33 V GG) a) Kernbestand von Strukturprinzipien Während der Funktionsvorbehalt des Art. 33 IV G G den Tätigkeitsbereich des Beamten gewährleistet, bezieht sich die Strukturgarantie des Art. 33 V G G auf den Charakter des Dienstverhältnisses: „Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln". Mit dieser Vorschrift konkretisiert das Grundgesetz das „öffentlich-rechtliche Dienst- und Treueverhältnis" des Beamten. Es weist diese Materie dem Gesetzgeber als Gestaltungsaufgabe zu. Es trifft überdies verfassungsrechtliche Vorgaben für die rechtspolitische Gestaltung. Der Sinn der Strukturgarantie ist es, im politischen und im rechtlichen Wandel die Identität des deutschen Berufsbeamtentums sicherzustellen. Deshalb schreibt die Verfassung den „Kernbestand von Strukturprinzipien" 91 fest. Sie macht sich damit nicht pauschal alle beamtenrechtlichen Normen zu eigen, die bei Inkrafttreten des Grundgesetzes gegolten haben, sondern nur die Regelungssubstanz, welche die Kontinuität des Beamtenstatus ausmacht. Zu Verfassungsrang werden die Regelungen erhoben, „die das Bild des Berufsbeamtentums in seiner überkommenen Gestalt maßgeblich prägen" 92 . b) Tradition und Evolution Nur die „hergebrachten" Grundsätze werden gewährleistet. Dazu gehören allein die Strukturprinzipien, „die allgemein oder doch ganz überwiegend und während eines längeren, Tradition bildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar, als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind" 9 3 . Die ausdrückliche Anknüpfung an die Tradition weckt leicht das Mißverständnis, hier liege eine Besonderheit der Beamtenrechtsgarantie vor, die Strukturgarantie sei rein rückwärtsgewandt und blockiere die Rechtsentwicklung. Doch alle Verfassungsnormen enthalten Traditionselemente. Vor allem die Einrichtungsgarantien

90

Der beamtenrechtsgemäße Status, den die Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstes mehrheitlich als Einheitslösung vorschlägt — „Gesetz-Modell" (Bericht, Fn. 86) — ist im Prinzip mit dem Grundgesetz vereinbar. Bedenken ergeben sich allerdings deshalb, weil dieser Plan nicht Ausnahmen vorsieht für Funktionen, die sich nicht zur Verbeamtung eignen (Fiskaltätigkeit, mechanische Hilfsarbeit). Der im wesentlichen arbeitsrechts-konforme Einheitsstatus, den die Minderheit der Kommission vorschlägt („Gesetz-Tarif-Modell"),

91 92

93

widerspricht dem geltenden Verfassungsrecht, vor allem Art. 33 IV, V G G . E r könnte ohne Verfassungsänderung nicht realisiert werden. Die Minderheit räumt dies auch ein (Bericht, S. 372). Es besteht insoweit juristischer Konsens in der Kommission, daß ein Einheitsdienstrecht auf arbeitsrechtlicher Basis derzeit verfassungswidrig wäre. Zitat: BVerfGE 8, 332 (343). Zitat: Sondervotum WAND/NIEBLER in: BVerfGE 43, 177 (185) - im Anschluß an die Kommentarliteratur. Zitat: BVerfGE 8, 332 (343).

1177

2 . Abschnitt, ö f f e n t l i c h e r Dienst (ISENSEE)

schreiben vorkonstitutionelle Regelungssubstanz fest. So bezieht sich der Schutz der kommunalen Selbstverwaltung, der Ehe oder der Koalitionsfreiheit auf Rechtsphänomene, die der Verfassunggeber bereits vorgefunden hat und die er als Traditionsgut in die neue Ordnung einbringt. Die Tradition, die in die Garantie des Art. 33 V G G einfließt, bewirkt nicht die Fossilierung des vorgrundgesetzlichen Rechtszustandes, sondern seine zeitgemäße, strukturgerechte Evolution. Das Kriterium des „Hergebrachten" begrenzt die Reichweite der Verfassungsgarantie und damit der Bindung des Gesetzgebers. Die Tradition, die von Verfassungs wegen Beachtung erheischt, muß bereits bei Inkrafttreten des Grundgesetzes bestanden haben. Seit diesem Zeitpunkt wächst der Regelungsgehalt des Art. 33 V G G nicht mehr 94 . Grundsätze, die sich unter dem Grundgesetz ausgebildet haben wie der Rechtsanspruch des Beamten auf Beihilfe, gelten nicht als „hergebracht" 9 5 . Der Gesetzgeber, der derartige junge Regelungen teilweise oder gänzlich zurücknimmt, trifft nicht auf Widerstand aus der Strukturgarantie. Er hat nur die nicht-beamtenspezifischen, relativ elastischen Maximen einzuhalten, über die das Verfassungsrecht die Rechtsänderungen begrenzt: die Direktiven der Systemgerechtigkeit, der Konsequenz und des Vertrauensschutzes. Die Entwicklung des deutschen Beamtentums weist Kontinuität auf, die einen bemerkenswerten Kontrast bildet zu der Diskontinuität der Verfassungen und der Regierungsformen. Gleichwohl ist die Weimarer Verfassungsepoche (1919—1933) der eigentlich traditionslegitimierende Abschnitt in der Geschichte des Beamtentums. „Hergebracht" ist nur der Grundsatz, der zumindest unter der Herrschaft der Weimarer Reichsverfassung effektiv gegolten hat 9 6 . Dabei kommt es auf die Verfassungswirklichkeit an, die sich in der Gesetzgebung spiegelt 97 . D e r Traditionsnachweis läßt sich für das Streikverbot,

die markanteste Besonderheit

des

Beamtenstatus, führen. I m Zeitalter der konstitutionellen M o n a r c h i e bildete das V e r b o t eine rechtliche Selbstverständlichkeit. N a c h der Revolution von 1918 trat eine gewisse Rechtsunsicherheit ein. N u n m e h r erhielten die Beamten die Koalitionsfreiheit. E s kamen politische und juristische Bestre-

94

Vgl. B V e r f G E 2 5 , 1 4 2 ( 1 4 8 ) -

kein tradi-

D Ö V 1 9 8 1 , S. 6 7 0 ; B V e r w G E 6 0 , 2 1 2 ( 2 1 7 ) .

tionsbegründetes R e c h t auf Wiederaufleben

— F ü r die Qualität der Beihilfe als herge-

des Witwengeldes. — Dagegen kritisiert F .

brachter G r u n d s a t z : B G H , U . v. 8. 5. 1 9 5 8 ,

MAYER, daß auf das J a h r 1 9 3 3 als N o r m a l -

in: Z B R

jahr abgestellt w i r d ; er hält die Entstehung

602;

hergebrachter G r u n d s ä t z e auch nach

schen

1949

für möglich (in: FORSTHOFF u . a . ( F n . 11) S. 602). 95

W.

1958,

S. 2 4 6 ; MAYER ( F n . 9 4 )

LEISNER Beamtensicherung

Beihilfe

und

S.

zwi-

Krankenversicherung,

1 9 7 8 , S. 5 3 - 5 7 ( N a c h w . ) . 96

Beamtenrechtliche Regelungen, die der G e -

Vgl. B V e r f G E 8, 3 3 2 ( 3 4 3 ) ; 15, 1 6 7 ( 1 9 6 ) . Dagegen ist in E 3 8 , 1 ( 1 1 ) die R e d e v o n

setzgeber ändern kann, weil sie nicht den

„ d e n für die Ausbildung eines hergebrachten

Schutz des A r t . 3 3 V G G genießen, sind

Grundsatzes entscheidenden 6 0 J a h r e n v o r

nach B V e r f G E 4 4 , 2 4 9 ( 2 6 3 ) : das 1 3 . M o -

1933". -

natsgehalt,

pauschal die Beamtenartikel der W e i m a r e r

Leistungszulagen,

Urlaubsgeld,

Das G r u n d g e s e t z m a c h t sich nicht

Vergütungen für Ü b e r s t u n d e n , Arbeitszeit-

Reichsverfassung zu eigen; A r t . 3 3 V

GG

verkürzungen, Zuschüsse zu Essenskosten,

bietet nicht wie A r t .

den

129 I 3 W R V

Beihilfen, Gestattung v o n Nebentätigkeiten.

Schutz der „ w o h l e r w o r b e n e n R e c h t e " des

Gegen die A n e r k e n n u n g des (nachgrundge-

B e a m t e n ( B V e r f G E 3, 58 ( 1 3 7 ) ; 3 8 , 1 ( 1 1 ) .

setzlichen) Beihilfesystems als hergebrachten G r u n d s a t z : B V e r f G , B . v. 2 3 . 6. 1 9 8 1 , in:

97

Vgl. B V e r f G E 8, 3 3 2 ( 3 4 9 ) .

1178

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

bungen auf, ihnen auch das Recht zum Arbeitskampf zuzuerkennen. Reichspräsident Ebert widersetzte sich diesen Tendenzen. Er bekundete durch Verordnung vom 1. Februar 1922 die Rechtsauffassung, daß der Beamtenstreik verboten sei, und setzte sich durch. Die Gerichte folgten ihm 9 8 . Der Rechtskonsens über das Streikverbot stellte sich wieder her. Bei der Beratung des Bonner Grundgesetzes gingen die Beteiligten als selbstverständlich davon aus, daß der Beamtenstatus den Streik ausschließt".

c) Der Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der Grundstruktur der Verfassung Der Traditionsnachweis genügt nicht, um Grundsätze des Berufsbeamtentums in geltendes Verfassungsrecht umzusetzen. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sind sie nur zu beachten, „soweit sie mit den Funktionen vereinbar sind, die das Grundgesetz dem öffentlichen Dienst in der freiheitlichen rechts- und sozialstaatlichen Demokratie zuschreibt" 1 0 0 . Der hergebrachte Grundsatz des Streikverbots genügt diesem Erfordernis. Das Verbot schützt die Allgemeinheit und ihre demokratische Repräsentation vor dem letztlich unwiderstehlichen Nötigungsdruck, der von einem Arbeitskampf der Beamten ausgeht. Es sichert damit die Funktionsfähigkeit der Demokratie und die Entscheidungsfreiheit des Parlaments. Zugleich erfüllt es das republikanische Prinzip dadurch, daß es die Amtsführung des Beamten abschirmt gegen seine eigennützigen beruflichen Belange. Das Streikverbot gewährleistet die unbedingte Dienstbereitschaft der Exekutive für die Aufgaben des sozialen Rechtsstaates. Der hergebrachte Grundsatz wird also durch das grundgesetzliche Gesamtsystem bestätigt und gerechtfertigt 101 . „Die Stellung des Beamten zum Staat schließt das Streikrecht aus" (Art. 115 V Verfassung des Saarlandes). Der Vorbehalt der Systemvereinbarkeit hat nur geringe praktische Bedeutung. Der Bonner Verfassunggeber geht davon aus, daß sich die traditionsfundierte Institution des Berufsbeamtentums in den Bau des Grundgesetzes fügt. Allenfalls kann es partielle Normwidersprüche geben. Im Zweifel ist die Systemvereinbarkeit eines hergebrachten Grundsatzes anzunehmen. Ergibt sich im Verfassungsleben ein Span-

98

99

Zur Geschichte des Streikverbots in der Weimarer Republik: E. R. HUBER Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, 1981, S. 524, 1132 f. — Dokumente und Nachw.: Deutscher Beamtenbund (Hrsg.) D B B - D o k u mente 4, Die Beamten und das Streikrecht o . J . (1969) S. 1 1 - 2 3 ; T. RAMM Der Arbeitskampf und die Gesellschaftsordnung des Grundgesetzes, 1965, S. 6 7 - 1 0 2 ; ISENSEE (Fn. 67), S. 5 5 - 5 7 . So beantragte der Abg. RENNER (KPD) im Parlamentarischen Rat, das Wort „Treueverhältnis" aus dem Funktionsvorbehalt zu streichen, um zu verhüten, daß das Streikverbot für die Beamten statuiert wurde (Nachw.: J ö R 1, S. 322). In den Ausschußberatungen über eine verfassungsrechtliche

Positivierung des allgemeinen Streikrechts bestand Einigkeit darüber, daß Beamte nicht streiken dürfen; offen war das Streikrecht der öffentlichen Arbeitnehmer (Nachw.: J ö R 1, S. 121, 122). Die Positivierung scheiterte schließlich an der Kasuistik der Streikbeschränkungen (Nachw.: J ö R 1, S. 123). ""> Zitat: BVerfGE 15, 167 (195). Vgl. auch BVerfGE 3, 58 (137); 7, 155 (162); 8, 1 (16); 9, 268 (286). 101

Vgl.

H.

BROX/B.

RÜTHERS

Arbeitskampf-

recht, 1965, S. 67; I. v. MÜNCH ZBR 1970, S. 372, 375; ISENSEE (Fn. 67) S. 1 0 8 - 1 3 4 (Nachw.). Gegenposition: W. DÄUBLERDer Streik im öffentlichen Dienst, 2. Aufl. 1971; RAMM ( F n . 9 8 ) S .

140f.

1179

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

nungsverhältnis zwischen einem Prinzip des Berufsbeamtentums und sonstigem Verfassungsrecht, so hat der Gesetzgeber den praktischen Ausgleich herzustellen. d) Das verfassungsrechtliche Grundsätzen

Bild des Berufsbeamtentums

in den

hergebrachten

Gegenstand der Strukturgarantie ist nicht eine Kollektion diverser Grundsätze, sondern die Institution des Berufsbeamtentums, deren integrale Bestandteile die Grundsätze sind. Die Verfassung schützt diese nicht um ihrer selbst willen, sondern nur als Züge eines Gesamtbildes, als identitätsprägende Merkmale. Das Gesamtbild, der normative Idealtypus des Berufsbeamtentums, entzieht sich der schulmäßigen Definition. Es läßt sich nur beschreiben. Es ist daher nicht möglich, die Grundsätze abschließend aufzuzählen 1 0 2 . Es gibt keinen verfassungsrechtlichen Kanon. Die Versuche, die verfassungsrechtliche Gestalt des Berufsbeamtentums darzustellen, können sich der Sache nur annähern, nicht aber sie vollständig erfassen. Unter diesem Vorbehalt steht auch die folgende Skizze der hergebrachten Institution. aa) Die Institution des Berufsbeamtentums gründet auf Pflichten des Beamten, die um der rechtsstaatlichen Integrität und der demokratischen Legitimation seiner Amtsführung willen bestehen. Diese Pflichten konstituieren das Beamtenverhältnis als „Treueverhältnis". Der Inbegriff dieser Pflichten ist die Treuepflicht im weitesten Sinne 1 0 3 . Zu ihr gehören — die rechtsgebundene, unparteiliche, ausschließlich gemeinwohlorientierte Amtsführung, der Ausschluß von privaten und gesellschaftlichen Sonderinteressen, die Unbestechlichkeit ; — der Verzicht des Amtswalters auf politische Eigenmacht („politische Neutralität"); die Einordnung in die Ämterhierarchie der Exekutive als Bedingung des parlamentarischen Führungssystems; die Gehorsamspflicht des Amtswalters ungeachtet der persönlichen Verantwortung für die Rechtmäßigkeit seiner Amtshandlungen; — die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit 104 und zum achtungswürdigen Verhalten; — das Verbot des Streiks und sonstiger kollektiver Kampfmaßnahmen (wie des „Dienstes nach Vorschrift") zur Durchsetzung beruflicher Interessen 1 0 5 ; 102

Kataloge von hergebrachten Grundsätzen:

11.

MAYER ( F n . 94) S. 6 0 7 - 6 1 3 ; H .

( F n . 6 7 ) N a c h w . S . 13 f ; W . W E B E R i n : L E I S -

LECHELER

in: AöR 103 (1978) S. 354-356. - Kasuistik von beamtenrechtlichen Regelungen, die von der Rechtsprechung nicht als hergebrachte Grundsätze anerkannt werden: LECHELER a a O S . 3 5 6 ; U . BATTIS B B G , 1980, § 2 , 103

104 105

2c,

bb. Zu diesem heute umtrittenen weiten Begriff: BVerfGE 39, 334 (346f); H . LECHELER in: ZBR 1972, S. 2 2 8 - 2 3 7 (Nachw.). Vgl. BVerfGE 28, 191 (201). Das Streikverbot bejahen: BVerfGE 8, 1 (17); 44, 249 (264); B G H U. v. 31. 1. 1978, in: J Z 1978, S. 239 (240); BVerwG, U. v. 22.

NER

1979 in: N J W

1980,

Berufsbeamtentum

198-215.

-

S.

1809;

(Fn.

A . A . T. BLANKE/D.

ISENSEE

71)

S.

STERZEL

Beamtenstreikrecht, 1980. Weit. Nachw.: oben Fn. 101. — Zur Unzulässigkeit des Dienstes nach Vorschrift: B G H aaO J Z 1978, S. 239-242; BVerwG, aaO NJW 1980, 1809; ISENSEE J Z 1971, S. 7 3 - 8 0 ; K . A . B E T T E R M A N N / H . J . PAPIER i n : D V

1975,

S. 2 5 - 3 4 ; v. MÜNCH (Fn. 1) S. 68f (weit. Nachw.). Das Streikverbot bezieht sich allein auf den Arbeitskampf um berufliche Interessen der Beamten, nicht aber auf die Arbeitsniederle-

1180

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

— die Pflicht des Beamten, sich durch sein Verhalten für den Staat und seine Verfassung einzusetzen und gerade in der Krise die Verfassungstreue zu wahren; als Folge dieser „politischen Treuepflicht" das Gebot, sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen zu distanzieren, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren 106 . bb) Die Institution des Berufsbeamtentums ist auch darauf angelegt, die Effizienz der Verwaltung sicherzustellen. Diesem Ziel dienen die hergebrachten Grundsätze — des Leistungsprinzips 107 ; — der Hauptberuflichkeit; — der Pflicht zur „vollen Hingabe" für das Amt im Rahmen der allgemeinen Arbeitszeit; zur Dienstbereitschaft im Falle des besonderen Dienstbedarfs über die übliche Arbeitszeit hinaus. cc) Der öffentlichrechtliche Charakter des Dienstverhältnisses erschöpft sich nicht in der Rechtsform. Er ist Ausdruck der hoheitsrechtlichen Struktur. Dem Dienstherrn kommt die hoheitliche, einseitige Regelungskompetenz über das Dienstrecht des Beamten zu. Insbesondere entscheidet allein der Gesetzgeber über die Besoldung und Versorgung 108 . Die Tarifautonomie wird daher ebenso ausgeschlossen wie der Arbeitskampf. Auch die Personalhoheit entzieht sich grundsätzlich einer Mitentscheidung nichtstaatlicher Organisationen wie der Gewerkschaften oder der Personalvertretung. Deshalb entscheiden über Personalangelegenheiten des Beamten in der Regel allein die ihm vorgesetzten Dienstbehörden, die in einem hierarchischen Über- und Unterordnungsverhältnis stehen 109 . Der Beamte ist nur Stellen seines Dienstherrn verantwortlich — nicht Mitbestimmungsgremien, Gewerkschaften oder politischen Parteien. dd) Das Gegengewicht zu der hoheitlichen Regelungsgewalt des Dienstherrn sind die inhaltlichen Vorgaben, die sich für die gesetzlichen Regelungen aus der Institution des Berufsbeamtentums ergeben. Kraft dieser Direktiven gewinnt der Beamtenstatus rechtliche und wirtschaftliche Sicherheit. Zu diesen Direktiven gehören: gung zur Verteidigung der verfassungsrechtlichen Grundordnung gegen einen Staatsstreich, wenn die legalen Abwehrraechanismen des Verfassungsstaates ausgefallen sind. Hier gilt das Widerstandsrecht des Art. 20 IV G G auch für den Beamten. Dazu J. ISENSEE, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969. Dazu: BVerfGE 39, 334 (346-375); BVerwGE 47, 330-364; 47, 365-379; U. v. 29. 10. 1981, in: N J W 1982, S. 779-784. Nachw. zum kontroversen Schrifttum: v. MÜNCH (Fn. 1) S. 64; s. auch Nachw. Fn. 47, 54. Der juristische Streit bewegt sich heute vor allem um die Frage, ob die bloße Mitgliedschaft in einer materiell verfassungsfeindli-

chen, wenn auch nicht formell verbotenen, Partei (wie der DKP) die politische Treuepflicht verletzt oder ob allein der persönliche Einsatz des Beamten für die verfassungsfeindlichen Ziele der Vereinigung gegen die Dienstpflicht verstößt. Die Kontroverse ist jedoch mehr oder weniger akademisch, weil die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung, zumal einer Kaderorganisation, normalerweise die nach außen bekundete, tätige Identifikation mit ihrem Programm darstellt. 107 Vgl. BVerfGE 39, 196 (201); weit. Nachw. Fn. 33. «>8 Vgl. BVerfGE 8 , 1 (15); Weit. Nachw. ISENSEE (Fn. 67) S. 3 5 - 3 8 , 116. ">* Vgl. BVerfGE 9, 268 (286 f).

1181

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

— das Laufbahnprinzip 110 und die fachliche Vorbildung; — das Lebenszeitprinzip; — das Disziplinarrecht und besondere formelle wie materielle Garantien gegen Statusminderung; — das Recht auf eine angemessene (d.h. wirklichkeitsgerechte und anredefähige) Amtsbezeichnung 111 ; — die Fürsorgepflicht des Dienstherrn, als deren Ausfluß: Schutz der persönlichen Sicherheit des Beamten in seiner Amtstätigkeit, Verteidigung gegen unberechtigte Anwürfe, Förderung nach Eignung und Leistung, Rücksichtnahme auf wohlverstandene Interessen, faires Verwaltungsverfahren 112 ; — als Konkretisierung der Fürsorgepflicht die Unterhaltspflicht des Dienstherrn und das korrespondierende grundrechtsgleiche Recht des Beamten auf Besoldung und Versorgung, damit die Garantie des amtsgemäßen Unterhalts für den Beamten und seine Familie (Alimentationsprinzip), und zwar nach Maßgabe des Dienstrangs, der Bedeutung und Verantwortung des Amtes und der allgemeinen Verhältnisse 113 ; die Garantie der amtsgemäßen Versorgung für den Beamten und die Hinterbliebenen (damit Ausschluß der Sozialversicherung) 114 . ee) Die institutionelle Garantie erfaßt das Beamtentum als Einheit. Der Einheit des Beamtentums entspricht — die Gleichheit des Dienstrechts für Beamte aller Funktionen; — die gesetzliche Typisierung der Pflichten, der Rechte, der Altersgrenzen und der sonstigen Statuselemente 115 ; — das Erfordernis der Rechtfertigung für Abweichungen vom Regeltypus des Berufsbeamten auf Lebenszeit und für die Schaffung von Sondertypen (wie den des Teilzeitbeamten). Sachgerecht ist dagegen die Verschiedenheit der fachlichen Anforderungen, desgleichen die laufbahnmäßige Differenzierung, die sich in das Besoldungssystem hinein fortsetzt. Der Differenzierung unfähig sind jedoch die ethischen Anforderungen an den Beamten wie Bestechungsverbot und Verfassungstreue 116 . Das Ubermaßverbot ermöglicht keine Abstufung der Zuverlässigkeit nach der jeweiligen Funktion, die der Dazu: H. LECHELER Das Laufbahnprinzip, in: Verantwortung und Leistung, Heft 3, 1981, S. 12-14. 1 1 1 Vgl. BVerfGE 38, 1 (12) - zum Richterrecht; 43, 154 (167). Vgl. auch W. LEISNER in: DÖV 1973, S. 145-149. 112 Vgl. BVerfGE 43, 154 (165-167). » » Exemplarisch: BVerfGE 44, 249 (265). Zum 110

Alimentationsprinzip: W. THIELE in: DVB1. 1981, S . 2 5 3 - 2 5 9 ; LECHELER ( F n . 102) S. 366-372.

114

D a z u : W. RÜFNER in: LEISNER (Hrsg.) Be-

rufsbeamtentum (Fn. 71), S. 147—165. Systemvergleich Beamtenversorgung — Sozial-

versicherung: P . KRAUSE i n : ZACHER/BUL-

115

LINGER/IGL (Hrsg.): Soziale Sicherung im öffentlichen Dienst, 1982, S. 21, 116. Zur Typisierung des Beamtenstatus: P. LERCHE Ubermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 2 1 8 - 2 2 0 ; J .

116

ISENSEE D i e

typisierende

Verwaltung, 1976, S. 98. Zur Unzugänglichkeit der politischen Treuepflicht für eine Differenzierung nach der Art der dienstlichen Obliegenheiten: BVerfGE 39, 334 (355); BVerwGE 47, 330 ( 3 3 5 f , 3 4 0 ) ; 47, 365 (367); K . KRÖGER in: Z R P 1982, S. 1 6 3 f ; R . SCHOLZ in: Z B R

1982, S. 133F; DERS. in: FS-Broermann, 1982, S . 4 0 9 - 4 3 2 .

1182

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Beamte wahrnimmt, obwohl die tatsächlichen Bewährungsproben und Belastungen je nach dem Amt verschieden ausfallen können. Die effektiven Anforderungen hängen im übrigen nicht von der Höhe des Amtes in der Laufbahnhierarchie ab. So ist die Wahrung des Post- und Fernmeldegeheimnisses in erster Linie den Inhabern „niederer", fernmeldetechnischer Funktionen anvertraut. Die Anforderungen an die Zuverlässigkeit können nicht auf ein funktionsspezialisiertes Minimalniveau gesenkt werden, ohne die Verfügbarkeit des Beamten für unterschiedliche Dienstposten, seine Belastbarkeit in wechselnden Situationen zu gefährden, und ohne das funktionsneutrale, egalitäre Personalvertretungsrecht zu entlegitimieren. Die Institution des Berufsbeamtentums fordert daher einen gemeinsamen Standard dienstrechtlich fundierter Vertrauenswürdigkeit der Beamten. Sie verbietet die Spaltung des Beamtentums in mehrere Klassen und die Unterscheidung zwischen vollzuverlässigen und teilzuverlässigen Staatsdienern. Die hergebrachten Grundsätze gelten einheitlich für alle Beamtengruppen, ohne Rücksicht darauf, ob sie dem Funktionsvorbehalt unterliegen oder nicht, ob der Beamtenstatus von Verfassungs wegen geboten oder vom Gesetzgeber nach politischem Ermessen gewählt worden ist 1 1 7 . e) Der Regeltypus des Lebenszeitbeamten und die Zulässigkeit von Ausnahmen Die Strukturgarantie folgt dem Regeltypus des Berufsbeamten auf Lebenszeit. Sie schützt nicht den Bestand von Sonderformen wie die des Zeit-oder des Teilzeitbeamten, des Wahl- oder des Widerrufsbeamten 118 . Der Gesetzgeber kann die Sonderformen selbst dann ändern oder abschaffen, wenn sie Tradition aufweisen. Traditionelle Ausnahmen von der beamtenrechtlichen Regel bilden keine hergebrachten Grundsätze. Freilich geraten sie auch nicht in Konflikt mit Art. 33 V G G . So wird die beamtenrechtliche Anomalie des politischen Beamten, deren Geschichte bis in die Frühzeit der konstitutionellen Monarchie zurückreicht 1 1 9 , vom Grundgesetz nicht gewährleistet, sondern nur geduldet 1 2 0 . Die Toleranz geht überdies nur so weit, wie sich die Durchbrechung der hergebrachten Grundsätze im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung rechtfertigen läßt. Der politische Beamte schuldet nicht wie der normale Beamte nur rechtlichen Gehorsam, sondern auch Ubereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung; er kann, wenn er das politische Vertrauen der Regierung verliert, jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden 1 2 1 .

117

118

Vgl. B V e r f G E 44, 249 (262 f ) ; W. THIEME

Der öffentliche Dienst in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1961, S. 54. So BVerfGE 44, 249 (262 f); vgl. auch BVerf-

119

Nachw.: R. SCHUNKE Die politischen Beamten, Diss. Saarbrücken 1973, S. 6—82;

120

Dagegen hält BVerfGE 7, 155 (166 f) die Abberufbarkeit des politischen Beamten für einen hergebrachten Grundsatz. Vgl. § 31 B R R G , § 36 BBG. - Dazu SCHUNKE (Fn. 119) S. 156-279. - Unzulässig ist allerdings eine Abberufung, die nicht durch

WIESE ( F n . 14) S.

G E 39, 334 (335, 350, 3 7 1 - 3 7 5 ) ; MAUNZ in: MAUNZ/DÜRIG (Fn. 35), Art. 3 3 / R d n . 53;

W. THIEME Der öffentliche Dienst in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1961, S. 54.

121

161-164.

2 . Abschnitt, ö f f e n t l i c h e r Dienst (ISENSEE)

1183

D i e A u s n a h m e v o n d e m Verfassungsprinzip der Politik-Unabhängigkeit des B e a m t e n ist nur sachgerecht für regierungsnahe Ä m t e r wie das des Staatssekretärs, die unmittelbar Regierungspolitik in Verwaltungsvollzug umsetzen sollen, nicht aber für die primär gesetzesbezogenen Ä m t e r des J u s t i z - und Sicherheitsbereichs. Ä m t e r wie die des Generalstaatsanwalts oder des Polizeipräsidenten müssen u m der Legalität willen Distanz zur jeweiligen politischen F ü h r u n g w a h r e n ; sie sind z w a r weisungsgebunden, aber nicht berufen, politische Linientreue zu e x e k u t i e r e n 1 2 2 .

Die Einbuße an dienstrechtlicher Sicherheit läßt sich verfassungsrechtlich vertreten nur für exponierte Dienstposten, deren Inhaber sich normalerweise nicht anderweitig verwenden lassen123. Der Kreis der politischen Beamten ist also möglichst eng zu ziehen. Er würde dagegen indirekt ausgeweitet werden, wenn künftig Spitzenpositionen nur noch auf Zeit vergeben, somit die Ämterstabilität der politischen Abhängigkeit geopfert und der Parteipatronage die Tore noch weiter als bisher geöffnet würden. Der Gesetzgeber kann neue Sonderformen des Beamtenstatus einführen, wenn er die hergebrachte Gestalt des Berufsbeamtentums nicht antastet. Das Amt des Teilzeitbeamten ist strukturgerecht, solange es nur für Personen bestimmt ist, die infolge einer besonderen familiären oder sonstigen Belastung den vollen Dienst nicht leisten können 124 . Der Dienst ist trotz seiner zeitlichen Einschränkung hauptberuflich, weil er die verminderte Arbeitskapazität im wesentlichen ausschöpft. Das ist jedoch nicht mehr der Fall, wenn das Teilzeitamt nur um der Vermehrung des Stellenangebots willen geschaffen und als Notlösung dem Bewerber übertragen wird, der eigentlich einen Vollzeitdienstposten anstrebt. Unter diesen Umständen sichert das Gesetz die Hauptberuflichkeit und die „volle" Hingabe an das halbe Amt nicht künstlich dadurch ab, daß es pauschal jedwede Nebentätigkeit untersagt. Der Dienstherr kann ein solches Verbot nicht vor dem Grundrecht der Berufsfreiheit rechtfertigen, weil er dem Teilzeitbeamten nicht das Maß an beruflicher Auslastung und an Lebensunterhalt bietet, das er nach verfassungsrechtlichen Grundsätzen dem Vollzeitbeamten schuldet. Er verhindert daher nicht, daß sich die private Nebentätigkeit zum gleichgewichtigen Zweitberuf auswächst, das Teilzeitamt zum Job verkümmert und daß die dienstrechtlichen Forderungen, die aus der Exklusivität des Amtes folgen, wirkungslos werden. Unerträgliche dienstrechtliche Konflikte drohen, wenn sich die private Teilzeitbeschäftigung in demselben Aufgabenbereich bewegt wie das Teilzeitamt, wenn also der Finanzinspektor in Personalunion als Steuerberater, der Richter als Rechtsanwalt fungiert. Das Teilzeitamt kann die Auflösung des Berufsbeamtentums einleiten125. den Verlust des politischen Vertrauens be-

beamte des Ministers. Zutreffend: SCHUNKE

gründet ist (etwa eine Verjüngungsaktion). Vgl. B V e r w G E 5 2 , 3 3 ( 3 4 - 4 2 ) . 122

123

( F n . 119) S. 3 7 1 ; v. ARNIM ( F n . 4 4 ) S. 52. 124

U n p r o b l e m a t i s c h ist die Schaffung v o n Teil-

Z u r Verwendbarkeit des politischen B e a m -

zeitbeamten auf begrenzte Zeit bei v o r ü b e r -

ten, Darstellung und Kritik: SCHUNKE ( F n .

gehendem

119) S. 2 8 0 - 3 7 5 ;

S.

H i e r greift A r t . 33 IV G G ein. E i n A n g e -

4 5 - 5 3 ; JUNCKER in: Z B R 1 9 7 4 , S. 2 0 5 - 2 0 9 ;

stelltenstatus w ä r e zulässig. W e n n aber der

v.

ARNIM ( F n .

44)

Arbeitsbedarf

der

Verwaltung.

Studienkommission ( F n . 8 6 ) S. 161 f.

Beamtenstatus verwendet wird, gilt A r t . 3 3

D a h e r scheidet der Status des politischen B e -

V G G (BVerfGE 44, 249 (263)).

amten

grundsätzlich

aus

für

rangniedere,

jüngere persönliche Referenten oder Stabs-

125

Z u r verfassungsrechtlichen Problematik des Teilzeitbeamten:

M.

SCHRÖDER

in:

ZBR

1184

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Der Sonderstatus des Hochschullehrers reicht über den Rahmen des Art. 33 V G G hinaus. Das Amt dient nicht nur der Wahrnehmung von Staatsfunktionen, sondern auch der Ausübung grundrechtlicher Freiheit i/i der Universität 126 . Das Grundrecht der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre (Art. 5 III G G ) gewährleistet dem Hochschullehrer die Unabhängigkeit in der wissenschaftlichen Arbeit. Hergebrachte Grundsätze der Amtsgebundenheit und -loyalität treten zurück. Unverkürzt besteht aber die Beamtenpflicht zur Verfassungstreue (Art. 5 III 2 G G ) 1 2 7 . Der Status des Hochschullehrers wird also durch grundrechtliche wie durch regulär beamtenrechtliche Verfassungsprinzipien konstituiert. Das Gesetz muß die heterogenen Prinzipien zu praktischer Konkordanz führen. f ) Die normative Kraft der hergebrachten

Grundsätze

Es ist streitig, ob der Gesetzgeber von einem hergebrachten Grundsatz abweichen darf 1 2 8 . Für die Zulässigkeit spricht, daß das Bundesverfassungsgericht zwischen Grundsätzen schwächerer und stärkerer Verbindlichkeit unterscheidet, solchen nämlich, die der Gesetzgeber nur zu „berücksichtigen", und solchen, die er strikt zu „beachten" habe 129 . Das Gericht hat seine Differenzierung jedoch nicht praktisch durchgeführt. Alle Grundsätze nach Art. 33 V G G , die es anerkannt hat, fordern Beachtung 130 . Freilich hat es auch niemals Akzidentien des traditionellen Beamtentums die Grundsatzqualität zuerkannt, sondern nur der Substanz. Die Substanz der Institution aber darf in der Tat nicht angetastet werden. Die identitätsbildenden Merkmale — nur diese haben den Rang von Grundsätzen — dürfen vom Gesetzgeber niemals ignoriert werden. Einzelne verfassungsrechtliche Grundsätze vertragen zwar gesetzliche Ausnahmetatbestände, soweit sich diese aus der Besonderheit des Regelungssubstrats rechtfertigen lassen; aber sie dulden keine rechtspolitischen Gegenprinzipien. Gleichwohl läßt die Strukturgarantie des Art. 33 V G G der rechtspolitischen Gestaltung weiten Raum. Die Grundsätze sind abstrakt, angelegt auf gesetzliche Konkretisierung, fähig, sich den wechselnden Gegebenheiten des Staatslebens und den jeweiligen beruflichen Standards der Gesellschaft (Arbeitszeit, Urlaub, Einkom-

1979, S. 189-193; H. LECHELER Arbeitsmarkt und öffentlicher Dienst, 1979, S.

141, 172-178, 196 (Nachw.). - Zum Sonderproblem der Berufungszusage: BVerfGE

8 0 - 9 3 ; RUDOLF ( F n . 1) S. 2 0 8 f ; W . THIELE in: Z B R 1980, S . 3 4 2 - 3 4 5 ; M . BENNDORF

4 3 , 2 4 2 ( 2 7 6 - 2 9 0 ) ; SCHOLZ a a O R d n . 177,

Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Teilzeitbeschäftigung von Beamten und Richtern, Diss. Göttingen 1980, bes. S. 217,

127

5 III 2 G G : E . FRIESENHAHN Lehrfreiheit u n d V e r f a s s u n g s t r e u e , 1950; SCHOLZ ( F n .

223; DERS. in: Z B R 1981, S. 8 4 - 8 9 . 126

196 (Nachw.). Zum Gebot der Verfassungstreue nach Art.

126) Art. 5 III/Rdn. 197-204 (Nachw.). Für die Zulässigkeit: ULE (Fn. 1) S. 568f.

Zum beamtenrechtlichen Sonderstatus des Hochschullehrers: BVerfGE 3, 58 (151); 35, 79 (109-148); BVerwGE 24, 307 (309f); W. WEBER Die Rechtsstellung des deutschen Hochschullehrers, 2. Aufl. 1965; R. SCHOLZ

128

129

BVerfGE 3, 58 (137); 7, 155 (162); 8, 1 (16); 8, 81 (87).

in: MAUNZ/DÜRIG ( F n . 35) A r t . 5 I I I / R d n .

130

V g l . LECHELER ( F n . 102) S. 3 6 3 f .

D a g e g e n : v. MÜNCH ( F n . 1) S. 4 0 ; H . LECHELER ( F n . 102) S. 3 6 3 f .

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

1185

men usw.) anzupassen 1 3 1 . Das Alimentationsprinzip verweist geradezu auf die allgemeinen Lebensbedingungen, die herrschenden Verbrauchs- und Lebensgewohnheiten. Der von Verfassungs wegen geschuldete Unterhalt fällt in Zeiten des Wohlstandes anders aus als in Zeiten der Knappheit. Er deckt nicht nur die Elementarbedürfnisse ab, sondern auch das Bedürfnis nach einem zeitgemäßen Minimum an Lebenskomfort 1 3 2 . Die Gestaltung der Besoldung und Versorgung soll auch das Ansehen des Amtes in der Gesellschaft und die Anziehungskraft des Beamtenverhältnisses für qualifizierte Kräfte sicherstellen. Der Gesetzgeber hat für eine realitätsgerechte Besoldung zu sorgen; dazu gehört, daß die Beamten ohne Rücksicht auf die Größe ihrer Familie „sich annähernd das gleiche leisten" können 1 3 3 . g) Adressaten der

Strukturgarantie

Der primäre Adressat der Strukturgarantie ist der Gesetzgeber. An ihn ergeht der Auftrag der Verfassung, das Berufsbeamtentum unter Wahrung seiner hergebrachten Grundsätze zeitgerecht auszugestalten. Der Beamte findet seine Pflichten und Rechte im Gesetz vorgezeichnet. Die Verfassungsvorschrift wird für ihn gesetzlich mediatisiert. Exekutive und Judikative wenden das Beamtengesetz an, soweit es konkreter ist als die Verfassungsgarantie oder soweit es eine Materie betrifft, die von den hergebrachten Grundsätzen nicht erfaßt wird. Jedoch müssen Exekutive und Judikative unmittelbar auf die hergebrachten Grundsätze zurückgreifen, wenn das Gesetz unbestimmt und daher auslegungsbedürftig oder lückenhaft und daher ergänzungsbedürftig ist. Das gilt vor allem dann, wenn der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen Regelungsauftrag nicht erfüllt hat oder wenn seine Regelung das verfassungsrechtliche Leitbild verfehlt und ein Strukturprinzip verletzt. Behörden und Gerichte haben hier die Ersatzkompetenz, die Grundsätze durch Auslegung eigenständig zu konkretisieren. Das Auslegungsresultat, die Konkretisierung muß seinerseits nicht hergebracht sein, wie der Grundsatz, der zu konkretisieren ist (also das Alimentationsprinzip, die Treue- oder Fürsorgepflicht). Vielmehr kann die Konkretisierung den jeweiligen Urtlständen Rechnung tragen und so die hergebrachten Grundsätze in gewissem Umfang elastisch halten 1 3 4 . Soweit die hergebrachten Grundsätze reichen, kann kein Regelungsvakuum entstehen. Dabei ist es gleich, ob die Grundsätze sich auf Pflichten oder Rechte beziehen, weil Pflichten wie Rechte in der Institution des Berufsbeamtentums unlösbar verknüpft sind. Die institutionelle Garantie überlagert den Vorbehalt des Gesetzes. Der Beamte bleibt kraft Art. 33 V G G zur Verfassungstreue verpflichtet, wenn der Gesetzgeber versuchen sollte, diese Dienstpflicht unter das verfassungsrechtlich vorgesehene Maß zu senken. Das Streikverbot gilt verfassungsunmittelbar, unabhängig von den Beamtengesetzen, die es nicht ausdrücklich, sondern nur einschlußweise anerkennen 135 . 131

132 133

Zur Elastizität der Strukturgarantie: BVerfGE 43, 154 (168). Anschaulich: BVerfGE 44, 249 (266). Vgl. BVerfGE 44, 249 (250 Ls. 3, 264-279).

134

Grundlegend: BVerfGE 43, 154 (166-171). Ablehnend das Sondervotum der Richter WAND/NIEBLER ebda. S.

135

178-184.

N ä h e r : ISENSEE ( F n . 6 7 ) S . 3 3 - 6 0 ( N a c h w . ) .

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1186

Verfassungsunmittelbar bestehen auch subjektive Rechte für den einzelnen Beamten. Ihm erwächst aus der Vorschrift des Art. 33 V G G der Anspruch darauf, daß der Staat seine durch die hergebrachten Grundsätze geschaffene persönliche Stellung nicht verletzt 1 3 6 . Die institutionelle Garantie hat neben ihrem überindividuellen Primärzweck, das Berufsbeamtentum als Ordnungsfaktor des Gemeinwesens zu erhalten, den Sinn, die Rechte des individuellen Beamten zu schützen. Damit gewinnt der Beamte grundrechtsgleiche Rechte, die er mit der Verfassungsbeschwerde gemäß § 90 B V e r f G G durchsetzen kann: so das Sondergrundrecht auf amtsangemessene Besoldung und Versorgung 1 3 7 , auf Fürsorge des Dienstherrn 1 3 8 , auf eine amtsangemessene Amtsbezeichnung 1 3 9 , auf einen besonderen beamtenrechtlichen Status 1 4 0 . Die größte praktische Bedeutung hat das Recht auf amtsangemessenes Gehalt. Das Alimentationsgrundrecht bildet das Gegenrecht zur Regelungshoheit des Dienstherrn. Der Beamte kann gegen den säumigen Besoldungsgesetzgeber Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben, um die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Besoldungsmaßstäbe zu erzwingen.

3. Sonderstatus und allgemeine Rechtsgleichheit Die institutionelle Garantie des Art. 33 IV, V G G rechtfertigt den Sonderstatus des Beamten und schließt damit mögliche verfassungsrechtliche Bedenken aus, die im Gleichheitssatz gründen. Sie erlaubt nicht die Einebnung der Sonderstrukturen und ihre Anpassung an das Arbeitsrecht. Die institutionelle Garantie trägt dem Gleichheitsprinzip dadurch Rechnung, daß sie in sich die Sonderlasten und die Sondervorteile des Beamten ausgleicht und gegeneinander aufwiegt. Die Treuepflicht des Beamten findet ihr Gegengewicht in seinem Anspruch auf Fürsorge. Die einseitige Regelungsgewalt des Dienstherrn und das Streikverbot werden kompensiert durch die rechtliche wie ökonomische Statussicherheit, insbesondere durch den grundrechtlich gesicherten Anspruch auf amtsgemäßen Unterhalt. Das Arbeitsrecht dagegen, das auf Vertragsfreiheit, Tarifautonomie und Streikrecht gründet, kennt kein Grundrecht auf ein leistungsgerechtes Arbeitsentgelt, das dem Alimentationsgrundrecht vergleichbar wäre. Die Lohnhöhe ist Chance wie Risiko der jeweiligen einzelvertraglichen und tarifvertraglichen Regelungen. In dem Sonderstatus liegt also weder eine Privilegierung noch eine Diskriminierung der Beamten. Ungleichheiten entständen aber, wenn ein einzelnes Element aus der ausbalancierten Institution entfernt würde. So schüfe die Aufhebung des Streikverbots ein Privileg, weil der Beamte im Gegensatz zum typisch streikberechtigten Arbeitnehmer der Privatwirtschaft einen sicheren Arbeitsplatz besitzt, sich auf die

136

137

BVerfGE 12, 81 (Ls. 1), 87. Ständige Rechtspr. Dazu mit Nachw. kritisch: LECHELER (Fn. 102) S. 360-363. Seit BVerfGE 8, 1 (16-20) ständige Rechtspr. Weit. Nachw.: LECHELER (Fn. 102) S. 366-372.

Vgl. BVerfGE 8, 332 (356); 9, 269 (286 f); 43, 154 (165-177). w» Vgl. BVerfGE 38, 1 (12). 1 4 0 Vgl. BVerfGE 35, 79 (149).

138

1187

2. Abschnitt, ö f f e n t l i c h e r Dienst (ISENSEE)

verfassungsrechtliche Garantie angemessener Arbeitsbedingungen verlassen kann und keinerlei Arbeitskampfrisiko (wie das der Aussperrung) trägt 141 . Der Gesetzgeber gerät mit dem Gleichheitsgrundrecht in Widerstreit, wenn er außerhalb des Dienstrechts Sonderregelungen für Beamte trifft. So kann er nicht in Zeiten großer Arbeitslosigkeit allein den Beamten eine Zusatzsteuer oder eine sonstige Abgabe auferlegen, um einen Ausgleich dafür zu schaffen, daß sie vom Risiko des Arbeitsplatzverlustes freigestellt sind 142 . Sachgerecht ist es dagegen, wenn er bei der Regelung der Besoldung diesem Vorzug des öffentlichen Dienstes Rechnung trägt und angesichts der allgemeinen Not die Dienstbezüge relativ wenig anhebt, einfriert oder sogar kürzt 1 4 3 . — Ein verfassungswidriges Sonderopfer läge auch darin, daß der Gesetzgeber aus arbeitsmarktpolitischen und beschäftigungspolitischen Gründen die Nebenbeschäftigung der Beamten beschränkte oder untersagte. Zulässig und in bestimmtem Umfang nach Art. 33 V G G sogar geboten sind Beschränkungen dort, wo ein Konflikt mit dienstlichen Belangen droht. Außerdienstliche Ziele aber rechtfertigen keine Maßnahmen, die allein zu Lasten der Beamten ergehen 144 . 4. Grundrechte und Rechtsschutz Die Grundrechte und die Rechtsschutzgarantie gelten auch für den Beamten. „Er steht zwar ,im Staat' und ist deshalb mit besonderen Pflichten belastet, die ihm dem Staat gegenüber obliegen, er ist aber zugleich Bürger, der seine Grundrechte gegen den Staat geltend machen kann. In ihm stoßen sich also zwei Grundentscheidungen des Grundgesetzes: die Garantie eines für den Staat unentbehrlichen, ihn tragenden, verläßlichen, die freiheitliche demokratische Grundordnung bejahenden Beamtenkörpers . . . und die Garantie der individuellen Freiheitsrechte" 145 . Die Entwicklung des Rechtsstaates hat die Rechtsauffassung hinter sich gelassen, daß im „besonderen Gewaltverhältnis" des Beamten die Freiheitsgewährleistungen der Bürger-Staat-Beziehung weitgehend unanwendbar seien 146 . Geblieben ist das Problem, wie im Kollisionsfalle der Ausgleich zwischen der Grundrechtsfreiheit des Bürgers und dem Sonderstatus des Beamten herzustellen ist 1 4 7 . GE

70-73.

8, 3 3 2 ( 3 4 2 f ) ; 15, 1 6 7 ( 1 9 8 ) ; 4 4 ,

249

141

N ä h e r : ISENSEE ( F n . 6 7 ) S. 4 4 - 4 6 ,

142

E i n Soldaritätsbeitrag der B e a m t e n zur A r -

( 2 6 3 f ) ) . A u f der anderen Seite darf das E i n -

beitslosenversicherung

finanzverfas-

k o m m e n s t e u e r r e c h t die Beamtenpensionäre

sungsrechtlich unzulässig, weil die nicht s o -

nicht willkürlich gegenüber den Beziehern

zialversicherten

von

wäre

Beamten

keine

homogene

G r u p p e mit den Sozialversicherten

Z u m Erfordernis der G r u p p e n h o m o g e n i t ä t : BVerfGE

55,

274

(305-312);

J.

144

ISENSEE

Zu

den

Beschränkungsmöglichkeiten:

I. v. MÜNCH in: Z B R 1 9 7 8 , S. 1 2 8 .

träge, 1 9 7 3 , S. 1 7 - 2 6 , 4 2 f , 4 9 - 5 2 , 6 3 ; K .

145

H . FRIAUF in: FS-Jahrreiß, 1 9 7 4 , S. 5 3 - 5 6 .

146

Zitat: B V e r f G E 39, 334 (366). D a z u W . LOSCHELDER V o m besonderen G e -

— Z u Sonderabgaben für B e a m t e : R . NAU-

waltverhältnis

JOKS in: Z B R 1 9 7 6 , S. 6 5 - 7 3 .

Sonderbindung, 1 9 8 2 .

A r t . 3 3 V G G gibt keinen starren Schutz des

besoldungsrechtlichen

Besitzstandes

benachteili-

B V e r w G E 3 1 , 241 ( 2 4 5 ) ; 4 1 , 3 1 6 ( 3 1 9 - 3 2 3 ) ;

Umverteilung durch Sozialversicherungsbei-

143

Sozialversicherungsrenten

gen. D a z u B V e r f G E 5 4 , 11 ( 2 5 - 3 9 ) .

bilden.

147

Zur

Diskussion

zur über

öffentlich-rechtlichen die

Grundrechts-

schranken für B e a m t e mit weit.

Nachw.:

( „ w o h l e r w o r b e n e r R e c h t e " ) und hindert ei-

U L E ( F n . 1) S. 6 1 5 - 6 4 1 ; v. MÜNCH ( F n . 1)

ne K ü r z u n g der B e z ü g e nicht. (Vgl. B V e r f -

S. 6 1 - 6 9 ; W . LEISNER in: DVB1. 1 9 6 0 , S.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1188

Die Lösung kann nur differenzierend erfolgen. Drei Rechtsebenen sind zu unterscheiden: das Amt, der Dienst und der Privatbereich. a) Der Bereich des Amtes Das Amt ist demokratisches Instrument des Volkswillens, nicht grundrechtliches Medium der persönlichen Freiheit seines Inhabers. Der Amtswalter ist integraler Teil der Staatsorganisation und somit Adressat der Grundrechte, nicht ihr Träger. Eine amtliche Weisung betrifft ihn nicht in einem eigenen Recht, sondern in einer staatlichen Kompetenz, die er treuhänderisch zum Wohle der Allgemeinheit wahrzunehmen hat. Zwar trägt er trotz seiner Eingliederung in die Weisungshierarchie der Exekutive die persönliche Verantwortung für die Rechtmäßigkeit seiner Amtshandlungen; aber er kann ihr nur durch amtliche Remonstration genügen 148 , nicht durch private Klage 1 4 9 . Der Verwaltungsakt ist nicht Ausdruck der privaten Handlungsfreiheit des Beamten, der ihn unterzeichnet. Die amtliche Stellungnahme ist keine grundrechtliche Meinungsäußerung nach Art. 5 I G G . Der Beamte genießt im Dienstzimmer nicht den Schutz der Wohnungsfreiheit. Der amtliche Gebrauch des Diensttelefons wird nicht abgesichert durch das Fernmeldegeheimnis 150 . Der Beamte als Amtswalter ist nicht grundrechtsfähig. b) Das Dienstverhältnis Das Dienstverhältnis des Beamten ist eine persönliche Rechtsstellung. Aus ihr erwachsen dem einzelnen subjektive öffentliche Rechte, für die der reguläre Rechtsschutz besteht (Art. 19 IV G G ) 1 5 1 . Aus der Strukturgarantie des Art. 33 V G G ergeben sich Beamtengrundrechte, die den Schutzbereich der allgemeinen, staatsbürgerlichen Grundrechte berufsspezifisch erweitern. Die Strukturgarantie geht als Sonderregelung den allgemeinen Grundrechten vor 1 5 2 . Der Dienst des Beamten gründet nicht in der Freiheit der Berufsausübung nach Art. 12 I 2 G G , sondern in den Grundsätzen des Berufsbeamtentums. Das 617-626;

W.

SCHICK

in:

ZBR

1963,

S.

6 7 — 7 3 ; F . E . SCHNAPP A m t s r e c h t u n d B e -

amtenrecht, 1977, S. 2 7 5 - 2 8 4 . Die amtliche Remonstration ist keine grundrechtliche Petition nach Art. 17 GG. Sie muß sich also auf dem Dienstweg bewegen. 1 4 9 Die amtliche Weisung greift jedoch auf den privaten Grundrechtsstatus des Beamten durch, wenn das angewiesene Verhalten ihn in erkennbaren Gegensatz zum Strafgesetz oder Ordnungswidrigkeitenrecht brächte oder die Würde des Menschen verletzte. In diesen Grenzfällen entlastet Remonstration nicht von der persönlichen Verantwortung (§ 38 II S. 2, Hs. 2 BRRG, § 56 II 3 BBG). iso 2 u r Unanwendbarkeit des Art. 10 I GG auf das Registrieren behördlicher Telefonate: OVG Bremen, U. v. 18. 12. 1979 in: NJW

151

148

152

1980, S. 606f; BVerwG B. v. 10. 8. 1981 in: N J W 1982, S. 840. Die Unterscheidung zwischen Amtswalterbereich und Dienstbereich entspricht weitgehend der Unterscheidung ULES zwischen Betriebs- und Grundverhältnis des Beamten (dazu C. H. ULE in: W D S t R L 15 (1957), S. 151 f; DERS. Fn. 1, S. 6 1 2 - 6 1 5 ) . Nach BVerfGE 39, 334 (367) ist der notwendige Ausgleich zwischen dem hergebrachten Grundsatz (der Verfassungstreue) und dem Grundrecht (der Meinungsfreiheit) „so zu suchen, daß die für die Erhaltung eines intakten Beamtentums unerläßlich zu fordernden Pflichten des Beamten die Wahrnehmung von Grundrechten einschränken". Jedes Verhalten, das als politische Meinungsäußerung gewertet werden könne, sei nur

1189

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

Alimentationsgrundrecht aus Art. 33 V G G ist lex specialis gegenüber dem Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 G G 1 5 3 . Die Koalitionsfreiheit, die auch dem Beamten zusteht, entfaltet sich nur in den verfassungsrechtlich vorgegebenen Strukturen des Dienstverhältnisses: also jenseits von Tarifvertrag und Arbeitskampf, unter Respektierung der parlamentarischen Regelungsprärogative154; eine dem Dienstverhältnis wie dem demokratischen System gemäße Koalitionsbetätigung ist die Beteiligung der gewerkschaftlichen Spitzenorganisationen bei der Vorbereitung von beamtengesetzlichen Regelungen 155 . Dienstpflichten, die, wie die Amtsverschwiegenheit, hergebrachte Grundsätze und als solche grundrechtsgemäß sind, können aber in ihrer Anwendung auf den Einzelfall mit Grundrechten kollidieren. Hier hat der Dienstherr die praktische Konkordanz herzustellen, die sowohl der Gesetzlichkeit des Beamtenverhältnisses als auch dem allgemeinen Freiheitsschutz gerecht wird 156 . So muß bei einer Diensthandlung, die mit persönlichen Gefahren für den Beamten verbunden ist, die konkrete Grenze des zumutbaren Risikos auch in Rücksicht auf das betroffene Grundrecht bestimmt werden 157 . Soweit das Dienstrecht nicht durch hergebrachte Grundsätze vorgeprägt ist und dem Gestaltungsermessen des Gesetzgebers unterliegt, gelten die allgemeinen Grundrechte. Eine Grundrechtsbeschränkung ist nur zulässig, wenn sie geeignet, notwendig und angemessen ist, um legitime Ziele der Verwaltung (deren Instrument die Institution des Beamtentums ist) zu erfüllen. Diese nicht beamtenspezifische Grundrechtsbegrenzung aus den Funktionserfordernissen des Staates gilt für den gesamten öffentlichen Dienst, also auch für die Vertragsbediensteten. Der Grundrechtsschutz im innerdienstlichen Bereich führt jedoch nicht dazu, daß die Funktionsfähigkeit der Exekutive dem Privatinteresse des Beamten geopfert wird oder nur mit knapper Not aufrechterhalten werden kann. Der Beamtenstatus ist dazu geschaffen, die optimale Wirksamkeit der Verwaltung im grundgesetzlichen Gemeinwesen sicherzustellen. Grundrechtsbeschränkungen, die in den Dienstpflichten der Beamten liegen, sind die unerläßliche Vorbedingung dafür, daß die Verwaltung die Grundrechte der Bürger wahren und schützen kann. c) Der Privatbereich Grundsätzlich hat der Beamte außerhalb des Dienstes als Privatperson und als Staatsbürger die gleiche grundrechtliche Freiheit wie jedermann. Trotzdem ist er auch

153

154

dann durch Art. 5 G G gedeckt, wenn es nicht unvereinbar sei mit der in Art. 33 V G G geforderten politischen Treuepflicht. Zum Vorrang des Art. 33 V G G vor Art. 14 G G : BVerfGE 3, 58 (153); 52, 303 (344f) st. Rspr. Näher: ISENSEE (Fn. 67) S. 6 0 - 7 3 . § 94 B B G , § 58 B R R G . Zu der Rechtsfolge einer unterlassenen Anhörung: BVerwG, B. v. 25. 10. 1979, in N J W 1980, S. 176.

156

157

Vgl. BVerfGE 39, 334 (367) zur politischen Treuepflicht. Allgemein: K. HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der B R D , 13. Aufl. 1982, Rdn. 325. Nur das amtstypische Risiko, das beim Polizisten anders liegt als beim Archivbeamten, ist zumutbar. Zum Abbruch des Dienstes im Unzumutbarkeitsfall:

ISENSEE

(Fn.

67)

S.

161 — 166. Zur Lehrverweigerung des Hochschullehrers: M .

25-29.

KRIELE in: Z R P

1972,

S.

1190

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

im außerdienstlichen Bereich nicht völlig von der Rücksichtnahme auf sein Amt freigestellt. So kann er zwar auf Grund seiner allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG in der Freizeit einer Nebentätigkeit nachgehen. Art und Umfang der Nebentätigkeit dürfen aber nicht dienstliche Interessen gefährden, insbesondere nicht die Arbeit im Hauptamt 1 5 8 . Die Freizügigkeit in der Wahl des Wohnortes findet ihre Grenze in der Residenzpflicht. Die private wie die staatsbürgerliche Freiheit stößt auf dienstrechtliche Schranken in dem Verbot, amtsbezogene Vorteile anzunehmen, und in den Pflichten zum achtungswürdigen Verhalten, zur politischen Mäßigung und zur Verfassungstreue. Auch wenn diese Dienstpflichten als hergebrachte Grundsätze in abstracto legitime Grundrechtsgrenzen bilden, ist ihre Reichweite im konkreten Fall nach dem Ubermaßverbot zu bestimmen. Zu Recht gilt nach § 45 I 2 BRRG ein außerdienstliches Verhalten des Beamten nur dann als Dienstvergehen, „wenn es nach den Umständen des Einzelfalles in besonderem Maße geeignet ist, Achtung und Vertrauen in einer für sein Amt oder das Ansehen des Beamtentums bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen". Als Grundregel für den außerdienstlichen Bereich gilt: so wenig Sonderpflichten des Beamten wie nötig, so viel gleiche Grundrechtsfreiheit wie möglich 159 . Die meisten dienstlichen wie außerdienstlichen Pflichten erledigen sich für den Beamten mit dem Eintritt in den Ruhestand oder dem sonstigen Ausscheiden aus dem aktiven Dienst. Es muß ein besonders strenger Maßstab angelegt werden, wenn eine nachwirkende Pflicht vor den Grundrechten gerechtfertigt werden soll. Legitime Nachwirkung zeitigen die Amtsverschwiegenheit und die Verfassungstreue. 5. Mitbestimmung Als hergebrachter Grundsatz gemäß Art. 33 V GG gilt auch die Personalvertretung 160 . Das Grundgesetz tritt in die Tradition ein, welche die Weimarer Reichsverfassung mit der Zusage besonderer Beamtenvertretungen nach näherer reichsgesetzlicher Bestimmung begründet hat (Art. 130 III WRV). Der Ausbau der Personalvertretung stößt aber auf verfassungsrechtliche Grenzen in dem ebenfalls hergebrachten Grundsatz, daß über Personalangelegenheiten des Beamten in der Regel allein die ihm vorgesetzten Dienstbehörden entscheiden 161 . Die Entscheidung über Einstellung, Beförderung, Versetzung und sonstige personelle Angelegenheiten des Beamten gehört zu den „Regierungsaufgaben, die wegen ihrer politischen Tragweite nicht generell der Regierungsverantwortung entzogen und auf Stellen übertragen werden dürfen, die von Regierung und Parlament unabhängig sind; andernfalls würde es der Regierung unmöglich gemacht, die von ihr geforderte Verantwortung zu tragen, da

158

Dazu näher: BVerfGE 52, 303 (343-345); 55, 207 (228f, 236-239); BVerwGE 25, 210 (219-221); 29, 304 (307f); 31, 241 (245); 41, 316 (319-323). Vorbildlich: BVerwGE 30, 2 9 - 3 4 (Religionsfreiheit des Polizeibeamten, der außer-

halb des Dienstes mit Hausbesuchen für die Zeugen Jehovas wirbt). 160

Vgl.

ULE (Fn.

1) S . 6 1 4 F ;

WINDSCHEID/ILBERTZ 161

GRABENDORFF/

Bundespersonalver-

tretungsgesetz, 5. Aufl. 1981, S. 27. So BVerfGE 9, 268 (286f).

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

1191

auf diese Weise unkontrollierte und niemand verantwortliche Stellen Einfluß auf die Staatsverwaltung gewinnen würden" 1 6 2 . Das demokratische Prinzip schränkt also die rechtspolitischen Möglichkeiten einer Mitbestimmung im öffentlichen Dienst ein 1 6 3 . Der Mitbestimmung zugänglich sind nur Maßnahmen, die den Bediensteten in rechtlich geschützten Eigeninteressen betreffen, soweit dadurch die Regierungsverantwortung nicht beeinträchtigt wird. Dagegen ist der Personalvertretung verwehrt, aus eigenem Recht Einfluß auf die Wahrnehmung der Staatsgewalt auszuüben und im Namen einer Bevölkerungsgruppe über die Belange der Allgemeinheit zu verfügen. Die demokratisch legitimierte Staatsleitung unterscheidet sich daher wesentlich von der grundrechtlich legitimierten Leitung eines Privatunternehmens, die in bestimmtem Umfang der Mitbestimmung der Arbeitnehmer unterworfen werden darf. Der Volkssouverän, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, duldet keinen Nebensouverän. Die Verwaltung der Demokratie kann daher nicht nach dem Muster der privaten Unternehmensverfassung von innen demokratisiert werden 1 6 4 . Wenn die Bediensteten eigenständige (Mit-)Entscheidung über staatliche Kompetenzen übernähmen, so bedeutete das eine Entdemokratisierung von Staatsfunktionen und deren Refeudalisierung: Schaffung von privatem Eigenbesitz am Amt.

V. Verfassungsrechtliche Besonderheiten des Richterstatus und des Soldatenstatus 1. Der Berufsrichter Der Richter steht in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis wie der Beamte. Gleichwohl erscheint er im Verfassungstext als eigene Kategorie neben dem Beamten (Art. 137 I G G ) . Seine Rechtsstellung muß durch besondere Gesetze geregelt werden (Art. 98 I, III G G ) . Die getrennten dienstrechtlichen Ordnungen für Beamte und Richter folgen aus der Gewaltenteilung zwischen vollziehender und rechtsprechender Gewalt 1 6 5 . Der Kern des Sonderstatus ist die sachliche und persönliche Unabhängigkeit des Richters. Er unterliegt in seiner rechtsprechenden Tätigkeit keiner Weisung; für ihn gilt, von gerichtsautonomer Selbstbindung abgesehen, allein das Gesetz. U m der sachlichen Unabhängigkeit des Amtes willen ist die dienstrechtliche Stellung besonders verfassungsrechtlich abgesichert. Entlassung, Amtsenthebung, Versetzung und andere Statusveränderungen, die wider den Willen des Betrof-

162

163

Zitat: B V e r f G E 9, 268 (282). Inhaltsgleich die Rahmenvorschrift des §104 S. 3 BPersVG. D a z u W. LEISNER Mitbestimmung im öffentlichen Dienst, 1970, S. 4 4 - 5 1 , 6 6 - 7 8 ; G . PÜTTNER Mitbestimmung und Mitwirkung des Personals in der Verwaltung, in: H . J . v. OERTZEN (Hrsg.) „Demokratisier u n g " und Funktionsfähigkeit der Verwalt u n g , 1 9 7 4 , S . 73 - 9 4 ; W . S C H M I T T G L A E S E R

164

165

Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, in: W D S t R L 31 (1973) S. 2 3 2 - 2 3 4 ; K. P. HOSCHKE Mitbestimmungskonkurrenzen im öffentlichen Dienst, Diss. Saarbrücken 1977, S. 8 1 - 1 7 4 . Grundlegend dazu: H . KELSEN V o m Wesen und Wert der Demokratie, 2 1929 (Neudr. 1963) S. 6 9 - 7 7 . Vgl. B V e r f G E 26, 141 (155).

1192

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

fenen erfolgen, werden an spezifische Bedingungen geknüpft (Art. 97 II GG) 166 . Die richterliche Unabhängigkeit verbietet jede vermeidbare Einflußnahme der Exekutive auf die Stellung des Richters. Deshalb darf das Aufsteigen eines Richters im Gehalt nicht dem Ermessen der Verwaltung anheimgestellt bleiben; der Richter hat Anspruch auf gleiches, „festes", d. h. gesetzlich genau vorgeschriebenes und von Entscheidungen der Justizverwaltung unabhängiges Gehalt 167 . Ohne amtsangemessene Besoldung ist richterliche Unabhängigkeit nicht möglich 168 . Die spezifische verfassungsrechtliche Grundlage des Richterstatus liegt in Art. 97 und Art. 98 GG. Die Strukturgarantie des Art. 33 V GG tritt ergänzend hinzu, soweit ihr Gehalt der Eigenart des Richteramtes gemäß ist 169 . Aus Art. 33 V GG ergeben sich hergebrachte Grundsätze des Richteramtsrechts, die der Gesetzgeber zu beachten hat. Dazu gehören auch Individualrechte wie der Anspruch auf angemessenes Gehalt 170 und angemessene Amtsbezeichnung 171 . Auch sonst gleicht das Dienstverhältnis des Richters weitgehend dem des Beamten, vom hoheitlichen Charakter bis zum Streikverbot. Das Grundgesetz statuiert einen Funktionsvorbehalt für Richter: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut" (Art. 92/1 GG). Gleichwohl erhält der allgemeine Funktionsvorbehalt des Art. 33 IV GG auch für Richter Bedeutung. Er sichert den Vorrang des Berufsrichters (der in einem Dienstverhältnis steht) vor dem ehrenamtlichen Richter 172 . 2. Der Berufssoldat Die Garantie des Art. 33 V GG gilt nicht für den Berufssoldaten. Das Grundgesetz bietet auch sonst keine vergleichbare institutionelle Gewährleistung 173 . Es rezipiert keine hergebrachten Grundsätze des Soldatenrechts. Die Wehrverfassung baut nicht auf einer Tradition auf; sie ist ein verfassungsrechtlicher Neubau, der den Anforderungen der grundgesetzlichen Demokratie gemäß entworfen worden ist. Der neue Akzent liegt in Art. 17a I GG: Der redaktionellen Form nach ein spezieller Gesetzesvorbehalt, macht die Vorschrift das verfassungspolitische Leitbild des „Bürgers in Uniform" sichtbar. Der Soldat (gleich, ob Berufssoldat, Soldat auf Zeit oder Wehrpflichtiger) bleibt auch in der militärischen Ordnung Grundrechtsträger 174 . GrundEine dienstrechtliche Besonderheit liegt in der Beteiligung des Parlaments an der Berufung der Richter (vgl. A r t . 94 I 2, 95 II, 98 IV, V G G ) . Zu der verfassungsrechtlichen Problematik: E . - W . BÖCKENFÖRDE Verfassungsfragen der Richterwahl 1 9 7 4 , S. 61 f f . i " Vgl. B V e r f G E 12, 81 ( 8 8 - 9 9 ) ; 2 6 , 79 ( 7 3 f ) . B V e r f G E 12, 81 ( 8 8 ) . - Die Besoldung ist primär nach der richterlichen A u f g a b e (nicht nach den mit dem A m t verbundenen V e r waltungsaufgaben) zu bemessen ( B V e r f G E 2 6 , 79 ( 9 3 ) ; 3 2 , 199 ( 2 1 4 ) ) . Dagegen: Sonderv o t u m der Richter GELLER, RUPP und WAND in: B V e r f G E 3 2 , 2 3 0 f . 166

169

170 171 172

174

Die Rspr. des B V e r f G ist in der Bestimmung des Verhältnisses v o n A r t . 9 7 zu A r t . 33 V G G uneinheitlich. D a z u mit N a c h w . : H . LECHELER in: A ö R 103 ( 1 9 7 8 ) , S. 3 7 8 - 3 8 0 . Vgl. B V e r f G E 2 6 , 79 (93); 2 6 , 1 4 1 ( 1 5 4 f ) . Vgl. B V e r f G E 38, 1 (12). Vgl. R. HERZOG in: MAUNZ/DÜRIG (Fn. 35), A r t . 92/Rdn. 87. Grundlegend zur A n wendbarkeit des A r t . 33 IV und V G G auf Richter: K . A . BETTERMANN, D e r Richter als Staatsdiener, 1 9 6 7 . B V e r f G E 3, 2 8 8 ( 3 3 4 f ) ; 1 6 , 94 ( l l O f ) . D a z u DÜRIG in: MAUNZ/DÜRIG (Fn. 35), A r t . 17a/Rdn. 1 - 3 4 ; P . LERCHE in: G R IV/ 1, 1 9 6 0 , S. 4 4 7 - 5 3 5 .

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

1193

rechtseinschränkungen, die nur für Angehörige der Streitkräfte gelten, sind allein für die eigens aufgeführten Grundrechte der Art. 5 1 1 , 8 und 17 G G zulässig. Im übrigen gelten die Grundrechte nicht anders als im „zivilen" Bereich: Der Soldat genießt innerhalb und außerhalb des Dienstes den Schutz der Grundrechte wie jedermann, es sei denn, daß legitime Erfordernisse der Bundeswehr gesetzlich vorgesehene Modifikationen rechtfertigen. Als Amtswalter der Bundeswehr — in Wahrnehmung militärischer Staatsgewalt — ist der Soldat dagegen grundrechtsgebunden, nicht aber grundrechtsfähig. Soweit die Besonderheiten der militärischen Effizienz und Disziplin nicht vorherrschen, folgt das Dienstrecht des Berufssoldaten weithin den gleichen Grundsätzen wie das Beamtenrecht: den Strukturen des öffentlichen Rechts, der besonderen Treue- und Fürsorgepflicht. Der Besoldungsanspruch des Soldaten entspricht nach Rechtsnatur und Rechtsgrund dem des Beamten. Gleichwohl ergibt sich seine verfassungsrechtliche Absicherung nicht aus Art. 33 V GG in direkter oder analoger Anwendung, sondern aus dem allgemeinen Eigentumsgrundrecht 175 .

VI. Verfassungsrechtliche Aspekte des Arbeitnehmerstatus 1. Die Kehrseite der grundgesetzlichen Garantie des Beamtentums Der Anteil der Arbeitnehmer am öffentlichen Dienst überwiegt heute den der Beamten 176 . Für das Grundgesetz ist jedoch das Recht des Vertragsbediensteten kein eigenes Regelungsthema 177 . Es erwähnt ihn zwar beiläufig als Kategorie neben dem Beamten 178 . Es bezieht ihn einschlußweise oder ausdrücklich in Regelungen ein, die für den öffentlichen Dienst ingesamt gelten: Gesetzgebungskompetenzen (Art. 73/ Nr. 8, Art. 75/Nr. 1 GG), Zugang zum öffentlichen Dienst (Art. 33 II, III GG), Amtshaftung (Art. 34 GG), Wählbarkeitsbeschränkung (Art. 137 I GG). Indirekt aber trifft das Grundgesetz eine Entscheidung. Die institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums enthält die Absage an den Arbeitnehmerstatus, und zwar in zweifacher Hinsicht: — Arbeitnehmern darf in der Regel die Ausübung von hoheitsrechtlichen Dauerbefugnissen nicht übertragen werden (Art. 33 IV GG). — Das verfassungspolitische Leitbild für das Recht des öffentlichen Dienstes ist das Berufsbeamtentum in seinen hergebrachten Grundsätzen, nicht aber das Arbeitsrecht (Art. 33 V GG).

i " B V e r f G E 16, 94 (116); 22, 387 (422); 31, 212 (220 f). 1 7 6 Statistik s. oben Fn. 86. 1 7 7 Auch die Rechtswissenschaft wendet den verfassungsrechtlichen und dienstrechtlichen Besonderheiten des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst (im Unterschied zu denen des

Beamtenrechts) wenig Aufmerksamkeit zu. V g l . a u c h v . M Ö N C H ( F n . 1) S . 8 5 . 178

Art. 131 G G ( „ . . . beamten- oder tarifrechtlichen Gründen . . . " ) ; Art. 137 I ( „ . . . Angestellten des öffentlichen Dienstes . . .").

1194

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

2. Das arbeitsrechtliche Regelungsverfahren und die demokratische Staatsverfassung Die Vertragsfreiheit, die von Rechts wegen dem einzelnen Arbeitnehmer zusteht, hat im öffentlichen Dienst nur geringe praktische Bedeutung. Sie macht den eigentlichen Unterschied zum Beamtenrecht nicht aus. Denn der normale Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes hat effektiv nur die Freiheit zum Vertragsabschluß gemäß den tarifrechtlich vorgeprägten Bedingungen; diese Freiheit geht nicht über jene des Beamten hinaus, der die Zustimmung zu seiner Ernennung gibt. Für den Großteil der Vertragsbediensteten besteht keine Möglichkeit zu individueller Vertragsgestaltung und zu außertariflichen oder übertariflichen Vereinbarungen. Die tarifvertraglichen Regelungen erweisen sich für den typischen Arbeitnehmer nicht minder starr, egalitär und schematisch als die gesetzlichen f ü r den Beamten.

Der wesentliche Unterschied liegt nicht im Inhalt der dienstrechtlichen Regelungen, sondern im Regelungsverfahren. Der Arbeitnehmerstatus wird durch den Tarifvertrag konstituiert wie der Beamtenstatus durch das Gesetz. Das Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes übernimmt sein Regelungsverfahren aus der Privatwirtschaft, in der es sich, ihren Konflikts- und Ordnungsstrukturen gemäß, entwickelt hat. Die Tarifautonomie des genuinen, privatwirtschaftlichen Anwendungsbereichs findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage im Grundrecht der Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG) 1 7 9 . Sie ist zwar nicht unmittelbarer Bestandteil des Grundrechts, wohl aber eine situationsgerechte Ausgestaltung unterhalb der Verfassungsordnung. Die privatwirtschaftskonforme Grundrechtskonkretisierung gerät in Widerspruch zu der demokratischen Staatsstruktur, wenn sie auf den öffentlichen Dienst übertragen wird, wenn also nicht der Privatunternehmer als Anwalt des Gegeninteresses Tarifpartner der Gewerkschaften ist, sondern der Staat, der das Gemeinwohl zu vertreten hat. Die demokratische Form der Gemeinwohlfindung durch Interessenausgleich ist die Gesetzgebung. Ihre Voraussetzung ist die souveräne, einseitige, letztverantwortliche Entscheidungskompetenz des Parlaments. Prärogative des Parlaments ist die Etathoheit. Die Verfügungsmacht über die Staatsausgaben aber wird mit der Tarifautonomie effektiv verlagert auf die Tarifpartner: Exekutive und Gewerkschaft. Dem Parlament bleibt praktisch nur die Ratifikation des Verhandlungsergebnisses. In ganzer Schärfe tritt der Konflikt zwischen Tarifautonomie und Demokratieprinzip zutage, wenn die öffentlichen Arbeitnehmer den Streik als Waffe in den Tarifauseinandersetzungen einsetzen. Kampfziel ist letztlich, die Allgemeinheit zu nötigen, mit ihren Steuerleistungen Tariferhöhungen zu finanzieren. Den Gewerkschaften fällt die Entscheidung darüber zu, ob der soziale Rechtsstaat seine gesetzlich und verfassungsrechtlich gebotenen Dienste dem Bürger erbringt oder abbricht. Die Souveränität wandert aus dem parlamentarischen System zu der Gruppenorganisation aus, die die Monopolstellung des öffentlichen Dienstes für sich ausnutzt. Der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst hat also ein demokratisches Defizit. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit gleicht es nicht aus, weil das Grundrecht nur die Freiheit der Einzelnen und ihrer Vereinigungen schützt und ein Freiheitsgrundrecht keine Verfügungsmacht über Funktionen der Staatsgewalt verleiht, die in der Demokratie allein dem Volk und seiner gewählten Vertretung zukommen. 179

Dazu mit Nachw. R. SCHOLZ in: MAUNZ/ DÜRIG (Fn. 35) A r t . 9 III/Rdn. 2 9 9 - 3 3 0 .

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

1195

Das Tarifpersonal des öffentlichen Dienstes trägt nicht das gleiche Streikrisiko wie die Arbeitnehmer der Privatwirtschaft. Es riskiert nicht die Abwehraussperrung, weil nach herrschender Meinung dem Staat das Recht zur Aussperrung nicht zusteht. Mit Rücksicht auf die Allgemeinheit kann er seine Dienste nicht unterbrechen 1 8 0 . Der öffentliche Arbeitnehmer genießt weitgehend tariflichen Kündigungsschutz. Sein Status ist also dem des Beamten angenähert. Der Arbeitsplatz des Vertragsbediensteten ist sicher, weil der öffentliche Arbeitgeber konkursunfähig ist. Der Staat muß sich nicht auf dem Markte behaupten. Er erschließt seine wirtschaftlichen Mittel durch einseitige Hoheitsgewalt über die Steuer. Dem Streik im öffentlichen Dienst fehlt also die rechtliche Legitimation aus dem Risiko und die moralische Legitimation aus echter Waffengleichheit. Die Tarifautonomie

des ö f f e n t l i c h e n

D i e n s t e s ist eine

verfassungsrechtliche

A n o m a l i e 1 8 1 . G l e i c h w o h l ist sie n i c h t v e r f a s s u n g s w i d r i g , weil das G r u n d g e s e t z v o n d e r E x i s t e n z des T a r i f p e r s o n a l s a u s g e h t . Sie w i r d v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h t o l e r i e r t , n i c h t aber g a r a n t i e r t . D e r G e s e t z g e b e r k a n n g r u n d s ä t z l i c h das a r b e i t s r e c h t l i c h e R e g e l u n g s v e r f a h r e n d u r c h das d e m o k r a t i s c h e , das G e s e t z , e r s e t z e n , o h n e auf g r u n d r e c h t l i c h e n W i d e r s t a n d in A r t . 9 I I I G G z u s t o ß e n . A b e r a u c h s o l a n g e das

arbeitsrechtliche

R e g e l u n g s v e r f a h r e n beibehalten w i r d , d a r f d e r G e s e t z g e b e r die E n t s c h e i d u n g ü b e r dienstrechtliche

Angelegenheiten

an sich z i e h e n

(ius e v o c a n d i ) 1 8 2 .

Er

kann

die

A r b e i t s b e d i n g u n g e n einseitig f e s t s e t z e n u n d s o e i n e m b e s t e h e n d e n o d e r d r o h e n d e n T a r i f k o n f l i k t die G r u n d l a g e n e h m e n . D a s ius e v o c a n d i w i r d v o n d e n G e s e t z g e b u n g s k o m p e t e n z e n für d e n g e s a m t e n ö f f e n t l i c h e n D i e n s t ( A r t . 7 3 / N r . 8 u n d A r t . 7 5 / N r . 1 G G ) v o r a u s g e s e t z t . D e r V o r r a n g des G e s e t z e s gilt a u c h g e g e n ü b e r d e m T a r i f v e r trag183. P r o b l e m a t i s c h bleibt d e r Streik. G e g e n seine Zulässigkeit b e s t e h e n v e r f a s s u n g s rechtliche Bedenken.

B i s h e r h a t n i e m a n d juristisch plausibel b e g r ü n d e t ,

d a ß die

A r b e i t s n i e d e r l e g u n g ein legitimes D r u c k m i t t e l g e g e n d e n d e m o k r a t i s c h e n R e c h t s s t a a t sei. T r o t z d e m gehen die Staatspraxis u n d die h e r r s c h e n d e L e h r e v o m S t r e i k r e c h t des T a r i f p e r s o n a l s a u s 1 8 4 . W e n n ü b e r h a u p t , s o k a n n ein S t r e i k r e c h t n u r in e n g e n G r e n z e n

180

2 3 - 4 5 ; SCHOLZ ebda, S. 1 7 9 - 1 9 8 . Zum ius evocandi: B. RÜTHERS Streik und

Für ein Streikrecht der Vertragsbediensteten: M. LÖWISCH Zulässiger und unzulässiger Arbeitskampf im öffentlichen Dienst, 1980, S. 8 (Nachw.); H . - P . SCHNEIDER in: Deutsche Postgewerkschaft, Hauptvorstand (Hrsg.), Recht auf Streik im öffentlichen Dienst, 1981, S. 14f (Nachw.); W . DÄUBLEF Der Streik im öffentlichen Dienst, 2. Aufl. 1971, S. 2 1 - 2 4 , 9 4 - 9 7 (Nachw.). - Streikverbot jedenfalls für Angestellte, die im H o heitsbereich des Art. 33 IV G G eingesetzt werden: SCHOLZ (Fn. 179) Art. 9/Rdn. 379;

V e r f a s s u n g , 1 9 6 0 , S. 1 3 0 f ; P . LERCHE V e r -

D E R S . ( F n . 1 8 0 ) S . 1 8 2 - 1 8 8 ; I . v . MÜNCH

fassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, 1968, S. 50f. Zu dem analogen Problem des Vorrangs des Gesetzes vor Kirchenverträgen: H. QUARITSCH in: FS-Schack, 1966, S. 1 2 9 - 1 3 9 ; U . SCHEUNER Schriften zum Staatskirchenrecht,

in: D Ö V 1982, S. 3 3 8 - 3 4 0 . - Grundsätzliches Streikverbot für die Vertragsbediensteten: G . WACKE Grundlagen des öffentlichen Dienstrechts, 1957, S. 90; DERS. Das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst, 5. Aufl. 1964, S. 29; v. MAN-

S o F . MAYER i n : FORSTHOFF u . a . ( F n . 1 1 ) S . 6 7 0 ; R . SCHOLZ i n : LEISNER ( H r s g . ) D a s B e -

rufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975, S. 190f. Für das Aussperrungsrecht des öffentlichen Arbeitgebers: H.-P. SCHNEIDER in: Deutsche Postgewerkschaft, Hauptvorstand, 1980, S. 17f. - Zu anderen Möglichkeiten der Streikabwehr: W. LEISNER in: Z B R 1975, S. 6 9 - 7 5 . 181

182

183

N ä h e r : J . ISENSEE i n : LEISNER ( F n . 1 8 0 ) S.

1973, S. 369 f; H .

WEBER

Grundprobleme

des Staatskirchenrechts, 1970, S. 50—53.

184

GOLDT/KLEIN D a s B G G , 2 . A u f l . 1 9 6 6 , S . 3 3 4 ; ISENSEE ( F n . 1 8 1 ) S . 3 8 .

1196

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

gegeben sein: unter möglichster Schonung der demokratischen Entscheidungskompetenz und der Funktionsfähigkeit des sozialen Rechtsstaats. Dem Staat ist es unbenommen, im Streik des Tarifpersonals Beamten die Funktionen zu übertragen, die sonst unterbrochen würden. Die Regierung wird nicht durch eine Pflicht zur Neutralität gehindert, Beamte an Stelle streikender Arbeitnehmer einzusetzen, weil sie Partei des Arbeitskampfes, also nicht streikneutral ist, vor allem, weil sie für die Funktion der Verwaltung dem Parlament und der Öffentlichkeit gegenüber Verantwortung trägt. Diese Verantwortung entfällt auch nicht dadurch, daß die streikende Gewerkschaft von sich aus Notdienste organisiert. Die demokratische Regierung kann ihre verfassungsrechtliche Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, die Daseinsvorsorge, das Sozialleistungssystem nicht an eine gesellschaftliche Organisation abgeben, die durch das Gesamtvolk nicht legitimiert ist und der Volksvertretung keine Rechenschaft schuldet. — E s gibt auch keine dienstrechtliche Solidarität der Beamten mit den streikenden Arbeitnehmern. E s gibt nur die dienstrechtliche Solidarität mit dem Staatsvolk, in dessen Dienst die Beamten stehen. Gewerkschaftliche Gruppeninteressen heben die Dienstpflichten nicht auf. Die hergebrachten G r u n d s ä t z e des Berufsbeamtentums gewährleisten die unbedingte Dienstbereitschaft des Beamten und die ausschließliche Ausrichtung des Amtes auf die parlamentarisch repräsentierte Allgemeinheit 1 8 5 .

Eine gesetzespolitische Vorkehrung gegen gemeinwohlschädliche Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst wäre die Einführung der Zwangsschlichtung. Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nicht. 3. Das Arbeitsverhältnis als öffentliches Dienstverhältnis eigener Art Das Arbeitsverhältnis hat sich den Erfordernissen des Verfassungsstaates anzupassen. Die Pflichten des Vertragsbediensteten müssen sich in weitem Umfang denen des Beamten angleichen, auch wenn sie insgesamt nicht den Standard der hergebrachten Grundsätze des Art. 33 V G G erreichen. So schulden die Arbeitnehmer dem Dienstgeber Loyalität und die gewissenhafte Erfüllung ihrer dienstlichen Obliegenheiten. Auch sie dürfen den Staat, in dessen Dienst sie stehen, und seine Verfassungsordnung nicht angreifen 186 . Auch für den Angestellten gilt das Gebot der Amtsverschwiegenheit 1 8 7 . Die Grundrechte, die dem Arbeitnehmer innerhalb und außerhalb des Dienstes zustehen, erleiden die Einschränkungen, die um der Funktionsfähigkeit der Verwaltung willen unerläßlich sind 1 8 8 . Die Folge der staatlichen und der staatsrechtlichen Besonderheiten ist es, daß sich das Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes zunehmend von dem der Privatwirtschaft entfernt, sich den Strukturen des Beamtenverhältnisses angleicht und zum eigenständigen Dienstverhältnis entwickelt. Diese rechtspolitische Tendenz entspricht der Grundentscheidung der Verfassung in Art. 33 IV, V G G : daß die Normalform des öffentlichen Dienstes das öffentlich-rechtliche Dienst- und Treueverhältnis ist.

18S

Für die Zulässigkeit eines Streikeinsatzes der Beamten: LEISNER (Fn. 180) S. 71 f; v. MÜNCH (Fn. 184) S. 3 4 0 - 3 4 4 ; V G Düsseldorf U . v. 23. 3. 1982 in: Z B R 1982, S. 241 ff. D a g e g e n : SCHNEIDER (Fn. 180) S.

187 188

9 - 3 3 ; G . MÜLLER in: R d A 1982, S. 86-114. Vgl. B V e r f G E 39, 334 (335 L s . 7, 355f). D a z u : B V e r f G E 28, 181 ( 1 9 8 - 2 0 4 ) . Vgl. B V e r f G E 28, 191 ( 1 9 8 - 2 0 4 ) ; 39, 334 (355f).

2. Abschnitt, öffentlicher Dienst (ISENSEE)

1197

VII. Die Gesetzgebungskompetenzen für das Recht des öffentlichen Dienstes Die Gesetzgebungszuständigkeiten für das Recht des öffentlichen Dienstes liegen im wesentlichen beim Bund. Den Ländern sind relativ schmale Restkompetenzen verblieben. Gleichwohl ist die verfassungsrechtliche Verteilung kompliziert. 1. Der Bund hat die ausschließliche Vollkompetenz für das Recht aller Bundesbediensteten. Die Gesetzgebungszuständigkeit für die Beamten, Soldaten und Arbeitnehmer ergibt sich aus Art. 73/Nr. 8 G G , die für die Bundesrichter aus der Sondernorm des Art. 98 I G G . Die Kompetenz erstreckt sich auf alle Fragen der Entstehung, der Beendigung und der Nachwirkung der Dienstverhältnisse, auf die Rechte und Pflichten der Bediensteten einschließlich Besoldung und Versorgung, des Rechtsschutzes, auch des materiellen Disziplinarrechts und des Disziplinarverfahrensrechts sowie des Personalvertretungsrechts 189 . 2 a) Der Bund besitzt gemäß Art. 75/Nr. 1 G G die Rahmenkompetenz für die Rechtsverhältnisse der im öffentlichen Dienste der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Personen: also der Beamten und der Arbeitnehmer der unmittelbaren wie der mittelbaren Landesverwaltung 190 . Die analoge Rahmenkompetenz besteht für Landesrichter (Art. 98 III 2 GG). b) Eine Sonderregelung erfahren allerdings die Besoldung und Versorgung der Landesbeamten (i. w. S.) und der Landesrichter. Der Bund hat für diesen Ausschnitt der Dienstrechtsmaterie die konkurrierende Vollkompetenz übernommen (Art. 74 a I, IV GG). Er kann somit die Besoldungspolitik auf allen Ebenen der Staatsorganisation bestimmen, besoldungspolitischen Wettbewerb der Anstellungskörperschaften verhindern und ein einheitliches Besoldungsgefüge sicherstellen. Die Besoldungs- und Versorgungskompetenz, die dem Bund über eine Verfassungsänderung im Jahre 1971 zugefallen ist, rührt an den Kern der Bundesstaatlichkeit, den auch die Verfassungsrevision nicht antasten darf: die Organisations-, die Personal- und die Finanzhoheit der Länder. D e r Bund hat die Kompetenz nach der Maxime des bundesfreundlichen Verhaltens schonend auszuüben. Er muß den Ländern die Möglichkeit offen halten, im Zuge von Reformen und strukturellen Änderungen ihrer Organisation Ämter mit neuem Amtsinhalt einschließlich ihrer der Struktur der Bundesbesoldungsordnung für Landesbeamte entsprechenden besoldungsrechtlichen Einstufung in eigener Verantwortung zu schaffen 1 9 1 . Die Kompetenz m u ß eng ausgelegt werden. „Besoldung" umfaßt nur die Dienstbezüge im Sinne von § 1 II BBesG, nicht etwa auch Beihilfe, Aufwandsentschädigung, Reisekosten. Die Kompetenz erstreckt sich nicht auf das Recht der Laufbahnen, der Amtsbezeichnungen und sonstiger dienstrechtlicher Materien, die mit der Besoldungsordnung zusammenhängen 1 9 2 .

3. Die Kompetenznorm des Art. 74 a G G bestätigt den hergebrachten Grundsatz des Beamten- und des Richterrechts, daß Besoldung und Versorgung der Regelungshoheit des Gesetzgebers, nicht aber der Disposition von Tarifparteien 189

Dazu: BVerfGE 7, 120 (127); 39, 128 (141);

191

MAUNZ in: MAUNZ/DÜRIG ( F n . 35) A r t . 73/ 190

Rdn. 11. Zu den Grenzen dieser Rahmenkompetenz: BVerfGE 4, 115 (126-138); 7, 120(127f);9, 268 (288).

192

So BVerfGE 34, 9 (21). Vgl. auch

W.

SCHICK i n : F S - M a u n z , 1981, S. 2 8 1 - 2 9 6 . V g l . MAUNZ ( F n . 189) A r t . 7 4 a / R d n . 2 ; I. v. MÜNCH i n : v. MÜNCH ( H r s g . ) G r u n d g e -

setz-Kommentar, Bd. 3, 1978, Art. 74a/ Rdn. 5 - 7 .

1198

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

unterliegen 193 . Es ist folgerichtig, daß sich die Besoldungs- und Versorgungskompetenz nicht auf die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes erstreckt, deren Vergütung in Tarifverträgen und deren Alterssicherung durch Sozialversicherungsgesetze geregelt werden. Für das Tarifpersonal des öffentlichen Dienstes gelten allerdings die allgemeinen, umfassenden Gesetzgebungskompetenzen aus Art. 73/Nr. 8 und 75/ Nr. 1 G G ; praktische Bedeutung haben sie für das Recht der Personalvertretung bekommen. Soweit sonst gesetzliche Regelungen für die Vertragsbediensteten bestehen, sind es zumeist Gesetze der allgemeinen Kompetenztitel „Arbeitsrecht" und „Sozialversicherung" (Art. 74/Nr. 12 GG), also Gesetze ohne besonderen Bezug zum öffentlichen Dienst.

193

V g l . P. HANAU in: J u S 1971, S. 121.

3. Abschnitt

Die Rechtsprechung WOLFGANG HEYDE

I. Die dritte Gewalt als besondere staatliche Grundfunktion 1. Art. 92 GG und die anderen verfassungsrechtlichen Grundlagen der Rechtsprechung Welche Wirklichkeit Gerechtigkeit, Recht und Freiheit in einem politischen System haben, ist nicht allein an den Normen und Zusicherungen der Verfassungsurkunde ablesbar. Die reale Kraft des Rechts, das Ausmaß an Gerechtigkeit, Freiheit und Ordnung, an Schutz und Förderung, die es gewähren kann, hängt von der Art und Weise der Verwirklichung des Rechts durch die Rechtspflege ab 1 . Das Grundgesetz hat die Gerichtsbarkeit deshalb in gewisser Weise aus dem System der drei in Art. 20 Abs. 2 G G genannten Gewalten — staatlichen Grundfunktionen — herausgehoben. Darin liegt gleichzeitig eine elementare Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips. Die rechtliche Stellung der Richter (vgl. insbesondere Art. 97 GG), die Organisation der Gerichte und die Gestaltung der gerichtlichen Verfahren sind ein Kernstück des Rechtsstaats. Nur die Existenz neutraler, unabhängiger Gerichte vermag letztlich zu gewährleisten, daß die Gesetze beachtet werden und Gerechtigkeit im Sinn des materiellen Rechtsstaatsbegriffs herrscht. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder herausgestellt, der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, soweit er die Idee der Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil enthalte, verlange die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege 2 . a) Die Gerichtsbarkeit im System des gewaltenteilenden Rechtsstaats Der IX. Abschnitt des Grundgesetzes „Die Rechtsprechung" faßt die vom Verfassungsgeber als wesentlich erachteten organisatorischen, funktionellen und verfahrensmäßigen Normen für die Tätigkeit der Gerichte zusammen. (Soweit diese die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit betreffen, sind sie Gegenstand eines eigenen Beitrags (von H E L M U T SIMON), können also hier im allgemeinen ausgeklammert werden.) Auch außerhalb des IX. Abschnitts enthält das Grundgesetz Regelungen, die 1

Vgl. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation (1972), BT-Drucks. VI/3080 T z . 109.

2

BVerfGE 36, 174/186; speziell zur f u n k tionstüchtigen Strafrechtspflege u. a. BVerfG E 51, 324/343 f.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1200

die Tätigkeit der Gerichte bestimmen. Dies gilt insbesondere für den Gewaltenteilungsgrundsatz (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), die Rechtsschutz- und Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 G G , Art. 1 Abs. 3 G G mit der Anordnung unmittelbar geltender Grundrechtsbindung und generell für das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) wie auch das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Grundnorm ist Art. 92 G G : „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt." Sie ist in ihrem ersten Teil von großer sprachlicher Kraft. Die Begriffe „rechtsprechende Gewalt", „den Richtern", „anvertraut" stellen heraus, daß die Gerichtsbarkeit in dem freiheitlichen Rechtsstaat des Grundgesetzes einen hohen Rang haben soll. Sie machen den Standort der Gerichtsbarkeit im System des gewaltenteilenden Rechtsstaats deutlich. Die maßgebliche grundrechtliche Gewährleistung enthält Art. 19 Abs. 4 G G : „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben." Diese Rechtsschutzgarantie wird durch die — seit 1968 auch im Grundgesetz selbst verankerte — Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) — ebenfalls eine spezifisch deutsche Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips3 — ergänzt; sie ermöglicht bei Grundrechtsverletzungen die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts. Der Zugang zu den Gerichten ist verfassungsrechtlich aber auch dann gewährleistet, wenn es nicht um den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt, sondern unter Privaten geht. Die Rechtsschutzgarantie folgt insoweit allerdings nicht aus der Spezialnorm des Art. 19 Abs. 4 G G , sondern aus dem Rechtsstaatsprinzip selbst, das für bürgerlich-rechtliche Rechtsstreitigkeiten im materiellen Sinn einen wirkungsvollen Rechtsschutz garantiert4. Es ist ein zentrales Anliegen der Rechtsstaatlichkeit, die eigenmächtig gewaltsame Durchsetzung von Rechtsansprüchen zwischen Privaten grundsätzlich zu verwehren und diese auf den Weg vor die Gerichte zu verweisen. Dort sollen sie ihren Streit in einem geordneten Rechtsgang gewaltlos austragen und eine verbindliche Entscheidung erwirken. In der Gerichtsbarkeit drücken sich also außerstaatliches Gewaltverbot und staatliches Gewaltmonopol aus. Strenge Trennung von den beiden anderen Gewalten Die Grundstruktur der Rechtsprechung als aus den anderen Gewalten herausgehobener Funktion bedingt eine strenge Sonderung der rechtsprechenden von den übrigen Gewalten. Das heißt zwar nicht, daß ein Richter in einem gewissen, eng begrenzten Umfang nicht auch Verwaltungsaufgaben wahrnehmen dürfte. Jedoch sind die besondere Stellung des Richters und seine verfassungsrechtlich garantierte sachliche und 3

HERZOG in: MAUNZ/DÜRIG, Komm. z. G G , Art. 20 - Rechtsstaatlichkeit, 1980, Rdn. 27.

4

BVerfGE 54, 277/291 f (Plenarbeschluß).

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1201

persönliche Unabhängigkeit (Art. 97 G G ) von vornherein ein Riegel für eine irgendgeartete Verbindung von Gerichten mit Organen anderer Gewalten, vor allem den Verwaltungsbehörden. Das Gewaltenteilungsprinzip in seiner in das Grundgesetz eingegangenen historisch gewordenen Gestalt fordert richterliche Neutralität. In diesem Sinn ist der richterlichen Tätigkeit wesenseigen, daß sie von einem nichtbeteiligten Dritten in sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit ausgeübt wird 5 . Niemand darf Richter in eigener Sache sein (Ausschluß einer Pflichtenkollision). Dies setzt gleichzeitig voraus, daß die Gerichte organisatorisch hinreichend von den Verwaltungsbehörden getrennt sind; eine zu enge personelle Verzahnung zwischen den Organen der rechtsprechenden Gewalt und der vollziehenden Gewalt ist unzulässig6. b) Rechtsprechung als staatliche Aufgabe Rechtsprechung i. S. des Grundgesetzes ist eine staatliche Aufgabe. Aus dem Demokratieprinzip ergibt sich, daß — wie auch die beiden anderen staatlichen Grundfunktionen — rechtsprechende Gewalt nur durch „staatliche", nicht auch durch Organe der Berufsorganisationen wahrgenommen werden darf. Gerichte im Sinn des Art. 92 G G sind also staatliche Gerichte 7 , die auf staatlichem Gesetz beruhen. Dies schließt zwar Gerichte als Einrichtungen der Berufsorganisationen nicht aus. Die Gerichte brauchen nicht in der Form einer unmittelbaren staatlichen Einrichtung geschaffen zu werden; sie können auch einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zugeordnet sein. Ein von einer Standesorganisation getragenes Gericht erfüllt jedoch das Merkmal „staatlich" nur dann, wenn es auf staatlichem Gesetz beruht und seine Bindung an den Staat auch in personeller Hinsicht ausreichend gewährleistet ist. Dazu gehört, daß der Staat bei der Berufung der Richter mitwirkt. Anderenfalls bestände die Gefahr einer — dem demokratischen Staat fremden — ständischen Gerichtsbarkeit. Die Justizverwaltung muß deshalb bei der Ernennung der aus der jeweiligen Berufsorganisation stammenden Gerichtsmitglieder einen nicht unerheblichen Spielraum haben. Die Gerichte führen — wie alle Staatsorgane — ihren Auftrag letztlich auf die Volkssouveränität und die Autorität des Staates zurück. Daneben finden sie ihre Legitimation in der „Souveränität des Rechts" 8 . Das Grundgesetz hat sie zu Hütern des Rechts auch gegenüber Legislative (vgl. Art. 100 Abs. 1 G G ) und Exekutive bestellt. Diese besondere Stellung der Gerichte macht nun allerdings die Fachgerichte und ihre Richter nicht zu Verfassungsorganen. Um die Würde des Richteramts, die Bedeutung der Rechtsprechung für Staat und Gesellschaft herauszuarbeiten, bedarf es dieser — im Bereich der dritten Gewalt allein dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltenen (vgl. § 1 BVerfGG) — Charakterisierung nicht 9 .

5 6 7

BVerfGE 26, 186/198; 27, 312/322. So BVerfGE 26, 186/197. So BVerfGE 26, 186/194ff. - Zur Ableitung aus d e m D e m o k r a t i e b e g r i f f : P . HÄBERLE B e -

rufsgerichte als „staatliche" Gerichte, in: D Ö V 1965, 369/372 f.

8

V g l . C H R . - F . MENGER M o d e r n e r Staat u n d

9

Rechtsprechung, 1968, S. 25. E. FRIESENHAHN Der Richter in unserer Zeit, in: DRiZ 1969, 169/170.

1202

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Allgemein sei noch darauf hingewiesen, daß sich den Bestimmungen des IX. Abschnitts des Grundgesetzes kein Verfassungsauftrag an den für die Regelung der Gerichtsverfassung (vgl. Art. 74 N r . 1 G G ) zuständigen Bundesgesetzgeber entnehmen läßt, die im Zeitpunkt der Schaffung des Grundgesetzes vorhandene, in ihren Grundzügen und ihrem Aufbau überkommene Gerichtsorganisation wesentlich zu ändern 10 . c) Rechtsschutz durch Gerichte des Bundes und der Länder Organisatorisch steht die Gerichtsbarkeit im System der bundesstaatlichen Aufgabenteilung zwischen dem Bund und den Ländern 1 1 . Art. 92 G G verteilt die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt auf „Bundesgerichte" und „Gerichte der Länder". Er ergänzt — in Verbindung mit Art. 95 und 96 G G — insoweit die bundesstaatlichen Grundregeln des Art. 30, des Art. 70 und des Art. 83 für den Bereich der dritten Gewalt. Es gibt Gerichte des Bundes und der Länder, dementsprechend auch Richter und Staatsanwälte im Bundesdienst und im Landesdienst. Der Rechtszug führt normalerweise von Gerichten der Länder zu einem obersten Gerichtshof des Bundes. Die Gerichte der Länder wenden Bundesrecht und Landesrecht an. 2. Begriff und Eigenart der Rechtsprechung In der Aussage des Art. 92 G G , daß die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist, liegt die positiv-rechtliche Bestimmung, daß Rechtsprechungsaufgaben nur von Richtern und von niemandem sonst wahrgenommen werden dürfen. Der einfache Gesetzgeber darf etwas, was inhaltlich Rechtsprechung ist, nicht anderen Stellen als Gerichten zur Ausübung zuweisen. Es bedarf deshalb der Klärung, was zur rechtsprechenden Gewalt gehört, was „Rechtsprechung" ist 1 2 . Das Grundgesetz gibt darauf unmittelbar keine Anwort; aus ihm lassen sich allerdings mittelbar Rückschlüsse ziehen, wie das Bundesverfassungsgericht in dem Urteil vom 6. 6. 1967 zur Strafgewalt der Finanzämter näher dargelegt hat 1 3 . 10 11

12

B V e r f G E 55, 372/388f. Vgl. hierzu die Übersicht im Beitrag von H . J . VOGEL S. 849f. Siehe zum folgenden: B V e r f G E 22, 4 9 / 7 3 f f ; N . ACHTERBERG in: B K Art. 92 (Zweitb. 1981), Rdn. 6 0 f f ; K . A. BETTERMANN Rechtsprechung, rechtsprechende Gewalt, in: Ev. StL, 2. Aufl. 1975, Sp. 2017/2026ff; E . FRIESENHAHN Über Begriff und Arten der Rechtsprechung unter besonderer Berücksichtigung der Staatsgerichtsbarkeit nach dem Grundgesetz und den westdeutschen Landesverfassungen, in: Festschrift Rieh. T h o m a , 1950 S. 21 ff; R. HERZOG in: MAUNZ/DÜRIG, K o m m . z. G G , Art. 92, 1971, Rdn. 20 ff; K . HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl., 1982, Rdn. 5 4 7 f f ;

O . R. KISSEL, Gerichtsverfassungsgesetz, K o m m . , 1981, Einl. Rdn. 136ff; W. MEYER in: VON MÜNCH G G - K o m m . , Bd. 3, 1978, Art. 92 Rdn. 4 f f ; E.

KERN/M.

WOLF

richtsverfassungsrecht, 5. A u f l . , 1975, 8 ff; G .

R O E L L E C K E u n d C H R . STARCK

Ge-

S. Die

Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung in: W D S t R L Bd. 34 (1976) S. 7 f f , 43 ff; K . STERN Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 889ff; U . SCHEUNER Der Bereich der Regierung, in: Rechtsprobleme in Staat und Kirche, Festschrift R. Smend zum 70. G e b . , 1952, S. 268/278; SCHMIDT-BLEIBTREU/ KLEIN K o m m . z. G G , 5. A u f l . , 1980, Art. 92 Rdn. 2 ff. » B V e r f G E 22, 49/73 ff.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1203

Das Grundgesetz geht — so das Bundesverfassungsgericht und die fast einhellige Meinung im Schrifttum zutreffend — von einem materiellen Begriff der Rechtsprechung aus. Dies ergibt der Sinnzusammenhang des Art. 92 G G im Gesamtgefüge der Verfassung. Die Hervorhebung der rechtsprechenden Gewalt in Art. 92 G G , der Zusammenhang mit den übrigen die Rechtsprechung betreffenden Vorschriften des Grundgesetzes und der historische Hintergrund der Entstehung des Art. 92 machen deutlich, daß die Vorschrift gegenüber den nur formalen Kriterien des Art. 103 WRV ein Mehr an verfassungsrechtlichen Garantien der rechtsprechenden Gewalt enthält. Die Sorgfalt, die das Grundgesetz der Hervorhebung der rechtsprechenden Gewalt als Institution und als Kontrollorgan der übrigen Gewalten widmet, wäre schwer verständlich, sollte ihr Umfang schlechthin dem einfachen Gesetzesvorbehalt unterliegen. Die inhaltliche Festlegung dessen, was Rechtsprechung begrifflich ist, bereitet allerdings erhebliche Schwierigkeiten. Dies zeigen schon die unterschiedlichen Definitionsversuche im Schrifttum. Sie zielen zwar im allgemeinen auf eine materielle Charakterisierung der Rechtsprechung, beschreiben dann aber zum Teil nicht den Begriff, sondern die Funktion. Das gilt z. B. für die an sich durchaus einleuchtende Definition von STERN. Nach ihm ist Rechtsprechung die in besonders geregelten Verfahren zu letztverbindlicher Entscheidung führende rechtliche Beurteilung von Sachverhalten in Anwendung des geltenden Rechts durch ein unbeteiligtes (Staats-) Organ, den Richter. Wenn hier zum Ausdruck kommt, daß ein „unbeteiligtes (Staats-)Organ", der Richter, entscheidet, dann wird schon in die Begriffsbestimmung selbst hineingenommen, was nach der systematischen Aussage des Art. 92 G G erst die Rechtsfolge sein soll. Das Grundgesetz sagt hier nämlich: Wenn eine bestimmte Tätigkeit weder Verwaltung noch Gesetzgebung, sondern „Rechtsprechung" ist, dann soll sie von einem „Richter", d. h. einer unabhängigen und neutralen Person wahrgenommen werden. Die Frage muß also lauten, welche Aufgaben nach den Vorstellungen des Verfassungsgebers so beschaffen sind, daß sie als typische Rechtsprechungsaufgaben qualifiziert sind oder qualifiziert werden müssen und damit von Verfassungs wegen Richtern im Sinne des Grundgesetzes vorbehalten sind 14 . Die Antwort kann zunächst bei den im Grundgesetz selbst enthaltenen Richterzuweisungen ansetzen. Es sind dies einmal z. B. die Rechtsweggarantien des Art. 19 Abs. 4 G G (repressive Rechtskontrolle bei Eingriffen der öffentlichen Gewalt), des Art. 14 Abs. 3 Satz 4 G G (Entschädigung bei Enteignung), des Art. 15 Satz 2 G G (Entschädigung bei Sozialisierung) sowie des Art. 34 Satz 3 G G (Schadensersatz bei Amtspflichtverletzung). Zum anderen lassen sich die Richtervorbehalte des Art. 13 Abs. 2 G G (Durchsuchung von Wohnräumen), des Art. 104 Abs. 2 und Abs. 3 G G (Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung), ferner auch des Art. 18 Satz 2 G G (Verwirkung von Grundrechten), des Art. 21 Abs. 2 G G (Verbot politischer Parteien), des Art. 100 Abs. 1 G G (Verfassungswidrigkeit nachkonstitutioneller Gesetze) und des Art. 100 Abs. 2 G G (Klarstellung der unmittelbaren Erzeugung von 14

Vgl. auch HESSE (Fn. 12) Rein. 548 Fn. 47.

1204

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Rechten und Pflichten des einzelnen durch Regelungen des Völkerrechts) heranzuziehen. Diese Aufgaben sind bei der begrifflichen Zusammenfassung der gerichtlichen Tätigkeit als rechtsprechender Gewalt durch Art. 92 GG mit umfaßt. Sie machen bereits einen sehr wesentlichen Teil der Tätigkeit der Gerichte aus. Es handelt sich um eine Reihe herkömmlich wichtiger „Aufgaben, die wegen der Schwere des Eingriffs und ihrer Bedeutung für die Rechtsstellung des Staatsbürgers am ehesten der Sicherungen eines gerichtlichen Verfahrens bedürfen" 15 . Darüber hinaus kann — ungeachtet der Schwierigkeiten einer exakten Grenzziehung im einzelnen — nicht bezweifelt werden, daß der Verfassungsgeber die traditionellen Kernbereiche der Rechtsprechung, bürgerliche Rechtspflege und Strafgerichtsbarkeit, der rechtsprechenden Gewalt zugerechnet hat, selbst wenn sie im Grundgesetz nicht besonders aufgeführt sind. Dies ergibt sich auch aus der besonderen Aufzählung der einzelnen Gerichtsbarkeiten in den Art. 95 und 96 GG. Sie knüpft an die herkömmlichen Aufgabenbereiche der einzelnen Gerichtsbarkeiten an. Das ist aber nur sinnvoll, wenn zumindest der Kernbereich der herkömmlich den einzelnen Gerichtsbarkeiten übertragenen Aufgaben als Rechtsprechung im materiellen Sinn angesehen wird. — Das Bundesverfassungsgericht hat dementsprechend die Entscheidung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten vermögensrechtlicher Art und die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit als typische Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt bezeichnet 16 . Danach gehört die Kompetenz, Kriminalstrafen zu verhängen, in allen Fällen zu dem Bereich der rechtsprechenden Gewalt, der nicht der Disposition des Gesetzgebers unterliegt. Hier sind also ausnahmslos und ausschließlich Richter zur originären Rechtsanwendung berufen. Der Gesetzgeber ist allerdings nicht gehindert, den Bereich der materiellen Rechtsprechung z. B. dadurch zu verändern, daß er die Materie Strafrecht reduziert oder in einer rechtspolitisch anderen Wertung des Unrechtsgehalts bisherige Straftatbestände ersetzt durch die Qualifizierung einer Verhaltensweise als bloße Ordnungswidrigkeit 17 . Soweit ersichtlich, haben es Schrifttum und Rechtsprechung bisher nicht vermocht — es bestand aber wohl auch keine zwingende Notwendigkeit —, über die vorstehenden im einzelnen genannten Bereiche und ausdrücklichen Richterzuweisungen hinaus allgemein anerkannte materielle Kriterien für Aufgaben, die ihrem Wesen nach Rechtsprechung sind, zu entwickeln. Auch der Hinweis auf die Schwere des Eingriffs und seine Bedeutung für die Rechtsstellung des Staatsbürgers, die von ihrer Natur her der Sicherung durch ein gerichtliches Verfahren bedürften, hilft letztlich nicht weiter. Wenn gleichwohl der Versuch einer Umschreibung dessen gemacht werden soll, was Rechtsprechung begrifflich ist, dann könnte die Definition folgendermaßen lauten: Rechtsprechung ist charakterisiert durch die verbindliche rechtliche Beurteilung — letztlich rechtskräftige Entscheidung — von festzustellenden Sachverhalten in Fällen bestrittenen, verletzten oder bedrohten Rechts. — Aufgaben dieser Art dürfen von Verfassungs wegen grundsätzlich nur als staatliche Funktion und durch die „rechtsprechende Gewalt" wahrgenommen werden, d. h. in besonders " BVerfGE 22, 49/75. 1 6 BVerfGE 14, 56/66; 12, 264/274.

17

BVerfGE 22, 49/78.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1205

geregelten Verfahren durch ein unbeteiligtes sowie i. S. des Art. 97 G G sachlich und persönlich unabhängiges Organ, den Richter. Dieser entscheidet dabei eine fremde Rechtsangelegenheit; er wird nicht in eigener Sache tätig. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen Rechtsprechung und Verwaltung, zwischen judikativer und exekutiver Rechtsanwendung: Im Verwaltungsakt entscheidet die Behörde nicht in fremder, sondern in eigener Sache 18 . „Richter" i. S. Art. 92 G G ist der jeweilige Spruchkörper, der entweder als Einzelrichter oder als Kollegium entscheidet. Einzelrichter ist immer ein Berufsrichter. Das Kollegium kann zusammengesetzt sein ausschließlich aus Berufsrichtern oder aus Berufsrichtern und ehrenamtlichen Richtern. Der Rechtspfleger ist nicht Richter im Sinn des Art. 92 G G und damit auch nicht im Sinn der im Grundgesetz im einzelnen enthaltenen Richtervorbehalte (näheres hierzu unten S. 1240). 3. Weitere Aufgaben der Rechtspflege Daß Rechtsprechung im materiellen Sinn ausschließlich von Richtern ausgeübt werden darf, bedeutet nicht, daß Richter nicht auch in begrenztem Umfang andere Aufgaben im Bereich der Rechtspflege wahrnehmen dürften. Herkömmlicherweise sind den Richtern auch Nicht-Rechtsprechungsaufgaben übertragen. „Rechtspflege" ist der Oberbegriff, der sowohl die Rechtsprechung im engeren Sinne wie auch andere von Gerichten wahrgenommene Aufgaben mit umfaßt. Gemeint sind Tätigkeiten, die in einem engen Zusammenhang zur Rechtsprechung stehen, aber nicht unbedingt zu letztverbindlichen Entscheidungen führen. Sie werden zulässigerweise zum Teil nicht von Richtern, sondern von Rechtspflegern wahrgenommen. Dies gilt vor allem für bestimmte Bereiche der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Es geht dort meist nicht um die Entscheidung von Streitigkeiten, sondern um eine Hilfestellung des Gerichts bei der Begründung, Fortentwicklung und Veränderung von Privatrechtsverhältnissen. Die Gerichte üben hier „vorsorgende" Rechtspflege aus. Dies gilt z. B. für Vormundschafts- und Nachlaßsachen sowie für die Führung von Registern (Handelsregister, Vereinsregister, Güterrechtsregister) und die Führung des Grundbuchs. — Das Mahnverfahren, das Verfahren zur Vollstreckung aus zivil- und arbeitsgerichtlichen Entscheidungen oder sonstigen Vollstreckungstiteln sowie Teile des Konkursverfahrens und des Vergleichsverfahrens sowie das Zwangsversteigerungsverfahren seien hier ferner genannt. Der Gesetzgeber ist also grundsätzlich nicht gehindert, auch solche Aufgaben den Gerichten zuzuweisen, die dem materiellen Rechtsprechungsbegriff nicht unterfallen — solange dadurch nicht anderen Staatsgewalten originäre Funktionen entzogen oder die rechtsprechende Gewalt in ihrem herkömmlichen Erscheinungsbild erheblich verändert wird. Werden derartige Aufgaben dann von den Gerichten wahrgenommen, „ s o muß das Verfahren mit den verfassungsrechtlichen Garantien des gerichtlichen Verfahrens ausgestattet sein. Art. 92 garantiert deshalb in jedem vom Gesetzgeber als Rechtsprechung eingeführten Verfahren, auch wenn der Gesetzgeber

18

BETTERMANN ( F n . 12) S p . 2 0 2 1 .

1206

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

zur Zuweisung gerade dieser Materie zur rechtsprechenden Gewalt verfassungsrechtlich nicht verpflichtet gewesen wäre, den gesetzlichen und unabhängigen Richter und das rechtsstaatliche Gerichtsverfahren des IX. Abschnitts des Grundgesetzes" 1 9 .

II. Die Gerichte — Übersicht 1. Geschichtlicher Rückblick Die Geschichte der deutschen Rechtspflege und die historische Rolle der Gerichtsbarkeit in Deutschland können hier nicht näher ausgebreitet werden. Neben anderen vermitteln das Werk von ERICH DÖRING und die neueren Arbeiten von BRUNO HEUSINGER (mit vielen Beispielen aus der Rechtsprechung) und ARNO BUSCHMANN 2 0 einen guten Einblick. Einige Hinweise wenigstens zur Entwicklung der höchsten Gerichtsbarkeit in Deutschland mögen aber von Interesse sein. Kern dieser Entwicklung, die bis ins Mittelalter zurückgeht, war das Bemühen, durch die Errichtung von Reichsgerichten zu einer einheitlichen Gerichtsbarkeit im Reich zu gelangen, um damit dem Ziel der Rechtseinheit näherzukommen. Einen ersten Versuch — von allerdings geringer praktischer Bedeutung — bildete das Amt des Hofrichters im Hofgericht des Heiligen Römischen Reiches, das von Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen nach sizilischem Vorbild 1235 im Mainzer Reichslandfrieden eingerichtet wurde. Nachfolger des Hofgerichts wurde 1456 das — 1415 erstmals urkundlich erwähnte — sogenannte Königliche Kammergericht als Ubergang von den mittelalterlichen bzw. spätmittelalterlichen Formen des Hofgerichts zu den echten obersten Gerichten des Heiligen Römischen Reiches, dem Reichskammergericht und dem Reichshofrat. Mit dem auf dem Wormser Reichstag 1495 unter Kaiser Maximilian nach Verkündung des Ewigen Landfriedens eingesetzten Reichskammergericht entstand erstmals eine von der Person des Königs und Kaisers vollständig gelöste, unabhängige Justizbehörde des Reichs. Seine Einrichtung ging auf die Bemühungen der Reichsstände zurück. Diese hatten Richter zu stellen und die Kosten aufzubringen. Der Kaiser selbst bestellte allerdings den „Kammerrichter", dem später zwei „Präsidenten" als Senatsvorsitzende zur Seite standen. Das Reichskammergericht war das erste oberste Gericht in Europa, dem der Monarch nicht mehr vorsaß. Es hatte seinen Sitz zunächst in Frankfurt, dann lange Zeit in Speyer und schließlich bis zu seinem Untergang 1806 in Wetzlar. Mit der Reichskammergerichtsordnung von 1555 war es organisatorisch und prozessual Vorbild für die territorialen Hofgerichte. Es vereinigte in sich Befugnisse, wie sie heute auf die obersten Gerichtshöfe des Bundes, insbesondere den Bundesgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht, verteilt

19 20

BVerfGE 22, 49/78; 25, 336/346. E. D Ö H R I N G Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1953, S. l f , 19ff, 31 ff; B. HEUSINGER Vom Reichskammergericht, seinen Nachwirkungen und seinem

Verhältnis zu den heutigen Zentralgerichten, 1972; A. BUSCHMANN 100 Jahre Gründungstag des Reichsgerichts. — Zur Entwicklung der Höchstgerichtsbarkeit in Deutschland, in: N J W 1979, 1966.

3. Abschnitt. Die R e c h t s p r e c h u n g (HEYDE)

1207

sind; in gewisser Weise nahm es sogar Aufgaben eines Staatsgerichtshofs wahr. Die Jurisdiktion des Reichskammergerichts wurde — territorial und kompetenzmäßig erheblich verkleinert — erst nach der Gründung des Norddeutschen Bundes durch das 1869/70 errichtete Bundesoberhandelsgericht wieder aufgenommen. Aus diesem erwuchs 1871 das Reichsoberhandelsgericht, der unmittelbare Vorläufer des 1879 eröffneten Reichsgerichts. Während die Gründung des Reichskammergerichts auf ständische Reformbestrebungen zurückgegangen war, hatte sich der Kaiser gleichzeitig mit dem Reichshofrat ein eigenes, ihm und nicht dem Reich zugeordnetes Gericht geschaffen. Ungeachtet der Beeinträchtigungen, denen die Jurisdiktion des Reichskammergerichts unterlag (z. B. durch die privilegia de non appellando der mächtigen Fürsten) und ungeachtet der positiven Kompetenzkonflikte zwischen Reichshofrat und Reichskammergericht haben nicht nur das Reichskammergericht, sondern auch der Reichshofrat einen durchaus bedeutenden Einfluß auf Rechtsprechung und Rechtsfortbildung im alten Reich ausgeübt. Das Reichsgericht in Leipzig bestand von 1879 bis 1945. Es verkörperte die Spitze der Rechtsprechung im Reich, ohne daß zunächst eine institutionelle Aufteilung dieser obersten Gerichtsbarkeit stattfand. Der durch die Weimarer Reichsverfassung geschaffene „Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich" und das 1926 errichtete Reichsarbeitsgericht waren dem Reichsgericht organisatorisch eingegliedert und personell mit ihm verknüpft. Allerdings wurde bereits 1918 der Reichsfinanzhof als weiteres oberstes Gericht gegründet. Ihm folgte 1942 das Reichsverwaltungsgericht. Das Bundesverwaltungsgericht hat auf der Rechtsprechung der seit 1863 bestehenden territorialen Oberverwaltungsgerichte aufgebaut20". Der Bundesgerichtshof knüpft weitgehend an die Tradition des Reichsgerichts an 21 . Der Bundesfinanzhof sieht sich als Fortsetzung des Reichsfinanzhofs. Das Bundesarbeitsgericht stellt die institutionelle Verselbständigung des Reichsarbeitsgerichts dar. Lediglich das Bundessozialgericht und mit ihm die Sozialgerichtsbarkeit haben keine Vorläufer als von der Verwaltung getrennte echte Gerichte; vor dem Zweiten Weltkrieg waren die Oberversicherungsämter und das Reichsversicherungsamt zugleich Gerichte der Sozialversicherung, die im Spruch verfahren entschieden. 2. Grundaussagen des Art. 95 Abs. 1 und Abs. 3 GG Wesentliches Element der Gerichtsorganisation in der Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur das Bestehen von Gerichten der Länder und des Bundes, sondern gleichzeitig die Aufgliederung in mehrere selbständige Gerichtsbarkeiten (Gerichtszweige). Art. 95 Abs. 1 G G nennt diese fünf Gerichtsbarkeiten und bestimmt gleichzeitig, daß jeweils als oberster Gerichtshof ein Bundesgericht bestehen soll. Die Verfassung garantiert hier also einen Instanzenzug von den Gerichten der Länder zu 20a

Siehe z u r Geschichte der deutschen Verwal-

A u s 100 J a h r e n Verwaltungsgerichtsbarkeit,

tungsgerichtsbarkeit die Beiträge in der v o n

2 . Aufl. 1 9 6 4 .

M.

BARING

herausgegebenen

Festschrift:

21

G.

PFEIFFER D a s Reichsgericht und seine

Rechtsprechung, in: D R i Z 1 9 7 9 , 3 2 5 .

1208

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

einem obersten Gerichtshof des Bundes. Dieser Instanzenzug muß allerdings nur dem Grundsatz nach bestehen, nicht für jede Verfahrensart und Rechtsstreitigkeit immer und unter allen Umständen auch gesetzlich eingeräumt sei (vgl. dazu noch später unter III 2). Festzuhalten ist folgende Bedeutung des Art. 95 Abs. 1 GG: — Das Grundgesetz unterscheidet von Verfassungs wegen die fünf Gebiete der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit. — Die sich aus Art. 19 Abs. 4 GG und dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Rechtsschutzgarantie wird — je nach Materie — durch diese fünf Gerichtsbarkeiten (fünf Rechtswege) gewährleistet, die einander gleichwertig sind. — An der Spitze dieser Gerichtsbarkeiten stehen als höchste Rechtsmittelgerichte jeweils ein oberster Gerichtshof des Bundes 22 , nämlich der Bundesgerichtshof, das Bundesarbeitsgericht, das Bundesverwaltungsgericht, der Bundesfinanzhof und das Bundessozialgericht. — Diese Bundesgerichte haben kraft ihrer ausdrücklichen Erwähnung den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution, ohne damit allerdings, wie das Bundesverfassungsgericht, „Verfassungsorgan" zu sein. Die Geschäftsverteilungspläne der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes werden seit dem Jahre 1967 zusammengefaßt im Bundesanzeiger veröffentlicht 23 . Sie vermitteln zugleich einen anschaulichen Uberblick über die Aufgabenbereiche dieser Gerichte. Als Revisionsgerichte haben diese primär die Funktion, die Rechtseinheit zu wahren und der Fortbildung des Rechts zu dienen. Neben diesen obersten Gerichtshöfen des Bundes, die ursprünglich obere Bundesgerichte hießen, hatte Art. 95 GG in seiner ersten, bis 1968 geltenden Fassung (damals waren die oberen Bundesgerichte in Art. 96 geregelt) zur Wahrung der Einheit des Bundesrechts ein Oberstes Bundesgericht vorgesehen, das in Fällen entscheiden sollte, deren Entscheidung für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung der oberen Bundesgerichte von grundsätzlicher Bedeutung ist. Das Oberste Bundesgericht wurde jedoch nie errichtet. An die Stelle dieser ursprünglichen, durch verfassungsänderndes Gesetz vom 18. 6. 1968 (BGBl. I 657) beseitigten Regelung ist dann der jetzige Art. 95 Abs. 3 GG getreten. Danach ist zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ein Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes zu bilden. Das Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. 6. 1968 (BGBl. I 661) trägt diesem Verfassungsauftrag Rechnung. Der Gemeinsame Senat besteht aus den Präsidenten aller fünf obersten Gerichtshöfe und Richtern der jeweils beteiligten obersten Gerichtshöfe; er hat seinen Sitz in Karlsruhe. Wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats

22

Vgl. zu den jeweiligen Rechtsgrundlagen und

Errichtungsdaten

R.

HERZOG

in:

MAUNZ/DÜRIG, Komm. z. G G , Art. 95, 1 9 7 3 , Rdn. 3 3 .

23

Vgl. zuletzt Beilage 5/82 vom 4. 2. 1982: Geschäftsverteilungspläne der obersten Gerichtshöfe des Bundes für das Geschäftsjahr 1982.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1209

abweichen will, dann muß er die Rechtsfrage dem Gemeinsamen Senat vorlegen. Dieser entscheidet aufgrund mündlicher Verhandlung mit bindender Wirkung für den mit der Sache befaßten obersten Gerichtshof. — Der Gemeinsame Senat hat in den ersten 14 Jahren seines Bestehens (Stand 1. 6. 1982) 13 Entscheidungen getroffen; in elf Fällen hat er das Verfahren eingestellt, weil sich der Senat des obersten Gerichtshofs von dessen Entscheidung abgewichen werden sollte, der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats angeschlossen hatte (vgl. § 14 des Gesetzes vom 19. 6. 1968). 3. Fachgerichtsbarkeiten

a) Die fünf Gerichtszweige Wesen und Eigenart der fünf Fachgerichtsbarkeiten können hier nur stichwortartig dargestellt werden. Ordentliche Gerichtsbarkeit: Das Wort „ordentliche" ist historisch zu erklären, weil die Gerichte der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit als erste mit „ordentlichen", also persönlich und sachlich unabhängigen Richtern besetzt waren. Es bedeutet keine Disqualifizierung der anderen Gerichtsbarkeiten. Die ordentliche Gerichtsbarkeit ist zuständig zur Entscheidung in Zivil- und Strafsachen. Zu den Zivilsachen zählen auch die Patentstreitigkeiten, Landwirtschaftssachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit wie Vormundschafts-, Nachlaß-, Register- und Grundbuchsachen. In dieser Gerichtsbarkeit entscheiden Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte als Gerichte der Länder sowie der Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Die ordentliche Gerichtsbarkeit ist vom Geschäftsanfall und von der Zahl der Richter her bei weitem die stärkste aller Gerichtsbarkeiten. In ihr sind fast 4/s aller Richter tätig. Einschlägige Verfahrensordnungen sind in erster Linie das Gerichtsverfassungsgesetz, die Zivilprozeßordnung, das Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und die Strafprozeßordnung. Für die Gebiete des Art. 26 Abs. 1 GG und das Staatsschutzes hält Art. 96 Abs. 5 GG eine besondere Konstruktion bereit. Auf ihrer Grundlage hat das Gesetz zur allgemeinen Einführung eines zweiten Rechtszuges in Staatsschutzsachen vom 8. 9. 1969 (BGBl. I 1582) die bisherige erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesgerichtshofes in Staatsschutzsachen auf Oberlandesgerichte übertragen. Die insoweit von den Ländern wahrgenommene Zuständigkeit bleibt indes materiell Bundesgerichtsbarkeit, die die Länder lediglich im Wege der Organleihe ausüben. Dadurch hat sich an der Verfolgungszuständigkeit des Generalbundesanwalts von vornherein nichts geändert; ebensowenig an der Gnadenzuständigkeit des Bundespräsidenten nach Art. 60 Abs. 2 GG. Im zweiten Rechtszug entscheidet der Bundesgerichtshof. Arbeitsgerichtsbarkeit: Sie wird hier an zweiter Stelle genannt, weil sie von der Struktur her eine Zivilgerichtsbarkeit ist und sich aus dieser in der Mitte der 20er Jahre zu einer eigenständigen Gerichtsbarkeit entwickelt hat, nachdem zum Schutz der Arbeitnehmer eine Reihe von Gesetzen erlassen wurde, durch die das ehemals rein privatrechtliche Arbeitsrecht öffentlich-rechtliche Züge annahm. Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist unter anderem zuständig für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus dem Arbeitsverhältnis sowie zwi-

1210

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

sehen Tarifvertragsparteien oder zwischen diesen und Dritten aus dem Tarifvertrag, für bestimmte Angelegenheiten in Fragen der Mitbestimmung und für die Entscheidung über die Tariffähigkeit einer Vereinigung. Es entscheiden Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte auf der Ebene der Länder sowie das Bundesarbeitsgericht in Kassel. Maßgebliche Verfahrensordnung ist das Arbeitsgerichtsgesetz. Allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit: Der Begriff „allgemein" soll zum Ausdruck bringen, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit grundsätzlich für alle Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art aus dem Gebiet des öffentlichen Rechts zuständig ist, soweit diese Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz ausdrücklich einem anderen Gericht zugewiesen sind (verwaltungsgerichtliche Generalklausel des § 40 VwGO), insbesondere nicht eine Zuständigkeit einer der beiden besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeiten besteht. Der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist insoweit der Rechtsschutz des einzelnen gegenüber Maßnahmen der Verwaltung anvertraut. Sie entscheidet nach Maßgabe des erwähnten § 40 V w G O alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zwischen Privatpersonen und öffentlich-rechtlichen Körperschaften, aber auch zwischen letzteren untereinander. Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind die Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte (zum Teil „Verwaltungsgerichtshof" genannt) der Länder sowie das Bundesverwaltungsgericht in Berlin. Das Verfahren richtet sich nach der Verwaltungsgerichtsordnung. Sozialgerichtsbarkeit-. Sie befaßt sich mit den Angelegenheiten der Sozialversicherung, der Arbeitslosenversicherung, des Kassenarztrechts und mit Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung. Die Sozialgerichtsbarkeit ist eine besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sie wird ausgeübt durch die Sozialgerichte und Landessozialgerichte der Länder sowie das Bundessozialgericht in Kassel. Rechtsgrundlage ist das Sozialgerichtsgesetz. Finanzgerichtsbarkeit-. Sie ist — wie die Sozialgerichtsbarkeit — eine besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit und dient der Entscheidung aller öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten aus dem Bereich der Finanzbehörden. Ihr Gegenstand sind in erster Linie Rechtsstreitigkeiten über die Rechtmäßigkeit von Steuerbescheiden der Finanzämter oder Bescheiden der Zollbehörden. (Gegen Steuerbescheide anderer Behörden, wie beispielsweise der Gemeinden, ist der Rechtsweg zu den allgemeinen Verwaltungsgerichten gegeben.) In jedem Bundesland besteht mindestens ein Finanzgericht als oberes Landesgericht. Oberste Instanz ist der Bundesfinanzhof in München. Diese Gerichtsbarkeit hat als einzige nur einen zweistufigen Aufbau. Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit sind besondere Verwaltungsgerichtsbarkeiten. Die Bundesregierung hat im Frühjahr 1982 den Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung eingebracht, die für die drei öffentlich-rechtlichen Gerichtszweige gelten und damit die V w G O , die F G O und das SGG ablösen soll (BR-Drucks. 100/82). Das Nebeneinander verschiedener Gerichtsbarkeiten ist für den rechtsuchenden Staatsbürger verwirrend und wegen der Möglichkeit langwieriger Verfahren über die Zuständigkeit des einen oder anderen Gerichtszweigs nicht unproblematisch. Gleichwohl besteht der große Vorteil der fünf Fachgerichtsbarkeiten für den Rechtsuchenden darin, daß er in jeder Gerichtsbarkeit eine Richterbank vorfindet, die gerade in der Materie, um die es in seinem Fall geht, besonders sachkundig ist.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

b) Gerichte für besondere

1211

Sachgebiete

Neben den vorgestellten fünf Fachgerichtsbarkeiten, zum Teil jedoch mit jenen Gerichten institutionell verknüpft, bestehen die Patentgerichtsbarkeit, die Disziplinargerichtsbarkeit sowie die Ehren- und Berufsgerichtsbarkeit für bestimmte Berufe, ferner die Rhein- und Moselschiffahrtsgerichte und das Oberste Rückerstattungsgericht. Aufgrund des Art. 96 Abs. 1 G G und auf der Rechtsgrundlage des Patentgesetzes vom 9. Mai 1961 ist das Bundespatentgericht mit Sitz in München errichtet worden. Es handelt sich um ein selbständiges und unabhängiges Bundesgericht erster Instanz, das keine Vorinstanzen in den Ländern besitzt. Das Bundespatentgericht ist ein Gericht des Bundes, jedoch kein oberstes Bundesgericht. Der Rechtszug von ihm führt zum Bundesgerichtshof. Die Patentgerichtsbarkeit ist insoweit ein besonderer Zweig der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Beim Bundespatentgericht bestehen Beschwerdesenate und Nichtigkeitssenate. Die Beschwerdesenate entscheiden über Beschwerden gegen Beschlüsse des Deutschen Patentamts; sie haben die Funktion eines Verwaltungsgerichts. Die Nichtigkeitssenate entscheiden über die Nichtigerklärung von Patenten und die Erteilung von Zwangslizenzen. Ausfluß des besonderen Dienst- und Treueverhältnisses, in dem Richter, Beamte und Soldaten stehen, ist die Existenz von Disziplinargerichtsbarkeiten für die drei Gruppen. Für die Beamten und Ruhestandsbeamten des Bundes besteht als Gericht erster Instanz mit Sitz in Frankfurt das Bundesdisziplinargericht auf der verfassungsrechtlichen Grundlage des Art. 96 Abs. 4 G G . In zweiter Instanz entscheiden besondere Senate — Disziplinarsenate — des Bundesverwaltungsgerichts. Rechtsgrundlage ist die Bundesdisziplinarordnung. In den Ländern besteht jeweils eine eigene Disziplinargerichtsbarkeit für die Landesbeamten. Für Soldaten der Bundeswehr bestehen Truppendienstgerichte (erste Instanz) und besondere Senate — Wehrdienstsenate (mit Sitz in München) — des Bundesverwaltungsgerichts als zweite Instanz. Das Verfahren ist im wesentlichen in der Wehrdisziplinarordnung geregelt. — Eine eigene Wehrstrafgerichtsbarkeit sieht das Grundgesetz in Art. 96 Abs. 2 G G nur für den Verteidigungsfall vor. Für die Richter hat das Deutsche Richtergesetz mit Rücksicht auf deren besondere Rechtsstellung die Einrichtung von besonderen Richterdienstgerichten vorgeschrieben. Diese entscheiden u. a. in Disziplinarsachen, über die Versetzung eines Richters in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit und darüber, ob eine Maßnahme der Dienstaufsicht die Unabhängigkeit beeinträchtigt. Für die Richter im Dienst der Bundesländer bestehen Dienstgerichte und Dienstgerichtshöfe. Diese sind bei anderen Gerichten, normalerweise den Landgerichten und den Oberlandesgerichten gebildet. Oberste Instanz ist das Dienstgericht des Bundes, dessen Aufgaben von einem besonderen Senat des Bundesgerichtshofs wahrgenommen werden. Das Dienstgericht des Bundes ist gleichzeitig in erster und letzter Instanz für die im Bundesdienst stehenden Richter — mit Ausnahme der Richter des Bundesverfassungsgerichts (vgl. hierzu § 105 BVerfGG) — zuständig. Die Richterdienstgerichte entscheiden auch in Disziplinarsachen der Staatsanwälte, weil diese durch ihre Aufgaben im Bereich der Rechtspflege unter den Beamten eine Sonderstellung einnehmen.

1212

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Die Disziplinargerichtsbarkeit über Notare wird in erster Instanz durch Oberlandesgerichte und in zweiter Instanz durch den Bundesgerichtshof wahrgenommen. Neben diesen Gerichten, die, soweit es sich um Bundesgerichte handelt, ihre Basis in Art. 96 Abs. 4 GG haben, besteht aufgrund von Bundesrecht eine Berufsgerichtsbarkeit für Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, aufgrund von Landesrecht eine Berufsgerichtsbarkeit für Architekten, Ärzte, Tierärzte und Apotheker. Die Berufsgerichtsbarkeit ist eine staatliche Gerichtsbarkeit und von ihren Rechtsgrundlagen her der Verwaltungsgerichtsbarkeit zuzuordnen. Die Berufsgerichte und Berufsgerichtshöfe für Heilberufe und für Architekten sind deshalb in den Ländern weithin den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit angegliedert. Die drei erstgenannten Berufsgerichtszweige sind allerdings der Zivilgerichtsbarkeit zugeordnet. Dies kommt insbesondere auch darin zum Ausdruck, daß als letzte Instanz jeweils zuständige Fachsenate des Bundesgerichtshofs entscheiden. Gerichte für besondere Sachgebiete sind auch die Rhein- und Moselschiffahrtsgerichte. § 14 GVG läßt Gerichte der Schiffahrt für die in Staatsverträgen bezeichneten Angelegenheiten ausdrücklich als „besondere Gerichte" zu. Diese Gerichte treten im Rahmen ihrer Zuständigkeit an die Stelle der ordentlichen Gerichte. Rheinschifffahrtsgerichte sind bei bestimmten Amtsgerichten und Oberlandesgerichten für die in der Mannheimer Akte (Revidierte Rheinschiffahrtsakte vom 17. 10. 1868 i. d. F. der Bekanntmachung vom 11.3. 1969, BGBl. II 597) aufgeführten Rheinschiffahrtssachen — bestimmten Straf- und Zivilsachen — errichtet worden. Entsprechendes gilt nach Art. 35 des Vertrages über die Schiffbarmachung der Mosel (BGBl. 1956 II 1838) für das Moselschiffahrtsgericht und das Moselschiffahrtsobergericht24. Die Schiffahrtsgerichte für Binnenschiffahrtssachen (Gesetz vom 27. 9. 1952, BGBl. 641) sind nicht besondere Gerichte, sondern Spezialspruchkörper innerhalb der ordentlichen Gerichte mit besonderer Bezeichnung und gesetzlicher Geschäftsverteilung. Das Bundesoberseeamt (Gesetz über die Untersuchung von Seeunfällen vom 28. 9. 1935, RGBl. I 1183) ist kein „Gericht". Schließlich sei das Oberste Rückerstattungsgericht in Herford genannt, wenn seine praktische Bedeutung auch nur noch gering ist. Es wurde aufgrund von Art. 6 des dritten Teils des Uberleitungsvertrags (BGBl. 1955 II 405, 424) errichtet und judiziert nach Maßgabe des Bundesrückerstattungsgesetzes i.V. m. ausdrücklich aufrechterhaltenen Rechtsvorschriften der früheren Besatzungszonen. c) Verwaltungsmäßige

Zuordnung

Die beschriebenen Fachgerichtsbarkeiten sind verwaltungsmäßig jeweils einem Bundes- oder Landesministerium zu- bzw. nachgeordnet. (Beim Bundesverfassungsgericht als einem selbständigen Verfassungsorgan besteht eine derartige Zuordnung nicht.) Das Ministerium nimmt bestimmte Verwaltungsaufgaben für die zu seinem Geschäftsbereich gehörenden Gerichte wahr. Dazu gehört z . B . die Mitverantwor-

24

Näheres zu den Schiffahrtsgerichten bei KIS(Fn. 12) § 14 Rdn. 4 - 9 .

SEL

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1213

tung für den Haushalt der Gerichte, die Vorbereitung der Ernennung der Richter und die oberste Dienstaufsicht über die Richter, soweit eine solche mit Rücksicht auf die richterliche Unabhängigkeit (vgl. dazu später unter IV. l.d) in Betracht kommt. Im einzelnen bestehen hier folgende Geschäftsbereiche: Im Bund Bundesministerium der Justiz: Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft, Bundesverwaltungsgericht, Bundesfinanzhof, Bundespatentgericht und Bundesdisziplinargericht, Oberstes Rückerstattungsgericht. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Bundesarbeitsgericht und Bundessozialgericht. Bundesministerium der Verteidigung: Truppendienstgerichte. In den Ländern ressortieren beim Justizministerium: In Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen: Ordentliche Gerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit und Finanzgerichtsbarkeit. In Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein: Ordentliche, Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit. Die Arbeitsgerichtsbarkeit ressortiert in allen Ländern bei der obersten Arbeitsbehörde. Die Sozialgerichtsbarkeit gehört in den Ländern Bayern, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen zum Geschäftsbereich des Sozialministers. In Bayern ist darüberhinaus die herkömmliche Zuordnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zum Innenminister und der Finanzgerichtsbarkeit zum Finanzminister beibehalten worden. Dort erstreckt sich der Geschäftsbereich des Justizministers also nur auf die ordentliche Gerichtsbarkeit. Diese Ubersicht zeigt, daß die Bemühungen, generell alle Gerichtszweige bei einem Ministerium, nämlich dem Justizministerium als einem „Rechtspflege-" oder „Rechtsprechungsministerium" zusammenzufassen, schon beachtlichen Erfolg gehabt haben. Die einheitliche Ausklammerung der Arbeitsgerichtsbarkeit von diesen Bemühungen beruht auf der gesetzlichen Festlegung in den §§ 14 und 15 des Arbeitsgerichtsgesetzes. 4. Verfassungsgerichtsbarkeit (der Länder) Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes wird in einem besonderen Beitrag behandelt. Im vorliegenden Zusammenhang ist deshalb noch auf die Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder einzugehen. Die Befugnis der Länder, eigene Verfassungsgerichte einzurichten und ihnen bestimmte Zuständigkeiten zuzuweisen, ergibt sich aus der Eigenstaatlichkeit und der aus ihr folgenden Verfassungsautonomie der Länder. Die

1214

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Landesverfassungsgerichte sind „Gerichte der Länder" im Sinne des Art. 92 G G . In der ersten grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Fragenkreis heißt es 2 5 : „ I n einem so betont föderativ gestalteten Staat wie der Bundesrepublik Deutschland stehen die Verfassungsräume des Bundes und der Länder grundsätzlich selbständig nebeneinander. Das Grundgesetz gibt für die Verfassungen der Länder nur wenige Normativbestimmungen. Im übrigen können die Länder ihr Verfassungsrecht und damit auch ihre Verfassungsgerichtsbarkeit nach eigenem Ermessen ordnen". Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgerichtsbarkeit vollziehen sich im Bundesstaat also in grundsätzlich getrennten Räumen. Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit darf von der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit nicht in größere Abhängigkeit gebracht werden, als es nach dem Bundesverfassungsrecht unvermeidbar ist 2 6 . Der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns bezogen entweder auf das Grundgesetz oder auf eine bestimmte Landesverfassung entspricht eine Begrenzung der Kompetenzen der Verfassungsgerichte auf den jeweiligen Verfassungsraum 2 7 . Mögliches Objekt der von den Landesverfassungsgerichten vorzunehmenden verfassungsrechtlichen Kontrolle können also immer nur Akte der Landesstaatsgewalt, Handlungen von Landesorganen sein. Dazu gehören auch Landesgesetze, die Bundesrahmengesetze ausfüllen, Landesgesetze aufgrund bundesrechtlicher Ermächtigung und Verordnungen der Landesregierung, die aufgrund bundesgesetzlicher Ermächtigung erlassen werden. Prüfungsmaßstab für die Landesverfassungsgerichte ist nur die jeweilige Landesverfassung, nicht das Grundgesetz und auch nicht sonstiges Bundesrecht. Von der Befugnis zur Einrichtung eigener Landesverfassungsgerichte haben alle Länder mit Ausnahme von Schleswig-Holstein und Berlin Gebrauch gemacht. Schleswig-Holstein hat die Entscheidung der in seinem Bereich entstehenden Landesverfassungsstreitigkeiten dem Bundesverfassungsgericht übertragen (Art. 99 G G i. V. m. Art. 37 der Landessatzung für Schleswig-Holstein). Berlin hat wegen der besonderen Lage der Stadt von der Errichtung eines Verfassungsgerichts abgesehen. Art. 72 der Verfassung von Berlin, der die Errichtung eines Verfassungsgerichtshofs vorsah, ist durch Einfügung eines neuen Art. 87a in die Verfassung suspendiert worden (Änderungsgesetz vom 20. 6. 1977, GVB1. S. 1126). 25

26 27

B V e r f G E 4, 178/189; vgl. auch B V e r f G E 6, 376/381 f; 10, 285/293. B V e r f G E 36, 342/357. E . FRIESENHAHN Z u r Z u s t ä n d i g k e i t s a b g r e n -

zung zwischen Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, 1976, S. 748/751 ff. Vgl. im übrigen zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit: K . STERN Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder, 1978, S. X X I X - X X X I I , der die einschlägigen Artikel der Landesverfassungen sowie die Gesetze über die jeweiligen Landesverfassungsgerichte und deren Geschäftsordnungen d o k u -

mentiert; HEYDE/GIELEN Die Hüter der Verfassung, Verfassungsgerichte im B u n d und in den Ländern, 1973, S. 5 2 f f , CHR. PESTALOZZA Verfassungsprozeßrecht, 2. A u f l . , 1982, S. 187ff. - Vgl. ferner H . v. OLSHAUSEN Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht. Zur Geltung und prozessualen A k tualisierung von Landesgrundrechten im Bundesstaat des Grundgesetzes, 1980. — Einzeldarstellungen enthalten: Verfassung und Verfassungsrechtsprechung. Festschrift z u m 25jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, 1972, und C. KOCH Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit

der Freien Hansestadt Bremen, 1981 (siehe

1215

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

Die Verfassungsgerichte der Länder heißen zum Teil Verfassungsgerichtshof, zum Teil Staatsgerichtshof. Sie sind mit Richtern besetzt, die gleichzeitig Berufsrichter anderer Gerichte sind. Neben diesen wirken ehrenamtliche Richter mit. Die Regelung im einzelnen ist in den Ländern unterschiedlich. Auch die Zuständigkeiten der einzelnen Landesverfassungsgerichte weichen voneinander ab. Ihre Tätigkeit ist z. T. erst durch die Gemeindereform-Verfahren des letzten Jahrzehnts in das Bewußtsein der breiten Bevölkerung gedrungen. Hinsichtlich der Zuständigkeiten der Landesverfassungsgerichte muß auf die einschlägigen landesrechtlichen Regelungen verwiesen werden. Erwähnt sei lediglich, daß eine Verfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht nur den Bürgern in Bayern, Hessen und im Saarland zusteht. Eine Popularklage, die jedermann mit der Behauptung erheben kann, ein Gesetz oder eine Verordnung verletze ein Grundrecht, kennt allein das bayerische Verfassungsrecht. Alle Landesverfassungsgerichte haben — wie ausgeführt — eine gegenüber dem Bundesverfassungsgericht selbständige Stellung. Gegen ihre Entscheidungen gibt es allerdings die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht nach Maßgabe des § 90 BVerfGG. Will das Verfassungsgericht eines Landes bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder des Verfassungsgerichts eines anderen Landes abweichen, so muß es nach Art. 100 Abs. 3 G G die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholen. 5. Rechtsprechung durch außerstaatliche Gerichte a) Schiedsgerichte Im Hinblick darauf, daß es schon vor Inkrafttreten des Grundgesetzes Rechtsprechung durch Private gab und der Verfassungsgeber diese als historisch überkommen nicht hat ausschließen wollen, sowie als Ausfluß der durch Art. 2 Abs. 1 G G garantierten Privatautonomie werden private Schiedsgerichte ungeachtet des Art. 92 GG für verfassungsrechtlich zulässig gehalten28. Der einfache Gesetzgeber hat sie durch die §§ 1085 ff ZPO ausdrücklich anerkannt. Die aus der Privatautonomie folgende Vertragsfreiheit umfaßt die Befugnis der Beteiligten, innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung Abreden über die streitweise Erledigung von Rechtsverhältnissen zu treffen und die Rechtsschutzbedingungen festzulegen. In dem Maße, in dem Privatpersonen das zwischen ihnen bestehende Rechtsverhältnis selbst regeln können, mu&^sihnen auch möglich sein, staatliche Rechtsschutzformen zu ersetzen. Dies ist auch reclitspolitisch sinnvoll. Denn private Schiedsgerichte entlasten die staatlichen Gerichte. Sie geben zudem eine höhere Gewähr für Rechtsfrieden, weil die Beteiligten sich den Schiedsrichter selbst ausgesucht haben. Die private Schiedsgerichtsbarkeit verstößt weder gegen das Rechtsstaatsprinzip noch gegen das Gebot des gesetzlichen Richters.

hierzu auch die Rezension von J . JEKEWITZ in: Der Staat 1982, 146).

28

Vgl. u. a. ACHTERBERG (Fn. 12) Rdn. 1 7 3 - 1 9 4 m. w. N . ; THOMAS/PUTZO Z P O , 11. Aufl., 1980, Vorbem. § 1025.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1216

Die Schiedsgerichte entscheiden danach bürgerliche Rechtstreitigkeiten anstelle des staatlichen Gerichts. Die Gewährleistung des an sich bestehenden ordentlichen Rechtswegs wird durch die Schiedsgerichtsklausel ersetzt. Einen Instanzenzug zwischen Schieds- und staatlichem Gericht gibt es nicht. Da das Schiedsgericht anstelle des staatlichen Gerichts den Parteienstreit in einem gerichtsähnlichen Verfahren endgültig entscheidet (vgl. § 1040 Z P O ) , gelten zum Schutz der Parteien jedoch f ü r Schiedsverträge bestimmte Formerfordernisse (§ 1027 Z P O ) ; vor allem muß das schiedsrichterliche Verfahren die grundlegenden rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien, insbesondere den Anspruch auf Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters und die Wahrung des rechtlichen Gehörs einhalten. Insoweit — aber auch nur insoweit — nehmen die staatlichen Gerichte nach § 1041, § 1042 Z P O eine kontrollierende, grundrechtsschutzergänzende Funktion wahr. Die Vereins- und Verbandsgerichtsbarkeit ist nur dann echte Schiedsgerichtsbarkeit, wenn sie den vorstehend genannten Verfahrensgarantien entspricht. Anderenfalls hat sie — und dies ist meist der Fall — nur die Funktion vereinsinterner „Ehrengerichte" mit der Aufgabe, auf der Basis der Vereinssatzung Verstöße gegen diese zu ahnden oder über sonstige vereinsinterne Interessenkollisionen zu entscheiden. Es handelt sich nicht um „Rechtsprechung" durch Private. Deshalb stellt sich die Frage der Uberprüfbarkeit durch staatliche Gerichte in besonderem Maße. Sie m u ß sich auch auf eine Tatsachen- und Subsumtionskontrolle erstrecken 2 9 . Diese Problematik spielt für die Sportgerichtsbarkeit, insbesondere des Deutschen Fußballbundes, eine wesentliche Rolle. Die Parteiengerichtsbarkeit hat auf der Basis der Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G ihre Grundlage in § 14 Parteiengesetz. Der Umfang der Uberprüfbarkeit der Entscheidungen von Parteischiedsgerichten hängt von der Ausgestaltung dieser Gerichtsbarkeit als „echte" oder „unechte" Schiedsgerichtsbarkeit ab 3 0 . Für die Betriebsjustiz, ein betriebsinternes Sanktionssystem zur Ahndung von Verstößen der Arbeitnehmer gegen die Betriebsordnung, fehlt eine positivrechtliche Regelung. Ungeachtet dessen ist sie relativ weit verbreitet. Die Sanktionsbefugnis dürfte dort enden, w o das staatliche Strafmonopol verletzt wird. Im Schrifttum wird deshalb auch empfohlen, anstelle des mißverständlichen Begriffs „Betriebsjustiz" von Ordnungskommissionen oder ähnlichem zu sprechen 3 1 . b) Kirchliche

Gerichte

Nach Art. 140 G G i. V. m. Art. 137 Abs. 3 W R V ordnet und verwaltet jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des f ü r alle geltenden Gesetzes. Den Kirchen ist also das Selbstbestimmungsrecht zur eigen-

29

ACHTERBERG a a O R d n . 194. -

Siehe z u r

Sportgerichtsbarkeit etwa: B. PREIS Die Sportgerichtsbarkeit des Deutschen Fußballbundes (DFB) . . ., in: Betrieb 1971, 1570; K. H . SCHMIDT Der vertraglich geregelte Fußballsport, in: RdA 1972, 84.

30

31

Vgl. hierzu im einzelnen ACHTERBERG aaO Rdn. 197f. KERN/WOLF ( F n . 12) S. 2 0 . V g l . i m ü b r i g e n

generell ACHTERBERG aaO Rdn. 200f.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1217

ständigen Ordnung ihrer inneren Angelegenheiten gewährleistet. Der Staat darf in die inneren Verhältnisse der Kirche nicht eingreifen. Zu dem durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV garantierten Bereich der kirchlichen Selbstverwaltung gehört auch die Regelung des Verfahrens für die in dem Bereich der innerkirchlichen Angelegenheiten zu treffenden Entscheidungen 32 . Dies gilt für die Ausgestaltung des Verfahrens der kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie sie innerhalb der evangelischen Kirche in fast allen Landeskirchen besteht, ebenso wie für die kirchliche Gerichtsbarkeit in der katholischen Kirche — z. B. die Verfahren in Ehesachen —, deren Träger der Papst und die Bischöfe sind; sie ist hier Teil des auch die Gesetzgebung und die Verwaltung umfassenden Hirtenamtes (keine Gewaltenteilung und Trennung der Rechtsprechung von den übrigen Gewalten) Die kirchliche Gerichtsbarkeit darf sich allerdings nur auf solche Angelegenheiten erstrecken, die der kirchlichen Selbstbestimmung zugerechnet werden, also innerkirchliche Maßnahmen ohne unmittelbare Rechtswirkung im staatlichen Zuständigkeitsbereich sind. Insoweit greifen weder Art. 19 Abs. 4 noch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a G G oder die verwaltungsgerichtliche Generalklausel des § 40 VwGO ein. 6. Rechtsschutz durch internationale und supranationale Gerichte Unter den von der Bundesrepublik Deutschland eingegangenen internationalen Bindungen sind unter dem Aspekt des Rechtsschutzes die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften und die Mitgliedschaft im Europarat von besonderer Bedeutung. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Er prüft dabei auch, ob Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane Grundrechte verletzen, denn diese gehören zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat 33 ; er geht dabei von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten aus und berücksichtigt auch den Inhalt der Europäischen Menschenrechtskonvention. Für die internationale Garantie der Menschenrechte sieht die Europäische Menschenrechtskonvention ein besonderes Rechtsschutzsystem vor. Sie hat drei Organen die Aufgabe, übertragen, die Erhaltung der in der Konvention oder den Zusatzprotokollen enthaltenen Rechte und Grundfreiheiten durch die Vertragsstaaten zu überwachen. Es sind dies die Europäische Kommission für Menschenrechte, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Ministerkomitee des Europa32

Vgl. u. a. W. RÜFNER Rechtschutz gegen kirchliche Rechtshandlungen und Nachprüfung kirchlicher Entscheidungen durch staatliche Gerichte. In: HdbStKirchR I 1974, S. 759/784f; STERN (Fn. 12) S. 914ff; H . MAURER Kirchliche Gerichtsbarkeit, in: Ev. StL, 2. Aufl., 1975, Sp. 822ff mit einer eingehenden Darstellung der Struktur der kirchlichen Gerichtsbarkeit; BVerfGE 42,

33

312/334, sowie neuerdings A. KRÄMER Verfassungsrechtliche und staatskirchenrechtliche Probleme kirchlicher Gerichtsbarkeit, in: DVB1. 1981, 1. Vgl. hierzu den Beitrag von v. SIMSON S. 66f sowie den Bericht von H . KUTSCHER Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, in: EuGRZ 1978, 503.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1218

rats. Beschwerden können sowohl von einzelnen Vertragsstaaten gegen andere Vertragsstaaten wie von Einzelpersonen erhoben werden. Die sogenannte Individualbeschwerde von Einzelpersonen hat erhebliche praktische Bedeutung. Jede natürliche Person, nichtstaatliche Organisation oder Personenvereinigung, die sich durch die staatliche Gewalt in einem der in der Konvention oder den Zusatzprotokollen anerkannten Rechte verletzt fühlt, kann sich unmittelbar mit einem Gesuch an die Menschenrechtskommission wenden (vgl. Art. 25 ff EMRK). Sie muß allerdings alle verfügbaren innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft haben, zu denen in der Bundesrepublik Deutschland auch die Einlegung der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht gehört. Sieht die Kommission die Beschwerde als zulässig an, so leitet sie einen Bericht an das Ministerkomitee, dem die Außenminister der Mitgliedstaaten angehören. Erst danach kann der Gerichtshof mit dem Fall befaßt werden, und zwar entweder durch die Kommission selbst oder durch einen der Staaten, die von dem Verfahren betroffen sind. Wird der Gerichtshof nicht innerhalb von 3 Monaten angerufen, so entscheidet das Ministerkomitee letztinstanzlich, ob die Konvention verletzt ist 34 .

III. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen für die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren 1. Die allgemeine Bedeutung der Gerichtsverfassung und des Verfahrensrechts Gerichtsverfassung meint die Ordnung des Gerichtswesens und die äußere Organisation der Rechtsprechung. Zu ihr gehören alle Normen, die den Aufbau der Gerichte und der mit ihnen zusammenhängenden Einrichtungen betreffen. Sie sind für die ordentliche Gerichtsbarkeit im Gerichtsverfassungsgesetz und für die anderen Gerichtsbarkeiten in Vorschriften der jeweiligen Verfahrensordnungen, die z. T. auf das Gerichtsverfassungsgesetz verweisen, enthalten. Das Gerichtsverfassungsrecht regelt zusammen mit dem Verfahrensrecht im engeren Sinne die Formen, in denen das materielle Recht durchgesetzt werden kann. Dabei sind diese Regelungen nicht bloßes Instrumentarium, sondern sie haben ihren Selbstwert 35 . Sie sind ein wesentliches Element dafür, daß die Gerichte ihre Funktion zur Erhaltung einer staatlichen Friedensordnung und zur Herbeiführung von Rechtssicherheit erfüllen können. Das Verfahrensrecht spiegelt den Geist wider, der das materielle Recht prägt. Es muß sicherstellen, daß der Rechtsschutz auch effektiv für die Erlangung und Verwirkli-

34

Vgl. zum Rechtsschutz nach der E M R K allgemein auch den Beitrag von v. SIMSON S. 60 f, sowie die Berichte von H. C . KRÜGER Die Europäische Kommission f ü r Menschenrechte, in: E u G R Z 1978, 499, und H. PETZOLD Der Europäische Gerichtshof f ü r Menschenrechte, in: E u G R Z 1978, 500. Einen anschaulichen Überblick über Verfahren und Rechtsprechung der beiden Organe

35

vermittelt die Schrift: Was tut der Europarat f ü r den Schutz der Menschenrechte? Hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn, 1978. O . R. KISSEL 100 Jahre Reichsjustizgesetze, in: DRiZ 1980, 81/88f; vgl. auch V. WACHE Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrecht, in: H. DE WITH (Hrsg.) Deutsche Rechtspolitik, 2. A u f l . , 1980, S. 261 f.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1219

chung des materiellen Rechts ist. — D a das Verfahrensrecht eine Regelung im Interesse der materiellen Rechte der Beteiligten darstellt, darf es umgekehrt nicht zur Formalie werden, die Rechte ohne Vorliegen eines besonderen Grundes abschneidet. Gerade dem Strafverfahrensrecht lassen sich entscheidende Aussagen zum Menschenbild des Gesetzgebers, z. B . im Hinblick auf die Stellung des Beschuldigten und die Regelung verbotener Vernehmungsmethoden (§ 136a S t P O ) , entnehmen. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters und das Recht auf rechtliches Gehör sind zentrale rechtsstaatliche, gerichtsverfassungsrechtliche und verfahrensrechtliche Prinzipien. 2. Die G e w ä h r l e i s t u n g des Weges z u den G e r i c h t e n a) Die Rechtsweggarantie

des Art. 19 Abs. 4 GG

Die grundrechtliche Garantie des Art. 19 A b s . 4 G G auf Gewährung von Rechtsschutz durch die Gerichte ist eine verfahrensgestaltende Grundentscheidung, in der sich das ganze dem Grundgesetz zugrunde liegende Verhältnis des Bürgers z u m Staat verfahrensrechtlich widerspiegelt; die N o r m hat prinzipielle Bedeutung für die Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips. Sie ist zu Recht als das formelle Hauptgrundrecht bezeichnet w o r d e n 3 6 . Entsprechend dem materiell-rechtlich lückenlosen Individualrechtsschutz des Art. 2 A b s . 1 G G gewährt Art. 19 A b s . 4 G G einen verfahrensrechtlich möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt. Er garantiert die vollständige N a c h p r ü f u n g eines Aktes der öffentlichen Gewalt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht 3 7 . Die öffentlich-rechtlichen Verfahrensordnungen, insbesondere die verwaltungsgerichtliche Generalklausel des § 40 A b s . 1 V w G O tragen dem Rechnung. — Dabei ist öffentliche Gewalt im Sinn des Art. 19 A b s . 4 G G nur die deutsche, an das Grundgesetz gebundene öffentliche G e w a l t 3 8 , nicht etwa auch die von einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 A b s . 1 G G ausgehende Gewalt. Soweit nicht Sonderregelungen bestehen (wie z. B . in Art. 14 A b s . 3 Satz 4, Art. 34 Satz 3 G G ) , überläßt es Art. 19 A b s . 4 G G dem einfachen Recht zu bestimmen, welcher Rechtsweg gegen welche Arten behaupteter Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt eröffnet ist; Art. 19 A b s . 4 Satz 2 enthält allerdings einen Auffangtatbestand, der sicherstellt, daß mangels anderer Rechtswege jedenfalls der ordentliche Rechtsweg eröffnet ist. Zur „öffentlichen G e w a l t " i. S. des Art. 19 A b s . 4 G G gehören nicht die Gesetzgebung (wegen der Sonderregelung des Art. 100 A b s . 1 G G ) 3 9 und nicht Akte der rechtsprechenden Gewalt. „ D e n n Art. 19 A b s . 4 G G gewährt Schutz durch den Richter, nicht gegen den R i c h t e r " 4 0 . Regierungsakte sind — als Teil der Exekutive — dagegen v o m Anwendungsbereich der N o r m grundsätzlich nicht ausgenommen. Sie greifen jedoch wegen ihres allgemeinen Charakters selten in die Rechtssphäre eines 36

37

G . DÜRIG in: MAUNZ/DÜRIG, G G , A r t . 19

38

B V e r f G E 58, 1/26.

Abs. 4, 1958, Rdn. 1 und 2.

39

BVerfGE 24, 33/49; kritisch hierzu DÜRIG

B V e r f G E 8, 2 7 4 / 3 2 6 ; 18, 2 0 3 / 2 1 2 ; 21, 191/ 195 .

40

( F n . 36) R d n . 18. B V e r f G E 15, 2 7 5 / 2 8 0 ; 49, 3 2 9 / 3 4 0 .

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1220

einzelnen ein. In der Praxis dürfte es deshalb meist an der Betroffenheit des Antragstellers fehlen. Der Ermessensbereich der Regierung ist weit; eine Befugnis zur Nachprüfung der politischen Zweckmäßigkeit besteht nicht. — Die Justiziabilität von Gnadenentscheidungen ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis auf weiteres geklärt. Der Zweite Senat hat sie — allerdings mit Stimmengleichheit — grundsätzlich verneint 41 . Anders liegt es jedoch beim Widerruf eines erteilten Gnadenerweises. Hier ist die Exekutive durch die Gnadenentscheidung Bindungen eingegangen; der dem Verurteilten gewährte Freiheitsraum unterliegt nicht mehr der freien Verfügbarkeit der Exekutive. Widerrufs-Entscheidungen der Gnadenbehörden können deshalb gerichtlich nachgeprüft werden 42 . Eine in ihrer Zulässigkeit umstrittene 43 Ausnahme von Art. 19 Abs. 4 G G (vgl. Abs. 4 Satz 3) enthält Art. 10 Abs. 2 Satz 2 G G in Verbindung mit Art. 1 § 9 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (G 10) vom 13. 8. 1968. Bei Überwachungsmaßnahmen nach diesem Gesetz erfolgt — unter Ausschluß des Rechtsweges — die Kontrolle durch ein Abgeordnetengremium und durch eine von diesem Gremium bestellte unabhängige Kommission. Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts 44 hat diese Regelung mit fünf zu drei Stimmen in einer mit viel Kritik bedachten Entscheidung als zulässig erachtet. Der Ausschluß des Rechtswegs darf jedoch nur solange bestehen, wie die Überwachungsmaßnahme geheim bleibt. Wird der Betroffene gemäß § 9 Abs. 5 G 10 nachträglich unterrichtet, entfällt die Sonderregelung. Dem Betroffenen steht der normale Verwaltungsrechtsweg offen; § 9 Abs. 6 Satz 2 G 10 in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 1 3 . 9 . 1978 (BGBl. I 1546 stellt dies ausdrücklich klar. Das V G Köln hat in einem einschlägigen Verfahren festgestellt, das Abhören der Ferngespräche des Klägers sei rechtswidrig gewesen, weil die Sachaufklärung vor der Anordnung unzureichend gewesen sei 45 . b) Wirkungsvoller Rechtsschutz Art. 19 Abs. 4 G G gewährleistet den Rechtsweg grundsätzlich nur im Rahmen der jeweils geltenden Verfahrensordnungen. Die Anrufung der Gerichte darf deshalb ohne weiteres von der Erfüllung der in den Verfahrensgesetzen bestimmten formalen Voraussetzungen abhängig gemacht werden 46 . Dazu gehören etwa die Einhaltung bestimmter Fristen, die ordnungsgemäße Vertretung, ein Anwaltszwang oder Kostenvorschriften einschließlich der herkömmlichen Regelung des Armenrechts bzw. jetzt der Prozeßkostenhilfe. Auch folgt weder aus diesem Grundrecht noch aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip die Gewährleistung eines Instanzenzugs 47 .

"i BVerfGE 25, 352/358 ff; a. A. BayVerfGHE 18, 140. « BVerfGE 30, 108/11 Of. 4 3 Vgl. die Sondervoten zu BVerfGE 30, 1 so-

44 45

wie u . a. die bei CHR. GUSY D e r Schutz v o r

46

Überwachungsmaßnahmen nach dem Gesetz zur Beschränkung des Art. 10 GG, in:

47

N J W 1981, 1581/1582 Fn. 4 zitierte Literatur. BVerfGE 30, 1. Urteil vom 11. 12. 1980, N J W 1981, 1630. BVerfGE 9, 194/199; 10, 264/268. BVerfGE 44, 302/305.

1221

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

Jedoch darf das Beschreiten des Rechtswegs nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden; der gerichtlichen Durchsetzung eines materiellen Anspruchs dürfen nicht unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden 4 8 . Der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame Kontrolle in allen ihm von der Prozeßordnung zur Verfügung gestellten Instanzen 4 9 . Diese Prinzipien der Gewährleistung „effektiven" oder besser „wirkungsvollen" (wie es in jüngeren Entscheidungen heißt) Rechtsschutzes 5 0 ergeben sich nicht nur aus Art. 19 Abs. 4 G G , sondern schon aus dem Rechtsstaatsprinzip selbst, dessen Ausprägung Art. 19 Abs. 4 G G in besonderem Maße ist. Sie gelten deshalb unabhängig von der jeweiligen Verfahrensart. Aus ihnen folgt auch ein Schutz des Bürgers vor Schaffung vollendeter Tatsachen, die eine gerichtliche Entscheidung ins Leere laufen lassen würden 5 1 (etwa die aus öffentlichem Interesse nicht gebotene sofortige Abschiebung eines ausgewiesenen Ausländers). Wirksamer Rechtsschutz meint darüberhinaus Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. D a s Bundesverfassungsgericht 5 2 hat den Fall Hess (in dem es freilich einen diesbezüglichen Verstoß verneinte) zum Anlaß genommen, dies aus Art. 19 Abs. 4 G G abzuleiten; es stand dabei offenbar unter dem Eindruck einer einschlägigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 5 3 . Das Beschleunigungsgebot gilt — als Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips (und ggfls. einschlägiger Grundrechte) — jedenfalls für alle Arten von Verfahren. Die Gerichte verstoßen ferner (was zu rügen das Bundesverfassungsgericht leider immer wieder Anlaß hat) gegen den Grundsatz des wirkungsvollen Rechtsschutzes in Verbindung mit dem Recht auf rechtliches Gehör — die durch das Rechtsstaatsprinzip und durch Art. 103 Abs. 1 G G gewährleisteten Verfahrensgarantien ergänzen einander —, wenn sie, gleich in welchem Verfahren, für den Zugang fristwahrender Schriftstücke Verzögerungen in der Briefbeförderung und Zustellung durch die Bundespost der Prozeßpartei als Verschulden zurechnen 5 4 . — Unbefriedigend erscheint die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts 5 5 , es sei mit dem Grundgesetz vereinbar, daß die Gerichte die Zulässigkeit einer strafprozessualen Beschwerde gegen eine richterliche Durchsuchungsanordnung mangels Rechtsschutzbedürfnisses grundsätzlich dann verneinen, wenn die Durchsuchung bereits abgeschlossen ist (sogenannte prozessuale Überholung). Diese Rechtsprechung kann sich 48 49 50

51 52

BVerfGE 50, 16/30; 53, 115/127f. Vgl. BVerfGE 41, 23/26; 44, 302/305. BVerfGE 54, 277/291; 57, 9/22. Vgl. früher u.a. BVerfGE 50, 16/30; 53, 115/127f. Vgl. z. B. BVerfGE 35, 263/274. BVerfGE 55, 349/369f. Vgl. auch schon BVerfGE 46, 17/28f und zum Beschleunigungsgebot in einem Konkursverfahren Dreier-Beschlüsse v. 14. 2. 1979, E u G R Z 1979, 363, und v. 27. 3. 1980, BVerfGE 54, 39. Siehe im übrigen M. KLOEPFER Verfah-

rensdauer und Verfassungsrecht, in: J Z 1979, 209/211 ff. » Fall König, Urteil vom 31. 5. 1978, E u G R Z 1978, 405 = D Ö V 1978, 879. Der E G M R hat allerdings in der fünfjährigen Dauer eines Arbeitsgerichtsverfahrens keine Verletzung des Art. 6 M R K erblickt (Urteil v. 6. 5. 1981, E u G R Z 1981, 490). 5 4 BVerfGE 52, 203/207; 50, l/3f (mit Anmerk u n g G . HERBERT N J W 1979, 641 f).

55 BVerfGE 49, 329/340 ff; Vgl. auch BVerfGE 50, 48/49.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1222

zwar auf den Satz stützen, Art. 19 Abs. 4 G G gewähre Schutz durch den Richter, nicht gegen den Richter. Angesichts der Herleitung des Gebots wirkungsvollen Rechtsschutzes aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip hätte aber eine kritische Haltung näher gelegen 56 . Denn dem betroffenen Bürger wird hier faktisch der Rechtsweg genommen. Insgesamt ist festzuhalten: Art. 19 Abs. 4 G G gilt nur im Bereich des Rechtsschutzes gegen die öffentliche Gewalt. Die aus dieser Vorschrift abgeleiteten Prinzipien, insbesondere das des Anspruchs auf wirkungsvollen Rechtsschutz, ergeben sich aber für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten in gleicher Weise aus dem Rechtsstaatsprinzip; es gehört zum Begriff einer funktionstüchtigen Rechtspflege, daß die Gerichte auch im Verhältnis von Privaten zueinander effektiven Rechtsschutz gewähren 5 7 . Diese Prinzipien gelten deshalb in allen gerichtlichen Verfahren. c) Grundrecbtsschutz durch

Verfahrensgestaltung

Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Verfahrensgestaltung ergeben sich nicht nur aus dem Rechtsstaatsprinzip und den Verfahrensgrundrechten des Grundgesetzes, sondern auch aus den materiellen Grundrechten. Es entspricht einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß Grundrechtsschutz weitgehend auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist und daß die Grundrechte demgemäß nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht beeinflussen, soweit dies für einen wirkungsvollen Grundrechtsschutz von Bedeutung ist. Diese Rechtsprechung ist zunächst für den Grundrechtsschutz aus Art. 14 Abs. 1 und aus Art. 12 Abs. 1 G G entwickelt worden. Später haben beide Senate des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich entschieden, daß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G ebenfalls eine dieses Grundrecht berücksichtigende Verfahrensgestaltung gebietet (Verhandlungsfähigkeit; Räumungsschutz) 58 . In dem Mülheim-Kärlich-Beschluß vom 20. 12. 1979 hat das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung fortgeführt und ihre Bedeutung, wie auch die vertiefenden Ausführungen im Sondervotum zeigen, herausgestellt. Die Auswirkungen der Grundrechte erschöpfen sich danach nicht in der Garantie wirksamen Rechtsschutzes in Gestalt einer effektiven gerichtlichen Kontrolle unter fairer Verfahrensführung; sie beeinflussen vielmehr auch die Gestaltung des vorherigen behördlichen Verfahrens. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu deutlich gemacht, daß Anhörungs- und Mitwirkungsrechte in Genehmigungsverfahren nicht nur der Information und objektiven Sachverhaltsermittlung der Behörden,

56

Vgl. auch die Anmerkung von H . SEIBERT zu BVerfGE 49, 329, in: E u G R Z 1979, 56/ 57, ferner H . LISKEN Nochmals: Neuordnung des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, in: ZRP 1981,

57

Siehe oben S. 1200. BVerfGE 53, 30/65, 72ff; hierzu modifizierend F. OSSENBÜHL Kernenergie im Spiegel

235. 58

des Verfassungsrechts, in: D Ö V 1981, 1/5ff, und allgemein D. LORENZ Grundrechte und Verfahrensordnungen, in: N J W 1977, 865. Siehe ferner u. a. BVerfGE 52, 380/389f. Vgl. im übrigen die Beiträge von HESSE S. lOOf, und BENDA S. 495f mit den jeweiligen weiteren Nachweisen.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1223

sondern auch dem Grundrechtsschutz betroffener Dritter dienen 59 . Verfahren, die Entscheidungen zum Gegenstand haben, welche Leben, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit des Bürgers berühren können, müssen in der Ausgestaltung diesen grundrechtlichen Positionen des Bürgers formal und inhaltlich Rechnung tragen. — Neben Einzelfällen der Handhabung der Verfahrensvorschriften durch die Gerichte sind z. B. die Regelungen über den Rechtsschutz in Asylsachen wie auch die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes gegen den Bau von Kernkraftanlagen der Prüfstein für eine Effektuierung der Grundrechte. 3. Der gesetzliche Richter und das Verbot von Ausnahmegerichten Die Unabhängigkeit und Neutralität der Rechtspflege wären in Frage gestellt, wenn Parlament, Regierung oder andere Stellen den Richter an seiner Entscheidung hindern oder ihm die Verfahren entziehen oder die Gerichte von Fall zu Fall nach ihren Wünschen besetzen könnten. Die Garantie des gesetzlichen Richters durch Art. 101 Abs. 1 G G ist deshalb zentraler Bestandteil dessen, was das Wesen eines Gerichts ausmacht. Die Bestimmung soll der Gefahr vorbeugen, daß die rechtsprechenden Organe durch Manipulierung sachfremden Einflüssen unterliegen, gleichgültig von welcher Seite sie ausgehen 60 . Deshalb muß sich im Einzelfall der zuständige Richter möglichst eindeutig aus einer allgemeinen Norm ergeben. Neben die gesetzlichen Regelungen in den jeweiligen Verfahrensordnungen treten die Geschäftsordnungen und Geschäftsverteilungspläne der Gerichte ergänzend hinzu. Sie sollen gewährleisten, daß der zuständige Richter generell vorbestimmt ist und verhindern, daß er ad hoc und ad personam bestellt wird. Gesetzlicher Richter ist also derjenige Richter, der aufgrund der gesetzlichen Vorschriften über die Abgrenzung der einzelnen Gerichtszweige und der Vorschriften über die sachliche und örtliche Zuständigkeit eines Gerichts sowie aufgrund der innerhalb eines Gerichts unter den dort tätigen Richtern getroffenen Geschäftsverteilungen im Einzelfall zur Entscheidung eines bestimmten Rechtsstreits zuständig ist. Dabei muß im System der normativen Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters Vorsorge dafür getroffen sein, daß im Einzelfall ein Richter, der nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, von der Ausübung seines Amtes ausgeschlossen ist oder im Ablehnungsverfahren ausgeschlossen werden kann. Es muß also zumindest die Möglichkeit der Ablehnung wegen Befangenheit gegeben sein 61 . Die Festlegung des Geschäftsverteilungsplans ist Aufgabe der jeweiligen Präsidien der Gerichte. Es handelt sich zwar materiell um Verwaltungstätigkeit; sie wird jedoch als richterliche Selbstverwaltung in richterlicher Unabhängigkeit wahrgenommen 62 . — Um einer Umgehung des Gebots des gesetzlichen Richters entgegenzuwirken, erklärt Art. 101 Abs. 1 Satz 1 G G „Ausnahmegerichte" ausdrücklich für unzulässig. Gerichte, die in

59

Vgl. A . WEBER A n m . zu B V e r f G E 53, 30, in: J Z 1980, 314F sowie K . REDEKER Grundgesetzliche Rechte auf Verfahrensteilhabe — Bemerkungen zu einem status activus processualis, in: N J W 1980, 1593/1594.

60

« 62

B V e r f G E 48, 246/254 m. w. N . B V e r f G E 21, 139/146; 30, 149/153. Vgl. hierzu auch L . FRAUENDORF Zur richterlichen Selbstverwaltung im demokratischen Rechtsstaat, in: D Ö V 1980, 553/556.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1224

Abweichung von der gesetzlichen Zuständigkeit besonders gebildet und zur Entscheidung einzelner konkreter oder individuell bestimmter Fälle berufen sein sollen, sind also verboten 63 . Gerichte für besondere Sachgebiete können dagegen, wie Art. 101 Abs. 2 G G herausstellt, ohne weiteres durch Gesetz errichtet werden 64 . Ein Gericht kann jemanden seinem gesetzlichen Richter auch dadurch entziehen, daß es die Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht willkürlich außer Acht läßt 65 . Das gilt auch und gerade dann, wenn das Gericht, dem vorzulegen ist, nur über eine bestimmte Rechtsfrage zu entscheiden hat. Keine Frage des Art. 101 Abs. 1 G G ist es jedoch, wenn ein Gericht es entgegen dem Gesetz unterläßt, die Revision oder eine weitere Beschwerde zuzulassen. Denn der gesetzliche Richter des Obergerichts tritt erst mit der Zulassung in Erscheinung. Das Gericht, das über die Zulassung zu entscheiden hat, bleibt insoweit im vollen Umfang gesetzlicher Richter, während es im Vorlagefall für eine Teilfrage kraft Gesetzes gerade nicht gesetzlicher Richter ist 66 . Die grundgesetzliche Norm über den gesetzlichen Richter ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts67 allerdings nicht in jedem Fall verletzt, in dem ein anderer als der „gesetzliche Richter" tätig wird. Beruht das Tätigwerden eines nach den einschlägigen Regelungen der Geschäftsverteilung an sich nicht zuständigen Richters lediglich auf einem Verfahrensirrtum, so scheidet eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G G aus. Ein vom Bundesverfassungsgericht zu beanstandender Verstoß liegt nach dieser Rechtsprechung nur bei Willkür vor, wenn also die Bestimmung des entscheidenden Richters auf unsachlichen Erwägungen beruht oder offensichtlich unhaltbar ist. 4. Der Anspruch auf rechtliches Gehör Das Recht auf Gehör ist als Eckpfeiler fairen gerichtlichen Verfahrens in allen rechtsstaatlichen Prozeßordnungen verankert. Art. 103 Abs. 1 G G gibt demgemäß als prozessuales Urrecht des Menschen (audiatur et altera pars) 68 und zugleich objektivrechtliches Verfahrensprinzip den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens das Recht, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt und zur Rechtslage vor Erlaß der Entscheidung zu äußern, vor Gericht Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen. Das Gericht darf einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrundelegen, zu denen sich die Beteiligten vorher äußern konnten 69 . Der Bürger muß als Folgerung aus dem

« 64

65

66

BVerfGE 3, 213/223. Vgl. zu den Voraussetzungen BVerfGE 27, 355/361 ff. BVerfGE 23, 288/320; 42, 237/241, st. Rspr. Ob dies auch für eine Vorlage an den EuGH gilt, hat das Gericht (E 31, 145/169) bisher offengelassen, wäre aber m. E. zu bejahen. Vgl. auch BVerfGE 19, 323/328; a. A. A. KRÄMER Die Nichtzulassung der Revision, in: FamRZ 1980, 971/972f.

Nachweise bei LEIBHOLZ/RINCK GG, 6. Aufl., ab 1979, Art. 101, Rdn. 6. Beachte aber auch die andersartige Fallkonstellation BVerfGE 31, 181. 6 8 Vgl. zur Geschichte A. WACKE Audiatur et altera pars, in J. ArbBl. 1980, 594. w Vgl. z. B. BVerfGE 54, 140/142 und BVerfG E 50, 280/284; ferner BVerfGE 55, 1/6. 67

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1225

Grundsatz der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip stets als Person gesehen und behandelt werden; er darf nicht zum bloßen Objekt einer richterlichen Entscheidung degradiert werden. Er muß die Möglichkeit haben, Einfluß auf das Verfahren und dessen Ergebnis zu nehmen 70 . Zu dem einer Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt gehört auch jede dem Gericht unterbreitete Stellungnahme der Gegenseite. Dies jedenfalls dann, wenn sie einen Tatsachenvortrag enthält. Bisher ausdrücklich offengelassen hat das Bundesverfassungsgericht 71 , ob für eine Stellungnahme, die nur Rechtsausführungen enthält, etwas anderes gilt. Demgemäß ist auch heute noch umstritten, ob — abgesehen vom Fall einer „Überraschungsentscheidung" — die Beteiligten nach Art. 103 Abs. 1 G G von Verfassungs wegen auch zu den Rechtsfragen des konkreten Verfahrens zu hören sind 7 2 . Große praktische Bedeutung kommt dieser Frage allerdings nicht zu, weil die Gerichte hier im allgemeinen keinen Unterschied machen. Ein Rechtsgespräch im Rahmen einer mündlichen Verhandlung garantiert Art. 103 Abs. 1 G G jedenfalls nicht. Dem Recht der Beteiligten auf Gehör entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wie das Bundesverfassungsgericht 73 in ständiger Rechtsprechung betont. Die Entscheidungen sollen frei von Verfahrensfehlern ergehen, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Dabei sind die Gerichte allerdings nicht gehalten, sich mit jedem Vorbringen in der Begründung der Entscheidung ausdrücklich zu befassen. Eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 G G liegt nur dann vor, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen deutlich ergibt, daß das Gericht seiner Pflicht zur Kenntnisnahme und Berücksichtigung des Sachvortrags der Parteien nicht nachgekommen ist. 5. Das Recht auf ein faires Verfahren a) Allgemeine

Grundsätze

Das Rechtsstaatsprinzip gehört zu den allgemeinen Grundsätzen und Leitlinien, die das Grundgesetz nicht zu einem besonderen Rechtssatz verdichtet hat. Es enthält — soweit es nicht in einzelnen Sätzen der Verfassung für bestimmte Fragenkreise ausgeformt und präzisiert ist — keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote und Verbote von Verfassungsrang, sondern ist ein Verfassungsgrundsatz, der der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten bedarf 7 4 . Eine dieser Konkretisierungen ist das Recht auf ein faires Verfahren, das — wie das Bundesverfas-

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71

72

BVerfGE 9, 93/95. Eingehend zur Tragweite des Art. 103 Abs. 1 G G : BVerfGE 60, 305/ 310ff. BVerfGE 19, 32/36; 55, 95/98 mit Anm. J. BERKEMANN in: E u G R Z 1981, 143/145. V g l . h i e r z u BERKEMANN a a O u n d G . in:

MAUNZ/DÜRIG

GG,

Art.

103,

DÜRIG 1960,

Rdn. 33 ff, ferner neben anderen A. ARNDT

73

74

Das rechtliche Gehör, in: NJW 1959, 6. Siehe ferner BVerfGE 31, 364/370: Keine Garantie eines Rechtsgesprächs. Vgl. zu diesen Fragen BVerfGE 42, 364/368; 50, 32/35; 53, 219/222; 54, 43/45f. BVerfGE 52, 131/144; 57, 250/275f. - Vgl. hierzu auch den Beitrag von BENDA S. 495.

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7. Kapitel. Staatliche Funktionen

sungsgericht wiederholt betont hat 75 — zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens überhaupt, insbesondere aber des Strafverfahrens mit seinen möglichen einschneidenden Auswirkungen für den Beschuldigten zählt. Die Wurzel dieses allgemeinen Prozeßgrundrechts findet sich in den in einem materiell verstandenen Rechtsstaatsprinzip verbürgten Grundrechten und Grundfreiheiten des Menschen, insbesondere in dem durch ein Strafverfahren bedrohten Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), dessen freiheitssichernde Funktion auch im Verfahrensrecht Beachtung erfordert. Es hat seinen Grund ferner in der Würde der Person, die es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt eines staatlichen Verfahrens herabzuwürdigen, und von daher einen Mindestbestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen des Angeklagten voraussetzt 76 . Das demnach aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 1 G G ) abgeleitete Recht auf ein faires, rechtsstaatliches gerichtliches Verfahren nicht nur im Strafprozeß, sondern in Verfahren jeder Art bedarf nun allerdings auch seinerseits noch der Konkretisierung. Dabei korrespondiert mit konkreten Ansprüchen eines Verfahrensbeteiligten auf einen fairen Prozeß eine „Fürsorgepflicht" des Gerichts gegenüber den Beteiligten. Diese Fürsorgepflicht kann einfachrechtlich weitergehen — und tut es häufig — als das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß. Im umfassenden Sinn gewährleistet danach dieses allgemeine Prozeßgrundrecht dem Betroffenen, im Strafverfahren prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrzunehmen, um Ubergriffe der rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können 77 . Weitere konkrete Ausflüsse dieses Rechts sind z . B . die Vorschriften der Strafprozeßordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers im Strafverfahren. Ein Beschuldigter hat von Verfassungs wegen das Recht, sich im Strafprozeß von einem gewählten Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen; vermag er die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen, muß er in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand erhalten 78 . Ferner ist ein Zeuge gegen Selbstbezichtigung geschützt 79 . Insbesondere gewährleistet dieses Prozeßgrundrecht „Waffengleichheit" von Ankläger und Beschuldigtem; es dient damit in besonderem Maße dem Schutz des Beschuldigten, für den bis zur Verurteilung die Vermutung seiner Unschuld streitet 80 . Die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip im Strafprozeß nicht verwirklicht werden kann, erweist sich von daher als ein zentrales Anliegen des Strafprozesses. Für alle Verfahrens arten gilt das Gebot, daß das Gericht das Beweisrecht, insbesondere die Beweislastregeln, fair handhabt 81 . Für die Frage, was in bestimmten Verfahrenssituationen einem fairen Verfahren ent75

76

77 78

Vgl. die Nachweise in BVerfGE 46, 202/ 210. BVerfGE 26, 66/71 i. V. m. BVerfGE 9, 89/ 95; 57, 250/275. BVerfGE 38, 105/111. BVerfGE 39, 238/243.

79 80

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BVerfGE 56, 37/45. BVerfGE 38, 105/111; Vgl. zur Unschuldsvermutung auch BVerfGE 22, 254/265. BVerfGE 52, 131/145, 152, 155 - Arzthaftung — (für den Zivilprozeß).

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1227

spricht, muß auf eine Gesamtschau der speziellen grundrechtlichen Verfahrensgarantien sowie den Standard der Ausgestaltung unserer Verfahrensordnung zurückgegriffen werden. Ergänzend läßt sich Art. 6 E M R K heranziehen 82 . Die Rechte auf ein faires Verfahren stehen jeder Person zu, die Beteiligte oder Betroffene eines gerichtlichen Verfahrens ist. Der Ausländer hat dabei die gleichen prozessualen Grundrechte sowie den gleichen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren und auf umfassenden und effektiven gerichtlichen Schutz wie jeder Deutsche. Das folgt nicht erst aus Art. 3 Abs. 3 G G , sondern unmittelbar aus den prozessualen Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip selbst, die für jedermann gelten 83 . Für den Ausländer ergibt sich daraus im Strafverfahren das Recht auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers. Eine schwierige Frage ist, inwieweit darüberhinaus gerichtliche Schriftstücke, insbesondere Entscheidungen, unentgeltlich übersetzt werden müssen. b) Chancengleichheit

beim Zugang zu den Gerichten

Letztlich auch eine Frage der „Waffengleichheit im weiteren Sinn und damit des fairen Verfahrens ist die Chancengleichheit beim Zugang zu den Gerichten und in der Wahrnehmung prozessualer Rechte. Gleichzeitig greift hier allerdings auch der allgemeine Gleichheitssatz ein. Er gewährleistet im Zivilverfahren die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter und gebietet Gleichheit der Rechtsanwendung durch den Richter im Interesse materialer Gerechtigkeit. Diese verfassungsrechtliche Verpflichtung gilt nicht nur bei der Auslegung und Anwendung sachlichen Rechts; sie gilt auch für die Handhabung des Verfahrensrechts. Dieses dient der Herbeiführung gesetzmäßiger und unter diesem Blickpunkt richtiger, aber darüberhinaus auch im Rahmen dieser Richtigkeit gerechter Entscheidungen 84 . Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht aus Art. 3 Abs. 1 G G das Verbot abgeleitet, offensichtlich unsachliche Erwägungen zur Grundlage einer staatlichen Entscheidung zu machen — ohne daß es auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts ankäme —, und in mehreren Fällen Entscheidungen von Fachgerichten als objektiv willkürlich aufgehoben. In Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 G G ) gebietet der verfassungsrechtliche Gleichheitsgrundsatz eine weitgehende Angleichung der Stellung von bemittelten und unbemittelten Parteien im Bereiche des Rechtsschutzes 85 . Diese Gleichstellung war bisher schon durch die Gewährung des Armenrechts sichergestellt. Sie hat durch die im Jahre 1980 erlassenen neuen Gesetze über die Prozeßkostenhilfe und die Beratungshilfe 86 eine wesentliche Verbesserung erfahren. Vgl. dazu W. PEUKERT Die Garantie des „fair trial" in der Straßburger Rechtsprechung, in: E u G R Z 1980, 247. « BVerfGE 40, 95/98 f. 8 4 BVerfGE 54, 117/124 f. - Siehe zu Aufhebungen wegen objektiver Willkür z. B. BVerfGE 57, 39 und 58, 163. 8 5 BVerfGE 56, 139/143.

82

86

Gesetz über die Prozeßkostenhilfe vom 13. 6. 1980 (BGBl. I 677); Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen — Beratungshilfegesetz - vom 18. 6. 1980 (BGBl. I 689). Dazu W. GRUNSKY Die neuen Gesetze über die Prozeßkosten- und die Beratungshilfe, i n : N J W 1 9 8 0 , 2 0 4 1 ; P . SCHUSTER D a s

Ge-

1228

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

6. Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehungen Der Parlamentarische Rat hat es nach den Erfahrungen der NS-Zeit für erforderlich gehalten, über Art. 114 WRV hinausgehend die Voraussetzungen einer Freiheitsentziehung detailliert zu regeln. Art. 104 GG, der sich im IX. Abschnitt des Grundgesetzes über die Rechtsprechung befindet und diese Voraussetzungen enthält, korrespondiert mit dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG auf Freiheit der Person. Formelle Gewährleistungen der Freiheit und materielle Freiheitsgarantie befinden sich in einem unlöslichen Zusammenhang 87 . Art. 104 Abs. 1 GG wiederholt und ergänzt den Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG für Freiheitsbeschränkungen jeder Art. Er bestimmt, daß für jede Freiheitsbeschränkung eine materiellrechtliche Grundlage in Gestalt eines förmlichen Gesetzes bestehen muß. Aus dieser Verschärfung des schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalts, die noch durch die formalen Garantien des Art. 104 Abs. 2 GG ergänzt wird, läßt sich entnehmen, daß es dem Grundgesetz im Bereich der Freiheitsentziehungen auf eine besonders rechtsstaatliche, förmliche Regelung ankommt. Der Gesetzgeber soll gezwungen werden, Freiheitsentziehungen in berechenbarer, meßbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln 88 . Art. 104 Abs. 2 GG unterwirft den schwersten Eingriff, die Entziehung der Freiheit, der Entscheidung des Richters. Diese ist unverzüglich herbeizuführen, falls die Freiheitsentziehung auf einer nichtrichterlichen Anordnung (z. B. der Staatsanwaltschaft) beruht. Aus den Absätzen 3 und 4 des Art. 104 GG ergeben sich bestimmte, wichtige formale Rechte eines Festgenommenen. In materieller Hinsicht folgen für die Anordnung und den Vollzug der Untersuchungshaft, den wichtigsten Anwendungsfall einer Freiheitsentziehung, aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG für den Richter wesentliche Kriterien. Rang und Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person sowie der Grundsatz der Unschuldsvermutung lassen eine Freiheitsentziehung gegenüber einem einer Straftat lediglich Verdächtigen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zu 89 . Daraus ergibt sich, daß in dem Spannungsverhältnis zwischen der persönlichen Freiheit des Einzelnen und den Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegengehalten werden muß. Die Untersuchungshaft muß also in Anordnung und Vollzug von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht werden; der Eingriff in die Freiheit ist nur hinzunehmen, wenn und soweit einerseits wegen dringenden, auf konkrete Anhaltspunkte gestützten Tatverdachts begründete Zweifel an der Unschuld des Verdächtigen bestehen, andererseits der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als dadurch, daß der Verdächtige vorläufig in Haft

87 88

setz über die Prozeßkostenhilfe, in: ZZP 93 (1980) 361. B V e r f G E 10, 302/322; 14, 174/186. B V e r f G E 29, 183/195f.

89

Vgl. insbesondere B V e r f G E 19, 342/347ff. - Zu den Grenzen der (hier 12jährigen) Aufrechterhaltung auch eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls: B V e r f G E 53, 152.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1229

genommen wird. Der Richter muß also stets im Auge behalten, daß es der vornehmliche Zweck und der eigentliche Rechtfertigungsgrund der Untersuchungshaft ist, die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen. Ist die Untersuchungshaft zu einem dieser Zwecke nicht (mehr) unbedingt nötig, so ist es unverhältnismäßig und daher unzulässig, sie anzuordnen, aufrechtzuerhalten oder zu vollziehen. Diesen verfassungsrechtlichen Erfordernissen und Grundsätzen entspricht die gesetzliche Regelung in der Strafprozeßordnung über die Anordnung von Untersuchungshaft. Bei ihrer praktischen Handhabung ergeben sich aber nicht selten Probleme. 7. Besondere Grundrechte des Beschuldigten Neben den bisher behandelten verfassungsrechtlichen Gewährleistungen für das gerichtliche Verfahren, die in allen Verfahrensarten Bedeutung haben — wenn sich auch hier schon gewisse Schwerpunkte im Strafprozeß ergaben —, enthält das Grundgesetz einige Regelungen, die von vornherein nur in Straf- oder ähnlich ausgestalteten Verfahren zur Geltung kommen. Es handelt sich um das Bestimmtheitsgebot für Strafgesetze und das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 2 und Abs. 3 GG), ferner um das Verbot der Verhängung der Todesstrafe (Art. 102 GG). a) Bestimmtheit der Strafbarkeit Die in Art. 103 Abs. 2 GG vorgeschriebene gesetzliche Bestimmtheit von Strafgesetzen und das Gebot des Bestehens eines gültigen Strafgesetzes im Zeitpunkt der Tat, wenn diese strafbar sein soll, stehen in einem engen Zusammenhang mit den Freiheitsrechten des Einzelnen gegenüber dem Staat 90 . Historisch knüpft Art. 103 Abs. 2 GG an einschlägige Bestimmungen des preußischen Strafrechts von 1851 sowie an Art. 116 WRV an. Sinn der Regelung ist, dem Bürger die Grenze des straffreien Raumes klar vor Augen zu stellen, damit er sein Verhalten daran orientieren kann. Jede Rechtsnorm, an deren Verletzung eine strafrechtliche Sanktion geknüpft ist, muß deshalb von dem dazu berufenen Organ in einem formell geordneten Verfahren erlassen, mithin auch schriftlich fixiert und veröffentlicht sein und sich im Zeitpunkt der Tat bereits in Geltung befinden 91 : nullum crimen, nulla poena sine lege. — Tatbestand und Strafe müssen im Zeitpunkt der Tat gesetzlich bestimmt sein 92 . Jedermann soll vorhersehen können, welches Handeln mit welcher Strafe bedroht ist, um sein Verhalten dementsprechend einrichten zu können. Die Tatbestandsmerkmale sind so konkret zu umreißen und genau zu bestimmen, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen 93 . — Grundsätze, die auch durch Art. 7 Abs. 1 EMRK garantiert werden.

90

Vgl. DÜRIG (Fn. 72) A r t . 1 0 3 R d n .

91

BVerfGE 32, 346/362.

103f.

92

DÜRIG (Fn. 72) A r t . 1 0 3 R d n .

93

BVerfGE 57, 250/262.

108.

1230

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Dies schließt allerdings die Verwendung von Generalklauseln und wertausfüllungsbedürftigen oder auslegungsfähigen Begriffen 9 4 nicht von vornherein aus. Auch Blankettstrafgesetze, die die Beschreibung des Straftatbestandes durch die Verweisung auf eine Ergänzung im gleichen Gesetz oder in anderen — auch künftigen — Gesetzen oder Rechtsverordnungen (die den Tatbestand näher spezifizieren) ersetzen, die nicht notwendig von derselben rechtsetzenden Instanz erlassen werden müssen, sind grundsätzlich zulässig 9 5 . Art. 103 Abs. 2 erfaßt nicht nur Kriminalstrafen, sondern auch das Ordnungswidrigkeitenrecht, ferner — mit gewissen Einschränkungen — auch ehrengerichtliche und Disziplinarstrafen 96 . Konsequenzen des Gebots der Bestimmtheit der Strafbarkeit sind: das Verbot des Gewohnheitsrechtes, das Analogieverbot zum Nachteil des Angeklagten und das Rückwirkungsverbot 9 7 . Das Rückwirkungsverbot gilt allerdings nur für Gesetze, die die Strafbarkeit begründen und verschärfen. Es erfaßt im übrigen alle materiellen Vorschriften des Strafrechts einschließlich der objektiven Strafbarkeitsbedingungen. Die formellen Regelungen über die Verjährung werden nicht erfaßt. Deshalb war § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen vom 13. 4. 1965 (BGBl. I 315), wonach bei der Berechnung der Verjährungsfrist für die Verfolgung von Verbrechen, die mit lebenslangem Zuchthaus bedroht waren, die Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1949 außer Ansatz blieb, mit Art. 103 Abs. 2 G G vereinbar 98 . Das 16. Strafrechtsänderungsgesetz vom 16. 7. 1979 (BGBl. I 1046) hat durch eine Neufassung des § 78 Abs. 2 StGB die Verjährung für den Mord generell beseitigt und damit das Problem der Verjährung von NS-Verbrechen endgültig mit einem Schlußstrich versehen (vgl. zur 1. Lesung des entsprechenden Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag das Plenarprotokoll 8/145 vom 29. 3. 1979). b) Verbot der Doppelbestrafung Der durch Art. 103 Abs. 3 G G in den Rang eines Verfassungssatzes und Prozeßgrundrechts erhobene Satz ,,ne bis in idem" wurde schon vor Inkrafttreten des Grundgesetzes in der Rechtsprechung allgemein anerkannt und beachtet. Er galt von jeher als grundlegender Satz des Strafprozeßrechts. Er schließt die abermalige Verfolgung wegen derselben Tat aus, welche Gegenstand einer früheren Aburteilung war. Entscheidend dafür, ob in einem konkreten Fall „dieselbe T a t " vorliegt, ist der geschichtliche Vorgang, auf den Anklage- und Eröffnungsbeschluß hinweisen und innerhalb dessen ein Angeklagter als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll 9 9 . Da das Grundgesetz keine Definition des Tatbegriffs enthält, nimmt das Doppelbestrafungsverbot also insoweit auf einen Grundsatz des vorverfassungsrechtlichen Prozeßrechts Bezug. Dementsprechend gilt dieses Prinzip auch nur dann, wenn ein Gericht der Bundesrepublik Deutschland entschieden hat.

94 95 96 97

BVerfGE 32, 346/364. B V e r f G E 14, 245/251 f; 37, 201/209. B V e r f G E 41, 314/319f; 26, 186/204. DÜRIG (Fn. 72) Rdn. 109ff.

98 99

BVerfGE 25, 269. Vgl. hierzu B V e r f G E 23, 191/202f; 56, 22/ 27f; 12, 62/66.

1231

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

Das Bundesverfassungsgericht 1 0 0 hat indes auch betont, daß die dem älteren Recht zu entnehmenden Grundsätze im Lichte der Grundrechte zu interpretieren sind. Daraus ergibt sich z. B . , daß „dieselbe T a t " im Sinne des Art. 103 Abs. 3 G G auch vorliegt, wenn die wiederholte Nichtbefolgung einer Einberufung zum zivilen Ersatzdienst auf die ein für allemal getroffene und fortwirkende Gewissensentscheidung des Täters zurückgeht. c) Keine

Todesstrafe

Nach Art. 102 G G ist die Todesstrafe „abgeschafft". Die Strafgewalt wird also auf Strafandrohungen unterhalb der Todesstrafe beschränkt. Art. 102 G G enthält insoweit ein Prozeßgrundrecht 1 0 1 . Die sich hier stellenden verfassungsrechtlichen Fragen nach der Tragweite der N o r m , die auch eine Reaktion auf den exzessiven Gebrauch der Todesstrafe während des Nationalsozialismus ist, und insbesondere dem Verhältnis des Art. 102 G G zu dem Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 G G können im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht behandelt werden. Die Kommentierung durch RUPERT SCHOLZ gibt eine hervorragende Einführung. Praktische Bedeutung hat Art. 102 G G bei der Frage, ob der Deutschen Staatsgewalt — in den Grenzen des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 und 2 G G — die Auslieferung eines Straftäters an einen ausländischen Staat erlaubt ist, der die Todesstrafe kennt und der diese gegen den ausgelieferten Straftäter vollstrecken könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in einem Beschluß von 1964 für zulässig erklärt 1 0 2 . Im Lichte der seitherigen Entwicklung des Grundrechtsverständnisses und internationaler Bemühungen um eine Ächtung der Todesstrafe erscheint sehr zweifelhaft, ob diese Entscheidung heute noch Bestand haben kann. Die Bundesregierung bewilligt — im Einklang mit ihrem Eintreten für eine weltweite Abschaffung der Todesstrafe — in Fällen, in denen dem Auszuliefernden im ersuchenden Staat die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht, entsprechend einer seit Jahren ständig geübten Praxis die Auslieferung nur dann, wenn der ersuchende Staat förmlich zusichert, daß die Todesstrafe weder verhängt noch vollstreckt wird (vgl. jetzt § 8 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen — I R G — vom 23. 12. 1982 und die Begründung zu § 7 des Reg.-Entwurfs, BT-Drucks. 9/1338, S. 42, 103, 112).

8. Der Grundsatz der Öffentlichkeit Der Grundsatz der Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen vor dem erkennenden Gericht gehört nur bedingt in den Rahmen der verfassungsrechtlichen Gewährleistungen für die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren. Nach einer Feststellung des Bundesverfassungsgerichts sind die Prinzipien der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit der Verhandlung keine Verfassungsrechtsgrundsätze, sondern

100 101

BVerfGE 23, 191/203. R. SCHOLZ in: MAUNZ/DÜRIG G G , Art. 102, 1978, Rdn. 5 ff.

102

BVerfGE 18, 112/116ff. - Siehe zur gegenwärtigen Praxis der BReg BVerfGE 60, 348/ 354f.

1232

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Prozeßrechtsmaximen, die bestimmte Verfahrensarten beherrschen 103 . Sie haben vor allem in § 169 GVG, der in den Verfahrensordnungen der anderen Gerichtszweige entsprechende Anwendung findet, ihre normative Grundlage. Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist aus den politischen Forderungen des 19. Jahrhunderts entstanden; er gehört in seinem Kern zu den kennzeichnenden Merkmalen der modernen Rechtsprechung. In der Bayerischen Verfassung (Art. 90) ist er ausdrücklich niedergelegt. In Bayern hat er also Verfassungsrang. Das Grundgesetz garantiert ihn nicht ausdrücklich. Gleichwohl hat er als eine der grundlegenden Einrichtungen des modernen Rechtsstaats einen verfassungsrechtlichen Bezug. Die Öffentlichkeit ist nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs eine wesentliche Bedingung des öffentlichen Vertrauens zur Rechtsprechung der Gerichte; sie soll verhindern, daß die gesamte Tätigkeit des Gerichts hinter verschlossenen Türen in ein Dunkel gehüllt und dadurch Mißdeutungen und Argwohn ausgesetzt sei. Ist aber Hauptinhalt und Hauptzweck der Öffentlichkeit die Kontrolle des Verfahrensgangs durch die Allgemeinheit, dann besteht ein unmittelbarer Bezug zum Demokratieprinzip und zum Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes. Der Öffentlichkeitsgrundsatz dürfte deshalb verfassungsrechtlich legitimiert und als Prinzip in seinem Kern auch garantiert sein. Dabei muß jedoch seine Ausgestaltung im einzelnen, insbesondere auch seine Einschränkung im Interesse anderer Schutzgüter, dem Gesetzgeber überlassen bleiben.

IV. Organe der Rechtspflege 1. Die Stellung des Richters nach dem Grundgesetz a) Das Richterverhältnis Die Wahrung des Rechts durch die Rechtsprechung hängt in entscheidendem Maße von der rechtlichen Stellung der Richter, insbesondere der Berufsrichter, von der Organisation der Gerichte (Gerichtsverfassung) und der Ausgestaltung der Verfahren ab. Zwischen der Funktion Rechtsprechung und dem Richteramt besteht ein notwendiger Zusammenhang. Sie sind einander korrelierende und sich wechselseitig bedingende Begriffe (STERN). Denn der „Richter" als unparteilicher, neutraler Dritter prägt erst die Funktion 104 . Mit der Übertragung der rechtsprechenden Gewalt auf die „Richter" betont das Grundgesetz also nicht nur die herausgehobene Stellung dieser Staatsaufgabe; es kennzeichnet gleichzeitig den Berufsrichter als ein von den anderen Trägern öffentlicher Ämter zu unterscheidendes Organ mit besonderen Rechten und

103

B V e r f G E 15, 3 0 3 / 3 0 7 . verfassungsrechtliche

ferner das Gutachten von H . ZIPF, Verh. des

F ü r eine gewisse

Ableitung

5 4 . D J T , 1 9 8 2 , B d . I, S. C 3 6 f f .

jedoch

KERN/WOLF ( F n . 12) S. 162, K . SCHÄFER in:

104

K . STERN ( F n . 12) S. 9 0 2 f m . w . N . ; vgl. im

LÖWE/ROSENBERG S t P O u. G V G , 2 3 . Aufl.,

übrigen KERN/WOLF (Fn. 12) S. 9 4 f f ; K . E i -

B d . 5, 1979, vor § 169 G V G , R d n . 2 f , und

CHENBERGER Die richterliche Unabhängig-

wohl auch KISSEL ( F n . 12) § 169 R d n . l f f ,

keit als staatsrechtliches Problem, 1 9 6 0 , S.

21.

3 . Abschnitt. D i e Rechtsprechung (HEYDE)

1233

Pflichten. Konkrete Ausprägung ist Art. 97 G G , der die richterliche Unabhängigkeit garantiert. Er wird durch die Abschnitte des Deutschen Richtergesetzes über die Unabhängigkeit des Richters und besondere Pflichten des Richters (§§ 25 bis 43) konkretisiert und ergänzt. Unverzichtbare Voraussetzung für effektive richterliche Kontrolle ist die Unabhängigkeit und damit Neutralität des Kontrollorgans. Dies will letztlich auch Art. 98 G G sichern, der in seinen Absätzen 1 und 3 fordert, daß die Rechtsstellung der Richter im Bund und in den Ländern durch besondere Gesetze zu regeln ist. Das Deutsche Richtergesetz und die einzelnen Landesrichtergesetze haben diesen Verfassungsauftrag vollzogen; die Besoldungsgesetze haben ihm durch eine eigene Besoldungsordnung für Richter und Staatsanwälte Rechnung getragen. Danach unterscheidet sich das Richterverhältnis vom Beamtenverhältnis, mögen auch zahlreiche Bestimmungen des Beamtenrechts — soweit sie die Eigenart der Stellung des Richters, insbesondere dessen persönliche und sachliche Unabhängigkeit nicht berühren — auf den Richter Anwendung finden. Beamte und Richter sind strukturell wesensverschiedene Amtsträger 105 . (Diese Unterscheidung kommt übrigens an verschiedenen Stellen des Grundgesetzes zum Ausdruck; vgl. neben den Artikeln 92ff: Art. 60 Abs. 1, 74a Abs. 4, 132 Abs. 1 und 137 Abs. 1.) Wenn der Parlamentarische Rat auf diese Weise mit der Herausstellung der Eigenart der Rechtsprechung gegenüber den anderen Gewalten durchaus neue Akzente setzen wollte, so hat er damit aber — abgesehen von der Herauslösung aus dem Beamtenverhältnis — keinen neuen Richtertypus schaffen wollen. Er ist von dem Bild des Richters ausgegangen, wie es sich in Deutschland in den letzten hundert Jahren, insbesondere seit Erlaß der Reichsjustizgesetze von 1877, entwickelt hatte. Richter im Sinn des Grundgesetzes ist damit grundsätzlich der rechtswissenschaftlich besonders ausgebildete und vorgebildete Berufsrichter 106 . Er steht in einem Richterverhältnis zum Bund oder zu einem Land. Sein Inhalt ergibt sich im einzelnen aus dem Deutschen Richtergesetz, dessen §§ 1 bis 43 in gleicher Weise für das Richteramt im Bund und in den Ländern gelten, und das in seinen §§ 71 bis 84 Rahmenvorschriften für die Richter im Landesdienst enthält. Das Deutsche Richtergesetz läßt nur vier Arten des richterlichen Anstellungsverhältnisses zu: Richter auf Lebenszeit (nur diese können z. B. in einem Kollegium den Vorsitz führen, § 28 DRiG), die die beste Gewähr für richterliche Unabhängigkeit bieten. Ferner: Richter auf Probe mit eingeschränkter persönlicher Unabhängigkeit und Richter auf Zeit. Zu letzteren gehören die Richter des Bundesverfassungsgerichts (§ 4 BVerfGG) und die Richter im Nebenamt (vgl. § 16 VwGO). Schließlich Richter kraft Auftrags (§§ 14 bis 16 DRiG). Sie sind Beamte, die zu einem Gericht übergewechselt sind mit dem Ziel der Ernennung zum Richter auf Lebenszeit nach spätestens zwei Jahren. Bei der näheren Ausgestaltung des Richterrechts ist auch Art. 33 Abs. 5 G G zu beachten, der einen Kernbestand von Strukturprinzipien der Institution des Berufsbe105

K . STERN in: B K ,

A r t . 94 (Zweitb.

1965)

dung B V e r f G E 3 2 , 1 9 9 / 2 1 3 . - Vgl. im übri-

R d n . 9. Siehe zur F r a g e einer eigenst. Besol-

gen den Beitrag v o n J . ISENSEE S. 1191 f. 106

HERZOG ( F n . 12) A r t . 92 R d n . 7 7 f f .

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1234

amtentums und des Richterrechts schützt 107 . Zu diesen hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur ein der mit der Planstelle verbundenen Richterfunktion angemessenes Richtergehalt 108 , sondern auch eine angemessene Amtsbezeichnung 109 gerechnet. Ungeachtet der prinzipiellen Trennung zwischen Legislative und Exekutive einerseits und Rechtsprechung andererseits bestehen mittelbare Einflußmöglichkeiten der beiden anderen Gewalten auf die dritte Gewalt durch die Regelungen über die Einstellung und Beförderung der Richter sowie über mögliche Maßnahmen der Dienstaufsicht und der Disziplinargewalt. Einen mittelbaren Einfluß können Exekutive und Legislative auch über den Umfang der Ausstattung der Gerichte mit Richtern, sonstigem Personal und sächlichen Verwaltungsmitteln nehmen ( z . B . auch durch die Bildung zusätzlicher Kammern oder Senate). Die Besetzung von Beförderungsstellen innerhalb eines Gerichts liegt vielfach in der Hand des Justizministers oder des sonst zuständigen Fachministers bzw. des jeweiligen Kabinetts. Ein einheitliches Verfahren besteht aber ebensowenig wie bei der erstmaligen Berufung in ein Richteramt. Die sehr unterschiedlichen Regelungen in den Ländern für die Einstellung der Richter können hier nicht im einzelnen behandelt werden 110 . In fünf Ländern besteht ein Richterwahlausschuß, zwei Länder haben einen sogenannten Konfliktausschuß. Die Entscheidung dieser Ausschüsse ergeht zum Teil „gemeinsam mit dem zuständigen Minister". Dieser hat also ein Vetorecht. Für die Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes schreibt Art. 95 Abs. 2 GG die Wahl durch einen Richterwahlausschuß vor, der zur Hälfte aus den zuständigen Ministern der Länder und zum anderen aus vom Deutschen Bundestag gewählten Mitgliedern besteht. Der zuständige Bundesminister hat Sitz, aber nicht Stimme; er muß jedoch bei der Berufung mitwirken, kann ihr also widersprechen (vgl. § 2 Richterwahlgesetz). — Ein wichtiges Selbstverwaltungselement bei der Berufung von Richtern ist die prinzipiell notwendige vorherige Beteiligung eines Präsidialrats (§§ 55, 75 DRiG). Verantwortlichkeit

für dienstliches

Handeln

Unabhängigkeit bedeutet nicht Freiheit von Verantwortlichkeit. Auch der Richter kann für sein dienstliches Handeln zur Verantwortung gezogen werden. Aus der Unabhängigkeit ergeben sich dafür allerdings Grenzen. Losgelöst von den Fragen der Dienstaufsicht, die nachfolgend unter 1. c) näher behandelt werden, kann ein Richter strafrechtlich (nur) belangt werden, wenn er sich einer Rechtsbeugung schuldig gemacht hat (§ 336 StGB). Unbeschadet dessen besteht bei Dienstvergehen die Möglichkeit von Disziplinarmaßnahmen. Ein Dienstvergehen liegt bei schuldhafter Verletzung der dem Richter obliegenden Pflichten vor. Dies gilt für den Inhalt einer richterlichen Entscheidung aber nur dann, wenn diese sich als Rechtsbeugung im

107 108 109 110

B V e r f G E 56, 146/164. B V e r f G E 26, 93/97; 56, 146/165. B V e r f G E 38, 1/12. Einen guten Uberblick gibt J. E. STRELITZ Entstehung und Problematik von Richter-

auswahlausschüssen in Bund und Ländern, in: Die Freiheit des Anderen, Festschrift f ü r Martin Hirsch, 1 9 8 1 , S. 355.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1235

Sinne des § 336 StGB darstellt. Im förmlichen Disziplinarverfahren, über dessen Einleitung ein Dienstgericht auf Antrag der obersten Dienstbehörde entscheidet, können verschiedene Disziplinarmaßnahmen bis hin zur Entfernung aus dem Dienst verhängt werden. Ein bloßer Verweis kann auch durch Disziplinarverfügung des Dienstvorgesetzten ausgesprochen werden. Im übrigen besteht gemäß Art. 98 Abs. 2 G G die Möglichkeit der Richteranklage, wenn ein Bundesrichter im Amte oder außerhalb des Amtes gegen die Grundsätze des Grundgesetzes oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes verstößt. Uber sie entscheidet das Bundesverfassungsgericht, das mit 2 /3 Mehrheit auf Antrag des Bundestages anordnen kann, daß der fragliche Richter in ein anderes Amt oder in den Ruhestand zu versetzen ist. — Diese Regelung gilt nur für Bundesrichter der Fachgerichtsbarkeiten, nicht — wegen der Spezialvorschrift des § 105 BVerfGG — für die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts. Sie hat praktische Bedeutung bisher nicht erlangt. — Nach Maßgabe des Art. 98 Abs. 5 G G entscheidet das Bundesverfassungsgericht auch über eine Richteranklage gegen einen Landesrichter. b) Der Richter als unparteilicher

Dritter

Zum Wesen der richterlichen Tätigkeit gehört, daß sie von einem nichtbeteiligten Dritten in sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit ausgeübt wird 1 1 1 . Nicht beteiligt ist, wer am Ausgang des Verfahrens kein eigenes — unmittelbares oder auch nur mittelbares — Interesse hat, wer unparteilich ist und zu den Parteien und der zu entscheidenden Sache innere Distanz besitzt. Diese richterliche Neutralität 112 ist Voraussetzung der Objektivität der Rechtsprechung und damit ein wesentliches Merkmal jeder richterlichen Tätigkeit überhaupt. Sie ergibt sich also unmittelbar aus dem Zweck der Rechtsprechung und der Aufgabe des Richters. Verfassungsrechtlich folgt sie aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 92 G G ; ihre Ausprägung hat sie in Art. 97 und Art. 101 G G erfahren. Die richterliche Unparteilichkeit ist allerdings kein wertfreies Prinzip, sondern an den Grundwerten der Verfassung orientiert. Aus dem für den Richter geltenden Gebot sachgerechter Entscheidung im Rahmen der Gesetze unter dem Blickpunkt materialer, wertorientierter Gerechtigkeit können sich deshalb für den Richter im Einzelfall Hinweis- und Aufklärungspflichten zugunsten eines Verfahrensbeteiligten ergeben 113 . K E R N - W O L F unterscheiden Neutralität und Unabhängigkeit als je besondere Institute. Während die Unabhängigkeit die von einem Dritten drohende Einflußnahme betreffe, habe die Neutralität die Haltung des Richters, die aus seiner Person selbst drohenden, rechtsfremden Einflüsse vor Augen. Mir scheint dies gekünstelt. Denn der eine Weisung erhaltende Richter ist eben nicht mehr neutral. Neutralität im Dienste der Objektivität der Rechtsprechung meint deshalb — recht verstanden — als

111

112

BVerfGE 26, 186/198, st. Rspr., zuletzt Beschluß v. 24. 3. 1982, E u G R Z 1982, 160. Hierzu näher K. A. BETTERMANN Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter,

in:

BETTERMANN/NIPPERDEY/

SCHEUNER, D i e G r u n d r e c h t e , I I I / 2 , 1 9 5 9 , S. 523/525F; 113

KERN/WOLF

(Fn.

12)

S.

122ff,

146 ff. BVerfGE 42, 64/78 - 2000 DM-Beschluß.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1236

Oberbegriff sowohl Formen der persönlichen (inneren) Unparteilichkeit wie die Freiheit von sonstigen — sachlichen oder persönlichen — Abhängigkeiten 1 1 4 . Dabei sind ein Problem der inneren Unabhängigkeit auch mögliche Einflußnahmen durch gesellschaftliche Kräfte aller Art einschließlich des verstärkten Einflusses der politischen Parteien auf die Besetzung von Richterstellen. Der Richter sollte stets bemüht sein, seine eigene Person und seine Verbindung zu betimmten gesellschaftlichen Gruppen in die Reflexion mit einzubeziehen und sich von unreflektierten Vormeinungen „ z u distanzieren". Er „ m u ß sozusagen sich selbst unter Ideologieverdacht stellen" und „sich seiner Vorurteile und Abhängigkeiten bewußt" werden 1 1 5 . J e mehr ihm dies gelingt, desto objektiver und unabhängiger vermag er zu urteilen. Losgelöst von dieser Problematik muß er auf jeden Fall in der Lage sein, die Entscheidungsgründe so zu formulieren, daß andere die Argumentation verstehen, die gedankliche Ableitung nachvollziehen können. Dem Gebot der Unparteilichkeit dienen die Vorschriften der Prozeßordnungen über die Ablehnung und den Ausschluß des Richters, bei dem Befürchtungen bestehen, er sei nicht (mehr) unbefangen 1 1 6 . Unmittelbarer Ausfluß des richterlichen Neutralitätsgebots ist auch § 39 D R i G . Danach hat der Richter sich innerhalb und außerhalb seines Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, daß das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird. Daraus kann auch das Gebot folgen, sich bei außerdienstlichen Äußerungen von Rechtsmeinungen zu Vorgängen, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden, zurückzuhalten. Die hier zu ziehenden Grenzen der Meinungsfreiheit des Richters lassen sich allerdings nur von Fall zu Fall bestimmen; es besteht dabei auch ein unmittelbarer Bezug zu dem konkreten Amt, das der Richter innehat 1 1 7 . Im übrigen bestehen als Ausfluß der Gewaltenteilung weitgehende Inkompatibilitäten. Nach § 4 D R i G darf ein Richter — abgesehen von näher bezeichneten Ausnahmen — Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt und Aufgaben der gesetzgebenden oder der vollziehenden Gewalt nicht zugleich wahrnehmen.

c) Sachliche

Unabhängigkeit

Die verfassungsrechtliche Kernaussage zur Sicherung der Neutralität und Objektivität der Rechtsprechung findet sich in Art. 97 Abs. 1 G G : Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. § 25 D R i G und § 1 G V G wiederholen diese Aussage in fast derselben Form. Gegenstand der Regelung ist die sachliche Unabhängigkeit als Unabhängigkeit von den staatlichen Gewalten. Sie verbietet jeden vermeidbaren Einfluß der Exekutive auf die Rechtsstellung der Richter und dient daneben dem Schutz der rechtsprechenden Gewalt vor Eingriffen der Legislative 1 1 8 . Die

114

Ähnlich STERN (Fn. 12) S. 910 und wohl a u c h BETTERMANN ( F n . 1 1 2 ) a a O .

115

ARTHUR

KAUFMANN

Richterpersönlichkeit

und richterliche Unabhängigkeit, in: Festschrift für Karl Peters, 1974, S. 295/306. B V e r f G E 21, 139/146; 30, 149/153.

117

Siehe zu diesen Fragen K . DÖRHOLT Richteramt und Meinungsfreiheit, in: Z R P 1977, 217. - H . J . WIPFELDER Was darf ein Richter sagen, in: Z R P 1982, 121. B V e r f G E 38, 1/21.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1237

sachliche Unabhängigkeit ist nicht ein Privileg der Richter, sondern Konsequenz der Gewaltenteilung, eine in der Natur der Sache begründete Voraussetzung einer objektiven, der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichteten Rechtsfindung 119 . Unabhängig bedeutet, daß der Richter frei ist von Einwirkungen autoritativer Art, mögen sie auch als Empfehlungen und wie immer in Erscheinung treten; dies sowohl bei der Feststellung und Würdigung der Tatsachen wie auch bei der Auslegung und Anwendung des Gesetzes, bei der er sich nur von seiner richterlichen Uberzeugung leiten lassen darf. Diese Weisungsfreiheit hat gleichzeitig ein verfassungsrechtliches Verbot an Parlament, Regierung und Verwaltung zum Inhalt, bei schwebenden Verfahren in anderer als prozeßordnungsgemäß vorgesehener Weise auf die zur Rechtsfindung berufenen Richter einzuwirken, ein Verbot jeglicher sachfremder Einmischung im Wege einer „Kabinetts- und Ministerialjustiz". Dies gilt letztlich auch für die öffentliche Meinung. Jedermann steht das Recht der Urteilsschelte zu. Entscheidungskritik durch die Massenmedien muß aber in sachlicher, angemessener Form ohne leichtfertige oder böswillige Entstellung des Sachverhalts und mit Verständnis für die schwierige Aufgabe der Rechtsfindung und für die Wahrung des Ansehens der Rechtspflege erfolgen. Dienstaufsicht Kritischer Punkt des Verhältnisses der Exekutive zur Judikative ist die Frage nach dem Umfang zulässiger Maßnahmen der Dienstaufsicht 120 . Wegen des verfassungsrechtlichen Gebots richterlicher Unabhängigkeit untersteht der Richter einer Dienstaufsicht von vornherein nur, „soweit nicht seine Unabhängigkeit beeinträchtigt wird" (§ 26 Abs. 1 DRiG). Die Dienstaufsicht kann sich deshalb nur auf die äußere Form der Erledigung von Rechtsprechungsaufgaben (z. B. Pünklichkeit, angemessenes Verhalten gegenüber Prozeßbeteiligten etc.) beziehen. Sie umfaßt dabei die Befugnis (vgl. § 26 Abs. 2 DRiG), die ordnungswidrige Art der Ausführung eines Amtsgeschäfts vorzuhalten oder zu ordnungsgemäßer, unverzögerter Erledigung der Amtsgeschäfte zu ermahnen. Hierzu gehören z. B. die Einhaltung gesetzlicher Fristen und das Verhalten gegenüber Angeklagten, Prozeßbevollmächtigten und Zeugen. — Die Dienstaufsicht führen die zuständigen Dienstvorgesetzten; oberste Dienstaufsichtsbehörde ist der zuständige Landes- oder Bundesminister. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts unterliegen als Mitglieder eines allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständigen und unabhängigen Gerichtshofes des Bundes keiner Dienstaufsicht. Die sichere Abgrenzung der zulässigen von den unzulässigen Maßnahmen der Dienstaufsicht im Einzelfall entzieht sich einer gesetzlichen Regelung. § 26 Abs. 1 119 Ygj z u m g a n z e n E. BENDA Bemerkungen zur richterlichen Unabhängigkeit, in: DRiZ 1975, 166, sowie SCHÄFER (Fn. 103) Rdn. 3. 120

Siehe hierzu u. a.: W . FUNK Grenzen der Dienstaufsicht über Richter im Hinblick auf deren verfassungsrechtlich geschützte Unab-

hängigkeit, in: DRiZ 1978, 357; K. RUDOLPH Richterliche Unabhängigkeit und Dienstaufsicht, in: DRiZ 1979, 97; SCHÄFER (Fn. 103) G V G § 1 Rdn. 1 8 f f ; jeweils m. w. Nachw.

1238

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

und 2 DRiG enthält insoweit nur Richtlinien. Es bedarf einer Regelung, wer im Konfliktfall entscheidet. § 26 Abs. 3 DRiG hat deshalb einen umfassenden Rechtsschutz gegen Dienstaufsichtsmaßnahmen eingeführt. Behauptet ein Richter, eine Maßnahme der Dienstaufsicht beeinträchtige seine Unabhängigkeit, so entscheidet auf seinen Antrag das Richterdienstgericht.

d) Persönliche

Unabhängigkeit

Sachliche Unabhängigkeit kann nur bestehen, wenn sie durch persönliche Unabhängigkeit gesichert ist 121 . Diese bedeutet insbesondere Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit des Richters. Er darf nicht wegen seiner Entscheidungen Nachteile für seine persönliche Rechtsstellung befürchten. Daraus ergeben sich bestimmte persönliche Garantien. Diese sind aber im Gesetz verschieden bemessen je nach dem, ob es sich um hauptamtliche und endgültig angestellte oder um Richter auf Probe, kraft Auftrags oder abgeordnete Richter handelt. Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können von Verfassungs wegen (Art. 97 Abs. 2 GG) gegen ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus den Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. — Bei den übrigen Richtern, Berufsrichtern und ehrenamtlichen Richtern, muß, um die sachliche Unabhängigkeit zu garantieren, entsprechend dem Grundgedanken des Art. 97 Abs. 2 GG durch Gesetz ein Mindestmaß persönlicher Unabhängigkeit gewährleistet sein. Die Regelungen müssen jedenfalls sicherstellen, daß, von bestimmten durch zwingende Notwendigkeiten gebotenen Ausnahmen abgesehen, der Richter vor Ablauf seiner (zeitlich begrenzten) Amtszeit nur unter den gesetzlich bestimmten Voraussetzungen und gegen seinen Willen nur kraft richterlicher Entscheidung abgerufen werden kann. Die einschlägigen Regelungen des Deutschen Richtergesetzes tragen dem Rechnung. Von daher ist die Verwendung von Richtern mit den vollen Garantien der persönlichen Unabhängigkeit die Regel, die Verwendung von Richtern mit geringeren Garantien die Ausnahme.

e) Ehrenamtliche

Richter

Das Grundgesetz erwähnt die ehrenamtliche Richter nicht ausdrücklich; es überläßt ihre Zuziehung vielmehr dem Ermessen des Gesetzgebers. Dieser hat seit jeher ehrenamtliche Richter eingesetzt 122 , ihnen vielfach sogar in den Spruchkörpern ein zahlenmäßiges Ubergewicht zuerkannt (etwa in der Kammer für Handelssachen, dem Schöffengericht, der kleinen Strafkammer, bei den Arbeitsgerichten und Landesarbeitsgerichten. Darüberhinaus sind ehrenamtliche Richter z. B. in der Sozialgerichtsbarkeit, bei den Verwaltungs- und Finanzgerichten, in der Disziplinargerichtsbarkeit, in der Ehrengerichtsbarkeit der Rechtsanwälte und Notare sowie in der Berufsgerichtsbarkeit der Heilberufe, der Architekten, der Steuerberater und Wirtschaftsprü121

BVerfGE 14, 56/69f.

122 BVerfGE 26, 186/200 f.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1239

fer tätig 123 . Wir finden sie auch in den Verfassungsgerichten der Länder — nicht dagegen beim Bundesverfassungsgericht. Die ehrenamtlichen Richter sind im allgemeinen juristische Laien. Ehrenamtlicher Richter ist, wer, ohne Berufsrichter zu sein, kraft besonderer gesetzlicher Bestimmung in einem Gericht mit vollem Stimmrecht mitwirkt. Die ehrenamtlichen Richter werden zum Teil durch besondere Wahlausschüsse berufen; Art. 95 Abs. 2 G G gilt für sie allerdings nicht. Sie sind jedoch in gleichem Maße wie die Berufsrichter sachlich unabhängig (§ 45 DRiG). Der Schutz ihrer persönlichen Unabhängigkeit muß ihnen insoweit gewährleistet sein, als dies — entsprechend ihrer freieren Stellung — erforderlich ist, um ihre sachliche Unabhängigkeit nicht zu gefährden 124 . Ihre Zuteilung zu einem bestimmten Spruchkörper unterliegt dem Gebot des gesetzlichen Richters. — Ausnahmsweise dürfen sie (abweichend von § 28 Abs. 2 DRiG) auch Vorsitzende in einem Spruchkörper sein. Dies ist jedenfalls für die Ehrengerichtshöfe der Rechtsanwälte verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden 125 . Die Funktion der ehrenamtlichen Richter ist unterschiedlicher Art, ihre Berechtigung umstritten 126 . Primär wird der Sinn ihrer Mitwirkung darin gesehen, daß sie in der Demokratie die Verbindung der Rechtspflege mit dem Volk herstellen und einer allgemein verständlichen Rechtsprechung den Weg bereiten; dies insbesondere in der Straf-, Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit. Hier sind sie Vertreter der Allgemeinheit, können sie bei der Rechtsfindung ihr Wissen um soziale Hintergründe und Interessenlagen einbringen und damit auch einen Ausgleich der Sozialstruktur der Berufsrichter bewirken. Umgekehrt werden die Berufsrichter zu einer dem Laien verständlichen Argumentation und Beurteilung rechtlicher Fragen gezwungen (Plausibilitätskontrolle). In bestimmten Verfahren repräsentieren die ehrenamtlichen Richter die besonders interessierten Bevölkerungsgruppen, z. B. in der Arbeitsgerichtsbarkeit die Arbeitgeber und die Gewerkschaften und in der Dienst- und Ehrengerichtsbarkeit jeweils die Angehörigen des betroffenen Berufsstandes. Schließlich wirken bestimmte ehrenamtliche Richter allein wegen ihrer besonderen Sachkunde bei der Rechtsprechung mit, z. B. in den Kammern für Handelssachen. Die genannten Funktionen überschneiden sich zum Teil. Ihnen stehen natürlich auch Nachteile gegenüber, die sich aus der Rechtsunkenntnis der ehrenamtlichen Richter und der Gefahr allzu emotionaler Beurteilung ergeben können. — Interessant sind die Erfahrungen bei den amerikanischen Schwurgerichten 127 . Dort kommen in 78% aller Fälle Richter und Geschworene zum gleichen Ergebnis. Soweit Meinungsverschiedenheiten bestehen, spielt in etwa 3 A der Fälle das unterschiedliche Rechtsge123 Vgl z u r Stellung der ehrenamtlichen Richter näher KERN/WOLF (Fn. 12) S. 150ff; ferner G . SCHMIDT-RÄNTSCH Deutsches Richtergesetz, K o m m . , 2. Aufl., 1973, Erl. zu § 4 4 mit einer Ubersicht über die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter in den verschiedenen Gerichtsbarkeiten (Rdn. 5). " 4 B V e r f G E 27, 312/322; 18, 241/255.

B V e r f G E 26, 186/201. 126 Y g j s e h r skeptische Bewertung durch R . 125

HAUBER u n d R . ALTRATH D a s Laienrichter-

127

tum — Demokratiegebot oder Anakronismus, in: Verwaltungsrundschau 1981, 226 (mit eingehenden Lit.-Hinweisen). G . CASPAR/H. ZEISEL (Hrsg.) Der Laienrichter im Strafprozeß, 1979, S. 182ff.

1240

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

fühl der Geschworenen eine Rolle. Sie neigen dazu, den Gesetzeswortlaut zu umgehen, wenn dieser ihrem Rechtsgefühl nicht entspricht. Dies wirkt sich häufig zugunsten eines Angeklagten aus. Aufs Ganze wird man sagen können, daß die ehrenamtlichen Richter unter dem Aspekt der Teilhabe von Bürgern an der Rechtsprechung und einem dadurch erreichten Stück Bürgernähe der Justiz ihren guten Sinn erfüllen. An ihrer Mitwirkung sollte festgehalten werden. 2. Nichtrichterliche Organe der Rechtspflege Der Konzeption dieses Handbuchs entspricht es, in einem Beitrag über die „Rechtsprechung" jedenfalls kurz auch auf die nichtrichterlichen Rechtspflegeorgane einzugehen. Ihr Status und ihre Funktion sollen im folgenden knapp beschrieben werden. a) Rechtspfleger Der Rechtspfleger ist kein Richter im Sinne des Verfassungsrechts und des Gerichtsverfassungsrechts. Er ist ein Beamter des gehobenen Justizdienstes mit einer besonderen Ausbildung. Der Rechtspfleger nimmt aber neben dem Richter zahlreiche Aufgaben der Rechtspflege wahr, die ihm das Rechtspflegergesetz von 1969 1 2 8 in genauer Aufzählung zur selbständigen Erledigung zuweist, soweit sie nicht im einzelnen wegen der besonderen Bedeutung und der damit verbundenen Verantwortung weiterhin dem Richter vorbehalten sind. Zum Aufgabengebiet der Rechtspfleger gehören vor allem Geschäfte aus dem Bereich der Zwangsvollstreckung und der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Daneben erledigen sie auch viele Geschäfte in der streitigen Gerichtsbarkeit. Bei der Staatsanwaltschaft nehmen sie Aufgaben der Strafvollstreckung selbständig wahr. Soweit der Rechtspfleger anstelle des Richters entscheidet, ist er ebenso wie dieser sachlich unabhängig, an Weisungen nicht gebunden und nur dem Gesetz unterworfen. Persönliche Unabhängigkeit genießt er nicht. Deren Fehlen ist unschädlich, solange dem Rechtspfleger nicht Aufgaben übertragen sind, die dem Kernbereich der Rechtsprechung zuzurechnen oder sonst nach dem Grundgesetz ausdrücklich dem Richter vorbehalten sind. Ergeben sich bei der Bearbeitung einer Sache rechtliche Schwierigkeiten, so hat der Rechtspfleger diese dem Richter vorzulegen (§ 5 Rechtspflegergesetz). Dieser Aufgabenverteilung zwischen Rechtspfleger und Richter entspricht, daß die gesetzliche Zuständigkeit des Rechtspflegers sich nicht auf Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 G G erstreckt 129 . b) Staatsanwalt Die Stellung der Staatsanwaltschaft ist im Grundgesetz nicht geregelt, hat auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bisher keine nähere Beschreibung 128

Gesetz vom 5. 11. 1969, BGBl. I 2065. Hierzu G. MARQUORDT Das Rechtspflegergesetz 1969, in: Rpfleger 1970, 1.

129

BVerfGE 55, 370.

1241

3. Abschnitt. D i e Rechtsprechung (HEYDE)

erfahren. „Staatsanwalt" ist der mit der Befähigung zum Richteramt ausgestattete nichtrichterliche Beamte der Staatsanwaltschaft. Die Aufgaben der Staatsanwaltschaft gehören nicht zur Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 G G . Im Lichte der Gewaltenteilung sind sie deshalb der Exekutive zuzurechnen. Andererseits erfüllt die Staatsanwaltschaft jedoch gemeinsam mit dem Gericht die Aufgabe der Justizgewährung. Deshalb ist sie keine Verwaltungsbehörde im üblichen Sinne, sondern ein der dritten Gewalt zugeordnetes Organ der Rechtspflege 130 . — Als Beamter in einer hierarchisch gegliederten Behörde unterliegt der Staatsanwalt der Dienstaufsicht und Weisungsbefugnis seiner Vorgesetzten bis hin zum Justizminister. Die Grenzen der Weisungsbefugnis, insbesondere des Ministers, sind allerdings umstritten. Eine Weisungsbefugnis ist besonders problematisch für das Auftreten des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung 131 . c) Vertreter des öffentlichen Interesses Eine besondere Einrichtung sind die Vertreter des öffentlichen Interesses im verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Der nach § 35 V w G O beim Bundesverwaltungsgericht bestellte Oberbundesanwalt ist eine eigenständige, aus der allgemeinen Verwaltungsorganisation herausgelöste und in die Gerichtsorganisation einbezogene Behörde. Das Bundesverwaltungsgericht versteht ihn als integrierenden Bestandteil des Gerichts 1 3 2 . Man wird seine Aufgaben dahin umschreiben können, daß er das Bundesverwaltungsgericht bei der Rechtsfindung und Rechtsverwirklichung unterstützen soll. Er ist kein Vertreter des Bundesinteresses, sondern soll als objektive Instanz tätig werden. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß er von Weisungen — ausgenommen durch die Bundesregierung als Kollegialorgan — freigestellt ist (§ 35 Abs. 1 Satz 3 VwGO). Der Oberbundesanwalt ist angesichts dieser Stellung ein echtes Organ der Rechtspflege. Dies gilt auch für die Vertreter des öffentlichen Interesses nach § 36 V w G O , die nach Maßgabe näherer landesrechtlicher Regelungen bei den Oberverwaltungsgerichten und den Verwaltungsgerichten bestellt werden können. Von dieser Möglichkeit haben zur Zeit Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein Gebrauch gemacht. Dem Vertreter des öffentlichen Interesses nach § 36 V w G O fehlt zwar rein rechtlich weitgehend die Weisungsfreiheit des Oberbundesanwalts. Gleichwohl dürften seine Aufgaben im wesentlichen denen des Oberbundesanwalts entsprechen. — Dies gilt allerdings nicht, soweit dem Vertreter des öffentlichen Interesses — wie dies in Bayern und BadenWürttemberg möglich ist (vgl. § 36 Abs. 1 Satz 2 V w G O ) — die Vertretung des Landes oder von Landesbehörden im konkreten Fall übertragen ist.

" 2 B V e r w G E 4, 3 5 8 ; 12, 119. Vgl. im übrigen

130

KISSEL ( F n . 1 2 ) § 141 R d n . 9 .

131

Vgl. zu den Problemen dienstlicher W e i s u n gen KISSEL a a O R d n . 3 bis 6 und (sehr eingehend) GVG.

SCHÄFER ( F n .

103)

Erl.

zu

§ 146

REDEKER/VON

OERTZEN

Verwaltungsge-

richtsordnung, 7. A u f l . , 1 9 8 1 , § 3 5 R d n . 2 und — z u m Vertreter des öffentlichen Interesses nach Landesrecht — § 3 6 R d n . 1 bis 5.

1242

d)

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Rechtsanwalt

Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege (vgl. § 1 B R A O ) , d. h. Träger von Funktionen, die für die Rechtspflege zur Wahrung des Rechts wesentlich sind 1 3 3 . Er ist der berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten. Er übt einen freien Beruf aus 1 3 4 . Als Wahrer der Interessen seines Mandanten einerseits und als Rechtspflegeorgan andererseits befindet er sich in einem Spannungsfeld. Seine Stellung als Organ der Rechtspflege erfordert, daß er ein gewisses Maß an Unabhängigkeit gegenüber den Ansichten und Ansinnen des Mandanten wahrt. Der Rechtsanwalt unterliegt einem Berufs(Standes-)recht. Dieses unterwirft ihn bestimmten Verhaltensregeln, z. B. dem Gebot zur sachlichen Wahrnehmung der ihm anvertrauten Interessen. In bestimmten Verfahren ist ein Prozeßbeteiligter rechtlich gehalten, sich durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen. Dieser Anwaltszwang dient dem übergeordneten Interesse der Rechtspflege, die Möglichkeiten für eine einverständliche Beilegung der Streitigkeiten und — wo dies nicht gelingt — für eine zutreffende Rechtsfindung durch das Gericht zu verbessern. Der Anwaltszwang hat im Strafprozeß seine Entsprechung in der „notwendigen Verteidigung". Die Anwaltschaft hat wesentlichen Anteil an der Entwicklung einer rechtsstaatlich geordneten Rechtspflege im demokratischen Staat. e)

Notar

Der Notar wirkt als Organ der „vorsorgenden Rechtspflege" bei der gerechten, sicheren und friedlichen Ordnung privater Rechtsverhältnisse mit. Er wird in den Rechtsgebieten tätig, die zum Bereich der Freiwilligen Gerichtsbarkeit gehören. Seine Aufgabe ist die Beurkundung von Rechtsvorgängen aller Art. Gleichzeitig berät er bei diesen Beurkundungen die Beteiligten fachkundig über die Bedeutung der jeweiligen Rechtsvorgänge. Er nimmt dabei eine wichtige Funktion im Interesse der Klarheit des Rechtsverkehrs und auch zum Schutz der in Rechtsangelegenheiten unerfahrenen Personen wahr. Der Notar ist Träger eines öffentlichen Amtes; er ist wie der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege mit der Befähigung zum Richteramt. Seine Amtführung unterliegt einer staatlichen Dienstaufsicht. — Eine Sonderstellung haben die württembergischen Bezirksnotare und die badischen Notare als staatliche Beamte.

133

K . STERN Anwaltschaft und Verfassungsstaat (Festrede), 1980, S. 13 (mit Lit.-Hinweisen zur Kritik an der Funktionsbezeichnung Rechtspflegeorgan). Vgl. auch J . AUGSTEIN Der Anwalt: Organ der Rechtspflege ?, in: N S t Z 1981, 52.

134 Vgj z u m Berufsbild und Berufsfeld des Rechtsanwalts: G . COMMICHAU Anwalt kann ich immer noch werden, in: J u S 1981, 858. — Siehe zur Problematik des Fachanwalts B V e r f G E 58, 121, zum kommunalrechtlichen Vertretungsverbot B V e r f G E 52, 42; 56, 99 und zu §§ 137 und 146 S t P O B V e r f G E 39, 156; 43 , 79 ; 45, 354.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1243

V. Die Funktion der Rechtsprechung im sozialen Rechtsstaat 1. Die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung a) Bindung „an Gesetz und Recht" Daß die Richter „nur dem Gesetz unterworfen" sind (Art. 97 Abs. 1 GG), ist das notwendige Korrelat und geradezu Bedingung ihrer Weisungsfreiheit. Die Worte „und nur" betonen einerseits nochmals die Eigenverantwortlichkeit des Richters in seiner rechtsprechenden Tätigkeit. Gleichzeitig bezeichnen sie aber den im Rechtsstaat allein denkbaren Maßstab richterlicher Entscheidungen: Das Gesetz. In der parlamentarischen Demokratie ist dies das vom Parlament erlassene Gesetzes- und von ihm gesetzlich zugelassene Verordnungs- und Satzungsrecht. Die Anordnung der Gesetzesbindung wiederholt gleichzeitig den sich schon aus Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Grundsatz des Vorranges des Gesetzes. Der Richter ist nicht autonom, sondern dem Gesetz und der Verfassung unterworfen. Art. 97 Abs. 1 GG steht also nicht für sich, sondern in einer unmittelbaren Beziehung zu dem in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltenen Rechtsstaatsprinzip. Nach dieser Verfassungsnorm ist die Rechtsprechung — wie die Exekutive — „an Gesetz und Recht" gebunden. Art. 97 Abs. 1 GG ist im Lichte des Art. 20 Abs. 3 GG zu lesen. Doch bereitet der Sinn der dort enthaltenen „ebenso plastischen wie unscharfen Formulierung" 135 , die ein zentraler Grundsatz des Rechtsstaatsgedankens ist, seit jeher Schwierigkeiten. Der Begriff „Recht" ist im Grundgesetz nicht definiert. Und um der Gefahr zu entgehen, daß die Rechtmäßigkeit gegen die Gesetzmäßigkeit (Legitimität gegen Legalität) ausgespielt wird, könnte man zur Annahme einer Tautologie neigen 136 . Die Vertreter dieser Auffassung verfolgen insoweit einen berechtigten Ansatz, als die Regelung nicht dazu führen darf, daß der Richter unter Berufung auf Art. 20 Abs. 3 GG seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle der positivierten Wertordnung des Grundgesetzes treten läßt. Doch würde es dem klaren Wortlaut dieser Norm und allgemeinen Maßstäben der Verfassungsinterpretation widersprechen, hier nicht von einem Unterschied der Begriffe auszugehen. Der Zusammenhang des Art. 20 Abs. 3 GG mit Art. 1 Abs. 3 GG spricht dafür, daß der Grundgesetzgeber gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen der NS-Zeit deutlich machen wollte, daß er auch die Existenz ungeschriebenen Rechts anerkennt. „Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber

135

Verfassung, in: DVB1. 1975, 677; H. H. RUPP Die Bindung des Richters an das Ge-

HERZOG ( 1 9 8 0 ) i n : MAUNZ/DÜRIG, K o m m ,

z. G G , A r t . 20 Abs. 3 Rdn. 4 9 f f . Vgl. zur Auslegung dieser Formel ferner K . STERN Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I 1977, S. 6 3 0 f ; HESSE (Fn.

12)

Rdn.

195ff;

ROELLECKE

STARCK S t a a t s r e c h t s l e h r e r t a g u n g

1975

und (Fn.

12), sowie die Diskussion auf dieser Tagung, W D S t R L Bd. 34 (1976), S. 9 4 f f ; D . MERTEN Die Bindung des Richters an Gesetz und

s e t z , i n : N J W 1 9 7 3 , 1 7 6 9 ; H . - P . SCHNEIDER

Die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung, in: D Ö V 1975, 443. 136

So

F.

SCHNAPP

in:

VON

MÜNCH,

GG-

K o m m . , 2. A u f l . , 1981, A r t . 20 Rdn. 36; v g l . a u c h KISSEL ( F n . 110. A. A. W .

12) § 1 G V G

MEYER E r l . z u A r t . 9 7

Rdn. Rdn.

17 in: VON MÜNCH, G G - K o m m . , 1. A u f l .

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1244

nicht notwendig und immer decken" 1 3 7 . Die beiden Begriffe können also auseinanderfallen. Indes hat das Bundesverfassungsgericht schon in einer frühen Entscheidung 1 3 8 durch Aufnahme eines Zitats von RADBRUCH139 deutlich gemacht, daß dies nur die ganz seltene Ausnahme sein kann: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat 1 4 0 ." Daraus folgt: „Gerechtigkeit" prägt sich unter der Herrschaft des Grundgesetzes in den materiellen Verfassungsnormen aus, also in Art. 1 GG und den übrigen Grundrechten wie auch im Rechts- und Sozialstaatsprinzip. Von daher ist das Grundgesetz selbst eine Art Kodifikation der Gerechtigkeit. Dies schließt zwar nicht aus, im Einzelfall die Maßstäbe für die Interpretation eines Grundrechts oder des Rechtsstaatsprinzips auch aus einer überpositiven Gerechtigkeitsidee zu nehmen. Was „gerecht" ist, ergibt sich aber zunächst einmal aus der Verfassung. Die Gerechtigkeitsmaßstäbe sind dem Richter vorgegeben 141 . Er darf nicht unter Berufung auf Gerechtigkeitsvorstellungen von Wortlaut und Sinn einer gesetzlichen Regelung abweichen. Vielmehr muß er von seinem richterlichen Prüfungsrecht Gebrauch machen und bei Annahme eines Verfassungsverstoßes ein konkretes Normenkontrollverfahren einleiten (Art. 100 Abs. 1 GG). Hinzu kommt, worauf BENDA142 hinweist: Die Befugnisse des Fachrichters dürfen nicht weiter gehen als die des Bundesverfassungsgerichts. Es kann nicht richtig sein, daß ein Fachrichter einem Gesetz unter Berufung auf z . B . Willkür die Anwendung versagt, wenn das Bundesverfassungsgericht in einem gleichgelagerten Fall wegen des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers die Regelung unangetastet ließe. Geht man davon aus, daß die Formel „Gesetz und Recht" die Existenz ungeschriebenen Rechts anerkennt, dann läßt sich letztlich bei Zugrundelegung der vorstehenden Ausführungen das in Art. 20 Abs. 3 G G angelegte Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Recht (Gerechtigkeit) nicht auflösen. Theoretisch bleibt die Möglichkeit bestehen, daß sich für den erkennenden Richter eine über die materiellen Verfassungsrechtssätze hinausgehende Gerechtigkeitsfrage stellt. Faktisch läuft es darauf hinaus, daß „Recht" in aller Regel im Sinne des materiellen Verfassungsrechts verstanden wird und verstanden werden muß. Es ist denkbar, daß ein Richter durch die Bindung an das Gesetz in Grenzfällen aufgrund seiner eigenen Wertung in Gewissenskonflikte gerät. Deckt sich diese Wertung mit einem verfassungsrechtlichen Ansatz, dann bietet die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 G G einen Ausweg. In anderen Fällen — und wenn das Bundesverfas-

137 138 139 140

BVerfGE 34, 269/286f. BVerfGE 3, 225/233. Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1976, S. 353. Rechtssicherheit wird hier im Sinne der Gel-

tungskraft des positiv gesetzten Rechts verstanden. 141

142

U . SCHEUNER S t a a t s r e c h t s l e h r e r t a g u n g 1975

(Fn. 135), S. 97. Oben S. 489.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1245

sungsgericht einer Vorlage nicht folgt — muß der Richter trotz Art. 4 Abs. 1 G G seine Gewissensentscheidung hintanstellen 143 . — Eine andere Frage ist, ob der überstimmte Kollegialrichter ohne ausdrückliche gesetzliche Zulassung — aus Gründen der Gewissensfreiheit oder der Freiheit der richterlichen Uberzeugung 144 — das Recht zur Abgabe von Sondervoten besitzt. Der Gesetzgeber hat diese Möglichkeit bisher nur den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts (§ 30 Abs. 3 BVerfGG) eröffnet; außerdem gibt es Sondervoten bei einigen Landesverfassungsgerichten. Auf dem 47. Deutschen Juristentag in Nürnberg hat sich eine relativ große Mehrheit für die Einführung des Sondervotums auch bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes und eine knappe Mehrheit für die Einführung bei anderen Spruchkörpern, die nur über Rechts- und Verfahrensfragen zu befinden haben, entschieden, während eine große Mehrheit sich gegen die Einführung bei allen Kollegialgerichten aussprach 145 . Das Thema ist zur Zeit nicht aktuell, sollte aber jedenfalls für die obersten Gerichtshöfe des Bundes nicht aus den Augen verloren werden. b) Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung Da der Richter unter dem Gesetz steht, das ihn an die Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers bindet, kann ihm im Bereich der Rechtserzeugung immer nur eine ergänzende, das Recht fortbildende Rolle zufallen. Diese Befugnis und auch Aufgabe des Richters ist allgemein anerkannt 146 . Sie wird den Revisionsgerichten in den Prozeßordnungen ausdrücklich zugewiesen (siehe § 1 3 7 GVG, § 1 1 Abs. 4 VwGO, § 11 Abs. 4 F G O , § 42 SGG, § 45 Abs. 2 ArbGG); sie steht aber auch hinter der verfassungsrechtlichen Einrichtung der obersten Gerichtshöfe des Bundes und ergibt sich ferner aus der Schaffung des Gemeinsamen Senats (Art. 95 Abs. 1 und Abs. 3 GG). Ferner folgt sie im Grunde schon aus der allgemeinen Erfahrung, daß Rechtsbegriffe oft ausfüllungsbedürftig sind, ausgelegt und konkretisiert werden müssen. Gesetzliche Regelungen haben notwendig einen gewissen Abstraktionsgrad; wegen der Komplexheit der Lebenssachverhalte arbeitet der Gesetzgeber mit weitgefaßten Begriffen und Generalklauseln. Normen sind auch häufig unklar, enthalten Lücken oder erscheinen wegen des Wandels der Lebensverhältnisse nicht mehr angemessen. Darüberhinaus gibt es Bereiche, in denen die Lücke sogar „System" ist, der Gesetzgeber eine Regelung überhaupt nicht getroffen hat. Dies kann seinen Grund darin haben, daß er zu einer Normierung wegen divergierender politischer Bewertungen nicht in der Lage war, wie z. B. im kollektiven Arbeitsrecht 147 ; es kann aber auch daran liegen, daß eine Materie sich noch in der Entwicklung befindet, wie

< « KISSEL ( F n . 12) § 1 G V G R d n . 144

145

146

REDEKER Legitimation und Grenzen richterlicher Rechtsetzung, in: N J W 1972, 409ff;

139.

Vgl. hierzu W. HEYDE Das Minderheitsvotum des überstimmten Richters, 1966, S. 140ff. Verhandlungen des 47. D J T 1968, Bd. II (Sitzungsberichte) S. R 1 4 4 f . BVerfGE 34, 269/287f. - Vgl. zum folgenden u. a. R . FISCHER Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971; K.

STARCK ( F n .

147

12)

S.

69ff;

K.-R.

WAGNER

Grenzen des Richterrechts, in: N J W 1981, 316 ff (insbesondere zur Rechtsprechung des BFH). Vgl. z. B. die jüngste Rechtsprechung des B A G zur Aussperrung, N J W 1980, 1642 und 1653.

1246

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

es Jahrzehnte hindurch — bis zum Erlaß des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 25. Mai 1976 — im allgemeinen Verwaltungsrecht der Fall war. Diese Fälle gehen über den ergänzenden Gesetzesvollzug hinaus, sind echte Rechtsschöpfung, die nicht nur Grenzfragen richterlicher Rechtsanwendung aufwirft, sondern auch ein strukturelles Problem unserer Rechtsordnung darstellt. In der Diskussion um das Wesen des Richterrechts wird immer wieder auf Art. 1 Abs. 2 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs vom 10. Dezember 1907 hingewiesen. Danach hat der Richter, wenn Gesetz und Gewohnheitsrecht für den konkreten Fall keine anwendbare Vorschrift enthalten, nach der Regel zu entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Insgesamt gewährleisten die im Richterrecht enthaltenen Anwendungsmaßstäbe und Rechtsregeln, unabhängig von ihrem jeweiligen Anlaß, Kontinuität der Entscheidungstätigkeit der Gerichte. Die Grenzen zwischen bloßer Auslegung und Rechtsfortbildung (Richterrecht) sind fließend, aber auch weniger wichtig als die Grenzen (noch) zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung überhaupt. Im demokratischen Staat liegen diese zunächst und prinzipiell in dem von der Verfassung dem Parlament übertragenen Rechtsetzungsauftrag. Der Richter darf sich über eine eindeutige Regelung des Gesetzes nicht hinwegsetzen. Hat sich der Gesetzgeber zu dieser oder jener politischen Grundentscheidung entschlossen, haben die Gerichte sie ihrer Gesetzesanwendung zugrunde zu legen, dürfen sie sie nicht durch eine andere ersetzen. Die Gesetzesanwendung darf nicht contra legem gehen, nicht dazu führen, eine gesetzliche Unterscheidung oder ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zu beseitigen. Eine schwierige Situation ergibt sich, wenn Fragen auftauchen, die im Gesetzgebungsverfahren nicht ausdrücklich diskutiert und entschieden worden sind. Inwieweit darf der Richter hier die Besonderheit eines in der sozialen Wirklichkeit bestehenden Konflikts oder die Neuartigkeit einer Auswirkung seiner Entscheidung berücksichtigen, soweit diese Fragen im Gesetzgebungsverfahren nicht gesehen worden sind 148 ? Die Problematik läßt sich wohl nur anhand von konkreten Beispielsfällen lösen. Jedenfalls muß der Richter — wird er gesetzesergänzend tätig — seine Entscheidung an den dem gesetzten Recht zu entnehmenden Regelungsmaßstäben und Wertentscheidungen und an der Verfassung orientieren. Zusätzliche Grenzen ergeben sich aus dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Für den Bereich des Strafrechts enthält Art. 103 Abs. 2 G G eine besondere Schranke (vgl. dazu oben S. 1229). — Ganz ausnahmsweise wird sich der Richter auch über eindeutiges geltendes Gesetzesrecht hinwegsetzen dürfen, wenn die Grundentscheidung des Gesetzgebers durch die Entwicklung unserer Rechtsordnung überholt ist, das gesetzte Recht sich also mit dem Inhalt und den Wertungen der Gesamtrechtsordnung, insbesondere des Grundgesetzes nicht mehr vereinbaren läßt 1 4 9 . Dabei kann auch ein inzwischen eingetretener Wandel der sozialen Verhältnisse von ausschlaggebender Bedeutung sein.

148

V g l . E . STEIN S t a a t s r e c h t , 7 . A u f l . 1 9 8 0 , S . 307.

149

REDEKER 146)

S.

(Fn.

33.

146)

S.

413;

FISCHER

(Fn.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1247

c) Politische Dimensionen der Rechtsanwendung Seit Ende der 60er Jahre wird eine — teilweise heftig gewesene — Diskussion um die Berechtigung der These vom sogenannten politischen Richter und zur Frage der politischen Funktion der Rechtsprechung geführt. Sie geht vor allem auf WASSERMANN150 zurück und wurde zum Teil von ideologischen Positionen aus geführt, die den Blick für im Grunde selbstverständliche Erkenntnisse verstellte. Dabei mögen auch die Schwierigkeiten, die wir in der Bundesrepublik Deutschland anscheinend immer noch mit dem Begriff „politisch" haben, eine Rolle gespielt haben. Ferner mögen die Schwierigkeiten nachgewirkt haben, in denen die Justiz der Weimarer Zeit stand, als eine bis dahin nach ihrem Selbstverständnis absolut unpolitische Justiz vor die Aufgabe gestellt wurde, politische Vorgänge — zunächst insbesondere die der Revolution von 1918 — gerichtlich aufzuarbeiten. Dies brachte eine erhebliche Uberforderung der Gerichte mit sich 1 5 1 . Richterliche Tätigkeit ist stets eine politische Tätigkeit gewesen. Unpolitisches Richterrecht kann es nicht geben, weil unpolitische Rechtsetzung überhaupt nicht denkbar ist. K . REDEKER hat dies 1970 anschaulich zum Ausdruck gebracht: „ D e r Jurist wird Abschied nehmen müssen von der Vorstellung, daß Rechtspraxis wertneutrale unpolitische Entscheidung sei. Sie war es wohl nie, auch nicht zu einer Zeit, wo sich der Jurist in der Bindung einer lückenlosen systemgerechten Rechtsordnung sah oder glaubte, seine Tätigkeit beschränke sich darauf, mit dem Rüstzeug der Rechtswissenschaft versehen hieraus die richtige Entscheidung ableiten zu können. Denn auch die Erhaltung der bestehenden Ordnung ist politische Entscheidung, wenn man erkennt, daß in der Rechtsordnung vorgegebene Wert- und Gesellschaftsordnungen normiert sind, ihr Fortbestand deshalb gleichzeitig den Fortbestand dieser tatsächlichen Ordnungen impliziert und sichert." 1 5 2 — Der Begriff des politischen, richtiger vielleicht des politisch bewußten Richters bezieht sich also auf nichts anderes, als auf die richterliche Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten. Die Probleme liegen in den daran geknüpften Hoffnungen „fortschrittlicher" und Befürchtungen „konservativer" Betrachter. Die Forderung, daß der Richter die politische Dimension seiner Arbeit erkennt und deshalb auch in dieser Richtung ausgebildet werden muß, hat ihre Berechtigung. Daraus darf dann allerdings nicht der Schluß gezogen werden, der Richter sei in Wirklichkeit eine Art „Sozialingenieur" oder er dürfe seine eigenen rechtspolitischen oder allgemeinpolitischen Wertungen in die Entscheidung einbrinlso Yg] u a R WASSERMANN Richter, Reform, Gesellschaft. 1970, S. 97f; DERS. Der politische Richter, 1972, S. 107; DERS. Zur politischen Funktion der Rechtsprechung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung D A S P A R L A M E N T vom 23. 11. 1974; ferner: HENKE Wider die Politisierung der Justiz, in: D R i Z 1974, 173; RICHTER Die Rolle des Richters in unserer Zeit, in: J Z 1974, 375. Vgl. zur Diskussion um den „politischen Richter" auch R. NICHTERLEIN Sozialisation und Bewußtseinsbildung

d e r Richter, in: DÄSTNER/PATETT/WASSER-

151

152

MANN (Hrsg.): Sozialwissenschaften in der Rechtsausbildung, Unterrichtsmaterialien für die Praxis. Bd. 155 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politischen Bildung, 1979, S. 221/228 f. Vgl. hierzu H . HATTENHAUER Zur Lage der Justiz in der Weimarer Republik, in: ERDMANN/SCHULZE Weimar — Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 169/173f. K . REDEKER Bild und Selbstverständnis des Juristen heute, 1970, S. 15.

1248

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

gen 1 5 3 . Die Orientierung des Richters an der sozialen Wirklichkeit darf nicht für sich stehen; sie muß unlösbar verbunden bleiben mit der Orientierung am geltenden Recht 1 5 4 . Dieses wird neben den unmittelbar einschlägigen Normen des einfachen Rechts bestimmt durch die sich aus den Grundrechten und dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes ergebenden Wertungen. Auf einer anderen Ebene, aber doch mit der Problematik der politischen Dimension der RechtsanWendung verwandt, liegt die Frage der sogenannten „Klassenjustiz" 1 5 5 . In einer Reihe neuerer Untersuchungen wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Schichtzugehörigkeit eines Richters seine innere Unabhängigkeit beeinträchtigt. Dabei wird vor allem die Frage erörtert, inwieweit juristische Entscheidungen eine Tendenz zur Parteilichkeit deshalb aufweisen könnten, weil das Sozialprofil der Richter von dem der übrigen Bevölkerung auffälligerweise abweicht. Aus den vorliegenden Untersuchungen können abschließende und allgemeinverbindliche Ergebnisse bisher wohl nicht hergeleitet werden. Sie sollten aber als ernsthafte Fragestellungen zur Kenntnis genommen und diskutiert werden. 2. Probleme der Gerichtsbarkeit in unserer Zeit a) Rechtsgewährung als ,,knappes Gut" Eines der Kernprobleme gegenwärtiger Rechtsschutzgewährung ist die hohe Belastung der Gerichte. In allen Gerichtszweigen nehmen die Verfahren weiter zu 1 5 6 . In einzelnen Gerichtszweigen, insbesondere der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanzgerichtsbarkeit und neuerdings (1981 gegenüber 1980) in der Zivilgerichtsbarkeit ist der Anstieg der Geschäftslast besonders stark. Der wachsenden Prozeßfreudigkeit steht auf der anderen Seite ein Staat gegenüber, der aus finanziellen Gründen kaum noch in der Lage ist, zusätzliche Richterstellen zu schaffen. Auch ohne diese wirtschaftlichen Gesichtspunkte gibt es aber Grenzen für eine uneingeschränkte Ausweitung der Richterzahlen, die von 14 054 am 1 . 1 . 1975 auf 16 657 zum

153

154

Wichtig in diesem Zusammenhang auch G . PFEIFFER Richter in heutiger Zeit, in: D R i Z 1979, 229/230: „ W e r allerdings mit dem Schlagwort v o m politischen Richter auf eine Richterschaft zielt, die ihr A m t und ihre Funktion zur Durchsetzung bestimmter politischer Überzeugungen ausnutzt, verkennt gründlich das Wesen unserer Demokratie, in der politische Entscheidungen o f t im Wege des K o m p r o m i s s e s von einer Mehrheit des Parlaments getroffen werden. Gerichte haben dagegen den Einzelfall in einem gesetzlich geregelten Verfahren auf der Grundlage von Recht und G e s e t z zu entscheiden." — Vgl. auch FISCHER Weiterbildung (Fn. 146) S. 32. D i e sich aus dieser These ergebenden Grenzen dürfte das A G Stuttgart in seinem Urteil v o m 20. 7. 1979 ( N J W 1979, 2047) z u m

Strom-Teilzahlungsboykott nicht mehr eingehalten haben. Vgl. dazu die A n m e r k u n g SCHWERDTNER, J Z 1979, 807 sowie G . KAHLKE Z u m Risiko nicht rechtsmittelfähiger Amtsgerichtsentscheidungen, in: Z R P 1981, 268. 155

Vgl. hierzu NICHTERLEIN a a O ( F n . 150) S.

2 2 6 f . , ferner den Sammelband: Klassenjustiz heute?

mit Beiträgen

MANN,

RASEHORN,

von

KAUPEN,

SACK,

LAUT-

WASSERMANN

u. a. in: Vorgänge — Zeitschrift für Gesellschaftspolitik, N r . 1/1973; W . KAUPEN D i e

Hüter von Recht und O r d n u n g , 1969. is6 Vg] z u r Entwicklung der Geschäftsbelastung in der ordentl. Gerichtsbarkeit P. RIESS in: D R i Z

1982, 201 und 464.

-

Bei

den Ordnungswidrigkeiten hat sich die Situation etwas entspannt.

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1249

1 . 1 . 1981 gestiegen sind. Die Rechtsgewährung ist „bei zunehmender Verfahrensund Normenfülle . . . längst ein ,knappes Gut' geworden" 157 . Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielfältiger Art. Neben einer allgemein zu beobachtenden Tendenz, Verfahrensgänge auszuschöpfen und Rechtsstreitigkeiten vor Gericht auszutragen, steht wohl auch ein Wandel im Bewußtsein und im Verhalten breiter Schichten der Bevölkerung, Ungerechtigkeiten nicht hinzunehmen, sondern den Schutz der Gerichte zu suchen. Ein Ausdruck wachsender Mündigkeit der Bürger 158 . Nach den Erfahrungen von H.-J. V O G E L steigen Zahl und Intensität der Konflikte aber auch deshalb, weil die Fähigkeit, miteinander zu reden und einander zuzuhören, schwindet, weil die Kompromißfähigkeit abnimmt und weil die Fähigkeit, Mißerfolge, Fehlschläge und Enttäuschungen zu verarbeiten, sinkt 159 . Ferner ist darauf hinzuweisen, daß die Vielzahl von Verwaltungsgerichtsverfahren ihre Ursache in dem vom Grundgesetz ausdrücklich bereitgestellten Rechtsschutzsystem (Art. 19 Abs. 4 GG) hat. Will man hier zu einer Verringerung der Klagen kommen, dann müßte zunächst einmal gefragt werden, wie die Verwaltung dem Bürger gegenübertritt und ob es ihr möglich ist, die von ihr ausgehenden Akte so zu erlassen und zu begründen, daß ihre Richtigkeit weniger oft angezweifelt wird. Der Gesetzgeber bemüht sich schon seit längerem, durch Veränderungen des Prozeßrechts zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren in allen Gerichtszweigen beizutragen. Er ist bestrebt, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Aufwand und Bedeutung des Verfahrensgegenstandes herzustellen, die Richter und Beteiligten, soweit dies die Prozeßart zuläßt, zur Zusammenarbeit und zur Förderung zu ermutigen. Eine Leitlinie ist dabei, dem Richter ein Mittel an die Hand zu geben, das Recht schnell, aber auch richtig zu finden. Grenzen können sich aus Art. 19 Abs. 4 GG und aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben. Unabhängig von diesen Bemühungen hat die These BENDAS erreicht, was sie offenbar bewirken wollte: nämlich einen Anstoß zum weiteren Nachdenken zu geben. Ursachen und Formen der Überlastung der Gerichte werden stärker diskutiert, Entlastungsmöglichkeiten im innergerichtlichen Betrieb und vor allem alternative Konfliktlösungsmöglichkeiten erörtert 160 . b) Vom Gesetzes- zum Richterstaat?

„Auf dem Weg zum Richterstaat" lautet der Titel einer 1979 erschienenen Schrift 161 , der die tatsächliche Entwicklung wohl zutreffend kennzeichnet. Sie wird nicht nur 157

1979, 158

159

160

Rechtsgewährung, in: D R i Z 1980, 3 7 6 ; H . HILL Rechtsschutz des Bürgers und Überlastung der Gerichte, in: J Z 1 9 8 1 , 805; H . LEONARDY Rechtsstaat und Begrenzung der Rechtsgewährung, in: DRiZ 1982, 121/

E. BENDA Richter im Rechtsstaat, in: D R i Z 357/362.

Vgl. H . - J . VOGEL Der Rechtsstaat erstickt nicht! in: DIE ZEIT v o m 6. 6. 1980. H . - J . VOGEL Bewirtschaftung der Rechtsgewährung? in: Recht und Politik 1 9 8 1 , 49. Siehe z. B. K. REDEKER Grenzen für einen Abbau staatlicher Rechtsschutzgewährung, in: Recht und Politik 1981, 5 1 ; G . PFEIFFER Knappe Ressource Recht, in: ZRP 1981, 121; D .

HENDEL R e s s o u r c e n k n a p p h e i t

und

125 ff; W .

GOTTJCALD A l t e r n a t i v e n z u m

zi-

vilen Justizverfahren, in: Z R P 1982, 28. 161

G.-K.

KALTENBRUNNER

(Hrsg.)

Auf

dem

W e g zum Richterstaat. — Die Folgen politischer Impotenz, 1979.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1250

durch die große Zahl der Richter und die Häufigkeit der Anrufung der Gerichte geprägt, sondern ist schon in dem umfassenden System unserer Gerichtsbarkeit angelegt, insbesondere in der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und dem Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit; auch die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit gehört in diesen Zusammenhang. „Der Weg zum Richterstaat" muß also zunächst einmal als Ausdruck der im Rechtsstaat notwendigen und legitimen Wahrnehmung richterlicher Kontrollfunktion gegenüber der öffentlichen Gewalt gesehen werden. Ferner ist durchaus positiv zu bewerten, daß die Bevölkerung, soweit sie allgemein Zutrauen zur Justiz besitzt, auch die Verwaltungsgerichte immer stärker als Hort der Gerechtigkeit und Garant einer guten Ordnung des Gemeinwesens ansieht. Auf der anderen Seite zeigt sich allerdings ein zunehmendes Unbehagen an einer ausufernden Verwaltungsrechtsprechung als Folge ganz neuer Gestaltungs- und Wertungsspielräume der Gerichte. Im Umwelt- und Planungsrecht sowie in verwandten Rechtsgebieten suchen sie nach einem Standort zwischen Rechtsschutzauftrag und technischem Fortschritt 162 . Probleme des Ausmaßes bzw. der Dichte richterlicher Kontrolltätigkeit stellen sich. Fragen nach der „Uberanstrengung des Rechtsstaats" und die Warnung vor der Gefahr einer „Verformung des Rechtsstaates in den Justizstaat" werden laut. Insgesamt läßt sich eine zu starke Verlagerung von Aufgaben der Verwaltung auf die Gerichte beobachten. FRIESENHAHN163 hat kürzlich den Begriff „Rechtswegestaat" aufgenommen und nachdrücklich gefordert: Verwaltungsgerichte sollten nicht verwalten. Die Fragestellungen und ihre Ursachen können hier nur angedeutet werden. Neben einer immer enger werdenden Ermessenskontrolle liegt ein Problem darin, daß durch die Zunahme weiter Generalklauseln in der Gesetzgebung, die die Normanwendung der Gerichte zur Normsetzung macht, die Verwaltung in eine starke Abhängigkeit von den Gerichten gebracht und die Rechtsprechung letztlich zur eigentlich entscheidenden Erkenntnisquelle für das Handeln der Verwaltung wird. Dies belastet die Gerichte besonders dann, wenn es um politisch umstrittene Grundfragen geht 165 . Hier zeigt sich ein Zusammenspiel von Gesetzgebung und Rechtsprechung bei der Realisierung von Recht. Je weniger der Gesetzgeber an Recht setzt, desto mehr muß die Rechtsprechung bei der Rechtsverwirklichung Recht schöpfen. So wird also letztlich die Zuständigkeit des Richters durch den Zustand des Rechts bestimmt, das er vorfindet 166 . 162

1981,

164

FRIESENHAHN a a O , S .

4 6 7 f . - Vgl. zu den Problemen bei der Beurteilung großtechnischer Sachverhalte ins-

H . J . BECKER R e z e n s i o n , i n : D Ö V

165

BENDER

b e s . B . BENDER D e r V e r w a l t u n g s r i c h t e r i m

163

Spannungsfeld zwischen Rechtsschutzauftrag und technischem Fortschritt, in: N J W 1978, 1945/1950. E. FRIESENHAHN Staatsgewalt und Rechtskontrolle 1932 und 1982, in: Demokratie in Anfechtung und Bewährung, Festschrift für J. Broermann, 1982, S. 517/525, 552.

166

aaO

(Fn.

547.

162);

vgl.

auch

J.-F.

STAATS Die Formelermächtigung, untersucht an Beispielen des Umweltrechts, in: H. Kindermann (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung 1982, S. 192 ff. Siehe auch H. SENDLER Normenflut und Richter, in: ZRP 1979, 2 2 7 f f .

3. Abschnitt. Die Rechtsprechung (HEYDE)

1251

KISSEL167 hat in einem grundlegenden Vortrag aufzuzeigen versucht, wo nach den Grundsätzen der Gewaltenteilung Grenzen für die Anrufung der Gerichte und Grenzen der rechtsprechenden Gewalt liegen. Ich verweise auf seine Überlegungen. Seine Feststellung von der Justizialisierung unseres öffentlichen Lebens als einem Faktum korrespondiert mit den Warnungen anderer vor zunehmender Verrechtlichung unseres Staatswesens 168 und vor einem Hang zum rechtlichen Perfektionismus. Gesetzgeber und Gerichte, aber gerade auch der rechtsuchende Bürger, müssen sich der Einsicht beugen, daß — ungeachtet allen Bemühens, dem Verfassungsauftrag zur Rechtsschutzgewährung nachzukommen — eine „perfekte Gerechtigkeit" nicht erreichbar ist. c) Justizpraxis

und

Rechtssoziologie

Ein anderer Problemkreis der gegenwärtigen Lage der Gerichtsbarkeit kreist um die Relevanz des Gesellschaftlichen für die Tätigkeit der Richter 169 . Es wird beklagt, daß das Interesse der Justizpraxis für die Beiträge der neuen Rechtssoziologie nach wie vor unterentwickelt sei. Eine verstärkte Beschäftigung mit diesen Fragen könnte auch Antwort auf das verbreitete Mißbehagen bzw. Mißtrauen gegenüber der Justiz geben. Wie weit ist eine richterliche Entscheidung überhaupt in der Lage, Konflikte wirklich zu befrieden? Möglichkeiten alternativer Streitschlichtung spielen hier sicher eine Rolle; daneben aber auch der Ablauf des gerichtlichen Verfahrens. Mehr Zeit zur persönlichen Erörterung des Streitgegenstandes mit den Parteien wäre erforderlich. Die Überlastung der Gerichte steht dem entgegen. So kommt gegenwärtig viel darauf an, daß der Rechtsuchende wenigstens durch die Begründung der Entscheidungen, durch eine möglichst plausible Argumentation von der Richtigkeit des auf ihn angewandten Rechts überzeugt wird.

167

O . R. KISSEL Grenzen der rechtsprechenden Gewalt, in: N J W 1982, 1 7 7 7 f f .

168 VGL

Z

Justiz,

ß

K

in:

RUDOLPH In den Z w ä n g e n der

Ev.

Kommentare

SENDLER a a O ( F n .

166).

1980,

328;

169

T. RASEHORN Zur Lage der rechtsprechenden Gewalt in: Klönne u. a. Lebendige Verfassung — Das Grundgesetz in der Perspektive, 1 9 8 1 , S. 127/137f.

4. Abschnitt

Verfassungsgerichtsbarkeit H E L M U T SIMON

Einführung „ D a s Bundesverfassungsgericht mit seinen umfassenden Zuständigkeiten ist aus dem Grundgesetz nicht mehr wegzudenken, ohne daß dieses in seinem Wesen verändert würde. D a s Bundesverfassungsgericht hat sich als der wichtigste Garant für die Einhaltung des Verfassungsrechts durch die anderen Staatsorgane erwiesen. D i e damit verbundene Zurückdrängung politischer Macht zugunsten der Normativität der Verfassung hat die maßgebende Bedeutung des Grundgesetzes im Bewußtsein der Öffentlichkeit verwurzelt und an der Konsolidierung der neuen staatlichen G r u n d ordnung wesentlichen Anteil g e h a b t . " So heißt es einleitend in der Festgabe z u m 25jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts von vierzig Mitgliedern der Staatsrechtslehrer-Vereinigung 1 . Ähnlich urteilt weithin das übrige staatsrechtliche Schrifttum, das sich mit kaum einem anderen Staatsorgan so häufig befaßt hat wie mit der neuartigen Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit 2 . Mit dieser Wertschätzung stimmt überein, daß das Bundesverfassungsgericht bei den jährlichen Infas-Erhebungen seit langem eine Spitzenposition in der Rangliste des Vertrauens behauptet, die es gelegentlich mit dem Gesundheitswesen und 1980 erstmals mit dem Bundestag teilte. Wer indessen der Verfassungsgerichtsbarkeit auch unter härter werdenden Bedingungen eine dauerhafte Position sichern will, wird prüfen müssen, worauf Respekt und Vertrauen beruhen und worin sich diese Gerichtsbarkeit als Wohltat für

1

CH. STARK (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976 (im folgenden: Festgabe). Die Vereinigung befaßte sich in den Jahren 1928 (Bd. 5, 1929 der Veröffentlichungen), 1950 ( B d . 9, 1952), 1961 ( B d . 20, 1963)

2

und 1980 (Bd. 39, 1981) mit Problemen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das kaum noch übersehbare Schrifttum ist bis Mitte 1976 zusammengestellt i n j . MACKERT/ F. SCHNEIDER Bibliographie zur Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder. Wichtige Beiträge ab 1929 mit Einführung

u n d A u s w a h l b i b l i o g r a p h i e bei P. HÄBERLE

Verfassungsgerichtsbarkeit 1976, Gesetzessammlung mit Einführung bei K. STERN Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder, 1978. Das Gericht selbst gab die Sammelbände „ D a s BVerfG 1951-1971" und „25 Jahre BVerfG 1951-1976" heraus, die u. a. die Festvorträge von R. SMEND (1962) u n d T H . SCHIEDER (1976) enthalten.

Uber Organisation, Zuständigkeiten und Verfahren informiert H . SÄCKER Das Bundesverfassungsgericht, 1975.

1254

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

das Gemeinwesen und seine Bürger bewährt hat. Neuerdings melden sich bis hinein in die allgemeine Publizistik vermehrt kritische Stimmen 3 , wobei sich das noch spärliche politologische und interdisziplinäre Schrifttum 4 aus größerem Abstand am unbefangensten äußert. Solche Kritik ist für eine von Menschen verwaltete einflußreiche Institution normal und spricht für deren Hinnahme als Normalität. Sie sollte die Richter nicht irritieren, wohl aber veranlassen, bewußter noch als bisher Funktion und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Verhältnis zu den anderen Organen der rechtsstaatlichen Demokratie zu bedenken. Ebenso ist dem umgekehrten Vorwurf nachzugehen, das Gericht übe neuerdings in falschem Zusammenhang Zurückhaltung und übernehme im Konflikt zwischen Bürgerfreiheit und Staatsräson bevorzugt die Rolle des „defensor rei publicae". Die Enquete-Kommission „Verfassungsreform" des Bundestages hat das Bedürfnis nach weiteren Klärungen ausdrücklich anerkannt, jedoch angesichts der Kritik lediglich eine Auflistung diskussionsbedürftiger Probleme für opportun erachtet. Die folgenden Überlegungen wollen über eine Bestandsaufnahme hinaus zu dem notwendigen Klärungsprozeß beitragen; sie wurden aus der Sicht eines Beteiligten unter dem Druck ständig steigender Belastungen der Verfassungsrichter niedergeschrieben und bedürfen selbstredend weiterführender Vertiefung.

I. Geschichtliche und rechtsvergleichende Einführung 1. Vorläufer des Bundesverfassungsgerichts Ein geschichtlicher Rückblick 5 bestätigt, daß Gestalt und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit eng mit dem jeweiligen Verfassungsverständnis und den politischen

3

Neben den Fn. 31 genannten kürzeren juristischen und den Fn. 4 zitierten politologischen Beiträgen aus neuerer Zeit etwa M . TOHIDIPUR (Hrsg.) Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, 1976; P. RÖMER (Hrsg.) Der Kampf um das Grundgesetz, 1977; W. DÄUBLER/G. KUSEL (Hrsg.) Verfassungsgericht und Politik, 1979; R . LAMPRECHT/W. MALANOSKI Richter machen Politik, 1979; G . K . KALTENBRUNNER Auf dem Weg zum Richterstaat, 1979; F . HASE/K. H . LADEUR Verfassungsgerichtsbarkeit und politisches System,

4

Neben den Lehrbüchern von TH. ELLWEIN

die Kurzbeiträge D . GRIMM Verfassungsgerichtsbarkeit — Funktion und Funktionsgrenzen im demokratischen Staat, in: W. HOFFMANN-RIEM (Hrsg.) Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. 2, 1977, S. 83; J . EBSEN Das B V e r f G im politischen System der Bundesrepublik, in: N e u e polit. Literatur, 1978, S. 172; R . ECKERTZ Die Kompetenz des B V e r f G und die Eigenheit des Politischen, in: Der Staat, 1978, S. 183; H . WASSER Das B V e r f G in Karlsruhe, ein Vergleich mit dem Supreme Court, in: Beilage 49/80 zum Parlament; H . SCHUELER Die Konterkapitäne von Karlsruhe, in: Zeit-Dossier vom 24. 2. 1978; K . LANGE Wie in der Residenz des Rechts die Bonner Politik gestoppt wird, in: Frankfurter Rundschau vom 8. 2. 1979; W. BIRKENMAIER Eine erstaunliche Kompetenzfülle, in: Das Parlament vom 26. 9. 1981.

1980. (4. A u f l . 1977) u n d v o n K . v. BEYME (1979)

über das Regierungssystem in der Bundesrepublik etwa H . LAUFER Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968. Weitere Literatur besprochen bei R . SCHÄFER Politikwissenschaftliche Analyse des B V e r f G , in: N e u e polit. Literatur, 1974, S. 209. Ferner

5

Die folgende Skizze fußt auf U . SCHEUNER Die Uberlieferung der deutschen Staatsge-

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1255

Grundströmungen zusammenhängen. Wird gar die Errichtung der gegenwärtigen Verfassungsgerichtsbarkeit als ein ähnlich revolutionärer Schritt gewertet wie der Ubergang vom Absolutismus zum Konstitutionalismus, dann können Rückblicke nur begrenzt weiterführen. Das Bundesverfassungsgericht seinerseits war — das dürfte zu seinen besonderen Verdiensten zählen — von Anfang an darauf bedacht, eine eigenständige Rechtsprechung zu entwickeln, ohne in einem ähnlichen Maße wie andere oberste Gerichte an den Traditionen einer früheren Rechtsprechung anknüpfen zu können. Gleichwohl ist vor dem Ubermut zu warnen, frühere Verfassungsepochen, in denen das SpannungsVerhältnis von Recht und Politik und damit ein Kernproblem aller Verfassungsgerichtsbarkeit anders gelöst wurde, lediglich als defizitär im Vergleich zur Gegenwart abzutun. Das trübt den Blick dafür, daß die heutige „Krönung des Verfassungsstaates durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit" keine fraglose Selbstverständlichkeit ist und daß das Funktionieren dieser Gerichtsbarkeit als des schwächsten aller Verfassungsorgane wesentlich von einem tragfähigen verfassungspolitischen Grundkonsens und auch von Uberzeugungskraft und Augenmaß ihrer Entscheidungen abhängt. a) Von den wichtigsten verfassungsgerichtlichen Aufgaben — Streitschlichtung zwischen verschiedenen Staatsorganen und innerhalb einer gliedstaatlichen Ordnung, Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen, Schutz der verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen, Sicherung des Verfassungsbestandes — läßt sich einiges bis in die Zeit des alten Deutschen Reiches zurückverfolgen. Dazu gehört namentlich die Entscheidung von Konflikten im Lehens- und Ständestaat durch das Reichskammergericht und den Reichshofrat. Deren Befugnisse beruhten allerdings nicht auf der Vorherrschaft einer Verfassung, sondern auf dem kaiserlichen Amt der Friedenswahrung und der Uberordnung des Reiches, verbunden mit einer Vorordnung der politischen Instanz, da gegen ihre Entscheidungen der Reichstag angerufen werden konnte. Auf eine entsprechende Teilfunktion beschränkte sich auch die AusträgalOrdnung von 1817, die durch den Wiener Kongreß zum Austragen von Streitigkeiten zwischen Bundesgliedern mit der Maßgabe geschaffen wurde, daß die Bundesversammlung vorab den Versuch einer politischen Schlichtung zu vermitteln und zu prüfen hatte, ob sich Streitfälle mit politischem Einschlag zur Verweisung an ein Gericht eignen (Art. 11 Abs. 4 der Bundesakte; Art. 21—24 Wiener Schlußakte). Im übrigen ließ das Selbstbewußtsein der souveränen Fürsten eine Verfassungsgerichtsbarkeit als Mittel staatlicher Machtbegrenzung nicht zu; Bemühungen Preußens und Österreichs um eine weitergehende Gerichtszuständigkeit scheiterten am Widerspruch der süddeutschen Staaten. Wird Verfassungsgerichtsbarkeit als eine „institutionell auf die Erhaltung und Durchsetzung einer Verfassung gerichtete Rechtsprechung" verstanden (so Scheuner), dann gehört zu ihren Voraussetzungen, daß eine — geschriebene — Verfassung existiert und als übergeordnet anerkannt wird. Dieser Gedanke faßte in Deutschland erst im Laufe des 19. Jahrhunderts Fuß. Soweit er in den Einzelstaaten zur Errichtung richtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Festgabe (Fn. 1) Bd. 1 S. 1; ferner TH. SCHIE-

DER Vom Reichskammergericht zum BVerfG, in: 25 Jahre BVerfG (Fn. 2) S. 21.

1256

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

einer Staatsgerichtsbarkeit führte, zielte diese — neben der Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Regierung und Volksvertretung — bevorzugt auf den gerichtlichen Schutz der Verfassung in Gestalt der Ministeranklage. Diese spielte als Mittel, wenigstens die Berater des Souveräns zur Rechenschaft ziehen zu können, in der Theorie eine bevorzugte, in der Staatspraxis hingegen nicht einmal während des preußischen Verfassungskonflikts in den sechziger Jahren eine Rolle; als verfassungsgerichtliche Aufgabe hat sie sich in dem Maße überlebt, in dem sich die parlamentarische Verantwortung der Minister durchsetzte. Anders als die Verfassungen der Einzelstaaten sah die Paulskirchenverfassung in Art. 126 bereits eine weitgehend ausgeformte Verfassungsgerichtsbarkeit modernen Stils vor, die sich als Ausdruck des nationalen Einigungs- und zugleich des liberalen Freiheitsstrebens werten läßt. Es sollte sogar — unter Fortbildung der früheren Beschwerde wegen Verletzung des Reichsrechts durch die Territorialgewalten — eine Verfassungsbeschwerde für den Staatsbürger eingeführt werden, ein Gedanke, den erstmals während der Weimarer Republik Bayern verwirklichte. Die aus Nordamerika bereits bekannte richterliche Normenkontrolle wurde hingegen nicht übernommen und stieß in der Folgezeit auf grundsätzlichen Widerspruch. Auch im übrigen verblaßte die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit mehr und mehr. Der aufkommende politische Realismus, die nicht nur im frühen Marxismus vertretene Einschätzung der Rechtsfragen als Machtfragen, die positivistische Grundhaltung der Rechtswissenschaften, das formale Verständnis der Rechtsstaatsidee, der Verzicht auf einen Grundrechtskatalog in der Reichsverfassung von 1871, das bevorzugte Interesse an der Funktionsfähigkeit der exekutivischen Staatsgewalt und auch das vorherrschende zentralistische Streben konnten für eine Gerichtsbarkeit, die im Bundesstaat eher machtmäßigend zugunsten der Gliedstaaten wirkt, nicht günstig sein. Im Reiche Bismarcks setzte sich schließlich die Auffassung durch, daß Grundfragen der politischen Ordnung nicht in Bindung an die Verfassung durch Richter, sondern mit politischen Mitteln zu entscheiden sind. Demgemäß hatte nunmehr über Streitigkeiten zwischen Bundesgliedern ebenso wie in Fällen der Justizverweigerung der Bundesrat, also das oberste politische Organ, zu entscheiden (Art. 76f RV). Charakteristisch sind die Ausführungen Bismarcks während des preußischen Verfassungskonflikts: ,,So hoch ich auch die preußischen Richter als juristische Autorität stelle, so hat doch die Regierung nicht geglaubt, daß von dem einzelnen Urteilsspruch eines Gerichts, wie er sich nach der subjektiven Ansicht der Mehrheit der Stimmenden herausstellen wird, die politische Zukunft des Landes, die Machtverteilung zwischen der Krone und dem Landtage sowie zwischen den Häusern des Landtages abhängig gemacht werden dürfe." b) Ein zwiespältiges und buntscheckiges Bild bietet die Verfassungsgerichtsbarkeit der "Weimarer Republik. Getreu der deutschen Überlieferung orientierten sich ihre Kompetenzen mehr an den Problemen des föderalen Staatsaufbaus und weniger an den Erfordernissen der neuen gewaltenteilenden pluralistischen Demokratie. Im Rahmen seiner Zuständigkeiten für Konflikte der Länder untereinander und zwischen diesen und dem Reich sowie — subsidiär — für Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Länder hat zwar der Staatsgerichtshof unter ständiger Ausweitung der Antragsbe-

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1257

fugnis eine breite und auch verdienstvolle Rechtsprechung entfaltet 6 ; seine Entscheidungen zum Wahlrecht und zum Grundsatz der Bundesfreundlichkeit haben bis in die Nachkriegszeit fortgewirkt. Die Normenkontrolle — vorgesehen zur Prüfung der Vereinbarkeit vom Landes- mit Reichsrecht — wurde indessen nicht dem Staatsgerichtshof, sondern dem Reichsgericht anvertraut, das schließlich in der berühmten Aufwertungsrechtsprechung auch ein weitergehendes richterliches Prüfungsrecht in Anspruch nahm 7 . Zur Effektuierung der Grundrechte konnte dies schon deshalb nicht führen, weil diese weitgehend als Programmsätze verstanden wurden. Ausgeschlossen von jeder Verfassungsgerichtsbarkeit blieben entsprechend der bisherigen Tradition Streitigkeiten zwischen Organen des Reiches, obwohl gerade auch der Dualismus zwischen Parlamentsdemokratie und präsidialdiktatorischer Reserveverfassung zum Zerfall der Weimarer Republik beigetragen hat. Als der eigentliche Hüter der Verfassung galt der Reichspräsident; an die Uberprüfung seiner auf Diktaturgewalt gegründeten Notverordnungen trauten sich die Gerichte nicht so recht heran. O b ein Staatsgerichtshof mit mehr Kompetenzen der Auszehrung des Parlamentarismus entgegengewirkt hätte, muß angesichts der — auch unter Berufsrichtern und Staatsrechtslehrern verbreiteten — Vorbehalte gegen den pluralistischen Parlamentarismus bezweifelt werden. Im Machtkampf um die Einsetzung eines Reichskommissars 1932 in Preußen („Preußenschlag"), in dem sich zwei politisch feindliche Regierungen gegenüberstanden und in dem sich der Staatsgerichtshof auf einen vermittelnden Ausgleichsversuch zurückzog, wurde schließlich erkennbar, wie wenig auch eine Verfassungsgerichtsbarkeit in Zeiten tiefgreifender politischer Erschütterungen bewirken kann. Hier zeigt sich, daß Hüter der Verfassung letztlich die Gesellschaft selbst ist, die sich zu ihr bekennt oder von ihr abwendet. Für die Gegenwart dürften vor allem die damaligen Diskussionen über Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit interessant sein 8 . Einerseits gab es — so auf den Juristentagen 1924 und 1927 — gerade auch unter den liberalen Staatsrechtslehrern Bestrebungen, die Kompetenz des Staatsgerichtshofs auf Verfassungsstreitigkeiten zwischen Reichsorganen und die Normenkontrolle auszudehnen. Dies wurde jetzt bevorzugt mit der Forderung nach einer rechtsstaatlichen Kontrolle der gesam6

7

8

Art. 19, ferner Art. 15 Abs. 3, 18 Abs. 7, 59, 90 und 108 WRV sowie das Gesetz über den Staatsgerichtshof vom 9. Juli 1921. Die im Gesetz ausführlich behandelte Ministeranklage blieb ohne Bedeutung. Die Entscheidungen wurden mit lesenswerten Vorworten von W. SIMONS herausgegeben von diesem und LAMMERS, der seinerseits 1921 das Gesetz über den Staatsgerichtshof kommentiert hatte. Art. 13 Abs. 2 WRV in Verbindung mit dem Ausführungsgesetz vom 8. April 1920. Zum richterlichen Prüfungsrecht vgl. R G Z 102, 161; 107, 315 und insbesondere 111, 320. Dazu etwa die Verhandlungen der Staatsrechtslehrertagung 1928 mit den Referaten

v o n H . T R I E P E L u n d H . K E L S E N ( F n . 1) s o w i e

die Vorworte von SIMONS zur Entscheidungssammlung (Fn. 6). Zusammenfassung auch der Position von C. SCHMITT mit näheren N a c h w e i s e n bei SCHEUNER ( F n . 5) S . 50. K r i -

tisch mit zahlreichen

Literaturnachweisen

HASE/LADEUR ( F n . 3) S. 103. Kritische W ü r -

digung der Staatsgerichtsbarkeit bei W. APELT Geschichte der Weimarer Verfassung, 1946 S. 281. Zu den politischen Verhältnissen K.

D.

BRACHER, E .

HATTENHAUER

In:

FRIESENHAHN u n d K.

D.

H.

ERDMANN/H.

SCHULZE (Hrsg.) Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980.

1258

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

ten Staatstätigkeit begründet. Andererseits stießen diese Bestrebungen zunehmend auf Kritik, die nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit fragte, deren politische Natur und die Rolle des Gesetzgebers im gewaltenteilenden Staat hervorhob. Für C A R L SCHMITT, den Wortführer dieser Kritik, überschreitet die Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Normenkontrolle die Grenze der Rechtsprechung; diese habe in Bindung an den Gesetzgeber vorgegebene generelle Normen zu deuten, während ein Urteil über die Gesetze selbst schon wegen der Unbestimmtheit verfassungsrechtlicher Normen eine politische Entscheidung sei; demgemäß laufe Verfassungsgerichtsbarkeit auf eine verdeckte Zuweisung politischer Entscheidungen an den Richter, auf eine Politisierung der Justiz hinaus; politische Streitfragen würden ehrlicher von politischen Instanzen entschieden. Aber auch ein so unverdächtiger Mann wie G . R A D B R U C H warnte, daß „Entscheidungen, in welchen die Gerichte dem Mehrheitswillen der Volksvertretung entgegentreten, gar zu leicht nicht als Rechtsspruch gewertet werden, sondern als politische Gegenaktion gegen politische Aktionen, als eine Verkleidung des Willens der überstimmten Minderheit in die Form des Rechts" 9 . 2. Rechtsvergleichender Überblick Nach dem letzten Krieg hat die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit ebenso wie in der Bundesrepublik so auch anderwärts erheblich an Boden gewonnen 10 . Ein rechtsvergleichender Blick auf den Supreme Court und auf die Verfassungsgerichtsbarkeit in Italien, Österreich und der Schweiz unterstreicht die singulare Position des Bundesverfassungsgerichts, das anderwärts als geglücktes Element des „Modells Deutschland" empfunden wird und an das sich jüngst die spanische Neuregelung angelehnt hat. a) Kritiker des Bundesverfassungsgerichts verweisen hingegen vermehrt auf das Vorbild des Supreme Court der USA, dem sicherlich die Urheberschaft für die moderne Verfassungsgerichtsbarkeit gebührt. Hier war Hamilton in den berühmten Federalist-Papieren schon früh dafür eingetreten, im Rahmen eines gewaltenteilenden Systems die Entscheidung über Verfassungsverletzungen einem unabhängigen Gerichtshof als der „unvergleichlich schwächsten" aller Gewalten anzuvertrauen 11 . Die nicht ausdrücklich vorgesehene Befugnis, Gesetze für verfassungswidrig zu erklären, nahm der Supreme Court bereits im Jahre 1803 für sich und für die Gerichte überhaupt in Anspruch und begründete dies schon damals mit der Vorherrschaft der Verfassung. Fortwirkende naturrechtliche Traditionen und ebenso der Widerstandskampf gegen die Kolonialgesetze des englischen Parlaments begünstigten diesen 9

10

Richterliches Priifungsrecht? in: Deutsche Justiz, 1925/26 S. 12. Umfangreiches rechtsvergleichendes Material mit einem ausführlichen Bericht über das BVerfG von E. FRIESENHAHN enthält das 1962 nach einem internationalen Kolloqium erschienene Werk H . MOSLER Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart. Ferner M. HIRSCH V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a k e i t u n d Ver-

fassungsgerichte in der Bundesrepublik sowie in anderen Staaten, in: DÄUBLER/KÜSEL ( F n . 3) S. 179 u n d H . J . FALLER D a s spani-

11

sche Verfassungsrecht, J ö R n. F. Bd. 29 (1980) S. 279. N r . 78 dieser 1788 als Buch veröffentlichen Papiere, die F. ERMACORA 1958 in Übersetzung herausgegeben hat.

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1259

Durchbruch. In der Ausgestaltung dieser Normenkontrolle zeigt sich allerdings einer der wesentlichen Unterschiede gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, die insgesamt zur Folge haben, daß die Rechtsprechung des Supreme Court bevorzugt auf Individualrechtsschutz und weniger auf eine Schiedsrichterrolle im Streit der politischen Kräfte zugeschnitten ist 12 : Der Supreme Court, ein einziges Senatskollegium mit neun Richtern, vereinigt als oberste Instanz der Bundesgerichtsbarkeit alle Funktionen auf sich, die in der Bundesrepublik die obersten Gerichtshöfe des Bundes und das Bundesverfassungsgericht insgesamt ausüben. Abstrakte Normenkontrollen sind ausgeschlossen; die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen einschließlich der Einhaltung der Kompetenzen überprüft das Gericht inzident innerhalb eines konkreten Rechtsstreites (judicial review). Da ferner über Verfassungsfragen im normalen Rechtsmittelzug entschieden werden kann, ist eine besondere Verfassungsbeschwerde und die oft schwierige Abgrenzung zwischen Verfassungsrecht und „einfachem" Recht gegenstandslos; dabei gehört zu den in langer Tradition entwickelten Grundsätzen des „judicial selfrestraint", daß die mögliche Urteilsbegründung nach einfachem Recht einer verfassungsrechtlich fixierten vorgezogen wird. Das certiorari-Verfahren wirkt einer Uberlastung des Gerichts entgegen; danach setzen nicht nur Revisionsanträge der Parteien, sondern auch Vorlagen nachgeordneter Gerichte eine Annahme voraus, über die der Supreme Court im wesentlichen nach freiem Ermessen entscheidet und von der er nur sparsam und lediglich bei einer „substantial federal question" Gebrauch macht. Darüber hinaus hat das Gericht im Zuge des erwähnten self-restraint die political question-Doktrin entwickelt, nach der es die Annahme politischer Streitsachen namentlich im Bereich internationaler Beziehungen mit der Begründung ablehnt, es fehlten handhabbare rechtliche Entscheidungsmaßstäbe. Es dürfte der Überlegung wert sein, wie weit die stabile Dauerhaftigkeit der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit diesen Besonderheiten zu verdanken ist. Daß auch der Supreme Court durch Höhen und Tiefen gegangen und in seiner Rechtsprechung heftig umstritten gewesen ist, ließe sich an seinem Widerstand gegen die sozialreformerische New Deal-Politik Roosevelts, der Durchsetzung der Rassenintegration sowie der Liberalisierung des Staatsschutzes nach der McCarthy-Ära belegen. b) Anders als die USA verzichtete das englische Mutterland und bis in die jüngste Zeit ebenso Frankreich auf eine Verfassungsgerichtsbarkeit, da sich dies mit der Suprematie der Volksvertretung nicht vertragen hätte. Diese Volksvertretung repräsentiert schließlich am unmittelbarsten die Souveränität des Volkes; sie war es, die die verfassungsmäßigen Rechte der mächtigen Exekutive abtrotzte. Das Vertrau-

12

Dazu recht informativ WASSER (Fn. 4), der B e r i c h t v o n S E I B E R T ( F n . 3 2 ) u n d W . SOLTAU

Die souveräne richterliche Gewalt in der Verfassung, im Rechtsleben und im politischen Bilde der USA, J R 1950, S. 485 sowie G. CASPER Zur Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik und den Verei-

nigten Staaten, DÖV 1976, S. 695. Ferner die umfangreichen Untersuchungen von H. EHMKE Die Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschaftsregulierung, 1961; F. W. SCHARPF Grenzen der richterlichen Verantwortung, 1965; W. HALLER Supreme Court und Politik in den USA, 1972.

1260

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

en, daß diese Rechte am besten beim Parlament aufgehoben seien, kennzeichnet auch die Idee der rule of law, in der im angelsächsischen Bereich der Rechtsstaatsgedanke kulminiert. Dem entspricht eine strenge Bindung des Richters an das Gesetz und nicht umgekehrt eine Unterordnung des Gesetzgebers unter „unsichere Rechtssprüche". An solchen Überlegungen und unter Hinweis auf Erfahrungen in der Bundesrepublik scheiterten in den siebziger Jahren in Schweden Bestrebungen zur Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Mit dieser Reserve gegenüber einem richterlichen Prüfungsrecht korrespondiert, daß seine Befürwortung in der älteren konservativen Staatsrechtslehre nicht frei von antiparlamentarischen Affekten war. Auch in der Schweiz, der Musterdemokratie des Kontinents, ist die beim Bundesgericht gebildete staats- und verwaltungsrechtliche Abteilung nicht befugt, Gesetze und allgemeine Dekrete des Bundesparlaments, die einem Volksbegehren unterliegen, sowie internationale Verträge auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Die Unantastbarkeit dieser Rechtsakte erklärt sich als Folge der direkt ausgeübten Demokratie; gleichwohl hat die Expertenkommission für eine Totalrevision der Verfassung mehrheitlich die Einführung einer konkreten Normenkontrolle empfohlen. Von besonderer Bedeutung ist in der Schweiz die staatsrechtliche Beschwerde, mit welcher der Bürger eine Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte durch Gesetzgebungsakte der Kantone oder durch letztinstanzliche Einzelentscheidungen von Verwaltung und Gerichten verfolgen kann. Angesichts des Mangels an konkreten Grundrechtsgewährleistungen wurde die Nachprüfung auch auf die offensichtlich willkürliche Auslegung des einfachen Rechts erstreckt. Österreich, wo ähnlich wie in der Schweiz schon seit langem eine Verfassungsgerichtsbarkeit besteht, kannte ursprünglich keinerlei richterliche Normenkontrolle, da dies mit der Ausfertigung des Gesetzesbefehls durch den Monarchen unvereinbar erschien. Erst in der republikanischen Ära wurde unter dem Einfluß KELSENS dem Verfassungsgerichtshof die abstrakte (u.U. präventiv auszuübende) und konkrete Normenkontrolle in der Weise übertragen, daß die Aufhebung einer Norm als verfassungswidrig — abgesehen vom Anlaßfall — nur für die Zukunft wirkt und daß für das Außerkraftsetzen sogar eine Frist gesetzt werden kann. Im österreichischen Länderbericht auf der ersten Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte heißt es dazu, die meisten Normprüfungsverfahren seien ohne jeden politischen Charakter; würden vereinzelt auch echte politische Streitfragen an das Gericht herangetragen, „erkennt die in solchen Fällen gegenüber den Politikern eher mißtrauische Bevölkerung Österreichs meistens die Sachlage durchaus und sieht in der Anrufung des Verfassungsgerichtshofs eher ein Versagen der Politiker als ein legitimes Mittel der Lösung von Rechtsfragen". Von größter Bedeutung ist ferner — neben der Zuständigkeit für Kompetenzkonflikte — die Bescherde gegen Bescheide der Verwaltungsbehörden, die bei Verletzung einfachen Rechts beim Verwaltungsgerichtshof und bei Verletzung verfassungsmäßig gewährleisteter Rechte, zu denen auch die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgten Rechte gehören, beim Verfassungsgerichtshof einzulegen ist. Gegen Entscheidungen anderer Gerichte, die in Österreich seit je besondere Achtung genießen, ist die Verfassungsbeschwerde hingegen nicht vorgesehen.

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1261

Eine Verfassungsbeschwerde des Staatsbürgers fehlt völlig in der italienischen Verfassungsgerichtsbarkeit, die im übrigen ebenso wie die österreichische nach Aufbau und Zuständigkeiten dem Bundesverfassungsgericht recht nahekommt und zu deren wichtigsten Aufgaben neben der Entscheidung von Kompetenzkonflikten die abstrakte und konkrete Normenkontrolle gehören. Nachdem der Corte Constituzionale in der Anfangszeit von jahrelangen Besetzungsstreitigkeiten überschattet war, gewinnt er nach Meinung von Beobachtern nicht zuletzt wegen der krisenhaften Entwicklung der politischen Institutionen zunehmend an Gewicht. c) Die vorgenannten Verfassungsgerichte sowie ähnliche mit der Wahrung der Verfassungsmäßigkeit betraute europäische Institutionen bilden seit Beginn der siebziger Jahre die Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, die neben dem Europarat und seinen Rechtsprechungsorganen sowie dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg als drittes Zentrum europäischen Grundrechtsschutzes gewürdigt worden ist 13 . Der Erfahrungsaustausch auf diesen Konferenzen bestätigte, daß trotz aller Verschiedenartigkeit der Verfassungssysteme in der Regel Normenkontrolle, Kompetenzkonflikte und der Schutz der individuellen Rechte als wichtigste verfassungsrechtliche Aufgaben angesehen werden. Bei der Erörterung allgemein interessierender Einzelfragen (Wirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, verfassungskonforme Auslegung, Uberprüfung völkerrechtlicher Verträge, Verhältnis zu den Gesetzgebungsorganen, Bestand und Bedeutung der Grundrechte) ergaben sich viele Gemeinsamkeiten, aber auch wiederholt — bis hin zu der Frage, ob die Grundrechte mehr als nur Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe sind — Meinungsunterschiede über die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im Verhältnis zur Gesetzgebung. Offenkundig wurden solche Unterschiede beispielsweise in der Beurteilung der Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch.

II. Das Bundesverfassungsgericht und seine Richter 1. Entstehungsgeschichte und Rechtsgrundlagen Der Aufbau der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik wurde wesentlich von den Erfahrungen während der Weimarer Republik und mit dem nationalsozialistischen Unrechtsregime geprägt. Im Zuge einer allgemeinen Stärkung der Rechtsstaatsidee und der dritten Gewalt setzte sich der Gedanke durch, neben der Verfassungsgerichtsbarkeit in den Ländern 14 ein mit „besonderer Dignität" und umfassen13

So E. BENDA Europa als Grundrechtsgemein-

den

schaft, in: J . JEKEWITZ/M. MELZER/W.

NECK Verfassungsgerichtsbarkeit und gesetzgebende Gewalt, AöR Bd. 102 (1977) S. 2. Die genannte Zeitschrift sorgt seit 1974 für schnelle Informationen über verfassungsgerichtliche Entscheidungen. Dazu STERN (Fn. 2). Zum Verhältnis zwischen Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit E. FRIESENHAHN in: Festgabe (Fn. 1) Bd. 1, S . 748.

ZEH

(Hrsg.), Politik als gelebte Verfassung, 1980, S. 12. Der maschinenschriftliche Berichtsband über die erste Konferenz in Dubrovnik enthält informative Länderberichte über die verschiedenen Gerichte. Ferner die Konferenzkommuniques und Referate in der Europäischen Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) Nr. 2 und 5/1974 und Nr. 19-22/1978 sowie

14

Länderbericht

von

W.

RUPP-V.

BRÜN-

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1262

den Kompetenzen ausgestattetes Bundesverfassungsgericht zu errichten. Daß dieses für Konflikte innerhalb der als unabänderbar garantierten bundesstaatlichen Ordnung zuständig sein sollte, entspricht alter Tradition. Die Erfahrung, daß das Gesetz selbst zum Vehikel des Unrechts werden kann, hatte ferner im Verein mit einer neuen Naturrechtsrenaissance frühere Widerstände gegen eine richterliche Normenkontrolle abgebaut, wobei die Erinnerung an das diffuse richterliche Prüfungsrecht der Weimarer Republik eine Konzentration dieser Befugnis bei einem obersten Gericht nahelegte. Von größter Bedeutung erwies sich der Entschluß, die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht auszugestalten, deren Verletzung der betroffene Staatsbürger mit der Verfassungsbeschwerde verfolgen kann. Daß beides — Normenkontrolle und Verfassungsbeschwerde — zu den wichtigsten Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts gehören würde, hatte man anfangs nicht voll erkannt, wie die verunglückte gesetzliche Aufgabenverteilung zwischen den beiden Senaten zeigt. Angesichts der außergewöhnlichen, bis dahin unbekannten Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit muß es erstaunen, wie wenig sich ihre Väter mit der Vorgeschichte ihrer Schöpfung und ihrer grundsätzlichen Problematik befaßt haben. Weder im Konvent von Herrenchiemsee noch im Parlamentarischen Rat lag den Beratungen ein umfassendes Konzept zugrunde; zu deren Schwerpunkten gehörten eher nachgeordnete Probleme wie die Frage, ob die verfassungsgerichtliche Aufgabe einer besonderen Institution oder als Teilfunktion einem obersten Gericht übertragen werden sollte 15 . Von bleibendem Interesse dürften am ehesten die Auseinandersetzungen über die personelle Besetzung und um die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen sein. Da Bestrebungen, die Verfassungsgerichtsbarkeit unter besonderer Hervorhebung zusammenfassend in einem Abschnitt zu regeln, im Parlamentarischen Rat scheiterten, sind die maßgebenden Vorschriften über das Grundgesetz verstreut. Neben den zentralen Bestimmungen über Errichtung, Zuständigkeit und Besetzung im Abschnitt über „Die Rechtsprechung" (Art. 92 ff) gibt es weitere Regelungen über die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verteidigungsfall (Art. 115 g und h) sowie über ergänzende Zuständigkeiten (Art. 18, 21 Abs. 2, 41 Abs. 2, 61, 84 Abs. 4 und 126 GG). Einzelheiten über Verfassung und Verfahren des aus zwei Senaten gebildeten Zwillingsgerichts regelt das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, das auf der Ermächtigung in Art. 94 G G beruht und am 3. Februar 1971 neu bekannt gemacht worden ist (BGBl. I S. 105). Mehrfache Änderungen dieses Gesetzes 153 betrafen insbesondere die Reduzierung der Richterzahl von anfangs 24 auf 16, die Amtsdauer der Richter nebst Ausschluß ihrer Wiederwählbarkeit, die Ausschließungsregelung, die Einführung des Sondervotums sowie das Annahmeverfahren für Verfassungsbeschwerden. Ergänzende Verfahrensregelungen sowie Vorschriften für

15

I m einzelnen K . B . v. DOEMMING/R. FÜSSLEIN/W.

MATZ

W.

Entstehungsgeschichte

der Artikel des G G , J ö R n. F. Bd. 1 (1951) S. 6 6 9 ; ferner LAUFER ( F n . 4 ) S. 33.

151

W . HEYDE D a s B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t s g e -

setz in der Bewährung, in: W. GREWE/H. RUPP/H.

SCHNEIDER

(Hrsg.)

Europ.

Ge-

richtsbarkeit und nationale Gerichtsbarkeit, 1981, S . 229.

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1263

Organisation und Verwaltung enthält die erst 1975 vom Plenum verabschiedete Geschäftsordnung (BGBl. I S. 2515). 2. Zuständigkeiten und Verfahrensarten Da die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts ungewöhnlich weit reichen, ist kaum eine verfassungsrechtliche Streitfrage denkbar, die ihm nicht zur letztverbindlichen Entscheidung angetragen werden könnte. Findet sich ein Antragsteller, sichern die einander ergänzenden und überschneidenden Verfahrensarten dem Gericht das letzte Wort in solchen Fragen selbst dann, wenn es — wie etwa für die verfassungskonforme Gesetzesauslegung — nicht ausschließlich zuständig ist. Da ferner das Gericht die Vorschriften über seine Zuständigkeiten selbst auslegt, fällt ihm faktisch die Kompetenz-Kompetenz zu. Die nachfolgende Skizze beschränkt sich auf Schwerpunkte. Die weiteren Kompetenzen für Präsidenten- und Richteranklagen (Art. 61 und 98), Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Länder (Art. 99), Nachprüfung von Völkerrecht (Art. 100 Abs. 2) und Fortgeltung früheren Rechts (Art. 126) sowie sonstige gesetzlich zugewiesene Fälle (Art. 93 Abs. 2) hatten keine oder nur in der Anfangszeit praktische Bedeutung.

a) Organ- und

Bund-Länder-Streitigkeiten

Die Schlichtung von Verfassungsstreitigkeiten über Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder bestimmter anderer Beteiligter (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 G G ; §§ 63 ff BVerfGG) und insbesondere bei Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder sowie — subsidiär — von anderen öffentlichrechtlichen Streitigkeiten zwischen den Ländern oder zwischen diesen und dem Bund (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 und 4 sowie Art. 84 Abs. 4 G G ; §§ 68ff BVerfGG) gehört in föderalistisch verfaßten Staaten zum herkömmlichen Hausgut der Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit. In der Praxis hätte diese — gegenüber der Weimarer Zeit ausgeweitete — Zuständigkeit wohl noch größeres Gewicht erlangt, wenn nicht ein Teil der entsprechenden Konflikte im Wege der abstrakten Normenkontrolle ausgetragen werden könnte und wurde (vgl. den grundlegenden Beschluß BVerfGE 37, 363 — Bundesrat). Immerhin wurden in den bislang entschiedenen 48 einschlägigen Verfahren wichtige Grundfragen der politischen Ordnung behandelt (BVerfGE 1, 351 — Petersberger Abkommen; 6, 309 — Konkordat; 8, 122 — Volksbefragung zur Atombewaffnung; 12, 205 — Zweites Fernsehen; 44, 125 — Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung; 45, 1 — Haushaltsüberschreitung). Manche dieser Verfahren betrafen nicht in erster Linie echte Organ- oder Bund-Länder-Konflikte, sondern Kontroversen zwischen politischen Richtungen innerhalb des Gesamtstaates. Die in verschiedenartigen Verfahren entwickelte Rechtsprechung zu bundesstaatlichen Problemen dürfte im Ergebnis dazu beigetragen haben, das Gewicht der Gliedstaaten gegen den zentralistischen Trend des industriellen Massenzeitalters zu stärken. Die Auslegung der Zuständigkeitsabgrenzungen des Grundgesetzes erleichtert es sogar den Ländern, politisch umstrittene Gesetze, die ihre unmittelbaren Eigenbelange nur am Rande berühren, insgesamt zu Fall zu bringen und dadurch erheblichen Einfluß auf die

1264

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

inhaltliche Willensbildung im Bund zu gewinnen (kritisch dazu das Sondervotum BVerfGE 55, 331). Solche Tendenzen verstärken sich naturgemäß, wenn die politischen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und Bundesrat voneinander abweichen. Das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht der kommunalen Selbstverwaltung wird dadurch gestärkt, daß Gemeinden und Gemeindeverbände Verfassungsbeschwerden gegen die Verletzung dieses Rechts durch ein Gesetz einlegen können (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b ; §91 BVerfGG). Für die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung weitaus wichtiger sind: b) Verfassungsbeschwerden

der Staatsbürger

Maßnahmen der Exekutive, Entscheidungen der Gerichte und selbst Gesetze des Parlaments können von jedermann mit der Behauptung, durch sie in einem seiner Grundrechte oder in einem grundrechtsgleichen Recht verletzt zu sein, im Wege der Verfassungsbeschwerde zur gerichtlichen Nachprüfung gestellt werden (Art. 93 Abs. 4 a G G ; §§ 90ff BVerfGG, nähere Informationen in dem vom Gericht erhältlichen Merkblatt); als Eingriff in die Handlungsfreiheit kann sogar die Verletzung von Kompetenzvorschriften oder rechtsstaatlicher Grundsätze gerügt werden. Solche Verfassungsbeschwerden bilden mit großem Abstand die Masse der Verfahren; bis Ende 1980 wurden 44 770 eingelegt. Angesichts ihrer beträchtlichen Bedeutung erscheint es rückblickend kaum verständlich, daß R. THOMA noch 1953 in einem Gutachten ihre Abschaffung empfahl und daß sie erst Ende der sechziger Jahre im Zuge der Notstandsgesetzgebung verfassungsrechtlich verankert wurde. Sie erst hat das Bundesverfassungsgericht zum Gericht der Bürger gemacht, die mit ihrer Hilfe die Geltungskraft der Grundrechte „herausprozessiert" und dadurch direkten Einfluß auf die Staatswillensbildung gewonnen haben. Ähnlich wie die Normenkontrolle gaben Verfassungsbeschwerden dem Gericht Gelegenheit, in einer Serie denkwürdiger Entscheidungen die klassischen Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe, etwa die Meinungsfreiheit als konstituierende Grundlage der freiheitlichen Demokratie (BVerfGE 7, 198 - Lüth bis 54, 148 - Boll), die Gleichberechtigung der Geschlechter (BVerfGE 10, 59 — Stichentscheid) oder das Recht auf Gehör durchzusetzen. Aus den in den Grundrechten verkörperten Grundentscheidungen wurden ferner verpflichtende Konsequenzen für die Rechtsbeziehungen zwischen den Staatsbürgern, für die staatliche Leistungsverwaltung und die Ausgestaltung des Verfahrensrechts hergeleitet 16 . In dieser bürgernahen Auslegung und Ausweitung der Grundrechte zeigt sich einer der augenfälligsten Unterschiede gegenüber der Staatsgerichtsbarkeit der Weimarer Epoche, in der die Grundrechte nur eine bescheidene Rolle spielten. An dieser Bedeutung ändert auch nichts die relativ geringe Erfolgsquote (bis Ende 1980 waren 534 Verfassungsbeschwerden, also 1,16%, erfolgreich). Die Verfas-

16

Dazu den Bericht von K. HESSE über Bestand und Bedeutung der Grundrechte auf der Wiener Konferenz der Verfassungsgerichte, E u G R Z 1978, S. 427; zu den Auswirkungen

auf das Verfahrensrecht zuletzt das Sondervotum BVerfGE 53, 69 (71 ff) - MühlheimKärlich.

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1265

sungsbeschwerde ist — anders als in Bayern — keine Popularklage, sondern setzt unmittelbare Selbstbetroffenheit des Grundrechtsträgers voraus. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität ist regelmäßig zuvor ein etwa gegebener Rechtsweg zu erschöpfen, was angesichts der umfassenden Rechtsschutzgewährleistung (Art. 19 Abs. 4 GG) in aller Regel möglich und zumutbar ist. Vor allem ist das Bundesverfassungsgericht anders als etwa der Supreme Court nicht dazu berufen, als eine Art Superrechtsmittelinstanz Entscheidungen der Fachgerichte daraufhin zu überprüfen, ob sie das einfache Gesetzesrecht „richtig" angewendet haben. Unterlegene Prozeßparteien verkennen dies häufig und benutzen die gerichtskostenfreie Verfassungsbeschwerde als weiteres Rechtsmittel im Instanzenzug. Daraus erklärt sich, daß die meisten Beschwerden schon in dem zur Entlastung des Gerichtes vorgeschalteten Annahmeverfahren (Art. 94 Abs. 2 GG; §93a BVerfGG) durch einstimmigen Beschluß eines dreiköpfigen Richterausschusses als unzulässig oder aussichtslos nicht angenommen werden17. Im übrigen können auch angenommene, aber abgewiesene Verfassungsbeschwerden — wie etwa zu den Ostverträgen, zur Mitbestimmung, zur Witwerrente oder zum Gesetzesvorbehalt — zu wichtigen verfassungsrechtlichen Klärungen führen oder als Motor für Gesetzgebungsaktivitäten wirken. Auch darf die antizipatorische Wirkung auf den Gesetzgeber und die Fachgerichte nicht außer acht bleiben. c) Abstrakte und konkrete

Normenkontrolle

Schon Verfassungsbeschwerden können zur verfassungsmäßigen Überprüfung einer Norm führen, sei es daß diese den Betroffenen unmittelbar in seinen Grundrechten verletzt, sei es daß sie in einem Urteil angewendet und zusammen mit diesem angegriffen wird. Darüber hinaus ist das Bundesverfassungsgericht zuständig für die abstrakte Normenkontrolle, die von der Bundesregierung, einer Landesregierung oder einem Drittel der Mitglieder des Bundestages erhoben werden kann (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG; §§ 76ff BVerfGG), und ebenso für die konkrete Normenkontrolle, die ein anderes Gericht in einem konkreten Einzelfall veranlassen kann, für dessen Entscheidung es auf die Gültigkeit der anzuwendenden Norm ankommt (Art. 100 GG; §§ 80ff BVerfGG). Bis Ende 1980 sind aufgrund von Verfassungsbeschwerden sowie in 48 abstrakten und 707 konkreten Normenkontrollverfahren insgesamt 273 Normen ganz oder teilweise für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden18. Mehrere dieser Verfahren betrafen hochpolitische Konflikte, die allermeisten hingegen eher alltägliche Regelungsprobleme. Im Ergebnis wurden weit mehr Normen — ggf. im Wege der verfassungskonformen Auslegung — aufrechterhalten als beanstandet.

17

Zur Kritik am Annahmeverfahren E. BENDA Aktuelle Probleme der Praxis des BVerfG, NJW

1980, S. 2 0 9 7 ; allgemein: G .

SEIBERT

Die Verfassungsbeschwerde in der SpruchPraxis des BVerfG, in: J . VOGEL/H. SIMON/ A. PODLECH Die Freiheit des anderen, 1981, S. 491.

18

Vgl. die Einzelnachweise in den Anhängen der Registerbände zur Entscheidungssammlung. Zu den Ursachen der Beanstandungen die Untersuchung von E. BENDA Grundrechtswidrige Gesetze, 1979.

1266

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Ebenso wie die Verfassungsbeschwerde hat sich auch die konkrete Normenkontrolle bewährt und als unentbehrlich erwiesen. Das damit geschaffene Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts beruht auf dem Respekt vor dem parlamentarischen Gesetzgeber, dessen Normen nur ein oberstes Gericht sollte beanstanden dürfen; die inzidente verfassungsrechtliche Nachprüfung untergesetzlicher Normen oder vorkonstitutioneller Gesetze und ebenso die verfassungskonforme Auslegung obliegt auch den übrigen Gerichten. Anders als in Österreich sind zur Vorlage nicht nur die obersten, sondern sämtliche Gerichte befugt; jedoch genügen nicht schon bloße Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit. Der Vorzug dieser konkreten Normenkontrolle besteht darin, daß sie — ebenso wie die Normprüfung im Verfahren der Verfassungsbeschwerde — durch Anwendung der strittigen Vorschriften auf konkrete Sachverhalte ausgelöst wird und eine Beeinträchtigung des Betroffenen in seinen Rechten voraussetzt. Eine derartige Prüfung, die Wirkung und Tragweite der Normen in der Rechtswirklichkeit berücksichtigen kann, entspricht am ehesten der Funktion eines Gerichtes. Demgegenüber dürften die Erfahrungen mit der abstrakten Normenkontrolle, die zwar als Minderheitenschutz legitim, jedoch im Mutterland des richterlichen Prüfungsrechts unbekannt ist, weniger ermutigend sein. Sie betrifft häufig politisch besonders umstrittene Gesetze und zwingt das Gericht zu einer von der konkreten Rechtsanwendung abstrahierten umfassenden Nachprüfung; da eine Selbstbetroffenheit des Antragstellers nicht erforderlich ist, läßt sich mitunter nur schwer erkennen, wem eigentlich geholfen werden soll. Die Beteiligten wiederholen im wesentlichen nur ihre Standpunkte aus dem Gesetzgebungsverfahren und setzen ihre Auseinadersetzungen vor dem Gericht fort, das leicht in die Rolle eines Schiedsrichters über gegensätzliche Wertungen und Prognosen gerät, ohne dafür besser als das Parlament ausgerüstet und qualifiziert zu sein.

d)

Wahlrechtsstreitigkeiten

Ähnlich wie die Schlichtung von Organ- und Bund-Länder-Streitigkeiten hat auch die Entscheidung von Wahlrechtsstreitigkeiten ausgesprochen politischen Charakter. Insoweit ist das Bundesverfassungsgericht nicht nur für Beschwerden gegen Wahlund Mandatsprüfungen des Bundestages zuständig (Art. 41 Abs. 2 GG; §48 BVerfGG), in deren Rahmen beispielsweise die Wahlkreiseinteilung beanstandet wurde (BVerfGE 16,130). Politisch wichtiger noch sind die zahlreichen Entscheidungen zur Chancengleichheit bei der Wahl, die in verschiedenartigen anderen Verfahren unter Fortbildung der Rechtsprechung des Weimarer Staatsgerichtshofes ergingen. Dabei wurde zugleich die verfassungsrechtlich garantierte Funktion der Parteien zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung aktualisiert bis hin zur Anerkennung ihrer Antragsbefugnis in Organstreitigkeiten durch den ersten Plenarbeschluß des Gerichts (BVerfGE 4, 27). Neben den wahlrechtlich bedeutsamen Entscheidungen zu den Splitterparteien (BVerfGE 1, 208; 6, 84; 51, 222 — Europawahlgesetz) befaßte sich das Gericht insbesondere mit der finanziellen Förderung der Parteien durch steuerbegünstigte Spenden, staatliche Zuschüsse und Wahlkampfkostenerstattungen (BVerfGE 8, 51; 20, 56; 24, 300; 52, 63) und schließlich mit den Diäten der

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1267

Abgeordneten (BVerfGE 40, 296). Diese Rechtsprechung hatte u. a. zur Folge, daß der Gesetzgeber das Parteiengesetz erließ und damit einem bislang unerfüllten Verfassungsauftrag nachkam sowie die Diätenbesteuerung regelte. e) Schutz der verfassungsmäßigen

Ordnung

Anders als die Weimarer Verfassung hat sich das Grundgesetz für eine streitbare Demokratie entschieden. Zu den Vorkehrungen für ihren Schutz gehören die Verwirkung von Grundrechten, die zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht werden, sowie die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Parteien, die auf eine Beeinträchtigung oder Beseitigung dieser Grundordnung ausgehen. Uber beide Maßnahmen hat wegen ihrer weitreichenden Auswirkungen auf Antrag bestimmter Verfassungsorgane allein das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden (Art. 18 G G i . V . m . §§36ff B V e r f G G ; Art. 21 Abs. 2 G G i . V . m . §§43ff BVerfGG). Dazu ist es bislang nur zweimal durch das Verbot der SRP (BVerfGE 2, 1) und der K P D (BVerfGE 5, 85) gekommen, während zwei Anträge zur Verwirkung von Grundrechten gegen Rechtsradikale mangels hinreichender Begründung abgelehnt wurden (BVerfGE 11, 282; 38, 23). Praktisch noch bedeutsamer für den Staatsschutz sind Verbote von verfassungswidrigen Vereinigungen, denen nicht das Parteienprivileg zusteht, ferner die Vorschriften des politischen Strafrechts, beamtenrechtliche Maßnahmen gegen Extremisten sowie die Befugnisse der Geheimdienste. Insoweit sind zunächst andere Staatsorgane zuständig, deren Entscheidungen in der Regel mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden können. Objekt all dieser Schutzmaßnahmen ist nicht irgendeine beliebige, sondern speziell die freiheitliche demokratische Grundordnung, deren grundlegende Prinzipien in den beiden Parteiverbots-Urteilen eindrucksvoll herausgearbeitet worden sind. Zum Selbstverständnis dieser leicht verwundbaren Ordnung steht der „Staatsschutz" von je her in einem problematischen Spannungsverhältnis; je perfekter der Schutz ist, desto mehr kann das Schutzobjekt selbst nachteilig verändert werden. Dieser Gefahr, die bereits im KPD-Urteil beschrieben wird (BVerfGE 5, 85 [134f]; deutlicher das Sondervotum BVerfGE 33, 78 [84ff]), hat das Bundesverfassungsgericht verschiedentlich entgegengewirkt. Insgesamt verrät seine Rechtsprechung zum Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung aber wohl eine gewisse Unsicherheit. Kritiker befürchten mit gewichtigen Gründen, sie toleriere im Interesse des „Staatsschutzes" zu weitgehende Einschränkungen der Grundrechte 1 9 . Im übrigen erscheint gerade in diesem Bereich die unbefristete und zementierende Wirkung der verfassungsgerichtlichen Anordnung oder Billigung von Schutzmaßnahmen problematisch, da sie der Situationsgebundenheit der jeweiligen Gefahren und der damit korrespondierenden Maßnahmen kaum gerecht wird. 19

Vgl. einerseits die Verteidigung des Parteienprivilegs gegenüber straf- und sozialrechtlichen Benachteiligungen ehemaliger Funktionäre einer verbotenen Partei ( B V e r f G E 12, 296; 13, 46), andererseits die umstrittenen Entscheidungen B V e r f G E 6, 32 — Ausreise-

freiheit; 20, 162 — Spiegel; 28, 36 - Politisehe Diskussion beim Militär; 30, 1 — Abhorverbot; 33, 52 — Verbringungsverbot; 39, 334 — Radikale im öffentlichen Dienst. Zum ganzen vgl. den Beitrag von E. DENNINGER Der Schutz der Verfassung S. 1293 ff.

1268

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

3. Status und politisches Gewicht des Gerichts Indem das Grundgesetz in Art. 92 das Bundesverfassungsgericht konstituiert und vor den anderen Bundesgerichten nennt und ihm ferner umfassende Kompetenzen zuweist, unterstreicht es zwar seine institutionelle Sonderstellung, läßt aber seinen Status noch offen. Erst das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht stellt in § 1 klar, daß es ein allen übrigen Verfassungsorganen gebenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof ist. Dieser Status und damit der den anderen Verfassungsorganen Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung ebenbürtige Rang war anfangs bis in die Staatspraxis noch unklar und ist erst 1952 in einer Denkschrift des Plenums herausgearbeitet worden, in der sich das Gericht „als der oberste Hüter der Verfassung" und „ein mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan" bezeichnet 20 . Aus diesem heute nicht mehr angezweifelten Status folgt, daß das Gericht verwaltungsmäßig keinem Ministerium untersteht, im Haushaltsplan ein eigenes Kapitel erhält, zum Erlaß einer Geschäftsordnung befugt ist und daß — wie etwa das Gesetz über das Amtsgehalt der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck bringt — auf seine richterlichen Mitglieder weder die allgemeinen Richternoch erst recht die Beamtengesetze unmittelbar anwendbar sind. Charakteristisch für diesen Status und ebenso für die Erwartungen und Hoffnungen, die sich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit verbinden, ist deren Absicherung für den Verteidigungsfall (Art. 115 g und h G G ) . Man mag die Statusdenkschrift mit FORSTHOFF als „Standesideologie der Verfassungsrichter" bezeichnen; im Ergebnis wird sie aber auch durch interdisziplinäre Analysen über die politische Rolle des Bundesverfassungsgerichts im Regierungssystem der Bundesrepublik bestätigt. Sein Gewicht wird nicht nur als unbestreitbar vorhanden, sondern sogar als Übergewicht gegenüber anderen Verfassungsorganen festgestellt und mit Bezeichnungen wie Vierte Gewalt, Ersatzgesetzgeber, Honoratiorenparlament, Schattenkabinett, Superrevisionsinstanz, Richtersouverän oder Konterkapitän umschrieben. Rechtlich wird dieses Gewicht dadurch ermöglicht, daß einerseits die Ausübung aller Staatsgewalt an die Verfassung gebunden ist und daß andererseits die letztverbindliche Konkretisierung der Verfassung einschließlich der Auslegung der gerichtlichen Kompetenzen der Interpretationsmacht des Gerichts unterliegt. Demgemäß prägte W. GEIGER schon 1952 die provozierende Formel von der „Suprematie des Bundesverfassungsgerichts", in dessen Hand „der letztlich entscheidende Einfluß auf das Wollen und Können der übrigen Verfassungsorgane" liege 21 . Politisch erklärt sich die starke Position vor allem aus der Wertschätzung der Verfassung selbst sowie daraus, daß es dem Gericht gelungen ist, deren Lebenswert durch seine Rechtsprechung allgemein bewußt zu machen; anhand seiner zahlreichen Entscheidungen zu nahezu allen verfassungspolitischen Streitfragen von einigem Gewicht ließe sich geradezu eine Geschichte der Bundesrepublik schreiben. Es hat

20

Deren Text mit weiteren Materialien, namentlich dem Gutachten des Berichterstatters G . LEIBHOLZ ist veröffentlicht in JÖR n. F . B d . 6 (1957) S. 110.

21

Einige Probleme der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit, D Ö V 1952, S. 481 (482).

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1269

sich in der langen Schönwetterperiode, die auf die konfliktreiche Anfangsphase folgte und die vom Konsens aller Demokraten getragen wurde, eine derart hohe, bis heute fortbestehende Autorität erworben, daß es kaum ein Politiker wagen kann, seinen Entscheidungen offen zuwiderzuhandeln und sich dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit auszusetzen. Äußerlich trat das politische Gewicht um so sichtbarer in Erscheinung, je häufiger die jeweilige Opposition ihre Regierungskontrolle nicht auf die parlamentarischen Auseinandersetzungen beschränkte, sondern vor dem Bundesverfassungsgericht fortsetzte und diesem damit das letzte Wort über bedeutsame Vorhaben zuschob. Gleichwohl wäre es irreführend, ein Übergewicht des Bundesverfassungsgerichts zu behaupten. Träfe das zu, hätte sich längst ein entschiedener Widerstand gegen eine Entwicklung zum Richterstaat formiert. Im Unterschied zu anderen Verfassungsorganen hat das Gericht weder Befugnisse noch Möglichkeiten zu aktiver politischer Gestaltung; es kann das Handeln anderer immer nur nacbprüien und diesen überhaupt nur dann in den Arm fallen, wenn es im Rahmen eines zulässigen Verfahrens angerufen wird und wenn ein anderes Organ die ihm von der Verfassung gesetzten Grenzen überschritten hat. Politische Führungsmacht und politische Zielbestimmungen liegen nach wie vor eindeutig bei den anderen Organen, zumal die Position des Bundesverfassungsgerichts eher instabil ist und davon abhängt, daß seine Entscheidungen nicht nur (zähneknirschend) respektiert, sondern von allen gesellschaftlichen Kräften im wesentlichen akzeptiert werden. Diese Akzeptierung und die Befriedungsfunktion der Verfassungsgerichtsbarkeit werden gefährdet, wenn mit der Unsitte fortgefahren wird, den Unterlegenen als nicht verfassungstreu zu brandmarken. 4. Das Verhältnis zu supranationalen Gerichten Grenzen für die umfassenden Befugnisse des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich aus dem Besatzungsrecht sowie dem Berlin-Vorbehalt der Alliierten und ferner in gewissem Umfang daraus, daß die Bundesrepublik gemäß Art. 24 Abs. 1 G G Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen und damit auch auf supranationale Gerichte übertragen hat 22 . a) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Die von der Bundesrepublik ratifizierte und in innerstaatliches Recht transformierte Europäische Konvention zum Schutze der Menschrechte und Grundfreiheiten vom 4. 22

Zum (169F).

Besatzungsrecht Ferner

P.

BVerfGE

LERCHE

Die

36,

146

Rechtspre-

chung des B V e r f G in Berliner Fragen, in: Festgabe (Fn. 1) B d . 1 S. 713; vgl. d a z u auch den Beitrag von J . A.FROWEIN S. 2 9 f f . Ü b e r Zuständigkeit und Arbeitsweise der beiden Europäischen Gerichtshöfe berichteten H . PETZOLD u n d H . KUTSCHER auf der IV. K o n -

ferenz der Europäischen Verfassungsgerichte

( E u G R Z 1978, S. 5 0 0 f f ) ; vgl. ferner E . BENDA E u r o p a als Grundrechtsgemeinschaft (Fn. 13); J . FROWEIN Europäisches Gemeinschaftsrecht und B V e r f G , in: Festgabe (Fn. 1) B d . 2 S . 187, d e n B e i t r a g v o n W . v. SIMSON

S. 59 ff sowie den Bericht über das Fünfte internationale K o l l o q u i u m über die Europäische Menschenrechtskonvention, J Z 1980, S . 538.

1270

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

November 1950 verbürgt ähnlich wie das Grundgesetz verbindliche Grundrechte und ermöglicht zugleich für 18 Mitgliedstaaten die justizförmige Durchsetzung dieser Rechte im Wege der Staaten- sowie der Individualbeschwerde. Individualbeschwerden der in ihren Rechten Betroffenen sind allerdings erst zulässig, wenn zuvor der nationale Rechtsweg erschöpft ist, zu dem in der Bundesrepublik auch die Verfassungsbeschwerde gehört. Die große Masse der rd. 9000 registrierten Beschwerden ist bislang im Vorverfahren gescheitert, das vor einer Anrufung des Gerichtshofs durch die Kommission für Menschenrechte durchzuführen ist. Der Gerichtshof selbst wurde seit seiner Bildung im Jahre 1959 bis Ende 1980 lediglich mit 39 Verfahren befaßt. Neben der Feststellung einer Verletzung der Konvention kann er auch finanzielle Entschädigungen zusprechen. Mit dieser weltweit einzigartigen Regelung wurde im Bereich des Europarates erreicht, kollektiv garantierte Menschenrechte international einklagbar zu machen und den Grundrechtsstandard in den Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Soweit der Menschenrechtskatalog der Konvention mit dem Grundgesetz übereinstimmt, bedeutet dies zugleich, daß das Bundesverfassungsgericht nicht mehr stets das letzte Wort in Grundrechtsstreitigkeiten behält. Zu einer divergierenden Beurteilung kann es namentlich dann kommen, wenn sich die Grundrechtsgewährleistungen nicht voll decken. Um so unbefriedigender erscheint die Rechtsprechung, daß Verletzungen der Menschenrechtskonvention — anders als in Österreich — nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein können (BVerfGE 41, 88 [105f]). In der Regel geht allerdings das Grundgesetz im Schutz der Menschenrechte eher weiter als der Mindeststandard der Konvention, so daß bislang nur wenige Fälle aus der Bundesrepublik vor den Gerichtshof in Straßburg gelangten. Soweit dabei die Dauer gerichtlicher Verfahren als unangemessen lang im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Konvention beanstandet wurde, könnte dies angesichts der Überlastung der deutschen Gerichte unerwünschte Rückwirkungen auf das hier besonders stark ausgeprägte und leicht zu mißbrauchende Rechtsschutzsystem auslösen. Daß die genannte Konventionsvorschrift nach einer Entscheidung der Kommission vom 13. Dezember 1979 auf Verfassungsbeschwerde- und Normenkontrollverfahren nicht anwendbar ist, darf kein Grund dafür sein, sich weiterhin mit der Überlastung des Bundesverfassungsgerichts und der daraus folgenden Länge mancher seiner Verfahren abzufinden.

b) Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

in Luxemburg

Während die Prüfungsbefugnisse des Straßburger Gerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts im Bereich von Grundrechtsverletzungen miteinander konkurrieren, beansprucht der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften für die Beurteilung des Gemeinschaftsrechts eine ausschließliche Kompetenz. Dieses Gemeinschaftsrecht ist als Instrument der Wirtschaftsintegration konzipiert und besteht einerseits aus den drei Verträgen über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die Europäische Atomgemeinschaft (primäres Gemeinschaftsrecht) und andererseits aus den von den Gemeinschaftsorganen erlassenen Rechtsakten (sekundäres Gemeinschaftsrecht). Gegenüber den nationalen

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1271

Rechtsordnungen ist das in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht autonom; seinen Normen gebührt der Vorrang vor dem nationalen Recht. Der Gerichtshof entscheidet in Klageverfahren vor allem darüber, ob ein Mitgliedstaat Vertragspflichten verletzt oder ob ein Organ der Gemeinschaft seinerseits rechtswidrig gehandelt, insbesondere vertragswidrige Vorschriften erlassen hat. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt bei Vorlageverfahren, durch die ein nationales Gericht eine Vorabentscheidung über die Auslegung der Verträge oder die Gültigkeit sekundären Gemeinschaftsrechts beantragt. Dadurch soll sichergestellt werden, daß das Gemeinschaftsrecht einheitlich ausgelegt und fortgebildet wird und daß über die Gültigkeit von Organakten letztverbindlich allein der Gerichtshof in Luxemburg entscheidet. Dieser hat in den ersten 24 Jahren seiner Tätigkeit rd. 900 Urteile erlassen. Das Bundesverfassungsgericht hat Eigenständigkeit und Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts sowie die Bindungswirkung von Entscheidungen des Gerichtshofs der Gemeinschaften ausdrücklich anerkannt (BVerfGE 22, 293; 31, 145). Probleme ergaben sich aber daraus, daß das in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltende Gemeinschaftsrecht in Grundrechte eingreifen, namentlich berufsregelnde Maßnahmen enthalten kann. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts nahm 1974 in der ,,Solange"-Entscheidung (BVerfGE 37, 271) die Befugnis in Anspruch, sekundäres Gemeinschaftsrecht auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft noch nicht bis zu einem ausreichenden Grundrechtsschutz fortgeschritten sei. Diese viel zitierte, in einem Sondervotum kritisierte Entscheidung löste erhebliche Beunruhigung aus, verstärkte aber zugleich das Bemühen des Gerichtshofs in Luxemburg, ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze und — unter Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention — den gemeinsamen Grundrechtsbestand zu wesentlichen Elementen der Gemeinschaftsordnung zu erklären und das sekundäre Gemeinschaftsrecht daran zu messen. Im Interesse größerer Klarheit empfahl die Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1979 in einem informativen Memorandum (BT-Drucks. 8/3037) den förmlichen Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Angesichts dieser Entwicklungen hat der Zweite Senat inzwischen eine Änderung seiner Auffassung signalisiert (BVerfGE 52, 187 [202f]).

5. Zur Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen Das Gewicht des Bundesverfassungsgerichts wird dadurch unterstrichen, daß die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an seine Entscheidungen gebunden sind und daß diese Gesetzeskraft haben, soweit sie die Verfassungsmäßigkeit oder -Widrigkeit von Normen betreffen (Art. 94 Abs. 2 G G , §31 BVerfGG; zur Wirkung auf unanfechtbare Entscheidungen §78 und zur Anordnung eines Wiederholungsverbotes §95 Abs. 1 BVerfGG). Wegen der hohen Autorität des Gerichts hatte diese Regelung bislang weniger praktische als theoretische Bedeutung für das Verfassungsverständnis und das Selbstverständnis des Gerichts. In der Literatur ist ihre Tragweite umstritten, namentlich in der Frage, wie

1272

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

weit sich die Bindungswirkung auf die Entscheidungsgründe erstreckt und ob sie dem Erlaß einer inhaltsgleichen Neuregelung durch den Gesetzgeber entgegensteht. Die Beantwortung dieser Frage hat sich am Verfassungsverständnis der rechts- und sozialstaatlichen Demokratie zu orientieren, von dem es schon im KPD-Urteil heißt, daß die jeweiligen Verhältnisse stets verbesserungsbedürftig, aber auch verbesserungsfähig seien, daß damit eine nie endende Aufgabe gestellt werde, die in Anpassung an die sich wandelnden Tatbestände des sozialen und politischen Lebens und durch stets erneute Willensentscheidung zu lösen sei und die das Offenhalten aller denkbaren Lösungswege gebiete (BVerfGE 5, 85[135, 196ff]). Von diesem dynamischen Prinzip ständiger Wandelbarkeit, mit dem eine Verkrustung der Verfassungsinterpretation sowie eine juristische Zukunftsfixierung unvereinbar wäre, ist bereits der Parlamentarische Rat ausgegangen. Befürchtungen seitens der CDU/CSU-Fraktion, die Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen werde zu einer Erstarrung der Rechtsentwicklung führen, hielt der Abgeordnete Z I N N unwidersprochen entgegen, der Gesetzgeber könne jederzeit eine neue Gesetzesvorlage einbringen und das Gericht dann von seiner früheren Entscheidung abweichen 23 . Diese — gelegentlich angezweifelte — Auffassung ist systemkonform; sie trifft schon deshalb zu, weil Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung immer nur ein bestimmter, bereits ergangener oder unterlassener Akt der öffentlichen Gewalt ist und der Gesetzgeber durch die einfachrechtliche Vorschrift des §31 BVerfGG nicht an der späteren Verabschiedung einer inhaltsgleichen Neuregelung gehindert sein kann. Das Bundesverfassungsgericht hat seinerseits stets eine Selbstbindung an frühere Erkenntnisse abgelehnt und wiederholt frühere Beurteilungen geändert 24 . Daß im Urteil zum Grundlagenvertrag die Bindungswirkung der tragenden Gründe überstrapaziert wurde (BVerfGE 36, 1 [36]), ist vielfach kritisiert worden. Inzwischen wurde klargestellt, daß bei einer verfassungkonformen Auslegung nur das Verdikt über verfassungswidrige Auslegungsvarianten bindend sein kann (BVerfGE 40, 88 [93f] sowie der Tenor des Plenarbeschlusses (BVerfGE 54, 277). Als der Gesetzgeber bei einer ihm aufgetragenen Neuregelung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt hatte, wurde diese Neuregelung nicht etwa an der früheren Entscheidung, sondern zutreffend an der Verfassung selbst gemessen (BVerfGE 55, 100). Diese Linie steht in Einklang mit dem gebotenen dynamischen Verfassungsverständ-

23

J ö R n. F . B d . 1 ( 1 9 5 1 ) S. 6 8 6 ; LAUFER ( F n . 4)

dungswirkung

S. 8 9 .

scheidungen des B V e r f G , J u S 1 9 7 8 , S. 1.

Schon der Präsident des

Staatsgerichtshofs zweiten

Band

der

hatte

im

Weimarer

Vorwort

zum

Entscheidungssammlung

24

und Gesetzeskraft

Ent-

Vgl. neben den z u v o r genannten

Entschei-

dungen

BVerfGE

zum

Gemeinschaftsrecht

( F n . 6) davor gewarnt, die Tragweite der res

39, 169 (185) -

iudicata in gefährlicher Weise zu

(317)

überstei-

der

W i t w e r r e n t e und 4 3 ,

— Numerus

clausus.

Der

291

Supreme

gern. Aus dem umfangreichen Schrifttum vgl.

C o u r t hat zwischen 1 8 1 0 und 1 9 7 7 in 91 Fäl-

etwa einerseits J . IBSEN Rechtsfolgen der V e r -

len seine Beurteilung geändert ( R . ZUCK D i e

fassungswidrigkeit v o n N o r m und Einzelakt,

Selbstbindung des B V e r f G , N J W 1 9 7 5 , S. 9 0 7

1 9 8 0 ; andererseits W . SEUFFERT U b e r G e s e t z -

F n . 7 6 ) und durch diese Flexibilität wesent-

gebung, R e c h t s p r e c h u n g und Bindungswir-

lich

kung, A ö R B d . 1 0 4 ( 1 9 7 9 ) S. 1 7 0 ; ECKERTZ

richtsbarkeit beigetragen.

( F n . 4 ) S. 1 8 4 ; K . LANGE Rechtskraft, Bin-

zur

Lebensdauer

der

Verfassungsge-

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1273

nis und auch damit, daß das Bundesverfassungsgericht zum Hüter der Verfassung und nicht zur Kanonisierung seiner früheren Erkenntnisse berufen ist. Ein restriktives Verständnis der Bindungswirkung erscheint um so eher geboten, als verfassungsgerichtliche Verbote, die selbst im Falle eines Irrtums nur schwer korrigierbar sind, ohnehin zementierend wirken und schon die bloße Drohung mit dem Gang nach Karlsruhe politische Vorwirkungen für die Planung neuer Gesetzesvorhaben entfaltet. 6. Die Richter des Bundesverfassungsgerichs Bei einem Verfassungsorgan vom Gewicht des Bundesverfassungsgerichts und auch wegen der voluntativen Elemente jeder Rechtsprechung sind Auswahl und Stellung der Richter von größter Bedeutung. Demgemäß bestimmt die Verfassung selbst in Art. 94, daß das Gericht aus Bundesrichtern, also Angehörigen der obersten Fachgerichte, und aus anderen Mitgliedern besteht und daß diese je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt werden. Nach der näheren Regelung im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht erfolgt die Wahl im Bundestag durch einen zwölfköpfigen Wahlausschuß, im Bundesrat durch das Plenum; in beiden Gremien sind Zweidrittelmehrheiten erforderlich. Der Bundesminister der Justiz führt Kandidatenlisten, die bei anhaltenden Einigungsschwierigkeiten durch (unverbindliche) Vorschläge des Gerichtes zu ergänzen sind. Tatsächlich werden die Kandidaten durch „Findungskommissionen" der großen Parteien vorgeschlagen, wobei die beiden politischen Lager Besetzungspräferenzen beanspruchen und das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit einen Verständigungszwang ausübt. Die Absicht, beim zweiten Wahlgang die einfache Mehrheit genügen zu lassen, scheiterte in den fünfziger Jahren nicht zuletzt am scharfen öffentlichen Protest. Die personelle Rekrutierung hat namentlich in der Anfangszeit heftige Kontroversen sowie Spekulationen über einen „schwarzen" und einen „roten" Senat und bis heute immer wieder Unbehagen ausgelöst 2 5 . Ungeachtet aller Kritik hat es sich als glückliche Lösung erwiesen, abweichend von der bisherigen deutschen Tradition nicht nur (mindestens drei) Berufsrichter, sondern auch Hochschullehrer, erfahrene Verwaltungsbeamte und Politiker (meist aus dem Anwaltsberuf) zu wählen. Gerade diese Mischung hat das Gericht befähigt, die richterliche Auslegung vorgegebener Normen mit wissenschaftlichem Sachverstand und politischem Gespür zu verbinden und dadurch die Verfassung lebendig werden zu lassen. Auch gegen den Besetzungsmodus lassen sich trotz mancher unerfreulicher Vorgänge und gut gemeinter Reformvorschläge keine wirklich durchschlagenden Bedenken erheben. Angesichts des Gewichts der Verfassungsgerichtsbarkeit und im Interesse ihrer demokratischen Legitimierung ist es in einer gewaltenteilenden Parteiendemokratie durchaus systemkonform, den maßgeblichen politischen Kräften wenigstens auf die Richterbestellung einen Einfluß zu belassen, zumal dabei keine Seite ihre Karten überreizen kann.

25

Dazu

LAUFER

(Fn. 4)

S.

206;

K.

KRÖGER

Richterwahl, in: Festgabe (Fn. 1) Bd. 1 S. 76.

1274

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

Es ist Sache der gewählten Richter, ihre innere, allein der Verfassung verpflichtete Unabhängigkeit zu bewahren. Dazu bestehen alle realen Voraussetzungen: Verfassungsrichter sind nicht nur wie alle Richter von Verfassungs wegen unabhängig (Art. 97 GG), sie unterstehen als Mitglieder eines Verfasungsorgans auch keinem Dienstvorgesetzten (vgl. §§ 1 ff der Geschäftsordnung); ihre Wiederwahl ist seit 1971 nach Ablauf der zwölfjährigen Amtsdauer ausgeschlossen (§ 4 BVerfGG); sie können nur unter bestimmten Voraussetzungen kraft eines mit Zweidrittelmehrheit gefaßten Plenarbeschlusses entlassen werden, jedoch jederzeit selbst ihre Entlassung verlangen (§§12, 105 BVerfGG); durch Gleichstellung mit den Präsidenten der obersten Bundesgerichte sind sie finanziell gesichert (Gesetz über das Amtsgehalt); die Voraussetzungen für ihre Ausschließung oder Ablehnung sind eingeschränkt (§§ 18 f BVerfGG) 26 . Davon abgesehen drängt der tägliche Umgang mit der Verfassung und der Argumentationszwang in einem qualifiziert zusammengesetzten Beratungsgremium die etwaige parteipolitische Herkunft ganz in den Hintergrund; tatsächlich wechseln die Abstimmungsmehrheiten ständig. Am ehesten könnte sich die jeweilige — vereinfachend als mehr liberal, konservativ und/oder sozial umschreibbare — Grundhaltung bei zweifelhaften Streitfragen auswirken sowie eine mehr oder weniger „machtbewußte" Persönlichkeitsstruktur. Zusammenhänge zwischen der Besetzung des Gerichts und dem Schicksal einiger Reformgesetze der sozial-liberalen Koalition lassen sich jedenfalls wesentlich schwieriger konstruieren, als manche Spekulationen vermuten. Immerhin wurden in der Zeit vor der großen Koalition mehr Gesetze — auch hochpolitische — beanstandet als in der Folgezeit. Auch die Rechtsprechung des letzten Jahrzehnts ist sicher nicht deckungsgleich mit den gesellschaftspolitischen Vorstellungen des einen oder des anderen Lagers. Die Grundhaltung des einzelnen Richters spiegelt sich im gewissen Umfang in seinen Sondervoten wieder, zu deren Bekanntgabe die Verfassungsrichter seit Ende 1970 berechtigt sind (§30 Abs. 2 BVerfGG, §55 Geschäftsordnung)27, nachdem schon vorher einige mit Stimmengleichheit getroffene Entscheidungen (§15 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG) die unterschiedlichen Auffassungen der beiden Richtergruppen 26

F ü r die Tragweite dieser Vorschriften ist ihre Auslegung wesentlich, bei der die Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens berücksichtigt werden: B V e r f G E 32, 2 8 8 ; 35, 171; 46, 34. Wegen etwaiger Manipulationen der Richterbank besonders umstritten waren die Ablehnungen der Richter Leibholz im Parteienfinanzierungsstreit und Rottmann im Verfahren zum Grundlagenvertrag ( B V e r f G E 20, 1 und 9 ; 35, 246 mit Sondervotum). Das Gericht hat für den Fall von Ablehnungen eine Vertretungsregelung zwischen den Senaten empfohlen, wobei der Vertreter ausgelost werden soll. Z u m ganzen F. KNÖPFLE Besetzung der Richterbank, in: Festgabe (Fn. 1) Bd. 1 S. 142; R. WASSERMANN Z u r Richterablehnung im verfassungs-

27

gerichtlichen Verfahren, in: Die Freiheit des anderen (Fn. 17) S. 4 6 5 . Dazu das Gutachten von K. ZWEIGERT sowie die Beratungen auf dem 47. Deutschen Juristentag 1968, Bd. 1 D , Bd. 2 R ; ferner W . HEYDE Dissenting opinions in der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, J ö R n. F . Bd. 19 (1970) S. 201. Bisherige Erfahrungen werten aus P. HÄBERLE Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, 1980, S. 2 4 ; K. G . ZIERLEIN Praktische E r fahrungen mit dem Sondervotum, D Ö V 1981, S. 83; W . GEIGER Die abweichende Meinung und deren Bedeutung für die Rechtsprechung, in: Die Freiheit des anderen (Fn. 17) S. 455.

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1275

wiedergegeben hatten und der Zweite Senat zur Bekanntgabe der Stimmverhältnisse übergegangen war. Schon die starke Arbeitslast zwingt dazu, solche Sondervoten regelmäßig auf besonders wichtige Streitfragen zu beschränken; von 1971 bis Ende 1980 wurden zu insgesamt 729 abgdruckten Entscheidungen von Mitgliedern des Ersten Senats 12 und von Mitgliedern des Zweiten Senats 51 Sondervoten veröffentlicht. An diesem Rechtsinstitut, das im angelsächsischen Rechtskreis selbstverständlich ist und das 1968 auf dem Nürnberger Juristentag mit nur wenigen Gegenstimmen befürwortet wurde, ist nicht nur deshalb festzuhalten, weil es eine spezielle Form des pluralistischen Minderheitenschutzes und wichtiges Element der Selbstkritik einer von anderen Gewalten nicht kontrollierten Institution ist. Zwar fühlen sich einige seiner erklärten Gegner in ihren ursprünglichen Befürchtungen bestätigt. Weder die Solidarität der Richter noch die Autorität haben indessen bislang aufweisbar gelitten. Die Regelung, daß ein Sondervotum rechtzeitig angekündigt werden muß und nur enthalten darf, was zuvor in der Beratung vorgetragen wurde, kommt der Begründung der Mehrheit zumindest insofern zugute, als sie problematische Argumente besonders sorgfältig prüft oder im Interesse der Offenheit der Verfassungsinterpretation fallen läßt. Sondervoten zu wichtigen Fragen üben anscheinend auf die Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichts eine größere — wenn auch schwer aufweisbare und meßbare — Wirkung aus als auf die publizistische Berichterstattung, für welche die maßgebliche Mehrheitsentscheidung ganz im Vordergrund steht. In umstrittenen Fällen stärken Sondervoten eher die Akzeptierbarkeit der Entscheidungen und den Respekt vor einem Gericht, das harten Auseinandersetzungen nicht ausweicht und das dem Unterlegenen zu erkennen gibt, daß sein Standpunkt nicht aus dem Spektrum des Vertretbaren herausfällt. Nicht ganz zu Unrecht wird solchen Sondervoten eine den politischen Konflikt entschärfende „systemstabilisierende" Wirkung zugeschrieben.

III. Legitimation und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Zur Legitimation und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit Ein Gerichtshof mit der Kompetenzfülle des Bundesverfassungsgerichts läßt sich — allen Konstruktionskunststücken zum Trotz — nicht leicht in das überkommene System der gewaltenteilenden Demokratie einordnen. Für dieses ist kennzeichnend, daß der Schwerpunkt der staatlichen Willensbildung bei dem vom Volk unmittelbar gewählten Parlament und seiner Gesetzgebung liegt, daß die diese Gesetzgebung ausführende und die Vollzugsgewalt ausübende Regierung vom Parlament bestellt und kontrolliert wird und daß unabhängige Gerichte in strikter Bindung an die Gesetze die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns zu überwachen haben. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die nicht nur Streitigkeiten zwischen den anderen Organen schlichtet, deren Verdikt sogar Gesetze des Parlaments unterliegen, verändert diese Gewaltenbalance und schränkt die Souveränität der Mehrheit des Volkes ein. Darin mag man eine Ergänzung des Demokratieprinzips durch rechtsstaatliche und föderalistische Maßnahmen zum gerichtlichen Austragen von Differenzen und insbesondere

1276

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

zur Mäßigung und Begrenzung staatlicher Macht sehen. Die Rechtsstaatsidee allein reicht indessen nicht aus, um den Bruch mit der Suprematie des Parlaments und die Gewichtsverlagerung von diesem zu einem Gericht zu erklären. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit ihre eigentliche Legitimation in der Idee vom Vorrang der Verfassung findet, die ihrerseits als Grundkonsens alle staatliche Gewalt bindet. Sie sensibilisiert die Organe und Bürger des Staates im Geist dieser Verfassung und übt durch deren Auslegung und Anwendung im pluralistischen Interessenaustragungsverfahren eine konsensbewahrende und konsensfortbildende Befriedigungsfunktion aus. Diesen Vorrang der Verfassung und der von ihr verbrieften Rechte haben die besten unserer Vorfahren in langer, leidvoller Auseinandersetzung den Inhabern der Staatsmacht abgerungen. Damit haben sie das uralte Spannungsverhältnis zwischen Macht und Recht zugunsten des Rechts entschieden. Diese Entscheidung erscheint allgemein akzeptierbar, wenn und solange Recht — gerade Verfassungsrecht — nicht als bloßer Uberbau zur Stabilisierung eines status quo, sondern in seiner Doppelfunktion begriffen wird: als Richtschnur für einen immerwährenden Annäherungsprozeß an mehr Gerechtigkeit und Freiheit und zugleich als Schutz gegen die Verletzlichkeit des Einzelnen in Zeiten des Wandels. Voraussetzung für diese Akzeptierung ist eine Verfassung, die wirklich auf einem breiten Grundkonsens beruht und zugleich so offen ist, daß die verschiedensten Kräfte der pluralistischen Gesellschaft sie als ihre Heimstatt empfinden können und daß Bewegungsraum für eine zukunftsgerichtete Politik bleibt. Diesen Anforderungen hat das anfangs als bloßes Provisorium gedachte Grundgesetz in einem Maße entsprochen, daß Gustav Heinemann sein Inkrafttreten in seiner denkwürdigen Ansprache „25 Jahre Grundgesetz" als Sternstunde unserer Geschichte bezeichnen konnte 28 . An diesem erfreulichen Tatbestand dürfte weder der unfruchtbare Grundwertestreit noch ein überzogener Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bislang Entscheidendes geändert haben. Fraglich kann nur sein, ob zur Entscheidung von verfassungsrechtlichen Streitigkeiten ein besonderes Organ bestellt werden soll und welches Organ Hüter der Verfassung und ihres Vorrangs sein soll. Insoweit mag abgewogen werden, ob sich solche Streitigkeiten zur richterlichen Entscheidung eignen, ob und inwieweit sie dem Zwang zur Verständigung und der Selbstregulierung im politischen Prozeß überlassen bleiben sollen und ob verfassungsgerichtliche Festschreibungen dem politischen und sozialen Wandel angemessen sind. Die an sich denkbare, heute etwa in Rumänien praktizierte Berufung anderer Staatsorgane befriedigt schon deshalb nicht, weil diese dann vielfach in eigener Sache zu entscheiden hätten. In einem gewaltenteilenden System liegt es näher, die mit der Durchsetzung der Verfassung verbundenen weitreichenden Befugnisse der rechtsprechenden als der schwächsten aller Gewalten anzuvertrauen, die weder über eigene Zwangs- noch über Finanzierungsmittel verfügt, die unbehelligt durch Tagespolitik und Wahlerfolgszwänge in längeren Zeiträumen denken kann, die nur durch Argumente und Weisheit Autorität gewinnen kann 28

G. H E I N E M A N N Allen Bürgern verpflichtet, 1975, S. 183; vgl. auch mein Plädoyer für die

rechts- und sozialstaatliche Demokratie, in: Frankfurter Hefte 2/1978, S. 5.

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1277

und deren Existenz langfristig davon abhängt, daß sie den Verfassungskonsens zu festigen und zu verbreitern vermag. Staatsrechtslehrer der älteren konservativen Schule haben gleichwohl die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit kritisiert und vor einer Entwicklung zum Rechtsweg- und Justizstaat sowie vor einer Politisierung der Justiz und einer Juridifizierung der Politik gewarnt. Demgegenüber hat sich diese Idee inzwischen in einem solchen Maße durchgesetzt, daß nicht mehr ihre Legitimation im Vordergrund des Interesses steht, sondern die Frage, wo die Grenzen einer etablierten und an sich anerkannten Verfassungsgerichtsbarkeit zu suchen sind. Da diese Frage wegen ihrer besonderen Aktualität ausführlicher erörtert wird, ist vorab mit Nachdruck vor einem Mißverständnis zu warnen. Die Suche nach den Grenzen darf den Hüter der Verfassung unter keinen Umständen veranlassen, seine legitimen Funktionen einzuschränken und in den Anstrengungen zur Effektuierung derjenigen Verfassungsentscheidungen nachzulassen, die den besonderen Lebenswert des Grundgesetzes ausmachen. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit durch eine Serie berühmter und richtungweisender Entscheidungen Wesentliches geleistet. Es hat auch künftig auf dieser Linie und deshalb mißtrauisch vor neuartigen Tendenzen zu bleiben, Grundrechtsgarantien zugunsten andersartiger Grundentscheidungen — etwa für eine funktionstüchtige Strafrechtspflege oder Landesverteidigung — zu minimalisieren 29 . Gewiß ist die Verfassung auch auf ein gutes Funktionieren der Staatsorgane im Interesse des Gemeinwohls angelegt. Sie will den Staat selbstverständlich nicht unregierbar machen und setzt — stillschweigend oder durch deren Erwähnung — Gegebenheiten voraus, die für die Verfassungsinterpretation nicht gleichgültig sein können. Diese komplexe Problematik kann hier nicht näher erörtert werdlen. Es muß bei der Erinnerung daran bewenden, daß Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit bevorzugt deshalb erkämpft wurden, um die Ausübung der Staatsgewalt zu mäßigen und zu begrenzen und um die Menschenrechte „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" zu gewährleisten. Die Unverzichtbarkeit dieser Gewährleistung wird durch die Europäische Menschenrechtskonvention auch kollektiv bekräftigt. Das Grundgesetz seinerseits orientiert sich zentral an der vorgegebenen unantastbaren Würde des Einzelnen und erschwert dadurch gewollt das reibungslose Funktionieren der Staatsgewalten. Gerade in der „schönen neuen Welt" des modernen Staates mit seinen weitreichenden Reglementierungs- und Oberwachungsmöglichkeiten ist besondere Wachsamkeit geboten, wenn im Konflikt zwischen Bürgerfreiheit und Staatsräson die Wirkkraft der Grundrechte durch andere Grundentscheidungen redu-

29

In diese Richtung tendierten schon einige Entscheidungen zum Staatsschutz (Fn. 19) und neuerdings B V e r f G E 44, 197 — politische Betätigung von Soldaten in der Freizeit; 49, 24 (55) - Kontaktsperre; 51, 324 (343 f) - Verhandlungsunfähigkeit; 48, 1 2 7 ( 1 5 9 f ) — Kriegsdienstverweigerung; ferner W . ZEIDLER Grundrechte und Grundentscheidungen der Verfassung im Widerstreit, in:

Verhandlungen des Dreiundfünfzigsten Deutschen Juristentages Berlin 1980, Teil I S. 5. Diese Tendenz ist nicht zu verwechseln mit der genau umgekehrten Fallgestaltung, daß die f ü r einen effektiven Grundrechtsschutz erforderlichen Organisationsformen auf ihre Funktionsfähigkeit überprüft werden.

1278

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

ziert wird, deren Unbestimmtheit es zuläßt, sie unter dem Druck vermeintlicher Notwendigkeiten mit mancherlei Inhalten anzureichern. Im übrigen wird die staatliche Funktionsfähigkeit eher durch übermäßige Gruppenmacht und übertriebene Rücksicht auf rechtsstaatlich frisierte Besitzstände beeinträchtigt und nicht durch die Grundrechte in ihrer gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsorientierten Auslegung (vgl. BVerfGE 33, 303 [334]). 2. Z u m Verhältnis von Recht und Politik und der Appell zur Selbstbeschränkung Gegenüber der Frage nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit herrscht in der öffentlichen Diskussion eine gewisse Hilflosigkeit. Entgegen einer verbreiteten Meinung lassen sich Schranken nicht durch eine Abgrenzung der Rechtsprechung von der Politik gewinnen. Zwar ist namentlich seit der Weimarer Zeit viel darüber gestritten wordlen, ob Grundfragen des politischen Lebens überhaupt justitiabel sind. Dieser Streit hat bis in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hineingewirkt und noch die Debatte der Staatsrechtslehrer im Jahre 1952 bestimmt. Die politische Natur verfassungsrechtlicher Auseinandersetzungen ist indessen in erster Linie als Vorfrage für die Überlegung erheblich, ob überhaupt eine Verfassungsgerichtsbarkeit eingerichtet werden und welche Zuständigkeiten sie haben soll. Die Väter des Grundgesetzes wollten nach den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur den politischen Bereich nicht freistellen von rechtlichen Schranken, sondern das staatliche Handeln ungeachtet seiner politischen Natur möglichst umfassend einer nachprüfbaren Bindung an die Verfassung unterwerfen. Wenn aber die Verfassung selbst eine Verfassungsgerichtsbarkeit einführt und mit umfassenden Kompetenzen ausstattet, dann kann der ohnehin zweifelhafte Versuch einer Unterscheidung zwischen Recht und Politik nicht weiterhelfen. Aus guten Gründen hat sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt, daß beides auch und gerade im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht reinlich zu trennen ist. Nicht nur können verfassungsgerichtliche Entscheidungen — ähnlich wie manche Urteile anderer Gerichte — weitreichende politische Auswirkungen haben. Vielmehr sind sie als Auslegung und Anwendung des politischen Rechts der Verfassung schon ihrer Natur nach notwendig politisch. Daher ist auch das Bundesverfassungsgericht unbezweifelbar eine eminent politische Institution im Gefüge eines auf Machtmäßigung angelegten Gewaltenteilungssystems; seine Entscheidungen sind auch und gerade in besonders kontroversen Streitfragen auf eine hochpolitische Befriedungsfunktion angelegt, und seine „Grundrechtspolitik" ist allgemein als positiv empfunden worden. Schon die Statusdenkschrift beschreibt seine Besonderheit gegenüber anderen Gerichtszweigen dahin, daß es mit „politischen Rechtsstreitigkeiten" befaßt sei, „bei denen über politisches Recht gestritten und das Politische selbst anhand der bestehenden Normen zum Gegenstand der richterlichen Beurteilung gemacht" werde. Mit Recht haben sich daher von Anfang an Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts gegen den stereotypen Vorwurf verwahrt, das Gericht regiere in die Politik hinein 30 . 30

Vgl. etwa E. FRIESENHAHN Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gesamtgefüge

der Verfassung, in: HÄBERLE (Fn. 2) S. 355; G . LEIBHOLZ Verfassungsgerichtsbarkeit im

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1279

Wohlverstanden: Es genügt nicht, solche Kritik als unfruchtbar zurückzuweisen und eine Anwendung der Political-Question-Doktrin des Supreme Court abzulehnen. Ebensowenig darf sich der Verfassungsrichter damit beruhigen, er übe — wie andere Gerichte auch — doch „nur" Rechtsprechung. Wegen des politischen Charakters seiner Entscheidungen muß er sich vielmehr mit politischem Gespür der immer dringlicher erhobenen Frage nach den Grenzen seiner Rechtsprechung stellen. Wird diese Frage nicht zureichend beantwortet und verfehlt insoweit die Verfassungsgerichtsbarkeit ihre Funktion, kann dies zu krisenhaften Belastungen der politischen Kultur führen. Da sich aus dem Verhältnis zwischen Recht und Politik keine stringenten Abgrenzungskriterien gewinnen lassen, begnügt man sich weithin mit der allgemeinen Empfehlung, das Gericht möge judicial self-restraint üben. Nun ist Selbstbeschränkung für eine Institution, die ihre Kompetenzen und Einwirkungsmöglichkeiten weitgehend selbst bestimmt und bei deren Entscheidungen auch voluntative Elemente mitspielen, zweifellos eine hohe Tugend. Daß aber dem Richter mit allgemeinen Appellen an diese Tugend nicht viel geholfen ist, zeigt beispielsweise das Urteil zum Grundlagenvertrag, das den Grundsatz richterlicher Selbstbeschränkung ausdrücklich bekräftigt (BVerfGE 36, 1 [14]), dem aber gerade Mangel an Selbstbeschränkung vorgeworfen wird. Zudem ist dieser Begriff irreführend, da es nicht im Belieben des Richters steht, Selbstbeschränkung zu üben. Einerseits ist er zur Einhaltung bestehender Grenzen verpflichtet, andererseits kann der Rechtsuchende verlangen, daß das Gericht im konkreten Streitfall seine Kompetenzen notfalls bis zum äußersten Rand ausschöpft. Die Verfassung selbst und nicht das Gericht ist in ihren Postulaten entweder zurückhaltend oder deutlich befehlend. Der Appell zum self-restraint richtet sich eher an diejenigen, die das Bundesverfassungsgericht zu häufig und möglicherweise mehr aus Gründen politischer Opportunität anrufen. 3. Zu den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit Da die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit in der letztverbindlichen Auslegung der vorrangig geltenden Verfassung besteht und ihr Einfluß auf der daraus folgenden Interpretationsmacht beruht, müssen die Grenzen für ihre Rechtsprechung in eben dieser Verfassung gesucht werden 31 . Die weiteren Überlegungen konzentrieren sich

Schnittpunkt von Recht und Politik, 1972; W. GEIGER Zur Lage unserer Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festgabe für Th. Maunz, 1971 sowie Vom Selbstverständnis des B V e r f G , 1979; E. BENDA Das B V e r f G im Spannungsfeld von Recht und Politik, Z R P 1977, S. 1 sowie B V e r f G und Gesetzgeber im dritten Jahrzehnt des G G , D Ö V 1979, S. 471; ferner E.

STEIN ( F n . 31) u n d

RUPP-V.

BRÜNNECK (Fn. 13). Zur Problematik ferner P. HÄBERLE Verfassungsgerichtsbarkeit

zwi-

schen Politik und Rechtswissenschaft, 1980,

S. 31

55; K .

STERN

Verfassungsgerichtsbarkeit

zwischen Recht und Politik, 1980. Z u m Folgenden neben den Fn. 3 und 4 genannten Veröffentlichungen, dem Bericht v o n RUPP-V. BRÜNNECK ( F n . 13) s o w i e Beiträgen

von

BÖCKENFÖRDE

und

den

SCHUP-

PERT ( F n . 3 5 ) i n s b e s o n d e r e K . H E S S E F u n k -

tionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift für H . Huber, 1981, S. 261; ferner die neueren kritischen Kurzbeiträge H . - J . VOGEL Zur aktuellen Kritik am BVerfG, D Ö V

1 9 7 8 , S. 6 6 5 ; E . STEIN

Das

1280

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

auf die Prüfung, ob und welche Abgrenzungskriterien aus dem der Verfassung inhärenten funktionalen Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zu anderen Staatsorganen (a) und ferner aus der Methodik der Verfassungsinterpretation im Lichte der dezidierten Entscheidung des Grundgesetzes für eine rechtsstaatliche Demokratie (b) zu gewinnen sind. Es kann sich dabei nur um Richtungsangaben für den mühsamen Prozeß handeln, aus Anlaß konkreter Verfahren ein Bündel sachgerechter und differenzierter Grenzmarkierungen herauszuarbeiten. Es erscheint kennzeichnend, daß Fragen in dieser Richtung selbst für den Supreme Court aufgeworfen wurden 32 und daß sich die Staatsrechtslehrertagung 1980 mit dem Thema „Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen" befaßte. a) Funktionelle Grenzen der

Verfassungsgerichtsbarkeit

Daß die Verfassung im gewaltenteilenden Staat dem Parlament, der Regierung nebst Verwaltung sowie der Fachgerichtsbarkeit Funktionsbereiche zum eigenverantwortlichen Handeln und Entscheiden zuweist, die das Bundesverfassungsgericht zu respektieren hat, ist in dessen Rechtsprechung vielfach zum Ausdruck gekommen. Soweit nicht verfassungsrechtliche Gebote oder Verbote entgegenstehen, ist das Parlament frei in seiner gesetzgeberischen Gestaltung bis hin zur Bestimmung der Prioritäten und der Verwendung der Haushaltsmittel; ebenso frei ist aus verfassungsgerichtlicher Sicht die Regierung in ihrem innen- und insbesondere außenpolitischen Handeln sowie die Fachgerichtsbarkeit darin, das „einfache" Recht als ihr Hausgut anzuwenden und auszulegen. Gegenüber keinem dieser Staatsorgane hat das Bundesverfassungsgericht nachzuprüfen, ob sie ihre Verantwortung „richtig" wahrgenommen oder die zweckmäßigste und gerechteste Lösung gefunden haben.

sungsgericht sowie A . PODLECH Verfassungsgerichtsbarkeit als Grundrechtssetzung, beide in: Die Freiheit des anderen (Fn. 17) S. 423 und S. 437. Siehe ferner die in Fn. 30 zitierten Beiträge, die Diskussion auf

B V e r f G als Ersatzgesetzgeber, in: Gegenwartskunde 1975, S. 397; K. ZWEIGERT Einige rechtsvergleichende und kritische Bemerkungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festgabe (Fn. 1) B d . 1,

S. 6 3 ; M .

KRIELE

Recht und Politik in der Verfassungsrecht-

dem

s p r e c h u n g , N J W 1 9 7 6 , S. 7 7 7 ; W . R . SCHEN-

KE Der Umfang der verfassungsrechtlichen Überprüfung, N J W 1979, S. 1 3 2 1 ; H. P.

SCHNEIDER B V e r f G im dritten Jahrzehnt, 1973 sowie die auf der Staatsrechtslehrertagung 1980 gehaltenen Vorträge von K .

SCHNEIDER V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t

SCHLAICH, J .

Gewaltenteilung, N J W SCHÄFER

und

W.

Ge-

1982,

S.

93;

A.

GERONTAS

S.

MÜLLER u n d

K.

MEYER/P.

KORINEK

HALLER D i e

Verfassungsgerichtsbarkeit

465

und

U.

SCHEUNER

Verfassungsge-

richtsbarkeit und Gesetzgebung, D Ö V 1980, S. 473 sowie D. MERTEN Demokratischer Rechtsstaat und Verfassungsgerichtsbarkeit, DVB1. 1 9 8 0 , S. 7 7 3 .

Der

Grundsatz des political self-restraint, E u G R Z 1982, S. 145; C . ARNDT Parlamentarische Gesetzgebung und Bundesverfas-

FROWEIN/H.

im Gefüge der Staatsfunktionen, D Ö V 1980,

setzgebung und politische Führung, in: Ein Cappenberger Gespräch, 1980, S. 10; K. JEKEWITZ B V e r f G und Gesetzgeber, in: Der Staat, 1980, S. 536; C h . GUSY Das Bundesverfassungsgericht als politischer Faktor, EuGRZ

P.

J.

nebst den dazu erschienenen Beiträgen von

1980, S. 2 1 0 3 ; F.

Verfassungsgerichtsbarkeit,

Symposion

32

Vgl. den Bericht von H. SEIBERT Der Supreme Court in seinem Verhältnis zu den anderen Staatsgewalten, EuGRZ 1978, S. 386.

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1281

Das alles scheint klar. Daraus ergäben sich aber nur dann exakte Grenzziehungen, wenn die Verfassungspostulate ihrerseits lediglich „negativ" Kompetenz- und Eingriffsschranken für das Handeln der anderen Organe markieren würden und das Verfassungsgericht nur die Einhaltung dieser Grenzen zu überwachen hätte. Das entspricht indessen nicht dem geltenden Verfassungsverständnis. Die Verfassungspostulate sind nicht allein Grenzmarkierungen, sondern zugleich Richtwerte für das Handeln aller Staatsorgane in den ihnen zugewiesenen Verantwortungsbereichen. So gehört es zu den vornehmsten Aufgaben der Gesetzgebung, die realen Voraussetzungen für eine effektive Grundrechtsverwirklichung zu schaffen oder beispielsweise im Rahmen spezieller Gesetzesvorbehalte nähere Regelungen für die Berufsausübung oder die Eigentumsordnung zu treffen. Ebenso haben die Fachgerichte bei der Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Staatsbürgern die Ausstrahlungswirkungen der höchstrangigen Verfassungsnormen auf das einfache Recht zu beachten. Die wertorientierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die weit über eine bloße Normsubsumtion hinausgeht, war schöpferisch in der Herausformung solcher Richtwerte und Handlungspflichten. Charakteristisch ist beispielsweise die Ausweitung des Gleichheitssatzes als eines elementaren Gerechtigkeitsprinzips: Während der Bayerische Staatsgerichtshof noch in der Weimarer Zeit die Gleichheit „ v o r dem G e s e t z " lediglich als Gleichheit in der Rechtsanwendung ausgelegt hatte, ist der Gleichheitssatz inzwischen — namendich für die Beurteilung leistungsgewährender Regelungen — zu einem der wichtigsten Prüfungsmaßstäbe für die Gesetze selbst geworden; aus ihm wurden die Grundsätze der Steuer- und Wehrgerechtigkeit sowie ein allgemeines Willkürverbot und eine (neuerdings problematisierte) Pflicht des Normgebers zur Systemgerechtigkeit abgeleitet. Als weitere, beliebig vermehrbare Beispiele sind zu nennen die Herleitung positiver Schutzpflichten und Teilhaberechte aus den in den Grundrechten verkörperten objektiven Wertentscheidungen; die Auswirkung materieller Grundrechtsgarantien auf Organisation und Verfahren nebst Entfaltung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens; die Erstreckung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts über die Eingriffsverwaltung hinaus auf die gewährende Leistungsverwaltung nebst der Demontage des besonderen Gewaltverhältnisses; die Ausformung ungeschriebener rechtsstaatlicher Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit bis hin zur Uberprüfung von Eignung und Erforderlichkeit strittiger Maßnahmen; die Herleitung von Gestaltungsund Verhaltenspflichten aus Grundentscheidungen oder dem Sinngefüge der Verfassung, ihrer Präambel oder auch aus Organisations- und Kompetenzvorschriften bis hin zum Wiedervereinigungsgebot, der Pflicht zum bundesfreundlichen Verhalten sowie den Grundentscheidungen für militärische Verteidigung und für eine streitbare Demokratie, oder auch von Richtlinien für Haushalts- und Abgabenrecht, Abgeordnetendiäten und Öffentlichkeitsarbeit in Wahlzeiten. Daß diese Rechtsprechung — bei allen Vorbehalten im einzelnen — die Geltungsund Prägekraft der Verfassung verstärkt sowie die Lebensqualität und die Ordnung eines menschenwürdigen Zusammenlebens verbessert hat, wird dem Bundesverfassungsgericht als besonderes Verdienst angerechnet. Daraus entstehen aber zwangsläufig vermehrte Eingriffsmöglichkeiten des Gerichts in den Verantwortungs-

1282

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

bereich anderer Staatsorgane. Um so sorgsamer sind die Grenzen zu beachten, die sich nicht allein aus den Funktionen der anderen Staatsorgane, sondern zugleich aus der spezifischen Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in einem gewaltenteilenden System ergeben. Insoweit ist zunächst festzuhalten, daß — wie sich bereits aus den vorstehenden Erwägungen ergibt — das Bundesverfassungsgericht nicht die einzige Instanz ist, die für Vollzug und Durchsetzung der Verfassung zu sorgen hat. Ihm steht lediglich im Streitfall das letzte Wort in der Auslegung der Verfassung sowie im Verhältnis zu den Fachgerichten das Monopol zu, nachkonstitutionelle Gesetze für verfassungswidrig zu erklären. Wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang, daß das Bundesverfassungsgericht auch als Verfassungsorgan ein Gericht ist. Es ist weder selbst Normgeber, noch gehört es zu den politischen Institutionen, die für die aktive Gestaltung des Zusammenlebens und der Zukunft des Gemeinwesens verantwortlich sind. Als Rechtsprechungsorgan obliegt ihm ebenso wie anderen Gerichten die begrenzte Aufgabe, in gerichtsförmigen Verfahren das anderwärts gesetzte und vorgegebene Recht anzuwenden, auszulegen und in den Grenzen der Auslegung fortzubilden. Auch gegenüber anderen Gerichten ist es als Hüter der Verfassung darauf beschränkt, deren Entscheidungen lediglich auf ihre Verfassungsmäßigkeit nachzuprüfen. Es hat weder ein Initiativrecht, noch kann es im Rahmen seiner wichtigsten Kompetenzen Gestaltungsurteile erlassen, sondern hat lediglich die überprüften Akte der öffentlichen Gewalt als verfassungsmäßig zu erklären oder als verfassungswidrig zu kassieren. Kritiker des Bundesverfassungsgerichts werden einräumen müssen, daß es sich immer wieder und mit Erfolg bemüht hat, die Eigenverantwortung der anderen Staatsorgane in ihren Funktionsbereichen zu respektieren, und daß es dazu bereits ein vielgestaltiges Instrumentarium entwickelt hat 33 : eng begrenzte Nachprüfung gerichtlicher Entscheidungen mit der Folge der Nichtannahme der weitaus meisten Verfassungsbeschwerden (BVerfGE 18, 85; 42, 143); milder Prüfungsmaßstab bei der Anwendung des Gleichheitssatzes (BVerfGE 9, 201 [206]; 55, 88ff) oder der Beurteilung der Zwecktauglichkeit eines Gesetzes (BVerfGE 30, 250); abgestufte Kontrolle gesetzgeberischer Prognosen (BVerfGE 50, 290 [332]); Respektierung von Handlungsspielräumen in der Außenpolitik (BVerfGE 4, 157 [169] — Saar-Statut; 40, 141 [177] — Ostverträge); Beschränkung der gesetzgeberischen Regelungspflicht auf das Wesentliche (BVerfGE 47, 46 [78] — Schulrecht); Zubilligung von Experimentierspielräumen verbunden mit einer Pflicht zum Nachfassen (BVerfGE 43, 291 [321] — Numerus clausus; 49, 89 [130] — Kalkar; 56, 54 [80] — Fluglärm); differenzierte Reaktion auf Grundrechtsverstöße von der vollen oder teilweisen Nichtigkeitserklärung über die bloße Feststellung der Verfassungswidrigkeit bis zur Tolerierung von Umstellungsfristen und der Beschränkung auf befristete oder unbefristete AppellEntscheidungen. Als berechtigt anerkannt ist ebenfalls die allgemeine Mahnung, das Gericht möge sich auf die jeweiligen Streitfragen konzentrieren, sich mit obiter dicta

33

Vgl. dazu etwa HESSE (Fn. 31), RUPP-V. BRÜNNECK

(Fn.

13),

W.

ZEIDLER

Verfas-

sungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und po-

litische Führung. Ein spräch, 1980, S. 48ff.

Cappenberger

Ge-

4 . Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1283

oder lehrbuchartigen Begründungen zurückhalten und keine alternativen Lösungsmodelle anstelle der verfassungswidrigen Regelung empfehlen. Wenn diese auch nicht binden, so üben sie doch im politischen Prozeß zumindest mittelbar eine gestaltende Wirkung aus, zumal die Empfehlungen vorweg als verfassungsrechtlich unbedenklich abgesegnet werden. Diese Mahnung ist freilich leichter zu erheben als zu befolgen und wird — wie etwa die Kritik am Diäten-Urteil zeigt — keinesfalls stets eingehalten. Zuweilen sind die Verfahrensbeteiligten selbst an vorweg geprüften Regelungsalternativen interessiert. Vergessen wird dabei die Erfahrung der Weimarer Zeit, daß die häufige und weitgehende Verlagerung der Staatswillensbildung auf den Reichspräsidenten als dem damaligen Hüter der Verfassung die politischen Kräfte der eigenen Verantwortung enthob und damit die Auszehrung des parlamentarischen Regierungssystems förderte. In diesem Zusammenhang ist endlich auf die Methode der verfassungskonformen Auslegung hinzuweisen, die vom Bundesverfassungsgericht häufig und — wie die Verhandlungen auf der Zweiten Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte bestätigten34 — auch von anderen Verfassungsgerichten angewendet wird. Danach darf eine auslegungsfähige Norm nur dann für verfassungswidrig erklärt werden, wenn keine der denkbaren Auslegungen verfassungsmäßig ist. Entwickelt wurde diese Methode im Interesse der Normerhaltung und zur Schonung der gesetzgeberischen Autorität. Sie illustriert allerdings zugleich die Ambivalenz von Bemühungen, den Verantwortungsbereich anderer Staatsorgane zu respektieren. Denn sie nötigt einerseits zur Auslegung einfachen Rechts und greift damit in die Funktion der Fachgerichtsbarkeit ein. Andererseits kann sie zur Deformation des eigentlichen gesetzgeberischen Wollens führen unter vorgreiflicher verfassungsgerichtlicher Absegnung solcher Gestaltungsvarianten, die der Gesetzgeber „hätte" anordnen können (vgl. das Sondervotum BVerfGE 33, 52 [78] sowie die im Plenarbeschluß BVerfGE 54, 277 zum Revisionszugang skizzierte Auffassung des Ersten Senats). Das erscheint besonders unbefriedigend, wenn auf diese Weise fragwürdige Regelungen „gerettet" werden, die richtiger aufgehoben und zur Neuproduktion an den Gesetzgeber zurückgegeben würden. b) Grenzen der

Interpretationsmacht

Die Erfahrung zeigt, daß das aus dem funktionalen Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zu anderen Staatsorganen herleitbare Instrumentarium allein noch nicht zu befriedigenden Abgrenzungen namentlich im Verhältnis zum Gesetzgeber genügt. Weitere Grenzen dürften aus dem Charakter der jeweiligen Verfassungsnormen und der Methode ihrer Auslegung jedenfalls dann folgen, wenn dabei gleichzeitig die dezidierte Entscheidung der Verfassung für eine rechtsstaatliche Demokratie berücksichtigt wird. Daß das Demokratieprinzip bislang in diesem Zusammenhang kaum untersucht wurde, mag darauf beruhen, daß es seit einiger Zeit in Mißkredit geraten

34

Vgl. meinen Generalbericht zur verfassungsk o n f o r m e n Auslegung, E u G R Z 1 9 7 4 , S. 8 5 .

1284

7. Kapitel. Staatliche F u n k t i o n e n

ist und daß wieder einmal der Rechtsstaatsgedanke gegen es ausgespielt wird. In der Rechtspraxis ergibt sich ein Gefälle zugunsten der Rechtsstaatsidee daraus, daß aus ihr in langer Tradition handhabbare Kriterien und in Verbindung mit den rechtsstaatlich interpretierten Grundrechten einklagbare Rechtspositionen herausgebildet wurden, die bestimmt und geeignet sind, die Befugnisse namentlich des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zu beschränken. Demgegenüber ist das Demokratieprinzip bislang materiell-rechtlich weniger ausgeformt; es wird bevorzugt für die Beurteilung des Wahlrechts oder auch dann herangezogen, wenn der Mangel an gesetzesförmlichen Regelungen beanstandet wird. Der vertraute und an sich richtige Gedanke, daß die Mehrheitsdemokratie nach dem Willen der Verfassung rechtsstaatlich begrenzt ist, setzt einen fast eigengesetzlichen Mechanismus in Gang: Durch Anrufen der Verfassungsgerichtsbarkeit werden die rechtsstaatlichen Positionen immer kräftiger herausprozessiert und im Wege der Verfassungsinterpretation zunehmend vorverlagert; je häufiger das Gericht zur Ausnutzung seiner weitreichenden Kompetenzen genötigt wird, desto engmaschiger knüpft es das Netz der Verfassungspostulate, deren Konkretisierungen dann weitere Verfassungsstreitigkeiten provozieren. Den betroffenen Staatsorganen fehlt demgegenüber die Möglichkeit, sich vor einer übergeordneten Instanz gegen die Beschränkung ihrer Beurteilungs- und Handlungsfreiheit durch eine extensive Verfassungsinterpretation zu wehren. Angesichts des hier nur skizzierten Trends zu einer Überbeanspruchung der Verfassung ist nachdrücklich daran zu erinnern, daß die Regelungsbefugnis des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ebenfalls zu den konstituierenden Elementen des demokratischen Rechtsstaats gehört und verfassungsrechtlich gemäß Art. 79 G G eher kräftiger garantiert ist als manche andere Verfassungspositionen (vgl. BVerfGE 50, 290 [337]). Das Demokratieprinzip verwehrt eine ungezügelte Verfassungsauslegung, die — ohne den Anforderungen an eine Verfassungsänderung zu genügen — die Grenzen zwischen Normauslegung und Normgebung verwischt und unmerklich den Hüter der Verfassung zu ihrem Herrn werden läßt. Der Gestaltungsbefugnis der demokratisch legitimierten Organe ist nur das unzugänglich, was die Verfassung selbst als unabstimmbar der demokratischen Mehrheitsentscheidung entzogen hat. Der Bereich des Unabstimmbaren darf aber nicht ohne zwingenden verfassungsrechtlichen Nachweis durch zementierende verfassungsgerichtliche Entscheidungen ausgeweitet werden. Vielmehr ist außerhalb dieses Bereichs vor allem der durch das Volk unmittelbar legitimierte parlamentarische Gesetzgeber dazu berufen, im öffentlichen Willensbildungsprozeß unter Abwägung der verschiedenen, unter Umständen widerstreitenden Interessen nach dem Mehrheitsprinzip über die von der Verfassung offengelassenen Fragen zu entscheiden (vgl. BVerfGE 33, 125 [159]). Ebenso wie einer perfektionistischen Normgebungsflut zu widerstehen ist, sollte sich die Verfassungsgerichtsbarkeit an die Faustregel halten: Im Zweifel Verzicht auf eine ständige Verfeinerung der Verfassungsinterpretation und Offenlassen von Streitfragen zur Selbstregulierung im politischen Prozeß. Auch diese Grundsätze sind im Prinzip anerkannt und eigentlich selbstverständlich. Sie werden aber im Eifer der Rechtsfindung und unter dem Erwartungsdruck der Rechtsuchenden oder einer erfindungsreichen Literatur nicht selten vernachlässigt.

1285

4 . Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

Im einzelnen bedarf jene Faustregel naturgemäß einer differenzierenden Ausgestaltung. D a die Reichweite der Verfassungsgerichtsbarkeit vor allem durch ihre Interpretationsmacht bestimmt wird, müßten eigentlich Untersuchungen über die Methoden der Verfassungsauslegung und die Intensität der verfassungsgerichtlichen K o n trolle weiterhelfen. Hier liegt denn auch einer der Schwerpunkte des wissenschaftlichen Bemühens, Grenzen für die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung aufzuweisen 3 5 . Der wissenschaftlichen Kritik ist zuzugeben, daß demgegenüber das Gericht seinerseits trotz großer Bedeutung der Verfassungsinterpretation keine nachvollziehbare eindeutige Methodik entwickelt hat. Es wendet recht unbefangen alle anerkannten Auslegungsmethoden nebeneinander an. In seiner Praxis spielen Sachargumente und der besondere Arbeitsstil wohl eine gewichtigere Rolle als bestimmte Methoden. In oft großer Breite nutzt es die Befugnis, neben den Antragsberechtigten auch andere sachkundige Stellen zu Stellungsnahmen aufzufordern, wobei auffällt, daß das Parlament die Verteidigung seiner Gesetze in der Regel den Fachministerien überläßt. D e r Berichterstatter informiert ferner möglichst umfassend über die verschiedenen Auffassungen im Schrifttum. Wesentlich ist vor allem der Beratungsvorgang im „pluralistisch" zusammengesetzten Senat mit dem Zwang zu einleuchtender Argumentation und schließlich die Notwendigkeit, unter den acht Richtern eine Mehrheit für die Entscheidung zu finden. Wenn dadurch auch die beklagten Unklarheiten in der Methodik einigermaßen ausgeglichen werden, so erscheint doch eine methodische Besinnung in folgender Richtung unerläßlich: Die Intensität, mit der eine angegriffene Maßnahme oder Entscheidung überprüft wird (Kontrolldichte), hängt maßgeblich vom Bestimmtheitsgrad (Regelungsdichte) des jeweiligen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs und vom Gewicht der Maßnahme für den Betroffenen ab. Daß bei schwerwiegenden Eingriffen in klassische Freiheitsrechte eine strenge Prüfung erfolgt, entspricht dem guten Sinn der Verfassung. Das gilt vor allem für solche Rechte, die das Grundgesetz vorbehaltlos garantiert und damit einer gesetzgeberischen Regelungsbefugnis entzieht, wie etwa die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Glaubensfreiheit oder die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Dagegen ist — wie erwähnt — bei der Auslegung und Anwendung des Gleichheitssatzes dem Normgeber erheblicher Gestaltungsspielraum zu belassen. Ähnliches gilt beispielsweise für die Uberprüfung wirtschaftsordnender Maßnahmen am Grundrecht der Berufsfreiheit oder der Eigentumsgarantie, bei der

35

N e b e n den verdienstvollen kürzeren Arbei-

Verhandlungen der

Staatsrechtslehrertagung

ten v o n E . W . BÖCKENFÖRDE D i e M e t h o d e n

1961

der Verfassungsinterpretation, N J W 1 9 7 6 , S.

pretation mit Referaten v o n P. SCHNEIDER

2 0 8 9 und F . SCHUPPERT Funktionell-rechtli-

und H . EHMKE. Schon früher hatte E . FORST-

che G r e n z e n der

Verfassungsinterpretation,

über Prinzipien der

Verfassungsinter-

HOFF bemängelt, die werthierarchische A u s -

1 9 8 0 die umfangreichen U n t e r s u c h u n g e n von

legung des Bundesverfassungsgerichts

H . GOERLICH W e r t o r d n u n g und G G ,

zu einer die Substanz ergreifenden

R . DREIER/F. SCHWEGEMANN ( H r s g . ) bleme der Verfassungsinterpretation, M.

KRIELE T h e o r i e der

1973; Pro-

sungswandlung (Die U m b i l d u n g des Verfas-

1976;

sungsgesetzes, in: Festschrift für C . Schmitt,

Rechtsgewinnung,

2. Aufl. 1 9 7 6 ; R . SCHLOTHAUER Z u r

führe

Verfas-

Krise

der Verfassungsinterpretation, 1979 sowie die

1 9 5 9 , S. 3 5 ) ; kritisch dazu SMEND ( F n . 2) S. 25.

1286

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

die grundsätzliche wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes zu berücksichtigen ist sowie die Mehrdimensionalität der Grundrechtsausübung, die auch die Interessen anderer berührt. Was das im einzelnen für die Grenzen der Verfassungsrechtsprechung bedeutet, wäre anhand der jeweiligen Verfassungsnormen zu untersuchen. Spezifische Schwierigkeiten der Verfassungsinterpretation ergeben sich aus der Offenheit und Weite vieler Normen. Das gilt verstärkt für die Konkretisierung allgemein gehaltener und inhaltlich unbestimmter Postulate, die erst im Wege der Interpretation aus der Verfassung hergeleitet werden, wie etwa das Wiedervereinigungsgebot, die Grundentscheidung für eine militärische Landesverteidigung, die Pflicht zum diplomatischen Schutz oder auch die aus der „Berücksichtigung" hergebrachter Grundsätze des Berufsbeamtentums folgenden Anforderungen. Dazu gehört ebenfalls die Argumentationsfigur der in den Grundrechten verkörperten objektiven Wertentscheidungen, aus denen staatliche Schutz- und Förderungspflichten etwa zugunsten des ungeborenen Lebens, der wissenschaftlichen Betätigung im Hochschulbereich oder gegen Gefährdungen der Umwelt hergeleitet werden. In allen einschlägigen Entscheidungen betont das Gericht, daß die Konkretisierung solcher Postulate zuvörderst den zuständigen Organen obliegt. Die Kritik — auch innerhalb des Gerichts — richtet sich dagegen, daß es gleichwohl diese Organe im Ergebnis auf bestimmte Konkretisierungen festlege und dabei mitunter kraft solcher Konkretisierungen entgegenstehende Grundrechtspositionen zu weitgehend einschränke (vgl. etwa die Sondervoten BVerfGE 35, 148 — Hochschulorganisation; 39, 68 — Schwangerschaftsunterbrechung; 48, 185 — Kriegsdienstverweigerung). Hier erscheint in der Tat einiges klärungsbedürftig: In der pluralistischen Demokratie gebührt nicht nur dem Parlament der Vortritt in der Entscheidung, in welcher Weise und mit welchen Prioritäten jene allgemeinen Postulate zu konkretisieren und zu erfüllen sind. Es sind auch Konsequenzen aus der Einsicht zu ziehen, daß solche Konkretisierungen unter den komplexen Bedingungen unserer Gesellschaft zur Berücksichtigung mannigfacher Umstände nötigen und sich als ein Prozeß von ,,trial and error" darstellen, der revidierbar bleiben muß. Ubernimmt das Verfassungsgericht diese Konkretisierung, dann gerät es selbst in diesen Prozeß mit dem Unterschied zu anderen Verfassungsorganen, daß seine Irrtümer sehr viel schwerer korrigierbar sind. Darüber hinaus haben die Auseinandersetzungen um einige Entscheidungen des letzten Jahrzehnts vor allem eins deutlicher gemacht: Es gehört zu den Weisheiten der Verfassung, daß sie durch die allgemeine, inhaltlich unbestimmte Fassung mancher Postulate sowohl die Weiterentwicklung offen hält als auch einen breiten Konsens innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft ermöglicht. Diese Vorteile dürfen nicht durch eine exzessive und zementierende Verfassungsinterpretation aufs Spiel gesetzt werden. Läßt sich das Gericht dazu nötigen, eine von mehreren denkbaren Auslegungsalternativen und Konkretisierungen als allein maßgebend festzulegen, verliert die Verfassung an dynamischer Offenheit und entsteht die Gefahr einer Schmälerung des Verfassungskonsenses; die Anhänger der verworfenen Alternative zweifeln, ob das noch ihre Verfassung ist. Aus all diesen Gründen tut ein Verfassungsgericht gut daran, sich bei Auslegung und Anwendung allgemeiner

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1287

Verfassungspostulate darauf zu beschränken, deren evidente Mißachtung zu beanstanden und im übrigen statt einer Ergebnis- eine Verhaltenskontrolle vorzunehmen. Anders und in Analogie zur Political-Question-Doktrin ausgedrückt: Solange und soweit allgemein gehaltene Verfassungspostulate mehrere, nicht evident fehlsame Auslegungsalternativen und mehrere Wege zu ihrer Realisierung zulassen, hat das Gericht die Konkretisierung der Selbstregulierung und dem Verständigungszwang im politischen Prozeß zu überlassen und das Ansinnen zurückzuweisen, eine bestimmte Alternative als die vermeintlich beste allein verbindlich festzuschreiben.

IV. Zusammenfassende Würdigung und Reformüberlegungen Es liegt nahe, daß ein Gericht mit der Kompetenzfülle und dem Produktionsumfang des Bundesverfassungsgerichts mancherlei Kritik hervorruft. Soweit eine Urteilsschelte die Richtigkeit einzelner Entscheidungen anzweifelt, ist sie nicht nur legitim, sondern gerade gegenüber einem letztinstanzlichen Gericht unerläßlich und allenfalls in ihrer Art und Weise deshalb problematisch, weil ein Gericht öffentlicher Kritik faktisch wehrlos ausgeliefert ist. Darauf und ebenso auf die gelegentlich aufgeworfene Frage, wer denn den Hüter der Verfassung kontrolliert, kann hier nicht eingegangen werden. Erwünscht erschiene hingegen eine abschließende rechtsgrundsätzliche Untersuchung, ob und inwieweit die in- oder außerhalb des Gerichts besonders umstrittenen Entscheidungen wirklich der Gefahr erlegen sind, entweder die erörterten Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit zu überschreiten oder in falscher Zurückhaltung zu viel zu billigen 36 . Eine solche Prüfung kann indessen an dieser Stelle nicht geleistet werden. Sie läßt sich nur anregen mit dem Hinweis, daß zu den meisten dieser Entscheidungen Sondervoten von überstimmten Richtern vorliegen. Der kritische Leser wird bei seiner eigenen Prüfung nicht die Vielzahl derjenigen Entscheidungen übersehen dürfen, die als überzeugend und weiterführend breite Zustimmung gefunden und damit den Verfassungskonsens gestärkt haben. Die genannte doppelte Gefahr hat beispielsweise das allseits als vorbildlich anerkannte Mitbestimmungsurteil (BVerfGE 50, 290 [336 ff]) vermieden, das unter strikter Beschränkung auf die konkreten Streitfragen und unter sorgfältiger Beachtung der betroffenen Grundrechtspositionen den Versuch zurückgewiesen hat, aus einer ordnungspolitischen Gesamtschau der Verfassung eine bestimmte Wirtschaftsverfassung als allein verbindlich herzuleiten und damit den wirtschaftspolitischen Gestaltungsbereich des Gesetzgebers empfindlich zu beschränken. Auf der gleichen Linie bewegt

36

Insoweit wären aus jüngerer Zeit zu nennen: einerseits BVerfGE 35, 79 — Hochschulorganisation; 36, 1 — Grundlagenvertrag; 39, 1 — Schwangerschaftsunterbrechung; 39, 334 Radikale im öffentlichen Dienst; 40, 296 — Diäten; 44, 249 - Beamtenkinder; 44, 125 Öffentlichkeitsarbeit; 45, 1 — Haushaltsüber-

schreitung; 48, 127 — Kriegsdienstverweigerung; 54, 227 — Revisionszugang; 55 , 274 — Ausbildungsplatzförderung; 55, 134 — Ehescheidung; andererseits: BVerfGE 30, 173 — Mephisto; 33, 78 - Verbringungsverbot; 44, 197 — Meinungsfreiheit Soldaten; 49, 24 — Kontaktsperre; 53, 30 — Mühlheim-Kärlich.

7. Kapitel. Staatliche Funktionen

1288

sich die gelegentlich kritisierte Rechtsprechung zum Numerus clausus 3 7 , die einerseits auf dem besonders schwierigen Gebiet der Mangelbewirtschaftung den Grundrechtsschutz aktiviert und tausenden Bewerbern eine eigenpersönliche Lebensplanung ermöglicht hat, die andererseits den Verantwortungs- und Beurteilungsbereich des Normgebers wie der Fachgerichte stets respektiert und zur Vermeidung bedenklicher Verfestigungen betont auf den jeweiligen Erfahrungsstand abgestellt hat. Darüber hinaus ließen sich eine Reihe weiterer bekannter Entscheidungen auch aus jüngerer Zeit nennen, über deren Richtigkeit im einzelnen gestritten werden mag, die aber jedenfalls den erörterten Anforderungen entsprechen 3 8 . Aus der Sicht eines Richters mindestens ebenso wichtig ist die Vielzahl an weniger aufsehenerregenden Entscheidungen, die insgesamt die Lebensqualität durch Effektuierung der Grundrechte und durch verfassungsrechtliche Sensibilisierung der Behörden und Gerichte spürbar verbessert haben und oft genug Schwächeren oder Minderheiten — nichtehelichen Kindern, Waisen, Strafgefangenen, Ausländern, Zeugen Jehovas, Andersgläubigen, Transsexuellen, Schuldnern — zugute kamen. Ein Rückblick auf die dreißig Jahre verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, die inzwischen 57 Bände der Entscheidungssammlung füllt 3 9 , dürfte insgesamt bestätigen, daß die eingangs zitierte positive Würdigung nicht ungerechtfertigt ist. Soweit diese Rechtsprechung die Verfassung und ihren Lebenswert anschaulich machte, den vorhandenen Verfassungskonsens stärkte und behutsam fortentwickelte und das im Grundgesetz angelegte, an der Würde eines jeden Einzelnen orientierte Wertsystem aktivierte, hat sie sich als wirkungsvoller Konsolidierungs- und Integrationsfaktor des demokratischen und sozialen Rechtsstaates erwiesen. Wiederholt hat das Bundesverfassungsgericht — ähnlich wie der Supreme Court — den Durchbruch zu verfassungsmäßigen Lösungen sogar dort eröffnet, wo die politischen Kräfte nicht zurecht kamen, beispielsweise bei der Regelung der Gleichberechtigung und des Strafvollzugs oder der Gleichstellung nichtehelicher Kinder. Diese Verdienste sind so oft beschrieben und belegt worden, daß Wiederholungen nicht Sache eines beteiligten Richters sein können. Es genügt die Feststellung, daß unbeschadet mancher Kritik heute niemand ernsthaft an eine Abschaffung der Verfassungsgerichtsbarkeit denkt. Nicht länger aufzuschieben ist hingegen die Frage nach einer Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit. Dabei geht es nicht in erster Linie um Einzelprobleme wie

37

B V e r f G E 33, 303; 37, 104; 39, 258 und 276; 43, 34 und 291; 51, 130; 54, 173 ; 59, 1; 59, 172. In einer Vielzahl von Nichtannahmebeschlüssen wurden verwaltungsgerichtliche Entscheidungen bestätigt. Zur Würdigung dieser Rechtsprechung vgl. insbesondere die B V e r f G E 43, 314 zitierten Beiträge von P. HÄBERLE

38

und

J.

P.

MÜLLER,

ferner

F.

SCHUPPERT, in: Die Freiheit des anderen (Fn. 17) S . 567. Etwa die Urteile zur Witwerrente ( B V e r f G E 39, 169), zur lebenslangen Freiheitsstrafe ( B V e r f G E 45, 187), zur Entführung Schleyers

39

(BVerfGE46, 160), zur Abzugsfähigkeit von Parteispenden ( B V e r f G E 52, 63) oder zum Versorgungsausgleich ( B V e r f G E 53, 257) sowie der Kalkar-Beschluß ( B V e r f G E 49, 89) und die Entscheidungen zu den Ostverträgen ( B V e r f G E 40, 141), zur Rentenbesteuerung ( B V e r f G E 54, 11) und zur Fluglärmbekämpfung ( B V e r f G E 56, 54). Informative Uberblicke enthalten die seit 1970 als Beiträge zum Bundesanzeiger veröffentlichten Rechtsprechungsberichte von M. LEPA.

4. Abschnitt. Verfassungsgerichtsbarkeit (SIMON)

1289

Vertretungsregelungen für abgelehnte Richter oder Überlegungen zur Richterwahl, zur ex nunc-Wirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen nach österreichischem Vorbild, zur Lockerung (falsch eingeschätzter) Bindungswirkungen, zur zeitlichen Befristung von Staatsschutzmaßnahmen oder zum Erfordernis qualifizierter Mehrheiten für die Beanstandung eines Gesetzes als verfassungswidrig. Vordringlich sind solche Reformen, die der Überlastung des Gerichts entgegenwirken. Das Bundesverfassungsgericht dürfte das einzige Staatsorgan sein, dessen Mitgliederzahl drastisch auf 16 reduziert wurde, während gleichzeitige die Eingänge ständig zunahmen und Ende 1980 eine Gesamtzahl von über 47 000 erreicht hatten. Die außerordentliche Arbeitslast führt unvermeidlich dazu, daß manche Verfahren unangemessen lange dauern und daß die Bearbeitung aussichtsreicher oder wichtiger Verfahren zunehmend unter dem Zwang zur Erledigung einer Vielzahl anderer Eingänge leidet. Obwohl die Notwendigkeit einer Entlastung allseits eingesehen wird, sind Bemühungen um „kleinere" Entlastungsmaßnahmen bislang erfolglos geblieben 4 0 . Es erscheint nunmehr geboten, aufgrund der bisherigen Erfahrungen beschleunigt in grundsätzlichere Überlegungen einzutreten. Zu erwägen wäre nach amerikanischem Vorbild ein elastischeres Annahmeverfahren für Verfassungsbeschwerden, ggf. verbunden mit dem Verzicht auf die — wie dargeteilt — ohnehin nicht recht befriedigende abstrakte Normenkontrolle. Einer Vermehrung der Richter oder Senate dürfte ein Vorschaltverfahren vorzuziehen sein, dessen Filterwirkung allerdings nicht so weit gehen sollte wie beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sinn und Ziel solcher Maßnahmen kann nicht eine Minderung des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes sein, sondern dessen Verbesserung durch eine raschere, sorgsam bedachte Entscheidung „echter" Verfassungsstreitfragen im Interesse der Betroffenen. Darüber hinaus ist eine Entlastung unerläßliche Voraussetzung für die wichtigste Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit, die letztlich nur die Richter selbst unter Mitwirkung der Wissenschaft und einer verständigen Publizistik leisten können und für die sie Atemraum brauchen: Unter Aufrechterhaltung des bisherigen Standards der Rechtsprechung praktikable Antworten auf die Frage nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit herauszuarbeiten und damit sicherzustellen, daß diese Gerichtsbarkeit auch künftig eine Wohltat für das rechtsstaatlich-demokratisch verfaßte Gemeinwesen bleibt.

40

Vgl. dazu E. BENDA Aktuelle Probleme der Praxis des BVerfG, NJW 1980, S. 2097 (2101). Informativ auch H . G. RUPP, D Ö V

1978, S. 700 in einer Besprechung amerikanischer Untersuchungen zur Entlastung des Supreme Court.

8. Kapitel Der Schutz der Verfassung Ubersicht I. Aufgabe und Begriff des Schutzes der Verfassung 1. Historische Vorbemerkung . . . . 1293 2. Versuch einer systematischen Gliederung. Weiterer und spezifischer Begriff des Schutzes der Verfassung 1295 3. Die Schutzgüter der „streitbaren Demokratie", insbesondere die freiheitliche demokratische Grundordnung a) Bestandsaufnahme b) „Freiheitliche demokratische Grundordnung" c) „Bestand und Sicherheit des Bundes oder eines Landes" . . d) Staatsschutz und Verfassungsschutz

1303 1303 1305 1309 1310

4. Die Einrichtungen des Verfassungsschutzes. Eine Übersicht . 1311 a) Nachrichtendienstlicher Verfassungsschutz 1313

b) Abwehr konkreter Gefahren für die Schutzgüter des Verfassungsschutzes 1314 c) Präventiver Schutz des freiheitlichen Prozesses der politischen Meinungs- und Willensbildung 1317 d) Politisches Strafrecht und Widerstandsrecht 1320 II. Kontrolle und Kooperation 1. Kontrolle der Maßnahmen nach dem Gesetz zu Art. 10 des Grundgesetzes (G 10) 2. Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste 3. Amtshilfe im Bereich der Sicherheitsbehörden und die Trennung von Verfassungsschutz und Polizei 4. Datenschutz und Verfassungsschutz III. Schlußwort zur „streitbaren Demokratie"

1321 1322

1323 1325 1326

Der Schutz der Verfassung ERHARD DENNINGER

I. Aufgabe und Begriff des Schutzes der Verfassung 1. Historische Vorbemerkung Solange man über Sinn und Zweck von „Verfassung" nachgedacht hat, solange währt auch das Nachdenken über „Schutz", „Erhaltung", „Gewähr" oder „Garantie" der Verfassung. Am Beginn der abendländischen Tradition begegnen uns PLATONS Vorschlag eines staatlich verordneten, von besonders ausgewählten, nicht unter fünfzig Jahre alten (!) Richtern redigierten Kanons öffentlicher Gedichte, Gesänge und Tänze 1 , sowie seine Idee einer Nächtlichen Versammlung der weisesten Gesetzeswächter, Staatspreisträger und Gesetzgebungsexperten 2 . Als ein glänzender Beobachter der Politik- und Verwaltungswirklichkeit und als ein genauer Kenner der menschlichen Schwächen erweist sich ARISTOTELES in ausführlichen, teilweise höchst aktuellen Betrachtungen über die Erhaltung der Verfassung(en) 3 . Auch er erkennt, wie Piaton, die hervorragende Bedeutung staatsbürgerlicher Erziehung. „ D a s Wichtigste aber für den dauernden Bestand der Staatsform, wichtiger als alles bis jetzt Angeführte, was gleichwohl gegenwärtig überall vernachlässigt wird, ist eine der Verfassung angemessene Erziehung. Die heilsamsten Gesetze, hervorgegangen aus einmütiger Entschließung aller Staatsbürger, fruchten nichts, solange nicht Sorge getragen wird, daß die einzelnen sich in sie hineinleben und im Geiste der Verfassung erzogen werden, demokratisch erzogen werden, wenn die Gesetze demokratisch, und oligarchisch, wenn sie oligarchisch sind" 4 . Die Geschichte der Theorien zum Schutz und zur Pflege von Staatsform und Herrschaft ist noch nicht geschrieben; sie kann hier nicht einmal skizziert werden. Sie müßte so weit auseinanderliegende Erscheinungen wie die mittelalterliche Fürstenspiegel-Literatur, die Arcana imperii-Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts 5 und die

1 2

3

PLATON N o m o i , VII, 10, 802äff. PLATON N o m o i , X I I , 10, 961 äff. Der Zeitpunkt der Versammlung, die Morgendämmerung, wird allerdings nicht aus Gründen der Geheimhaltung gewählt, sondern weil die Mitglieder dann von anderen Sorgen und Geschäften am freiesten seien. ARISTOTELES Politik, V, 8ff, 1307aff.

4

5

aaO 1310a. Zur Gegenwartsproblematik vgl. H . - U . EVERS Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, 1979, ferner P. HÄBERLE Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: Festschrift für Hans Huber, 1981, S. 211 ff. Dazu jüngst M. STOLLEIS Arcana imperii und Ratio status, 1980.

1294

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

Rechtsstaats-Diskussion des 19. Jahrhunderts kategorial umgreifen, ein ebenso reizvolles wie schwieriges, ja nahezu unmögliches Unterfangen. Wenn hier dennoch einige Beispiele aus dem vorigen Jahrhundert angeführt werden sollen, so aus zwei Gründen: Erstens: Ein Vergleich der gegenwärtigen Einrichtungen zum Schutz der Verfassung mit jenen aus den Anfängen des modernen bürgerlichen Verfassungsstaates (auf dessen Grundlagen: Grundrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaatsprinzip, Unabhängigkeit der Rechtspflege, Parlamentarismus auch unser heutiges freiheitlichdemokratisches Gemeinwesen noch beruht) läßt die Besonderheiten des Verfassungsstaates des ausgehenden 20. Jahrhunderts und seiner Gefährdungen plastisch hervortreten. Und zweitens: In der Distanz des Vergleichens wird die Interdependenz von (jeweiliger) Verfassung und (jeweiligem) Verfassungs-Schutz deutlich: Schutzeinrichtungen und Schutzgut stehen in einem wechselseitigen Funktionszusammenhang. Schutz der Verfassung ist nur zu begreifen als ein „reflexiver Mechanismus" 6 , als Maß und Qualität der „Verfaßtheit" einer Verfassung, kurz: als ,Verfassung' der Verfassung. Hieraus folgt notwendig, daß der Begriff von Verfassung, welchen der Interpret voraussetzt, und die Methoden der Verfassungsauslegung, die er anwendet, auch seinen Begriff vom „Schutz der Verfassung" mitbestimmen. In einigen Verfassungsurkunden des deutschen Konstitutionalismus finden sich Abschnitte über die „ Gewähr der Verfassung", so in der Bayerischen Verfassung von 1818 (Titel X ) , in der des Königreichs Sachsen von 1831 (8. Abschnitt, §§ 138ff), auch im Frankfurter Entwurf der Reichsverfassung vom 28. 3. 1849 (Abschnitt VII). Typische Regelungsgegenstände waren der Fürsteneid, der Untertaneneid, der Eid der Civil-Staatsdiener und Geistlichen, das Beschwerderecht der Stände, die Ministeranklage, die Einrichtung eines Staatsgerichtshofes sowie Bestimmungen über die Änderung und Ergänzung der Verfassung. Die Analyse der (liberalen) Staatsrechtslehre des Vormärz bleibt jedoch bei der Betrachtung dieser formellen Gewährleistungen nicht stehen. Vielmehr bezeugt sie ein kraftvolles Bewußtsein von den Realien des Verfassungslebens und von der wechselseitigen Durchdringung von politisch mächtiger ,Verfassungswirklichkeit' und Normativität. Gute Gesetze allein, so meint etwa CARL v. ROTTECK 1830 7 , helfen nicht gegen einen „Angriff Böswilliger und Starker, auch nicht gegen leises Untergraben von Seite der Verschmizten, nicht gegen keckes Losreißen oder künstliches Verschlechtern einzelner Bestandteile durch Machtgebot und Macchiavellismus". . . . Vielmehr müsse man, abgesehen von den besonderen Einrichtungen wie Staatsgerichtshof und Ministerverantwortlichkeit, vor allem die lebendigen, moralischen und physischen Kräfte des Volkes zur Abwehr mobilisieren. „ I m Schooße der Nation selbst werden die zum Schirm der Verfassung tüchtigsten, bereitesten, unüberwindlichsten Kräfte erzeugt, gepflegt, in constitutioneller Richtung erhalten werden vor allem durch eine weise Volkserziehung im Sinne der Verfassung, d. h. des Rechts und der Freiheit, also

6

7

Vgl. N . LUHMANN Soziologische Aufklärung, 2. Aufl., 1971, S. 92ff. C . v. ROTTECK Lehrbuch des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaften 2. Band: Allge-

meine Staatslehre, 1830, S. 279ff, auch zum Folgenden.

1295

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

durch eine die möglichst vollständige politische Mündigkeit aller Klassen sich zum Ziel sezende . . . Erziehung". Zu den wirkungsvollen verfassungserhaltenden Kräften rechnet R O T T E C K sodann die Preßfreiheit, „die Mutter, Bedingung und Schuzwehr alles Guten im Staatsleben", die auf dem Prinzip der Selbstverwaltung aufbauenden Gemeinde- und Provinzverfassungen, „beide als Pflegerinnen des freien, selbständigen Volkslebens" und schließlich das System der Volksbewaffnung, die Abschaffung des stehenden Heeres. Der hier exemplarisch zum Ausdruck kommende liberal-demokratische Aufklärungsoptimismus stieß jedoch auch schon vor dem Scheitern der 48er-Bewegung auf verbreitete Skepsis. So nennt R O T T E C K S Gießener Kollege F R I E D R I C H S C H M I T T H E N N E R (1845) 8 zwar ebenfalls Freiheit der Presse und Volksbewaffnung (Landwehr) als Garantien der Verfassung, betont aber ihre Ambivalenz. Die Freiheit der Presse sei „überhaupt ein mächtiges Instrument der sittlichen Welt, durch das sich auch die Verfassung und der Thron brechen lassen. Ebenso läßt sich durch das bewaffnete Volk die Verfassung schützen, aber auch vernichten". Es bleibt anzumerken, daß auch die Prinzipien der Öffentlichkeit („aller Akte der Regierung und der Volksrepräsentation"7) sowie der bundesstaatlichen bzw. staatenbündischen Verfassungsgewährleistung schon damals zu den Einrichtungen des Schutzes der Verfassung gerechnet wurden9. 2. Versuch einer systematischen Gliederung. Weiterer und spezifischer Begriff des Schutzes der Verfassung Das Grundgesetz kennt — so wenig wie die Weimarer Reichsverfassung oder die Reichsverfassung von 1871 — einen besonderen Abschnitt über „Gewähr" oder „Schutz der Verfassung". Nach der Bismarck-Verfassung (Art. 68) konnte der Kaiser im Falle einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit für jeden Teil des Bundesgebietes den „Kriegszustand" erklären, auch in Friedenszeiten, im Falle des „Aufruhrs". Im übrigen verwies die Reichsverfassung auf die Bestimmungen des Preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851. Die Weimarer Reichsverfassung übertrug für den Fall einer erheblichen Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dem Reichspräsidenten eine nahezu uneingeschränkte Diktaturgewalt. Sie umfaßte den Einsatz der bewaffneten Macht (im Landesinneren) ebenso wie die vorübergehende Außerkraftsetzung der wichtigsten Grundrechte (Art. 48 Abs. 2 WRV). Das vom Verfassungsgeber vorgesehene Ausführungsgesetz ist nie ergangen. Das Grundgesetz regelt im Abschnitt X a (Art. 115 a bis 1151) den „Verteidigungsfall". Bestimmungen, die sich unmittelbar auf Gefährdungen der inneren Sicherheit beziehen, finden sich an mehreren Stellen verstreut, z.B. in den Art. 9 Abs. 2 , 1 0 Abs. 2,11 Abs. 2,13 Abs. 3,18, 21 Abs. 2, 28 Abs. 3, 35 Abs. 2 und 3, 37, 40 Abs. 2, 73 Nr. 10, 74 Nr. 1 (Strafrecht), 87, 87a Abs. 4, 91, 98 Abs. 2. Der Begriff

8

F.

SCHMITTHENNER

Grundlinien

des

allge-

meinen oder idealen Staatsrechtes, 1845, S. 422.

9

v.

ROTTECK a a O ,

SCHMITTHENNER a a O

425; vgl. auch Art. 54, 60 der Schlußakte vom 15. Mai 1820.

S.

Wiener

1296

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

der .inneren Sicherheit' erschöpft sich keineswegs im Schutz der Verfassung und des Staates; er umfaßt z.B. auch Naturkatastrophen und Unglücksfälle (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG). In Art. 73 Nr. 10b GG wird eine Legaldefinition des „Verfassungsschutzes" gegeben; der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung einerseits, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes andererseits sind seine Elemente (vgl. dazu unten S. 1305ff). Noch enger ist der institutionelle Begriff des Verfassungsschutzes, wie er sich aus der Aufgabenumschreibung für die Ämter aus Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG und aus § 3 des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes vom 27. Sept. 1950 i.d.F. vom 7. August 1972 (= BVerfSchG) ergibt. Denn hier werden die Modalitäten des „Schützens" als „Sammlung und Auswertung von Auskünften, Nachrichten, und sonstigen Unterlagen" über die näher bestimmten Materien, sowie als Mitwirkung beim personellen und technischen Geheimschutz abschließend umschrieben. Vor allem stehen den Ämtern für Verfassungsschutz keine polizeilichen Befugnisse zu (§ 3 Abs. 3 S. 1 BVerfSchG, sowie die entsprechenden Gesetze der Länder, z.B. §2 Hess. Gesetz über die Errichtung eines Landesamtes für Verfassungsschutz, vom 19. Juli 1951, GVBl. S. 43). Schon Vielzahl und Verschiedenartigkeit der unmittelbar auf den Schutz des Staates und der Verfassung bezogenen Verfassungsbestimmuagen — vom gesamten Komplex des „politischen" Strafrechts, des Vereins- und Versammlungsrechts usw. ganz abgesehen — zeigen zweierlei: 1.: „Der Schutzpanzer des Staates wird, welche Struktur das einzelne Staatsgebilde auch haben möge, immer vielschichtiger und härter" 10 . Und 2.: Der Vielfalt der Angriffsmethoden und Gefährdungslagen entsprechend wird das Instrumentarium der Abwehrmittel ausdifferenziert. Mit der klaren und schlichten Dichotomie von Normallage und Ausnahmezustand („Belagerungszustand") lassen sich die Aufgaben des Verfassungsschutzes heute nicht mehr bewältigen. Das Grundgesetz kennt den Begriff des „inneren Notstandes" und, für den Fall eines solchen, auch eine klare Unterscheidung von Ausnahmezustand und Normalzustand gar nicht. Man mag dies bedauern11. Die Erfahrungen, die man in der ersten Hälfte des Jahrhunderts mit Diktaturgewalten — legalen wie illegalen — gemacht hat, lassen vielleicht die Erosionsgefahr verdunkeln, die ein gewissermaßen stufenloser Ubergang von der (normativen) Normallage in die (normative) Ausnahmelage für die „Substanz" des Rechtsstaats mit sich bringt. Die drei Richter der Abweichenden Meinung zum Abhörgesetz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts12 haben dies bei der Frage, wann die Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG durch eine

10

11

O . KIRCHHEIMER Wandlungen in der Struktur des Staatsschutzes, in: ZPol 1964, 1 2 6 f f , 140. Vgl. E . - W . BÖCKENFÖRDE Der verdrängte Ausnahmezustand, in: N J W 1978, 1881 ff. Vgl. auch: J . ISENSEE Verfassung ohne Ernstfall: der Rechtsstaat, in: A . PEISL/A. MÖH-

12

LER (Hrsg.) Der Ernstfall, 1979, S. 9 8 f f , m. w . N. Vgl. B V e r f G E 30, 41 f, gegen 24 (Mehrheitsmeinung). Dazu: P. HÄBERLE Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 12. 1970, in: J Z 1 9 7 1 , 1 4 5 f f , jetzt in: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung 1979, S. 91 f f , m . w . N .

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

1297

systemimmanente Modifizierung' in unzulässiger Weise ,berührt' werden, warnend erkannt. Der Versuch einer systematischen Begriffsbildung ad vocem „Schutz der Verfassung" muß weiter ausholen. Er beginnt mit der Einsicht, daß man einen weiteren und einen spezifischen Begriff des Schutzes der Verfassung unterscheiden muß. Der weitere Begriff beschreibt ungefähr jenen Problemkreis, welchen D. RAUSCHNING als die „Sicherung der Beachtung von Verfassungsrecht" thematisiert hat 13 . Die Normen und Einrichtungen des spezifischen Begriffes „Schutz der Verfassung" fallen, logisch gesehen, ebenfalls in jenen weiteren Bereich. Ihr gemeinsames Spezifikum ist jedoch die gezielte Abwehr von absichtsvollen, „vorsätzlichen" Angriffen auf die Grundlagen der Verfassung und der staatlichen Existenz. Die Normen und Institutionen, die nur dem weiteren Begriff zuzurechnen sind, verstärken und sichern hingegen die „normative Kraft der Verfassung"14 in der Normallage, sozusagen im verfassungsrechtlichen Alltag. Ihnen allen liegt die Vorstellung zugrunde, der Bürger, vor allem der im öffentlichen Dienst stehende Organwalter werde, entsprechend belehrt oder die Drohung eines Strafübels vor Augen, sich in der Regel gesetz- und verfassungsmäßig verhalten. In diesem Bereich wird also vom Vorhandensein eines prinzipiell wirksamen, wenngleich im Einzelfall möglicherweise abirrenden, fehlgeleiteten „Willens zur Verfassung" ausgegangen. Anders in dem zweiten Bereich, dem des spezifischen Verfassungsschutzes. Hier bewegen wir uns auf dem Boden der „streitbaren", „abwehrbereiten" oder „wehrhaften" Demokratie, die ihre Prinzipien gegen Angriffe verteidigt, deren Urhebern der prinzipielle „Wille zur Verfassung" nicht (mehr) unterstellt wird oder unterstellt werden kann. Allein dieses Kriterium macht bereits deutlich, wie stark die tatbestandlichen Voraussetzungen der Sanktionen in diesem Bereich von subjektiven, „inneren" Merkmalen geprägt, wie stark sie deshalb auch in der Beurteilung von subjektiven Einschätzungen des Beurteilenden abhängig sein müssen. Die Lektüre des Ersten Abschnittes des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches, der §§ 80 bis 92 b, in welchen der (absichtliche) Einsatz für „Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze" als eine Art Leitmotiv für die Strafdrohungen wiederkehrt, gibt davon Zeugnis. Versucht man die Fülle der ,,verfassungssichernden" Normen und Institutionen zu überblicken, fällt die Ordnung schwer. Auf einer rechtstheoretisch-verfassungspsychologischen Skala, die bei der abstrakten Rangordnung der Normen beginnt und bei dem konkret-persönlichen Appell zur Verfassungstreue endet, lassen sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und beschränkt auf die weitere, „äußere" Zone der Verfassungssicherung, die folgenden Stationen ausmachen:

13

14

D. RAUSCHNING Die Sicherung der Beachtung von Verfassungsrecht, 1969. Dazu K. HESSE Die normative Kraft der Verfassung, 1959, wiederveröffentlicht in M.

FRIEDRICH (Hrsg.), 77ff.

Verfassung,

1978,

S.

1298

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

a) diejenigen Verfassungssätze, die abstrakt-normativ den Vorrang des Verfassungsrechts vor allen übrigen Rechtsnormen, ferner die Bindung aller Staatsorgane an „Gesetz und Recht", also vor allem an das Verfassungsrecht, statuieren: Für die Grundrechte sind dies Art. 1 Abs. 3, auch Art. 19 Abs. 2 GG, im übrigen Art. 20 Abs. 3 und, für die bundesstaatliche Rechtsnormenkonkurrenz, Art. 31 GG. Auch die Vorschriften über die Änderung des Grundgesetzes und deren Grenzen sind in diesem Zusammenhang zu nennen (Art. 79 GG), und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß eine rechtzeitige Anpassung des Verfassungstextes an politisch notwendig gewordene Veränderung den offenen oder heimlichen Verfassungsbruch vermeiden hilft. Hier kommt freilich alles auf Qualität und Ausmaß der Verfassungsänderung im Einzelfall an; die Maxime „Kontinuität durch Flexibilität" darf nicht zum Verlust der Prinzipien der Verfassung führen, sie darf nicht durch Preisgabe der Identität des politischen Gemeinwesens als eines freiheitlichen erkauft werden. b) Verfassungssichernd sollen ferner alle Normen und Institutionen wirken, die der Macht- und Funktionsteilung, aber auch der Funktionenzuordnung und -koordination dienen. Rechtsstaatliches Handeln vollzieht sich immer in umgrenzten Kompetenzen der Amtsträger und in ihrer Zusammenordnung. Dies ist nicht allein Ausdruck der notwendigen Aufgaben- und Arbeitsteilung, sondern bewirkt zugleich die unentbehrlichen Interorgan-Kontrollen. Wenn ein rechtlicher Erfolg — etwa die Erteilung einer Genehmigung oder eines Leistungsbescheides — nur durch das Zusammenwirken mehrerer Ämter rechtswirksam herbeigeführt werden kann, so wird die funktionale Verflechtung in der Regel im Sinne eines gesetzmäßigen Organwalterverhaltens wirken. Hierher gehören auch alle Normen, die das Prinzip der Gesetzmäßigkeit operational umsetzen, z.B. das „Legalitätsprinzip" der §§ 152,161, 163 StPO, ferner die beamtenrechtliche Gehorsamspflicht, z.B. §37 BRRG. c) Stößt man bis zu den Elementen der Organwillensbildung vor, so wird man nicht nur Kompetenzordnung und Ämterhierarchie, sondern die Prinzipien der kollegialen Willensbildung und der Publizität, der öffentlichen Willenskundmachung auffinden (vgl. Art. 82 für Gesetze und Rechtsverordnungen). Das Prinzip der Bekanntmachung von Verwaltungsakten (§ 43 Abs. 1 VwVfG) steht in engem Zusammenhang mit der Individualrechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. d) In Gestalt einer umfassenden Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit (Art. 93, 94, 95 GG) haben Verfassungs- und Gesetzgeber dafür gesorgt, daß die verfassungsmäßige Gewaltenteilung und Kompetenzordnung auch überwacht, kontrolliert und notfalls durchgesetzt wird. Dies gilt auch für den Grundrechtsbereich, also den Bereich negativer Kompetenzen des Staates, soweit die Abwehrfunktion der Grundrechte in Frage steht. Der Bürger hat die Möglichkeit, durch verwaltungsgerichtliche Klagen und Verfassungsbeschwerde jede verfassungswidrige Beeinträchtigung seiner Rechtssphäre abzuwehren. Gewiß ist es angemessen, an dieser Stelle die Qualifikation des Bundesverfassungsgerichts als „Hüter der Verfassung" zu wiederholen; ebenso nachdrücklich darf aber daran erinnert werden, daß das höchste Gericht stets nur auf Antrag tätig wird; daß also von Verfassungs wegen die Anstöße zu jeglicher Art von Verfassungskontrolle von anderen Verfassungsorganen (z.B. im Falle der sog. abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG von der

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

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unterlegenen Bundestags-Opposition oder einer mit ihr parteikonformen Landesregierung) oder auch vom betroffenen Bürger kommen müssen. Sie alle sind dann insoweit (Mit-)Hüter der Verfassung15. e) Das Grundgesetz kennt einige Vorschriften, die im Vorstadium tiefergreifender politischer Störungen die Handlungsfähigkeit der Regierung und zugleich ein Minimum an Gewaltenteilung gewährleisten sollen. Zu ihnen gehört vor allem die Regelung des sogenannten „Gesetzgebungsnotstandes", Art. 81 GG. Eine Bundesregierung, die ihre parlamentarische Vertrauensbasis verloren hat, kann danach einmal während der Amtszeit desselben Bundeskanzlers innerhalb von sechs Monaten jede von ihr als dringlich bezeichnete Gesetzesvorlage auch gegen den Willen der Bundestagsmehrheit zum Gesetz erstarken lassen, sofern die Bundesratsmehrheit ihr zustimmt. Die wenig glückliche, demokratisch-parlamentarischem Geiste widerstrebende Figur des Gesetzgebungsnotstandes ist noch nie praktiziert worden. Das käme, selbst wenn alle anderen Voraussetzungen vorlägen, auch höchstens dann einmal in Frage, wenn es um ein Gesetz ginge, das wesentliche Interessen aller Regierungen in der Bundesrepublik, unabhängig vom Parteistandpunkt, berührte. Nur dann wäre eine Zustimmung des aus Regierungsvertretern bestehenden Bundesrates mit Sicherheit zu erwarten. — Eine auch praktisch wichtige Ventilfunktion hat hingegen Art. 112 GG, der der Regierung eine Anpassung der Haushaltswirtschaft an unvorhergesehene Lagen gestattet. Das Bundesverfassungsgericht hat aus gebotenem Anlaß seine Kontrollfunktion gegen einen Mißbrauch dieser Funktionssicherungsnorm deutlich wahrgenommen16. f) Auch an Vorkehrungen zur Sicherung der Prinzipien der Bundesverfassung wie der Durchsetzung des gesetzlichen oder administrativen „Willens" des Bundes gegenüber den Ländern fehlt es nicht. Das Grundgesetz sieht sie für alle Ebenen vor: Art. 28 gewährleistet die Verfassungshomogenität zwischen Bund und Ländern, greift auch in die Bereiche der Kommunalverfassung und des Wahlrechts auf allen Stufen über. Das theoretisch scharfe, durch Nichtgebrauch aber wohl allmählich Rost ansetzende Schwert des Bundeszwanges (Art. 37) kann gegen jede Art von Landesgewalt gezogen werden, zumal gegen den Landesgesetzgeber, der etwa einer Pflicht zur Ausfüllungsgesetzgebung eines Bundes-Rahmengesetzes nicht nachkommt. Und die Bundesaufsicht der Art. 84 und 85 GG sichert die Geltung des Bundes(verfassungs)rechts auf der Verwaltungsebene. Ein starkes Druckmittel des Bundes auf eine Landesregierung zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände bietet Art. 91 Abs. 2 Satz 1 GG. Ist ein Land nicht willens oder nicht in der Lage, eine auf seinem Gebiet drohende Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes zu bekämpfen, so kann der Bund die Polizeikräfte dieses Landes wie auch die anderer Bundesländer seinen Weisungen unterstellen; außerdem kann er die Kräfte des Bundesgrenzschutzes einsetzen. Als Kontrollorgan ist auch hier, wie im Falle des Art. 37 GG, der Bundesrat eingeschaltet, der jederzeit die Aufhebung dieser Maßnahmen verlangen kann. Dieses Instru15

Vgl. P. HÄBERLE Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: J Z 1975, 297ff.

16

BVerfGE 45, 1 ff.

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

1300

ment einer „Bundespolizeireserve", bei dessen Schaffung der Parlamentarische Rat eine ähnliche Regelung der Schweizerischen Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 vor Augen hatte 1 7 , gehört freilich gemäß der hier verfolgten Systematik bereits in das Arsenal des Verfassungsschutzes im spezifischen Sinne. g) Zu den rechtsnormhierarchischen und den organschaftlich-institutionellen Verfassungssicherungen treten die ad hominem konzipierten, die man, vielleicht etwas ungenau, als verfassungspsychologische und -edukatorische Sicherungen zusammenfassen kann. Wir unterscheiden vier Komplexe: 1. Bestimmungen über den Amts- oder Diensteid, 2. Bestimmungen über die Verfassungstreue der Beamten, 3. Strafvorschriften, welche die Integrität der Amtsführung und der Willensbildung der staatlichen Organwalter garantieren sollen und 4. Bestimmungen in den Landesverfassungen über die Erziehungs- und Bildungsziele, insbesondere über die Erziehung „ z u freiheitlicher demokratischer Gesinnung" 1 8 . Auf die lange Tradition des Amtseides kann hier nicht eingegangen werden. Dem Fürsteneid entsprach der Untertaneneid 1 9 . Die landständischen Verfassungen des deutschen Konstitutionalismus sahen nicht nur den in der Regel vor den gemeinsam versammelten Kammern zu leistenden Eid des Monarchen auf die Verfassung vor 2 0 , sondern auch einen Amtseid jedes Mitglieds der Ständeversammlung, z . B . in Kurhessen: „Ich gelobe, die Staatsverfassung heilig zu halten und in der Ständeversammlung das unzertrennliche Wohl des Landesfürsten und des Vaterlandes, ohne Nebenrücksichten, nach meiner eigenen Überzeugung bei meinen Anträgen und Abstimmungen zu beachten. So wahr mir Gott helfe!" 2 1 Auch die Frankfurter Reichsverfassung von 1849 kannte neben dem Verfassungseid des Kaisers bei Regierungsantritt (§ 190) den Eid jedes Mitgliedes der beiden Häuser des Reichstags. Er beschränkte sich darauf, „die deutsche Reichsverfassung getreulich zu beobachten und aufrecht zu erhalten", § 113 RV. Weder war nach der Reichsverfassung von 1919 noch ist nach dem Grundgesetz von 1949 ein Abgeordneteneid vorgesehen. Lediglich der Bundespräsident (vor den Mitgliedern von Bundesrat und Bundestag), der Bundeskanzler und die Bundesminister (vor dem Bundestag) haben gemäß Art. 56 bzw. Art. 64 Abs. 2 G G einen Amtseid zu leisten. Stellvertreter des Bundespräsidenten ist nach Art. 57 G G der Präsident des Bundesrates. Zutreffend bejaht die h. L . dessen Pflicht zur Eidesleistung, wenn der Vertretungsfall eintritt 22 .

17

18

19

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, Art. 16. Vgl. Verfassung von Baden-Württemberg vom 11. November 1953, Art. 12. Ähnlich Art. 33 Verfassung von Rheinland-Pfalz. Vgl. Verfassung Württembergs vom 25. 9. 1819, Kap. II, § 1 0 : „ D e r Huldigungs-Eid wird dem Thronfolger erst dann abgelegt, wenn Er in einer den Ständen des Königreiches auszustellenden feierlichen Urkunde die unverbrüchliche Festhaltung der Landes-Ver-

20

21

2 2

fassung bei seinem Königlichen Worte zugesichert hat". Z . B . Preußische Verfassung vom 31. 1. 1950, Art. 54 Abs. 2, Kurhessische Verfassung vom 5. 1. 1831, § 6 . § 74 Kurhessische Verfassung von 1831; ähnlich Bayerische Verfassung vom 26. 5. 1818, Titel VII, § 2 5 ; Verfassung Württembergs von 1819, § 163; Verfassung Sachsens vom 4. 9. 1831, § 8 2 usw. U . H E M M R I C H in: I. v. M Ü N C H

Grundgesetz-

Kommentar, 1976, Art. 56 Rdn. 7, m . w . N .

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1301

Ein Staat muß sich, im Rahmen von Verfassung und Gesetz, auf seine Beamten, Richter und Soldaten verlassen können. Staat und Verfassung dienen ihrerseits dem Schutze der Bürger. Die Bayerische Verfassung vom 2. Dezember 1946 bringt diesen Zusammenhang vorbildlich zum Ausdruck, (wobei allerdings die äußere Sicherheit, der deutschen Situation des Jahres 1946 entsprechend, allein dem Völkerrecht, nicht auch den Kräften der Landesverteidigung anvertraut wurde): „Die Verfassung dient dem Schutz und dem geistigen und leiblichen Wohl aller Einwohner. Ihr Schutz gegen Angriffe von außen ist gewährleistet durch das Völkerrecht, nach innen durch die Gesetze, die Rechtspflege und die Polizei". (Art. 99 BayVerf.) Die Beamtengesetze des Bundes (§ 40 BRRG, § 58 BBG), die Beamtengesetze der Länder, das Deutsche Richtergesetz (§ 38) und das Soldatengesetz (§ 9) schreiben deshalb die Pflicht zur Eidesleistung auf die Verfassung, die Gesetze und — bei Soldaten — auf die Bundesrepublik Deutschland vor. Die feine Abstufung des Soldatengesetzes zwischen Berufssoldaten auf Zeit einerseits, die einen Eid, und (bloß) wehrpflichtig-Wehrdienstleistenden andererseits, die (nur) ein wortgleiches „feierliches Gelöbnis" abzulegen haben, ist unverständlich. Denn die Formel „ich gelobe . . kommt, wie frühere Verfassungstexte zeigen, auch bei Eidesleistungen vor, andererseits kann der Eid ohne Anrufung Gottes erfolgen; nicht einmal die Formel „ich schwöre . . . " ist zwingend vorgeschrieben. Der Inhalt der Verpflichtung ist derselbe, das Risiko im Ernstfall auch. h) Mit dem Eid oder dem feierlichen Gelöbnis bekräftigen der Beamte, der Richter oder der Soldat, was das Gesetz von ihnen erwartet: Treue zum Staat und zur Verfassung (Art. 33 Abs. 4, 5 GG). Beamter kann nur werden, wer „die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt" (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 BRRG und die entsprechenden Vorschriften der Beamtengesetze); der ernannte Beamte muß sich „durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen und für deren Erhaltung eintreten" (§ 35 Abs. 1 BRRG). „Staat und Soldat sind durch gegenseitige Treue miteinander verbunden", dekretiert § 1 Abs. 1 S. 2 Soldatengesetz, ohne zu erläutern, wer im Ernstfall für das Abstractum „Staat" die versprochene Treue halten und einlösen wird. Eine besondere Mahnung, die ihnen verbürgte akademische Lehrfreiheit nicht zu mißbrauchen, hat der Grundgesetzgeber an alle wissenschaftlich Lehrenden, insbesondere an die Hochschullehrer gerichtet: „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung", Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG. Die Frage ist berechtigt, was denn ein Beamter über die korrekte, präzise und loyale Pflichterfüllung hinaus — bestehe diese nun in Gesetzesausführung im engeren Sinne oder gehe sie darüber hinaus — noch tun müsse, um seine Verfassungstreue zu beweisen23. Das Bundesverfassungsgericht fordert „mehr als nur eine formal korrek-

23

Vgl.

H.

H.

KLEIN

Verfassungstreue

und

Schutz der Verfassung, in: W D S t R L Heft 3 7 , 1 9 7 9 , S. 8 4 , F n . 1 3 6 , g e g e n E .

GER

(Hrsg.)

Freiheitliche

DENNIN-

demokratische

Grundordnung, Band 1, 1977, Einführung S. 24. Ferner DENNINGER Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: W D S t R L Heft 37, 1979, S. 32ff.

1302

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

te, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung; sie (die Treuepflicht, E. D.) fordert vom Beamten insbesondere, daß er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren. Vom Beamten wird erwartet, daß er diesen Staat und seine Verfassung als einen hohen positiven Wert erkennt und anerkennt, für den einzutreten sich lohnt. Politische Treuepflicht bewährt sich in Krisenzeiten und in ernsthaften Konfliktsituationen, in denen der Staat darauf angewiesen ist, daß der Beamte Partei für ihn ergreift. Der Staat — und das heißt hier konkreter, jede verfassungsmäßige Regierung und die Bürger — muß sich darauf verlassen können, daß der Beamte in seiner Amtsführung Verantwortung für diesen Staat, für „seinen" Staat zu tragen bereit ist, daß er sich in dem Staat, dem er dienen soll, zu Hause fühlt — jetzt und jederzeit und nicht erst, wenn die von ihm erstrebten Veränderungen durch entsprechende Verfassungsänderungen verwirklicht worden sind" 24 . Wegen dieses positiv getönten Grundverhältnisses zu „seinem" Staat, das vom Beamten erwartet wird, ist es systematisch konsequent, die Beamtentreue-Bestimmungen nicht erst unter die Verfassungsschutznormen im spezifischen Sinne zu rechnen, sondern sie in den weiteren Bereich der „Verfassungssicherungen" aufzunehmen. Eine freiheitliche Demokratie, die nicht zu einem „demoautoritären" Regime denaturieren will 25 , wird allerdings darauf achten müssen, daß das Maß der Identifikation des Beamten mit seinem Staat nicht zur „Ausklammerung" der nichtbeamteten Staatsbürger aus dem Staatsbegriff und dann auch aus der Staatspraxis führt 26 . i) Versagt der religiös fundierte Appell an das Beamtengewissen, der in der bedingten Selbstverfluchung durch den Eid liegt, so hält der Staat immer noch die heteronome Sanktion in Gestalt des Strafgesetzes in Reserve. In der hier erörterten weiteren Zone des Schutzes der Verfassung geht es dabei noch gar nicht um die Tatbestände des „politischen Strafrechts" (§§ 80ff StGB), sondern um die Vorschriften, die generell die „Reinheit der Amtsführung" gewährleisten sollen. In erster Linie ist an die Tatbestände der Bestechung und Bestechlichkeit (§§ 331 ff StGB), aber auch der Rechtsbeugung (§336), der übrigen Straftaten im Amte (§§340 ff) bis hin zur Begünstigung im Amt (§258a StGB) zu denken. Der Amtsträger wird auch besonders „ermahnt", die vielfach bedrohte Privatsphäre des Einzelnen durch Wahrung fremder Geheimnisse zu respektieren (§ 203 Abs. 2 StGB). In die Diskussion über Rechtfertigung und Effizienz solcher und anderer Pönalisierungen ist hier nicht einzutreten; daß sie nach Auffassung des Gesetzgebers den Zweck verfolgen, ein gesetz- und verfassungsmäßiges Verhalten der Organwalter zu sichern, steht außer Frage. 24

25

BVerfGE 39, 334 ff, 348 f. Zum ganzen Problemkreis jetzt rechtsvergleichend: BÖCKENFÖRDE/TOMUSCHAT/UMBACH (Hrsg.) Extremisten und öffentlicher Dienst, 1981. K. LOEWENSTEIN Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, S. 93.

26

BVerfGE 40, 237ff, 251, hebt die Bedeutung der „Chance zur Identifikation" des Bürgers mit dem Staat als Existenznotwendigkeit der Demokratie hervor.

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

1303

j) An letzter Stelle in diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, was für die Sicherung des Fortbestandes der Demokratie als einer „freiheitlichen" von erstrangiger Bedeutung ist: die „Staats- und Verfassungspflege" durch „staatsbürgerliche Erziehung", durch „pädagogischen", „edukatorischen", „informatorischen" oder „positiven" Verfassungsschutz27. Daß man die Wichtigkeit einer solchen Aktivität zu allen Zeiten erkannt hat, belegen die eingangs zitierten Stimmen, von P L A T O N und A R I S T O T E L E S an. Wir dürfen uns heute auch nicht durch die Erinnerung an den schrecklichen Mißbrauch abschrecken lassen, den seinerzeit die nationalsozialistische Diktatur mit der Begeisterungsfähigkeit der Jugend getrieben hat und den heute alle totalitären Regime mehr oder minder erfolgreich üben. Eine sorgfältige monografische Analyse verdienten vor allem die frühen, „vorkonstitutionellen", d.h. vor-grundgesetzlichen Bestimmungen der Landesverfassungen über Bildungs- und Erziehungsziele, deren Pathos noch unmittelbar von der Reaktion auf die ideologisch-propagandistischen Perversionen des NS-Totalitarismus geprägt ist. Eine Erziehung im Geiste der Menschlichkeit, der Duldsamkeit und Achtung fremder Überzeugungen, im Geiste der Freiheit und Demokratie, der Liebe zu Heimat und Volk, sowie des Friedens und der Völkerversöhnung wird in den Verfassungen der meisten westdeutschen Länder in unterschiedlichen Wendungen normiert 28 . Bemerkenswert ist, daß die Hessische Verfassung das Problem der „abwehrbereiten" Demokratie schon 1946 klar als Aufgabe des „pädagogischen Verfassungsschutzes" erkennt: „Grundsatz eines jeden Unterrichts muß die Duldsamkeit sein" (Art. 56 Abs. 3 S. 1 Hess Verf.). Für den Geschichtsunterricht normiert die Verfassung sogar Lernzielschwerpunkte, auch negativer Art: „Feldherren, Kriege und Schlachten" sind nicht in den Vordergrund zu stellen (wie das von 1933 bis 1945 der Fall gewesen war). Aber: „Nicht zu dulden sind Auffassungen, welche die Grundlagen des demokratischen Staates gefährden". (Art. 56 Abs. 5 S. 3 HessVerf.). Mit der Frage, welche diese Grundlagen sind, welcher Art die sie treffenden Angriffe und Gefährdungen, und welches die spezifischen Abwehrmittel der freiheitlichen Demokratie sind, betreten wir den Bereich des Schutzes der Verfassung im spezifischen Sinne. 3. Die Schutzgüter der „streitbaren Demokratie", insbesondere die freiheitliche demokratische Grundordnung a) Bestandsaufnahme Intensiver als jede andere freiheitliche Verfassung Westeuropas ist das Grundgesetz von seinen Urhebern mit identitätssichernden normativen Schutzvorkehrungen ausgerüstet worden. Ihre Gesamtheit bezeichnen wir als Schutz der Verfassung im spezifischen Sinne (im Folgenden kurz: Verfassungsschutz). Ihre Abgrenzung zu den

27

H.-U.

EVERS i n

Bonner

Kommentar

zum

GG, Zweitbearbeitung, 1974 Art. 73 Nr. 10, Rdn. 43, m . w . N . ;

DENNINGER

WDStRL,

a a O , S. 3 6 , F n . 1 0 8 , KLEIN W D S t R L ,

S. 104 ff.

aaO

28

Vgl. z. B. Art. 12 Abs. 1 VerfBaWü von 1953, Art. 131 VerfBay vom 2. 12. 1946, Art. 56 VerfHe vom 1. 12. 1946, Art. 7 Abs. 2. VerfNW vom 18. 6. 1950, Art. 33 VerfRhPf vom 18. 5. 1947. Vgl. auch oben Anm. 4.

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unter 2. dargestellten allgemeinen Verfassungserhaltenden und verfassungssichernden Einrichtungen ergibt sich in doppelter Weise: durch die besondere Zweckbestimmung zur Abwehr speziell gegen die Verfassung und die staatliche Existenz als solche gerichteter Angriffe und durch die nähere Bestimmung der Schutzgitter. Nicht jede Kritik gegen und nicht jede Art von Angriff auf einzelne Normen und Einrichtungen der Verfassung rufen die spezifischen Abwehrkräfte der „streitbaren Demokratie" 29 auf den Plan. Z.B. ist die Verfassungswidrigerklärung einer Partei nach Art. 21 Abs. 2 GG („Parteiverbot") nicht schon dann gerechtfertigt, „wenn sie einzelne Vorschriften, ja selbst ganze Institutionen der Verfassung mit legalen Mitteln" bekämpft, „sondern erst dann, wenn sie oberste Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates erschüttern" will 30 . Das Grundgesetz verwendet keine einheitliche, durchgängig gleiche Bezeichnung für die Schutzgüter des Verfassungsschutzes; es bleibt Rechtsprechung und Lehre überlassen, eine möglichst klare Begrifflichkeit zu entwickeln. Eine rasche Bestandsaufnahme anhand des Grundgesetzes ergibt folgendes Bild: In Art. 9 Abs. 2 GG (Vereinsverbot) ist von „verfassungsmäßiger Ordnung" und vom „Gedanken der Völkerverständigung" die Rede, in Art. 10 Abs. 2 S. 2 (Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses) vom „Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes", ähnlich in Art. 11 Abs. 2 (Beschränkungen der Freizügigkeit). Art. 18 (Grundrechtsverwirkung) dient der Abwehr grundrechtsmißbräuchlichen Kampfes „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung". Das in Art. 20 Abs. 4 GG verbürgte Widerstandsrecht jedes Deutschen richtet sich gegen jeden, „der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen". Gemeint sind die in Art. 20 Abs. 1 bis 3 enumerierten Verfassungsgrundsätze. Die in Art. 20 Abs. 3 genannte „verfassungsmäßige Ordnung" kann, anders als in Art. 2 Abs. 1 GG, nicht jedes formell und materiell verfassungsmäßig zustande gekommene Gesetz, sondern nur einen engeren Begriff (nämlich die Ordnung aller im Verfassungsrang stehenden Normen) meinen, da die Gesetzgebung ja nicht an ihre eigenen Produkte gebunden ist (lex posterior derogat legi priori). Dieser Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung ist aber doch wieder weiter als der in Art. 9 Abs. 2 oder in Art. 98 Abs. 2 verwendete. Dieser letztgenannte, die wichtigsten Strukturprinzipien unseres Staates umfassende

29

Der Terminus findet sich in der Rechtsprechung seit BVerfGE 5, 85ff, (17. 8. 1956), der Sache nach bereits in BVerfGE 2, Iff, 12f vom 23. 10. 1952 (SRP-Verbot). Vom „Prinzip der streitbaren Demokratie" ist die Rede in BVerfGE 28, 36ff, 48, in BVerfGE 39, 334 ff, 349, von „wehrhafter Demokratie" (22. 5. 1975), offenbar sinngleich wieder von „streitbarer Demokratie" in BVerfGE 40, 287ff, 291 (29. 10. 1975). Der Begriff stammt von K. LOEWENSTEIN 1937: „militant democracy". Vgl. die Nachweise bei DENNINGER aaO S. 16, Fn. 33. Aus der Literatur hervor-

30

zuheben: E. BULLA Die Lehre von der streitbaren Demokratie, in: AöR 98 (1973), 330ff; R. DREIER Verfassung und Ideologie, in: WILKE/WEBER (Hrsg.) Gedächtnisschrift für F. Klein, 1977, S. 86ff; C. GUSY Die „freiheitliche demokratische Grundordnung" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 105 (1980), 279ff; J. LAMEYER Streitbare Demokratie, 1978; G. LAUTNER Die freiheitliche demokratische Grundordnung, 1978. BVerfGE 2, 12.

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1305

Begriff von verfassungsmäßiger Ordnung findet sich sinngleich in Art. 28 Abs. 1 und 3 (föderale Homogenitätsklausel und -gewährleistung). Im Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 G G geht es um den Schutz der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" und um den „Bestand der Bundesrepublik Deutschland". Ähnlich sind die Schutzgüter in Art. 87a Abs. 4 S. 1 (Einsatz von Streitkräften zur Unterstützung der Polizei) und in Art. 91 Abs. 1 (Einsatz von Polizei und Bundesgrenzschutz) formuliert, während die Legaldefinition von „Verfassungsschutz" in der Kompetenzzuweisung des Art. 73 Nr. 10b G G den „Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes" nennt. Schließlich nimmt Art. 98 Abs. 2 (Verfahren gegen Bundesrichter und, mit Abs. 5, evtl. gegen Landesrichter) die „Grundsätze des Grundgesetzes" oder die „verfassungsmäßige Ordnung eines Landes" in Bezug; beide Ausdrücke sind im Sinne der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" auszulegen. Dagegen soll für die Anklage gegen den Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht (Art. 61) jede Verletzung des Grundgesetzes, allerdings nur bei vorsätzlichem Verstoß, ausreichen. Besondere Probleme bietet die Abgrenzung des Schutzgutes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung von dem Bestand der in Art. 79 Abs. 3 G G für „ewig", d.h. für verfassungsänderungsfest erklärten Grundsätze; dazu sogleich. Außerhalb des Grundgesetzes bietet die Legaldefinition der „Verfassungsgrundsätze" im Abschnitt über das „politische Strafrecht" (§ 92 StGB) eine wichtige Auslegungshilfe. b) „Freiheitliche

demokratische

Grundordnung"

Eine Schlüsselrolle kommt dem Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" zu. Als Tatbestandsmerkmal in den Vorschriften über die Einstellung von Beamtenbewerbern und die Beamtenpflichten 31 hat seine Auslegung den Ausgang vieler Tausend Überprüfungsverfahren bestimmt. Nun ist es gewiß schon schwierig genug, einen so weit gefaßten Begriff mit einiger Treffsicherheit auf einen konkreten Sachverhalt anzuwenden, zumal, wenn die tatbestandsmäßigen Angriffshandlungen nur durch abstrakte oder notwendig stark wertungsabhängige Tätigkeitsbeschreibungen — „beeinträchtigen" in Art. 21 Abs. 2 G G , „mißbrauchen" in Art. 18 — bestimmt werden. Die Schwierigkeit wird unerträglich, wenn, wie im Falle der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, keineswegs Klarheit über den Umfang des Begriffes herrscht. Solche Unklarheit ist auch, entgegen anderslautenden Versicherungen 32 keinesfalls „der Freiheit dienlich". Denn es gibt, versucht man etwa die Praxis der Beamtentreueprüfungsverfahren zu überblicken, gerade keine Garantie dafür, daß administrative Sanktionen erst bei evidenter Verletzung des „Wesensgehalts" des Schutzgutes getroffen werden; vielmehr ist die Uberantwortung eines breiten Interpretationsspielraumes an die Exekutiven im Hinblick auf den geschmälerten Minderheitenschutz und die uneinheitliche Rechtsanwendungspraxis in verschiedenen Bundesländern rechtsstaatlich problematisch. 31

Vgl. nur § § 4 Abs. 1 N r . 2 und 35 Abs. 1 BRRG.

32

Etwa H . H . KLEIN W D S t R L , a a O S. 60.

1306

8. Kapitel. D e r Schutz der Verfassung

Ein inzwischen durch den Gesetzgeber erledigtes Beispiel für den Versuch einer Kompetenzausweitung (der Ämter für Verfassungsschutz) mit Hilfe einer erweiternden Auslegung des Begriffes „freiheitliche demokratische Grundordnung": Man erklärte den „Gedanken der Völkerverständigung", obwohl er in Art. 9 Abs. 2 GG neben der „verfassungsmäßigen Ordnung" als Schutzgut selbständig genannt ist, als zum Kernbereich der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" gehörig33. Auf diese Weise konnte die Zuständigkeit der Ämter für Verfassungsschutz zur Beobachtung von extremistischen Ausländergruppen, die aber nur auf Gewaltaktionen in ihren Heimatstaaten hinarbeiteten, auch schon vor der Ergänzung des Art. 73 Nr. 10 GG durch lit c) (Gesetz vom 28 . 7. 1972) und der entsprechenden Neufassung des Bundes-Verfassungsschutzgesetzes vom 7. 8. 1972 (jetzt: § 3 Abs. 1 Nr. 3 BVerfSchG) „begründet" werden. Daß der Gedanke der Völkerverständigung, der seinen Ausdruck in der Präambel des Grundgesetzes, in Art. 1 Abs. 2, 9 Abs. 2, 24 Abs. 2 und Art. 26 GG gefunden hat, ein elementarer Verfassungsgrundsatz im Sinne eines permanenten Verfassungsauftrages ist, soll gar nicht bestritten werden — nur: zur „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" gehört er nicht. Der Gesetzgeber des neugefaßten Strafgesetzbuches (i. d. F. vom 2. Januar 1975) ist sich dessen klar bewußt gewesen, wenn er in § 85 Abs. 1 Nr. 2 (Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot) in Anlehnung an Art. 9 Abs. 2 GG den Gedanken der Völkerverständigung neben die „verfassungsmäßige Ordnung" und ihn in § 86 Abs. 2 StGB (Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen) neben die „freiheitliche demokratische Grundordnung" gestellt hat. Noch keineswegs Einigkeit besteht über das Verhältnis der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" zu dem durch die „Unantastbarkeitsgarantie" des Art. 79 Abs. 3 GG erfaßten Bestand an Verfassungsprinzipien. Daß die beiden Einrichtungen: die Normierung eines gegen Angriffe speziell geschützten „Verfassungskerns", eben die „freiheitliche demokratische Grundordnung", und die Begrenzung der (nach der h. L. zu Art. 76 WRV seinerzeit als unbeschränkt gedachten) Änderungsbefugnis des Verfassungsgesetzgebers als eines pouvoir constitué in derselben Grundüberzeugung von der Notwendigkeit einer „abwehrbereiten", nicht grenzenlos relativistischen Staatlichkeit wurzeln, steht außer Frage. Ihre Entstehungsgeschichte belegt dies. In der Tat lautete Art. 108 des Herrenchiemsee-Entwurfs: „Anträge auf Änderungen des Grundgesetzes, durch die die freiheitliche und demokratische Grundordnung beseitigt würde, sind unzulässig." Man muß aber wissen, daß dieser Artikel nur die jetzt in Art. 79 Abs. 3, letzte Alternative, erfaßte Materie, also die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze, jedoch mit Ausnahme der Bundesstaatlichkeit, betraf. Denn eine besondere Sicherung der bundesstaatlichen Ordnung gegen verfassungsändernde Aushöhlungen war in Art. 107 HChEntw. außerdem vorgesehen. Sie war übrigens keineswegs so rigoros wie die spätere Endfassung in Art. 79 Abs. 3: sie ließ ein „Abgehen von der bundesstaatlichen

33

H . SCHÄFER Verfassungsschutz im d e m o k r a tischen Rechtsstaat, in: B M I ( H r s g . ) Verfassungsschutz, 1 9 6 6 , S. 3 7 f f , 5 2 .

8. Kapitel. D e r Schutz der Verfassung (DENNINGER)

1307

Grundordnung" bei einstimmiger Annahme im Bundesrat durchaus zu. Auch noch im Parlamentarischen Rat wurden bis zur Endredaktion des Art. 79 Abs. 3 durch den Allgemeinen Redaktionsausschuß am 2. Mai 1949 mehrere Lösungen diskutiert, die eine Preisgabe des bundesstaatlichen Prinzips nicht völlig ausschlössen, sondern nur an hochqualifizierte Bundesratsmehrheiten von 3 A oder 4/S oder gar an die Einstimmigkeit binden wollten. Die „Väter des Grundgesetzes" rechneten also das Bundesstaatsprinzip jedenfalls nicht zur „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" und hielten es bis zur vierten und letzten Lesung im Hauptausschuß am 5. Mai 1949 auch für denkbar und verfassungsgemäß, durch eine Änderung des Grundgesetzes die Bundesstaatlichkeit u. U. ganz aufzugeben. Die Entstehungsgeschichte spricht mithin deutlich gegen eine Identifizierung der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" mit allen in Art. 79 Abs. 3 für „ewig" erklärten Prinzipien 34 , zu denen außer der Bundesstaatlichkeit über die Verweisungen u. a. auch das Sozialstaatsprinzip und die republikanische Staatsform zählen. Eine systematisch-teleologische Verfassungsinterpretation führt zu demselben Ergebnis. Plausibel zwar, aber als Argument nicht ausreichend ist allerdings der im Hinblick auf Großbritannien und Frankreich aufgestellte Satz: „Wer für Monarchie und Einheitsstaat eintritt, ist kein Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung" 35 . Vielmehr ist der spezifische Schutzzweck herauszuarbeiten, welchen die besondere Absicherung des demokratischen Verfassungskerns, der wesentlichen Strukturen des Typus „freiheitliche Demokratie" erfüllen soll. Ein Blick auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der man nicht voreilig theorielosen Pragmatismus bescheinigen sollte 36 , vermag die Betrachtung durchaus auf die richtige Spur zu lenken. Bekanntlich hat das Verfassungsgericht den im SRPVerbots-Urteil (E 2,1 ff, 12 f) aufgestellten Katalog von Elementen selbst nicht als abschließend, sondern als Mindeststandard verstanden: „die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition". In der folgenden, nahezu dreißig Jahre umspannenden Rechtsprechung werden einzelne Elemente in ihren jeweiligen Funktionszusammenhängen konkretisiert und verdeutlicht: Das KPD-Verbots-Urteil (E 5,85ff, 204) hebt die Würde des Menschen als obersten Wert in der freiheitlichen Demokratie hervor.

34

F ü r die Gleichsetzung v o r allem: W . SCHMITT

tar, a a O , 1 9 6 9 , A r t . 9 1 , R d n . 2 4 ; T . MAUNZ

GLAESER Mißbrauch und Verwirkung

von

in: MAUNZ/DÜRIG/HERZOG/SCHOLZ G r u n d -

Meinungs-

gesetz, A r t . 2 1 , R z . 1 1 4 ; K . HESSE G r u n d z ü -

kampf, 1 9 6 8 , S. 5 5 , neuerdings H . H . KLEIN

ge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik

Grundrechten

im

politischen

a a O S. 5 6 f f , 111. D a g e g e n : E . - W . BÖCKEN-

Deutschland, 13. Aufl. 1 9 8 2 , S. 5 1 .

FÖRDE W D S t R L H e f t 3 7 , 1 9 7 9 , S. 138 Dis-

35

kussionsbeitrag;

36

der

K.

Bundesrepublik

STERN Das Deutschland,

Staatsrecht Band

I,

1 9 7 7 , S. 421 ff; EVERS in: B o n n e r K o m m e n -

STERN a a O S. 4 2 2 . Insoweit kritisch zu GUSY a a O (oben F n . 2 9 ) S.

291,

dessen

Rechtsprechungsanalyse

übrigen weitgehend Z u s t i m m u n g verdient.

im

1308

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

Außerdem stellt es die „Geistesfreiheit", die Auseinandersetzung der Ideen, und die Gleichbehandlung aller als elementare Voraussetzungen und Postulate freiheitlicher Demokratie heraus (aaO, 205). Wenig später wird, im Lüth-Urteil 1958, das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung als für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung „schlechthin konstituierend" erklärt (E 7, 198 ff, 208) und damit eine folgenreiche ständige Rechtsprechung eröffnet. Notwendiges Korrelat dieser demokratie-konstitutiven Meinungs- und Wertungsvielfalt ist, wie in BVerfGE 27, 195 ff, 201 (betr. Privatschulwesen) festgestellt wird, das Bekenntnis des Staates zur „religiösen und weltanschaulichen Neutralität". In einem „pluralistisch strukturierten und auf der Konzeption einer freiheitlichen Demokratie beruhenden Staatsgefüge" ist „jede Meinung, auch die von etwa herrschenden Vorstellungen abweichende, schutzwürdig." (E 33, l f f , 15) 37 . Die Funktion der freiheitlichen demokratischen Grundordnung besteht wesentlich in der Gewährleistung des „freien und offenen Prozesses der Meinungs- und Willensbildung des Volkes", nicht allein durch grundrechtliche Verbürgungen der Freiheit und Gleichheit, sondern auch durch institutionelle und verfahrensrechtliche Vorkehrungen wie das Prinzip der Öffentlichkeit der Verhandlungen von Bundestag und Bundesrat (Art. 42 Abs. 1, 55 Abs. 3 S. 3 GG) und das Prinzip der Publizität der Rechtsetzung (Art. 76, 77, 82 Abs. 1 GG) 3 8 . Und erst kürzlich hat das Gericht noch einmal bekräftigt, daß für eine freiheitliche demokratische Grundordnung, wie das Grundgesetz sie geschaffen hat, „die Gleichbewertung aller Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechtes eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung" ist (E 51, 222ff, 234, Wahlen zum Europäischen Parlament; st. Rspr. seit E 6, 84ff, 91). Sucht man den gemeinsamen Bezugspunkt all dieser Einzelaussagen, so wird deutlich, welches der bestimmende und begrenzende Normzweck aller als „freiheitliche demokratische Grundordnung" abgekürzt zusammengefaßten Regelungen, welches damit auch das Schutzgut des Verfassungsschutzes insoweit (d. h. neben dem Bestand und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes) ist: Die Erhaltung der Offenheit und Freiheitlichkeit des demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses von der ,,Volkswillensbildung" in den Parteien — und vorher — bis zur ,,Staatswillensbildung" in allen drei Gewalten. Der Akzent ist dabei auf pluralistische Freiheit (d. h. auch: Minderheitenschutz, Toleranz) und demokratische (Chancen-) Gleichheit gleichermaßen verteilt 39 . Nicht einfach alles, was diesem Ziel nützlich ist, geht in den Begriff ein. Föderalismus als ein gewaltenteilendes Prinzip hat sicher auch freiheitsschützende Funktion, ist aber für die Freiheitlichkeit des politischen und staatlichen Willensbildungsprozesses (neben anderen Ausprägungen der Gewaltenteilung) nicht unabdingbar. Ferner ist es kaum vorstellbar, daß der Inhalt eines

37

BVerfGE 27, 195ff, 201: „Dieses Offensein des Staates für die Vielfalt der Formen und Inhalte, in denen Schule sich darstellen kann, entspricht den Wertvorstellungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die sich zur Würde des Menschen und zur re-

38

39

ligiösen und weltanschaulichen Neutralität bekennt". Vgl. BVerfGE 44, 125ff, 139 (Wahlwerbung von Regierungsmitgliedern). DENNINGER Staatsrecht 1, 1973, S. 86; zutreffend auch GUSY aaO (oben Fn. 29) S. 310.

1309

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

freiheitlichen demokratischen Politikprozesses heute einen anderen als sozialstaatlichen Charakter tragen kann; die freiheitliche demokratische Grundordnung schützt jedoch nicht bestimmte Inhalte der Politik, sondern Struktur und Form des politischen Prozesses selbst. c) ,,Bestand und Sicherheit des Bundes oder eines Landes" Als weiteres Schutzgut des Verfassungsschutzes nennt Art. 73 Nr. 10 b) G G den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes. Von einer „drohenden Gefahr für den Bestand des Bundes oder eines Landes" (Art. 21 Abs. 2: „ . . . der Bundesrepublik Deutschland") ist wörtlich oder sinngemäß bei der Beschränkung der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 2), beim „Parteiverbot" (Art. 21 Abs. 2), beim Einsatz von Streitkräften als Polizeiunterstützung (Art. 87a Abs. 4) und bei der föderalen polizeilichen Notstands-Amtshilfe (Art. 91) die Rede. Die Beeinträchtigung des „Bestandes der Bundesrepublik Deutschland" ist klassisches Tatbestandsmerkmal des Hochverratsparagraphen zum Schutze des Bundes (§81 StGB); der Hochverrat (nur) gegen ein Bundesland wird anders definiert und wesentlich milder bestraft. § 92 StGB erläutert, was strafrechtlich als Beeinträchtigung des Bestandes der Bundesrepublik anzusehen ist: die Aufhebung ihrer Freiheit von fremder Botmäßigkeit, die Beseitigung der staatlichen Einheit oder die Abtrennung eines Stückes Bundesgebiet. Verfassungsrechtlich ist angesichts der Verwandtschaft der Abwehrlagen eine einheitliche Auslegung des Schutzgutes geboten. Die Grundgesetz-Kommentare tragen dem ungewollt Rechnung, in dem sich die sachlichen Erläuterungen zum Begriff „Bestand des Bundes" usw. bei MAUNZ/DÜRIG/HERZOG/SCHOLZ unter Art. 21 Abs. 2, bei v. MANGOLDT/KLEIN unter Art. 87a Abs. 4 und bei EVERS im Bonner Kommentar unter Art. 91 Abs. 1 finden 40 , auf welche bei den übrigen einschlägigen Artikeln jeweils verwiesen wird 41 . Dabei besteht im wesentlichen Einigkeit darüber, daß der „Bestand des Bundes" die staatliche Existenz und Einheit der Bundesrepublik als solche, ihre prinzipielle Funktionsfähigkeit nach außen (als Völkerrechtssubjekt) und nach innen (als soziale Ordnungsmacht), ihre gebietliche Integrität und die physische Existenz der Bewohner des Bundesgebiets insgesamt umfaßt. Allerdings rechtfertigt nicht jede, auch nicht jede erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (so die Eingriffsvoraussetzung in Art. 48 Abs. 2 WRV) in bezug auf die Funktionsfähigkeit einzelner staatlicher Einrichtungen den Einsatz der etwa in Art. 21 Abs. 2 G G , 87a G G oder Art. 91 G G vorgesehenen, mit schweren Grundrechtseingriffen operierenden Abwehrmittel. Die abzuwehrende Gefährdung muß vielmehr die Existenz des Staates als solche in dessen gebietlicher, menschlicher oder hoheitsgewaltlicher „Sub-

40

Zu „Bestand des B u n d e s " : MAUNZ/DÜRIG/ H E R Z O G / S C H O L Z ZU A r t . 2 1 G G ,

Rdn.

118;

v . M A N G O L D T / K L E I N ZU A r t . 8 7 a V I I 1 a ) a a ) ,

S. 2332 f; EVERS in Bonner Kommentar, zu Art. 91, Rdn. 18ff. 41

Bei

MAUNZ

in

MAUNZ/DÜRIG/HERZOG/

SCHOLZ Grundgesetz-Kommentar

fällt die

Kommentierung des Begriffes der „Sicherheit" durch die dort aufgemachte Verweisungskette von Art. 73 Rdn. 129 über Art. 87 Rdn. 60 bis zu Art. 21 Rdn. 118 einfach „unter den Tisch", denn in Art. 21 Abs. 2 ist von „Sicherheit" nicht die Rede.

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

1310

stanz" treffen (wollen). Dies ist z. B. anzunehmen bei politisch motiviertem Bombenterror, bei separatistischen Gewaltaktionen, aber auch bei hochverräterischer Bedrohung ganzer Bevölkerungsgruppen oder -teile mit Seuchen- oder Strahlungsgefahr (Trinkwasserverseuchung im Ballungsgebiet o. ä.). Nicht tatbestandsmäßig sind hingegen wirtschaftliche Krisen, Konjunktureinbrüche, Massenarbeitslosigkeit, wirtschaftliche Streiks (vgl. auch Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG!), friedliche Demonstrationen, selbst größten Stiles, friedliche, auf territoriale Umgliederungen des Bundesgebiets gerichtete Bürgerbewegungen. Eine schwächere Form der Bedrohung stellt die Gefährdung der „Sicherheit des Bundes" (oder eines Landes) dar, die vom Begriff des Verfassungsschutzes im Sinne der Kompetenzvorschrift des Art. 73 Nr. 10b) GG umfaßt, im übrigen in einigen Straftatbeständen der „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates" (§ 87 Abs. 1, Agententätigkeit zu Sabotagezwecken; § 88 Verfassungsfeindliche Sabotage; § 89, Verfassungsfeindliche Einwirkung auf Bundeswehr und Sicherheitsorgane) besonders geschützt wird. Dieser Sicherheitsbegriff ist wesentlich enger als der der öffentlichen Sicherheit im allgemeinen Polizeirecht auszulegen 42 ; einen brauchbaren Anhaltspunkt für die Auslegung dieses Schutzgutes bietet der Katalog der in § 87 Abs. 2 StGB definierten „Sabotagehandlungen". Wenig sinnvoll erscheint die im Schrifttum fortschwelende Kontroverse zur Frage, ob und inwieweit der Schutz des „Bestandes des Bundes" auch Elemente der Staats„form" und Staatsstruktur, also Prinzipien der konkreten Verfassungsordnung miterfaßt 43 . Der Umstand, daß die einschlägigen Artikel des Grundgesetzes (s. oben S. 1304f) neben „Bestand (und Sicherheit) des Bundes" (oder eines Landes) alternativ stets die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes (oder eines Landes) anführen, deutet auf eine je verschiedene selbständige Bedeutung der Schutzgüter hin. Es besteht weder semantisch die Notwendigkeit, noch, teleologisch interpretierend, ein Bedürfnis, den Bestands-Schutz so weit auszulegen, daß der GrundordnungsSchutz begrifflich in ihm aufgeht.

d) Staatsschutz

und

Verfassungsschutz

Der Schutz des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik oder eines Bundeslandes ist demnach als „Staatsschutz" im engeren Sinne von dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, dem „Verfassungsschutz" in diesem engsten Sinne, begrifflich zu unterscheiden. Die Legaldefinition des Art. 73 Nr. 10b) GG faßt beide Aufgaben als „Verfassungsschutz" zusammen. Dieser Begriff ist jedoch institutionell, nicht funktional zu verstehen: er bezieht sich auf die im Bundesverfassungsschutzgesetz vom 7. August 1972 näher geregelte Tätigkeit des Bundesamtes und der Landesämter für Verfassungsschutz. Allein vom Wortlaut her gesehen, würde die Ermächtigung des Art. 73 Nr. 10b) z. B. auch die Zusammenarbeit von Bundes-

42

Zutreffend Rdn. 39.

EVERS

aaO zu Art. 73 Nr. 10,

43

EVERS

aaO zu Art. 91, Rdn. 19, m.w. N.

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

1311

grenzschutz und Landespolizeien nach Art. 91 Abs. 2 GG erfassen. Hierüber gibt es nähere Regelungen im Gesetz über den Bundesgrenzschutz vom 18. August 1972 (§§ 9, 63, 65, 66 BGSG), dessen verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage sich in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 und subsidiär in Art. 73 Nr. 5 G G (Zoll- und Grenzschutz) findet. Einer wiederum ganz anderen Systematik folgt der Aufbau der sogenannten „Staatsschutzdelikte" des Strafgesetzbuches, zu denen man die Tatbestände der ersten fünf Abschnitte des Besonderen Teils des StGB, §§ 80 bis 109k, rechnen kann. (Vgl. aber auch die Zuständigkeitskataloge der landgerichtlichen „Staatsschutzkammern", § 74a GVG, sowie der Oberlandesgerichte nach § 120 GVG.) Die Delikte des Friedensverrats (§§ 80, 80 a), des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§93—101a), sowie die Straftaten gegen die Landesverteidigung (§§ 109 ff) richten sich gegen das Schutzgut „Bestand und Sicherheit der Bundesrepublik", die im Titel „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates" (§§ 84 bis 91) und in den §§ 105 bis 108 d zusammengefaßten Delikte richten sich, wenn überhaupt, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Im Tatbestand des Hochverrats (§§ 81 bis 83 a) sind beide Schutzrichtungen alternativ zusammengeführt. Bei der praktischen Beurteilung eines konkreten Angriffs oder entsprechender Vorbereitungshandlungen wird es häufig kaum möglich sein, die beiden Schutzgüter zu trennen; in den allermeisten Fällen wird bei einem Angriff auf den „Bestand" des Bundes zugleich ein Angriff auf seine freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen, nicht so im umgekehrten Falle.

4. Die Einrichtungen des Verfassungsschutzes. Eine Ubersicht Die Beschreibung der Schutzgüter des Verfassungsschutzes (im spezifischen Sinne, vgl. oben S. 1297f) vermittelt zugleich einen Eindruck von der Fülle und Vielfalt der Abwehrinstrumente, über welche die streitbare Demokratie verfügt. Das heißt keineswegs, daß von all diesen rechtlichen Möglichkeiten praktisch mit gleicher Intensität Gebrauch gemacht wird. Beispielsweise führen gerade die beiden Einrichtungen, die auf den ersten Blick als für den „streitbaren" Charakter des Grundgesetzes besonders signifikant erscheinen: das Institut der Gmndrechtsverwirkung in Art. 18 und die Möglichkeit des ,Parteiverbots' in Art. 21 Abs. 2 G G seit langem ein verfassungsrechtliches Schattendasein. Seit den beiden Verfahren nach Art. 21 Abs. 2, 1952 gegen den Rechts- und 1956 gegen den Linksextremismus (die Sozialistische Reichspartei bzw. die Kommunistische Partei Deutschlands betreffend, BVerfGE 2, l f f ; 5, 85ff) hat keines der antragsberechtigten Organe (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, eventuell eine Landesregierung, § 43 BVerfGG) je wieder einen entsprechenden Antrag gestellt; links- wie rechtsextreme (Nachfolge-)Parteien, Vereine und Grüppchen konnten entstehen. Sie finden derzeit politisch kein nennenswertes Echo, was kompensatorisch möglicherweise zur Zunahme spektakulären (Polit)Bomben-Terrors mit beiträgt. Ebenfalls nur zweimal hat die Bundesregierung 1952 und 1969 Anträge nach Art. 18 GG i. V. m. § 36 BVerfGG auf Grundrechtsverwirkung gestellt, die Verfahren jedoch „lustlos" betrieben. In beiden Fällen sah das

1312

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

Bundesverfassungsgericht keinen Grund, eine Grundrechtsverwirkung auszusprechen (BVerfGE 11, 282; 38 , 23) 44 . Auf der anderen Seite hat ein „juristisch" eher unscheinbarer Vorgang, nämlich die Interpretation der beamtenrechtlichen Verfassungstreueklausel (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 B R R G u. a. m.) durch eine Grundsätze-Erklärung des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten der Länder (Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst, vom 28. Januar 1972), also nicht einmal eine förmliche Rechtsänderung, sondern allenfalls die Formulierung einer Verwaltungsrichtlinie, die politische Öffentlichkeit der Republik jahrelang heftig aufgewühlt und in zahlreiche berufliche Einzelschicksale (von Lehramtsbewerbern, Rechtsreferendaren, Richtern, aber auch von Lokomotivführern und Postschaffnern) einschneidend eingegriffen. Die Vielfalt der Abwehrmöglichkeiten entspricht der Vielfalt der Angriffsweisen. Der Versuch einer rechtssystematischen Darstellung kann sich nicht mit einer Aufzählung der Rechtsebenen und Rechtsgebiete begnügen, auf denen Verfassungsschutz stattfinden kann. Eine Gliederung jeweils nach der Angriffsmodalität erscheint angesichts der abstrakten Umschreibungen für mögliche Tathandlungen — „zum Kampf . . . mißbrauchen" (Art. 18), „darauf ausgehen, . . . zu beeinträchtigen, . . . zu beseitigen, . . . zu gefährden (Art. 21), „verstoßen" (Art. 98 Abs. 2), „beeinträchtigen", „beseitigen", „außer Geltung setzen", „untergraben" (§ 92 Abs. 3 StGB) — als wenig sinnvoll. So bietet sich eine Systematisierung nach Art und Gegenstand der Abwehrmaßnahmen an; Überschneidungen sind dabei besonders im Doppelfeld von Prävention und gleichzeitiger Repression unvermeidlich. In einer ersten Annäherung lassen sich fünf verschiedene Abwehrstrategien unterscheiden: 1. Die Informationsgewinnung und -auswertung auch schon im „Vorfeld" konkreter Gefahren für die geschützten Rechtsgüter. Sie reicht von der generellen Dauerbeobachtung der politischen Randszene bis zur gezielten Observation einzelner Personen, bei denen sich ein Verdacht verfassungsfeindlicher Tätigkeit konkretisiert hat; 2. präventives und repressives polizeiliches, u. U. auch nachrichtendienstliches Handeln zur Abwehr einzelner, von konkreten Einzelaktionen ausgehender Angriffe; 3. die präventive Ausschaltung für verfassungsfeindlich gehaltener Einzelsubjekte oder kollektiver Subjekte aus dem Prozeß der öffentlichen politischen Meinungsund Willensbildung sowie aus dem Prozeß der staatlichen Entscheidungsbildung und -durchführung; 4. die strafrechtliche Verfolgung strafbarer Handlungen, bei denen ein Angriff auf (eine „Bestrebung gegen", vgl.: 92 Abs. 3 StGB) die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes in irgend einer Form als Tatbestandsmerkmal normiert worden ist;

44

Zu den verfahrensrechtlichen Aspekten der Verfahren nach Art. 18 und 21 Abs. 2 G G vgl. K . STERN, Verfahrensrechtliche Probleme der Grundrechtsverwirkung und des Par-

teiverbots, in: C . STARCK (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1. Band, 1976, S. 194ff.

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

(DENNINGER)

1313

5. in der Ausnahmesituation die Aktualisierung des Widerstandsrechtes gemäß Art. 20 Abs. 4 GG. a) Nachrichtendienstlicher

Verfassungsschutz

2,u 1.: Die Abwehr verfassungsfeindlicher Aktionen, die Bekämpfung verfassungsfeindlicher Gruppierungen beginnt mit der Beschaffung möglichst genauer Informationen über den Gegner, seine Verhaltensweisen und Pläne. Dies ist Aufgabe des sogenannten „administrativen Verfassungsschutzes". Er umfaßt drei (geheime) Nachrichtendienste: aa) das Bundesamt für Verfassungsschutz, das gemäß Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG als „Zentralstelle" „zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes und des Schutzes gegen Bestrebungen im Bundesgebiet, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden", errichtet wurde. Seine Aufgaben und Befugnisse ergeben sich aus dem Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes vom 7. August 1972. Die schon im Grundgesetz vorgesehene Zusammenarbeit mit den Ländern (Art. 73 Nr. 10) vollzieht sich mit landesgesetzlich errichteten Landesämtern für Verfassungsschutz oder — in einigen Bundesländern — mit den als Verfassungsschutzbehörden vorgesehenen Abteilungen der Innenministerien (§ 2 Abs. 2 BVerfSchG). Zu den gesetzlichen Aufgaben gehört außer der eigentlichen verfassungsschützenden Informationsbeschaffung und -auswertung die Mitwirkung bei personellen oder technischen Sicherheitsüberprüfungen; eine generelle Beteiligung der Ämter bei der Uberprüfung von Bewerbern für die Einstellung in den öffentlichen Dienst ist bisher nur in den Landesgesetzen von Bayern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein vorgesehen. Das Bundesamt untersteht dem Bundesminister des Innern. bb) den Bundesnachrichtendienst (BND), eine ohne gesetzliche Grundlage aufgrund eines Kabinettsbeschlusses vom 11. Juli 1955 errichtete, dem Chef des Bundeskanzleramtes unterstellte Behörde, deren Aufgaben in einer „Dienstanweisung" vom 4. Dezember 1968 umschrieben sind. Kurz und etwas unfein kann man sie als Spionage („nachrichtendienstliche Auslandsaufklärung"), Gegenspionage und Spionageabwehr bezeichnen. „Auf innenpolitischem Gebiet wird der BND nicht tätig". (Ziff. 2 der Dienstanweisung). cc) den Militärischen Abschirmdienst (MAD). Organisatorisch ist er in das Amt für Sicherheit des Bundeswehr in Köln eingegliedert, untersteht somit dem Bundesminister der Verteidigung. Er operiert ebenfalls ohne besondere gesetzliche Grundlage. Der Dienst gliedert sich in MAD-Gruppen bei den Wehrbereichen Kiel, Hannover, Düsseldorf, Bonn, Mainz, Stuttgart und München, denen jeweils MAD-Stellen und MAD-Trupps untergeordnet sind. Die Aufgaben entsprechen in etwa denjenigen der Ämter für Verfassungsschutz, jedoch beschränkt auf den Bereich der Bundeswehr. Immerhin werden der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst bzw. das Amt für Sicherheit der Bundeswehr neben den Ämtern für Verfas-

1314

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

sungsschutz in § 1 des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz (G 10) vom 13. August 1968 als abhör- und kontrollbefugte Behörden und in § 1 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes vom 11. April 1978 als zu kontrollierende Behörden genannt. Insofern ist ihre Tätigkeit, wenn auch pauschal, förmlich „legalisiert". Die Arbeit dieser Nachrichtendienste ist in dreifacher Weise charakterisiert: Sie vollzieht sich weitgehend im „Vorfeld" eines konkreten polizeilichen Gefahrenverdachts45. Sie erfordert vielfach den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel (vgl. § 3 Abs. 3 Satz 2 BVerfSchG), d. h. ein Operieren im Geheimen — was besondere Probleme hinsichtlich der Rechtsschutzgewährung aufwirft. (Allerdings gewinnt der Verfassungsschutz den größten Teil seiner Informationen (von ca. 80% ist die Rede) aus öffentlich zugänglichen Quellen durch mosaikartige Kombination). Und drittens stehen den Diensten grundsätzlich keine exekutiven oder polizeilichen Befugnisse zu, was § 3 Abs. 3 Satz 1 BVerfSchG für den Verfassungsschutz ausdrücklich hervorhebt. Hier entstehen Probleme bei der Frage der Zulässigkeit polizeilicher, vor allem grenzpolizeilicher Amtshilfe für die Überwachungstätigkeit der Ämter für Verfassungsschutz. (Dazu unten S. 1323f.) Die Abstimmung der Arbeit der drei Nachrichtendienste untereinander obliegt einem im Bundeskanzleramt amtierenden „Koordinator" der Dienste. b) Abwehr konkreter Gefahren für die Schutzgüter des Verfassungsschutzes Zu 2.: Die Rechtsordnung bietet eine Reihe von Möglichkeiten, um „drohende", d.h. konkrete Gefahren für die Schutzgüter des Verfassungsschutzes (s. oben S. 1303ff) mit teils nachrichtendienstlichen, teils polizeilichen Mitteln zu bekämpfen: aa) Im Zuge der Notstandsgesetzgebung (17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968) wurde dem Grundrecht des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ein Gesetzesvorbehalt beigefügt, der den Ausschluß des Rechtsweges gegen Beschränkungsmaßnahmen und die Nichtmitteilung derselben an den Betroffenen für zulässig erklärte. Einzelheiten regelte sodann das ,,G 10" vom 13. August 1968, welches den drei Nachrichtendiensten die Befugnis einräumte, „dem Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis unterliegende Sendungen zu öffnen und einzusehen, sowie den Fernschreibverkehr mitzulesen, den Fernmeldeverkehr abzuhören und auf Tonträger aufzunehmen", § 1 Abs. 1 G 10. Voraussetzung für die Zulässigkeit des heimlichen Postmitlesens oder Telefonabhörens sind „tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht", daß jemand eine der in § 2 G 10 näher bezeichneten staats- oder verfassungsfährdenden Straftaten „plant, begeht oder begangen hat". Auch muß die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert sein. Mit dem Ubergang der Abhörbefugnis 45

Vgl. R. RIEGEL Die Tätigkeit der Nachrichtendienste und ihre Zusammenarbeit mit der Polizei, in: N J W 1979, 952ff, 953; ferner DENNINGER Amtshilfe im Bereich der Verfassungsschutzbehörden, in: Verfassungsschutz

und Rechtsstaat. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, herausgegeben vom Bundesminister des Innern, 1981, S. 19ff. Vgl. dort auch die B e i t r ä g e v o n R . HERZOG, H . - U . H . P . BULL u . a .

EVERS,

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

1315

auf deutsche Dienststellen wurden die entsprechenden Sicherheitsvorbehalte der drei West-Alliierten in Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages vom 26. Mai 1952 abgelöst. Die Regierung des Landes Hessen, sowie einige Richter und Rechtsanwälte haben im Wege der abstrakten Normenkontrolle bzw. der Verfassungsbeschwerde die Verfassungswidrigkeit insbesondere der Nichtbenachrichtigung des Betroffenen und des Rechtswegausschlusses nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2, 19 Abs. 4 Satz 3 GG i. V. m. § 5 Abs. 5 und § 9 Abs. 5 G 10 a. F. geltend gemacht. Die Mehrheit der Verfassungsrichter hat in einer Grundsatzentscheidung zur streitbaren Demokratie (BVerfGE 30, l f f , bes. 19 ff) die Durchbrechung des rechtsstaatlichen Grundsatzes des lückenlosen Individualrechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) als eine „systemimmanente Modifikation" (nicht hingegen als „prinzipielle Preisgabe") eines der in Art. 79 Abs. 3 GG besonders geschützten Grundsätze und darum als mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar erachtet. Zur Begründung führt das Gericht u. a. den zwar abstrakt richtigen, aber das Problem des Falles nicht treffenden Satz an, es könne „nicht der Sinn der Verfassung sein, zwar den verfassungsmäßigen obersten Organen im Staat eine Aufgabe zu stellen und für diesen Zweck ein besonderes Amt vorzusehen, aber den verfassungsmäßigen Organen und dem Amt die Mittel vorzuenthalten, die zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrags nötig sind". Diese Abhörentscheidung hat viel und verdiente Kritik erfahren 46 . bb) Das Grundrecht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit (Art. 8 GG) unterliegt den im Gesetz über Versammlungen und Aufzüge vom 15. November 1978 normierten Beschränkungen zum Schutze der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung. In diesem Rahmen, z. B. zur Verhütung von „politischen" Straftaten, kann auch die freiheitliche demokratische Grundordnung etwa durch ein Versammlungsverbot, durch Auflagenerteilung oder polizeiliche Versammlungsauflösung geschützt werden, § 15 VersammlG. Darüberhinaus dient das Versammlungsgesetz speziell der Sicherstellung des mit repressiven Maßnahmen gegen politische Aktivitäten bestimmter Personen oder Gruppen — dazu unten zu 3. — bezweckten Erfolges: Wer von Sanktionen nach Art. 9 Abs. 2, 18 oder 21 Abs. 2 GG betroffen ist hat — als Einzelner, als Verein oder als Partei — das Versammlungsrecht nicht (§ 1 VersammlG); von ihm veranstaltete Versammlungen können im Einzelfall verboten (§ 5 Nr. 1 VersammlG) und aufgelöst werden (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 VersammlG). cc) Das Versammlungsrecht ist nach dem Grundgesetz nur ein „Deutschengrundrecht", nach dem Versammlungsgesetz (§ 1) und nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 11, aber ein Jedermannsrecht, das also auch den Ausländern in der Bundesrepublik zusteht. Deren politische Betätigung ist jedoch unerlaubt, wenn sie völkerrechtswidrig ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung gefährdet oder Parteien, Vereinigungen, Einrichtungen oder Bestrebungen außerhalb der Bundesrepublik fördern soll, „die mit Verfassungsgrundsätzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar sind", § 6 Abs. 3 AuslG. Die Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist auch der an erster Stelle des Gesetzes genannte Ausweisungsgrund, § 10 Abs. 1 Nr. 1 AuslG. Die 46

V g l . P . HÄBERLE o b e n F n . 1 2 .

1316

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

Verbindung der nachrichtendienstlichen (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 BVerfSchG), vereinspolizeilichen (vgl. § 14 Vereinsgesetz, betr. Ausländervereine) und ausländerpolizeilichen ( § § 6 , 10 Abs. 1 bes. Nr. 1, 6 und 11 AuslG) Überwachungsvorschriften bietet ausreichende rechtliche Handhaben, um politische extremistische Ausländervereinigungen nicht nur zu treffen, wenn sie innerstaatlich die Verfassungsgrundsätze bekämpfen, sondern auch dann, wenn sie vom Boden der Bundesrepublik aus Gewaltaktionen in ihren Heimatländern oder anderswo vorbereiten. dd) Polizeiliche Situationen, in denen spezifisch der Schutz der Verfassung in Frage steht, die jedoch die polizeiliche Kraft eines Landes übersteigen, bedürfen schon im Hinblick auf eine pflegliche Behandlung des Bundesstaatsgedankens besonders sorgsamer Regelung. Das Grundgesetz entwirft in den Art. 91 Abs. 1 und 2, 87a Abs. 4 ein Stufenschema der Eskalation innerer Notstandssituationen, dem eine gestufte Subsidiarität der dezentralen und zentralen Abwehrkräfte bis hin zum Einsatz von Streitkräften entspricht. Auf jeder Stufe sind die Fragen — — — —

der Zuständigkeit zur Entscheidung über das Betreten der Eskalationsstufe, des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen, der Zuständigkeit für die einzelnen zu treffenden Maßnahmen, und des anzuwendenden Rechts (Landespolizeirecht, Bundespolizeirecht, Kriegsvölkerrecht) zu beantworten.

Dies alles kann hier nicht dargestellt werden. Nur einige Grundlinien seien verzeichnet: In erster Linie ist das Land, in dem die Gefahr (u. U. auch für den Bund!) droht, zur Abwehr berechtigt und verpflichtet; es kann seine Kräfte durch „Organleihen" bei anderen Ländern oder beim Bund (BGS) stärken, Art. 91 Abs. 1 G G . In zweiter Linie wird der Bund mit Landespolizeikräften und/oder mit dem Bundesgrenzschutz tätig, Art. 91 Abs. 2 G G . Zwar sind Polizeiaufgaben grundsätzlich Landessache, doch ist weder nach Abs. 1 noch nach Abs. 2 des Art. 91 der Einsatz des BGS gegenüber dem Einsatz der Polizeien aus „Drittländern" subsidiär (str.), wohl aber besteht Subsidiarität gegenüber der Polizei des Anforderungs- bzw. Einsatzlandes. Landespolizeikräfte (auch dritter Länder) werden im Falle des Abs. 1 nach dem Polizeirecht des Einsatzortes tätig; im Falle des Abs. 2 (Unterstellung unter die Weisungsgewalt der Bundesregierung) unterliegen sie größtenteils dem Bundespolizeirecht des B G S G (§§ 66, 65), dem auch der BGS selbst untersteht. In letzter Linie erst kommt der Einsatz der Streitkräfte nach Art. 87a Abs. 4 G G in Frage; er ist gegenüber jeglichem Polizeieinsatz (einschließlich des BGS) streng subsidiär. Erst, wenn Polizei und BGS nicht ausreichen, und nur zu deren „Unterstützung" kommt er in Betracht. Die Bundeswehr darf zwar zum „Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer", also in bürgerkriegsähnlichen Lagen, auch andere, „schwerere" Waffen als nur die polizeilich zugelassenen einsetzen (— deswegen verspricht man sich ja von der militärischen Hilfe Erfolg!), dennoch gilt im Rahmen des Art. 87a Abs. 4 auch für sie der polizeirechtliche Grundsatz des Ubermaßverbots 47 . Die 47

Insofern stimme ich völlig überein mit G.

zu Art. 8 7 a , Rdn. 126, und mit K. HERNE-

DÜRIG

KAMP i n : I . v . M Ü N C H ( H r s g . )

in

MAUNZ/DÜRIG/HERZOG/SCHOLZ

Grundgesetz-

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

1317

Entscheidung über den Einsatz trifft die Bundesregierung als Kollegium (wie auch schon nach Art. 91 Abs. 2 GG); die Befehls- und Kommandogewalt verbleibt im übrigen nach Art. 65 a bei dem Bundesminister für Verteidigung; weder geht sie auf den Bundeskanzler über (wie im Verteidigungsfall, Art. 115 b GG) noch auf den Bundesminister des Innern (als den „Chef" des BGS und der unterstellten Landespolizeikräfte) noch gar auf eine Landesregierung. c) Präventiver Schutz des freiheitlichen Prozesses der politischen Meinungs- und Willensbildung Zu 3.: Bei den meisten der unter 2. genannten Tatbestände (nicht notwendig bei der Ausländerausweisung nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 AuslG und nicht notwendig bei bestimmten Versammlungsverboten bzw. -auflösungen, §§ 5 Nr. 1, 13 Abs. 1 Nr. 1 VersG) geht es um die Abwehr einzelner konkreter, gegenwärtiger Angriffe auf die Schutzgüter des Verfassungsschutzes. Die Rechtsordnung kennt jedoch eine Reihe von rechtlichen Möglichkeiten, die sich unmittelbar gegen die künftige Teilnahme bestimmter individueller oder kollektiver Subjekte am demokratischen politischen Leben, an der politischen und staatlich-organschaftlichen Meinungs- und Willensbildung richten 48 . Legt man begrifflich eine Zäsur zwischen den (partei-)politischen Prozeß der Meinungs- und Willensbildung und die verschiedenartigen Vorgänge staatsorganschaftlicher Entscheidungsfindung und -ausführung, so ergibt sich folgendes Schema: aa) Sinn und Ziel einer ersten Normengruppe ist es, die verfassungswidrigen, aggressiv gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung eingesetzten „Ideen selbst aus dem Prozeß der politischen Willensbildung auszuscheiden" 49 . Träger solcher Ideen können Einzelpersonen, Vereinigungen (i. S. d. Art. 9 Abs. 2 GG), d. h. „Vereine" i. S. d. § 2 Vereinsgesetz vom 5. August 1964 sowie politische Parteien (i. S. d. § 2 PartG vom 24. Juli 1967) sein. Die präventive Eliminierung aus dem politischen Prozeß erfolgt gegen Einzelpersonen und gegen Parteien durch konstitutiv wirkenden Spruch des Bundesverfassungsgerichts, der im ersten Fall auf „Verwirkung", d . h . auf thematisch begrenzte Aberkennung der in Art. 18 G G abschließend aufgezählten Grundrechte 50 , im zweiten Fall auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei lautet (Art. 21 Abs. 2 GG). Mit der Feststellung sind die Auflösung der Partei, das Verbot ihrer Neugründung, das Verbot der Schaffung einer Ersatzorganisation zwingend, die Vermögensbeschlagnahme und -einbeziehung fakultativ verbunden, § 46 BVerfGG. Gegen Vereine i. S. d. Vereinsgesetzes — die Rechtsform, etwa als „e. V . " , spielt also keine Rolle! — geht bei bundesweiten Organisationen der Bundesminister des Innern, sonst die zuständige oberste LandesKommentar, Band 3, 1978, zu Art. 87a, Rdn. 4 6 . Vgl. auch schon DENNINGER/BEYE

konkreten Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit normieren und zugleich die Aus-

Rechtsgutachten zum Waffengebrauchsrecht der Polizei, 1970, S. 2 4 . Die §§ 5 N r . 1 und 13 Abs. 1 N r . 1 in Verbin-

Schaltung der Betroffenen aus dem politisehen Leben für die Zukunft gewährleisten sollen,

dung mit 1 Abs. 2 VersammlungsG bieten die Besonderheit, daß sie Rechtsfolgen für einen

49 50

So prägnant: B V e r f G E 2, 73. Vgl. § § 3 6 bis 41 B V e r f G G .

1318

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

behörde mit einer Verbotsverfügung vor (§ 3 VereinsG), in der die Auflösung des Vereins und regelmäßig auch die Beschlagnahme und Einziehung des Vermögens anzuordnen sind. In ähnlicher Weise darf auch eine „Ersatzorganisation" (Legaldefinition in § 8 Abs. 1 VereinsG bzw. § 33 Abs. 1 PartG) erst dann als verboten behandelt werden, wenn entweder — so bei bereits bestehenden „Ersatz-Parteien" — das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit förmlich festgestellt hat oder — so bei anderen Vereinen und neuen Parteien (§ 33 Abs. 3 PartG) — eine Verbotsverfügung nach § 8 Abs. 2 VereinsG ergangen ist. Seit dem KPD-Verbots-Urteil (BVerfGE 5, 85ff, 140) und dem Urteil zu § 90a Abs. 1 StGB a. F. (1961, E 12, 296ff, 304ff) ist klargestellt, daß jegliches administrative Einschreiten gegen den Bestand einer (noch) nicht für verfassungswidrig erklärten Partei, ferner auch gegen eine sich im Rahmen der „allgemeinen Strafgesetze" haltende, nur allgemein erlaubte Mittel einsetzende Parteitätigkeit der Funktionäre, Mitglieder und Anhänger einer solchen Partei ausgeschlossen ist. Folgerichtig sind z. B. die Rundfunkanstalten während des Wahlkampfes nicht berechtigt, die Wahlwerbesendung (den „Wahlspot") einer extremistischen, aber nicht verbotenen Partei nur wegen ihres „verfassungsfeindlichen" Inhalts von der Ausstrahlung auszuschließen. Die Normen der Rundfunkgesetze, die verfassungs- oder gesetzeswidrige Sendungen untersagen — z. B. § 3 Nr. 3 HessRundfG von 1948 — werden insoweit vom „Parteienprivileg" des Art. 21 „überlagert" (BVerfGE 47, 198ff, 229). Die Grenze der Toleranz soll durch die „allgemeinen Strafgesetze" gezogen sein, d. h. durch alle Straftatbestände, „die nicht notwendig oder doch wesensgemäß bei der Förderung auch verfassungsfeindlicher Parteiziele verwirklicht werden und die insbesondere nicht nur die bloße Verfassungsfeindlichkeit unter Strafe stellen, sondern bei denen andere Unrechtsmerkmale den eigentlichen strafrechtlichen Gehalt ausmachen" (aaO, S. 230). Bei der neuerdings zunehmend rüden Tonart im Wahlkampf wird man die haarfeine Grenze zwischen einer (zulässigen) „noch so verfassungsfeindlichen" scharfen Kritik (S. 232) und einer (strafbaren) Verunglimpfung der verfassungsmäßigen Ordnung (§ 90 a StGB) oder etwa des Bundeskanzlers (§ 90 b StGB) ex ante kaum immer klar erkennen können. Die Nichtzulassung eines Mitglieds oder Funktionärs einer (noch) nicht verbotenen „verfassungsfeindlichen" Partei zum öffentlichen Dienst oder deren Darstellung als verfassungsfeindliche Organisation im offiziellen Verfassungsschutzbericht des Bundesministers des Innern soll nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kein „rechtliches Geltendmachen" der Verfassungswidrigkeit, auch kein administratives Einschreiten gegen die Partei oder ihre Mitglieder sein; gegen damit verknüpfte rein „faktische Nachteile" biete Art. 21 GG keinen Schutz 51 . bb) Hat die „streitbare Demokratie" Vorsorge getroffen, individuell oder kollektiv aggressiv handelnde Verfassungsgegner (schon) aus dem politischen Prozeß auszuscheiden, so gilt dies erst recht für die Entfernung von Verfassungsgegnern aus hoheitlichen Funktionen aller Art und damit aus den staatsorganschaftlichen Ent51

B V e r f G E 39, 3 3 4 f f , 360; 40, 287, 2 9 2 f . Vgl. dazu die überzeugende Kritik in der Abwei-

chenden Meinung des Richters RUPP BVerfG E 39, 3 80 ff.

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

1319

Scheidungsprozessen. An erster Stelle ist hier die „Präsidentenanklage" des Art. 61 G G durch Bundestag oder Bundesrat zu nennen. Während nach Art. 59 WRV der Vorwurf genügte, der Reichspräsident habe „schuldhafterweise" ein Reichsgesetz oder die Reichsverfassung verletzt, fordert das Grundgesetz den Vorwurf eines vorsätzlichen Verstoßes gegen (Bundes-)Gesetz oder Verfassung. Ein anderes Verfahren der vorzeitigen Abwahl oder der Amtsenthebung des Bundespräsidenten sieht das Grundgesetz nicht vor. Anders auch als nach der Weimarer Reichsverfassung kann eine entsprechende Anklage weder gegen den Bundeskanzler noch gegen einen Bundesminister erhoben werden; die Möglichkeit eines Mißtrauensvotums nach Art. 67 G G bietet eine Handhabe gegen einen „verfassungsuntreuen" Regierungschef 52 . Die Legislative duldet keine notorischen Verfassungsgegner in ihren Reihen: Ein Abgeordneter, dessen Partei durch Spruch des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 21 Abs. 2 G G für verfassungswidrig erklärt wurde, verliert dadurch ex lege („automatisch") seine Mitgliedschaft im Bundestag (§ 46 BWahlG, BVerfGE 2, 72ff); entsprechendes gilt in den meisten Bundesländern für die Landtagsmandate. Diese Regelung widerspricht zwar dem Gedanken der individuellen, gewissensautonomen Repräsentation „des ganzen Volkes" durch jeden einzelnen Abgeordneten, an dem Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG festhält. Aber sie wird der parteiendemokratischen, durch Art. 21 G G gedeckten Verfassungswirklichkeit gerecht 53 . Exekutive und Judikative sind durch eine Reihe von Vorschriften gegen ein Weiterwirken aktiver Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Beamten- bzw. Richterpositionen geschützt. Sowohl das Beamten- wie das Richterverhältnis enden mit der Rechtskraft eines strafrichterlichen Urteils, das wegen einer vorsätzlichen Straftat gegen die wichtigsten Staatsschutzvorschriften des Strafgesetzbuches (genau: des 1. und 2. Abschnittes des Besonderen Teils, §§ 80 bis 101 a StGB) ergeht — bei Richtern immer, bei Beamten, wenn zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wird (§ 24 BRRG, § 48 BBG, Landesbeamtengesetze, § 24 DRiG). Entsprechendes gilt bei einer Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 G G . Unabhängig davon bestehen die disziplinarrechtlichen Möglichkeiten. Ein Beamter begeht ein Dienstvergehen i. S. d. § 45 BRRG, wenn er sich nicht „durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes" bekennt und für deren Erhaltung eintritt, § 35 Abs. 1 BRRG, § 52 BBG usw. Die schwerste disziplinarrechtliche Maßnahme, die Entfernung aus dem Dienst, § 5 B D O , setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, (E 39, 350) mehr als nur den Mangel des Treuegewährbietens voraus, nämlich „ein Minimum an Gewicht und an Evidenz der Pflichtverletzung". (Dies ist offenbar mißverständlich ausgedrückt: Das Gericht meint jedenfalls, daß nicht schon jede minimale Treuepflichtverletzung die schwere Folge der Dienstentlassung soll nach sich ziehen können). In jüngster Vergangenheit ist von dieser scharfen Waffe in

52

Die Landesverfassungen kennen z.T. die Anklage gegen Mitglieder der Landesregierung: z.B. Art. 61 VerfBay, Art. 115 VerfHe.

53

Kritisch z.B. HESSE Grundzüge, 13. Aufl. 1982, S. 228.

1320

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

einigen Fällen, z. B. gegen Postbedienstete, die aktive Mitglieder der DKP waren, Gebrauch gemacht worden. Das Bundesverfassungsgericht versucht, zwischen dem „bloßen Haben" und der „bloßen Mitteilung" einer politischen Uberzeugung einerseits und weitergehenden Aktivitäten andererseits die disziplinarrechtlich relevante Grenze zu ziehen. „Wenn der Beamte aus seiner politischen Überzeugung Folgerungen für seine Einstellung gegenüber der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, für die Art der Erfüllung seiner Dienstpflichten, für den Umgang mit seinen Mitarbeitern oder für politische Aktivitäten im Sinne seiner politischen Überzeugung zieht," soll der Tatbestand einer Dienstpflichtverletzung vorliegen (aaO, 351). Bundesrichter unterliegen außer den allgemeinen richterdisziplinarrechtlichen Bestimmungen auch dem verfassungsgerichtlichen Antragsverfahren nach Art. 98 Abs. 2 GG, das im Falle eines vorsätzlichen Verstoßes gegen die Grundsätze des Grundgesetzes oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes auch zur Entlassung des Richters führen kann. Für Landesricbter kommt das in Art. 98 Abs. 5 G G fakultativ vorgesehene landesrechtliche oder landesverfassungsrechtliche Verfahren der Richteranklage in Betracht (z. B. Art. 66 Abs. 2 VerfBW, Art. 138 VerfBre, Art. 127 Abs. 4 VerfHe, Art. 73 VerfNW). Eine landesrechtlich vorgesehene Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes (z.B. in Hessen) geht dabei gemäß Art. 98 Abs. 5 Satz 3 G G auf das Bundesverfassungsgericht über. Eine solche Monopolisierung der Verfassungsschutzverfahren gegen Richter ist schon deshalb zu begrüßen, weil die Tatbestandsvoraussetzungen einer Richteranklage in den Landesverfassungen zum Teil bedenklich weit und unbestimmt umschrieben werden: in Hessen soll ein Richter angeklagt werden können, wenn er nach seiner Persönlichkeit und richterlichen Tätigkeit nicht (mehr) die Gewähr dafür bietet, daß er sein „Amt im Geiste der Demokratie und des sozialen Verständnisses ausüben" werde, Art. 127 Abs. 2 und 4 VerfHe; in Bremen bedarf es einer vorsätzlichen Verletzung der richterlichen Rechtsfindungspflicht und der Notwendigkeit des „Schutzes der Verfassung oder ihres Geistes" (!) gegen solchen Mißbrauch der richterlichen Gewalt, Art. 138 VerfBre. d) Politisches Strafrecht und

Widerstandsrecht

Zu 4. und 5.: aa) Eine Darstellung des „politischen Strafrechts", d. h. der dem „Verfassungsschutz" im Sinne der Begriffsabgrenzung des Art. 73 N r . 10 b) G G unmittelbar dienenden Strafvorschriften ist hier schon aus Raumgründen nicht einmal in Umrissen möglich 54 . Eine allgemein anerkannte, gesicherte, unterscheidungskräftige Begriffsdefinition des politischen Strafrechts gibt es nicht. Mit Sicherheit wird man die Delikte des ersten und zweiten Abschnitts des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches (§§ 80 bis 101 a) unter den Begriff fassen müssen; doch spricht vieles dafür, 54

Exemplarische Darstellung für die Jahre 1949—1968: A. v. BRÜNNECK Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968, 1978. Vgl. fer-

Grundordnung, Band II, 1977, s. 761 ff; F. C. SCHROEDER Das Strafrecht zum Schutz von Verfassung und Staat, in: Verfassungsschütz und Rechtsstaat, (s. o. Anm. 45) S.

ner

219 f f .

die

(Hrsg.)

Dokumentation

Freiheitliche

in

DENNINGER

demokratische

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

1321

auch die Vorschriften der Abschnitte 3 bis 5 (§§ 102 bis 109 k StGB) in die Betrachtung miteinzubeziehen. Die Kompetenzkataloge der §§ 74 a (Staatsschutzkammern bei den Landgerichten) und 120 GVG (erstinstanzliche Zuständigkeit des Staatsschutzsenats beim OLG), des § 5 BKAG und des § 2 G 10 bieten wichtige zusätzliche Auslegungshinweise. Für die rechtsstaatliche Ausgestaltung des politischen Strafrechts gilt, neben den generellen Forderungen nach Tatbestandsbestimmtheit und Beachtung des Übermaßverbots, ganz besonders der Gedanke M A X GÜDES, des ehemaligen Generalbundesanwalts und CDU-Bundestagsabgeordneten, daß es nicht darauf ankommen kann, durch hohe Strafrahmen und eine Vielzahl von Strafdrohungen eine fragwürdige Abschreckungswirkung zu erzielen, sondern daß es vielmehr auf „die viel wichtigere Zustimmungswirkung im täglichen Plebiszit der öffentlichen Meinung, also die Zustimmung des civis bonus et aequus, des rechtschaffenen Bürgers" 55 ankommt. Ein Staatsschutzstrafrecht, das sich vom Prinzip generellen Mißtrauens des Staates in die „staatsbürgerliche Loyalität", also in die prinzipielle Gesetzes- und Verfassungstreue seiner Bürger prägen ließe, gewönne durch Abschreckung der ohnehin aus Uberzeugung handelnden Verfassungsgegner kaum etwas, verlöre jedoch „das ,Einverstandensein' des Bürgers mit dem Staat, . . . die Chance zur Identifikation, ohne die eine Demokratie nicht dauerhaft bestehen kann" 56 . bb) Ultima ratio zur Verteidigung der Grundsätze und Einrichtungen der freiheitlichen Verfassung („diese Ordnung" im Sinne des Art. 20 Abs. 4 GG umfaßt die in den Abs. 1 bis 3 genannten, in Art. 79 Abs. 3 aufgenommenen Prinzipien) ist das Widerstandsrecht, Art. 20 Abs. 4 GG. Im Hinblick auf den zur Perfektion ausgebauten formellen Rechtsstaat und die erklärte Subsidiarität des Widerstandsrechts markiert dieses den Grenzfall, der dann, wenn er eintritt, nicht mehr nach der für ihn „vorgesehenen" Regel, sondern nach politischer und militärischer Machtlage entschieden wird. So gesehen fällt das Widerstandsrecht aus dem rechtsstaatlichen System der Steuerung durch Normen heraus. Davon abgesehen hat die als solche mißglückte Positivierung des Widerstandsrechts aber eine demokratische Funktion: Sie erinnert jeden einzelnen Bürger daran, daß die freiheitliche Ordnung letztlich auf der Anerkennung und dem Engagement aller Bürger beruht, sie mahnt den citoyen: Tua res agitur!

II. Kontrolle und Kooperation 1. Kontrolle der Maßnahmen nach dem Gesetz zu Art. 10 des Grundgesetzes (G 10) Mit den GG-Ergänzungen in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 und in Art. 19 Abs. 4 Satz 3 GG durch das Gesetz vom 24. 6. 1968 sowie durch das G 10 vom 13. 8. 1968 wurde der 55

M. GÜDE Die Verwirrung unseres Staatsschutzrechtes, in: GÜDE u . a . Zur Verfassung unserer Demokratie, 1978, S. 28.

56

BVerfGE 40, 251.

1322

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

Grundsatz des lückenlosen Individualrechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 a. F., Art. 20 Abs. 2, 3, Art. 28 Abs. 1 GG) zum ersten Mal und zwar empfindlich durchbrochen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies zwar in E 30 1 ff grundsätzlich gebilligt, zur Schonung der Grundrechte aus Art. 10 G G jedoch zweierlei gefordert: eine wenigstens nachträgliche Benachrichtigung des Betroffenen von der Überwachungsmaßnahme, sofern dies ohne Zweckgefährdung geschehen kann, sowie eine Überprüfung der G 10-Maßnahmen in einem Verfahren, das „materiell und verfahrensmäßig der gerichtlichen Kontrolle gleichwertig ist, auch wenn der Betroffene keine Gelegenheit hat, in diesem „Ersatzverfahren" mitzuwirken", aaO, S. 1. Mit der Novellierung des G 10 durch Gesetz vom 13. 9. 1978 57 hat der Gesetzgeber versucht, den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden. Anders als zuvor hat grundsätzlich eine nachträgliche Benachrichtigung zu erfolgen, „wenn eine Gefährdung des Zwecks der Beschränkung ausgeschlossen werden kann", § 5 Abs. 5 Satz 1 G 10. Nach der Mitteilung steht dem Betroffenen der Rechtsweg offen, § 5 Abs. 5 Satz 4 G 10. Die Kontrolle der Maßnahmen erfolgt in zwei Stufen: durch ein mindestens alle sechs Monate zusammentretendes Fünfergremium aus Abgeordneten, welchem der zuständige Bundesminister berichtspflichtig ist, und durch eine quasirichterliche DreierKommission, welche in der Regel (außer bei Gefahr im Verzuge) vor dem Vollzug der Beschränkungsmaßnahme über deren „Zulässigkeit und Notwendigkeit" mit bindender Wirkung für den zuständigen Minister entscheidet, § 9 Abs. 2 G 10 58 . Diese Kontrollfunktion der Kommission, die von dem Abgeordnetengremium bestellt wird, befreit den Minister (des Innern bzw. für Verteidigung) nicht von seiner parlamentarischen Verantwortlichkeit. Will die Exekutive im Einzelfall eine nachträgliche Benachrichtigung des Überwachten unterlassen, so bedarf sie auch dazu der ausdrücklichen Genehmigung der Kommission. 2. Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste Schon in der 5. Wahlperiode hatte der Bundestag einen Untersuchungsausschuß mit der Prüfung der Frage beauftragt, ob ein, womöglich im Grundgesetz zu verankernder, parlamentarischer Ausschuß mit der ständigen Kontrolle der drei Nachrichtendienste des Bundes, auch über den Bereich des G 10 hinaus, zu betrauen sei. Der Ausschuß gelangte in seinem Bericht vom 16. 5. 1969 (BT-Drucks. V/4208) zu einer Empfehlung in bejahendem Sinne. Anders votierte sieben Jahre später die EnqueteKommission Verfassungsreform des 7. Deutschen Bundestages in ihrem Schlußbe57

58

BGBl. I S. 1546. Vgl. C. ARNDT Gesetzliche Neuregelungen auf dem Gebiete der Nachrichtendienste, in: DVB1. 1978, 385ff; DERS. Rechtsprobleme der Post- und Fernmeldekontrolle, in: J. JEKEWITZ U. a. (Hrsg.) Politik als gelebte Verfassung, Festschrift für F. Schäfer, 1980, S. 147ff; H.-U. EVERS Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste, NJW 1978, 1144f. ARNDT aaO S. 157, schreibt der G 10-Kommission nach § 9 Abs. 2 S. 3 G 10 auch eine

Zweckmäßigkeitskontrolle zu. Die Nachprüfung der Zulässigkeit und Notwendigkeit der Maßnahmen ist jedoch Rechtskontrolle im Rahmen des Ubermaßverbots. Was nicht „notwendig" ist, ist auch nicht „zulässig", §§ 2 Abs. 2, 3 Abs. 1 G 10. Vgl. jetzt auch C . ARNDT Das G 10-Verfahren, in: Verfassungsschutz und Rechtsstaat, (s. o. Anm. 45), S. 43 ff.

1323

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

rieht vom 2. 12. 1976 5 9 . Sie verwarf den Gedanken eines besonderen parlamentarischen Ausschusses und erklärte das bis dahin bereits bestehende „Parlamentarische Vertrauensmännergremium" unter dem Vorsitz eines Abgeordneten für ein ausreichendes und gut geeignetes Kontrollinstrument. Nicht zuletzt unter dem Eindruck einiger „Abhör-Affären" im Bereich des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Militärischen Abschirmdienstes beschloß, nachdem Hamburg in dieser Richtung vorangeprescht war 6 0 , der 8. Deutsche Bundestag am 11. 4. 1978 das „Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes". Nach § 2 des Gesetzes unterrichtet die Bundesregierung „die Parlamentarische Kontrollkommission umfassend über die allgemeine Tätigkeit der in § 1 genannten Behörden und über Vorgänge von besonderer Bedeutung. Die Parlamentarische Kontrollkommission hat Anspruch auf entsprechende Unterrichtung." § 1 nennt ausdrücklich das Bundesamt für Verfassungsschutz, den Militärischen Abschirmdienst (MAD) und den Bundesnachrichtendienst (BND): die beiden letzteren Dienste erfahren auf diese Weise eine Art demokratisch-legaler Legitimation. Mitgliederzahl, Zusammensetzung und Regelung der Arbeitsweise der Parlamentarischen Kontrollkommission bleiben der näheren Bestimmung durch jeden neu gewählten Bundestag überlassen. Die Auskunftspflicht der Bundesregierung ist nicht unbeschränkt; sie wird „unter Beachtung des notwendigen Schutzes des Nachrichtenzugangs durch die politische Verantwortung der Bundesregierung bestimmt" und begrenzt, § 2 Abs. 2 des Gesetzes. Wegen der hier normierten Regierungskontrolle durch ein besonderes Organ und der über das in Art. 43 G G vorgesehene Maß hinausgehenden Unterrichtungspflicht hat man die Verfassungsmäßigkeit der ohne Verankerung im Grundgesetz nur durch „einfaches" Gesetz eingerichteten Kontrollkommission angezweifelt 61 . Mit Rücksicht auf die salvatorische Klausel des § 3 6 2 , auf das Ausmaß der Unterrichtungspflicht und die mögliche Folgenlosigkeit der Kontrolle (Geheimhaltungspflicht aller Kommissionsmitglieder!) erscheint jedoch die durch das Gewaltenteilungsprinzip gezogene Grenze nicht als überschritten. Abzuwarten bleibt, ob sich das Nebeneinander der Gremien nach dem G 10 und nach dem Gesetz über die parlamentarische Kontrolle in der Praxis auf Dauer bewähren wird. 3. Amtshilfe im Bereich der Sicherheitsbehörden und die Trennung von Verfassungsschutz und Polizei Die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, vor allem des Bundeskriminalamtes mit dem Bundesamt und den Landesämtern für Verfassungsschutz, aber auch dieser 59

60

Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform. Schlußbericht der EnqueteKommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, Teil 1, zur Sache 3/76, S. 142 ff. Gesetz über den Verfassungsschutz in der Freien und Hansestadt Hamburg vom 1 3 . 2 . 1978 (HGVB1. I S. 51).

61

62

H . H . KLEIN a a O o b e n F n . 2 3 , S. 91 f u n d

H . - U . EVERS aaO oben Fn. 57, ferner E. FRIESENHAHN Die Kontrolle der Dienste, in: Verfassungsschutz- und Rechtsstaat, (s. o. Anm. 45), S. 87ff, 107. § 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle: „Die politische Verantwortung der Bundesregierung für die in § 1 genannten Behörden bleibt unberührt".

1324

8. Kapitel. D e r Schutz der Verfassung

Ämter sowie der anderen Nachrichtendienste mit dem Bundesgrenzschutz oder mit Landespolizeidienststellen richtet sich verfassungsrechtlich nach Art. 35 Abs. 1 G G , dessen Inhalt, bezogen auf das Bundesamt für Verfassungsschutz, in § 3 Abs. 4 BVerfSchG wiederholt wird; einfachgesetzlich sind die §§ 4 bis 8 VwVfG sowie spezielle Vorschriften, z. B. §§ 3 ff B K A G (betreffend die Zusammenarbeit des B K A mit den LKÄ und den Landespolizeibehörden) zu beachten. Hinzukommen Verwaltungsrichtlinien wie die nichtveröffentlichten „Richtlinien für die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden, des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden in Staatsschutzangelegenheiten" vom 18. 8. 1970 i. d. F. vom 23 . 7. 1973 - ÖS 2 - 601 531 VS — NfD, ferner die inzwischen in gründlicher Umarbeitung bzw. Ablösung befindliche „Sonderanweisung über die Erfassung bestimmter Erkenntnisse bei der grenzpolizeilichen Kontrolle ( S O - G K ) " von 1975 (betreffend die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste mit dem BGS) und die „Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV)" i. d. F. vom 1 . 1 . 1977, besonders Nr. 202 bis 214, betreffend die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden in Staatsschutzsachen. Erst in jüngster Zeit, gefördert durch ein allmählich sensibler werdendes allgemeines Datenschutz-Bewußtsein sind die Besonderheiten der Amtshilfeleistungen im Sicherheitsbereich, besonders zwischen Verfassungsschutz- und Polizeibehörden, klarer zutage getreten 63 . Unter Verzicht auf alle Einzelheiten sollen hier nur vier Grundgedanken hervorgehoben werden: a) Die seinerzeit von den drei westlichen Militärgouverneuren im sog. „Polizeibrief" vom 14. 4. 1969 6 4 verlangte, im Grundgesetz und im BVerfSchG vom 27. 9. 1950 normierte Trennung von Verfassungsschutz und Polizei gilt in funktionaler (vgl. § 3 Abs. 2, 3 BVerfSchG), in kompetenzieller und in organisatorischer Hinsicht, § 3 Abs. 3 des Gesetzes. Sie darf nicht etwa durch eine generalisierende, auf Dauer gestellte Amtshilferegelung unterlaufen und ausgehöhlt werden. Das gilt auch für den elektronischen Datenaustausch, vgl. u. 4. b) Die Grenzen zulässiger Amtshilfe ergeben sich nicht erschöpfend aus den §§ 4 ff VwVfG, sondern aus den Aufgaben- und Befugnisregelungen für die ersuchende bzw. die ersuchte Behörde. Die Einhaltung der Zuständigkeitsordnung ist ein vorrangiges rechtsstaatliches Gebot, das den Amtshilfemaßnahmen nicht erst dann Schranken setzt, wenn sie Grundrechtseingriffscharakter annehmen. Die durch Amtshilfe

63

Aus

der

rasch

DENNINGER

anschwellenden

Einführung

in

Amtshilferechts,

insbesondere

heitsbereich,

JA

in:

1980,

Amtshilfe, behördliche

Literatur:

Probleme im

Sicher-

280ff;

Mitteilungspflichten

und Geheimhaltung, in: N J W 1 9 8 0 , 2 1 6 5 f f .

des 64

Im W o r t l a u t : . . . „ 2 . Der Bundesregierung

DERS.

wird es ebenfalls gestattet, eine Stelle zur

Bürgerschaft,

Sammlung und Verbreitung von Auskünften

L T - D r u c k s . 1 0 / 2 8 7 v o m 4 . 8. 1980, S. 1 8 f ;

über umstürzlerische, gegen die Bundesregie-

DERS. a a O oben F n . 4 5 ; C . GUSY D e r Schutz

rung

gegen rechtswidrige

Diese Stelle soll keine Polizeibefugnis

Rechtsgutachten,

durch

die

Bremische

Informationsermittlung

Nachrichtendienste,

in:

DÖV

ben".

gerichtete Nach:

E.

Tätigkeiten R.

einzurichten.

HUBER Quellen

1 9 8 0 , 431 ff; W . SCHMIDT Amtshilfe durch

Staatsrecht der Neuzeit, Band 2 ,

Informationshilfe, in: Z R P 1 9 7 9 , 1 8 5 f f ; R .

216.

RIEGEL a a O oben F n . 4 5 f .

E.

SCHNAPP

hazum

1951, S.

1325

8. Kapitel. D e r Schutz der Verfassung (DENNINGER)

mögliche Koppelung der „Aufgabenmacht" der ersuchenden mit der „Befugnismacht" der ersuchten Behörde darf die Befugnisse des Staates gegenüber dem Bürger nicht über das gesetzlich vorgesehene Maß hinaus erweitern, c) Grundsätzlich ist jede Erhebung und Verarbeitung (also auch die Weitergabe) personenbezogener Daten ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 mit Art. 1 Abs. 1 GG), der einer gesetzlichen Ermächtigung oder der Einwilligung des Betroffenen bedarf. (Vgl. auch § 3 BDSG) 6 5 . d) Will sich die ersuchende Behörde die nur durch polizeiliche Generalklausel umschriebene Befugnismacht einer Polizeidienststelle im Wege der Amtshilfe dienstbar machen, so ist die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen besonders sorgfältig am Maßstab der Aufgabenbestimmung für die ersuchende Behörde zu überprüfen (§ 7 VwVfG); andernfalls könnten sich beliebige Verwaltungsbehörden in nahezu beliebigem Umfang polizeiliche Vollzugsgewalt zuschreiben. 4. Datenschutz und Verfassungsschutz Die Datenschutzgesetze des Bundes und der Länder kennen einen ,bereichsspezifischen' Datenschutz für den Bereich des Verfassungsschutzes bislang nur in dem negativen Sinne, daß die Veröffentlichungspflicht der speichernden Stelle ( z . B . § 12 BDSG) und das Auskunftsrecht des Betroffenen (§ 13 BDSG) jeweils entfallen oder ganz erheblich eingeschränkt werden. Andererseits stellen die Vorschriften des § 10 BDSG, welche die Zulässigkeit der Datenübermittlung an andere öffentliche Stellen lediglich an die Erforderlichkeit zur rechtmäßigen Aufgabenerfüllung binden, für einen ungehinderten Datenaustausch z. B. zwischen den Dateien des Bundeskriminalamtes66 und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (NADIS) keine nennenswerte Schranke dar. Eine Verbesserung des Datenschutzrechtes muß auch in diesem Bereich auf eine grundsätzliche Anerkennung eines Auskunftsanspruchs des Betroffenen über die zu seiner Person gespeicherten Daten dringen — Ausnahmen vorbehalten. Sie muß durch einen entsprechenden Löschungsanspruch ergänzt werden; der Grundsatz des ,kontrollierten Vergessens' muß zu einer Löschung von Amts wegen aller voraussehbar nicht mehr benötigten Daten bzw. nach einer bestimmten Frist führen. Auf der technischen Ebene müssen Vorkehrungen getroffen werden, daß die rechtlichen Grenzen des Informationsaustausches nicht durch technisch mögliche, aber mißbräuchliche Zusammenschaltungen unterlaufen werden. Alle Einzelregelungen müssen sich von der Maxime leiten lassen, daß Datenschutz gewollten und institutio-

65

aaO

P r o b l e m vgl. auch : DENNINGER D i e T r e n -

F n . 2 3 , S. 41 m . w . N . In diesem Sinne jetzt

Vgl. DENNINGER W D S t R L ,

Heft 37,

nung v o n Verfassungsschutz und Polizei und

B V e r f G B . v o m 3 . 6. 1 9 8 0 , N J W 1 9 8 0 , 2 0 7 1 :

das G r u n d r e c h t auf informationelle Selbstbe-

, , . . . Gedanken der Selbstbestimmung: D e r einzelne soll — ohne Beschränkung auf seine

s t i m m u n g , Z R P 1 9 8 1 , 231 ff. 66

Z . B . „ P I O S " , „ Z P I " , „ P I Z " u s w . Vgl. den

Privatsphäre — grundsätzlich selbst entschei-

E r s t e n und den Zweiten Bericht des Bundes-

den k ö n n e n , wie er sich D r i t t e n oder der Ö f -

ministers des Innern über D a t e i e n / K a r t e i e n

fentlichkeit gegenüber darstellen will, o b und

im Bereich des Bundeskriminalamtes,

inwieweit v o n Dritten über seine Persönlich-

2 5 . 4 . 1 9 7 9 b z w . v o m 19. 3. 1 9 8 0 .

keit verfügt werden kann; . . . " Z u m ganzen

vom

1326

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung

nalisierten Informationsverzicht bedeutet — ein Verzicht, der nicht die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden unnötig erschweren, sondern die gesicherte Freiheit des Bürgers schützen soll.

III. Schlußwort zur „streitbaren Demokratie" Die freiheitliche Demokratie kann in Anspruch und Realität nur als eine pluralistische existieren, d. h. als eine, die das „ G e m e i n w o h l " nicht als eine im Vorhinein bestimmte Konstante, sondern als eine ständig neu zu bewältigende Aufgabe und als das jeweilige Ergebnis der permanenten offenen politischen Auseinandersetzung begreift. Deshalb, aber auch nur deshalb wehrt die freiheitliche Demokratie totalitäre Ideologien und Bestrebungen ab, die jene Offenheit der „Gemeinwohlsuche" durch einen absoluten Wahrheits- und Herrschaftsanspruch ersetzen wollen. Sie wehrt diese auch dann ab, wenn die Verfechter solcher Ideologien zwar die formalen Verfahrensweisen parlamentarischer Demokratie (mit Wahlen, Mehrheitsprinzip, Verantwortlichkeit der Regierung usw.) verbal anerkennen, in ihren Zielsetzungen aber antipluralistisch auftreten. Sie wird zur „streitbaren", „wehrhaften" Demokratie. Dabei begegnet sie mehreren Gefahren. Die erste Gefahr ist, daß der unentbehrliche Grundkonsens über politische Grundwerte und notwendige demokratische Einrichtungen im Rechtsalltag der Behörden zu eng ausgelegt wird oder daß ihm Wertvorstellungen unterschoben werden, die nur einer von mehreren möglichen politischen Glaubenslehren oder Weltanschauungen entsprechen. Auf diese Weise entsteht die Figur des „Verfassungsfeindes", desjenigen, der sich zwar legal verhält, also z. B. einer nicht verbotenen Partei angehört, gleichwohl aber von seinen Mitbürgern und vor allem von den Behörden wie ein „Illegaler", weil „Illoyaler" angesehen und behandelt wird. Das Grundgesetz hat versucht, ein solches Auseinanderklaffen von Verhaltens-Legalität und grundkonsensbezogener Legitimität bzw. Loyalität durch das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts in den Verfahren nach Art. 18 und 21 Abs. 2 G G zu vermeiden. Doch hat das Gericht dieses „ A n g e b o t " gar nicht konsequent angenommen. Der Gefahr einer antipluralistischen Introversion und Verhärtung des Grundkonsenses kann am besten dadurch begegnet werden, daß man sich darauf besinnt, daß die Grundrechts/mAeiiew zum elementaren Bestand dieses Konsenses (der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung") gehören. In diesem Sinne gilt das Wort GLADSTONE'S: „ I t is liberty alone which fits men for liberty 6 7 ." Eine zweite Gefahr ergibt sich, wenn die „streitbare" „Offenhaltung" der freien geistigen politischen Auseinandersetzung durch gerade die Meinungsfreiheit beschneidende Staats- und Verfassungsschutzmaßnahmen übertrieben wird. Dann wird nicht allein die das Individuum schützende Rechtsstaatlichkeit, sondern auch die Identität der Demokratie als einer freiheitlichen bedroht. Dann entsteht die Gefahr, 67

Zitiert nach BVerfGE 33, 86.

8. Kapitel. Der Schutz der Verfassung (DENNINGER)

1327

daß nicht mehr die Meinungs- und Willensbeiträge aller Bürger unter dem Grundgesetz — mittelbar oder unmittelbar — die Richtung des politischen Prozesses beeinflussen, sondern nur noch diejenigen einer politischen Elite, die zugleich mit den einflußreichen Positionen in Staat, Wirtschaft und Kultur die Interpretationsherrschaft über die rechtlichen und gesellschaftlichen Normen besetzt hält. Sie steckt dann, häufig nur durch Augurenlächeln, die Grenzen des Basiskonsenses ab; sie definiert wie weit der „Boden des Grundgesetzes" 68 reicht. Es gibt dann Demokraten unterschiedlicher „Güteklassen", wie sie sich im Extremistenbeschluß des Bundesverfassungsgerichts 69 schon ganz deutlich abzeichnen: Die Engagierten, die sich in ihrem Staat zu Hause fühlen ( = Beamte, aaO, S. 349), sodann die Lauen bis Kühlen, innerlich Distanzierten, aber formal Korrekten, Gesetzes-, aber vielleicht nicht „Verfassungstreuen", ferner die kritisch Distanzierten, Ablehnenden, aber noch nicht Feindlichen — und schließlich die „echten Verfassungsfeinde", die aggressiven und radikalen Gegner der freiheitlichen Ordnung. Eine streitbare Demokratie, die an die ersten drei dieser Abstufungen rechtliche Unterscheidungen anknüpft, beginnt damit, sich gegen sich selbst zu kehren 7 0 . Auch die freiheitliche Demokratie lebt insoweit von Voraussetzungen, die sie nicht herbeizuzwingen und nicht zu garantieren vermag 71 .

68 69 70

Statt vieler: BVerfG in N J W 1980, 2071. Vgl. BVerfGE 39, 334 ff, 348 f. BVerfGE 30, 45 (Abweichende Meinung).

71

Vgl. E . - W . BÖCKENFÖRDE Der Staat als sittlicher Staat, 1978.

9. Kapitel

Abschließende Äußerungen der Herausgeber Ubersicht ERNST BENDA I. Aufgabenstellung und Methodik der Schlußbemerkung 1331 II. Zum Grundkonsens 1. Die „Verfassungsdebatte" des Deutschen Bundestages von 1974 1333 2. Zum Konsensbegriff und zum Erfordernis eines Grundkonsenses 1338 3. Konsens in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 1341 III. Zum Verfassungswandel 1. Notwendigkeit, Zulässigkeit und Grenzen des Verfassungswandels 1349 2. Reform der Verfassung 1356 3. Gefahren für die Verfassungsordnung 1357 IV. Schlußbemerkung

1359

II. Themen in der Entwicklung . . . 1. „Soziale Grundrechte" 2. „Streitbare Demokratie" . . . 3. Plebiszitäre Ansätze 4. Verfassungsrechtsprechung . .

1367 1367 1369 1369 1370

III. Neue Fragestellungen 1. Auswirkungen neuer naturwissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen 2. Ausländerrecht 3. Verbandsklage

1371

1371 1372 1373

I V . Grundsätzliche verfassungspolititische Aspekte 1373 1. Grundwertediskussion 1373 2. Uberbeanspruchung der Verfassung 1376 C . Gegenwärtiger Zustand und Bewußtsein unserer Gesellschaft — Ausblick 1378

HANS-JOCHEN VOGEL A . Allgemeines I. Aufgabe der Schlußbemerkung

. 1361

II. Grundkonsens

1362

B. Einzelprobleme I. Herkömmliche Fragen 1. Offenheit der Verfassung . . . 2. Insbesondere: Kontinuität und Wandel der Eigentumsverfassung 3. Noch offene Spannungsverhältnisse

1364 1364

1366 1367

W E R N E R MAIHOFER Einleitung: Zur Aufgabenstellung der Schlußbemerkung

1381

I. Epochale Krise und demokratische Revolution 1. Der Wandel der Gesellschaft im Zeitalter der gesellschaftswissenschaftlichen Aufklärung 1384 2. Die nachgeholte demokratische Revolution der Gesellschaft im Zeitalter der Gleichheit 1387

1330

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

II. Grundkonsens und Verfassungspolitik 1. Grundkonsens über Grundwerte 1393 2. Grundpositionen der Verfassungspolitik 1399 3. Wertdissens und Verfassungsinterpretation 1402

4. Hauptpunkte der Verfassungsrevision 1407 a) Das plebiszitäre Defizit des Grundgesetzes 1409 b) Das repräsentative Defizit der Verfassungswirklichkeit 1412

Abschließende Äußerungen ERNST BENDA

I. Aufgabenstellung und Methodik der Schlußbemerkung Die Ziele, welche sich das Handbuch gesetzt hat, sind von den Herausgebern im Vorwort dargestellt worden. Auch ihre Schlußbemerkungen sollen dieser Zielsetzung dienen: über die Darstellung des in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Verfassungsrechts hinaus, wie sie in den Einzelbeiträgen erfolgt ist, soll nach Ubereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten in den wesentlichen Fragen gesucht und geprüft werden, ob das Grundgesetz auch künftig seine integrierende Funktion wird erfüllen können. Die abschließenden Bemerkungen der Herausgeber wollen nicht in erster Linie das mit den Einzelautoren geführte Gespräch fortsetzen oder versuchen, zu kontroversen Einzelfragen das letzte Wort zu behalten. Bei der Erarbeitung des Konzepts dieses Handbuches ist lange diskutiert worden, ob und auf welche Weise die Herausgeber ihre eigene Auffassung deutlich machen sollten. Unbestritten war dabei von Anfang an, daß sich ihre Aufgabe nicht darauf beschränken konnte, die Einzelbeiträge hereinzuholen, also die geeigneten Autoren zu gewinnen, deren Arbeit in technischer Hinsicht zu betreuen und das Ergebnis dieser sammlerischen Bemühungen dem Leser ohne weiteren Kommentar zur eigenen Beurteilung vorzustellen. Soweit nicht schon durch das Gespräch unter den Herausgebern und mit den Autoren ein gewisses Maß an eigenen Überlegungen der Herausgeber in die Einzelbeiträge eingeflossen ist, schien eine abschließende Stellungnahme zu diesen wünschenswert. Ihr Ziel kann aber nicht sein, zu jeder in einer Einzelfrage vertretenen Auffassung Stellung zu nehmen. O b z . B . die Herausgeber, oder welcher von ihnen, in der Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Zuerkennung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer die skeptisch-zurückhaltende Meinung von SCHIFFER1 oder die positivere Haltung von v. SIMSON2 für zutreffend halten, ließe sich wohl nur mit einem Raumbedarf diskutieren, der bei aller verfassungspolitischen Brisanz der Ausländerthematik kaum vertretbar wäre. Meinungen, die zu Kontroversen Anlaß geben können, gibt es in praktisch jedem einzelnen Beitrag. Die Arbeiten vieler Autoren zeichnen sich durch ein eigenes, gelegentlich auch scharf akzentuierendes Profil aus, dem auch derjenige seinen Respekt nicht versagen wird, der in der Sache anderer Meinung ist. So habe ich — um ein anderes, ebenfalls fast zufällig gewähltes Beispiel zu nennen, in 1

S. 306 f.

2

S. 74.

1332

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

einigen Einzelpunkten Bedenken gegen das von HOFFMANN-RIEM3 vertretene verfassungsrechtliche Medienkonzept, etwa hinsichtlich des zum Zugangsrecht des privaten Einzelnen zu den Medien m . E . vereinfachenden Ausgangspunktes, daß es bei dem privaten Verfügungsrecht über Medien ausschließlich oder doch überwiegend um deren Kapitalverwertungs- oder Gewinnerzielungsinteresse gehe 4 ; auch die Frage des Zutritts Privater zu den Medien ist eine Sache der Meinungsfreiheit (damit ist noch nicht geklärt, welche subjektiven Ansprüche der Einzelne insoweit aus Art. 5 G G herleiten kann). Dies jedoch so skizzenhaft zu bemerken, ist schon fast ungehörig gegenüber dem Autor, der Anspruch auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seiner Meinung hat. Aber diese würde den Umfang des Handbuchs vervielfachen; den Leser müßte dies zur Verzweiflung oder zur vorzeitigen Beendigung seiner Lektüre bringen. Schließlich kann es besondere Gründe geben, sich zu einer von einem Autor vertretenen Auffassung nicht zu äußern. So hoffe ich auf Verständnis dafür, daß ich mich zu der Analyse des Mitbestimmungsurteils des Bundesverfassungsgerichts, die KRIEGER vornimmt, und insbesondere zu den Folgerungen, die er hieraus hinsichtlich des verfassungsrechtlichen Gestaltungsraums für die weitere Ausgestaltung einer Unternehmensverfassung zieht 5 , nicht äußern möchte. Den Leser könnte dies schon interessieren; aber es wird wohl einleuchten, daß dem mindestens Taktoder Stilgesichtspunkte entgegenstehen. Solche Erwägungen, die sich durch zahlreiche weitere Beispiele illustrieren ließen, legen für die abschließenden Bemerkungen der Herausgeber eine andere Aufgabenstellung nahe. Es geht weniger um eine Einzelauseinandersetzung mit den von den Autoren vertretenen Meinungen zu einzelnen Sachfragen, als vielmehr um eine Gesamtwürdigung der Summe aller vorgelegten Arbeiten. Diese spiegeln bis zu einem gewissen Grade den gegenwärtigen Meinungsstand wider, zumal wenn und soweit die Autoren sich auch mit den von anderen vertretenen Gegenpositionen auseinandersetzen. Das Handbuch stellt einen Versuch dar, festzustellen, ob sich das Grundgesetz nach mehr als drei Jahrzehnten seines Bestandes im ganzen bewährt hat, welche grundsätzlichen Kontroversen sich ergeben haben, ob sich insoweit in der politischen Debatte einerseits, in der wissenschaftlichen Diskussion andererseits gleiche oder unterschiedliche Schwerpunkte herausgestellt haben, und welches schließlich die Gefährdungen sind, mit denen heute und in einer absehbaren Zukunft gerechnet werden muß. Auch hierzu sind in den Einzelbeiträgen zahlreiche, mitunter übereinstimmende, oft aber auch ganz unterschiedliche Gesichtspunkte vorgetragen worden. Mit ihnen will sich meine Schlußbemerkung, unter Beschränkung auf die wesentlichen Sachfragen, beschäftigen; sie will versuchen, ein persönliches Fazit zu ziehen. Auch dies kann nicht ein Schlußwort in dem Sinne sein, daß hiermit die Diskussion als beendet anzusehen wäre. Sie wird gewiß weitergehen. Wenn die Hoffnung berechtigt ist, daß Autoren und Herausgeber des Handbuchs hierzu einen gewissen Beitrag geleistet haben, dann rechtfertigt dies den nicht unerheblichen Aufwand an Zeit und Mühe, der mit der Herausgabe des Buches verbunden war. 3 4

S. 3 8 9 f f . S. 413.

5

S. 713f.

ERNST

BENDA

1333

In dieser Schlußbemerkung wird — abgesehen von den jeweils notwendigen Hinweisen auf die Einzelbeiträge, zu denen Bemerkungen erforderlich erscheinen — auf die Angabe weiterer Literatur oder die Bezugnahme hierauf verzichtet. Statt vieler anderer einschlägiger Arbeiten soll aber auf zwei in neuerer Zeit erschienene Werke wenigstens pauschal hingewiesen werden, die zahlreiche Anregungen und bedenkenswerte Kommentare zu den im folgenden zu erörternden Themen enthalten: die Arbeit „Verfassung und Konsens", Berlin 1981, von HANS VORLÄNDER, und das Werk „Verfassungsentwicklung", Baden-Baden 1982, von BRUN-OTTO BRYDE. Damit sind zugleich die Schwerpunkte bezeichnet, denen sich meine Schlußbemerkung zuwenden will: das Problem des Grundkonsenses sowie Stabilität und Dynamik des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland.

II. Zum Grundkonsens 1. Die „Verfassungsdebatte" des Deutschen Bundestages von 1974 Politische Debatten dienen anderen Zwecken als wissenschaftliche Erörterungen. Zwar leistet auch der parlamentarische Redner, der auf dem „marketplace of truth" seine Waren anbietet, der Idealvorstellung nach einen Beitrag dazu, daß sich aus der Vielzahl der vorgetragenen Argumente diejenigen herausheben und durchsetzen, welche den relativ am ehesten zutreffenden Sachbeitrag liefern. U m zu erkennen, wo die richtigere Meinung liegt, sind auch die entgegengesetzten Standpunkte wichtig. Auch Ton und Stil der Rede werden bedeutsam, jedenfalls wenn der Zuhörer sich nicht täuschen läßt, sondern imstande ist, ernstzunehmende Ausführungen von bloßer Polemik zu unterscheiden. Aber alles dies macht, glücklicherweise, die parlamentarische Debatte nicht zu einem wissenschaftlichen Disput. Sie ist auch und vor allem ein Mittel des politischen Kampfes: sie soll Anhänger gewinnen oder erhalten, den Gegner verunsichern, seine für falsch gehaltene Politik bloßstellen, ihn zu wütender Reaktion provozieren oder ihn sprachlos machen. Auch Debatten über die Verfassung folgen solchen Tendenzen. Festreden am Verfassungstag oder bei ähnlichen Anlässen mögen Einmütigkeit der Meinungen auch dann proklamieren, wenn diese in Wirklichkeit nicht besteht. Verfassungsdebatten im Parlament haben, wie die Diskussion jeder anderen Frage, eher die Tendenz, die Gegensätzlichkeit der Meinungen überzuakzentuieren. Wenn man dies berücksichtigt, besteht die Chance, hinter der Polemik echte Spannungen und Gegensätze zu erkennen. Dabei können auch Scheinkontroversen entstehen und mit einigem Aufwand ausgetragen werden, hinter denen in Wirklichkeit keineswegs gegensätzliche Auffassungen stehen. Umgekehrt kann eine verbal proklamierte Übereinstimmung darüber hinwegtäuschen, daß tiefe Meinungsunterschiede vorhanden sind. Der Deutsche Bundestag hat sich natürlich mit dem Grundgesetz, verfassungsrechtlichen Fragen und verfassungspolitischen Aspekten politischer Entscheidungen ständig zu beschäftigen. Es ist nicht nur legitim, sondern geradezu — auch verfassungsrechtlich — geboten, bei der Behandlung einer Sachfrage möglichen verfassungsrechtlichen Bedenken nachzugehen. Der Gesetzgeber mag bei der Beurteilung

1334

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

der Verfassungsrechtslage irren und dann durch das Bundesverfassungsgericht korrigiert werden. Hieraus mangelnde Verfassungstreue des vor dem Gericht Unterlegenen herzuleiten, ist, wie SIMON6 zu Recht sagt, nicht gerechtfertigt, jedenfalls wenn die Prüfung der verfassungsrechtlichen Frage, die der Entscheidung vorausging, mit hinreichender Sorgfalt vorgenommen worden ist. Hiervon ist schon wegen der Qualität der mit Verfassungsfragen befaßten Beamten der Verfassungsministerien, also des Bundesjustiz- und des Bundesinnenministeriums, im Regelfall auszugehen. Auch der Bundesrat und der Rechtsausschuß des Bundestages machen fast stets auf etwaige verfassungsrechtliche Bedenken aufmerksam. Häufiger ist, mit anscheinend zunehmender Tendenz, der umgekehrte Fall, daß schon erkennbare, aber nicht notwendigerweise durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken, verbunden mit der als legitimes Instrument der Opposition eingesetzten Drohung, notfalls „nach Karlsruhe zu gehen", Bundesregierung und/oder Parlamentsmehrheit veranlassen, von einem Gesetzesvorhaben Abstand zu nehmen. Auch diese „Feigheit vor dem Freund", als die ich das so mißverstandene Verhältnis von Politik und Recht einmal bezeichnet habe 7 , ist nicht erfreulich, aber häufiger als das leichtfertige oder gar vorsätzliche Hinwegsetzen des Gesetzgebers über ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken. Gehört so die Befassung mit verfassungsrechtlichen Einzelfragen zum täglichen Brot der Arbeit des Bundestages, sind andererseits die Anlässe relativ selten, in denen das Parlament sich grundsätzlich mit seinem Verfassungsverständnis im ganzen, in einer von der Tagesaktualität mehr oder weniger losgelösten Weise beschäftigt hat. In neuerer Zeit geschah dies wohl nicht zufällig im Jahre 1974, also in dem Jahr, in dem das Grundgesetz 25 Jahre alt geworden ist. Veranlaßt durch zwei Entschließungsanträge, den Antrag der Fraktion der C D U / C S U betr. „Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland" 8 und den Antrag der Fraktionen der S P D und F D P betr. „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1974" 9 befaßte sich der Deutsche Bundestag am 14. und 15. Februar 1974 mit Grundfragen der verfassungsmäßigen Ordnung und ihrer Durchsetzung und Erhaltung in der politischen Wirklichkeit 10 . In diesen Debatten kamen 31 Redner, darunter mehrere Bundesminister und Regierungschefs oder Mitglieder von Landesregierungen zu Wort. Bezieht man die reichlich verwendeten Zitate aus einschlägigen Äußerungen anderer Politiker ein, so kann man davon ausgehen, daß jedenfalls die meisten der im politischen Bereich damals für relevant gehaltenen Gesichtspunkte in die Debatte eingebracht worden sind. An jene Debatte wird hier nicht deshalb erinnert, weil sie insgesamt oder in ihren einzelnen Beiträgen kritisch bewertet werden soll. Vielmehr wird nach Ubereinstimmungen und unterschiedlichen Standpunkten gesucht, die sich aus einem Vergleich zwischen dem politischen und dem in diesem Handbuch geführten wissenschaftlichen Dialog ergeben könnten.

6

S. 1269.

7

Vgl. auch SIMON S. 1273. BTDrucks. 7/1481. BTDrucks. 7/1670.

8 9

10

Die Debatten der 79. und 80. Sitzung des Deutschen Bundestages sind festgehalten in: BT Sten.Ber. 7/5002ff und 7/5139ff.

ERNST

1335

BENDA

Das grundsätzliche Einverständnis über den Geltungsanspruch des Grundgesetzes und insoweit der allen im Bundestag vertretenen Parteien gemeinsame Grundkonsens konnte nicht ernstlich umstritten sein. Er wurde auch in immer wiederkehrenden Formulierungen hervorgehoben 11 . Das Grundgesetz als die „gemeinsame Grundlage der Politik der im Bundestag vertretenen Parteien", wie es in dem Entschließungsantrag der SPD und FDP heißt, oder „Zur freiheitlich-demokratischrechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes gibt es keine Alternative", wie der Antrag der C D U / C S U formulierte — beides sind Selbstverständlichkeiten, über die so intensiv zu diskutieren kaum gelohnt hätte. Uber lange Strecken der Debatte ging es nicht um die Richtigkeit solcher Aussagen, sondern um den Streit darüber, ob die jeweils andere Seite sich im politischen Alltag stets den Vorstellungen und Forderungen der Verfassung entsprechend verhalte. Hinweise auf die Zustände an den Hochschulen, Reden auf Juso-Kongressen, Rahmen-Richtlinien für die Schulen und ähnliches, auch die angebliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Extremisten von links oder rechts mögen dem Zweck dienen, Zweifel an dem praktizierten Verfassungsverständnis des politischen Gegners zu wecken; zum Grundsätzlichen tragen sie aber wenig bei. Auf diesen oft polemisch geführten Teil der Diskussion braucht daher nicht eingegangen zu werden. Daß das Grundverständnis der Verfassung, die nicht lediglich ein Organisationsstatut sei 12 , sondern auch ein Wertsystem enthalte 13 , kaum Erörterungen auslöste, daß also wohl auch insoweit Konsens bestand, erscheint weniger selbstverständlich. In der Öffentlichkeit ist lange Zeit auch unter aktiver Beteiligung maßgeblicher Politiker (wie etwa von Bundeskanzler H E L M U T SCHMIDT) die Grundwertediskussion geführt worden. Dies ist ein Streit, den ich anders als SIMON14 nicht als unfruchtbar bezeichnen möchte. Aber in der Parlamentsdebatte spielte er kaum eine Rolle. Dagegen besteht in diesem Punkte unter den Autoren dieses Handbuches keineswegs Einigkeit; sie scheinen anders als die Politiker von einer klärungsbedürftigen Kontroverse auszugehen. Aber möglicherweise täuscht dieser erste Eindruck. Uber weite Strecken widmete sich die parlamentarische Debatte den Krisensymptomen der Gegenwart, wie sie im wirtschaftlichen Bereich, unmittelbar nach der ersten Erdölkrise von 1973, durch die immer dringender erscheinende Frage nach den „Grenzen des Wachstums", im übrigen vor allem durch die Unruhe, Zukunftsangst und die vermeintliche Orientierungslosigkeit besonders der jungen Generation gekennzeichnet waren. Für ein wirklichkeitsgerechtes Verfassungsverständnis sind dies durchaus relevante Vorgänge; sie sind im Handbuch etwa von mir 15 oder unter einem spezielleren Blickwinkel von ZEIDLER16 behandelt worden. Noch dramatischer hat MAIHOFER, einer der Herausgeber dieses Handbuches, in der Parlamentsdebatte die Lage dargestellt: z . B . aaO (Fn. 10) S. 5003, 5005, 5026, 5028, 5052, 5066, 5140. aaO (Fn. 10) GENSCHER S. 5052; SCHÄFER S. 5013.

aaO (Fn. 10) GENSCHER S. 5053; v. WEIZSÄCKER S. 5149. 1 4 S. 1276. 15 s 477FFP 1 6 S. 555 ff.

13

1336

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

es gehe um eine „epochale Krise", „in der wir um die Mitte dieses Jahrhunderts wie andere stehen, mitten in einem Umbruch der Werte, wie er sich nur in Jahrhunderten ereignet" 17 . Weniger drastisch, aber in seiner Bewertung hiervon wohl nicht weit entfernt, sprach H A N S MAIER von dem notwendigen „Gespür für die Folgewirkungen geistiger Bewegungen in der Tiefe der Gesellschaft" 18 . So stellt sich die zentrale Frage, ob und wie das als „offene Verfassung" 1 9 bezeichnete Grundgesetz mit dem sozialen Wandel, zu dem auch der Wandel der Wertvorstellungen gehört, fertig werden kann. Daß die Verfassung entsprechend den wechselnden Bedürfnissen der Zeit Veränderungen unterliege und auch unterliegen müsse, ist von mehreren Rednern im Grundsätzlichen übereinstimmend hervorgehoben worden 20 . Die politische Kontroverse, welche diesen Teil der Debatte bestimmte, bestand darin, daß die Redner der Regierungsparteien der parlamentarischen Opposition von C D U und C S U ein eher konservatives, statisches Verfassungsverständnis vorhielten, während sie selbst sich zu einem „dynamischen" Verständnis des Grundgesetzes bekannten. Wieweit solche Wertungen zutreffen, braucht hier nicht erörtert zu werden. Wesentlich ist aber die Grundfrage, ob und wieweit das Grundgesetz dem Wandel der Verhältnisse gegenüber offen ist. Diese Frage hat auch viele Autoren des Handbuches beschäftigt und dort zu unterschiedlichen Antworten geführt. Hier liegt offenbar ein ganz wichtiger Punkt, der im politischen wie im wissenschaftlichen Bereich umstritten ist. Zum Grundrechtsverständnis hat die Parlamentsdebatte wenig Neues beigetragen. Einige Redner, vor allem aus der FDP, bezeichneten das klassische Grundrechtsverständnis als nicht mehr zeitgemäß oder nicht mehr ausreichend und forderten eine stärkere Anerkennung von Leistungs- und Teilhabeansprüchen, auch in der Richtung auf die Schaffung von sozialen Grundrechten 21 . Während sich die wissenschaftliche Diskussion der Frage nach dem Wesen der Grundrechte intensiv widmet, bestand hierfür in der politischen Debatte kaum Interesse, und die wenigen erwähnten Beiträge blieben ohne wesentliches Echo. Hieraus wird sich kaum folgern lassen, daß allseits Einigkeit bestand. Politische Opportunität mag den Parlamentarier davon abhalten, sich allzu sehr im Sinne eines mehr konservativen, dabei doch gewiß ehrenwerten und jedenfalls vertretbaren Grundrechts Verständnisses zu engagieren. Ebenso scheint es mit dem Sozialstaatsprinzip zu liegen. Diesem wurde natürlich allseits Sympathie bekundet, wenn auch auf eine doch eigentlich unverbindliche Weise 22 . Allerdings haben sich die Redner der Opposition auf die Sozialstaatsklausel nur am Rande oder nicht ausdrücklich bezogen, die ja sonst, etwa bei der krisenhaft zugespitzten Auseinandersetzung des Jahres 1982 um den Haushaltsausgleich und die hiermit verbundenen Eingriffe in das „soziale N e t z " , als Argumentationsfigur zur Abwehr unerwünschter Eingriffe oder zur Begründung sozialpolitischer Forderungen 17 18 19 20

aaO (Fn.10) S. 5159. aaO (Fn. 10) S. 5092. GENSCHER aaO (Fn. 10) S. 5053. a a O ( F n . 10) DREGGER S . 5 0 0 5 ; H I R S C H S. 5 0 2 6 , 5 0 3 0 ; MAIER S . 5 0 9 1 ; SCHÖFBERGER S . 5154.

21

aaO

( F n . 10) HIRSCH

S.

5028;

MAIHOFER

S.

5027;

GENSCHER

S. 5160f. 22

aaO

( F n . 10) HIRSCH

S. 5054; DÜRR S. 5067; MAIHOFER S. 5160.

1337

ERNST BENDA

gern herangezogen wird. Dies war auch in der Verfassungsdebatte nicht wirklich anders. Jeder politische Wille beansprucht, der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit zu dienen. Es ist relativ gleichgültig, ob für solchen Anspruch der sozialstaatliche Gestaltungsauftrag ausdrücklich herangezogen wird oder nicht. An aktuellen Bezugnahmen auf Sachfragen, die sozial und auch sozialstaatlich relevant sind, fehlte es auch in jener Debatte nicht; zu solchen Problemen gehörten etwa die Mitbestimmung, die Geldentwertung, die Preis- und die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung. Der nun schon uralte Streit um die Wirtschaftsverfassung, die P A P I E R in diesem Handbuch behandelt 23 , hat sich aus der Verfassungsdebatte erwartungsgemäß nicht heraushalten lassen; aber neue Erkenntnisse hat auch diese Diskussion nicht vermittelt. Wie schon oft, ging der Streit 24 vornehmlich um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Einnahme von Extrempositionen, die in der politischen Wirklichkeit keine Aktualität besitzen, so etwa um die Frage, ob nach dem noch niemals angewandten Art. 15 GG auch Banken verstaatlicht werden dürften. Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich schon im 4. Band seiner Entscheidungssammlung von der Befugnis des Gesetzgebers gesprochen, jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu betreiben, sofern er hierbei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte beachte. Seither wird das Schlagwort von der „wirtschaftspolitischen Neutralität" des Grundgesetzes als politischer Argumentationsknüppel gebraucht, mit dem sich fast jede Meinung begründen läßt. Gewiß wird es immer wieder verfassungsrechtliche Sachfragen geben, die noch einer Klärung bedürfen und über die sich streiten läßt. Daß aber der Streit nicht zur Ruhe kommen will, liegt nicht so sehr hieran, als an der wohl unwiderstehlichen Versuchung, mit verfassungsrechtlichen Schlagworten den politischen Gegner als nicht ganz verfassungstreu zu diffamieren. Bei dem bundesstaatlichen Prinzip des Grundgesetzes könnte es umgekehrt sein. In der Debatte wurden Probleme des Föderalismus nur am Rande angesprochen 25 . Dies könnte die Vermutung nahelegen, daß es sich um einen Tabubereich handelt, in dem klar und vor allem kritisch Stellung zu beziehen politisch riskant erscheinen mag. Wahrscheinlich ist aber dieser Verdacht nicht begründet. Wesentliche Beiträge des Handbuches zu Fragen des bundesstaatlichen Systems haben Autoren geliefert, die auch politisch profiliert sind 26 . Sie alle stimmen dem föderalistischen Prinzip zu und äußern sich kritisch zu Unitarisierungstendenzen in der Bundesrepublik Deutschland. Dies spricht eher für einen breiten Konsens, als für das verschämte Verschweigen von Gefühlen des Unbehagens. Schließlich soll ein weiteres Thema der Debatte von 1974 erwähnt werden, das in nicht überraschender Weise einen breiten Raum eingenommen hat: die Fragen des Schutzes der Verfassung gegen ihre Gegner, des Extremismus und insbesondere des Problems der Radikalen im öffentlichen Dienst. Nahezu alle Redner haben sich 23 24

S. 609ff. aaO (Fn.10) z.B. FILBINGER S. 5059; S. 5068; EHMKE S. 5141.

25

DÜRR

26

Etwa SCHÄFER aaO (Fn. 10) S . 5017. So V O G E L S . 809ff; POSSER S. 899ff; S. 999ff.

GLOTZ

1338

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

hierzu geäußert 27 . Aber fast alle Äußerungen sind unbeschadet der Person des Redners und seiner Parteizugehörigkeit austauschbar. Alle Redner bekennen sich zu dem Grundsatz, daß der öffentliche Dienst von Extremisten frei zu halten sei, daß es aber auf die sorgfältige und rechtsstaatliche Prüfung des Einzelfalles ankomme. Hiergegen läßt sich wenig einwenden; aber die anhaltende und auch in diesem Handbuch geführte Debatte wird durch eine so allgemeine Aussage nicht gefördert. Es scheint, daß hinter dem in der Parlamentsdebatte ausgesprochenen verbalen Konsens ein größeres Maß an Nichtübereinstimmung verborgen ist, als die Redner zuzugeben bereit waren. Hierbei muß allerdings berücksichtigt werden, daß zum Zeitpunkt der Debatte eine Besprechung zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten der Länder zum Problem der Extremisten im öffentlichen Dienst angesetzt war. Es mag sein, daß dieser Umstand die Redner zur Zurückhaltung veranlaßt hat. 2. Z u m Konsensbegriff und zum Erfordernis eines Grundkonsenses Von den Bürgern eines Landes oder auch nur von den für ihre Meinungsbildung besonders maßgeblichen Kräften eine vollständige Ubereinstimmung der Auffassungen in allen Fragen zu erwarten, wäre nicht nur unrealistisch; es wäre auch nicht erstrebenswert. Die Demokratie ist auf den Pluralismus der Meinungen angewiesen; nur wenn zu jeder Sachfrage Gründe und Gegengründe frei und offen erörtert werden können, läßt sich die Zuversicht rechtfertigen, daß so angemessene Antworten gefunden werden. Konsens kann daher nicht die Uniformität der Meinungen bedeuten, sondern nur die Ubereinstimmung im Grundsätzlichen. Hierzu gehört nicht zuletzt der Respekt vor der Meinung des Anderen, die Achtung der vollen Freiheit der Meinungsäußerung und schließlich die Bereitschaft, den Anderen nicht bloß reden zu lassen, sondern ihm auch zuzuhören. Erforderlich ist nicht der Konsens schlechthin, sondern der Grundkonsens. Wenn GLOTZ28 feststellt, daß es in der Bildungspolitik „einen neuerdings immer wieder beschworenen und alle wesentlichen Meinungsunterschiede lösenden ,Grundkonsens' . . . nie gegeben" habe, geht er von einem zu weit verstandenen Konsensbegriff aus. Auf die Verfassung bezogen, bedeutet Grundkonsens, daß diese (nach SCHEUNER) als „verbindlicher Entwurf gemeinsamer Entwicklung" verstanden und akzeptiert wird; solcher Konsens ist „das Vertrauen, das den Staat und seine Organe trägt". Damit ist aber nicht bloß die grundsätzliche Zustimmung der Bürger zu der gegebenen demokratisch-parlamentarischen Regierungsform und die Respektierung der jeweiligen durch Wahlen legitimierten Regierung gemeint, sondern auch eine inhaltliche Einigung über die das Gemeinwesen prägenden Werte und Strukturprinzipien in dem Maße, in dem diese in die Verfassung Eingang gefunden haben. Diese Ubereinstimmung im Grundsätzlichen schließt den Konflikt keineswegs aus, der das Wesen der Politik ausmacht; aber Konfliktlösung wird durch Diskussion, auch durch po-

27

aaO(Fn.LO)Z.B.DREGGERS. 5006f;ScHÄFER S. 5023; HIRSCH S. 5029; GENSCHER 28

S. 5 0 5 5 f ; VOGEL S. 5073; GROSS S. 5079; MAIER S. 5094. S. 1040.

ERNST

1339

BENDA

litischen und gesellschaftlichen Kampf in den Formen und innerhalb der Grenzen des Rechts möglich. Solcher Grundkonsens ist unverzichtbar. Er ist, wie es in dem einführenden Beitrag von HESSE 29 heißt, die Voraussetzung für (verfaßte) Staatlichkeit: nur wenn sich ein verbindlicher Gesamtwille bilden lasse, bei aller Unterschiedlichkeit der Meinungen und Interessen, könne der Staat als politische Handlungseinheit bestehen. Auch in meinem Beitrag zum Rechts- und Sozialstaatsprinzip 3 0 habe ich mich zu der Bedeutung eines Konsenses in den Grundfragen und zu den Zusammenhängen zwischen Konsens und Verfassungswandel geäußert 31 . Andere Beiträge sprechen oft von der Notwendigkeit eines Grundkonsenses oder setzen diesen voraus. Damit ist weder beantwortet, wer der Träger eines solchen Konsenses sein muß, noch, wie man Vorhandensein oder Fehlen des Konsenses feststellen kann. Die zweite Frage muß hier ganz ausgespart bleiben; ich habe mich zu ihr an anderer Stelle geäußert 32 . Zur ersten Frage: es wird wohl wichtiger sein, daß die Einigkeit im Grundsätzlichen unter den politisch Verantwortlichen besteht, wie man dies aus dem Verlauf der Verfassungsdebatte von 1974 entnehmen kann, als daß man dies für die Staatsrechtslehre wünschen sollte. Es mag eher Aufgabe der Wissenschaft sein, durch kontroverse Diskussionen wesentliche Fragen zu klären, als gemeinsame Auffassungen zu konstatieren. Aber die Meinung der Hochschullehrer ist nicht unwichtig. Auch sie formen öffentliche Meinung mit, und sie vermitteln ihre Auffassungen und Argumente an ihre Schüler, die ihrerseits später an wichtigen Stellen des staatlichen oder gesellschaftlichen Lebens Einfluß auf die Meinungsbildung gewinnen werden. Die Weimarer Republik ist sicher nicht an ihren Staatsrechtslehrern zugrunde gegangen; aber auch diese, oder einige von ihnen, tragen neben anderen eine Mitverantwortung für den Untergang der Republik. Letztlich wird es aber nicht lediglich auf die „opinion-leaders", die Minderheit der Einflußreichen im Lande, ankommen, sondern auf die Gesamtheit der Bürger, so wenig man von jedem einzelnen stets Detailkenntnisse und sorgfältig reflektierte Standpunkte erwarten kann. Grundkonsens bedeutet nicht so sehr eine intellektuelle als vielmehr eine gefühlsmäßige Bindung; er erfordert „ s o m e degree of positive attachment or adherence" (PARTRIDGE). ZU Recht macht DENNINGER auf die Gefahr aufmerksam, daß die Interpretationsherrschaft bei einer politischen Elite verbleibe, welche zugleich die wesentlichen Positionen in Staat, Wirtschaft und Kultur besetzt halte und „häufig nur durch Augurenlächeln" die Grenzen des Basiskonsenses abstecke 3 3 . Hiervor schützt vor allem die Offenheit der politischen Auseinandersetzung, das Gesamtklima der Freiheit, auch die Bereitschaft etwa des Bundesverfassungsgerichts, sich nicht schlicht auf Konsens zu berufen, sondern argumentativ zu überzeugen 3 4 . Der Grundkonsens kann aber auch nicht schon durch jede noch so abwegige und nur geringen Widerhall findende Meinung eines oder weniger Außenseiter 29 30 31

S. 16. S. 477 ff. a a O (Fn. 30) S. 518f, 522, 529.

32

33 34

Konsens, Meinungsforschung und Verfassung D Ö V 1982, S. 8 7 7 - 8 8 3 . S. 1327. SIMON S.

1255.

1340

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

zerstört werden. Dann hätten kleine oder kleinste Minderheiten es in der Hand, beliebig die Gemeinsamkeit aller in Frage zu stellen. Auch derartige Meinungen stehen unter dem Schutz der freiheitlichen Ordnung. Aber für die Bildung oder Veränderung eines Konsenses gilt, soweit sich das überhaupt quantifizieren läßt, nicht das Einstimmigkeitsprinzip, sondern eher das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit, so wie diese für eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich ist. Die Autoren des Handbuches scheinen sich über die Notwendigkeit eines Grundkonsenses einig zu sein. Hieraus folgt noch nicht, daß auch volle Ubereinstimmung darüber besteht, worauf sich der Konsens beziehen muß. Es läßt sich verständliche Scheu feststellen, früher vielleicht ein wenig überstrapazierte Begriffe wie „Wertentscheidungen" oder „ G r u n d w e r t e " zu verwenden. Auch das Bundesverfassungsgericht gebraucht solche Formulierungen neuerdings seltener oder sucht sie, wenn es geht, durch andere, weniger dem Verdacht des Emotionalen oder des Subjektiven ausgesetzte Begriffe zu ersetzen. Es muß aber schon entschieden werden, ob das Grundgesetz eher eine Wert- oder eine Verfahrensordnung ist. Hieraus ergeben sich Folgerungen für Möglichkeiten und Grenzen eines Verfassungswandels sowie für Ausmaß und Inhalt des erforderlichen Grundkonsenses. Anders als die Redner der Verfassungsdebatte von 1974 sind die Autoren des Handbuches anscheinend nicht völlig darüber einig, ob der Konsens sich eher oder sogar ausschließlich auf materielle Grundwertentscheidungen oder auf die grundlegenden Verfahrensfragen beziehen sollte. Jedenfalls werden hinsichtlich der Rangordnung von Verfahrens- und materiellen Fragen unterschiedliche Akzente deutlich. So meint DENNINGER35, daß die freiheitlich-demokratische Grundordnung Struktur und Form des politischen Prozesses schütze, nicht dagegen bestimmte Inhalte der Politik. N o c h weiter geht ELLWEIN, der wohl eher aus politikwissenschaftlicher als aus verfassungsrechtlicher Sicht argumentiert; m. E . überschätzt er die Bedeutung von Verfahren und Organisation, läßt dagegen die inhaltlichen Entscheidungen des Grundgesetzes, insbesondere der Grundrechte, allzusehr zurücktreten 3 6 . Das Grundgesetz läßt aber nicht offen, wie ein Gesetz inhaltlich beschaffen sein soll. Aus den Grundrechten und z . B . aus Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1, 19 A b s . 2 G G ergeben sich wichtige inhaltliche Vorgaben. Viele Beiträge des Handbuches beschäftigen sich zu Recht nicht nur mit der Frage, ob und wie die Grundrechte den politischen Gestaltungsraum begrenzen, sondern auch damit, welche politischen Konsequenzen aus einer bestimmten Aussage der Verfassung zu ziehen seien. Im einzelnen läßt sich über derartige Formulierungen durchaus streiten. Insoweit kann ein Konsens nicht erwartet oder auch nur gewünscht werden. Aber es ist etwas anderes, ob man über die Auslegungen von Grundrechtsnormen oder von Staatszielbestimmungen streitet oder ob man, wie ELLWEIN, sich mit der Feststellung begnügt, daß diese lediglich Zwecke und Grenzen der Staatstätigkeit andeuteten. A m Beispiel der Sozialstaatsklausel 3 7 habe ich darzulegen versucht, wie diese Staatszielbestimmung sich auswirkt, ohne daß dabei allerdings der politische Entscheidungsraum unangemessen eingeengt wer35 36

S. 1309. S. 1099f, 1141.

37

S. 477 ff.

ERNST

1341

BENDA

den darf. KRIELE pien von Freiheit Grundrechte, als Erfordernis eines

zieht aus den „sogenannten ,Grundwerten'", als die er die Prinziund Gleichheit wertet 3 8 , Folgerungen weniger für den Bereich der vielmehr für die Staatsorganisation 39 . Auch GRIMM 40 bezieht das Fundamentalkonsenses vornehmlich auf die Verfahrensstrukturen.

Eine zunehmende Wertschätzung von Verfahren und Organisation läßt sich auch in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts feststellen 41 . Wesentlichstes Ziel ist hierbei aber, die Geltungs- und Wirkkraft der Grundrechte zu verstärken. So mag auch KRIELE zu verstehen sein; es trifft gewiß zu, daß die hohen Werte der Freiheit und der Gleichheit institutioneller und verfahrensmäßiger Sicherungen bedürfen, wie etwa der Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze oder einer Verteilung der Staatsgewalt auf mehrere, sich gegenseitig kontrollierende und mäßigende Träger. Die Entscheidungen der Verfassung sind „nicht allein Grenzmarkierungen, sondern zugleich Richtwerte für das Handeln aller Staatsorgane" 4 2 . Die historische und rechtsphilosophische Rechtfertigung des Grundkonsenses als notwendiger Grundlage eines Gemeinwesens, in dem sich die Bürger unter den Gesetzen in einem Staat zusammenfinden, ist von MAIHOFER43 dargestellt worden. Man mag die Grundprinzipien entsprechend den Idealen der Französischen Revolution auf die großen Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zusammenführen 44 . Jedenfalls die nach Art. 79 Abs. 3 G G unabänderlichen obersten Verfassungsprinzipien, wie das Bekenntnis zur Menschenwürde sowie die Entscheidung für den demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Bundesstaat erfordern den Konsens in Staat und Gesellschaft. Sie sind nicht schon dann gewährleistet, wenn die tragenden Grundsätze der Staatsorganisation gesichert und wenn die politische Willensbildung und die Durchführung der getroffenen Entscheidungen rechtlich gewährleistet sind. 3. Konsens in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft In der jungen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland finden sich wichtige Kontroversen, in denen zugleich nach dem Grundverständnis der Verfassung gefragt wurde. Die meisten dieser großen Auseinandersetzungen gehören der Vergangenheit an; die Entwicklung ist über sie hinweggegangen. Der Streit um die Wiederbewaffnung 1955 oder der Kampf um die Atomwaffen von 1959 scheint heute mit den Auseinandersetzungen um den Nachrüstungsbeschluß und dem Entstehen der F r i e densbewegung' in vergleichbarer Weise wiederaufzuleben; es kann sein, daß der bisher bestehende Grundkonsens über die Notwendigkeit und den Sinn militärischer Verteidigung erneut auf die Probe gestellt wird. Aber die historischen Vorgänge vor mehr als zwei Jahrzehnten hatten eine andere Qualität; während die damals aufgeworfenen Fragen vorwiegend an die unvergessene unmittelbare Vergangenheit des militärischen, politischen und moralischen Zusammenbruchs von 1945 anknüpften,

38

S. 129 .

42

39

S. 132f.

4 0

S. 378.

41

hierzu

HESSE

S. looff.

SIMON S .

1281.

43

S. 178ff.

4 4

MAIHOFER S. 173 ff.

1342

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

geht es heute um Probleme, die nicht so sehr spezifisch deutsche Fragen sind, als vielmehr Sorgen und Ängste um das Schicksal der ganzen Menschheit. Andere Auseinandersetzungen früherer Jahre, wie die jahrelangen erbitterten Debatten um die Notstandsverfassung bis 1969, sind heute fast vergessen. Auch in den Beiträgen der Autoren erscheinen solche Kontroversen allenfalls am Rande. Dies gilt etwa auch für den Streit um die Entscheidungen des Parlaments und des Bundesverfassungsgerichts zur Schwangerschaftsunterbrechung. Ihre leidenschaftliche Diskussion zu Anfang der siebziger Jahre läßt sich als Indiz für einen möglicherweise zerbrechenden Konsens in einer Grundfrage menschlichen Zusammenlebens verstehen; aber auch diese Frage scheint keine aktuelle Bedeutung mehr zu haben. In einem Handbuch, das sich in erster Linie mit den Fragen der Gegenwart und der Zukunft befassen will, braucht das Fehlen von Stellungnahmen zu früheren, heute überholten Problemen nicht bedauert zu werden. Für heute ist es aber wesentlich zu wissen, ob solche früheren Auseinandersetzungen Wunden oder Narben zurückgelassen haben. Ich glaube aber das Schweigen der Autoren richtig dahin zu deuten, daß dies nicht der Fall ist. Das Bundesverfassungsgericht, das in Kontroversen der erwähnten Art oft das letzte W o r t hat, bemüht sich, durch seine Entscheidung nicht nur den Streit zu beenden, sondern auch befriedend zu wirken. O b dies stets gelingt, mag dahinstehen. Man wird kaum annehmen dürfen, daß die Entscheidungsgründe z . B . des Urteils zur Schwangerschaftsunterbrechung jeden überzeugt haben; dem Streit vor dem Urteil folgte eine nicht weniger intensive und kontroverse Diskussion der Gerichtsentscheidung. Aber damit ist die Frage nicht beantwortet, ob bisher die Mechanismen funktioniert haben, mit denen die Probleme bewältigt werden und Konsens erhalten werden kann. Hierfür ist nicht eine vollständige Einigkeit in der Sachfrage erforderlich, wohl aber, daß das Verfahren des Friedensschlusses auf Grund der Entscheidung des höchsten Gerichts akzeptiert wird. Dies setzt die Bereitschaft voraus, die eigene, vielleicht nach wie vor abweichende Meinung für nicht so wichtig zu halten wie den Eigenwert, der in der Beendigung des Streites liegt. Vom Streit der Meinungen kann Fortschritt, d . h . die Entwicklung zum Besseren, erhofft werden; dies rechtfertigt den mit dem Streit verbundenen Aufwand und die Reibungsverluste, die er verursacht. Aber am Ende jeder noch so kontroversen, intensiven und mühsamen Diskussion muß eine abschließende Entscheidung stehen, wenn statt des erhofften Fortschritts nicht Stillstand eintreten soll. Die schließliche Entscheidung — parlamentarischer Mehrheitsbeschluß oder Verfassungsgerichtsurteil — ist nicht nur rechtlich verbindlich, sondern bewirkt auch, jedenfalls im Idealfalle, Konsens durch Überzeugungskraft. Sonst muß die Bereitschaft genügen, die Entscheidung zu akzeptieren. Auch dies ist nicht wenig, und mindestens dies scheint bisher im wesentlichen gelungen zu sein. Insoweit läßt sich feststellen, daß die Konfliktsmechanismen funktioniert haben; der heute erforderliche Konsens ist nicht oder nicht mehr durch Hypotheken belastet, die aus der Vergangenheit herrühren. Wie die gegenwärtige Lage beurteilt wird, ist weniger sicher. Zwar hat keiner der Autoren die Beurteilung von MAIHOFER übernommen, nach der wir uns in einer

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BENDA

„epochalen Krise" befinden 45 , in welcher ein säkularer Umbruch aller Werte stattfinde. Auch die Äußerungen von M A I H O F E R in diesem Handbuch 46 deuten, indem sie an geschichtlich überlieferte Ideale anknüpfen, eher auf Kontinuität der Entwicklung als auf Umbruch und totale Neuorientierung. Aber ich selbst habe in meinem Beitrag 47 von dem verunsicherten Lebensgefühl der Zeit, von Zukunftsangst und dem Bewußtsein einer sich rasch nähernden, in Richtung und Ausgang nicht berechenbaren Zeitenwende gesprochen 48 . Ähnlich bezeichnet GLOTZ49 die Gegenwart als eine „Zeit der auseinanderfallenden Wertorientierung", für welche die „Segmentierung" der Gesellschaft kennzeichnend sei. KRIELE befürchtet eine (von ihm in den Einzelvorgängen nicht näher konkretisierte) Tendenz, wesentliche Grundentscheidungen der Verfassung nicht mehr ihrem Sinn entsprechend zu vollziehen; dies geschehe sogar im Bereich staatlicher Institutionen, etwa bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten oder auch in Regierung und Gesetzgebung 50 . Andere Autoren beklagen das verbreitete Anspruchsdenken der Menschen, das den Staat auf ein Dienstleistungsunternehmen reduziere 51 , dem man bei möglichst geringem eigenem Beitrag ein Höchstmaß an sozialen Leistungen abnehmen wolle. Das Stichwort von der „Staatsverdrossenheit" taucht immer wieder auf. Dies führt zu der Frage, wie man auf den anscheinend schwindenden Konsens reagieren sollte. Hierzu äußern sich einerseits SIM O N 5 2 und D E N N I N G E R 5 3 mit der Warnung vor einem „überzogenen Grundordnungsschutz", andererseits K R I E L E 5 4 und wohl auch ISENSEE 5 5 mit der Forderung nach entschiedenerer Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung. Dies ist die gleiche Kontroverse, welche im politischen Bereich nicht nur in der Verfassungsdebatte von 1974, sondern auch in vielen anderen Auseinandersetzungen immer von neuem ausgetragen wird, ohne daß sich gegenwärtig erkennen ließe, daß der hier zerfallende Konsens wiederhergestellt werden kann. Ein anderer, prinzipiell wesentlicher Dissens zu der Integrationstendenz des Grundgesetzes klingt in dem Beitrag von F U C H S an. Sie bezeichnet die „Generalklausel des Gemeinwohls" als eine „inhaltsleere Formulierung" 56 . Wer dem zustimmt, wird eher auf kämpferische Auseinadersetzung denn auf gegenseitige Rücksichtnahme und das Bemühen um Integration setzen. Demgegenüber möchte ich an meiner Auffassung festhalten, nach der die Sozialstaatsklausel wie das Gebot der Gemeinwohlbindung wesentlich nicht als inhaltliche, sondern als methodische Prinzipien zu verstehen sind, aus denen sich u. a. das auch verfassungsrechtliche Gebot zu verantwortungsbewußtem Verhalten auf allen Seiten ergibt 57 . Auch D E N N I N G E R 5 8 sieht das Gemeinwohl als einen organisatorischen Begriff. Ganz ähnlich nennt GRIMM59 das

Vgl. S. 1336. S. 1 7 3 f f . S. 4 7 7 f f . S. 5 2 5 f . S. 1012. S. 1 5 2 f f , 1 6 3 f f .

53

51

V g l . e t w a ISENSEE S . 1 1 5 7

59

52

S. 1276.

45 46 47 48 49 50

54 55 56 57 58

S. S. S. S. S. S. S.

1327. 163ff. 1165. 750. 552. 1326. 375.

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

1344

Gemeinwohl „eine aus dem Prozeß der Meinungs- und Willensbildung sich erst ergebende Variable". Dabei folgt aus der Verpflichtung des Staates auf die Wahrung des Gemeinwohls nicht etwa eine Befugnis zur „Tarifdiktatur", sondern das Recht und unter Umständen seine Pflicht, gemeinwohlschädlichen Auswirkungen des Freiheitsgebrauchs bei Ausübung der Tarifautonomie wie bei jedem anderen Freiheitsgebrauch durch Einzelne oder Gruppen zu begegnen 6 0 . Ähnliche Unterschiede der Auffassungen oder doch der Akzentuierung sind auch in vielen anderen Einzelfragen festzustellen. Hieraus läßt sich aber nicht auf ein Fehlen des Grundkonsenses schließen, und auch sonst sollten sie in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden. Hier oder da mag das Bemühen um prägnante Formulierung eine Aussage drastischer klingen lassen, als sie vielleicht gemeint ist; dabei muß sich natürlich jeder Autor bei dem von ihm gewählten Wort nehmen lassen. Eindrucksvoll ist andererseits, daß die Autoren, die auch politisch hervorgetreten sind, es im ganzen verstanden haben, unbeschadet ihrer unterschiedlichen parteipolitischen Bindung tagespolitische Fragen aus der verfassungsrechtlichen Diskussion herauszuhalten. Dies ist zunächst eine Frage des einem Handbuch angemessenen Stils, dann aber auch ein Ergebnis der Fähigkeit, Grundsätzliches von weniger Wichtigem zu trennen. O b diese Fähigkeit vorhanden ist, bildet eine wesentliche Voraussetzung für das Bestehen und die Erhaltung des Grundkonsenses. Dies war bei der Parlamentsdebatte von 1974 ganz anders. Eine parlamentarische Auseinandersetzung will aber auch gewisse Erwartungshaltungen der jeweiligen Anhänger erfüllen, die man bei dem Leser eines Handbuches nicht vermuten wird. Hinsichtlich der Notwendigkeit eines Grundkonsenses geht wohl die Auffassung von KRIELE am weitesten: die „Legitimität der Verfassungsordnung" stehe oder falle mit dem Konsens über die Geltung des Satzes, daß jeder gleichen Anspruch auf Freiheit und Würde habe 6 1 . Gewiß handelt es sich hierbei um ein zentrales Verfassungsprinzip, das einen Konsens erfordert und auch finden wird, jedenfalls bei den Autoren, die sich in vielen Grundfragen so selbstverständlich einig sind, daß sie dies nicht stets ausdrücklich betonen mußten. Die tatsächliche Wirkkraft des Grundgesetzes hängt davon ab, daß der Anspruch auf unbedingte Achtung der Menschenwürde unbestritten bleibt und in der Lebenswirklichkeit durchgesetzt werden kann; aber die Legitimität der Verfassungsordnung bleibt selbst dann bestehen, wenn diese Ordnung mißachtet würde. Die „Ewigkeitsentscheidung" des Art. 79 Abs. 3 G G erklärt einige fundamentale Prinzipien der Verfassungsordnung für unabänderlich. Dies beruht nicht auf der Illusion, daß sich durch Rechtsnormen die Wirklichkeit festschreiben ließe; es soll aber eindeutig festgestellt werden, daß in einem solchen Falle die 1949 auf der Grundlage eines breiten und bis heute fortbestehenden Konsenses gelegten Fundamente des Gemeinwesens gegen den klaren Willen der Verfassung verändert und zertrümmert wären. Die Rechtsordnung kann den erforderlichen Konsens nicht erzwingen; aber sie kann ihn doch stärken und festigen, vor allem dadurch, daß die Verfassung im po-

60

Vgl. hierzu S. 535.

61

S. 132.

1345

ERNST BENDA

litischen Alltag ernst genommen wird. „Man muß auch wissen, was rechtens ist" 6 2 . Nur wenn die Verfassung wenigstens in ihren tragenden Prinzipien den Menschen bewußt ist, kann sie Konsens und Integration bewirken. Insoweit besteht kein Anlaß für Pessimismus. Die gelegentlich geäußerte Befürchtung, das Grundgesetz als die oberste Ordnung der Gemeinschaft sei der Masse der Machtadressaten „völlig fremd" geblieben (LÖWENSTEIN), halte ich für unzutreffend. Dabei reicht allerdings die in den Schulen und in der politischen Bildung oft liebevoll gepflegte Vermittlung von Kenntnissen über die Staatstechniken („wie entsteht ein Gesetz?") nicht aus. Viel wichtiger ist die bewußte Anerkennung der tragenden Prinzipien der Verfassungsordnung. Dabei mag in mißverstehender Ausdeutung der wohl den meisten Bürgern bekannten und bei ihnen populären Grundrechtsnormen sich die Vorstellung gebildet haben, daß der einzelne dem Gemeinwesen gegenüber vor allem ein Recht auf Freiheit und auf ein wie immer verstandenes „Glück" habe, während die staatsbürgerlichen Pflichten in Vergessenheit geraten sind. Anlaß zur Skepsis besteht auch insofern, als die emotionale Bindung des Bürgers an seinen Staat nur schwach entwickelt ist; viele mißverstehen den Staat nur noch als ein gigantisches Service-Unternehmen. Für die Staatspflege, welche die Identifikation des Bürgers mit dem Staat fördert, wird allzu wenig, genauer gesagt: so gut wie nichts getan. Hier entsteht allmählich ein immer gefährlicheres Defizit. Der Konsens in Grundfragen, der in den Einzelbeiträgen festzustellen ist, ergibt sich auch aus dem ganz überwiegend verfolgten „Grundgesetzpositivismus". Die Auswahl der Autoren kann wohl nicht beanspruchen, für den Stand der in Wissenschaft und Politik vertretenen Meinungen völlig repräsentativ zu sein; aber die Pluralität der Auffassungen spiegelt sich doch in den oft unterschiedlichen methodischen und inhaltlichen Ansätzen der Einzelbeiträge wider. Nirgends wird jedoch die Verbindlichkeit der Verfassung grundsätzlich in Frage gestellt. Keiner der Autoren wird den Vorwurf akzeptieren, er nähme den Geltungsanspruch der Verfassung nicht ernst. Vielmehr ergibt sich das Bemühen, den Prinzipien des Grundgesetzes auch dort Geltung zu verschaffen, wo sich die Verhältnisse seit 1949 wesentlich geändert haben oder wo überkommene Wertvorstellungen zu zerbrechen scheinen. Dies kann allerdings zu einem gewandelten Verfassungsverständnis führen. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß dann, wenn die Realität zu sehr vernachlässigt werde, die Gefahr einer Schwächung der normativen Kraft der Verfassung bestehe 63 . Hieraus folgt nach dieser Vorstellung die Notwendigkeit zeitgerechter Interpretation, die einem starren Festhalten an überkommenen, aber seither überholten Vorstellungen vorzuziehen sei. Diese Überlegungen führen in das Thema des Verfassungswandels, auf das noch zurückzukommen sein wird. Zu den im wesentlichen übereinstimmend beurteilten Grundfragen gehört das föderalistische Prinzip, das allseits eine sehr hohe und positive Einschätzung erfährt; dies deckt sich, wie oben 64 dargestellt, mit dem Ergebnis der politischen Diskussion. Vielfach wird eine Tendenz zur Unitarisierung der Bundesrepublik festgestellt; diese 62

KRIELE S .

63

GRIMM S . 3 5 9 .

158.

64

S. 1337.

1346

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

Entwicklung wird allgemein, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, bedauert. Ganz übereinstimmend wird auf die hiermit verbundene Gefahr einer „Konkordanzdemokratie" und auf den zunehmenden Funktionsverlust der Landesparlamente hingewiesen 6 5 . Dies ist eine für die Konsensfrage interessante Entwicklung: das föderalistische Prinzip, das nach einer aber wohl übertreibenden Legendenbildung beim Entstehen des Grundgesetzes wesentlich auf den Einfluß der Besatzungsmächte zurückging, war ursprünglich kaum von einem breiten Grundkonsens in der Bevölkerung gedeckt. Hierzu wird beigetragen haben, daß die neugebildeten Bundesländer mit Ausnahme von Bayern und den Stadtstaaten Kunstgebilde waren, die sich auf keine historisch gewachsene Tradition berufen konnten. Inzwischen haben sich die Bundesländer, auch das bei seiner Entstehung leidenschaftlich umkämpfte Land Baden-Württemberg, im Bewußtsein der Bevölkerung fest verankern können. Der Neugliederungsauftrag (Art. 29 G G ) scheiterte zunächst am Besitzstandsdenken der Politik, fand aber auch bald in den Wünschen der Bevölkerung keine Unterstützung. So wurde aus der ursprünglichen Rechtsverpflichtung zur Neugliederung eine bloße Ermächtigung, an deren Verwirklichung niemand mehr glaubt. Dies ist übrigens auch ein Beispiel für Verfassungswandel, der sich in dem vom Grundgesetz gewollten Formen vollzogen hat. Die Verfassungsordnung, die das Bundesstaatsprinzip in heute allgemein akzeptierter Weise verwirklicht, hat eine bewußtseins- und konsensbildende Kraft bewiesen. Hierfür kann man nur dankbar sein. In vielen Teilen der Welt führt der Regionalismus zu Spannungen und Eruptionen. Viel politische und wirtschaftliche Kraft wird in sinnlosen und oft gewaltsamen Auseinandersetzungen gebunden, vor allem in bisher zentralistisch regierten Staaten. Der Bundesrepublik Deutschland ist ein solcher Konflikt glücklicherweise erspart geblieben. Niemand vermag mit Sicherheit vorherzusagen, ob der heute bestehende Konsens sich auch in Zukunft als tragfähig erweisen wird. Größere Belastungsproben sind bisher ausgeblieben 6 6 ; vielfach wird aber mit guten Gründen vermutet, daß dies nicht so bleiben wird. Das Gefühl, in einer Zeit des Umbruchs und der Unsicherheit zu leben, ist mehr als eine bloße Emotion; jedenfalls aber ist eine solche Bewußtseinsbildung selbst eine Realität, die Folgen haben wird. Die Unruhe und Unrast vieler Menschen, nicht nur in der jungen Generation, kann zu erheblichen politischen Veränderungen führen, die stets hohe Anforderungen an die Tragfähigkeit des Konsenses stellen. Die „starke Immobilität des Parteiensystems", von der GRIMM 67 noch ausgeht, wird wohl so nicht bestehen bleiben. Die Entwicklung alternativer und „ g r ü n e r " Gruppierungen und der hiermit zusammenhängende drohende Funktionsverlust der F . D . P . deuten auf bevorstehende grundsätzliche Veränderungen. Sie werden entweder zur Bildung neuer parlamentarischer Kräftefelder oder zur Formierung eines veränderten Selbstverständnisses bei den „etablierten" Parteien führen. In der Gesellschaft scheinen traditionelle Wertvorstellungen zu zerbrechen; jedenfalls werden sie in ihrer Wirkkraft schwächer. Die überkommenen wertebilden-

65

GRIMMS. 364; VOGELS. 8 5 6 f ; G L O T z S . 1043,

66

H E S S E S. 2 1 .

E L L W E I N S . 1111 f.

67

S. 345.

1347

ERNST BENDA

den und -erhaltenden Institutionen — Kirchen oder Weltanschauungsgemeinschaften, Elternhaus, Familie oder Schule — können ihre Funktion nicht mehr mit der ihnen früher wie selbstverständlich zufallenden Autorität erfüllen. In dem Maße, in dem dies geschieht, werden auch die in der Verfassung enthaltenen Wertvorstellungen fragwürdig. Andererseits ergibt sich noch drängender die Frage, ob eine Verfassung die Befugnis und die Fähigkeit hat und haben soll, solche inhaltlichen Werte wenigstens ersatzweise zu verteidigen, oder ob sie sich dem vermuteten Zeitgeist anpassen sollte. Schon heute hochaktuell ist das Problem der Wahrung und Durchsetzung des Rechts gegenüber denen, welche die Rechtsordnung nicht mehr respektieren, also die befürchtete Krise des Rechtsstaats 68 . Gleichgewichtig hierzu stellt sich die Frage nach der Fähigkeit des Sozialstaats, soziale Sicherheit auch in einer Lage zu gewährleisten, die durch stagnierendes Wirtschaftswachstum und die sich aus dem Bevölkerungsrückgang ergebende Gefährdung des Generationsvertrages gekennzeichnet ist. Dies ist der „Ernstfall des Sozialstaats" (FORSTHOFF). Hierzu haben sich vor allem MERTEN und ZEIDLER 6 9 mit skeptischen und kritischen Bemerkungen geäußert. Noch stärker wird der Grundkonsens durch die ganz aktuelle und zunehmend umstrittene Frage auf die Probe gestellt, wie die Erhaltung der gefährdeten Umwelt mit den Bedürfnissen wirtschaftlichen Wachstums in Einklang gebracht werden kann. Ein weiterer gegenwärtig intensiv diskutierter Problembereich betrifft den Andrang von Ausländern als Asylbewerber oder als Arbeitssuchende. Diese Fragestellung, wie auch andere wichtige Sachthemen, tauchen in den Beiträgen dieses Handbuches nicht auf. Sie wird aber den Autoren, die nach dem Grundkonsens fragen, bewußt gewesen sein und ihre Überlegungen beeinflußt haben. Gerade angesichts der sich aus derartigen Problemen ergebenden Unsicherheit über die künftige Entwicklung ist die positive Grundstimmung eindrucksvoll, welche die Mehrzahl der Beiträge kennzeichnet. Mängel und Schwierigkeiten werden nicht verschwiegen; während sich aber im politischen Bereich eine Alarmstimmung zu entwickeln scheint, die von der zunehmenden „Unregierbarkeit" der modernen Industriegesellschaften spricht, besteht bei den Autoren ganz überwiegend Vertrauen auf den Konsens und auf die Anpassungsfähigkeit der Verfassungsordnung gegenüber neuen Problemstellungen sowie in die Selbstheilungskräfte des politischen Systems 70 . Man kann dieser Tendenz zustimmen, nicht nur aus emotionalen Gründen oder als Ausdruck eines Wunschdenkens, sondern auch auf Grund historischer Erfahrung. In einer Zeit, in welcher das heute bestehende Maß an Freiheit und auch an noch immer bestehendem Wohlstand vielen selbstverständlich geworden ist, wird leicht vergessen, mit welchen für die Jüngeren kaum vorstellbaren Schwierigkeiten und Belastungen die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zusammenbruch von 1945 fer-

68

Hierzu vor allem KRIELE S. 152 ff, 163 ff; vgl. a u c h b e i m i r S . 501 ff.

69

MERTENS. 794ff;ZEIDLERS. 588ff.

70

Hierzu allgemein HESSE S. 15 ff; zur Parlamentarismuskritik SCHNEIDER S. 290ff; zum P r o b l e m d e r „ U n r e g i e r b a r k e i t " ELLWEIN S.

1136 ff.

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

1348

tig werden mußte. Die Bewältigung der materiellen Not und der katastrophalen Folgen des verlorenen Krieges war schwer genug. Noch belastender war der moralische Zusammenbruch, die notwendige, aber gerade die nicht moralisch Anspruchslosen bedrückende Scham über die Untaten des Nationalsozialismus und die Passivität vieler Deutscher angesichts des offenkundigen Unrechts. Hinzu kam die Teilung des Landes, die einen zusätzlichen Verlust an Nationalbewußtsein und Geschichtsverständnis zur Folge hatte. Dies alles erschwerte den staatlichen Neubeginn; solche Belastungen waren nicht geringer als die heute erkennbaren künftigen Gefährdungen, so ernst diese auch zu nehmen sind. Wie man an diese Erfahrung anknüpfen und aus ihr Ermutigung und Zuversicht für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben schöpfen und vermitteln kann, ist eine Aufgabe, die weit über den Bereich des Verfassungsrechts hinausgeht. Wichtigste Voraussetzung für die Erhaltung des Konsenses ist vor allem Bildung und Erziehung im Geist der Verfassung 71 . Man mag darüber streiten, ob die allgemeine Bildungsproblematik wirklich „ d i e soziale Frage des 20. Jahrhunderts" bildet, wie GLOTZ72 meint; richtig ist jedenfalls, daß der Schutz der Verfassung und ihre Verwirklichung im politischen und gesellschaftlichen Alltag nur möglich sind, wenn die Gemeinschaft aller Bürger die Verfassung innerlich annimmt und sich für ihre Verwirklichung einsetzt. Dies setzt etwa verstärkten staatsbürgerlichen Unterricht voraus, der das Verständnis von Toleranz, Demokratie und Freiheit vermittelt 73 . Es war daher ein relevanter Beitrag zur Verfassungsdiskussion, wenn die Debatte von 1974 sich mit Rahmenrichtlinien auseinandersetzte, die nach der von ihren Kritikern vertretenen Meinung nicht solche Werte, sondern den Konflikt als wichtigsten Bildungsinhalt heraustellten. Viele Autoren weisen auf den Zusammenhang der Verfassung mit der deutschen und westlichen Verfassungstradition hin. Stets werden geschichtliche Erfahrungen durch bessere Erkenntnisse ergänzt und modifiziert werden müssen 74 . Es hat aber grundsätzliche Bedeutung für die Schaffung und Erhaltung eines Grundkonsenses, daß viele Autoren sich ganz übereinstimmend auf die Verfassungstradition berufen 75 . Eine der schlimmsten noch fortwirkenden Folgen des Nationalsozialismus ist der heute in der Bundesrepublik Deutschland bestehende Mangel an Geschichtsbewußtsein, der um so bedrohlicher erscheint, als in der DDR die deutsche Geschichte systematisch und oft mit Geschick für die dort verfolgten politischen Zwecke in Anspruch genommen wird. Nur wenn in den Schulen, durch die politische Bildung und auch durch die Staatsrechtslehre dem Mangel an historischem Bewußtsein entgegengewirkt wird, besteht Aussicht, wenigstens schrittweise die verloren gehende Substanz der Nation zurückzugewinnen.

75

S o e t w a HESSE S. 3 , 5 ; MAIHOFER S. 1 7 3 f f ;

71

DENNINGER S . 1 2 9 3 f f .

72

S. 1 0 0 0 .

VOGEL

73

DENNINGERS. 1 3 0 3 .

1059;

74

HESSE S . 2 0 f f .

HEYDE S.

S.

810f;

ELLWEIN

317f.

S.

POSSER S. 1 0 9 4 ;

1206f;

SIMON

S. 899;

MIKAT

ISENSEE S.

1276;

S.

S.

1152f; GRIMM

ERNST

1349

BENDA

III. Zum Verfassungswandel 1. Notwendigkeit, Zulässigkeit und Grenzen des Verfassungswandels Viele Beiträge behandeln den Verfassungswandel als ein wichtiges, einzelne Autoren sogar als das zentrale Thema 7 6 . In meinem Beitrag im 4. Kapitel habe ich hierzu bereits ausführlich Stellung genommen 77 . Die häufige Behandlung des Themas allein würde es nicht erforderlich machen, hierauf in einer Schlußbemerkung zurückzukommen. Es entspricht aber der Zielsetzung des Handbuchs, diejenigen Themenbereiche aufzuspüren, in denen keine volle Übereinstimmung der Meinungen besteht, sondern Kontroversen von grundsätzlicher Bedeutung vorhanden sind. Daß dies vor allem für den Verfassungswandel festzustellen ist, gehört für mich zu den wichtigsten Ergebnissen der gemeinsamen Arbeit aller Autoren und Herausgeber. Wer vom Verfassungswandel spricht, fragt nach der normativen Geltung des Grundgesetzes. Selbstverständlich kann dieses, wie jede andere Rechtsnorm und wegen seines höheren Ranges innerhalb der Normenhierarchie in noch viel ernsthafterer Weise, Geltung und Befolgung beanspruchen. Andererseits muß entschieden werden, ob und in welcher Weise eine Grundordnung, die wichtige Teilfragen menschlichen Zusammenlebens regelt, auf Veränderungen der Lebenswirklichkeit reagieren soll, wenn die von der Rechtsordnung vorausgesetzten Verhältnisse nicht mehr bestehen. Die von der Verfassungsordnung geregelten Lebenssachverhalte oder die zu diesen bestehenden Auffassungen und Wertungen können sich im Laufe längerer Zeit erheblich verändern. Wenn dies geschieht, kann die Rechtsordnung nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen. Der Geltungsanspruch der Verfassung setzt ihre Akzeptanz durch die Bevölkerung, also jedenfalls ein Mindestmaß an innerer Zustimmung zum Norminhalt voraus. Regelungen, die angesichts erheblich gewandelter Verhältnisse als lebensfremd erscheinen, können nicht mehr auf solche innere Annahme hoffen. Umgekehrt könnte die Verfassung nicht beanspruchen, Rechtsnorm zu sein, wenn ihre Geltung von der beliebigen Entscheidung eines größeren Teils der Bewölkerung darüber abhinge, ob man sie befolgen soll oder nicht. Über die Verhältnisse und über Entwicklungstendenzen wird man stets streiten können, und in den wesentlichen Sachfragen bestehen gewöhnlich in der Bevölkerung unterschiedliche Auffassungen und Wertungen. Bereits die Feststellung, ob eine erhebliche Veränderung von Verhältnissen oder von Meinungen stattgefunden hat, ist daher mit vielen Unsicherheiten belastet. Wenn hiervon abhängig gemacht würde, was noch von Verfassungs wegen gilt, müßte am Ende die in der Tagespolitik schon recht beliebte Demoskopie die Rolle des Verfassungsinterpreten übernehmen. Dies wäre aber das Ende jeder Rechtssicherheit; es widerspräche auch, wenn dieser etwas pathetische Ausdruck gestattet ist, der Würde der Verfassung, von der ihre konsensbildende und -erhaltende Kraft abhängt.

76

S o HESSE S . 1 3 f ;

HOFFMANN-RIEM

S. 391;

ZEIDLER S. 556 und passim; VOGEL S. 829; ELLWEIN S. 1112; ISENSEE S. 1174; HEYDE

S. 77

1245f;

SIMON S .

1276;

GRIMM

345, 364f. Vgl. insbes. S . 5 0 0 f , 522ff, 546ff.

S.

341,

1350

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

Dies alles mag überzeichnet klingen; keiner der Autoren wird sich vorwerfen lassen wollen, eine so extreme Position vertreten zu haben. Aber das Grundproblem kann so deutlich werden. Verfassungswandel ist ein hochaktuelles Thema, wenn auch über die Art, das Ausmaß und die Richtung wesentlicher Veränderungen in der Lebenswirklichkeit ganz unterschiedliche Meinungen bestehen. Die Gegenwart wird fast allgemein als eine Zeit des raschen gesellschaftlichen Wandels empfunden. Die bisher vergangenen drei Jahrzehnte der Geltung des Grundgesetzes — die einem Generationenwechsel üblicherweise zugrundegelegte Zeitspanne — sind schon für sich ein beachtlicher Zeitraum. Nicht nur das rasch herannahende Ende des 20. Jahrhunderts signalisiert, daß die Zeit nicht stehenbleibt. Prognosen über das Schicksal der sozialen Sicherung, die heute in die politische Diskussion einfließen, beschäftigen sich mit dem 2030, das nur die Jüngsten der heute Lebenden noch erreichen werden. Untersuchungen zu Bevölkerungsentwicklungen, Ressourcenforschungen und ähnliches gehen über diesen Zeitpunkt weit hinaus. Auch das Bewußtsein, daß die heute Lebenden eine Mitverantwortung für künftige Generationen tragen, ist zu Recht gewachsen; zugleich ist aber die Zukunft weniger berechenbar denn je. Wenigstens scheint dies so, zumal der älteren Generation, die in unserem Lande in wenigen Jahrzehnten unerhörte Krisen und gewaltige Veränderungen erlebt hat. So entwickelt sich das Gefühl, daß die rasch fortschreitende Technik die Zeiträume, innerhalb derer mit drastischen Veränderungen zu rechnen ist, noch weiter verkürzen wird. Hinzu tritt ein modischer Trend, dem Zeitgeist zu huldigen, also Vorstellungen, die nur aus einer Augenblickslaune entstehen und alsbald wieder vergessen sein werden, für modern und daher, wie man meint, fortschrittlich zu halten, sie also in ihrer wirklichen Bedeutung zu überschätzen. Auf gesellschaftlichen Wandel kann eine relativ offene Verfassungsordnung am ehesten reagieren, als die HESSE78 das Grundgesetz zutreffend charakterisiert. Die offene Ordnung muß aber, wie an gleicher Stelle gesagt wird, mit verbindlicher Festlegung gepaart sein. Je offener die Aussagen der Verfassung sind, desto stärker kann sich die Demokratie entfalten, in der nach Maßgabe der Wahlentscheidungen und der Beschlüsse der Regierung und der parlamentarischen Mehrheit die jeweils zeitgemäße Lösung gesucht wird. Die Verfassung soll aber auch der staatlichen Tätigkeit Grenzen setzen, vor allem im Interesse des betroffenen Einzelnen; zugleich wird durch Staatszielbestimmungen und andere Verfassungsnormen der grundsätzliche Inhalt und die Richtung der politischen Entscheidung vorab bestimmt, diese also insoweit durch Verfassungsrecht beeinflußt. Im Grundgesetz geschieht dies, wie sonst wohl im wesentlichen unstreitig ist, jedenfalls in einem weitergehenden Umfange, als E L L W E I N anzunehmen scheint 79 . M.E. überschätzt er die Bedeutung von Organisation und Verfahren 80 , während der Einfluß der Grundrechte und Staatszielbestimmungen auf die inhaltliche Festlegung der Staatstätigkeit unterschätzt wird. Hierin soll sicher keine Mißachtung der Grundrechte liegen. Es kann auch positiv gewertet

78

S. 18.

79

S . 1 1 0 0 , 1141.

60

Insoweit gibt es bei K R I E L E S. 135, ein ähnliche Beurteilung wie bei E L L W E I N .

1351

ERNST BENDA

werden, wenn die Grundrechte als so selbstverständliche Begrenzungen staatlicher Tätigkeit gesehen werden, daß es ihrer ausdrücklichen Erwähnung kaum noch bedürfte. Aber es kommt schon auf die Akzente an. Mißverständnisse gibt es etwa bei dem immer neu entstehenden Streit um die Wirtschaftsverfassung. Sie ist, wie PAPIER zu Recht zeigt 81 , zwar nicht in einem bestimmten Sinne positiv festgelegt, etwa auf die Ordnung der sozialen Marktwirtschaft, aber sie muß doch vielfältige Grenzziehungen und Vorgaben vor allem des Grundrechtsteils beachten, um verfassungsgemäß zu sein. In der politischen Debatte wird dieser Sachverhalt immer wieder verdunkelt 82 . Ob man in dieser Situation die inhaltlich wenig klare Formel von der „wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes" gebrauchen sollte, ist dabei eine zweitrangige Frage. Um die Anpassung der Verfassung an sich ändernde Verhältnisse und Auffassungen zu ermöglichen, ohne dabei den Geltungsanspruch des Verfassungsrechts zu beseitigen, um also Beständigkeit im Wandel zu gewährleisten, verwendet das Grundgesetz vor allem bei der Beschreibung seiner leitenden Prinzipien oft „zukunftsorientierte Rechtsbegriffe" wie etwa die Sozialstaatsklausel 83 . Diese Prinzipien legen das Ziel fest, aber nicht die Einzelheiten seiner Verwirklichung. So wird eine den jeweiligen Erfordernissen der Zeit dienende Interpretation ermöglicht. Auch der Grundrechtsteil der Verfassung ist einem neuen Verständnis zugänglich. Ihre Funktion kann sich, der veränderten Form ihrer aktuellen Gefährdung entsprechend, von der reiner Abwehrrechte stärker hin zu Leistungs- und Gewährleistungsrechten wandeln 84 . Hinsichtlich der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG hat sich ein neues Verständnis gebildet, das von der gewandelten Funktion der verschiedenen Eigentumsarten als Mittel der Existenzsicherung und als Voraussetzung menschlicher Freiheit ausgeht; so sind etwa bestimmte öffentlich-rechtliche Ansprüche in den Grundrechtsschutz einbezogen worden 85 . Auch dies sind wichtige Beispiele für bereits eingetretenen Verfassungwandel. Entscheidend ist aber die Zielrichtung solchen Wandels: es geht um eine den Zeiterfordernissen angepaßte Effektuierung des Grundrechtsschutzes, tendentiell also um die Verstärkung des grundrechtlichen Schutzbereichs (so auch durch flankierende Verfahrensregeln), nicht aber um einen Abbau des Grundrechtsschutzes. Der wirkliche oder angebliche Wandel der Verhältnisse oder der Wertvorstellungen erlaubt es nicht, Grundrechte zu verkürzen. Auch der Hinweis auf veränderte Wertvorstellungen selbst einer Mehrheit innerhalb der Bevölkerung — soweit ein Auffassungswandel überhaupt feststellbar ist — rechtfertigt keinen Einbruch in den geschützten grundrechtlichen Bereich: „In demjenigen Bereich staatlichen Handelns, der vom Demokratieprinzip bestimmt ist, gilt der Grundsatz, daß die Mehrheit entscheidet. Die Grundrechte kennzeichnen dagegen den Lebensbereich, der einer Entscheidung von Mehrheiten nicht offensteht, in dem der Einzelne Autonomie beanspruchen kann. Hier liegen die Bezirke des Unabstimmbaren" 86 . 81

82 83

S. 6 0 9 f f ; insoweit zustimmend BADURA S. 690f. Vgl. oben S. 1337. Vgl. S. 522.

84 85 86

Vgl. hierzu HESSE S. 9 6 f f . Hierzu BADURA S. 6 5 6 f , 6 6 6 f f . ZEIDLER S . 5 6 3 f .

1352

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

Dies bedeutet konkret aber auch, daß etwa der besondere staatliche Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 G G ) unabhängig davon beansprucht werden kann, ob sich in der Bevölkerung das Eheverständnis verändert und eine große Anzahl der Menschen für sich eine andere Lebensform als die Ehe traditioneller Prägung wählen. Der Beitrag von Z E I D L E R 8 7 ist für das Problem des Verfassungswandels von besonderer Wichtigkeit; dies mag rechtfertigen, auf ihn ausführlicher als auf andere Beiträge einzugehen. Vielem kann ich zustimmen, so insbesondere den Ausführungen zum individuellen und kollektiven Elternrecht und ihrem Verhältnis zum staatlichen Erziehungsauftrag, auch der Kritik an der Rigorosität des neuen Ehescheidungsrechts und mancher anderen kritischen Analyse. Andererseits scheinen unsere Auffassungen dort auseinanderzugehen, wo die Möglichkeiten und Grenzen des Verfassungswandels in einem besonders wichtigen Lebensbereich erörtert werden; jedenfalls hoffe ich, durch einige kritische Bemerkungen zur weiteren Klärung einer Frage beizutragen, die im Hinblick auf den sich vielfach vollziehenden sozialen Wandel alsbald höchste verfassungsrechtliche Aktualität gewinnen könnte. Wie verfassungsrechtlich auf solchen Wandel reagiert werden soll, könnte eine zentrale Rechtsfrage schon der nahen Zukunft werden. In der Uberschrift zu Teil IV des Beitrages von Z E I D L E R 8 8 wird die Frage gestellt, ob „die Ehe" als Lebensform und Rechtsinstitut „obsolet" geworden sei. O b die Frage zu bejahen ist, wird nicht ausdrücklich gesagt, aber spätere Ausführungen 89 sprechen dafür; dort wird dargelegt, daß die Voraussetzungen, unter denen die Ehe „als solche" für förderungswürdig gelten konnte, heute „unter fast allen in Frage kommenden Gesichtspunkten entfallen sind", weil die soziale Realität des Lebens sich hinsichtlich dessen sexueller Aspekte verändert habe. Die Richtigkeit dieser Argumentation mag zunächst dahinstehen. Grundsätzliches Interesse hat, ob es verfassungsrechtlich möglich ist, daß ein grundgesetzlich gewährleistetes Rechtsinstitut wie die Ehe (deren wesentlicher Inhalt rechtlich klar zu umschreiben ist) 90 , dadurch obsolet werden kann, daß ein beachtlicher Teil der Bevölkerung sich dazu entschließt, von dieser Lebensform auf Zeit oder auch auf Dauer keinen Gebrauch zu machen, ohne daß irgendein Akt staatlicher Willensbildung hinzugetreten ist. Mindestens im Grundrechtsbereich halte ich dies nicht für möglich; es würde bedeuten, daß die Grundrechtsträger, die sich weiterhin auf den ihnen zugesagten besonderen Schutz der Ehe berufen wollen, darauf verwiesen werden, daß andere für sich selbst auf eine solche Gewährleistung verzichten. Wäre dies überhaupt denkbar, bedeutete es, daß insoweit der normative Geltungsanspruch der Verfassung von dem lediglich faktischen Verhalten eines Teils der Bevölkerung abhinge, der jedenfalls bisher nicht einmal eine Mehrheit darstellt. Unsicher ist dabei bereits, welchen tatsächlichen Umfang das Entstehen nichtehelicher Lebensgemeinschaften hat. Zweifellos gibt es solche Lebensgemeinschaften zumal bei jungen Menschen; über ihre genaue Zahl ist wenig bekannt 91 . Es gibt auch 87 88 89

S. 555ff. S. 574. S. 594.

90 91

Vgl. S. 581. ZEIDLER S. 576.

ERNST BENDA

1353

keine verläßlichen Feststellungen darüber, ob es sich dabei vor allem um „Ehen auf Probe", die schließlich in eine konventionelle Ehe münden, oder um eigenständige und auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften handelt 92 . Gleichgültig ist dies nicht; es geht ja nicht um eine moralische Bewertung des Vorganges, sondern um die Frage, ob durch solche Lebensformen die Ehe auf Dauer, jedenfalls tatsächlich, obsolet werde. Nach heute einhelliger Meinung wird das Institut der Ehe dadurch nicht gefährdet, daß nicht verheiratete junge Menschen intim zusammen sind. Früher galt das als ein Verhalten, das Eltern oder Vermieter, die es förderten oder duldeten, mit dem Kuppeleiparagraphen in Konflikt brachte. Ebensowenig verlangt die Rechtsordnung heute, daß Menschen, die nicht zu heiraten wünschen, dann auf eine sexuelle Betätigung verzichten. Am Rande möchte ich anmerken, daß es dem Gesetzgeber überlassen werden kann, die rechtspolitische Frage zu beantworten, ob und auf welche Weise an das Bestehen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft Rechtsfolgen zu knüpfen sind. Der besondere Schutz der Ehe gebietet nicht die Diskriminierung oder Bestrafung anderer Lebensformen. Ob der Gesetzgeber gut beraten wäre, mehr als einen vielleicht eng zu begrenzenden Fallbereich zu regeln, in dem schwerwiegende wirtschaftliche Folgeprobleme auftauchen, ist eine andere Frage. Nach Auflösung der Gemeinschaft wird sich schon ein Partner finden, der mißbraucht und ausgebeutet zu sein behauptet. Um festzustellen, welcher der Partner der sozial Schwächere ist, wird sich nicht umgehen lassen, in eine Prüfung von Art, Dauer und Intensität der beiderseitigen Beziehungen einzutreten. Die flüchtige Bekanntschaft über einige Wochen ist sicher anders zu bewerten als eine jähre- oder jahrzehntelange Gemeinschaft. Das neue Ehescheidungsrecht hat viele Schwächen. Immerhin hat es aber versucht, mit dem früher oft unvermeidbaren Nacharbeiten der gescheiterten Ehe und den angeblichen Ursachen ihres Scheiterns durch Anknüpfen an Trennungszeiten Schluß zu machen. Wer eine Ehe schließt, kann ungefähr vorhersehen, welche Folgen einer möglichen Scheidung sich für ihn ergeben werden. Wer eine rechtlich freie Bindung eingeht, deren Beginn wohl durch die richterliche Festeilung des Zeitpunktes zu fixieren wäre, zu dem intime Beziehungen aufgenommen worden sind, wird dagegen genötigt sein, dem Richter den Verlauf der Gemeinschaft in den Einzelheiten vorzutragen. Wer diesen Weg wählt, kommt daher vom Regen in die Traufe 93 . Wer eine faktische, rechtsfreie Gemeinschaft eingeht, entscheidet sich „für den insoweit rechtsfreien Raum": „es ist nicht möglich, zugleich bindungsfrei zu leben und die Wohltaten rechtlich geordneter Bindungen in Anspruch zu nehmen" 9 4 . Allenfalls kann es daher Rechtsschutz je nach den Umständen des Einzelfalles geben, der dann im einzelnen aufgeklärt werden müßte. Gewichtiger sind die Sorgen, die Z E I D L E R hinsichtlich der Gefährdung des Generationenvertrages und damit des Fortbestandes des Systems der sozialen Sicherung äußert 95 . Zuverlässige Prognosen sind dabei schwierig. Es ist auch nicht gesichert,

92 93

ZEIDLER S . 578. ZEIDLER S . 579.

94 95

ZEIDLER S . 584. S. 5 8 8 f f .

1354

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

ob die Ursachen für die abnehmende Geburtenfreudigkeit überwiegend im wirtschaftlich-materiellen Bereich zu suchen sind. Nur in diesem Falle würden Maßnahmen der Gegensteuerung auf diesem Gebiet Aussicht auf Erfolg haben. Soweit Zukunftsangst, ein verändertes Freiheitsverständnis, die verbreitete Unfähigkeit, Bindungen einzugehen oder die Vereinsamung der Menschen in einer anonymen Massengesellschaft denkbare Ursachen darstellen, lassen sie sich durch steuerrechtliche Maßnahmen oder eine Erhöhung des Kindergeldes nicht beseitigen. Dennoch ist dem Grundansatz zuzustimmen: eine stärkere materielle Förderung der Familien mit Kindern — einschließlich der sog. Halbfamilien — ist sozialpolitisch dringend erwünscht und verfassungsrechtlich geboten. Die jüngst ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. November 198 2 9 6 zur Besteuerung der Halbfamilien hat dies mit aller Deutlichkeit gesagt. Wieweit die bestehende Splittingvergünstigung für Verheiratete in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung verfassungsrechtlich geboten ist, braucht hier nicht vertieft zu werden. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet sie in seiner Entscheidung vom 3. November 1982, „unbeschadet der näheren Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers", als „eine an dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 G G und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepaare (Art. 3 Abs. 1 G G ) orientierte sachgerechte Besteuerung". Modifikationen, insbesondere eine stärkere Verlagerung der Vergünstigung auf die Familien mit Kindern, sind demnach möglich; andererseits gibt es wohl eine verfassungsrechtliche Grenze für Pläne, das Splitting drastisch einzuschränken. Regelungen in anderen Ländern, so in Frankreich, welche das Vorhandensein oder Fehlen von Kindern stärker berücksichtigen als die derzeit geltende Splittingregelung, könnten als Vorbild für eine gerechtere Ausgestaltung des Steuerrechts dienen. Leider denkt der Gesetzgeber nicht im Traum daran, freiwerdende Mittel aus einem Umbau des Splitting zu einer gezielten Familienförderung einzusetzen; soweit er, wie im Sommer 1982, Modifikationen des geltenden Steuerrechts erwägt, geht es nur darum, wieder einmal ein Loch im Haushalt zuzustopfen. Es ist daher durchaus nicht selbstverständlich, daß Umschichtungen im Splitting unter strikter Zweckbindung zugunsten einer Familienpolitik erfolgen 97 . Viele gute Gründe sprechen für eine gerechtere Steuerpolitik des Staates, die stärker als bisher dazu beiträgt, daß Kindererziehung keine unzumutbaren wirtschaftlichen Belastungen zur Folge hat. O b die Rechnung aufgeht, daß sich der Staat die Kinder, die er zur Sicherung des sozialen Netzes braucht, sozusagen kauft, mag dagegen zweifelhaft sein; es entspricht wohl auch nicht dem Geist des Art. 6 G G , Ehe und Familie auf solche Gesichtspunkte zu reduzieren. O b eine Ehe erst durch gemeinsame Kinder ihren tiefsten Sinn erhält, sollten die Eheleute selbst entscheiden. Eine Verfassungsordnung, welche die Ehe für nicht mehr förderungswürdig hält, weil sie nicht mehr das alleinige oder ein ausreichendes „Fundament für die Reproduktion der Spezies" 9 8 darstelle, nimmt eine solche m . E . unzulässige Reduktion vor. Sehr viele Menschen, nach wie vor die große Mehrheit der Bevölkerung, sehen mit großer 96

1 BvR 620/78 u.a.

97

Z E I D L E R S. 6 0 5 .

98

ZEIDLER S. 5 9 3 .

ERNST

BENDA

1355

Selbstverständlichkeit auch heute die Ehe als die natürliche Form des Zusammenlebens von Mann und Frau an. Dabei geht es nicht um religiöse oder sittliche Wertungen, die nicht Sache der Verfassungsordnung sind. Für die meisten Menschen bildet die Ehe, mag sie im konkreten Fall gut gehen oder nicht, nicht nur eine ideelle Gemeinschaft, sondern auch eine wirtschaftliche und sinnvolle Form der Lebensführung, und sie schafft klare rechtliche Verhältnisse. Der Staat hat daran, daß das Institut der Ehe fortbesteht, nicht nur ein ideelles Interesse. Die Entscheidung des Grundgesetzes, Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung zu stellen, ist nicht einfach eine verweltlichte Form, in der die — jedenfalls damals — vorherrschenden religiösen und ethischen Uberzeugungen aufgenommen wurden, oder gar nur eine Konzession an die Auffassung der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Ehe und Familie sind auch nicht gedankenlos als parallele, im Regelfall den gleichen Vorgang beschreibende Erscheinungsformen des sozialen Lebens mit der Folge nebeneinandergestellt, daß der Gesetzgeber innerhalb des Gesamtbereiches die Gewichte nach Belieben verschieben dürfte. Ehe u n d Familie sind gleichermaßen zu fördern. Bei der Familie findet dies seine besondere Rechtfertigung in dem Interesse der Kinder, auch dem Interesse des Staates an Kindern. Der besondere Schutz, den die Ehe erfahren soll, beruht auf der verfassungsrechtlichen Entscheidung, daß diese Form des Zusammenlebens förderungswürdiger erscheint als andere Lebensformen. Hieraus ergibt sich etwa für das Steuerrecht, daß das Einkommen von Eheleuten jedenfalls nicht stärker belastet werden darf als das gleich hohe Einkommen von Nichtverheirateten. Die auf Grund verfassungsgerichtlicher Entscheidung, welche dies festgestellt hat, eingeführte Splittingregelung kann, wenn sie Ehen steuerrechtlich günstiger stellt als Nichtehen, jedenfalls nicht als willkürlich im Sinne des Art. 3 A b s . l G G angesehen werden. Wenn man von allen diesen Wertungen und Prämissen absieht, die hier ohnehin nur in sehr verkürzter Form diskutiert werden können, bleibt immer noch der schlichte, aber völlig eindeutige Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 G G . Er gebietet es, Ehe u n d Familie staatlich zu fördern. Konkrete Ansprüche auf Steuervergünstigen oder staatliche Hilfen in bestimmter Höhe werden sich hieraus wohl nicht herleiten lassen; umgekehrt ist es aber nicht zulässig, die grundsätzliche Förderungspflicht für beide Bereiche zu mißachten. Selbst wenn der nach Auffassung von ZEIDLER eingetretene Wandel der Verhältnisse und Wertvorstellungen unbestritten wäre, würde sich hieraus nicht die Befugnis ergeben, die klare Entscheidung der Verfassung so umzudeuten, daß sie den jeweils eigenen Beurteilungen und Wertungen besser entspricht. Selbst wenn sich ein breiter Konsens in dem Sinne der von ZEIDLER vertretenen Meinung gebildet hätte, würde nichts anderes gelten können. In anderem Zusammenhang, in der Auseinandersetzung über die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der Neuregelung des § 218 S t G B , hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Behauptung zu beschäftigen, daß hinsichtlich der dort maßgeblichen fundamentalen sozialethischen und rechtlichen Prinzipien ein Wertewandel stattgefunden habe. Das Gericht hat es abgelehnt, hieraus Konsequenzen zu ziehen: „ A u c h ein allgemeiner Wandel der hierüber in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen — falls

1356

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

er überhaupt festzustellen wäre — würde daran (d. i. an dem Geltungsanspruch des Art. 2 Abs. 2 GG auch für das ungeborene Leben) nichts ändern können" 9 9 . Wollte man bereit sein, aus dem Wandel der Verhältnisse oder der Wertungen auf einen Verfassungswandel zu schließen, so müßten auch die Konsequenzen in anderen Bereichen bedacht werden. Vermutlich wird die Entscheidung des Art. 16 GG zugunsten eines sehr großzügigen Asylrechts auf Grund der tatsächlichen Entwicklung des Zustroms von Asylbewerbern von einem großen Teil der Bevölkerung heute nicht mehr uneingeschränkt begrüßt. Der Vorstellung der Verfassung von 1949 lag auch nicht die heutige Wirklichkeit zugrunde. Aufgenommen werden sollten nach den Erfahrungen der Zeit des Nationalsozialismus die einzelnen, wegen ihrer politischen Überzeugung oder wegen ihrer Abstammung Verfolgten; heute bemühen sich Millionen Menschen in den Entwicklungsländern auf der verzweifelten Suche nach einer menschenwürdigen Existenz um Aufnahme in den Industrieländern, und viele von ihnen kommen zu uns als Asylbewerber. Es ist eine schlichte Selbstverständlichkeit, daß diese Änderungen in den tatsächlichen Umständen und der Wandel der Auffassungen dem Gesetzgeber nicht das Recht verleiht, das Asylrecht abzuschaffen. Einem Konsenswandel Raum zu geben, könnte vielmehr nur durch eine Änderung des Grundgesetzes (die damit nicht empfohlen wird) bewirkt werden. Dies kann nicht anders sein, wo es um andere verfassungsrechtliche Grundentscheidungen, wie die des Art. 6 GG, geht. Es kann auch nicht angenommen werden, daß sich insoweit ein neuer Konsens gebildet hätte. 2. Reform der Verfassung Wenn sich Verhältnisse oder Wertvorstellungen nachhaltig ändern, insbesondere wenn der Konsens zerbricht und sich ein neuer Konsens bildet, dann ist regelmäßig die Verfassungsänderung der korrekteste Weg, um dem Rechnung zu tragen. Dem demokratischen und rechtsstaatlichen Prozeß der Staatswillensbildung entspricht die förmliche Feststellung, ob die hierfür erforderlichen qualifizierten Mehrheiten vorhanden sind. Außerhalb dieses geregelten Verfahrens kann Konsenswandel zwar behauptet werden, aber er läßt sich nur selten mit hinreichender Zuverlässigkeit feststellen. Es widerspräche auch den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie, einen neuen Konsens etwa mit Hilfe der Demoskopie zu ermitteln und so quasi-plebiszitäre Elemente einfließen zu lassen. Wenn die Verfassung da, wo dies erforderlich erscheint, dem neuen Bewußtseinsstand angeglichen wird, wird auch der Rechtssicherheit am ehesten gedient. Grundgesetzänderungen sind nicht leicht zu bewirken. Diese Schwierigkeit wirkt gedanklichen Kurzschlüssen oder nur aus der augenblicklichen politischen Lagebeurteilung motivierten Verfassungsänderungen entgegen, die leicht Gefahr laufen, den verfassungsrechtlichen Gesamtzusammenhang aus dem Auge zu verlieren, und daher nur mit größter Behutsamkeit in Betracht gezogen werden sollten. Es ist daher nicht, wie E L L WEIN meint 100 , lediglich eine Frage des politischen Stils, ob man eine Verfassungsänderung formell vornimmt oder ob man sich um 99

BVerfGE 39, 1 (67).

100

S. 1112.

ERNST

BENDA

1357

„anpassende Regelauslegung" bemüht. Eine solche „Anpassung" höhlt vielmehr die Normativität der Verfassung aus. Ebenso bedenklich ist übrigens der Vorschlag, daß der Bundespräsident bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes dieses einfach bis zum Ende der Legislaturperiode liegen lassen solle 101 . Es hat Einzelfälle dieser Art gegeben. Die heutige Staatspraxis verfährt zu Recht anders. Der Gesetzgeber und der dem Gesetz Unterworfene haben einen Anspruch darauf, innerhalb angemessener Frist zu erfahren, ob ein verfassungsrechtlich zweifelhaftes Gesetz gilt. Dies dient auch der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit. Die Zahl der bisher vorgenommenen sowie der — etwa von der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages — vorgeschlagenen Änderungen des Grundgesetzes ist wesentlich geringer als die Summe der Sachthemen, hinsichtlich derer in der politischen Diskussion ein Verfassungswandel behauptet worden ist. Schon dies spricht dafür, gegenüber der Behauptung eines Verfassungswandels vorsichtig zu sein. Wenn aus angeblichen Konsensänderungen nicht die Konsequenz gezogen wird, eine Grundgesetzänderung mindestens zu versuchen, dann muß man vermuten, daß die Änderungen der Verhältnisse oder der Wandel der Auffassungen zwar behauptet werden, hierfür aber die rechten Beweise oder auch die letzte eigene Überzeugung fehlen. In diesem Handbuch gibt es, anders als in der politischen Diskussion, nur wenige Anregungen, die Verfassung zu ändern. Änderungsvorschläge beziehen sich zumeist auf die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Eine auch politisch noch offene Frage ist die Aufnahme sozialer Grundrechte oder Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz; überwiegend werden solche Vorschläge abgelehnt. Auch die Anregungen der Enquete-Kommission zur Verfassungsreform werden zwar erwähnt, aber im ganzen nicht für besonders dringlich gehalten. Bei den meisten Autoren ist gegenüber Reformvorschlägen Zurückhaltung festzustellen. Auch hieraus läßt sich eine weitgehende grundsätzliche Ubereinstimmung und die Beurteilung entnehmen, daß sich das Grundgesetz im ganzen bisher bewährt hat und auch in der Zukunft seine Aufgabe erfüllen kann. Dies ist eine zuversichtliche Einschätzung, die ich für ganz zutreffend halte. 3. Gefahren für die Verfassungsordnung Schließlich sollen diejenigen Probleme erwähnt werden, bei denen sich nach Meinung der Autoren künftig Gefahren ergeben können. Eine ganze Reihe möglicher Gefährdungen wird genannt. Dies geschieht im einzelnen mit unterschiedlicher Akzentuierung. Im ganzen besteht aber über die wesentlichen Gefahrenpunkte weitgehende Ubereinstimmung. So werden Passivität vieler Menschen und ihre geringe Bereitschaft zum demokratisch bewußten Engagement genannt 102 , das verbreitete Anspruchsdenken, das sich dem Gemeinwesen gegenüber auf Rechte beruft, aber die eigenen Pflichten nicht wahrhaben will oder diese gering einschätzt 103 ; ferner der aus der Nachgiebigkeit gegenüber rechtswidrigen Verhaltens-

101

ELLWEIN S .

102

HESSE S. 2 3 .

1110.

103

M A I H O F E R S . 1 8 8 ; SCHNEIDER S . 2 9 2 ; M E R TEN S . 7 9 5 .

1358

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

weisen entstehende Legalitätsverlust des Staates 104 , aber auch geringe Bereitschaft, Mehrheitsentscheidungen anzuerkennen 105 . Auf der anderen Seite wird ein überzogener Schutz der Verfassung befürchtet, durch den der Bürger seinem Staat entfremdet werde 106 . Dies alles sind nur knappe Stichworte für komplexe Problembereiche, die auch bei anderen Autoren anklingen. Im einzelnen mag es recht unterschiedliche Einschätzungen geben. Allen Überlegungen liegt aber, so wenig sie stets zu den gleichen Schlußfolgerungen führen, die übereinstimmende und zutreffende Erkenntnis zugrunde, daß die künftige Bewährung der Verfassungsordnung davon abhängt, ob und inwieweit die Bürger selbst die Wertvorstellungen des Grundgesetzes bejahen, sie sich innerlich zu eigen machen und bereit sind, sich hierfür aktiv und notfalls auch unter Opfern einzusetzen. Dies ist letztlich wiederum die Frage nach dem verfassungsrechtlichen Grundkonsens. Dieser setzt voraus, daß der Bürger seinen Staat kennt. Dies gilt nicht so sehr im Sinne einer Gesetzes- oder Institutionenkunde oder überhaupt staatsrechtlicher Grundkenntnisse; gemeint ist vielmehr, daß der Staat in allen seinen Betätigungsformen für den Bürger erkennbar, greifbar und ansprechbar ist. Auch hier bestehen Gefahren, wie die von ELLWEIN107 befürchtete Entfremdung zwischen den Bürgern und der Rechtsordnung. Für besonders wichtig und erfreulich halte ich, daß meine Kritik an der Größe der Verwaltungseinheiten, die den Bürger dem Staat entfremde und ihm die Identifikation mit diesem unmöglich mache 108 , von mehreren anderen Autoren in ähnlicher Weise und mit gleicher Zielrichtung geteilt wird 1 0 9 . Ob auch die Politik rechtzeitig die schädliche Sucht nach immer größeren Einheiten in Verwaltung, Justiz, Gesundheits- und Erziehungswesen aufgeben wird, läßt sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Immerhin regen sich auch dort die Stimmen der Vernunft. Die allgemeine Finanzknappheit mag sogar helfen, zu bescheideneren, damit zugleich dem Bürger näheren Dimensionen zurückzukehren, wenn einmal der Irrglaube widerlegt ist, daß die größeren Einheiten billiger arbeiten könnten. Im Bereich der Staatsfunktionen und Institutionen wird vor allem die Schwächung der Parlamente festgestellt und beklagt. Dies gilt vor allem für die Landesparlamente, aber auch für den Deutschen Bundestag. In dieser Kritik sind sich viele Autoren einig, die sich mit Fragen des Parlamentarismus und den anderen Staatsfunktionen beschäftigen 110 . Eine andere Meinung vertritt ELLWEIN; er hat gegen die derzeitige faktive Aufgabenverteilung zwischen Exekutive und Legislative keine Einwendungen 111 . Ich möchte mich eher den kritischen Stimmen anschließen und dabei auch der Kritik von SCHNEIDER an der Diätenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 112 nicht widersprechen, das mit der Professionalisierung des Parlaments diesem einen „Bärendienst" erwiesen habe. Auch dies führt wieder zu dem Problem der Bürgernähe und der Möglichkeit für die Bürger zurück, sich mit dem Staat zu identi-

104

KRIELE S. 1 5 2 f f , 1 6 3 f f .

105

KRIELE S . 1 5 7 ; SCHNEIDER S . 2 9 0 .

106

DENNINGER S. 1 3 2 6 f ; SIMON S. 1276. S. 1 1 2 9 f f . S. 5 3 9 f f .

107 108

109

v . SIMSON S. 7 4 f ; ELLWEIN S. 1 1 2 9 f f ; VOGEL

110

Vor allem im 7. Kapitel. S. 1105. S. 255.

S. 858. 111 112

ERNST

BENDA

1359

fizieren. Wenn das Parlament „full-time-jobs" vergibt, die von Berufspolitikern ausgeübt werden, muß man sich nicht wundern, wenn der Bürger die Arbeit seiner gewählten Vertreter als Dienst vor allem an sich selbst mißversteht. Für ihn wird dann der Bundestag zu einem Arbeitsplatz wie andere auch, der allerdings ein relativ hohes Einkommen und einen guten sozialen Status verspricht. Bemerkenswert ist schließlich, daß die lange geführte Diskussion darüber, ob die Bundesrepublik Deutschland zu einem Richter- oder Justizstaat werde, kaum aufgenommen wird. Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts ist ganz unangefochten. Zwar wird gelegentlich an Einzelentscheidungen Kritik geübt. Sie fällt bisweilen höflich aus 1 1 3 , bisweilen auch deutlicher 1 1 4 . Die jahrelang in der Politik und der Publizistik geführte Diskussion über die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, die teilweise scharfe Kritik an den „Konterkapitänen" in Karlsruhe, die allerdings in letzter Zeit wieder abgeklungen ist, findet bei den Autoren des Handbuchs überhaupt keinen Widerhall. SIMON hat sich, dem ihm übertragenen Thema entsprechend, um eine sorgsam abwägende und differenzierte Beurteilung bemüht, der ich weithin zustimmen kann. Anscheinend ist die Funktion des Bundesverfassungsgerichts im übrigen kein ernstliches Thema. Dies steht im Gegensatz zu der zeitweise sehr lebhaften politischen Diskussion; auch bei dieser mag es aber in Wirklichkeit eher um die jeweiligen Anlässe und Sachfragen gegangen sein, welche Entscheidungen des Gerichts zur Folge hatten.

IV. Schlußbemerkung Der Aufgabenstellung der den Herausgebern übertragenen abschließenden Äußerungen entsprechend, habe ich mich um eine Erörterung derjenigen wesentlichen Fragen bemüht, die über die Einzelthemen der Beiträge hinaus grundsätzlichere Aussagen erforderten. Dabei sind einige Autoren ausführlicher, andere nur knapp und einige überhaupt nicht erwähnt oder kommentiert worden. Hierin liegt nicht etwa eine Beurteilung der Qualität der einzelnen Beiträge; über diese zu entscheiden, muß ich dem Leser überlassen. Soweit einzelne Beiträge nicht oder nur am Rande erwähnt worden sind, beruht dies auch darauf, daß ich ihrer Gesamttendenz im wesentlichen zustimmen kann. Dies bedeutet aber nicht notwendigerweise eine volle Übereinstimmung zwischen dem einzelnen Autor und mir in der Beurteilung jeder einzelnen Sachfrage.

1,3

So VOGEL S. 842: eine Auslegung, „ d i e gegen den Vorwurf des Übermaßes kaum verteidigt werden k a n n " .

114

So ZEIDLER S. 587: „Substanzarmut der U r teilspassagen"; in der Familie kann man ja schon einmal deutlicher werden.

Abschließende Äußerungen HANS-JOCHEN VOGEL

A. Allgemeines I. Aufgabe der Schlußbemerkung Das Grundgesetz beruht auf einer breiten Verständigung der seit Gründung der Bundesrepublik ununterbrochen im Bundestag vertretenen Parteien, also von C D U , SPD, CSU 1 und F.D.P. Diese Verständigung ist durch eine Einigung über wesentliche Elemente der Verfassung, so über die tragenden Strukturprinzipien, die Grundrechte und die wichtigsten Organisations- und Verfahrensregeln einerseits und das bewußte Offenhalten von künftigen Entwicklungsmöglichkeiten andererseits, herbeigeführt worden. Letzteres gilt insbesondere für die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes und den damit verbundenen Verzicht auf eine konkrete Wirtschaftsverfassung, für die Sozialbindung des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 2, die Sozialisierungsermächtigung des Art. 15 und das Sozialstaatsprinzip. Zur Verständigung gehörte auch die unveränderte Übernahme kirchenpolitischer Bestimmungen aus der Weimarer Reichsverfassung, da ein neuer Kompromiß nicht gefunden werden konnte 2 . Die Beiträge des Handbuchs wollen die Entwicklung, die das Verfassungsrecht und seine Interpretation seit damals in wichtigen Bereichen genommen hat, und seinen gegenwärtigen Zustand beschreiben. Vollständigkeit ist dabei nicht beabsichtigt. So fehlen beispielsweise Darstellungen der Wehrverfassung und der Notstandsverfassung sowie eine Behandlung der grundgesetzlichen Bestimmungen über den zivilen Ersatzdienst und das Asylrecht. Auch die verfassungsrechtlichen Aspekte der Ausländerpolitik insgesamt werden nicht erörtert. Es kann nicht die Aufgabe der abschließenden Bemerkungen sein, die deskriptiven Teile der einzelnen Beiträge zu ergänzen, zu modifizieren oder gar die in Kauf genommenen Lücken zu schließen.

1

Die Ablehnung des Grundgesetzes durch die CSU-Mitglieder des parlamentarischen Rates und die absolute CSU-Mehrheit des bayerischen Landtags steht dieser Feststellung nicht entgegen. Sie bezog sich im wesentlichen auf die nach Meinung der CSU ungenügende Ausgestaltung der Rechte der Länder gegenüber

der Zentralgewalt. Vgl. dazu die von DR. SCHWALBER

2

(CSU)

vor

der

Schlußabstim-

mung des parlamentarischen Rats abgegebene Erklärung (Stenografischer Bericht der 10. Sitzung vom 8. 5.1949, S. 237). Vgl. dazu JöR N . F. Bd. 1 (1951) S. 899ff.

1362

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

Wie im Vorwort dargelegt, sollen die Bemerkungen vielmehr aus ihrer jeweiligen Sicht der Frage nachgehen, ob der seinerzeitige Verfassungskonsens noch andauert und ob er für die überschaubare Zukunft in dem Sinne andauern wird, daß auch künftig mit Hilfe der Verfassung Lösungen für die Bewältigung der Herausforderungen zustande gebracht werden können, die sich aus dem gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft und den voraussehbaren Entwicklungen ergeben. Die Antworten auf diese Fragen können nur aus der persönlichen Sicht versucht werden. Sie wollen dabei das politische Umfeld, dem sie entstammen, und die politische Grundüberzeugung dessen, der sie formuliert, keineswegs verleugnen. Es sind also Antworten eines Sozialdemokraten, nicht hingegen die sozialdemokratischen Antworten.

II. Grundkonsens Der Konsens der Verfassungsväter von 1949 umfaßte nicht alle Elemente des Grundgesetzes in gleicher Intensität. Manche Regelungen blieben bis zuletzt kontrovers 3 . Andere wiesen Merkmale eines mehr oder weniger mühsamen Kompromisses auf 4 . Wieder anderen maß die eine Partei erkennbar höhere Bedeutung bei als die andere 5 . Dennoch steht der Gesamtkonsens außer Zweifel 6 . Aus diesem Konsens der Verfassungsväter ist bald ein allgemeiner Konsens geworden. H E S S E ist durchaus zuzustimmen, wenn er feststellt, daß das Grundgesetz die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Bundesrepublik seit ihrer Gründung in weitem Umfang geleitet und geprägt hat 7 . Dieser Konsens dauert bis heute an 8 und erstreckt sich auch auf die Veränderungen, die seit 1949 im Wege der förmlichen Grundgesetzänderung oder im Wege der Grundgesetzfortbildung Platz gegriffen haben. Zwar haben sich die Parteien im politischen Meinungskampf mitunter auch vorgeworfen, die jeweils andere verlasse den Boden der Verfassung oder gefährde sie, wobei Unionsangehörige diese Kritik mehr an Veränderungen des Status quo durch Gesetzesinitiativen der Regierungs-

3

4

5

6

E t w a die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern; vgl. oben F n . 1. So z u m Beispiel die Regelungen über die Finanzverfassung und das Steuersystem oder über die Bildung und die Zusammensetzung des Bundesrats. E t w a A r t . 15 einerseits und A r t . 33 Abs. 5 andererseits. Das zeigt auch der Vergleich des Abstimmungsverhaltens bei der Verabschiedung des Grundgesetzes und der Weimarer Reichsverfassung. 1919 billigten nur 262 von 4 2 0 Mitgliedern der Nationalversammlung die Reichsverfassung; 82, darunter auch 4 3 Mehrheitssozialdemokraten .blieben der Abstimmung fern. 1949 stimmten 53 Mitglieder des Parlamen-

7 8

tarischen Rats ( C D U , SPD, F . D . P . und 2 A b geordnete der C S U ) für und lediglich 12 Mitglieder ( C S U , D P , Zentrum und K P D ) gegen das Grundgesetz. oben S. 21. So für die Sozialdemokratische Partei ausdrücklich das Godesberger P r o g r a m m , A b schnitt „ D i e staatliche O r d n u n g " , der ökonomisch-politische Orientierungsrahmen für die Jahre 1 9 7 5 - 1 9 8 5 , Ziffer 1.10, abgedruckt in PULTE ( H r s g . ) Parteiprogramme (Loseblattsammlung, Neuwied) und das Papier „ G r u n d werte und G r u n d r e c h t e " , vorgelegt von der Grundwertekommission beim SPD-Parteivorstand, 1979.

HANS-JOCHEN

1363

VOGEL

koalition knüpften, während Sozialdemokraten umgekehrt in dem Beharren auf dem Status quo eine Mißachtung der programmatischen Verfassungsaufträge erblickten 9 . Auch hat vor allem in letzter Zeit — etwa in der Auseinandersetzung mit den Grünen und Alternativen — die Neigung zugenommen, abweichenden und unbequemen Meinungen nicht so sehr durch sachliche Widerlegung, als vielmehr durch die diskriminierende Behauptung zu begegnen, sie fielen, wenn schon nicht aus der verfassungsmäßigen Ordnung, so doch aus dem Grundkonsens heraus, wobei nicht immer deutlich wird, an welche Art von Konsens gedacht wird 1 0 . Dennoch gilt: Uber die wesentlichen Prinzipien des Grundgesetzes, also über das Rechts- und Sozialstaatsprinzip, das Demokratieprinzip und das Bundesstaatsprinzip oder über das System der Grundrechte gibt es zwischen den Parteien keine Kontroversen, die nicht die Interpretation, sondern die Prinzipien oder das System selbst betreffen 1 1 . Das ist um so bemerkenswerter, als der politische Generationswechsel seit 1949 weit fortgeschritten ist und demgemäß die konsensbildende Kraft des gemeinsamen Erlebnisses der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und ihrer Verfolgungsmaßnahmen sowie der Notwendigkeit des Wiederaufbaus einer staatlichen Ordnung nach dem Zusammenbruch mehr und mehr nachgelassen hat. Trotzdem würde auch heute kaum ein Sozialdemokrat der Feststellung widersprechen, die GUSTAV HEINEMANN 1974 in seiner Festansprache anläßlich des 25jährigen Jubiläums des Grundgesetzes getroffen hat, der Feststellung nämlich, daß es zu ihm keine Alternative gibt, daß es die erlittene Erfahrungsweisheit der besten unserer Vorfahren verkörpert und daß es seine Lebensfähigkeit erwiesen hat 1 2 . Das schließt nicht aus, daß aus meiner Sicht verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Akzente auch in wichtigen Fragen anders zu setzen sind, als das in einigen Beiträgen des vorliegenden Handbuchs geschehen ist. Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich auf solche Fragen, die für die Beurteilung der gegenwärtigen und künftigen Tragweite und der Belastungsfähigkeit des Konsenses bedeutsam erscheinen. Schweigen zu Positionen, die von mir bei anderen Gelegenheiten geäußerten Ansichten oder sonst aus sozialdemokratischer Sicht vertretenen widersprechen, darf deshalb nicht als Zustimmung angesehen werden. Das bezieht sich beispielsweise auf einzelne Positionen KRIELES zur Frage der Duldung von Widerstand und zur Frage des Verzichts auf Gesetzesvollzug 1 3 , die über9

10 11

So auch in der sogenannten Verfassungsdebatte des Bundestags vom 14./15. 2 . 1 9 7 4 , bei der vieles an der Oberfläche blieb; Stenografische Protokolle der 79. und 80. Sitzung, S. 5002 ff. D a z u auch DENNINGER oben S. 1326. D a s wird auch durch das schwache Echo erhärtet, das die Arbeit der vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission für Fragen der Verfassungsreform und der Schlußbericht vom Dezember 1976 bislang gefunden hat. Vgl. dazu HESSE oben S. 14. Wegen gewisser Einschränkungen dieser Feststellung durch Ten-

12

13

denzen im Bereich grüner und alternativer Gruppierungen vgl. unten S. 1379 f. Bulletin N r . 62 vom 25. Mai 1974, S. 615 f f / 619. S. 152 ff. Soweit dort in pauschaler F o r m auf die angebliche D u l d u n g von Hausbesetzungen in Berlin verwiesen wird, läßt die Kritik den Beschluß des O V G Berlin vom 29. April 1981 (Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 8/804 S. 14 f) außer Betracht, in dem die Entscheidung des damaligen Senats ausdrücklich für rechtmäßig erklärt wird.

1364

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

dies nicht genügend ersehen lassen, welche konkreten Sachverhalte jeweils gewürdigt werden, oder auf die ZEIDLER'sche Bewertung des neuen Eherechts 14 , aber auch auf die überaus restriktiven Positionen ISENSEES hinsichtlich der Verwendung von Nichtbeamten und der Geltung des allgemeinen arbeitsrechtlichen Regelungsverfahrens für nichtbeamtete Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst 1 5 sowie auf die teilweise überakzentuierte Kritik MERTEN'S an den sogenannten „Hängematten"-Effekten des Sozialen Netzes 1 6 . Unerörtert bleiben weiter auch Meinungsverschiedenheiten, die weniger über den Verfassungskonsens, als darüber aussagen, wie unterschiedlich gleiche oder doch ähnliche Sachverhalte je nach dem beurteilt werden, ob dies aus dem Blickwinkel der Regierung oder dem der Opposition geschieht. Alle Parteien neigen bei einem Wechsel von der einen zur anderen Funktion zu einigermaßen unvermittelten Argumentationskorrekturen gerade in bestimmten verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Streitfragen. So pflegen Regierungsparteien die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts im Wege des Normenkontrollverfahrens auch dann kritisch zu kommentieren, wenn sie zuvor als Oppositionspartei selbst von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch gemacht haben 1 7 . Und Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die Gesetze als verfassungswidrig beanstanden, sind ohne Rücksicht auf die jeweilige Rollenbesetzung ebenso regelmäßig des Beifalls der Opposition wie des Tadels der Regierungspartei(en) sicher. Im folgenden (B) sollen zunächst Meinungsverschiedenheiten behandelt werden, deren Wurzeln bis in die Zeit der Entstehung des Grundgesetzes zurückreichen (I), dann Themen, bei denen frühere sozialdemokratische Positionen in der Entwicklung begriffen sind (II), weiter Stellungnahmen zu neu aufgetretenen Fragen (III) und schließlich zwei Komplexe grundlegender verfassungspolitischer Natur (IV).

B. Einzelprobleme I. Herkömmliche Fragen 1. Offenheit der Verfassung Die Offenheit des Grundgesetzes gegenüber wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen beruht im wesentlichen darauf, daß sich im Parlamentarischen Rat über das Maß und die Grenzen der staatlichen Verantwortung für die Gestaltung des wirtschaftlichen Lebensbereiches und über das Maß und die Grenzen der entsprechenden staatlichen Gestaltungs- und Einwirkungspflichten und -rechte keine Verständi14

S. 585 f. Sollten übrigens die ehesoziologischen Darlegungen in diesem Beitrag (S. 574 ff) dahin zu verstehen sein, daß die Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 durch die faktische Entwicklung obsolet geworden sei, so müßte dem aus tatsächlichen, aber auch aus verfassungsrechtlichen Gründen widersprochen werden. Die von ZEIDLER selbst gezogenen konkreten Fol-

15 16 17

gerungen lassen diesen Schluß allerdings nicht zwingend erscheinen. S. 1171 und S. 1194ff. S. 795 ff. Vgl. dazu H . - J . VOGEL Videant judices! Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: D Ö V 1978, S. 665ff.

HANS-JOCHEN

1365

VOGEL

gung erzielen ließ. In der seitdem andauernden Auseinandersetzung haben sich die Anhänger des Status quo immer wieder darum bemüht, zur Stützung ihrer Auffassung unbeschadet der (Nicht-)Entscheidung des Parlamentarischen Rates Argumente aus einzelnen Verfassungsbestimmungen, insbesondere aus dem Eigentumsgrundrecht (Art. 14), dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12) und dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3) herzuleiten. Gelegentlich ist auf diese Weise sogar eine die allgemeinen Grundrechte überlagernde und beschränkende Wirtschaftsverfassung konstruiert worden 1 8 . D e m ist das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 1979 mit der wünschenswerten Klarheit entgegengetreten. In den Beiträgen von B A D U R A und P A P I E R wird dieses Urteil respektiert 1 9 . Dennoch werden an mehreren Stellen gegenüber politischen Vorstellungen, die auf paritätische Mitbestimmung im Sinne der Montanmitbestimmung 2 0 , auf einen Abbau des vorhandenen Mitbestimmungsgefälles oder auf eine stärkere staatliche Investitionsbeeinflussung abzielen 2 1 , erneut Argumentationslinien entwickelt, die die genannten Grundrechte zu sehr in der Richtung des Status quo in Anspruch nehmen 2 2 . Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß die Verfassung nicht als Gewährleistung des gesellschaftlichen und ökonomischen Status quo verstanden werden darf 2 3 . Die Grundrechte oder einzelne von ihnen haben eben nicht den Sinn, ein bestimmtes Wirtschaftssystem festzuschreiben; sie sollen vielmehr die Menschenwürde, Freiheit und Gleicheit aller Menschen schützen. Das Eigentum, die Vereinigungsfreiheit und die Freiheit der Berufswahl und der Berufsausübung sowie die allgemeine Handlungsfreiheit sind eben nicht wegen ihrer Funktion innerhalb eines Wirtschaftssystems gewährleistet, sondern um der individuellen Freiheit willen. Und diese individuellen Freiheiten billigt das Grundgesetz allen zu, den abhängigen Arbeitsnehmern nicht minder als den Anteilseignern, den Eigentümer-Unternehmern oder den angestellten Unternehmern. Naturgemäß treten zwischen diesen Freiheiten keineswegs nur im wirtschaftlichen Bereich, aber auch in diesem, im konkreten Fall Spannungen auf. Sie müssen dann vornehmlich nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz gelöst werden, indem die unterschiedlichen Rechtsgüter einander so zugeordnet werden, daß jedes von ihnen zur optimalen Wirksamkeit gelangen kann. Außerdem fällt auf, daß von den Arbeitnehmern im Zusammenhang mit den erwähnten Grundrechten kaum die Rede ist 2 4 . Ergeben sich aus dem Recht der Arbeitnehmer auf freie Persönlichkeitsentfaltung, aus ihrem Grundrecht auf freie Be-

18

A m weitgehendsten in dieser Richtung das für das Mitbestimmungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht erstattete Gutachten P.

21

B A D U R A / F . R I T T N E R / B . RÜTHERS M i t b e s t i m 19

mungsgesetz 1976 und Grundgesetz, 1977. Wenn auch nicht ohne kritische Untertöne; vgl. z . B .

20

PAPIER S . 6 2 0 f , 6 4 1 ; BADURA,

S.

665. Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung dieser Mitbestimmungsregeln siehe auch KRIEGER

22 23

24

oben S. 727, der sie offenbar für verfassungskonform hält. Diese Vorstellungen finden sich unter anderem im Orientierungsrahmen '85 (siehe Fn. 8), insbesondere in den Ziffern 2.4 und 2.6. So etwa PAPIER S. 619f. Vgl. HESSE oben S. 18f, 27. N o c h deutlicher BENDA oben S. 501. BENDA S . 5 3 6 f .

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9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

rufsausübung nicht ebenso gewichtige verfassungsrechtliche Folgerungen wie aus den entsprechenden Rechtspositionen der Eigentümer-Unternehmer und der angestellten Unternehmer? Bemerkenswert erscheint ferner, wie sehr das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, das gegen langandauernden Widerstand von der Arbeitnehmerschaft durchgesetzt worden ist, nunmehr für die Arbeitgeberseite, ja für die Mitbestimmungsfreiheit von Erwerbsgesellschaften in Anspruch genommen wird. Interessengebunden und deshalb widersprüchlich erscheint schließlich auch die Einschätzung des Staates. Ihm wird von konservativer Seite da, wo er gestaltet, auf sozialen Ausgleich bedacht ist, gesellschaftspolitische Aufgaben erfüllt, ein tief wurzelndes Mißtrauen entgegengebracht, während in den gleichen Staat ein starkes Vertrauen, zumindest aber eine starke Erwartung gesetzt wird, soweit er die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des Status quo gewährleisten soll 2 5 . 2. Insbesondere: Kontinuität und Wandel der Eigentumsverfassung Die Problematik der Eigentumsverfassung erfordert noch einige zusätzliche Bemerkungen 2 6 . Uber den Bereich der Wirtschaftsordnung hinaus wird hier in Kontinuität und Wandlung des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffes die Spannung zwischen Beharrung und Entwicklung in unseren gesellschaftlichen Grundverhältnissen besonders deutlich. Zwei Feststellungen erscheinen dabei als bedeutsam: Einmal: Die Sozialbindung (Art. 14 Abs. 2) ist nicht äußere Schranke des Eigentums, nicht eine Bestimmung zur Abwehr von Mißbräuchen; sie gehört vielmehr zur inneren Struktur des Grundrechts, ist immanenter Bestandteil des Eigentums. Das Eigentum gibt — um einen klassischen Satz WERNER WEBERS zu zitieren —27 von vornherein nicht mehr her als ihm die im Recht ausgeformte Sozialordnung überhaupt an Inhalt und Möglichkeiten zuerkennt. Macht man mit diesem Satz ernst, dann erscheinen viele das Eigentum berührende Reformforderungen nicht mehr als von außen auferlegte Einschränkungen, Beschneidungen oder Inhaltsverkürzungen, sondern als Konkretisierungen des Inhalts, als seine Ausformungen. Zum Zweiten: Die freiheitsschützende Funktion des Eigentums muß immer wieder in den Vordergrund gerückt werden. Hier liegt seine stärkste Legitimation. Das Eigentum ist eine der Voraussetzungen freier und verantwortlicher Lebensgestaltung; es sichert dem Bürger einen individuellen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich. Zur freien Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit gehört auch eine nach den persönlichen Absichten und Wertungen gestaltbare Eigentumssphäre. Daraus folgt, daß für Eigentum, das nicht primär die eigene Freiheit schützt, sondern Macht über andere verleiht, z . B . über diejenigen, die als abhängige Arbeit-

25

D i e in dieser Feststellung enthaltene Kritik trifft mit umgekehrter Zielrichtung auch einen Teil meiner politischen Freunde. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch die unterschiedliche Beschreibung des Verhältnismäßigkeitsprinzip bei polizeilichem Einschreiten einerseits (KRIELE oben S. 155) und bei

26

27

Eingriffen in Wirtschaftsfreiheiten andererseits (PAPIER oben S. 639 ff. Z u m folgenden näher VOGEL Kontinuität und Wandlungen der Eigentumsverfassung, 1976. W. WEBER Eigentum und Enteignung, in: N e u m a n n - N i p p e r d e y - S c h e u n e r . D i e Grundrechte, B d . II, 1954, S. 331/347f.

HANS-JOCHEN

1367

VOGEL

nehmer auf die Nutzung in fremdem Eigentum stehender Produktionsmittel angewiesen sind, schon von seinem Inhalt her nicht einfach die gleichen Regeln gelten können wie für Gebrauchseigentum oder ein Einfamilienhaus 28 . Darlegungs- und begründungspflichtig ist deshalb der, der ungeachtet der verschiedenen sozialen Wirkungen die Gleichheit der Rechte und die gleichen Grenzen der Sozialpflichtigkeit behauptet, nicht derjenige, der für funktionsgemäße Unterscheidungen eintritt. Daraus folgt weiter, daß Eigentumsbildung in Form weiter Streuung individuellen Eigentums auch zur Stärkung und Sicherung der Freiheit notwendig ist. 3. N o c h offene Spannungsverhältnisse Demnach kann nicht anerkannt werden, daß eine Politik, die Kapital und Arbeit, die die Verfügungsbefugnis über Sachen und Forderungen einerseits und das Selbstverwirklichungsrecht von Menschen andererseits zu einem besseren Ausgleich bringen will, bereits an verfassungsrechtlichen Grenzen angelangt ist, daß die Spannungsverhältnisse, die sich nicht zuletzt aus der Dynamik und den Krisen unserer Wirtschafts-Wirklichkeit und auch aus ihrer starken Wachstumsorientierung ergeben, bereits endgültig gelöst sind. Was zum Beispiel der Orientierungsrahmen '85 dazu fordert, was schon vorher das Godesberger Programm artikuliert hat, mag nicht verfassungsrechtlich geboten sein; verfassungsrechtlich verboten ist es ebenso wenig. Das gilt auch für die Reform des Bodenrechts, das noch immer Geburtsmale des Frühliberalismus, ja des römischen Rechts aufweist und bei dem objektiv für den sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes der größte Nachholbedarf besteht 29 .

II. Themen in der Entwicklung Die unter I. behandelte Thematik wird unter den politischen Kräften der Bundesrepublik seit langem an Hand von Argumentations-Linien diskutiert, die sich als relativ konstant erwiesen haben. Auf anderen Gebieten zeichnen sich Entwicklungen ab, die zu neuen Positionen führen könnten und teilweise schon geführt haben. 1. „Soziale Grundrechte" Ein solches Gebiet ist die Frage, ob der Sozialstaatsauftrag des Grundgesetzes durch soziale Grundrechte, durch Gesetzgebungsaufträge oder durch Staatszielbestimmungen ergänzt werden sollte. Soziale Grundrechte finden sich bekanntlich in mehreren Länderverfassungen und sind dort in der Regel auf sozialdemokratische Initiative verankert worden. Neuerdings macht sich jedoch auch unter Sozialdemokraten gegenüber der Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz eine gewisse Skepsis bemerkbar 3 0 . Der politische Spielraum für die weitere Verwirklichung des Sozial-

28

So zuletzt ZEIDLER Grundrechte und Grund-

29

Vgl. dazu ZEIDLER aaO (Fn. 28).

entscheidungen

30

E . W . BÖCKENFÖRDE, J . JEKEWITZ, T . RAMM

der V e r f a s s u n g im W i d e r -

streit, in: Verhandlungen des 53. D J T Berlin, Band II, München 1980, S. I 14 f.

(Hrsg.) Soziale Grundrechte 1981.

1368

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

staatsprinzips werde eingeengt, unfruchtbare Kontroversen über die Prioritäten unter mehreren sozialen Grundrechten bei drohender Ressourcenverknappung könnten aufbrechen, der Staat erscheine als alleiniger Adressat des Rechts auf Arbeit oder Bildung und die Ausgestaltung als Grundrecht erwecke Hoffnungen, die nicht einzulösen seien — so lauten Bedenken, auf die sich diese Skepsis gründet. Diese Zurückhaltung darf nicht als Ansatz einer Distanz gegenüber dem Sozialstaatsprinzip mißverstanden werden. Im Gegenteil: Gerade in Zeiten verminderten Wachstums oder gar sinkenden Sozialprodukts gewinnt die Verpflichtung des Staates, auf eine sozial gerechte Gestaltung der Lebenschancen und Lebensverhältnisse seiner Bürger hinzuwirken, noch an Gewicht 3 1 . Beachtenswert ist dabei der in der Diskussion hervortretende Gedanke, diese Gestaltung könne nicht nur durch sekundäre Verteilungskorrekturen geleistet werden, sondern müsse auch bei den primären Teilhaben ansetzen und überdies auch für unbürokratische Hilfen in Form der Selbstorganisation Raum lassen 3 2 . Hier wird allerdings sorgsam differenziert werden müssen, da sonst eine ungewollte Nachbarschaft zu Auffassungen entstehen könnte, die jede staatliche Aktivität auf sozialem Gebiet aus ganz anderen Gründen ablehnen. Immerhin waren es die deutschen Bischöfe, die solchen Auffassungen mit folgenden Sätzen entgegengetreten sind: „ D i e heutzutage stets verwickelter werdenden Verhältnisse zwingen die staatliche Autorität, häufiger in soziale, wirtschaftliche und kulturelle Angelegenheiten einzugreifen; sie will damit geeignetere Voraussetzungen schaffen, daß die Staatsbürger und gesellschaftlichen Gruppen wirksamer in Freiheit das Wohl der Menschen in jeder Hinsicht verwirklichen können. In vielen Bereichen des heutigen Lebens muß darum nicht selten die Freiheit einzelner eingeschränkt werden, um die Freiheit vieler zu sichern. Jede undifferenzierte Zurückweisung des heutigen Sozialstaats zugunsten übertriebener individueller Freiheit übersieht den langen und schwierigen geschichtlichen Weg, den wir zur Uberwindung staatlicher Passivität in Abkehr von den utopischen Harmonieerwartungen des individualistischen Liberalismus gegangen s i n d . " 3 3 Die Bedenken gegen die Schaffung sozialer „Grundrechte" im engeren Sinn haben zu einer Diskussion darüber geführt, ob sich nicht zumindest die Aufnahme zusätzlicher Gesetzgebungsaufträge oder Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz empfiehlt. Sie ist durch Art. 2, 26 und 30 des Entwurfs der schweizerischen Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung (1977)

31

32

„ D i e Arbeiterbewegung und der Wandel gesellschaftlichen Bewußtseins und Verhaltens", Diskussionspapier der Grundwertekommission beim SPD-Parteivorstand, 1982. So der Orientierungsrahmen '85 (Fn. 8), Ziffer 2.4.8, das Papier , Grundwerte in einer gefährdeten Welt', vorgelegt von der Grundwertekommission beim SPD-Parteivorstand, 1977, S. 24, 26, und das unter Fn. 31 genannte Papier. Vgl. auch STRASSER Grenzen

33

des Sozialstaats? Soziale Sicherung in der Wachstumskrise, 1979. Schreiben der Deutschen Bischofskonferenz: Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft und im demokratischen Staat der Gegenwart in Anwendung der Pastoralkonstitution „ D i e Kirche in der Welt von heute" des 2. Vatikanischen Konzils; als Broschüre veröffentlicht, Trier 1969 S. 22.

HANS-JOCHEN VOGEL

1369

und durch die Regierungserklärung vom 24. November 1980 34 belebt worden, in der es unter Randnummer 125 heißt: „Unser Grundgesetz hat sich bewährt. Über seine tragenden Elemente besteht weite Ubereinstimmung im Volk. Die Bundesregierung wird aber prüfen, ob in das Grundgesetz detailliertere Staatszielvorstellungen oder Gesetzgebungsaufträge aufgenommen werden müssen." Diese Prüfung wird derzeit durch eine von der Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenkommission vorbereitet. Neben skeptischen Stimmen, die ähnliche Einwände erheben wie gegenüber sozialen Grundrechten 35 , kann man auch die Meinung vertreten, daß eine Verfassung durch derartige Konkretisierungen an Anschaulichkeit und Integrationskraft gewinne 36 . 2. „Streitbare Demokratie" Eine Fortentwicklung früherer Positionen läßt sich weiter zum Thema „Streitbare Demokratie" erkennen. Die Haltung der 50er und 60er Jahre war noch weitgehend von den Erfahrungen der Spätjahre der Weimarer Republik, der nationalsozialistischen Machtergreifung und des Kalten Krieges geprägt. Diese Erfahrungen führten zu — durchaus verständlichen — Abwehrhaltungen, die verfassungsrechtliche Spielräume bis zu den äußersten Grenzen ausschöpften. Die Bundesrepublik nahm damit im Kreise der ihr vergleichbaren westlichen Demokratien vorübergehend eine Sonderstellung ein 3 7 . Die Reaktion auf den sogenannten Ministerpräsidentenerlaß von 1972 3 8 führte dann zunächst in der sozialdemokratischen Diskussion und später auch darüber hinaus 39 zu einer Wende und zu einer Handhabung, die dem heutigen Bewußtseinsstand und dem üblichen westeuropäischen Standard entspricht. Insgesamt dürften zu diesen Fragen die Ansichten von DENNINGER40, die ich im wesentlichen teile, und der sozialdemokratische Standpunkt in etwa übereinstimmen. 3. Plebiszitäre Ansätze Eine gewisse Lockerung ist ferner in der Einschätzung plebiszitärer Komponenten der politischen Willensbildung eingetreten. Zwar gibt es keine förmlichen Beschlüsse,

34

35

HELMUT SCHMIDT in: Bulletin N r . 124 v. 2 5 .

39

desregierungen weder in Berlin n o c h in N i e -

So auch HESSE oben S. 9 9 und BENDA oben

dersachsen die von ihren sozialliberalen V o r gängerinnen ü b e r n o m m e n e n

S. 5 3 8 f. 36

37

Verfahrenswei-

Sozialstaatliche

sen auf dem Gebiet des Zugangs z u m o d e r

Rechtspolitik als Sozialisationsfaktor, in: Z R P

der Entfernung aus d e m öffentlichen Dienst

1 9 8 1 , S. 1 / 6 .

verschärft. Niedersachsen hat sie sogar mit

Zum

Beispiel

H.-J.VOGEL

Untersuchung

Beschluß des Landesministeriums v o m 3. 5 . /

„ E x t r e m i s t e n und Radikale im öffentlichen

2 1 . 6 . 1 9 7 7 gemildert; vgl. Niedersächsisches

Vgl.

die rechtsvergleichende

D i e n s t " von B ö c k e n f ö r d e , T o m u s c h a t

und

U m b a c h ( H r s g . ) , B a d e n - B a d e n 1981, S . 6 4 7 f f , 38

Bemerkenswerterweise haben die neuen L a n -

11.1980, S.1049/1063.

Ministerialblatt 1 9 7 7 , S. 8 8 4 . 40

Z u r speziellen F r a g e der Fernhaltung Radika-

( 6 8 0 f).

ler aus d e m

Beschluß der Regierungschefs des Bundes und

DENNINGER oben S. 1 3 1 9 f und GRIMM oben

öffentlichen

Dienst

einerseits

der L ä n d e r v. 2 8 . 1 . 1 9 7 2 , z . B . in: M B 1 . N W

S. 3 3 9 , andererseits KRIELE oben S. 165 ff und

1972, S. 3 4 2 .

ISENSEE oben S. 1 1 8 0 .

1370

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

die die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene fordern. Auch die Gesetzesinitiative über eine Volksbefragung wegen einer atomaren Ausrüstung der Bundeswehr 4 1 ist insoweit eine Episode geblieben. Die Diskussion darüber, ob die Beimischung plebiszitärer Elemente auf der Landes- und Gemeindeebene dem Gemeinwesen nicht Legitimationsreserven erschließen würde, ist jedoch durchaus in Gang gekommen 4 2 . Sie beschränkt sich übrigens nicht auf die Sozialdemokraten. Die Union hat beispielsweise in Berlin von der in der dortigen Verfassung vorgesehenen Möglichkeit, die vorzeitige Abberufung des Parlaments durch Plebiszit in die Wege zu leiten, Gebrauch gemacht und in Hamburg die Aufnahme von Volksbefragung und Volksbegehren in die Hamburgische Verfassung gefordert 4 3 . 4. Verfassungsrechtsprechung Schließlich sind im Laufe der Zeit Bedenken gegen eine zu weit ausgreifende Verfassungsrechtsprechung hervorgetreten. Diese Bedenken besitzen auch dann Gewicht, wenn man berücksichtigt, daß — unabhängig davon, welche Partei die Regierung oder die Opposition stellt — hier aus der Sicht der Regierenden jeweils anders argumentiert zu werden pflegt, als aus der Sicht einer Opposition. Ich habe mich zu diesem Problemkreis vor einigen Jahren an anderer Stelle näher geäußert 44 . Die Hauptsorge gilt hier der Überdehnung der Verfassung durch ihre Inanspruchnahme für genuin politische Entscheidungen oder auch für Detailfragen minderen Ranges, deren Regelungen ausschließlich in der Kompetenz des Gesetzgebers bleiben sollten. Die Sorge gilt aber auch der Erhaltung der Autorität und der Befriedungsfunktion des Bundesverfassungsgerichts. Jeder Spruch des Verfassungsgerichts, der sich in Tenor oder Begründung nicht streng auf das von der Verfassung Gebotene beschränkt, erhebt ohne N o t ein weiteres Stück einfachen Rechts in den Verfassungsrang und entzieht es dadurch de facto der politischen Gestaltung durch den Gesetzgeber. Das Verfassungsgericht wird insofern dem König Midas vergleichbar, dem es zum Verderben gereichte, daß alles zu Gold wurde, was er berührte. Konkrete Abhilfevorschläge hat die Diskussion mit Ausnahme der — zu Recht abgelehnten — Forderung, für Urteile, die ein Gesetz für verfassungswidrig erklären, eine qualifizierte Mehrheit zu verlangen — bislang nicht erbracht. Die von SIMON aus anderen Erwägungen 4 5 nahegelegte Abschaffung der abstrakten Normenkontrolle, die aus Gründen des Minderheitenschutzes Bedenken begegnet, würde das Problem auch nicht entscheidend mildern, da das Gericht in den gravierenden Fällen von KompeBundestagsdrucksache III/303. Vgl. u.a. E. EPPLER Wege aus der Gefahr, 1981, S.18, und die Gesetzesinitiative der bayerischen SPD zur Änderung der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern betr. die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf der kommunalen Ebene (Land-

43

t a g s - D r u c k s a c h e 9 / 9 2 5 0 ) ; G . WEHLING V o n

der bürgerlichen zur sozialen Rechtsordnung, Bericht über den 5. Rechtspolitischen Kongreß der SPD, in: ZRP 1980, S. 125/126, zum

ganzen auch STEINBERG ZRP 1982, S. 113ff, 117. Auch das Kommunalpolitische Grundsatzprogramm der SPD aus dem Jahre 1975 fordert (unter Ziffer 2.3) Formen der direkten Bürgerbeteiligung. Wahlprogramm der C D U - H a m b u r g für die Bürgerschaftswahl 1982; siehe auch F A Z v. 1.3.1982.

44 45

Dazu VOGEL aaO (Fn. 17). oben S. 1266.

HANS-JOCHEN

1371

VOGEL

tenzüberdehnung in der Vergangenheit stets auch auf Grund von Richtervorlagen oder Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung berufen war. So bleibt im Grunde nur der Appell an das Gericht und die Hoffnung, daß die insbesondere im Mitbestimmungsurteil deutlich hervorgetretene Zurückhaltung eine generelle Entwicklung eingeleitet hat.

III. Neue Fragestellungen 1. Auswirkungen neuer naturwissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen Neu aufgetreten sind Fragen im Umkreis der Menschenwürde und der zu ihrem Schutz gegenüber neuen naturwissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen denkbaren Möglichkeiten. Es handelt sich dabei einmal um das Spannungsverhältnis zwischen dem Grundrecht der Menschenwürde und der Forschungs- sowie der mit ihr verbundenen Experimentierfreiheit im Falle der sogenannten Gen-Technologie. B E N D A hat in diesem Zusammenhang bereits die Problematik der künstlichen Insemination und des sogenannten Retortenbabys erörtert 46 . Eine noch einschneidendere Veränderung auf dem Gebiet der menschlichen Regeneration würde jedoch eintreten, wenn es der Wissenschaft gelingen sollte, durch Manipulation des genetischen Codes — sogenanntes Klonen — das äußere Erscheinungsbild eines Menschen, seine Anlagen und seinen Charakter bis ins Detail vorauszubestimmen 4 7 . Da entsprechende Versuche bei niedrigeren Lebewesen bereits weit fortgeschritten sind, kann eine solche Entwicklung nicht mehr ausgeschlossen werden. Die menschliche Herrschaft über die Natur schickt sich damit an, in eine neue Dimension einzutreten, nämlich in die totale Herrschaft über die eigene Gattung 4 8 , die den einzelnen Menschen zum schrankenlosen Objekt der Fremdbestimmung werden läßt und überdies die Entscheidung darüber, ob neues menschliches Leben gezeugt wird, vom höchst personalen Akt der Vereinigung von Mann und Frau ablöst und statt dessen unbeteiligten Dritten in einem Verfahren überantwortet, das Züge eines technischen Produktionsprozesses aufweist. Die Grundwertekommission hat diese Problematik thematisiert und die Auffassung vertreten, daß hier die Menschenwürde in ihrem Kern tangiert sei und daß das Grundgesetz in seinem Art. 1 auch schon Ansätze zur Menschenzüchtung treffen wollte 4 9 . Ein Spannungsverhältnis anderer Art könnte sich gegenüber Entwicklungen auf dem Gebiet der elektronischen Medien ergeben. Die von H O F F M A N N - R I E M geäußerten Bedenken 5 0 , viele Bürger könnten angesichts der Informationsflut und der Schwierigkeiten des Umgangs mit den neuen Technologien eher Orientierung verlieren als 46

47

oben S. 121 f, vgl. auch HÄBERLE Menschenwürde und Verfassung, Rechtstheorie 11. Band (1980) S. 3 8 9 f f / 4 2 1 f. D a z u im einzelnen „ H u m a n e Grenzen des technisch M a c h b a r e n " , Papier der G r u n d -

48

49 50

wertekommission beim SPD-Parteivorstand, 1971. Vgl. dazu JONAS D a s Prinzip Verantwortung, F r a n k f u r t / M . , 1979, S. 4 7 f f , 52f. Vgl. das Fn. 47 zitierte Papier. S. 469.

1372

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

gewinnen und die technologisch vermittelte Kommunikation könnte die Fähigkeit zur zwischenmenschlichen Kommunikation verkümmern und Sprachlosigkeit entstehen lassen, erscheint nur allzu begründet. Auch BENDA läßt ähnliche Sorgen anklingen 5 1 . Das von ihm angeführte MARCIC-Zitat würde übrigens auch dann oder dann sogar noch mehr Sinn machen, wenn darin statt vom „totalen Rentnerstaat" von der totalen Fernsehgesellschaft die Rede wäre. Bei durchschnittlichen täglichen Fernsehzeiten von heute bereits knapp zwei Stunden an Werktagen und über drei Stunden an Sonntagen, die auch bei Kindern zwischen 8 und 13 Jahren nicht wesentlich niedriger liegen 52 , lassen sich derartige Befürchtungen nicht mehr mit leichter Hand abtun. Es mag zweifelhaft sein, ob die hier auftretenden Gefährdungen schon jetzt eine Dichte erreicht haben, die staatliches Tätigwerden zum Schutz der Menschenwürde vor substantiellen Verkümmerungen erforderlich machen. Bei der weiteren Erörterung der verfassungsrechtlichen Aspekte der Ausbreitung und Intensivierung der elektronischen Medien-Technologie und ihrer praktischen Anwendung darf dieser Gesichtspunkt jedoch keinesfalls außer acht gelassen werden. 2. Ausländerrecht Neu aufgetreten sind weiter vielfältige Probleme, die darauf zurückzuführen sind, daß in der Bundesrepublik noch vor 20 Jahren nur rund 700000 Ausländer lebten, heute aber 4,6 Mill. Ausländer zu Hause sind. Eine derartige Entwicklung lag 1949 außerhalb der Vorstellungen der Verfassungsväter. Das Grundgesetz enthält deshalb auch keine Normen, die speziell auf einen Personenkreis zugeschnitten sind, der nicht Teil des Staatsvolkes ist, in manchen Verdichtungsgebieten aber immerhin 2 0 % und mehr der Bevölkerung ausmacht und für wichtige Wirtschaftszweige unentbehrlich geworden ist. Die Rechtsordnung arbeitet denn auch weithin noch mit der Fiktion, es handele sich um eine Vielzahl individueller Situationen, die mit den Mitteln und Verfahren des klassischen Ausländerrechts zu bewältigen seien. Verfassungsrechtliche Kontroversen haben sich in diesem Zusammenhang vor allem hinsichtlich der Gewährung des Wahlrechts für den in Rede stehenden Personenkreis ergeben 5 3 . Sozialdemokraten haben sich dabei für die Gewährung des kommunalen Wahlrechts zumindest an die Angehörigen der EG-Staaten ausgesprochen 5 4 . Die Diskussion ist aber noch nicht abgeschlossen. Neuerdings nehmen insbesondere hinsichtlich der Nicht-EG-Ausländer die skeptischen Stimmen wieder zu, und zwar auch hinsichtlich des kommunalen Wahlrechts 5 5 .

51 52

53

S. 118. Teletrend I. Quartal 1982, veröffentlicht in Media-Perspektiven 6 / 8 2 , S. 423. Vgl. dazu SCHIFFER S. 307 und VON SIMSON S. 74; ferner Beschluß des SPD-Bundesparteitages vom Dezember 1979 (Antrag 188).

54

55

Vgl. auch SCHWERDTFEGER Teilgutachten Ausländerintegration, Verhandlungen des 53. D J T , 1980, Bd. I S. A l l O f . So unter anderem ein Beschluß des Berliner SPD-Landesparteitags, der die Einführung des kommunalen Wahlrechts nicht für sinnvoll erachtet; ähnlich das Wahlprogramm vom März 1981.

HANS-JOCHEN

1373

VOGEL

3. Verbandsklage Zu grundsätzlichen Erwägungen hat ferner die in den Ländern Bremen, Hamburg und Hessen vollzogene 5 6 und im Bund angekündigte 57 Einführung der Verbandsklage Anlaß geboten 5 8 . Sie ist in sozialdemokratischen Beschlüssen — jedenfalls für den Umweltschutz und insbesondere für den Naturschutz — befürwortet worden 5 9 . Befürchtungen, daß damit das parlamentarische System aus den Angeln gehoben oder der Exekutive die Entscheidungsbefugnis aus der Hand genommen werde, erscheinen übertrieben. Die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten und Normen ist für die Bundesrepublik keineswegs ein Novum. Der kritische Punkt ist eher die Ausweitung der Aktivlegitimation auf Verbände, die nicht selbst in ihren Rechten betroffen sind. Eine solche Ausweitung hat aber auch schon auf anderen Gebieten 6 0 stattgefunden und erscheint vertretbar, wenn sie auf Sachbereiche beschränkt wird, in denen wie beim Naturschutz die Zahl der im Rechtssinne Betroffenen zu der Zahl der an dem Genuß des jeweils geschützten Naturgutes Interessierten in einem Mißverhältnis steht, und wenn gegen Mißbräuche entsprechende Vorkehrungen getroffen werden.

IV. Grundsätzliche verfassungspolitische Aspekte Für die Beurteilung des gegenwärtigen und künftigen Verfassungskonsenses spielt nicht nur die Zahl und die Intensität verfassungsrechtlicher Kontroversen eine Rolle. Es kommt fast noch mehr auf verfassungspolitische Auseinandersetzungen an. Sie sind sowohl für die Interpretation „offener" Verfassungsbestimmungen, als auch für die Fortentwicklung der Verfassung von erheblicher Bedeutung. Zwei derartige Komplexe sollen hier angesprochen werden, nämlich die Grundwertediskussion (1) und die Frage einer Überbeanspruchung der Verfassung (2). 1. Grundwertediskussion Die Grundwertediskussion der Parteien untereinander und auch in ihrem eigenen Kreis stößt in einzelnen Beiträgen eher auf Skepsis. S I M O N nennt sie unfruchtbar 61 . H E S S E fürchtet eine Überhöhung (des Grundgesetzes) in eine gleichsam theologische Dimension 6 2 . Ich vermag diese Skepsis nicht zu teilen. Zunächst: Die starke Hinwendung zu Wertorientierungen, die Charakterisierung des Grundgesetzes als eine wertgebundene Ordnung, als eine objektive Wertordnung — all das waren verständliche Antworten auf die Katastrophe des Posi56

57 58

§ 4 4 Bremisches Naturschutzgesetz v. 17. 9. 1979 (GBl. S. 345); § 41 Hamb. Naturschutzgesetz v. 2. 7.1981 (GVB1. S. 167); § 36 Hess. Naturschutzgesetz v. 19.9.1980 (GVB1. S. 309). Regierungserklärung 1980 (Fn. 34), S. 1058. Zurückhaltend, aber ohne verfassungsrechtliche Einwendungen BENDA oben S. 496.

59

60

61 62

Beschluß des SPD-Bundesparteitags vom Dezember 1979 (Antrag 664, Ziffer 9). Z . B . auf dem Gebiet des unlauteren Wettbewerbs - §13 Abs. 1 UWG - und des Verbraucherschutzes — §13 Abs. 2 A G B —. S. 1276. S. 22.

1374

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

tivismus 63 und den Mißbrauch, der nach 1933 in Deutschland von einer Gewaltherrschaft getrieben worden ist, die ihre Verbrechen auch unter Inanspruchnahme der äußeren Erscheinungsformen des Rechts beging und damit nicht nur die von ihr verfolgten Menschen, sondern auch das Recht der Würde beraubte. Die Prüfung des Rechts auch unter materiellen Gesichtspunkten auf seine Übereinstimmung mit Werten, die weitgehend aus den Menschenrechten hergeleitet wurden, war Ausdruck des Bemühens, die Würde des Rechts und seine Legitimität wieder herzustellen. Im Einklang damit formulierte A D O L F A R N D T beispielsweise 1957 64 : „Der Staat, nach dem wir streben, ist nicht wertfrei sondern wertgebunden und durch seine Bestimmung selber ein Wert." In diesem Bemühen hat es sicherlich Übertreibungen gegeben, das Pendel schlug zunächst wohl auch zu weit in die entgegengesetzte Richtung — aber die Neuorientierung als solche ist unverändert zu begrüßen und Teil des Verfassungskonsenses 65 . Dann: Für die sozialdemokratische Partei kennzeichnet die Charakterisierung von Grundwerten, nämlich von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als Orientierungspunkten ihrer Politik im Godesberger Programm einen tiefen Einschnitt in ihrer Programmgeschichte. Er kam nicht plötzlich, brachte vielmehr eine lange Entwicklung zum Abschluß 66 . Aber erst mit diesem Schritt haben die Sozialdemokraten auch in der Theorie — in der Praxis war dies schon lange vorher geschehen — von der Vorstellung Abschied genommen, daß der Sozialismus ein eines Tages mit naturgesetzlicher Notwendigkeit eintretender Endzustand sei, und sich dazu bekannt, daß es sich um eine dauernde Aufgabe handele. Ohne diese programmatische Entwicklung, die übrigens auch einen späten Sieg Leonard Nelsons darstellt, wäre der Verfassungskonsens in einem wesentlichen Punkt weniger tragfähig 67 . Daß die Sozialdemokraten die Diskussion über die Bedeutung der Grundwerte und über die Folgerungen, die aus ihnen für ihre praktische Politik zu ziehen sind, fortsetzen 68 , kann nicht verwundern. Da inzwischen auch die Union die gleichen 63

d e n k e n RADBRUCHS. E r , d e r n o c h

64

65

wertekommission beim SPD-Parteivorstand, 1979, S. 12 f.

Vgl. dazu die historische Wende im Rechts1929

ge-

schrieben hatte, daß es anderes als „gesetztes", „positives Recht" nicht gebe (Einführung in die Rechtswissenschaft (7. und 8. Auflage, 1929, S. 32) sagte 1946 in seinem Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" (Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 105, 107): „Der Positivismus hat mit seiner Überzeugung „Gesetz ist Gesetz" den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts." Unveröffentlichte Formulierung in der Diskussion zur Vorbereitung des Godesberger Programms. Vgl. S. XIV meiner Einführung zu A. ARNDT, Gesammelte Juristische Schriften, 1976. Vgl. auch das Papier „Grundwerte und Grundrechte", vorgelegt von der Grund-

66

67

68

Vgl.

auch

VOGEL

„Sozialdemokratisches

Staatsverständnis", in: Neue Gesellschaft 1975, S. 748ff, 752. So ausdrücklich das Papier „Grundwerte und Grundrechte", (Fn. 65) S. 4. Vgl. dazu außer dem Orientierungsrahmen '85 die von der Grundwertekommission beim SPD - Parteivorstand vorgelegten Papiere: Grundwerte in einer gefährdeten Welt (1977), Grundwerte und Grundrechte (1979), Zur politischen Kultur in der Demokratie (1980), Humane Grenzen des technisch Machbaren (1981) und Die Arbeiterbewegung und der Wandel gesellschaftlichen Bewußtseins und Verhaltens (1982). Eine Sammelveröffentlichung dieser Schriften wird gegenwärtig vorbereitet.

HANS-JOCHEN

1375

VOGEL

Grundwerte in ihre Mannheimer Erklärung von 1975 aufgenommen hat 6 9 und sich eine vergleichbare Passage auch in der Einleitung zu den Freiburger Thesen der F . D . P . von 1971 7 0 findet, gilt das auch für die breite, mitunter unnötig polemische Diskussion zwischen den Parteien, die vor allem durch die Veranstaltungsreihe der katholischen Akademie Hamburg im Jahre 1976 mit Referaten von HELMUT SCHMIDT, H E L M U T K O H L u n d W E R N E R M A I H O F E R in G a n g g e k o m m e n 7 1 ist u n d a n d e r s i c h

mittlerweile fast alle gesellschaftliche Kräfte, darunter insbesondere auch die Kirchen 7 2 beteiligen 73 . Die Diskussion leidet allerdings unter einem bedenklichen Mangel an sprachlicher Klarheit, der sogar zu einer ernsthaften Behinderung der demokratischen Willensbildung führen kann. Dies ist der Fall, wenn der Ausdruck „ G r u n d werte" unterschiedslos sowohl für die von allen getragenen Wertentscheidungen gebraucht wird, die in unsere Verfassung eingegangen sind, als auch für die Ziele und Maßstäbe, denen konkurrierende politische und gesellschaftliche Gruppen bei der Erarbeitung ihrer politischen Konzeption folgen. Dieser Mangel an sprachlicher Klarheit führt zur Einengung des legitimen Gestaltungsspielraums der politischen Kräfte auf den bloßen Vollzug vorgeblicher Verfassungsnormen. Außerdem liegt die Gefahr nahe, daß die eigenen politischen Ziele und Maßstäbe als Inhalt der Verfassung ausgegeben werden. Die abweichende inhaltliche Bestimmung der Grundwerte durch andere Gruppen erscheint dann nicht länger als legitime politische Herausforderung, sondern als eine Abweichung von der Verfassung selbst. Auch dies ist geeignet, den politischen Handlungsspielraum einzuengen. Es muß deshalb sorgfältig unterschieden werden zwischen — Grundrechten, Ordnungsprinzipien und Institutionen der Verfassung und ihrer Wertbezogenheit, — Rechtsgütern wie Leben, Gesundheit, Freizügigkeit, Eigentum, — Tugenden wie Rechtlichkeit, Zivilcourage, Offenheit, Toleranz und — den Grundwerten der miteinander konkurrierenden politischen Parteien. Daraus ergibt sich für mich mit den Worten des bereits mehrfach zitierten Papiers 7 4 : „ D i e Grundwerte der S P D sind nicht mit den Verfassungsgrundsätzen des Grundgesetzes identisch und gehen auch nicht in ihnen auf. Die Verfassung will und kann keine perfekte und vollständige Regelung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens sein. Unsere Politik ist daher auch nicht einfach Verfassungsvollzug. Vielmehr

69

70 71

Abgedruckt in PULTE (Hrsg.) Parteiprogramme (Loseblattsammlung, Neuwied), Teil A, 1.2. PULTE (Fn. 69), Teil A , 1.4. Siehe die Dokumentation G . GORSCHENEK (Hrsg.) Grundwerte in Staat und Gesellschaft, München 1977, S. O f f . - Vgl. auch den Vortragszyklus 1979/1980 der Schule der Bundeswehr für innere Führung: Grundwerte. Schriftenreihe der Bundeszentrale für polit. Bildung, B d . 168.

72

73

74

Grundwerte und Gottes Gebot, Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, 2. A u f l . , Gütersloh 1979. Eine Auswahlbibliographie zum Thema „ D i e Diskussion über Grundwerte in der Bundesrepublik Deutschland" (herausgegeben als N r . 51 vom Deutschen Bundestag, B o n n 1979) umfaßt allein für die Jahre 1 9 7 6 - 1 9 7 9 nahezu 100 Titel. Vgl. das Fn. 8 zitierte Papier.

1376

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

steckt die Verfassung lediglich den Rahmen ab, innerhalb dessen sich jede Politik halten muß, der jedoch auf unterschiedliche Weise gefüllt werden kann. Als Maßstäbe einer den Verfassungsrahmen ausfüllenden und die Grundrechte aktualisierenden Politik führen die Grundwerte daher über die Grundrechte hinaus. Sie stehen nicht etwa im Gegensatz zu den Grundrechten, die als unverzichtbare Maßstäbe respektiert werden, an denen sich die unterschiedlichen, wenn auch in gleicher Weise legalen politischen Konkretisierungen der Verfassung orientieren." Die Grundwertediskussion ist also keineswegs entbehrlich, rein akademisch oder gar konsensgefährdend. Sie kann im Gegenteil die Erneuerung des Konsenses auch in schwierigen Zeitabschnitten erleichtern 75 und hat dies — etwa in der Frage der Mitbestimmung 7 6 — auch schon in der Vergangenheit getan. Vielleicht liegt hier auch eine weitere Legitimations- und Motivationsreserve, deren wir gegebenenfalls rascher bedürfen als uns das allgemein bewußt ist 7 7 . Voraussetzung dafür ist allerdings, daß die Ableitung und Begründung der Grundwerte dem einzelnen und seiner freien Entscheidung überlassen bleibt. Weder der Staat noch die Parteien können hier Verbindlichkeit beanspruchen. Anderenfalls wäre die Grenze zur Staats- oder Parteitheologie überschritten 78 . Für den sozialdemokratischen Bereich hat die Grundwertediskussion außerdem in einer ganzen Reihe von Fragen zu Aussagen geführt, die früher oder später auch verfassungspolitische Relevanz erlangen können. Ohne Vollständigkeit nenne ich die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Gerechtigkeit 79 , die Entwicklung eines wertbezogenen Leistungsbegriffes 80 und die Begründung dafür, warum der Staat zwar weltanschaulich neutral sein muß, aber nicht wertneutral sein darf 8 1 . 2. Überbeanspruchung der Verfassung Die Gefahr einer Uberbeanspruchung der Verfassung wird in mehreren Beiträgen gesehen 82 . Diese Überbeanspruchung kann nicht nur darin bestehen, daß sie in Mißachtung ihrer Offenheit einseitig für die Absicherung von Interessen und Besitzständen oder in Überinterpretation ihrer zukunftsgerichteten, auf Wandel zielenden Prinzipien zur Einforderung ganz konkreter Reformvorhaben bis in deren Details herangezogen wird. Beides ist geeignet, den politischen Entscheidungsspielraum

Ähnlich BENDA „ T u g e n d der Pflichterfüllung" in: Ev. Kommentare 1981, S. 497. -"> Vgl. KRIEGER, oben S. 705ff. 7 7 ESSER ist zuzustimmen, wenn er sagt, die Diskussion werde auch von der H o f f n u n g genährt, „jenseits der wirren Tendenzen einer technischen und merkantilen Evolution Werte festzustellen, deren eindeutige objektive Gegebenheit (juristisch) Beurteilungen tiefer verankern läßt als in Zeitideologien und politischen Vorurteilen"; vgl. ESSER Werte und Wertwandel in der Gesetzesanwendung, Frankfurt/M. 1966, S. 5. Vor einer Vernach-

lässigung dieser Reserve warnt wohl auch

75

BENDA o b e n S. 507. 78

79 80 81

82

So schon das Godesberger Programm, neuerdings wiederum O R '85 Ziff. 1.1 und das in Fn. 8 genannte Papier, S. 4. O R '85, Ziffer 1.2. O R '85, Ziffer 1.8. Grundwerte und Grundrechte (oben Fn. 8), S . 1 5 . Vgl. auch die Auseinandersetzung mit dem Konzept der (bloßen) Konkurrenzdemokratie im Orientierungsrahmen '85 (oben Fn. 8), Ziffer 2.4. Unter anderem HESSE S. 2 2 f f , 2 5 f .

HANS-JOCHEN VOGEL

13 77

ebenso zu verkürzen, wie dies Grenzüberschreitungen in der Verfassungsrechtsprechung tun (vgl. oben S. 1370). Nicht minder bedeutsam ist aber die Überlastung unserer Verfassung dadurch, daß sie in Ermangelung anderer identitäts- und einheitsstiftender Faktoren und auch infolge des wenig befriedigenden Zustands unserer politischen Kultur Wirkungen hervorbringen soll, die in vergleichbaren Ländern von der Nation, der Geschichte, der Tradition, der durch lange Übung und Gewohnheit erworbenen Selbstverständlichkeit bestimmter Verhaltensweisen geleistet werden. Was die Pflege der politischen Kultur angeht, so gibt es ermutigende Anzeichen dafür, daß sie jedenfalls als Problem erkannt wird 83 . Auf der anderen Seite gerät mit der zunehmenden Neigung, zur Durchsetzung politischen Ziele Gewalt anzuwenden, ein elementarer Bestandteil politischer Kultur, der zu Recht als einer der größten zivilisatorischen Errungenschaften angesehen wird, — nämlich die Gewaltfreiheit des innenpolitischen Kampfes — in Gefahr. In der anderen Hinsicht leiden wir noch immer unter den Folgen des Einbruchs oder besser gesagt des nicht verhinderten Ausbruchs der Barberei in unserer Geschichte vor jetzt genau einem halben Jahrhundert. Die 12 Jahre zwischen 1933 und 1945 ziehen sich wie ein tiefer Graben durch die Kontinuität unserer Geschichte, und der Verlust der Nationalstaatlichkeit durch die Entstehung von zwei Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches machte den Bruch der Kontinuität noch spürbarer. Dem Grundgesetz ist ein Brückenschlag über diesen Graben hinweg, ist die Anknüpfung an positive Uberlieferungen unserer Vergangenheit, etwa an das liberale und rechtsstaatliche Gedankengut der bürgerlichen Bewegung des 19. Jahrhunderts, wie es in der Paulskirchenverfassung seinen Ausdruck fand, und in Grenzen auch an die sozialen Reformtraditionen der Arbeiterbewegung, gelungen. Ihm allein kann es aber auf Dauer nicht gelingen, unser Volk wieder zu einer Geschichts-, Gefühls-, Kultur- und Sprachgemeinschaft werden zu lassen, die ihren Gliedern Halt, Selbstbewußtsein und Orientierung gibt und dabei auch diejenigen nicht aus dem Blick verliert, die dem anderen deutschen Staat angehören. Dazu werden wir uns auf unsere Geschichte besinnen, sie uns mit ihren Licht- und Schattenseiten wieder aneignen 84 und auch den recht verstandenen Nationbegriff wieder mit Leben erfüllen müssen. Nicht im Sinne pathetischer Redensarten, aber im Sinne einer Normalisierung unseres Lebensgefühls, das anderen Völkern ganz selbstverständlich ist. Der Verfassungskonsens kann das erleichtern, kann einen Kristallisationspunkt abgeben, ersetzen kann er es nicht. Letzteres vor allem dann nicht, wenn die Identifikation mit einem als stetig wachsend vorgestellten Bruttosozialprodukt allmählich brüchig zu werden scheint.

83

So zum Beispiel das Papier „ Z u r politischen Kultur in der Demokratie" der Grundwertekommission beim SPD-Parteivorstand, 1980.

84

Zu pessimistisch BENDA oben S. 540. F ü r ein Wiedererwachen des Geschichtsinteresses spricht z . B . der starke Zulauf aller Ausstellungen mit geschichtlichen Themen.

1378

9 . Kapitel. Abschließende Ä u ß e r u n g e n der Herausgeber

C. Gegenwärtiger Zustand und Bewußtsein unserer Gesellschaft — Ausblick Wird der Verfassungskonsens auch künftig tragen? Die Beiträge, die sich dazu äußern, tun es vorsichtig, aber doch mit einem eher zuversichtlichen Unterton 8 5 . Sie lassen jedoch nur gelegentlich erkennen, von welcher Gesamteinschätzung des gegenwärtigen Zustands unserer Gesellschaft und ihres Bewußtseins sie dabei ausgehen. Auf diesen Zustand soll daher an dieser Stelle noch etwas näher eingegangen werden. Der gegenwärtige Zustand unserer Gesellschaft und ihres Bewußtseins erscheint durch einen merkwürdigen Zwiespalt gekennzeichnet. Einerseits ist die objektive Situation des überwiegenden Teils der Bevölkerung nach den herkömmlichen Maßstäben trotz zunehmender Arbeitslosigkeit und wachsender wirtschaftlicher Schwierigkeiten noch immer als erträglich, ja im Vergleich zu anderen Völkern als gut anzusehen. Gravierende materielle Not ist eher selten, ein über dem Standard der 60er und der frühen 70er Jahre liegender Lebensstandard die Regel. Das System der sozialen Absicherung hat Korrekturen und Reduzierungen erfahren, funktioniert aber insgesamt noch immer zufriedenstellend, wenn auch nicht mehr mit der lautlosen Selbstverständlichkeit, an die wir gewohnt waren. Das Maß an individueller Freiheit geht deutlich über den internationalen und auch über den Standard westlicher Demokratien hinaus. Dennoch ist das Lebensgefühl nicht unerheblicher Teile unseres Volkes, insbesondere — aber nicht nur — von Teilen der jungen Generation 86 durch eine Erschütterung des Fortschritts- und Wachstumsglaubens 87 und durch Zukunftsbesorgnis, ja mitunter durch Zukunftsangst 88 bestimmt. Genährt wird diese Sorge durch die fortgesetzte Anhäufung nuklearer Sprengkörper, durch die technologische Entwicklung, die menschlichen Handlungen in bezug auf die Natur eine bisher unbekannte Intensität des Eingriffs und eine beispiellose kausale Reichweite in die Zukunft 89 verliehen hat, und das durch die Bevölkerungsexplosion noch gesteigerte Krisenpotential der Dritten Welt. Dabei ist es jeweils das Ausmaß möglicher Katastrophen, das als schreckenerregend und alle bisherigen geschichtlichen Erfahrungen weit übersteigend empfunden wird. Zu diesen Befürchtungen tritt ein wachsendes Unbehagen an der zunehmenden Reglementierung aller Lebensäußerungen durch rechtliche, aber auch durch außerrechtliche Verhaltensnormen 90 und durch eine wuchernde Bürokratie, an der Un85

86

HESSE S. 2 2 f f und S. 1 0 4 f f ; SCHNEIDER S.

88

So auch BENDA, oben S. 5 2 6 , 5 4 7 .

2 9 2 f ; BENDA S. 1 2 6 f f und S. 5 4 7 f . F ü r Teil-

89

JONAS a a O ( F n . 4 8 ) , S. 8 f ; BENDA a a O ( F n .

bereiche auch FUCHS S. 7 6 3 ; VOGEL S. 8 6 2 ;

88);

SIMON S. 1 2 8 7 .

politischer Entscheidungen und d e m daraus

Z u r Bewußtseinslage der jungen Generation

resultierenden Defizit an P r o g n o s e - und Pla-

und z u m sogenannten Jugendprotest vgl. auch den Zwischenbericht v o m 2 8 . 4 . 1 9 8 2 der v o m Bundestag im Mai 1981 eingesetzten E n q u e t e Kommission

„ J u g e n d p r o t e s t im demokrati-

sehen Staat", B T - D r u c k s . 9 / 4 1 1 . 87

So beispielsweise das in F n . 3 2 genannte P a pier, S . 1 2 , 2 1 .

zur wachsenden zeitlichen

Reichweite

nungskraft, SCHNEIDER oben S. 2 9 2 . 90

Die an eine Berliner H a u s m a u e r gesprühte Inschrift „ L i f e is X e r o x , y o u are just a c o p y " gibt diesem Gefühl einen plastischen druck. Vgl. auch BENDA o b e n S. 114 f.

Aus-

HANS-JOCHEN

1379

VOGEL

d u r c h s c h a u b a r k e i t d e r R e g e l u n g s p r o z e s s e s o w i e an d e r als m e n s c h l i c h e s M a ß m i t unter überschreitend erachteten G r ö ß e n e n t w i c k l u n g v o n Organisationen,

Einrich-

t u n g e n , K ö r p e r s c h a f t e n u n d auch v o n B a u t e n h i n z u 9 1 . Z u g l e i c h v e r s p ü r e n viele ein N a c h l a s s e n d e r stabilisierenden K r a f t k l e i n e r e r s o z i a l e r E i n h e i t e n , w i e d e r F a m i l i e o d e r d e r N a c h b a r s c h a f t , u n d des s o z i a l e n G e f l e c h t s ü b e r h a u p t . In dieser S i t u a t i o n n e h m e n die S p a n n u n g e n z w i s c h e n d e n j e w e i l i g e n M e h r h e i t e n und Minderheiten zu und erreichen mitunter den G r a d gefährlicher Polarisierungen92. D e r Wille, den erreichten Besitzstand zu verteidigen93 und der wachsenden U n r u h e u n d U n s i c h e r h e i t z u b e g e g n e n , f ü h r t da u n d d o r t z u e i n e r W a g e n b u r g - M e n t a l i t ä t , die sich gegen alle V e r ä n d e r u n g s t e n d e n z e n v e r h ä r t e t , w ä h r e n d eine a u f k o m m e n d e F u n d a m e n t a l o p p o s i t i o n ihrerseits f ü r i h r e A n l i e g e n in b e s t i m m t e n F ä l l e n ein W i d e r s t a n d s r e c h t in A n s p r u c h n i m m t 9 4 , b e s t i m m t e E l e m e n t e des h e r k ö m m l i c h e n P a r l a m e n t s v e r s t ä n d n i s s e s v e r n e i n t 9 5 u n d auch die A n w e n d u n g v o n G e w a l t z u r D u r c h s e t z u n g i h r e r Ziele n i c h t generell a b l e h n t 9 6 . D i e B e w ä l t i g u n g dieser K o n f l i k t e , die auch d u r c h eine sich partiell a u s b r e i t e n d e S p r a c h l o s i g k e i t g e k e n n z e i c h n e t

werden,

belastet i n s b e s o n d e r e diejenigen I n s t i t u t i o n e n u n d G e m e i n s c h a f t e n , in d e n e n b e i d e B e w u ß t s e i n s l a g e n u n d die aus i h n e n j e w e i l s e r w a c h s e n d e n T e n d e n z e n w i r k s a m s i n d 9 7 . N e b e n d e r K o m m u n i k a t i o n s l ü c k e spielt bei all d e m gerade in d e r j u n g e n G e n e r a t i o n auch die G l a u b w ü r d i g k e i t s l ü c k e , d . h . das F e h l e n des V e r t r a u e n s eine g e w i c h t i g e Rolle98. 91

92

93

Hier sind unter anderem die Gebietsreformen — dazu VOGEL oben S. 858 —, die Größenordnungen einzelner Wohnungsbaugesellschaften, die sich vom ursprünglichen Genossenschaftsgedanken weit entfernt haben, aber auch die Dimensionen einiger Groß-KIinika und Schulzentren zu nennen. Als Beispiele seien die Konfrontationen hinsichtlich des weiteren Baus von Kernkraftwerken und des Ausbaus der Startbahn West in Frankfurt/M., aber auch die Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit den Hausbesetzungen in Berlin erwähnt. Eine gefährliche Polarisierung könnte sich ferner im Verhältnis zu den in der Bundesrepublik lebenden Ausländern ergeben. Zur politischen und sozialen Brisanz einer Besitzstandswahrung um jeden Preis besonders

96

97

a n s c h a u l i c h ZEIDLER D J T ( F n . 2 8 ) S . 1 1 6 . 94

95

Vgl. dazu H . ALBERS „Rechtsstaat und W i derstandsrecht in der ökologischen Krise" (Vortrag vor der Ev. Akademie Mühlheim/ Ruhr am 29.11.1981). Anders als beim Studentenprotest des Jahres 1968 wird die Mitwirkung im Parlament nicht mehr prinzipiell abgelehnt. Ihr Stellenwert wird jedoch gegenüber der sogenannten Politik an der Basis geringer veranschlagt („Spielbein" gegenüber dem „Standbein"). Außer-

98

dem werden das imperative Mandat und die Mandatsrotation durch vorher vereinbartes Ausscheiden der zuerst Gewählten bejaht. Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese Positionen im Verlaufe des sich bereits da und dort abzeichnenden Parlamentarisierungsprozesses tatsächlich durchgehalten werden. Dazu besonders aufschlußreich die (selbstkritische) Diskussion innerhalb der Berliner Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz ( A L ) im Anschluß an den Besuch des US-Präsidenten in Berlin im Juni 1982. Vgl. etwa „Der Spiegel" N r . 25 vom 21. Juni 1982, S. 32. So etwa die Evangelische und in vorläufig noch geringerem M a ß die Katholische Kirche und von den Parteien vor allem die SPD. Zur Diskussion in der SPD vgl. die Auseinandersetzung um die sog. Löwenthal-Thesen (insbesondere in: Die Neue Gesellschaft, Hefte 1 und 2 (1982), aber auch das Papier „Die Arbeiterbewegung und der Wandel gesellschaftlichen Bewußtseins und Verhaltens" der Grundwertekommission beim SPD-Parteivorstand (1982). Als Glaubwürdigkeitslücke wird das schwindende Vertrauen darauf bezeichnet, daß die Politik auch so handle wie sie es ankündige und erkläre. Als besonders krasses Beispiel

1380

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

Wir stehen damit vor, vielleicht sogar schon in einer ernsthaften Bewährungsprobe unserer Verfassung, die den Verfassungskonsens gefährden könnte. Dies insbesondere dann, wenn inhaltliche Ansätze, Gedankengänge und Zielsetzungen neu aufgebrochener Bewegungen, ja schon die von ihnen gestellten Fragen leichtfertig aus dem Bereich des von der Verfassung eröffneten und gewollten politischen Spielraums hinausgedrängt würden. Hier wird gerade die ältere Generation und die etablierte Politik noch zu lernen haben. Wer für den Austritt aus der N a t o wirbt, wer keine Atomkraftwerke will, wer für ein selektives Wachstum oder gar für ein NullWachstum eintritt, mag politisch irren und Falsches, ja Schädliches fordern, und es ist Sache der Politik, das auszutragen — er verläßt damit aber nicht den Boden der Verfassung. Der Verfassungskonsens würde aber ebenso Schaden leiden, wenn das parlamentarische Prinzip als solches, das Gewaltmonopol des Staates oder die gleichmäßige Anwendung des Rechts in Frage gestellt und leichtfertig mit dem Begriff des Widerstands gespielt wird. Beiden Gefahren gilt es mit Festigkeit, aber auch mit Gelassenheit zu begegnen. Nicht die Eiferer, die Aufgeregten, die Exponenten eines immerwährenden gesellschaftlichen und geistigen Belagerungs- oder gar Kriegszustandes waren die Stifter, Erneuerer und Bewahrer des Gemeinschaftsfriedens, sondern die Gelassenen, die ihrer Erfahrungen und ihrer selbst Sicheren, die gerade deswegen auch zum Lernen und Verändern und zum Kompromiß fähig waren. Bei ihnen wird deshalb auch in allen politischen Lagern die Verfassung, ihre Interpretation und ihre Fortentwicklung in den besten Händen sein.

wird aus jüngster Zeit der Versuch der im Bundestag vertretenen Parteien genannt, im Eilverfahren eine Grundgesetzänderung und eine Amnestie zugunsten von Politikern zustande zu bringen, die bei der Beschaffung von Parteispenden gegen geltendes Steuerstraf-

recht verstoßen haben. Der Versuch scheiterte bekanntlich am Widerstand innerhalb der SPD-Bundes tagsfraktion. Wegen weiterer Gründe für den Verlust der herkömmlichen Parteien an Authentizität und Glaubwürdigkeit vgl. SCHNEIDER oben S. 290.

Abschließende Äußerungen WERNER MAIHOFER

Einleitung: Zur Aufgabenstellung der Schlußbemerkung Den Herausgebern ist in den Schlußbemerkungen die Aufgabe zugefallen, von ihren verschiedenen wissenschaftlichen wie politischen Herkünften her, die Beiträge der Autoren dieses Handbuches zum einen daraufhin zu reflektieren, ob der unser Grundgesetz tragende Konsens im Grundsätzlichen auch dreißig Jahre danach noch feststeht und fortbesteht. Zum andern aber auch, die von den einzelnen Autoren in diesem Handbuch eingenommenen Standpunkte der Verfassungsinterpretation und Verfassungspolitik jedenfalls da vom eigenen Standpunkt her zu kommentieren, wo wesentliche Dissenspunkte oder gar Kontroverspunkte bestehen, die nicht mit als Zustimmung ausdeutbarem Stillschweigen übergangen werden können. Bei einer nachträglichen Gesamtwürdigung der Beiträge dieses Handbuches unter der ersten Fragestellung ergibt sich der erstaunliche Befund, daß in allen Grundsatzfragen nicht nur kein prinzipieller Dissens, sondern eine weitreichende Übereinstimmung, auch und gerade da besteht, wo es um die Kernfragen unserer Staatsverfassung geht, die wir gerne heute als den Gegenstand des sog. Grundkonsenses bezeichnen. Auch die Dissenspunkte in Einzelfragen betreffen Nuancen und Akzente, die mit einer unterschiedlichen Beurteilung der Wirklichkeit, oder mit einer verschiedenen Auslegung des Rechts zu tun haben, mit dem wir als Verfassungsrecht diese Verfassungswirklichkeit erhalten oder gestalten, bewahren oder verändern wollen. Da sich in einem solchen Nachwort der Herausgeber, ohne die Möglichkeit eines Widerworts der Autoren, eine Auseinandersetzung in Einzelfragen verbietet, kann es auch hier nur darum gehen, da einen Dissens in der Perspektive auf die Wirklichkeit oder der Interpretation des Rechts zu markieren, wo er prinzipiell erscheint. So scheint mir ELLWEIN die Gefährlichkeit des parlamentarischen Defizits unserer derzeitigen Legislative zu unterschätzen1, zu der schon HANS-PETER SCHNEIDER alles Notwendige bemerkt und bedenkenswerte Vorschläge zur Stärkung der Rechte der Opposition gemacht hat2. Ebenso erscheint mir ISENSEE, in dem berechtigten Streben nach Bewahrung der Errungenschaften des durchaus auch als Freiheitsgarantie in Amtsfunktionen der Ex1

Vgl. dazu: TH. ELLWEIN oben S. 1097ff, 1112ff.

2

Vgl. dagegen: H.-P. SCHNEIDER oben S. 283ff, 287ff, 290ff.

1382

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

ekutive zu verstehenden Beamtenstatus, die unbestreitbare Tatsache nicht genügend zu würdigen, daß ein Großteil der Beamten unseres heutigen Leistungsstaates funktional keinesfalls unter diese Privilegierungen des Art. 33 Abs. 4 und 5 G G fallen, die für den Kernbereich der Hoheitstätigkeit des Staates gedacht und auf ihn zu beschränken sind3. Das gilt auch für die Beiträge zum Thema des Extremismus in diesem und in anderem Zusammenhang, etwa bei KRIELE4. Hier würde ich nicht nur meine Position näher bei der von DENNINGER5 und GRIMM6 vertretenen sehen. Darüber hinaus jedoch, trotz der bekannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, diese Sache noch immer nicht für eines freiheitlichen Rechtsstaates würdig erledigt halten, als doch ernsthaft weiter gefragt werden muß, ob wir nicht dem internationalen Standard westlicher Demokratien uns dadurch nähern sollten, daß wir, bis auf den engeren Sicherheitsbereich des Staates, für den schon jetzt andere Einstellungsgrundsätze gelten, im übrigen jede Nichtzulassung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst aus politischen Gründen von einer vorherigen Verbotsentscheidung gegen die betreffende Partei oder Vereinigung abhängig machen. Auch in dem Beitrag von S C H I F F E R 7 zum Wahlrecht erscheint mir zwar das Bestreben gerechtfertigt, auch im Kommunalwahlrecht nicht eine mögliche Perversion der Selbstverwaltung unserer Kommunen durch die uneingeschränkte Zulassung von Ausländern zur Gemeindewahl eintreten zu lassen. Doch erscheint andererseits die Nichtzulassung von Angehörigen der Staaten der Europäischen Gemeinschaft zu solchen Wahlen in unserem Lande schwer mit dem Gedanken und Streben nach einer Europäischen Union vereinbar. Hier könnte und sollte gerade unser Land einen mutigen Schritt nach vorne tun. Es wäre mehr als nur ein europäisches Symbol. Es wäre eine politische Demonstration unseres Landes für Europa, dem auch andere Länder Respekt und Konsequenz auf die Dauer nicht versagen könnten. Alles dies aber sind Einzelfragen, über die sich schwerlich hier weiter rechten läßt. So wenig wie es sich lohnte, über die Gründe öffentlich nachzusinnen, warum trotz der historischen Situation in der wir uns befinden, der Grundkonsens, der unsere Demokratie trägt, noch so unverändert und uneingeschränkt, jedenfalls im Grundsätzlichen fortbesteht. Statt dessen erscheint es tunlicher, abschließend einigen der grundsätzlichen Fragen und Fragwürdigkeiten nachzugehen, die sich bei einer Gesamtbetrachtung auch dieses Handbuches aufdrängen. Und die bisher, auch in diesen Beiträgen, noch keine Antwort finden. Danach: was es denn eigentlich mit diesem Grundkonsens über sog. Grundwerte auf sich hat, um den sich der in der Grundwertediskussion geführte Parteienstreit dreht, oder doch zu drehen scheint? Und: was sich daraus für die Grundpositionen der Verfassungspolitik ergibt, aber auch für den auch bei den Autoren dieses Handbuches festzustellenden Wertdissens in der Verfassungsinterpretation? Zuletzt aber auch:

3 4 5

Vgl. dazu: J . ISENSEE oben S. 1176ff. Vgl. dazu auch: M . KRIELE oben S. 163ff. Vgl. dagegen: E. DENNINGER oben S. 1311 ff.

6 7

Vgl. weiter: D . GRIMM oben S. 317ff. Vgl. dazu: E . SCHIFFER oben S. 2 9 5 f f ; aber auch: W . VON SIMSON oben S. 74.

WERNER

1383

MAIHOFER

welche Hauptpunkte der Verfassungsrevision sich bei einer nüchternen Würdigung auch der Beiträge dieses Handbuches, wie schon der seit Jahren ungenutzt vorliegenden Vorschläge der sog. Enquêtekommission zur Verfassungsreform, ergeben. Zuvor aber schon: von welcher historischen Situation wir eigentlich angesichts der Entwicklungen unserer Verfassungswirklichkeit auszugehen, und wie wir sie aus jeweiliger politischer Perspektive, aber möglicherweise demokratischer Perspektive überhaupt, zu verstehen und zu bewerten haben? Diesen Fragen wollen wir im folgenden abschließend nachzugehen versuchen.

I. Epochale Krise und demokratische Revolution Die Konstitution einer Demokratie beruht auf dem Konsens der Demokraten. Als Herrschaft durch und für das Volk gründet die Verfassung einer Demokratie, die den Namen einer Volksherrschaft verdient, anders als die einer Autokratie, im Bewußtsein und Willen des Volkes. Sie wird darum grundlos, wo dieses tragende Bewußtsein und der entschlossene Wille des Volkes zu einer solchen demokratischen Form der Herrschaft von Menschen über Menschen: der Selbstherrschaft und Selbstbeherrschung, schwindet. Eine solche Demokratie mag dann zwar in Schönwetterzeiten als eine äußere Form ohne innere Substanz fortbestehen. Aber sie wird ernsthafte Herausforderungen in Sturmzeiten nicht überstehen. Deshalb besteht, anders als für die Untertanen eines Obrigkeitsstaates oder gar Klassenstaates, der diesen als Werkzeug der Fremdbestimmung oder gar der Unterdrückung gegenübertritt, für die Bürger eines solchen Volksstaates oder auch Freistaates, der nichts anderes sein kann und darf als Ausdruck der „Selbstbestimmung des Volkes", der also wie die Verfassungsväter des Grundgesetzes erklären, ein Staat ist, der „um des Menschen willen da" ist, nicht „der Mensch um des Staates willen" 8 , aller Anlaß im Wandel der Zeit und Welt immer wieder prüfend sich zu fragen, ob dieser Grund weiter feststeht und noch fortbesteht, auf dem dieser Staat beruht. Wie es mit anderen Worten also mit dem Konsens steht, auf dem unsere Demokratie begründet ist, den wir heute auch den Grundkonsens zu nennen pflegen9. Die Frage nach dem Bestehen und Fortbestehen des Grundkonsenses, auf dem unsere Staatsform 1949 begründet wurde, stellt sich nicht zufällig heute drängender als in früheren Zeiten fragloser Selbstverständlichkeit. Dies hat einmal seinen tieferen Grund in dem, was wir die epochale Krise der Gegenwart genannt haben10 und noch immer nennen. Dabei ist Krise nicht einfach in jener abgeflachten Bedeutung von „Schwierigkeit" gemeint, die wir vom neudeutschen Wort Krisenmanagement her kennen: „mit Schwierigkeiten fertig zu werden". 8 9

Dazu grundsätzlich schon oben S. 195 f f . Dazu einführend: W . MAIHOFER Grundwerte heute in Staat und Gesellschaft, in: Grundwerte in Staat und Gesellschaft, hrsg. von G. Gorschenek, 1977, S. 8 8 f f .

10

So schon in der Verfassungsdebatte des Deutschen Bundestages, in: BT Sten. Ber. 7/5159; vgl. dazu auch H. MAIER, der bei demselben Anlaß von „geistiger Bewegung in der Tiefe der Gesellschaft" spricht (aaO S. 5092).

1384

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

Sie hat somit auch nichts mit dem üblichen Krisengerede zu tun, von dem alle Zeiten voll sind, wie uns ein geschichtlicher Rückblick lehrt. Mit Krise ist jene „Wende": jener Wandel der Zeiten gemeint, der aus grundlegenden geistigen Veränderungen hervorgeht. Und der so tiefgreifende Erschütterungen und damit Unsicherheiten der Fortexistenz und der Weltorientierung auslöst, die über den üblichen Generationenkonflikt hinausgehen, den schon Piaton mit nahezu den gleichen Worten beschreibt, wie sie auch heute in aller Munde sind. Wenn wir darum von einer epochalen Krise oder besser Krisis reden, dann meinen wir damit jene tiefgründigen Veränderungen der modernen Epoche, die mit den demokratischen Revolutionen am Ende der Neuzeit anheben, für die wir noch keine, Antike und Mittelalter vergleichbare, Geschichtsbezeichnung kennen. Daß diese Epoche der Moderne durch Erscheinungen und Entwicklungen gekennzeichnet ist, wie die zur Industriegesellscbaft und zur Massendemokratie, mit der sie sich allen früheren Epochen gegenüber nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unterscheidet, soll uns hier nicht weiter beschäftigen, obwohl auch davon tiefsitzende Verunsicherungen ausgehen, die in Existenzangst und Orientierungslosigkeit sich äußern. Was nicht nur mit bisher unbekannten Verheißungen aber auch Schrecken unseres eben anbrechenden Atomzeitalters zu tun hat, sondern ebenso mit noch nie dagewesenen Zerstreuungen aber auch Verführungen unseres eben ausbrechenden Medienzeitalters. Sondern, was sehr viel tiefgreifender und hintergründiger noch mit zwei anderen Charakteristiken unserer Epoche zu tun hat, die einen grundlegenden „Wandel der Denkungsart" (KANT) anzeigen, den wir mit Worten wie „gesellschaftswissenschaftliche Aufklärung", aber auch „Zeitalter der Gleichheit" umschreiben. 1. Der Wandel der Gesellschaft im Zeitalter der gesellschaftswissenschaftlichen Aufklärung In dieser ersten Hinsicht geht unsere Epoche der Moderne, über das Zeitalter der Neuzeit und die in ihm ausbrechende naturwissenschaftliche Aufklärung und daraus folgende (Natur)Technik, mit dem Heraufkommen der modernen Gesellschaftswissenschaften seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts weit hinaus 11 . Dadurch werden Gesellschaft und Wirtschaft, Recht und Staat in ganz anderer Weise als je zuvor zum Gegenstand einer ihre Erkenntnisse nicht nur rational reflektierenden, sondern ihre Ergebnisse auch empirisch verifizierenden Wissenschaft. So wie in den modernen Sozialwissenschaften: der Ökonomie, der Soziologie wie der Politologie, verwandelt sich selbst die moderne Jurisprudenz, mit dem Aufbrechen der Frage nach dem „Zweck im Recht", nach dem „Zweckgedanken im Strafrecht", ja mit dem Einbrechen der sog. „Interessenjurisprudenz" selbst in die klassischen Positionen der Zivilrechtsdogmatik, in eine mehr und mehr norm- und sozialwissenschaftlich fragende Erkenntnis- und Handlungswissenschaft 12 . 11

Dazu besonders: N . LUHMANN Soziologische Aufklärung, 4. Aufl., 1974, insbes. Bd. 1, 5. 66 ff.

12

D a z u : W. MAIHOFER Realistische Jurisprudenz, in: Rechtstheorie, Beiträge zur Grundlagendiskussion, hrsg. von G . Jahr u. a., S. 427ff, aber auch S. 247ff.

WERNER

1385

MAIHOFER

Diese Entwicklung ist noch immer in vollem Gange. Es ist wohl kein Zufall, daß die um die Mitte unseres Jahrhunderts ausbrechende „Revolte der Jugend für die Evolution der Gesellschaften in Ost und West 13 in engem Zusammenhang mit dieser „gesellschaftswissenschaftlichen Aufklärung" steht, die aus diesen modernen Sozialwissenschaften und der mit ihr verschwisterten Sozialphilosophie hervorgeht, die mit der von L U D W I G F E U E R B A C H eingeleiteten Religionskritik anhebt, bei K A R L M A R X in Sozialkritik sich fortsetzt, und zuletzt in der modernen Rechts- und Sozialphilosophie in Ideologiekritik umschlägt 14 . Vor diesem geistigen Hintergrund einer über diese Stufen fortschreitenden sozialwissenschaftlichen Aufklärung müssen all die weitreichenden Veränderungen der Sexualmoral, nicht nur der Jugendlichen, das Suchen nach alternativen Formen nichtinstitutionellen Zusammenlebens der Geschlechter oder der antiautoritären Erziehung der Kinder verstanden werden, die in der gesamten westlichen Welt, und darüber hinaus, in wenigen Jahrzehnten das Verhalten und die Verhältnisse zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen Alt und Jung von Grund auf verwandelt haben. Für die hierdurch ausgelösten Erschütterungen bisheriger Selbstverständlichkeiten und Selbstgewißheiten, die Umstürzung überkommener Verhaltensgewohnheiten, ja die „Umwertung aller Werte" (NIETZSCHE), die sich hier in wenig mehr als einem Jahrzehnt, nicht nur in Gedanken, sondern auch in der Wirklichkeit vollzogen hat, scheint mir das Wort epochale Krise eher eine Untertreibung. Daß dieser Bewußtseinswandel und die entsprechenden Verhaltensänderungen auch Gesetzgebung und Rechtsprechung geradezu überrollt haben, zeigt der Fortschritt des Bewußtseins, von der noch vor Jahrzehnten ernsthaft als strafwürdig erklärten sog. Verlobungskuppelei, bis zu heutigen Auffassungen aus richterlichem Munde zu Ehe und Familie, wie sie sich in dem Beitrag W O L F G A N G Z E I D L E R S niederschlagen 15 . Wie sehr sich hier in wenigen Jahren die Welt, die Menschen, ihre Auffassung von Recht und Unrecht, und mit ihr die Gesetze unseres Staates gewandelt haben, zeigt sich nicht nur im Alternativentwurf 1965 zur Strafrechtsreform, mit dem der Allgemeine Teil unseres Strafrechts fast über Nacht von dem seit Jahrhunderten geltenden klassischen Vergeltungsstrafrecht in ein modernes Resozialisierungsstrafrecht verwandelt worden ist. Es zeigt sich ebenso in einer ganzen Serie von Novellen auch zum Besonderen Teil des Strafrechts, die aus anderen Alternativentwürfen der Wissenschaft folgten, die der seit zwei Jahrtausenden geltenden Strafbarkeit der Gotteslästerung oder des Ehebruchs, aber auch der Sodomie oder der Homosexualität, der Kuppelei oder Zuhälterei, der Prostitution oder Pornographie ein Ende machten 16 .

13

14

D a z u im einzelnen: W. MAIHOFER D i e Revolte der Jugend für die Evolution der Gesellschaften in O s t und West, in: Jahrbuch für kritische Aufklärung, B d . IV, 1970, S. 9 4 f f . D a z u einführend: W . MAIHOFER Ideologie und Recht; u n d : A . HOLLERBACH Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht, hrsg. von W. Maihofer, 1969, S. l f f , S. 3 7 f f ;

15

16

aber auch S. 121 ff zu Ideologie und N a t u r recht. Vgl. die eindrücklichen Ausführungen über „Realitäts- und Sinnwandel" (S. 556ff) und „Erschütterungen und Veränderungen" (S. 558ff). Vgl. dazu etwa die Beiträge von F. BAUER über „ D a s Strafrecht und das heutige Bild des

1386

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

Nicht weniger spiegelt dieser Umbruch in der Entwicklung der Abtreibungsgesetzgebung, von der noch im Entwurf der Großen Strafrechtskommission 1962 empfohlenen strengen Indikationenregelung eines noch mit Zuchthaus bedrohten Kriminaltatbestandes, ohne auch nur eine ethische, geschweige denn eine soziale Indikation, bis zur Einführung eines umfassenden Indikationenkatalogs, dessen Handhabung der sozialen Indikation, in ihrer praktischen Konsequenz heute, für verspätete Schwangerschaftsunterbrechungen selbst über die sog. Fristenregelung hinausgeht. Die in all diesen gesetzgeberischen Entwicklungen sich niederschlagende tiefgreifende Veränderung der sozialen Moral auch in unserer Gesellschaft, hat jedoch nicht nur die bisher betrachtete Seite der Negation von Tradition. Sie hat sehr viel weniger bemerklich und auffällig auch stets die andere Seite der Innovation: der allmählichen Auflockerung und nachfolgenden Ablösung überkommener Verhaltensmuster durch eine neue soziale Moral17. Wie wir sie nicht nur im Verhältnis und Verhalten der Jugendlichen untereinander, sondern auch zwischen den Generationen entstehen sehen, bis hinein in Familie und Schule, in Universität und Betrieb. Es genügt sich nur einen Augenblick einmal zu vergegenwärtigen, wie es jeweils unter denselben Verhältnissen vor noch nicht drei Jahrzehnten „zugegangen" ist, um sich des grundstürzenden Wandels der „Moral" bewußt zu werden, der sich hier, in entscheidenden Hinsichten, in wenigen Jahren vollzogen hat. Daß mit solcher Innovation von Tradition „Befremdung" auf der einen, wie „Verunsicherung" auf der anderen Seite für eine lange Ubergangszeit dieses erneuerten und erneuernden „Experimentum mundi" ( B L O C H ) verbunden ist, kann jeder alltäglich an sich beobachten. Nicht nur Negation, sondern auch Position im ganz wörtlichen Sinne, vollzieht sich in unserer Umbruchszeit (Zeitwende) auch in der mit dem Entstehen einer neuen Sozialmoral verbundenen fortschreitenden sozialen Emanzipation der Frau und zugleich des Mannes in der heutigen Gesellschaft, die ebenso über die Auflockerung überlieferter Rollenerwartungen und die Ausbildung neuartiger Rollenverständnisse von Mann und Frau in der häuslichen wie in der öffentlichen Welt sich vollzieht. Mit weiterem Spielraum für die individuelle Differenzierung der sozialen Positionen im Verhältnis der beiderseitigen Geschlechtsrollen, und mit weitergehender Abstimmung der wechselseitigen Rollen in Familie und Beruf 18 . Auch hier zeigt die teilnehmende Beobachtung beliebiger jüngerer Ehen und Familien eine in eben denselben, wenigen Jahrzehnten vollzogene Ausbreitung und zunehmende Verfestigung partnerschaftlicher Verhaltensweisen zu fast neuer Selbstverständlichkeit, mit bewußterer Zuständigkeitsaufteilung und ausgewogenerer Lastenverteilung. Mit einer so jedenfalls nie gekannten Befreiung der Frau, im Gefolge ebenso der Errungenschaften unserer technischen Zivilisation, wie einer so nie zuvor gelebten

M e n s c h e n " , und meinen Beitrag über „ G o t -

17

Vgl. dazu besonders: A . PLACK P l ä d o y e r für

18

Vgl. dazu s c h o n : H . SCHELSKY Soziologie der

teslästerung" und „ D i e R e f o r m des B e s o n d e ren Teils des Strafrechts" insgesamt, in: Die Deutsche

Strafrechtsreform,

hrsg.

von

Reinisch, 1 9 6 7 , S. 11 ff, 171 ff und 72 ff.

L.

die Abschaffung des Strafrechts, 1 9 7 4 . Sexualität, über die Beziehungen

zwischen

Geschlecht, M o r a l und Gesellschaft, 1 9 5 5 .

WERNER

MAIHOFER

1387

sozialen Emanzipation, die in dem sprunghaften Anstieg des Anteils der Frauen auch an qualifizierteren Ausbildungsgängen, Lehrstellen und Berufstätigkeiten in den vergangenen Jahrzehnten ihren sichtbaren Ausdruck findet. Auch durch diese, seit einem Jahrhundert in Gedanken vorbereitete, nun endlich auch in der Wirklichkeit vollzogene, oder doch begonnene, „Gleichberechtigung von Mann und Frau", in Ehe und Familie, in Bildung und Beruf, wie sie auch von unserer Verfassung gefordert ist, sind grundlegende Veränderungen unserer heutigen Gesellschaft gegenüber der noch vor einer einzigen Generation eingetreten, die unvermeidliche Erschütterungen von langgehegten Verhaltensgewohnheiten und altvertrauten Rollenansprüchen im Gefolge hatten und noch haben, die ebenfalls mit dem Stichwort epochale Krise noch behutsam gekennzeichnet sind. Daß hier auch die Gesetzgebung bei den diese Emanzipation nachvollziehenden Reformen selbst mit unerprobten Vorstellungen auf schwankendem Boden sich voranbewegt, trägt selbst zu weiterer Verunsicherung mit bei, wofür die jüngste Familienrechtsreform und Ehescheidungsreform, mit ihren allzu vielen Unbedachtheiten und Ungereimtheiten, das belehrende und warnende Beispiel eines ohne gründliche rechtswissenschaftliche Vorarbeit und ohne ernsthafte Verarbeitung auch nur der vorliegenden sozialwissenschaftlichen Enqueten zustandegebrachten Gesetzgebungswerkes darstellt. 2. Die nachgeholte demokratische Revolution der Gesellschaft im Zeitalter der Gleichheit Die epochale Krisis, wie sie schon in diesen, einen grundlegenden Wertwandel reflektierenden Gesetzesänderungen sich äußert, hat jedoch eine zweite, damit eng verwobene, darüber hinausgehende nicht mehr nur soziale, sondern politische Dimension, auf die sich die oben genannte zweite Charakteristik dieser Epoche der Moderne als „Zeitalter der Gleichheit" ( T O C Q U E V I L L E ) bezieht 19 . Sie hat nicht mehr allein mit aufgebrochenen Fragwürdigkeiten sozialer Moral und sozialer Emanzipation in der Sphäre der Gesellschaft zu tun, deren reformerische Impulse in den beiden vergangenen Jahrzehnten, vom Sittlichkeitsstrafrecht bis hin zur Abtreibungsgesetzgebung, von der Familienrechtsreform bis hin zum Ehescheidungsrecht spürbar und wirksam geworden sind. Sie hat zu tun auch mit ¿tr politischen Konzeption des Staates, und der politischen Partizipation seiner Bürger in Staat und Gesellschaft, wie sie in den um die Mitte des 20. Jahrhunderts aufkommenden neuen Fragestellungen einer über die bisherige Demokratisierung des Staates hinausdrängenden „Demokratisierung der Gesellschaft" sich ausdrücken. Der frühere klassische: demokratische Liberalismus in der ersten Phase der demokratischen Revolution von 1789 geht von dem „doppelten Grundsatz " einer Demokratisierung und Liberalisierung des Staates aus: „1. Der Staat sind wir alle; 2. der Staat darf nicht alles!" Daraus entwickelt sich in den einhundertfünzig Jahren seit den 19

Vgl. dazu besonders: O . VOSSLER Alexis de Tocqueville, Freiheit und Gleichheit, 1973; und: in durchgängiger Anknüpfung an dessen

Demokratietheorie: H . ZACHER Freiheitliche Demokratie, 1969.

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9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

demokratischen Revolutionen in Amerika und Frankreich, die durch Grundrechtsverbürgungen, Minderheitenschutz, Gewaltenteilung und Rechtsbindung aller Staatsgewalt eingeschränkte Mehrheitsherrschaft der konstitutionellen Demokratie, wie sie auch unserem Grundgesetz zugrundeliegt. Demgegenüber fordert der moderne: soziale Liberalismus nunmehr auch eine Demokratisierung und Liberalisierung der Gesellschaft, nach dem ebenso gedoppelten Grundsatz: 1. Die Gesellschaft sind wir alle; 2. die Gesellschaft darf nicht alles 20 ! Er zielt nach dem Grundsatz: Die Gesellschaft sind wir alle! auf die Demokratisierung der Gesellschaft, durch Übertragung und Übersetzung der Grundsätze einer sozialen Demokratie auch auf die Rechte des Bürgers in der Gesellschaft. Das aber bedeutet und fordert: die großmögliche und gleichberechtigte Teilhabe aller Gesellschaftsglieder an der durch Arbeitsteilung ermöglichten Befriedigung der individuellen Bedürfnisse und Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten, und dementsprechende Mitbestimmung an der Ausübung der zur demokratischen Organisation dieser arbeitsteiligen Prozesse erforderlichen Herrschaft in der Gesellschaft. Er zielt nach dem Grundsatz: Die Gesellschaft darf nicht alles! zugleich auf eine Liberalisierung der Gesellschaft, durch Einbringung und Umsetzung auch der Grundsätze einer liberalen Demokratie in Rechte des Bürgers in der Gesellschaft. Also eine auch hier durch Grundrechtsverbürgungen, Minderheitenschutz, Gewaltenteilung und Rechtsbindung aller Gewalt eingeschränkten Herrschaft von Menschen über Menschen in der arbeitsteiligen Organisation unserer Gesellschaft. Sie zielt mit anderen Worten so auf die Übertragung und Umsetzung der konstitutiven und organisatorischen Prinzipien einer freiheitlichen: liberalen und sozialen Demokratie und damit der aus diesen demokratischen Prinzipien hervorgehenden Errungenschaften eines freiheitlichen Rechtsstaates und freiheitlichen Sozialstaates nicht nur auf das Verhältnis des Bürgers zum Staat, sondern auch auf die Verhältnisse der Bürger untereinander in der Gesellschaft. Diese Grundsätze einer Demokratisierung und Liberalisierung der Gesellschaft gelten ebenso für den sog. „geistigen Überbau" unserer pluralistischen Gesellschaft und des in ihm zu gewährleistenden Rechtes auf Bildung (Art. 12 GG) oder die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 5 GG), die aus einer eigentümlichen Verbindung der rechtsstaatlichen Gewährleistungen mit Errungenschaften des freiheitlichen Kulturstaates bestehen und entstehen 21 . Auch in ihnen geht es, wie uns die frühere Numerusclaususdiskussion und eine heutige Mediendiskussion belehrt, immer auch um demokratische Rechte der Teilhabe und selbst der Mitbestimmung an kulturellen Einrichtungen und Entwicklungen, die nicht einfach der technokratischen Planung oder der technologischen Evolution überlassen und überantwortet werden können, sondern die zugleich als Fragen der Gewährleistung von Grundrechten oder gar des Schutzes der Menschenwürde gestellt und beantwortet werden müssen.

20

Vgl. dazu und zum folgenden: W. MAIHOFER Liberale Gesellschaftspolitik, in: Die Freiburger Thesen der Liberalen, hrsg. von K . - H . Flach/W. Maihofer/W. Scheel, 1972, S. 27ff.

21

Vgl. dazu meinen Beitrag zu einem „freiheitliehen Kulturstaat", oben S. 953ff.

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Mit dem, was sich auf dem Felde der Bildungspolitik in den vergangenen Jahrzehnten ereignet hat, die mit den Alarmsignalen einer Bildungskatastrophe eingeläutet worden ist, und die auf der Verfassungsgrundlage eines „Bürgerrechts auf Bildung" (DAHRENDORF), ZU einer zunehmenden Demokratisierung unseres Bildungswesens, von der Schule bis zur Hochschule geführt haben. Damit hat sich auch in unserer Gesellschaft ein geschichtlicher Vorgang vollzogen, dessen epochale Konsequenzen erst an ihrem Beginne stehen. Denn darin ereignet sich nichts weniger als die Nachholung der im früheren Bildungsliberalismus einer Elitegesellschaft, wenn nicht Klassengesellschaft, steckengebliebene demokratische Revolution unseres Bildungswesens. Demokratische Teilhaberechte aller Staatsbürger an den Bildungseinrichtungen eines freiheitlichen Rechtsstaates und Kulturstaates, aber auch demokratische Mitbestimmungsrechte der Bildungsbürger, von der Mitbestimmung der Eltern in der Schulorganisation ihrer Kinder, bis hin zu der Mitbestimmung aller Beteiligten in den Hochschulorganisationen unseres Staates, heißen die bis heute vielfach nur halbherzig angenommenen und widerwillig übernommenen politischen Postulate einer endlich nachgeholten demokratischen Revolution unserer Bildungseinrichtungen. Deren Irrungen und Wirrungen, deren gelegentliche Fehlentwicklungen und offenkundige Sackgassen, uns nicht den Blick dafür benehmen sollten, daß das, was hier nicht einfach nur an „mehr Demokratie" (BRANDT), sondern überhaupt an Demokratie gewagt worden ist, zur Erprobung und Ausreifung der heutigen Lösungen in der Sphäre des Staates, so ungefähr einhundertfünfzig Jahre der Versuche und Irrungen gekostet hat. Diese Grundsätze einer Demokratisierung und Liberalisierung der Gesellschaft gelten verstärkt und verschärft für die ökonomische Basis unserer sog. kapitalistischen Gesellschaft. Hier steht noch sehr viel drängender an, was über ein Jahrhundert lang durch die ökonomischen Bornierungen oder den harmonistischen Attentismus des klassischen Wirtschaftsliberalismus aufgehalten und verschleppt worden ist: die endlich nachvollzogene demokratische Revolution auch der Wirtschaftsverfassung. Damit nimmt dieser soziale Liberalismus die im Manchesterliberalismus der Gründerzeiten verlorengegangenen, aber auch im heutigen Wirtschaftsliberalismus unterschlagenen Forderungen des revolutionären Liberalismus der bürgerlichen Aufklärung wieder auf, die im Dreiklang der politischen Postulate der demokratischen Revolution: Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit! aufklingen. Jedenfalls dann: wenn man die darin geforderte Freiheit nicht länger als bloß formale Garantie gesetzlich gesicherter Freiheit mißversteht, sondern als die reale Chance gesellschaftlich erfüllter Freiheit einfordert 22 . Aber auch: die damit geforderte Gleichheit nicht auf eine formale Garantie bloßer Gleichheit der Rechte des Bürgers im Staat beschränkt, sondern als die reale Chance einer Gleichheit auch des Wohls des Bürgers in der Gesellschaft auffaßt. Was schon für JEAN-JACQUES ROUSSEAU, wie wir sahen, die Sorge des Staates dafür erfordert, daß „der Nutzen, den jeder aus dem gesellschaftlichen Zu22

Dazu im einzelnen oben S. 195 ff.

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9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

sammenschluß zieht", nicht unverhältnismäßig ungleich ist. Um so einer „übermäßigen Ungleichverteilung der Güter vorzubeugen", und „alle Vermögen jener Ausgewogenheit anzunähern, welche die wahre Wirksamkeit des Staates ausmacht" 2 3 . Es ist deshalb wohl kein Zufall, daß in der um die Mitte unseres Jahrhunderts einsetzenden „zweiten Phase der demokratischen Revolution", eben diese Frage nicht mehr nur nach der Gleichheit der Rechte im Staat, sondern der Gleichheit des Wohls in der Gesellschaft, ins Zentrum der Politik rückt. Daraus erklärt sich, daß auch in der sog. Jugendrevolte der 68er Jahre die Frage nach der ,,Gerechtigkeit der Gesellschaft" vor alle anderen Fragwürdigkeiten der gegenwärtigen und Fragen an eine künftige Gesellschaft tritt 24 . Viele halten heute diesen damaligen Aufstand der Jugend, der in weltweiten Revolten der Studenten, in Berkeley wie in Paris, in Kairo wie in Berlin gipfelt, für eine längst verklungene Bewegung, ein längst vergangenes Ereignis, über das „die Geschichte hinweggegangen" ist. Dabei zeigt schon ein Blick in unsere Universitäten, wie Vieles sich damals unumkehrbar verändert hat. Bei allen Abirrungen und Verwirrungen, in die sich dieser Impuls danach verlaufen hat. Es hat so im vergegenwärtigenden Rückblick auf die 68er Jahre doch eher den Anschein, als ob mit diesem Ereignis eben „die Geschichte angeht", von der auch unsere Zeit noch von Grund auf bewegt ist: die um die Jahrhundertwende auch bei uns einsetzende zweite Phase der demokratischen Revolution, zunächst des Bildungswesens und danach der Wirtschaftsverfassung. Eben diese wird, über die frühere Bildungspolitik der Liberalen in den 60er Jahren hinaus, mit den Freiburger Thesen 1971 zum Politischen Programm eines modernen Liberalismus, der die Demokratisierung und Liberalisierung auch der Wirtschaft, als der „ökonomischen Basis" unserer Gesellschaft, nach dem „doppelten Grundsatz" auf ihre Fahnen schreibt: „Der Betrieb sind wir alle; der Betrieb darf nicht alles" 25 ! Die damit geforderte Demokratisierung der Gesellschaft, durch angemessene und verhältnismäßige Teilhabe eines jeden Wirtschaftsbürgers an den gemeinsamen Vorteilen des gesellschaftlichen Zusammenschlusses, aber auch durch Mitbeteiligung an der in den Unternehmungen der Wirtschaft ausgeübten gesellschaftlichen Macht, und Mitbestimmung bei der gerechten Verteilung der erwirtschafteten Erträge durch die Sozialpartner, zwischen Kapital und Arbeit und zwischen Produzenten und Konsumenten überhaupt, ist ohne Reform des Kapitalismus nicht durchführbar 2 6 . F R I E D R I C H N A U M A N N hat, schon in einem Aufsatz über den „Liberalismus als Prinzip" von 1904, den die Gegenwart auch und gerade unserer Wirtschaftsgesellschaft heute im letzten Grunde bestimmenden Sachverhalt mit den Worten umschrie23 24

25

Dazu im einzelnen oben S. 183 ff. So das überraschende Ergebnis auch der damaligen empirischen Untersuchungen; vgl. dazu: W . M A I H O F E R Revolte der Jugend (Fn. 13) S. 104 ff. Vgl. zur „Demokratisierung und Liberalisierung der Gesellschaft im einzelnen: W. MAI-

26

H O F E R Liberale Gesellschaftspolitik (Fn. 20) S. 40 ff. Vgl. zu der damit auch in den Freiburger Thesen geforderten „Reform des Kapitalism u s " im einzelnen: W. M A I H O F E R Liberale Gesellschaftspolitik (Fn. 20) S. 45ff.

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ben: „ D a s neue Faktum ist, daß die Tendenz zum Großbetrieb sich nicht auf den Staatsbetrieb beschränkt hat, auch nicht auf die alten Betriebe der Kirchen und Feudalherrschaften. Das ganze gewerbliche Leben ist von dieser Tendenz erfüllt. Das Zeitalter des kapitalistischen Maschinenbetriebes schafft vor unseren Augen neue Herrschaftskörper, die an Gefahren für die Einzelpersonen nicht ärmer sind, als der Betrieb des Staates in seiner absolutistischen Periode gewesen ist". Es schließt mit der Feststellung: „ D i e Zahl der abhängigen Menschen wächst. Abhängigkeit aber ist das alte Problem des Liberalismus" 2 7 . Inzwischen ist die Entwicklung in der heutigen Industriegesellschaft unseres freiheitlichen Sozialstaates noch in ganz andere politische Dimensionen, nicht nur der millionenfachen persönlichen Abhängigkeit der Einzelnen, sondern auch der unumgänglichen millionschweren Abhängigkeit des Staates selbst, von den Entscheidungen und Entwicklungen, aber auch Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen solcher Großbetriebe unserer Wirtschaft „hineingewachsen". Diese hat, von einer bestimmten Größenordnung der Arbeitsplätze an, zu einer Perversion dieses auf Rentabilität abgestellten ökonomischen Systems geführt, die in jeder Wirtschaftskrise oder selbsteigenen Krisenentwicklung, zur Sozialisierung der Verluste, bei Privatisierung der Gewinne führt, wie wir in jeder Kohlen- oder Stahlkrise, aber auch in jeder Liquiditätskrise von Großkonzernen mit Regelmäßigkeit erfahren. Aber dies hat auch, bei der gezielten Schaffung von Arbeitsplätzen etwa in der Großindustrie unserer Luft- und Raumfahrt, nach dem ökonomischen Prinzip solcher Großökonomie und Zukunftstechnologie darüber hinaus von vornherein zu einer Sozialisierung der Investitionen in Milliardenhöhe, bei nachfolgender Privatisierung der Gewinne geführt. Alles Folgewirkungen der Logik eines Systems, die den Großbetrieb Staat vom Großbetrieb der Wirtschaft in ebensolche Abhängigkeit versetzt wie umgekehrt. Und die dazu führt, daß zu gleicher Zeit kleinere und mittlere Unternehmen tausendfach zugrundegehen. Den größeren Unternehmen dagegen selbst aus den größten Schwierigkeiten, einschließlich der selbstverschuldeten, herausgeholfen wird. Wie dies noch mit Gleichheit vor dem Gesetz und mit Gleichbehandlung nicht nur durch den Gesetzgeber, sondern durch alle Staatsgewalt verträglich sein soll, ist schwer ersichtlich. V o r diesem Hintergrund sind die bis heute weithin noch unerfüllten Forderungen der Freiburger Thesen nach einer eben für diese Großbetriebe einzuführenden Unternehmensmitbestimmung und Vermögensbeteiligung, aber auch Erbschaftsabgabe im Nachlaßfall zu sehen, die, wenn schon in bestimmten Bereichen eine ökonomische Konzentration nicht zu vermeiden, oder jedenfalls derzeit nicht durch Entflechtung abzubauen ist: den hierbei nicht nur durch den Faktor Arbeit, sondern, über die Preise auch aus den Taschen der Konsumenten erwirtschafteten Produktivitätszuwachs an Investivkapital in Vermögensbeteiligungen zu überführen, an der Ar-

27

So F. NAUMANN Politische Schriften (Werke, Bd. IV), hrsg. von Th. Schieder, 1964, S. 247ff.

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beitnehmer wie Wirtschaftsbürger überhaupt, angemessenen und verhältnismäßigen Anteil erlangen. N u r durch eine solche Reform, des Kapitalismus genannten Systems, ist der wirtschaftlich notwendigen Profitakkumulation und Kapitalkonzentration in Großbetrieben unserer Wirtschaft dauerhaft entgegenzuwirken, zu der es noch in der Streitschrift des unvergessenen KARL-HERMANN FLACH: „ N o c h eine Chance für die Liberalen" unmißverständlich heißt: „Der Kapitalismus wird entweder weiter konzentrieren und ,feudalisieren' und dann eines Tages hinweggefegt werden — oder er wird neue Wege einer echten Eigentumsstreuung finden" 2 8 . Für ihn ist noch klar, was danach wieder in die alte Selbstvergessenheit zurücksinkt: „Daß Privateigentum an Produktionsmitteln und Marktwirtschaft zu einer immer größeren Ungleichheit führten, welche die Freiheit der großen Zahl gegenüber der Freiheit kleinerer Gruppen unerträglich einschränkt. Die Vermögenskonzentration in den westlichen Industriegesellschaften führt selbst bei wachsendem Lebensstandard und steigender sozialer Sicherung der lohnabhängigen Massen zu einer Disparität, welche der Begründung der Besitzverhältnisse mit dem Begriff der persönlichen Freiheit jede Grundlage entzieht". Denn: „Der kleinen Zahl der großen Vermögensbesitzer steht eine ganz breite Schicht der Lohnabhängigen gegenüber, die zwar nicht hungern, frieren oder in Elendshütten wohnen, aber letzten Endes doch gut ausgehaltene Wirtschaftsuntertanen bleiben". Daraus gelangt dieser nicht mehr nur demokratische, sondern auch soziale Liberalismus für die Reform des Kapitalismus zu der schon von FRIEDRICH NAUMANN erhobenen Forderung: „Industrieuntertanen müssen in Industriebürger verwandelt werden" 2 9 ! Wozu es in einem späten Aufsatz NAUMANNS von 1 9 0 8 zur „Leidensgeschichte des Liberalismus", über seine Zeit hinausweisend auch für unsere Gegenwart gültig heißt: „Bisher steht die Politik unter dem Zeichen des Materialismus, sowohl des historischen wie des politischen. Alles löst sich auf im Kampf um kleine Extravorteile. Wird dieser Geist aber verdrängt durch eine Gesellschaftsauffassung, die den Idealen der Aufklärungszeit sich wieder mehr nähert, dann steigt der Wert der Einzelperson und ihr unveräußerliches Recht wieder in die Höhe — Kant kommt wieder" 3 0 . Aber auch: „Soviel ist sicher, daß der Liberalismus als Gesamterscheinung zu Ende ist, wenn er gegenüber der Macht der Großbetriebe aus Furcht oder Mangel eines neuen freiheitlichen Gedankens sich tatenlos und programmlos zurückzieht". Dies ist aus liberaler Perspektive der geistige Hintergrund dessen, was wir die epochale Krisis der Gegenwart und die aus ihr entspringende grundsätzliche Forderung einer nachgeholten demokratischen Revolution, über die bisher demokratisierte Sphäre des Staates hinaus, auch für die noch zu demokratisierende Sphäre der Gesellschaft genannt haben, in ihrem geistigen Uberbau einer pluralistischen Gesellschaft, wie in ihrer ökonomischen Basis einer kapitalistischen Gesellschaft. 28

So zu „Liberalismus und Kapitalismus" K.H . FLACH N o c h eine Chance f ü r die Liberalen, 1971, S. 20ff, insbes. S. 31; und zum folgenden auch: S. 20ff.

29

30

So schon: F. NAUMANN Politische Schriften (Fn. 27) S. 313. F. NAUMANN Politische Schriften (Fn. 27) S. 315.

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Aus dieser liberalen Programmatik ergeben sich für die Bildungspolitik wie Gesellschaftspolitik, aber auch für die Rechtspolitik wie die Verfassungspolitik bestimmte Optionen und Prioritäten der praktischen Politik, wie sie in entsprechenden Kontroverspunkten der Verfassungsdiskussion sichtbar werden. Die ihrerseits wiederum auf bestimmte Prämissen und Konklusionen der theoretischen Konzeption eines solchen demokratischen und sozialen Liberalismus zurückgehen und zurückführen, denen wir in der Grundwertediskussion über den Grundkonsens zwischen Liberaldemokraten, Sozialdemokraten und Christdemokraten begegnen. Dessen Übereinstimmungen und Widersprüche wir zunächst besser erhellen wollen, bevor wir abschließend den zwischen diesen geistigen Herkünften auch heute fortbestehenden Kontroverspunkten der Verfassungsdiskussion uns zuwenden wollen, die bald im Konsens, bald im Dissens, auch in diesem Verfassungshandbuch geführt worden ist.

II. Grundkonsens und Verfassungspolitik Grundkonsens nennen wir die Übereinstimmung im Grundsatz über die Bedingungen der Herrschaft, zu denen Bürger sich in einem Staat vereinigen würden, unter der Voraussetzung ihrer Freiheit und Gleichheit, sowie der Gesetzmäßigkeit und Rechtmäßigkeit der durch sie Selbst über sich Selbst ausgeübten Herrschaft. Somit kann dieser Grundkonsens nur die Bedingungen der Herrschaft von Menschen umfassen, von denen im Grundsatz abhängt, ob diese von den an ihr Beteiligten und zugleich von ihr Betroffenen insgesamt als politisch akzeptabel angesehen und angenommen werden kann. Der Grundkonsens beschränkt sich danach auf eben jene fundamentalen Prinzipien des demokratischen Systems, die schon R O U S S E A U als die Bedingungen: „Klauseln" jenes „Contrat social": Gesellschaftsvertrages bezeichnet, die „vielleicht nie ausdrücklich ausgesprochen" werden, jedoch „überall gleich, stillschweigend angenommen und anerkannt sind" 31 . Jene inhaltlichen wie verfahrensmäßigen Bedingungen: materialen wie formalen Konditionen also, die das darauf gegründete politische System im Prinzip akzeptabel machen. Wir pflegen diesen Grundkonsens heute auch gerne einen solchen über die Grundwerte zu nennen. 1. Grundkonsens über Grundwerte Diese heute übliche Feststellung, daß der Grundkonsens der Demokraten sich auf die Grundwerte der Demokratie beziehe, leidet unter einer zweifachen Unklarheit, die auch die heutige sogenannte Grundwertediskussion belastet. Sie leidet einmal unter der gelegentlichen Ineinssetzung und Verwechslung dieser sogenannten Grundwerte mit den Grundrechten unserer Verfassung, und der Unklarheit über deren Verhältnis zueinander. Sie leidet zum andern aber nicht weniger auch 31

Vgl. dazu im einzelnen schon oben S. 178 ff.

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unter der üblichen Nichtunterscheidung und Vermischung dieser besonderen Grundwerte mit den sonstigen Grundbedingungen einer freiheitlichen: liberalen und sozialen, konstitutionellen und föderativen Demokratie, die wir bald als von der sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfaßte Grundprinzipien einer „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" bezeichnen, bald noch umfassender gar als „die verfassungsmäßige Ordnung" (Art. 20 Abs. 3 GG) umschreiben, an die unser Grundgesetz selbst den Gesetzgeber für „gebunden" erklärt. Insoweit hat auch die Frage: ob der Grundkonsens, auf dem unsere Demokratie begründet ist, auch unter den Demokratien heute lebendig fortbesteht, einen ganz anderen Gegenstand, ob wir die Antwort auf diese Grundwerte, oder aber die Grundrechte, oder darüber hinaus auf die Grundbedingungen einer „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" oder gar der „verfassungsmäßigen Ordnung" überhaupt beziehen. Noch weiter verstärkt und verschärft werden die Unklarheiten der heutigen Redeweise von einem so genannten Grundkonsens, weil dabei nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig im Ungewissen und Dunkeln bleibt, wer denn eigentlich dessen Träger in einer Demokratie sei. Auch hierbei begegnen wir den unterschiedlichsten Redeweisen und Denkvorstellungen. Bald wird in großer Unbefangenheit die Frage nach dem Grundkonsens einfach darauf gerichtet, ob die offiziellen Grundsatzprogramme der demokratischen Parteien: Der Liberaldemokraten, Sozialdemokraten und Christdemokraten, die in bisherigen Bundestagen und Landtagen unserer Bundesrepublik vertreten waren und sind, in ihren Aussagen über die Grundwerte übereinstimmen. Bald wird im vorverlagerten Wahlkampf wechselseitig danach gefragt, ob diese offiziellen Positionen der demokratischen Parteien überhaupt von einem einhelligen oder auch nur mehrheitlichen Konsens ihrer jeweiligen Parteibasis oder gar ihres 'Wählerpublikums getragen sind. Bald wird, davon losgelöst, über die gegenwärtigen Parlamentsparteien hinaus, danach gefragt, ob dieser Grundkonsens bei einer Mehrheit oder gar einer qualifizierten Mehrheit unserer Staatsbürger, oder jedenfalls der Aktivbürger unserer Wahlbevölkerung, die sich an den jeweiligen Parlamentswahlen oder sonst am politischen Prozeß beteiligt, getragen ist. Es ist offenkundig, daß in einer Demokratie wie der unseren, die nicht als absolute Demokratie: als jeweils uneingeschränkte Mehrheitsherrschaft, sondern als konstitutionelle Demokratie: als durch die Verfassung eingeschränkte Mehrheitsherrschaft verfaßt ist, dem in der Verfassung für jede Ausübung solcher Mehrheitsherrschaft festgeschriebenen prinzipiellen Konsens eine entscheidende Bedeutung und Wirkung zukommt. Ebenso offenkundig ist, daß für die Verfassung in einer Demokratie wie der unseren, in der nach dem Prinzip der Volkssouveränität „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht", die den in ihr fixierten Konsens legitimierende Instanz allein das „ganze Volk" sein kann und darf. Das aber fordert, daß auch der sog. Grundkonsens, wie der gesamte politische Prozeß der Meinungs- und Willensbildung in einer Demokratie wie der unseren nur als die erklärte Sache des ganzen Volkes aufgefaßt werden kann. Nicht als die aus-

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schließliche und ausschließende Aufgabe oder gar das Vorrecht einer bestimmten meinungsmachenden und willensbildenden Schicht oder Gruppe in unserer Gesellschaft, sei es eine Elite in den Parteien: ihre führenden Funktionäre, sei es eine Elite in der Bevölkerung: von meinungsmachenden und willensbildenden Intellektuellen. Was für den gefragten Konsens der Demokraten zählt und über ihn entscheidet, ist allein die Resonanz all solcher Meinungsäußerungen und Willensbekundungen im Publikum, das nach dem Demokratisierungsprinzip einer Herrschaft durch und für das ganze Volk, in praktischer Konsequenz alle Aktivbürger einschließt. Auch wenn so in unserer, als repräsentatives System verfaßten partizipatoriscben Demokratie, die Konstitution überhaupt, in der sie gründet, wie der Konsens, der in ihr niedergelegt ist, die ausdrückliche Sache des ganzen Volkes sein muß und bleiben muß, kommt in einer Parteiendemokratie, ja einer Verbändedemokratie wie der unseren, auch und gerade den Programmaussagen der Parteien und anderer Verbände, wie den Gewerkschaften oder den Kirchen, eine besondere öffentliche Bedeutung und Wirkung für die sog. Grundwertediskussion zu. Sind sie doch die einzige offizielle Artikulation der politischen Programmatik, an der die verschiedenen Bewertungen und unterschiedlichen Grundhaltungen der unsere Demokratie gegenwärtig tragenden Parteien und der in ihr derzeit wirkenden Verbände faßbar werden, und an denen so auch jener bestehende oder nicht bestehende Grundkonsens über die Grundwerte ablesbar sein müßte, jenes innersten Kernes also von fundamentalen Prinzipien unseres politischen Systems, mit dem seine demokratische Akzeptanz steht und fällt. „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität", so lautet seit dem Godesberger Programm 1959 das Bekenntnis der sozialen Demokraten zu drei „Grundwerten des Sozialismus", das sich auch im Mannheimer Orientierungsrahmen 1975 wiederfindet, zu dem gesagt wird: „Die politisch-gesellschaftlichen Grundorientierungen des demokratischen Sozialismus ergeben sich aus der Entscheidung für diese Grundwerte" 32 . „Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit" so lautet zuletzt im Ludwigshafener Grundsatzprogramm 1978 das Bekenntnis der christlichen Demokraten zu denselben drei „christlichen Grundwerten", zu denen es schon in der Mannheimer Erklärung 1975 heißt: „Diese Grundwerte sind Auftrag und Grenzen unseres politischen Handelns" 33 . „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!" lautet in den Freiburger Thesen 1971 das Bekenntnis der liberalen Demokraten, in unverfälschtem Rückbezug auf die originalen Postulate der demokratischen Revolution, von denen gesagt wird: unter diesem dreifachen Vorzeichen stehe alle seither eingeleitete und noch ausstehende „Demokratisierung und Liberalisierung von Staat und Gesellschaft" 34 . Alle drei Grundwertaussagen der sozialen, christlichen und liberalen Demokraten folgen so abgewandelt oder wortwörtlich demselben Grundmuster der politischen Postulate der französischen Revolution: „Liberté — Egalité — Fraternité!", mit denen 32

Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1959, S. 5; ö k o nomisch-politischer Orientierungsrahmen für die Jahre 1975-1985, S. 8.

33

34

Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands 1978, S. 7; und sog. Mannheimer Erklärung 1975. Die Freiburger Thesen der Liberalen, 1971 (Fn. 20), Einleitung, S. 58.

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unsere Epoche der Moderne anhebt. Der Grundkonsens, der sich, über alle Unterschiedlichkeit der geistigen Herkünfte dieser demokratischen Parteien hinweg, in der Gemeinsamkeit ihres Bekenntnisses zu denselben drei Grundwerten ausspricht, von denen das politische Denken der gegenwärtigen Epoche überhaupt seinen Ursprung nimmt und noch immer seinen Antrieb erfährt, ist ein kostbares Gut, das man nicht durch noch so begreifliche Profilierungsbedürfnisse einer Grundwertediskussion, auch zwischen diesen Parteien, antasten sollte. „Denn diese drei Werte sind die gemeinsamen Grundwerte des europäischen politischen Denkens. Sie sind gemeinsames Erbe aller demokratischen Parteien" 35 . Sie stellen zwischen diesen demokratischen Parteien, wie mit allen anderen, die sich zu diesen letzten verfassungsmäßigen Voraussetzungen und obersten Zielsetzungen bekennen, von denen die demokratische Revolution unserer modernen Epoche ausgeht, eine grundsätzliche Einheit in aller Unterschiedenheit her, die jeden Streit zwischen diesen Parteien letztlich zu einem edlen Wettstreit um tieferes Verständnis und bessere Erfüllung dieser politischen Postulate der Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit! bei ihrer geforderten Übersetzung und notwendigen Umsetzung in die konkreten Programme und danach die praktische Politik der jeweiligen Parteien macht. Damit verbürgt diese Berufung auf dieselben Grundwerte in der Tat eine grundsätzliche Einheit zwischen den unterschiedlichen demokratischen Parteien. Die insoweit alle auf dem gleichen Boden stehen, die gleichen Grundforderungen erheben, die gleichen letzten Voraussetzungen menschenwürdigen und menschengerechten Daseins anerkennen, die gleichen obersten Zielsetzungen gesellschaftlicher Ordnung und staatlicher Verfassung annehmen. Insofern hat dieses Bekenntnis zu denselben drei Grundwerten den Verfassungscharakter eines Grundkonsenses der Demokraten: daß nach ihrem gemeinsamen Verständnis die geforderte Erfüllung der Demokratie von diesen letzten Voraussetzungen her geschehen und auf diese obersten Zielsetzungen hin erfolgen muß. Diese Grundwerteaussagen der demokratischen Parteien haben damit eine ganz andere Position und Funktion als die Grundrechtsverbürgungen der demokratischen Verfassung. Sie sind nicht in unserem Grundgesetz festgeschriebene Grundnormen des Verfassungsrechts, sondern der für unsere demokratischen Parteien, denen die Erfüllung dieses Grundgesetzes vorgegeben und aufgegeben ist, gemeinsam feststehende Grundkonsens der Verfassungspolitik, unter welchen letzten Voraussetzungen und obersten Zielsetzungen diese Verwirklichung unserer Verfassung stehen und geschehen muß, soll das darauf gegründete und daraus gerechtfertigte politische System der Demokratie: für Demokraten im Prinzip akzeptabel sein und bleiben. Deshalb geht es in diesen Grundwerteaussagen der demokratischen Parteien auch um etwas, was so mit dem Grundgesetz und seinen Grundrechten nicht schon vorgegeben, sondern allenfalls aufgegeben ist, die öffentliche Besinnung darauf und 35

So: Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit, Unterschiede im Grundwerteverständnis von C D U und SPD, Der Entwurf für ein Grund-

satzprogramm der C D U und der Orientierungsrahmen 85 der SPD im Vergleich.

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geistige Auseinandersetzung darüber, was das eigentlich meint und fordert: Freiheit, aber auch Gleichheit, nach dem jeweiligen Menschenbild und Gesellschaftsverständnis, der Rechtsauffassung und der Staatsvorstellung christlicher, sozialer oder liberaler Demokraten, die bei aller Gemeinsamkeit doch in ihren verfassungspolitischen Prämissen, Optionen, Prioritäten und Konsequenzen von ganz unterschiedlichen Herkünften bestimmt und geprägt sind, mit denen sie ja nicht zufällig auch bestimmte Teile unserer Bevölkerung in ihren Anschauungen repräsentieren, oder doch in ihren Interessen. Das gilt nicht zuletzt auch für die Brüderlichkeit, von der so in unserem Grundgesetz kein Wort steht, und die doch in allen Grundwerteaussagen, und sei es unter dem neudeutschen Begriffe der Solidarität, sich findet. Und von der auch, wie wir sahen, nicht nur die Verwirklichung der Gleichheit, sondern auch die Verantwortung der Freiheit in einer wahrhaft freiheitlichen: liberalen, sozialen und humanen Demokratie abhängt 36 . Darum geht es in diesen Grundwerteaussagen der demokratischen Parteien, über die Inhaltsbestimmung dieser Grundwerte aus den jeweiligen politischen Herkünften hinaus, vor allem um das Rangverhältnis dieser drei Grundwerte zueinander, woraus sich weitreichende verfassungspolitische Folgerungen ergeben. Denn: Daraus ergeben sich schon bei den Inhaltsbestimmungen ganz unterschiedliche Wertakzente, wenn man etwa bei der Bestimmung der Gerechtigkeit als Grundwert diese als Option: „Im Zweifel für die Gleichheit!" auffaßt, und diese damit, unter Begründungszwang und Beweislast für den Ausnahmefall der Ungleichbehandlung, im Regelfall deshalb als „Chancengleichheit", und nicht einfach nur als „Chancengerechtigkeit'" auffaßt. Daraus ergeben sich aber vor allem auch unterschiedliche Wertpositionen, wenn man bei einer Bestimmung des Rangverhältnisses der Grundwerte, von deren völliger Gleichrangigkeit im Konflikt untereinander ausgeht, was in praktischer Konsequenz, wie die Erfahrung zeigt, eher zu einer Priorität der Gleichheit vor der Freiheit führt; und nicht umgekehrt 37 . Noch viel grundsätzlicher verschieben sich die Wertprioritäten, wenn man von einer Verschiedenrangigkeit der Grundwerte ausgeht, je nach den sich verändernden Verhältnissen und „wandelnden Herausforderungen", was in theoretischer Konsequenz jede beliebige Umkehrung der Prioritäten im Konflikt, damit des Rangverhältnisses der Grundwerte, unter Berufung auf veränderte Gegebenheiten eröffnet 38 . Ganz anders deshalb stellen sich die Wertprioritäten einer Verfassungspolitik dar, die von der Vorrangigkeit des Grundwertes Freiheit vor denen der Gleichheit und der Brüderlichkeit ausgeht und die deshalb freiheitliche Demokratie als Ordnung 36

Vgl. dazu und zum folgenden im einzelnen schon oben S. 205 ff, 212 ff, 224 ff.

37

So spricht der Orientierungsrahmen 85 der Sozialdemokraten (Fn. 32) ausdrücklich von „Gleichrangigkeit". So das Grundsatzprogramm 1978 der Christdemokraten (Fn. 3 3 ) ; wozu es in der Mann-

38

heimer Erklärung 1975 noch deutlicher heißt: Dieses „Verhältnis der Grundwerte" ist „stetigem Wandel unterworfen. Neue Bedingungen und Notwendigkeiten führen zu veränderten Prioritäten und Dringlichkeiten in der Verwirklichung der Grundrechte", was wohl „ G r u n d w e r t e " heißen muß.

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der Gleichheit in Freiheit und der Brüderlichkeit in Freiheit, aber auch der Sicherheit in Freiheit und der Wohlfahrt in Freiheit auffaßt 39 . Aus all diesen unterschiedlichen Wertakzenten und Wertprioritäten, die sich in den Grundwerteaussagen und Grundwerteauseinandersetzungen der demokratischen Parteien (öffentlich) äußern, ergeben sich unterschiedliche Grundpositionen der Verfassungspolitik, aber daraus folgend auch der Rechtspolitik oder der Gesellschaftspolitik 40 . Dies wird beispielhaft anschaulich an den unerschöpflichen und unerschöpften Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, von denen auch die rechtspolitischen Debatten der vergangenen Jahre bestimmt sind. Geht man aus liberaler Perspektive für deren Rangverhältnis von der Priorität der Freiheit im Konflikt mit der Sicherheit aus, nach dem Grundsatz: „Soviel Freiheit wie möglich, soviel Sicherheit wie nötig!", und nicht umgekehrt, dann liegt folgerichtig die Beweislast und der Begründungszwang bei demjenigen der die Notwendigkeit einer Einschränkung der Freiheit des Einzelnen, umwillen der Gewährleistung der Sicherheit aller Andern behauptet und durchsetzen will. Das meint und heißt nicht etwa, daß hier die Sicherheit nicht als ein hoher Wert erkannt und anerkannt ist. Aber sie kann Priorität im Konflikt mit der Freiheit nur erlangen, wo diese Notwendigkeit außer Zweifel steht: „Im Zweifel für die Freiheit!" (In dubio pro libertate!). Dagegen ergibt sich aus konservativer Perspektive regelmäßig die genau umgekehrte Option für eine Priorität der Sicherheit gegen die Freiheit im Konflikt nach dem Grundsatz: „Im Zweifel für die Sicherheit!" Aus dieser politischen Perspektive ergeben sich oder erklären sich jedenfalls Argumentationen wie die folgenden, von denen die Reformdiskussion der vergangenen Jahrzehnte voll sind: „So lange die Unschädlichkeit der Pornographie nicht eindeutig feststeht, darf an eine Freigabe nicht gedacht werden"; oder: „In der Diskussion um die Vorschriften zur Sicherung des Gemeinschaftsfriedens ist zu sehr die Frage der Sicherung des Rechts auf Demonstrationsfreiheit in die Optik gerückt worden". Wie hier in der Rechtspolitik, so sind auch in der Verfassungspolitik die Aussagen bestimmt von solchen unterschiedlichen Erkenntnisperspektiven und Erkenntnisinteressen, und aus ihnen so oder anders folgenden und gefolgerten legitimen Optionen und Prioritäten, nicht nur aus dem Munde von Politikern, sondern ebenso auch von Wissenschaftlern, die sowenig losgelöst und damit wertungsfrei, ohne einen geistigen Standort „Stellung zu beziehen" vermögen. Worauf es allein ankommt ist, daß hier nicht der Schein erzeugt wird, es gehe bei solchen Optionen und Prioritäten der Verfassungspolitik um die einzige mögliche juridische Interpretation von Verfassungsrecht, zu der es keine politische Alternative gebe. 39

40

Zu dieser „Relativitätstheorie der Grundwert e " im einzelnen: W. MAIHOFER Grundwerte heute in Staat und Gesellschaft (Fn. 9) S. 91 ff. Zur liberalen Position: Freiburger Thesen 1971, die vom Vorrang der Person vor der In-

stitution und damit der Menschenwürde als Freiheit zur Selbstbestimmung ausgeht, vgl. a a O , S. 28ff und S. 5 8 f f ; dazu und zum folgenden auch W. MAIHOFER Grundwerte in Staat und Gesellschaft (Fn. 9) S. 92 f.

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Sie liegen nicht nur sämtlich innerhalb des durch die Grundgesetznormen vorgegebenen Verfassungsrahmens, sondern ebenso auch innerhalb des zwischen den demokratischen Parteien bestehenden Grundkonsenses. Aber sie zeigen, bei aller Einheit im Grundsatz, doch eine weitreichende und kennzeichnende Verschiedenheit der politischen Perspektiven und Akzente, Optionen und Prioritäten, aber auch der jeweiligen geistigen Herkünfte aus ganz anderen Prämissen und Konzeptionen von Menschenbild und Gesellschaftsverständnis, von Rechtsauffassung und Staatsvorstellung, die diese Parteien nach ihren Traditionen repräsentieren. 2. Grundpositionen der Verfassungspolitik In all diesen parteipolitisch eingefärbten verfassungspolitischen Auseinandersetzungen geht es nicht mehr um ein juridisches Recht oder Unrecht, noch nicht einmal mehr um ein politisches Falsch oder Richtig, wenn man sich nicht von eigenen politischen Bornierungen einfangen und befangenmachen läßt. Es geht um mehr aus individueller oder mehr aus sozialer Perspektive folgende Argumentationen und Diskussionen, um mehr aus konservativen oder mehr aus progressiven Impulsen sich ergebende Meinungsäußerungen und Willensbekundungen, die ihrerseits aus unterschiedlichen politischen Grundhaltungen stammen, aus denen Menschen der Welt seit alters her begegnen, und sich denkend und handelnd: interpretierend wie verändernd, mit ihr auseinandersetzen und in sie eingreifen. Von solchen unterschiedlichen Grundhaltungen her erklären sich auch die meisten der Kontroverspunkte zwischen den Autoren dieses Handbuches und nicht wenige der Diskussionspunkte, in denen sich auch die Herausgeber mit ihren Beiträgen von diesen, aber auch untereinander zustimmend oder ablehnend unterscheiden. Sie gehen weder über den Verfassungsrahmen der Grundgesetznormen hinaus, noch bewegen sie sich außerhalb des Spielraums des Grundkonsenses über die Grundwerte, von denen sich auch „die Parteien bei der politischen Ausfüllung des vom Grundgesetz abgesteckten Rahmens für die Gestaltung von Staat und Gesellschaft leiten" lassen 41 . Studieren wir die Programme der demokratischen Parteien, von ihren sog. Grundsatzprogrammen an bis zu den jeweiligen Wahlprogrammen in den beiden vergangenen Jahrzehnten, dann zeigt sich, daß in ihnen der gemeinsame Basiskonsens des Bekenntnisses zu Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit! als den „drei Grundwerten" bis in die jüngste Zeit im Grundsatz festgehalten und fortgeschrieben ist. Mit gleichzeitig, nach dem Vorgang des Godesberger Programms 1959, auch bei den anderen demokratischen Parteien in diesen Jahrzehnten seither, immer stärker bewußt gewordenen und gewollt gesetzten Verschiedenheiten der Inhaltsbestimmung wie der Rangfolge dieser Grundwerte, in denen die jeweilige Politikkonzeption fundiert und artikuliert wird. Dabei vollzieht sich in diesen demokratischen Parteien, im Bezug auf den sog. Grundkonsens, der in allen Programmen eben immer diese doppelte Funktion haben 41

So ausdrücklich jetzt: Theorie und Grundwerte, Grundwerte und Grundrechte, vorge-

legt von der Grundwerte-Kommission beim SPD-Parteivorstand, 1979, S. 3.

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9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

und behalten muß, den gemeinsamen Basiskonsens zu markieren und die jeweilige Politikkonzeption zu artikulieren, eine scheinbar gegensätzliche, in Wahrheit gegenläufige Entwicklung. Sie ist auf der einen Seite gekennzeichnet durch die bewußte und gewollte Öffnung aller demokratischen Parteien für einen Pluralismus geistiger Herkünfte der verschiedensten religiösen wie säkularen Provenienz, die diese dadurch sämtlich, mehr oder weniger „ausgesprochen" zu Volksparteien werden läßt. Auch wenn nach wie vor eine unterschiedliche Nähe oder Ferne der christlichen oder der sozialen Demokraten zu den beiden großen Kräften in unserer Gesellschaft: den Kirchen und den Gewerkschaften, und der liberalen Demokraten zu beiden, bestehen bleibt. Worin nicht zuletzt die eigentümliche Stellung einer kritischen Distanz der Liberalen gegen einen unangemessenen und unverhältnismäßigen Einfluß beider gesellschaftlicher Kräfte auf die staatliche Tätigkeit begründet ist, nach der politischen Devise: „Wir wollen keinen Unternehmerstaat und keinen Gewerkschaftsstaat, aber auch keinen Kirchenstaat, wir wollen den Bürgerstaat!" Diese beschriebene Entwicklung ist auf der anderen Seite eben deshalb aber auch von der fast krampfhaften Anstrengung begleitet, ihr sonst zur Unkenntlichkeit sich einebnendes Profil durch eine bewußte und gewollte Auseinandersetzung und Absetzung von den Grundpositionen der „Anderen" zu kennzeichnen und gelegentlich zu überzeichnen. Dieses gerade aus dem Pluralismusanspruch solcher Volksparteien folgende Profilierungsbedürfnis führt dazu, daß im fortgesetzten Wahlkampf auch die ,,Grundwerte im Parteienstreit" stehen, der fast ausnahmslos aus Scheinkontroversen besteht, deren Heftigkeit über ihre Künstlichkeit nicht hinwegtäuschen sollte42. Auf diese Weise gelingt es den demokratischen Parteien, unter fortgesetzter Berufung auf den sog. Grundkonsens, zugleich ihre Einheit durch unveränderten Bezug auf einen gemeinsamen Basiskonsens der Demokraten zu bekunden, und dabei doch gleichzeitig die Verschiedenheit ihrer Politik durch die Entwicklung und Verwirklichung unterschiedlicher Politikkonzeptionen für unsere Demokratie, trotz Ubereinstimmung im Grundsätzlichen mit allen anderen Demokraten, zu begründen und zu rechtfertigen. Dadurch ist es diesen Parteien möglich, ohne ihre Identität und zugleich D i f f e renz im gemeinsamen Basiskonsens und in der eigenen Politikkonzeption zu verlieren, sich nicht nur „anders als andere" selbst auf tiefgreifende Wirklichkeitsänderungen einzustellen, sondern auch einen grundlegenden Wertwandel durch eine dynamische Reaktion ihrer politischen Konzeption aufzufangen, oder gar durch eine konstruktive Antizipation in programmatische Politik zu übersetzen, und so durch eine Veränderung oder Verlagerung der Perspektiven oder Akzente, der Optionen oder Prioritäten, mit Rückwirkungen bis in die festgehaltenen Ubereinstimmungen ins Grundsätzliche hinein, zu bewältigen. Macht man sich diese doppelte Position und Funktion des sog. Grundkonsenses in der politischen Auseinandersetzung zwischen den demokratischen Parteien klar, 42

Dazu im einzelnen: W . MAIHOFER Grundwerte im Parteienstreit, in: Grundwerte,

Schriftenreihe der Bundeszentrale f ü r politisehe Bildung, Bd. 168 (1980) S. 1 3 f f .

WERNER

1401

MAIHOFER

einmal die Identität der Demokraten auf demselben Basiskonsens demokratisch zu fundieren, aber zugleich auch die Differenz ihrer verschiedenen Politikkonzeptionen demokratisch zu legitimieren, dann wird man dem heute verbreiteten Urteil nicht zustimmen, diese ganze sogenannte Grundwertediskussion sei, wenn nicht gar schädlich, so doch entbehrlich 43 . Sie ist auch und gerade in unserer Zeit einer, wie wir meinen, epochalen Krisis, nicht einfach als „Krisensymptom einer Orientierungskrise" abzutun. Mit der die bestehenden Selbstverständlichkeiten und vorhandenen Selbstgewißheiten nur unnütz zerredet werden. Sie sind, genau umgekehrt: Ausdruck und Werkzeug eben diese Krisis unserer Epoche auch geistig zu bewältigen, durch eine demokratische Politik unserer politischen Parteien, die nicht vom Tag und in den Tag lebt, sondern deren letzte Voraussetzungen und oberste Zielsetzungen aus Grundwerteorientierung und Zukunftsperspektive herstammen und entwickelt sind. In dieser Grundwertediskussion werden allerdings, wie gelegentlich selbst aus berufenem Munde geschehen, die Grenzen des mit einer Demokratie im Prinzip Verträglichen überschritten, wo sich der Parteienstreit über den Grundkonsens auf Glaubensbekenntnisse an ein „ Unabstimmbares" zurückzieht, das damit aller politischen Diskussion der demokratischen Parteien entzogen, und über das auch dem demokratischen Souverän jede politische Dezision: also auch dem Volke jede Abstimmung verwehrt sein soll 44 . Hierbei wird ganz einfach der sog. Grundkonsens zwischen den demokratischen Parteien, in dem es der geistigen Auseinandersetzung und politischen Diskussion entzogene Unabstimmbarkeiten über Glaubensgewißheiten, etwa unter Berufung auf ein „ewiges Naturrecht" oder auf „objektive Werte", die es in einer säkularen und pluralen Demokratie als ewige Wahrheiten und hinzunehmende Gewißheiten nicht gibt und geben kann 45 , mit dem Verfassungskonsens unseres demokratischen Grundgesetzes verwechselt. 43

Vgl. dazu etwa: H . LÜBBE Solidarität und Leistung, Merkur 1978, S. 120ff; und besonders: CHR. GRAF VON KROCKOW In der Spannung von Unglauben und Glauben, Kritische Bemerkungen zur Grundwerte-Diskussion, in: Evangelische Kommentare, 1978, S. 585 ff.

44

So versteht selbst H . SCHMIDT den „ G r u n d wertkonsens" als einen „Minimalkonsens der Demokratie", zu dem unerläßlich gehöre „die Anerkennung des unabstimmbaren Bereiches der letzten Fragen; das sind Fragen, über die ein Parlament nicht abstimmen darf, von denen es wissen muß, daß es über sie nicht zu befinden hat, über die auch Mehrheitsentscheidungen nicht zulässig sind" (Grundwerte in Staat und Gesellschaft, Fn. 9, S. 16f). Vgl. zu diesem „Minimalkonsens": J . STIMPFLE Die Grundwerte in der Sicht der katholischen Kirche, 1979, S. 40ff.

45

Wenn darum auch H . KOHL erklärt: „ E s genügt nicht zu sagen, daß der Staat die Grundwerte nicht geschaffen habe, sondern sie vorfinde. E r findet sie vor — aber nicht empirisch in der Gesellschaft, sondern in der Natur des Menseben. Anders als von dieser Ebene her lassen sich die Grundrechte dem mehrheitlichen Zugriff der Gesellschaft nicht entziehen, läßt sich die Gefahr einer normativen Verabsolutierung der Gesellschaft nicht bannen" (Grundwerte in Staat und Gesellschaft, Fn. 9, S. 61, Hervorhebungen von mir), dann ist dem ein Zweifaches entgegenzuhalten. Einmal: daß Die „ G r u n d r e c h t e " schon durch unsere Verfassung „dem mehrheitlichen Zugriff der Gesellschaft" entzogen sind; zum andern aber auch: daß die „ G r u n d w e r t e " nicht einfach „in der Natur des Menschen vorzufinden sind", wie eine die Menschenrechte der Frau wie des Leibeigenen leugnen-

1402

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

Allein durch ihn ist, für alle Demokraten verbindlich, bestimmt, was das Unabstimmbare in unserer Demokratie ist und bleibt. Und was darum selbst in unserer vom Prinzip der Offenheit ausgehenden freiheitlichen, aber zugleich streitbaren Demokratie aller Abstimmung, selbst durch eine verfassungsändernde Mehrheit, auf alle Zeit entzogen sein und bleiben soll. Nämlich die Verfassungsgarantien der Menschenwürde und der Menschenrechte der Freiheit und Gleichheit des Art. 1 G G und die Organisationsgrundsätze des 20 GG, einer damit nicht nur nach ihren materialen Prinzipien liberalen und sozialen, sondern auch nach ihren formalen Prinzipien konstitutionellen und föderativen Demokratie, die unsere Verfassungsväter in den Ewigkeitsverbürgungen des Art. 79 Abs. 3 GG vorsorglich und zureichend festgeschrieben haben 46 . 3. Wertdissens und Verfassungsinterpretation Anders als der von den demokratischen Parteien getragene Grundkonsens, dessen Basiskonsens einen weiten Spielraum für die Übersetzung und Umsetzung von Wirklichkeitsveränderung und Wertwandel in neue Politikkonzeption durch diese Parteien läßt, läßt der auf den demokratischen Souverän: das Volk unmittelbar zurückgeführte Verfassungskonsens, wie er in unserem Grundgesetz niedergelegt ist, wenig Veränderung zu, auch da, wo er nicht durch „Ewigkeitsgarantien" als die gleichsam juridifizierte Ideologie unserer konstitutionellen Demokratie fixiert ist 47 . Deshalb werden an eben diesen festliegenden Grundbedingungen der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" des Art. 79 Abs. 3 GG, an die selbst der Verfassungsgeber für alle Zukunft gebunden ist, aber auch schon an den sehr viel umfassender gefaßten Grundbedingungen der ,,verfassungsmäßigen Ordnung" des Art. 20 Abs. 3 GG, an die der Gesetzgeber gebunden ist 48 , bei tiefgreifender Wirklichkeitsveränderung und grundlegendem Wertwandel, Dissenspunkte der Verfassungspolitik sichtbar, die mögliche Gefährdungen der bisherigen Übereinstimmung über diese Grundbedingungen anzeigen, unter denen unser politisches System für den demokra-

46

47

de theologische und philosophische N a t u r rechtsinterpretation bis in die Neuzeit hinein lehrt, sondern aus dem „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" wie der Gleichheit herstammen, aus dem die Revolution der Demokratie in der Epoche der Moderne entspringt. Vgl. dazu oben S. 195ff; aber auch schon: Ideologie und Naturrecht (Fn. 14) S. 130 ff. Z u m zugleich „überpositiven Charakter jedenfalls des Kernbestandes der in den G r u n d rechten positivierten N o r m e n " , die von der sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 unseres Grundgesetzes erfaßt sind, schon oben S. 202 ff. Das gilt, über Art. 79 Abs. 3 G G hinaus, vor allem auch für die sog. Wesensgehaltsgarantie auch und gerade des Menschenrechtsgehalts

aller Art. 1 Abs. 2 „nachfolgenden G r u n d rechte" unserer Verfassung durch Art. 19 Abs. 2 G G . Vgl. dazu grundsätzlich: P. HÄBERLE D i e W e s e n s g e h a l t s g a r a n t i e d e s A r t . 19 48

Abs. 2 Grundgesetz, 2. Aufl., 1972. Z u m Begriff der „verfassungsmäßigen O r d n u n g " in Art. 20 Abs. 3 G G als der „Mitte zwischen Art. 9 II, w o mit verfassungsmäßiger O r d n u n g eindeutig nur ein Kernbestand verfassungsrechtlicher Bestimmungen gemeint sein k a n n " , und Art. 2 I, w o „ d e r Begriff der verfassungsmäßigen O r d n u n g allgemein mit dem der ,verfassungsmäßigen Rechtsordnung', d . h . mit der Summe aller gültigen Rechtsnormen gleichgesetzt w i r d " : R.

HERZOG,

in:

Maunz/Dürig/Herzog/

Scholz Grundgesetz, Art. 20 III G (1980) Rdn. 9.

WERNER

1403

MAIHOFER

tischen Souverän im Prinzip akzeptabel ist, und die so zu notwendiger Neubesinnung unter dem Stichwort Wertdissens und Verfassungsinterpretation, wenn nicht gar Verfassungsrevision, Anlaß geben. Sieht man die Verfassung unserer freiheitlichen und konstitutionellen Demokratie, die gleicherweise durch materiale Strukturprinzipien, wie die Verfassungsgarantien der Menschenwürde und der Grundrechte, aber auch durch formale Organisationsprinzipien, wie die Verfassungsoption für eine indirekte und damit gewaltenteilende und für eine repräsentative und damit parlamentarische Demokratie gekennzeichnet ist, damit als ein bestimmtes Wertsystem mit dementsprechender Verfahrensorganisation49, dann können durch Wirklichkeitsveränderungen wie durch Wertwandel Dissenspunkte der Verfassungspolitik ebenso an Verfassungsprinzipien auftreten, die diese materiale Struktur wie die formale Organisation unserer Demokratie betreffen. Das zeigt sich einerseits an Dissenspunkten auch unter den Autoren dieses Handbuches, betreffend die Verfassungsinterpretation der beiden Menschenrechte und Hauptgrundrechte der Freiheit und Gleichheit als gleichrangige Rechte, wie bei MARTIN KRIELE. Im Unterschied zu der von mir versuchten Inbezugsetzung beider Rechte mit Sicherheit und Wohlfahrt, unter behaupteter Vorrangstellung der Freiheit, in einer Ordnung schon: der Sicherheit in Freiheit, wie der Gleichheit in Freiheit, aber auch: der Wohlfahrt in Freiheit, ja selbst der Brüderlichkeit in Freiheit50. Auch Dissenspunkte bei der Verfassungsdiskussion um die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes scheinen mir im Zusammenhang mit diesem beginnenden Wertwandel zu stehen s l . Nach ihm erscheint die auch von HANS-JÜRGEN PAPIER erörterte sog. Neutralität des Grundgesetzes gegenüber der unserer Gesellschaftsordnung zugrundeliegenden Wirtschaftsverfassung ein höchst fragwürdiger, wenn nicht überholter Begriff. Sowohl dann, wenn damit gemeint ist, daß danach unser Grund49

D i e s e doppelte B e s c h r ä n k u n g wie der eingeschränkten

Bindung

Mehrheitsherrschaft

seau, ja selbst für M o n t e s q u i e u entscheidende

in

Gleichheitsfrage

unserer insoweit konstitutionellen D e m o k r a tie, wird auch in den A u s s a g e n der A u t o r e n dieses H a n d b u c h s nicht i m m e r deutlich. S o

50

in einer D e m o k r a t i e

auch

nur zu stellen: die nach der gleichen W o h l fahrt in der G e s e l l s c h a f t . 51

Auch

H.-J.

PAPIER gelangt,

entgegen

des

k o m m e n i n s b e s o n d e r e bei T H . ELL WEIN die

auch von i h m verwandten Begriffs der N e u -

„demokratischen

tralität ( o b e n S. 6 0 9 f f ) , ausgehend v o n der

Prinzipien"

ausschließlich

als V e r f a h r e n s g r u n d s ä t z e ( o b e n S. 1113 f) in

Auffassung

den B l i c k . V g l . zur U n t e r s c h e i d u n g der P r i n -

„ M i s c h s y s t e m s " , in der S a c h e zur F o r d e r u n g

zipien einer indirekten und der repräsentati-

nach einer H o m o g e n i t ä t d e r W i r t s c h a f t s v e r -

ven

fassung mit der Staatsverfassung,

Demokratie

im

übrigen:

R.

HERZOG

unserer

Wirtschaft

als

eines

allerdings

Grundgesetz (Fn. 48) Art. 20 (1978) Rdn. 62.

b e s c h r ä n k t auf die Strukturprinzipien der D e -

V g l . z u dieser v e r m e i n t l i c h e n „ S c h e i n a l t e r n a -

mokratie:

t i v e " z w i s c h e n F r e i h e i t und G l e i c h h e i t s c h o n

F r e i h e i t s r e c h t e auch im ö k o n o m i s c h e n

um

o b e n S. 2 2 0 f f ; die M . KRIELE (S. 1 2 9 f f ) n u r

s c h e h e n zu s i c h e r n " (S. 6 1 1 ) ; nicht a b e r a u c h ,

b e h a u p t e n k a n n , weil er ( e b e n s o wie er s c h o n

was

die F r a g e der F r e i h e i t des E i n z e l n e n o h n e ihre

auch im B e z u g auf die O r g a n i s a t i o n s p r i n z i -

K e h r s e i t e : die Sicherheit aller A n d e r n zu b e -

pien der D e m o k r a t i e . V g l . zu dieser damit ge-

a n t w o r t e n sucht) auch die F r a g e der G l e i c h -

forderten Verbindung von Wirtschaftspolitik

heit auf die nach der „ g l e i c h e n F r e i h e i t " im

und G e s e l l s c h a f t s p o l i t i k dagegen grundsätz-

Staat b e s c h r ä n k t , o h n e die s c h o n für R o u s -

lich E . BENDA o b e n S. 5 4 8 f .

wir ebenso

die

„individual-personalen

für unverzichtbar

Ge-

halten,

1404

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

gesetz ebenso für die „freie Marktwirtschaft" eines reinen „Laissez-faire, Laissez-aller!" offen wäre, wie auch für das andere ökonomische Extrem einer „zentralen Planwirtschaft". Daß hier nach den Verbürgungen von Entfaltungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht, von Berufsfreiheit und Eigentumsrecht des Einzelnen auch für eine mit dem Grundgesetz vereinbare Wirtschaftsverfassung allenfalls der Grundsatz gelten kann: „Soviel Freiheit wie möglich, soviel Planung wie nötig!" erscheint offenkundig. Da jedoch in einem Staate, der in seiner Verfassung auf den Menschen als seinen einzigen und höchsten Zweck verpflichtet ist, auch die Wirtschaft nicht als Selbstzweck begriffen und ihrem Selbstlauf überlassen werden kann, nach dem Prinzip einer „Rentabilität" und Rationalität, die mit dem was für die Menschen in unserer Gesellschaft „lohnt", was für sie „vernünftig", sehr wohl in Widerspruch stehen kann, kann auch der Wirtschaft, wie schon dem Staat, keine andere als eine dienende Rolle für ihre Bürger: die Wirtschaftsbürger zukommen. Auch für sie gilt daher: Die Wirtschaft ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um der Wirtschaft willen! So gesehen kann allenfalls von Homogenität der Wirtschaftsverfassung mit der Staatsverfassung, keinesfalls von einer bloßen Neutralität die Rede sein. Das aber heißt nichts weniger und nichts mehr, als daß auch die Wirtschaft in unserem Staat einer freiheitlichen Demokratie in eine „Verfassung" aus demselben Geist gebracht werden muß, der auch die Prinzipien einer Demokratisierung und Liberalisierung des Staates bestimmt hat. Die schlicht und einfach auch hier lauten müssen: „1. Die Wirtschaft sind wir alle; 2. die Wirtschaft darf nicht alles!" Davon sind wir in unserer Wirtschaftsverfassung noch weit entfernt, nicht nur in der auf halbem Wege stehen gebliebenen Verwirklichung einer Unternehmensmitbestimmung der Arbeitnehmer in den Großbetrieben unserer Wirtschaft, sondern auch in der zum Stillstand gebrachten Vermögensbeteiligung der Wirtschaftsbürger an dem aus Produktivitätszuwachs gebildeten Investivkapital unserer Großbetriebe 52 . Aber auch in der Gewährleistung des Rechtes nicht nur am Eigentum, sondern ebenso auch des Rechtes auf Eigentum. Nicht nur an solchem Eigentum an den Produktionsmitteln unserer Großbetriebe, einschließlich der sog. Nachlaßabgabe von solchen Eigentumsanteilen im Erbfall. Sondern auch von Eigentum an Grund und Boden, durch eine endlich jede Bodenhortung zur Bodenspekulation, und damit auch die Verheerung unserer Stadtlandschaften nach dem Rentabilitätsprinzip ausschließende Bodenrechtsreform, die diesen Namen wirklich verdient 53 . 52

Vgl. dazu im einzelnen die bis heute unüberholten Vorschläge der Freiburger Thesen (Fn. 20) zur Unternehmensmitbestimmung und Vermögensbeteiligung an den Großbetrieben unserer Wirtschaft S. 97ff und S. 8 0 f f ; und zur damit verknüpften Nachlaßabgabe S. 87ff. Auch nach dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts bleibt hierbei, wie A . KRIEGER oben (S. 710ff) zurecht feststellt, für weiterreichende Lösungen Raum. Auch für echte paritätische Modelle, solange

53

dabei durch einen „dritten F a k t o r " von einer oder mehreren durch Anteilseigner und Arbeitnehmer adäquat legitimierten Personen, die unternehmensgerechte Konfliktlösung in Pattsituationen gesichert ist; auch ohne den auch in der Montanmitbestimmung nicht gewährleisteten „Letztentscheid" der Anteilseigner (Vgl. oben S. 727). Diesen Namen haben jedenfalls die bisherigen zögerlichen Maßnahmen auf dem Gebiete des Baurechts und des Städtebaus nicht verdient,

WERNER

1405

MAIHOFER

Alle diese aus den Wirklichkeitsveränderungen unserer Wirtschaft herausgeforderten neuen die nachgeholte

Verfassungsinterpretationen demokratische

Revolution

haben mit dem zu tun, was wir eingangs der Gesellschaft genannt haben 5 4 .

Anders steht es mit den Kontroverspunkten

im Recht der Ehe und Familie, die in

d e r v o n WOLFGANG ZEIDLER g e w a g t e n V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n b e i s p i e l h a f t sicht-

bar werden. A u c h hier sind tiefgreifende Wirklichkeitsveränderungen und ein aus ihnen folgender Wertwandel, auslösende Ursache der heute a u f k o m m e n d e n Verfassungskontroverse, die mit dem zu tun hat, was wir oben die fortschreitende schaftswissenschaftliche

Aufklärung

gesell-

genannt haben.

An eben diesem Beitrag, dessen Beschreibung der Veränderung der Wirklichkeit von Ehe und Familie ich teile, werden zugleich einige Zeifelsfragen deutlich, die unsere Auseinandersetzungen u m Wertwandel und Verfassungsrevision bis heute belasten 5 5 . D i e Ehe als Institution, ist, ist ein Angebot.

deren Schutzzweck im Regelfall das Interesse der Frau

D i e Partner können und sollen, heute jedenfalls, frei entscheiden,

o b sie eine Ehe schließen, oder in einer freien Verbindung zusammenleben wollen. Sieht man diesen Schutzzweck im Regelfall auch heute noch f ü r gerechtfertigt, dann rechtfertigen sich daraus auch die Privilegierungen der Ehe, die ihrerseits in Garantien für die F r a u , bis hin zur A u f l ö s u n g einer Ehe ihre B e g r ü n d u n g finden. A u c h dann noch, wenn die freie E h e sich noch weiter ausbreitet, der ja eben dies fehlt: eine solide Garantie auch der juridischen Interessen der F r a u , die im Regelfall noch immer, nach einem halben in der Ehe verbrachten L e b e n , anders „ d a s t e h t " als der M a n n . Weil

die mit eine H a u p t u r s a c h e , nicht nur für die weiter wuchernde B o d e n s p e k u l a t i o n , sondern auch f ü r die s o g . Häuserkrawalle sind und bleiben. Vgl. d a z u die weitreichenden steuerlichen wie verwaltungsmäßigen V o r schläge der Freiburger Thesen (Fn. 20) z u m B o d e n e i g e n t u m und seiner R e f o r m S. 71 ff. N u r so kann auch und gerade beim E i g e n t u m an G r u n d und B o d e n , nicht nur dem Recht am E i g e n t u m , sondern auch dem Recht auf E i g e n t u m die einem freiheitlichen Rechtsstaat und Sozialstaat angemessene Geltung und W i r k u n g verschafft werden (Vgl. a a O , S. 69 f). Ein A s p e k t der Garantie des E i g e n t u m s , der leider auch in den A u s f ü h r u n g e n P. BADURAS unterbewertet ist, der seine z u m E r klärungsprinzip des (Privat)eigentums gemachte „strukturelle Privatnützigkeit des Eig e n t u m s " (oben S. 657 ff) mit der heute vorherrschenden A u f f a s s u n g ausschließlich auf die strukturelle Perspektive des privaten N u t zens der schon Besitzenden beschränkt. 54

Z u Recht spricht d a r u m A . KRIEGER (oben S. 728 f) nicht nur von der „ f r i e d e n s s t i f t e n d e n " und „ f r e i h e i t s w a h r e n d e n " F u n k t i o n der Mit-

b e s t i m m u n g , sondern auch von der „ L e g i t i m a t i o n s f u n k t i o n " wie der „ I n t e g r a t i o n s f u n k t i o n " der unternehmerischen M i t b e s t i m m u n g (oben S. 7 2 0 f f ) : durch „ E r g ä n z u n g der ö k o nomischen durch eine soziale Legitimation der Unternehmensleitung in größeren U n t e r n e h m e n " , wie auch das Bundesverfassungsgericht sagt. N i c h t s anderes als eine solche Herrschaftslegitimation des Privateigentümers an den Produktionsmitteln bedeutet u n d fordert die auch von A . KRIEGER (oben S. 717 abgelehnte „ D e m o k r a t i s i e r u n g der Wirts c h a f t " durch U n t e r n e h m e n s b e s t i m m u n g in Großbetrieben. Sie ist die andere: liberale Alternative zu deren „ S o z i a l i s i e r u n g " . Vgl. daz u E . BENDA oben S. 5 2 0 f f . 55

Vgl. d a z u im einzelnen die eindrucksvollen A u s f ü h r u n g e n W . ZEIDLERS (oben S. 555FF; insbes. S. 5 7 4 f f , 5 8 8 f f und S. 601 ff), deren Ergebnisse, einschließlich der Vorschläge z u r A b s c h a f f u n g des bisherigen Ehegattensplittings zugunsten einer entschlossenen F a m i lienprivilegierung, ich voll teile, wenn auch nicht deren gegebene B e g r ü n d u n g , wie aus d e m N a c h f o l g e n d e n hervorgeht.

1406

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

auch schon biologisch am Ende ihrer Möglichkeit angelangt, eine „neue Familie" zu gründen, wo der Mann noch lange danach, wie eine ebenfalls zunehmende Entwicklung zeigt, eine neue Ehe und Familie mit einer jungen Frau begründen kann. Auch eine noch so tiefgreifende Wirklichkeitsveränderung ändert hier nichts an der Notwendigkeit des Angebotes einer solchen Institution wie der Ehe, mit allen damit verbundenen Privilegierungen der Partner und Garantien ihrer Interessen, mif Priorität im Konflikt für das des Schutzwürdigeren, und das ist noch immer im Regelfall: die Frau. Ganz anders stellt sich dies für die Institution der Familie dar, deren Schutzzweck, mit Vorrang, bei den Interessen der Kinder liegt. Hier kann man sich in der Tat fragen: ob die Privilegierung ausschließlich der auf Ehe begründeten Familien noch unserem Rechtsbewußtsein entspricht. Oder: ob hier nicht ein grundlegender Wertwandel eingetreten ist, der uns das Schutzinteresse der Kinder, mit allen Folgen für steuerliche Privilegierungen und rechtliche Garantien ohne Rücksicht darauf für gerechtfertigt halten läßt, ob die Familie auf einer förmlichen Ehe begründet ist. Nicht die generative Funktion, wie Z E I D L E R in seltsamem Rückfall auf moraltheologische Traditionen der katholischen Kirche meint. Gerade wenn wir alternativen Lebensformen auch zur bisherigen Ehe und Familie den weitestmöglichen Freiraum in unserer Gesellschaft gewähren wollen, entspricht, auch nach den offenkundigen Wirklichkeitsveränderungen, die Garantie der Institution der Ehe, bei gleichzeitiger Garantie auch der Institution einer Nichtehefamilie, besser diesem eingetretenen Wertwandel, als neue Grundposition der Verfassungspolitik im Ehe- und Familienrecht. Wir stellen so entgegen der Meinung Z E I D L E R S fest, daß auch eine mehrheitliche Verhaltensänderung und Bewußtseinsveränderung dem Angebot der Institution der Ehe nicht ihre Legitimation im Interesse der Frau nehmen kann. Ganz anders bei einer Institution oder Norm, die in einem Verbot besteht, wie im strafbewehrten Verbot der Schwangerschaftsbeseitigung, außer in bestimmten Fällen durch sog. Indikationen umschriebener Konflikte zwischen den Interessen der Mutter oder der Eltern und denen des Kindes. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht bei der Auseinandersetzung um die Neuregelung der Abtreibungsbestimmungen der §§218 ff StGB einen Wertwandel selbst der Bevölkerungsmehrheit schlechthin für unbeachtlich erklärt, mit der bemerkenswerten Begründung: ,,Auch ein allgemeiner Wandel der hierüber in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen — falls er überhaupt festzustellen wäre — würde daran (d. i. an dem Geltungsanspruch des Art. 2 Abs. 2 GG auch für das ungeborene Leben) nichts ändern können" 56 . Auch ein, wie hier, schon seinerzeit offenkundiger Wertwandel einer großen Bevölkerungsmehrheit, soll also danach keine andere Verfassungsinterpretation zulassen, als die vom Bundesverfassungsgericht mit VerbindlichkeitsWirkungen für die nachfolgende Strafgesetzgebung getroffene. Mit der die zunächst vom Bundestag beschlossene sog. Fristenregelung für verfassungswidrig erklärt worden ist. Dieselbe » BVerfGE 39, 1 (67).

WERNER

1407

MAIHOFER

Regelung, die der Supreme Court der Vereinigten Staaten, von derselben Verfassungsgrundlage der Menschenwürde, und des daraus folgenden Selbstbestimmungsrechts und Persönlichkeitsrechts der Mutter aus, für die einzig im ersten Dreimonatszeitraum der Schwangerschaft verfassungsgemäße erklärt hat. Die Folge dieser Entscheidung, ist die nunmehr auf eine Farce von Indikationen aufgebaute Neuregelung, deren Handhabung der sozialen Indikation, über den Dreimonatszeitraum hinaus, die Schutzwirkung des Strafrechts auch für diesen späteren Zeitraum nahezu gegenstandslos gemacht, und so insgesamt dem vielbeschworenen Schutz des Lebens einen Bärendienst erwiesen hat. Es ist nun einmal so, daß, wie am Beispiel der auf einem sog. Sittlichkeitsverbrechen beruhenden Schwangerschaft überdeutlich wird, daß die Frage: ob die Frau dieses Kind „zur Welt bringen" und damit „Mutter werden" will oder nur soll, nach heutiger Wertüberzeugung als eine Frage des Selbstbestimmungsrechtes der Mutter, oder auch der Ehegatten angesehen wird, das aus ihrer Menschenwürde folgt und hier dem Menschenrecht des Kindes auf Leben vorgeht, zumindest auf bestimmte und befristete Zeit. An diesem Wertwandel kann auch die Verfassungsinterpretation in diesem Falle nicht vorbeigehen, wo es sich um ein Verbot handelt, das alle Bürger von nun an als verfassungsgemäß achten und beachten sollen 57 . Dies muß jedenfalls dann gelten, wenn dieser Wertwandel nicht auf mangelnder Kenntnis der Tatsachenzusammenhänge oder auf sonstigen Fehleinschätzungen der Sachlage beruht, wie dies bei der langezeit mehrheitlichen Ablehnung der durch Art. 102 GG erfolgten Abschaffung der Todesstrafe eindeutig der Fall war 58 . 4. Hauptpunkte der Verfassungsrevision Das Grundgesetz ist uns in dunkler Zeit in einem lichten Augenblick unserer Geschichte zugefallen. Über dieses Grundgesetz ist zwar nicht vom damaligen Volke als Verfassung abgestimmt worden. Aber es ist danach vom ganzen Volke als seine Verfassung angenommen worden. Die Stimmen, die diese Annahme im Grundsatz verweigert haben, sind vereinzelt geblieben. Selbst in der kritischen Opposition gegen herrschende Auslegungen unseres Verfassungsrechts und Verständnisse unserer Verfassungslehre, wie etwa bei W O L F G A N G A B E N D R O T H , geht der Einspruch nicht gegen das Grundgesetz, vielmehr für das nicht erfüllte Grundgesetz 59 .

57

58

Vgl. dazu grundsätzlich schon: W. MAIHOFER Gesetzgebung und Rechtsprechung im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft, in: Das Rechtswesen — Lenker oder Spiegel der Gesellschaft?, 1971, S. 53ff; und meine Ausführungen in der Debatte der Bundestages zur Reform des § 218 StGB, in: BT Sten. Ber. 7/6492. Vgl. zu der nach dem heutigen Stande der Erkenntnis sich ergebenden kriminalpolitischen, rechtsphilosophischen wie moraltheo-

59

logischen Fragwürdigkeit der Todesstrafe im einzelnen: W. MAIHOFER Das Problem der Todesstrafe, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1965, S. 3ff. Vgl. dazu W. ABENDROTH Das Grundgesetz, 5. Aufl., 1975; und: in „Kritik der herrschenden Grundwerte-Konzeptionen" selbst jetzt die Beiträge des Sammelbandes: Grundwerte, Der Streit um die geistigen Grundlagen der Demokratie, hrsg. von K. Bayertz und H . H . H o l z , 1978.

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9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

Wir haben deshalb, auch nach dreißig Jahren Grundgesetz, allen Anlaß zu außerordentlicher Zurückhaltung gegen jede Verfassungsrevision. Keinerlei Notwendigkeit besteht, anders als es für die Schweiz erörtert wird, für eine Totalrevision der Verfassung, wie dies zu Recht auch von der sog. Enquete-Kommission zur Verfassungsreform 1976 festgestellt worden ist. Anders steht es nach den in den vergangenen drei Jahrzehnten eingetretenen tiefgreifenden Wirklichkeitsveränderungen und dem offensichtlichen Wertwandel, mit der allzu zurückhaltenden Stellungnahme dieser Verfassungskommission zu bestimmten Teilrevisionen unserer Verfassung, die auch von den Autoren dieses Handbuches diskutiert werden. Sie sollten nur da ernsthaft erwogen werden, wo Veränderungen des Verfassungstextes unausweichlich sind, da der veränderten Wirklichkeit und dem gewandelten Wertbewußtsein durch Verfassungsinterpretation allein nicht mehr Rechnung getragen werden kann, wie dies sehr wohl etwa durch eine nicht nur rechts- sondern auch sozialstaatliche Interpretation des Sicherheitsgrundrechts des Art. 2 Abs. 2 GG geschehen kann; nicht nur als subjektives Abwehrrecht, sondern auch als objektive Wertentscheidung und damit auch als Leistungsverpflichtung des Staates zur Gewährleistung der zum Leben und Gesundheitsschutz gebotenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Von den Verkehrsverhältnissen an, bis zu den Umweltverhältnissen 60 . Aber auch durch eine entsprechende Verfassungsinterpretation des Eigentumsgrundrechts des Art. 14 GG, nicht nur als verfassungsmäßig verbürgtes Recht am Eigentum (nach der klassischen Formel: Beati possedentes!), sondern als ebenso verfassungsmäßig zu gewährleistendes Recht auf Eigentum, das die Sozialgestaltungspflicht des Staates einschließt, etwa durch Bodenrechtsreform „für die Verhältnisse zu sorgen", die jedem Bürger die reale Chance zum Erwerb von Eigentum an Grund und Boden, als einem grundsätzlich unvermehrbaren, aber eben darum auch mit ganz anderer Sozialpflichtigkeit belegten Gut geben. Nur wo somit diese Grenzen einer Ergänzung und Berichtigung unserer Verfassung durch Verfassungsinterpretation, angesichts eingetretener Widersprüche zu Wirklichkeitsveränderungen und Bewußtseinswandlungen überschritten werden, kommt eine Veränderung des Verfassungstextes durch förmliche Verfassungsrevision in Betracht 61 . 60

Auch aus einer solchen rechts- und sozialstaatlichen Interpretation des A r t . 2 Abs. 2 G G ergibt sich f ü r den Umweltschutz nur insoweit eine Verfassungsgrundlage, als er Lebens- und Gesundheitsschutz ist. Zurecht wird deshalb seit Jahren, wie schon in den Freiburger Thesen (Fn. 20, S. 1 0 9 f ) die Ergänzung des A r t . 2 G G durch ein ökologisches Grundrecht auf menschenwürdige U m welt gefordert. W i e dringlich eine solche Stärkung des Umweltschutzes auch und gerade in der staatlichen Gesetzgebung ist, zeigt das 1980 verabschiedete Umweltstrafrecht. Vgl. dazu im einzelnen meinen Beitrag: Umweltschutz durch Strafrecht in der Dokumenta-

61

tion der Gesellschaft f ü r Umweltrecht, 1979, S. 1 1 8 ff. Dies gilt, über das nachfolgend erörterte plebiszitäre Defizit des Grundgesetzes hinaus, vor allem f ü r das Fehlen sozialer Grundrechte, wie des Rechtes auf Arbeit und des Rechts auf Wohnung, die wir heute als fundamentale Garantien eines freiheitlichen Sozialstaates empfinden und verstehen, ohne die eigentlich die zunehmend schon heute von Staats wegen betriebenen oder geförderten Maßnahmen zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen und von Wohnraum ohne „rechten G r u n d " sind. Bei aller Anerkennung der Probleme kann ich darum die auch unter den A u -

WERNER

1409

MAIHOFER

Diese Notwendigkeit einer Revision unserer Verfassung sehen wir in einem ersten Hauptpunkt, den wir als das plebiszitäre Defizit unseres Grundgesetzes bezeichnen wollen, und zu dem als Kontroverspunkt der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion nicht wenige der Autoren auch dieses Handbuches, mehr oder weniger ausdrücklich, oder beiläufig Stellung beziehen. Dagegen handelt es sich um die Notwendigkeit einer Rekonstitution unserer Verfassung in einem zweiten Hauptpunkt, der vielfach auch in diesem Handbuch berührt oder erörtert wird, den wir das repräsentative Defizit unserer Verfassungswirklichkeit nennen wollen. Die hiervon ausgehenden Gefährdungen der Funktionsfähigkeit und Legitimationskraft unserer als repräsentatives System verfaßten parlamentarischen Demokratie geben zu grundsätzlicher Neubesinrrung Anlaß. a) Das plebiszitäre

Defizit des

Grundgesetzes

Im Unterschied zu den in der ersten Phase der Nachkriegsentwicklung entstandenen Landesverfassungen haben die Verfassungsväter des G G , nach den entsprechenden Vorgaben und Vorschlägen des Parlamentarischen Rats, in dem anders als in der voraufgehenden Landesverfassungsgebung nicht Politiker, sondern Experten das entscheidende Wort hatten, das Grundgesetz nahezu vollständig von plebiszitären Elementen freigehalten62. Bewegt nicht zuletzt von der seinerzeit begreiflichen Sorge, nicht nur durch die Vermeidung einer Volkswahl des Bundespräsidenten, sondern auch jeglicher über die Volkswahl des Bundesparlamentes hinausgehende Volksabstimmung, mit Ausnahme der Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29 GG) 6 3 , den Rückfall in Weimarer Verhältnisse, auch von daher, auszuschließen. Diese hiermit zugleich getroffene Grundsatzentscheidung für eine Parlamentsdemokratie und gegen eine Präsidialdemokratie, die im übrigen als von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 G G nicht erfaßt, durchaus weiterhin „offen" bleibt 64 , behält auch dreißig Jahre danach ihre überzeugende Berechtigung. Weshalb alle Verfassungsdiskussionen über eine Direktwahl des Bundespräsidenten in sich unschlüssig bleiben, solange damit nicht nur eine Verstärkung der Stellung des Bundes-

62

toren des Handbuches verbreitete Skepsis gegen die Aufnahme sozialer Grundrechte ins Grundgesetz nicht teilen, wie sie für einzelne Landesverfassungen schon heute gelten. Vgl. dazu im einzelnen: K. HESSE oben S. 98ff. Dazu heißt es schon bei R. HERZOG, in: Grundgesetz (Fn. 48) Art. 20, II, Rdn. 39 höchst bemerkenswert, wenn auch folgenlos: „ F ü r den Parlamentarischen Rat stand zweifellos im Vordergrund, daß er dem deutschen Volke nach den Erfahrungen von 1933 bis 1945 die politische Reife nicht zutraute, die seiner Uberzeugung nach notwendig war, um in breitem Umfang plebiszitäre Elemente in die Verfassungsordnung des G G aufzunehmen. Insofern tragen Art. 20 II Satz 2 und die zu seiner Konkretisierung erlassenen Verfas-

63

64

sungsartikel also durchaus den Stempel der unmittelbaren Nachkriegsjahre, so daß der Gedanke an grundlegende Neuorientierungen (selbstverständlich im Rahmen des Art. 20 II Satz 2) durchaus nicht fernzuliegen brauchte". Zu Volksbegehren, Volksentscheid und Volksbefragung nach Art. 29 G G n . F . im einzelnen: H . - U . EVERS BK, Drittbearbeitung 1980, Rdn. 49 ff. Zur Präsidialdemokratie grundsätzlich: K. STERN Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, S. 746 ff und 766 ff; und zur Frage ihrer Vereinbarkeit mit den Strukturprinzipien des Art. 20 G G : aaO, S. 142.

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9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

Präsidenten im Staatsaufbau verbunden wird, die in einer Parlamentsdemokratie ihre engen natürlichen Grenzen haben muß, sondern damit eine Verwandlung der Bundesrepublik in eine Präsidialdemokratie nach französischem oder gar nordamerikanischem Vorbild verbunden ist, gegen die nicht nur alle demokratischen Traditionen, sondern auch alle geschichtlichen Erfahrungen in unserem Lande sprechen65. Ganz anders ist heute, wie ich, im Gegensatz nicht nur zu den Ergebnissen der Enquetekommission, sondern auch zu Voten von Autoren dieses Handbuches meine, die Frage zu beurteilen: ob die aus dieser Enthaltsamkeit des Grundgesetzgebers folgende Versagung jeglicher Volksbefragung und Volksabstimmung, also jedes Volksbegehrens wie Volksentscheids, mit der einzigen, auch weiterhin nur papierenen Ausnahme der Neugliederung, heute noch gerechtfertigt ist? Daß damals Demokratie gewagt worden ist, mit einer weitgehend in einer Diktatur aufgewachsenen Bevölkerung, mag solche Zurückhaltung des Häufleins aufrechter Demokraten vor dem „damaligen Volk" erklären, als sie sich damals an den schwierigen Neuanfang machten. Die tiefgreifende Wirklichkeitsveränderung und der grundlegende Wertwandel in den politischen Grundpositionen des heutigen Volkssouveräns, lassen den fast vollständigen Ausschluß des „ganzen Volkes", von dem doch auch in unserer vom Prinzip der Volkssouveränität bestimmten Verfassung „alle Staatsgewalt ausgehen" soll, nicht mehr als gerechtfertigt erscheinen66. Dies gilt für Volksbefragungen zu Grundsatzänderungen unserer Verfassung ebenso, die wie etwa die frühere Wehrverfassung, aber auch die Notstandsverfassung das „ganze Volk" angehen und die deshalb als Teilrevisionen unserer Verfassung nur durch den Souverän: das Volk selbst unmittelbar beschlossen werden können, auf das doch diese Verfassung insgesamt „zurückgeführt" werden, und von dem es auch wirklich „getragen" werden muß. Weshalb eine Verfassungsänderung in solchen Grundsatzfragen nicht durch eine „stillschweigende Zustimmung" fingiert, sondern nur durch eine ausdrückliche Abstimmung des ganzen Volkes legitimiert werden kann, soll nicht aus der bisherigen Verfassung des Volkes ein bloßes Volk der Verfassung werden. Die Notwendigkeit der Einführung von Volksentscheid aber auch Volksbegehren nach dem Vorbild der Länderverfassungen der allermeisten Bundesländer gilt jedoch auch für Abstimmungen des Volkes über andere als nur verfassungsmäßige Grundsatzfragen67. 65

66

So zurecht deshalb auch der Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, 1976, Teil I, Kap. 1.6. Gerade, wenn man auch für unsere indirekte und repräsentative Demokratie mit K.HESSE, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. A u f l . , S. 53 und 10, daran festhält, daß die Verfassung „letztlich auf der Anerkennung und Annahme durch das Volk beruht" und beruhen

67

muß, weil nur dieser „grundsätzliche K o n sens" des Souveräns „den dauerhaften Bestand rechtlicher Ordnung" gewährleisten und eine als „legitim und deshalb als aufgegeben angesehene Ordnung" begründen kann, wird man ein fragloses Ubergehen des Volkes auch bei Grundsatzänderungen „seiner" Verfassung heute nicht mehr weiter rechtfertigen können. Eine solche Möglichkeit der „Volksabstimmung über Verfassungsänderungen" kennen

WERNER

1411

MAIHOFER

Nur durch eine angemessene plebiszitäre Komponente kann nach unserer heutigen Auffassung eine konstitutionelle Demokratie im Prinzip akzeptabel sein auch für die nicht zur jeweiligen Regierungsmehrheit gehörigen Aktivbürger. „Wesenhaft" und „eigentlich" setzte Demokratie, wenn wir sie in Reinheit oder auch nur Vollkommenheit als ihrem Prinzip adäquat: als „Ideal" zu verwirklichen vermöchten, die unmittelbare Beteiligung des Volkes an allen Wahlen und Abstimmungen voraus, wie dies noch für R O U S S E A U nicht zufällig unaufgebbare Voraussetzung war. In der Tat ist nur so Volkssouveränität garantiert, die durch jede Volksrepräsentation unausweichlich mediatisiert wird. Andererseits ist für uns inzwischen, auch nach den geschichtlichen Erfahrungen der demokratischen Revolution selbst gewiß, daß Demokratie schon in den damaligen „Großstaaten", wie in den Massendemokratien heute, anders als mittelbar über eine Volksrepräsentation nicht zu verwirklichen ist. Das aber heißt nicht, daß nicht auch hierbei die Volkssouveränität ihr Recht haben und behalten muß, nach dem Grundsatz: „Soviel Plebiszit: Partizipation wie möglich, soviel Repräsentation wie nötig!"; und nicht umgekehrt. Wir nennen eine solche auf ein größtmögliches Ausmaß an plebiszitärer Partizipation des Souveräns: des „ganzen Volkes", mit begründete und aus ihr gerechtfertigte repräsentative Demokratie auch eine partizipatoriscbe Demokratie68. In ihr allein wird das gewährleistet und sichergestellt, was schon R O U S S E A U als das Kennzeichen einer „guten":,,rechtmäßigen" und damit wie er auch sagt „volksnahen" Regierung erklärt: „daß zwischen Volk und Regierenden Interessen- und Willensgleichheit besteht"; nicht aber, daß wie in einer volksfernen unrechtmäßigen und schlechten Regierung: „Regierung und Volk verschiedene Interessen und demgemäß gegensätzliche Willen haben" 6 9 . Wir wundern uns heute über das Uberwuchern der sonst so begrüßenswerten Bürgerinitiativen der Aktivbürger, zu nicht nur lokalen oder regionalen, sondern auch nationalen Problemen unserer Politik. Sie sind, wie ich meine, auch Ausdruck eines Legitimationsdefizits unseres heutigen politischen Systems einer repräsentativen Demokratie. In dem zu viele der Grundsatzfragen nicht nur der Verfassungsrevision, sondern auch der Verfassungs- und Rechtspolitik von Oben für das Volk und am Volke vorbei entschieden werden, auch wo sie wie etwa bei der Abtreibungsreform zu

68

schon heute die meisten Länderverfassungen; vgl. dazu: K . STERN Staatsrecht (Fn. 64) S. 81; die pauschale Ablehnung jeder Volksabstimmung über „ G r u n d g e s e t z ä n d e r u n g e n " durch die Enquete-Kommission, in einem A t e m z u g mit dem „ H a u s h a l t s p l a n " oder „ B e s o l d u n g s g e s e t z e n " , erscheint demgegenüber wenig plausibel; vgl. dazu den Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform (Fn. 65) Teil I, K a p . 1.3.3.2. Zur Notwendigkeit aber auch Schwierigkeit einer partizipatorischen Demokratie grundlegend: E . DENNINGER Staatsrecht B d . 1, 1973,

69

S. 58 ff; zum Verhältnis von wertrationalen und zweckrationalen Prinzipien, wie hier des plebiszitären und repräsentativen Prinzips der Demokratie grundsätzlich schon: W. MAIHOFER Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, S. 9 3 f f ; und jetzt: Europäisches Rechtsdenken heute, in: F S für H . C o ing, hrsg. von N . H o r n , B d . I, 1982, S. 5 7 9 f f , insbes. S. 589ff. ROUSSEAU Politische Ö k o n o m i e , herausgegeben und übersetzt von H . - P . Schneider und B . Schneider-Pachaly bei Klostermann, 1977, S. 39.

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9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

§ 2 1 8 StGB, aber auch bei den Auseinandersetzungen um die Entwicklung der Atomenergie, das „ganze Volk" zutiefst bewegen, weil sie auch wahrhaft das „ganze Volk" angehen. In solchen Grundsatzfragen ist eine Befriedung durch Entscheidung nur zu erreichen, wenn sie nicht nur die Entscheidung der hierfür nicht wirklich „gewählten" Abgeordneten, sondern des ganzen Volkes sind, die auch die unterlegene Minderheit, als die ausdrückliche Entscheidung einer klaren Mehrheit anerkennen kann und muß. Die hierzu geforderte Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid nach dem Vorbild der Landesverfassungen auch im Grundgesetz unserer Bundesrepublik ist die gebotene Folgerung aus jener Grundposition der Verfassungspolitik, die sich schon in der berühmten Formel GLADSTONES dahin ausspricht: „The Torys principle is, mistrust in the people, qualified by fear. The Liberais principle is, trust in the people, qualified by prudence!" b) Das repräsentative

Defizit der

Verfassungswirklichkeit

Unsere heutige konstitutionelle Demokratie leidet jedoch nicht nur an einem plebiszitären und damit partizipatorischen Defizit des Grundgesetzes. Sie ist nicht minder, eher mehr noch ihrer demokratischen Substanz bedroht durch das repräsentative Defizit unserer Verfassungswirklichkeit. Es liegt nicht in den zu beobachtenden basisdemokratischen Entwicklungen in unserer Parteienlandschaft, die mit eine Folgewirkung auch des oben beschriebenen Defizits unserer Demokratie sind. Sondern: in der zunehmenden Aushöhlung des Ethos der Repräsentation in den demokratischen Parteien selbst. Sie führt zum Ausfall des Parlaments als einer Instanz der Gewaltenkontrolle und der Herrschaftslegitimation überhaupt, und zum Verfall des Repräsentativsystems, auf das unsere indirekte Demokratie gegründet ist. Die Organisation einer Demokratie als System der Gewaltenkontrolle und der Herrschaftslegitimation der Exekutive durch die Legislative, beider durch die Judikative, und aller durch das Publikum, setzt vor allem anderen die permanente Kontrolle und Legitimation der Regierung durch die Repräsentanten des Souveräns im Parlament: als „Vertreter des ganzen Volkes" voraus. Die hierzu erforderliche Teilung der Gewalten zwischen Regierung und Parlament besteht in der politischen Praxis unserer heutigen Parteiendemokratie nicht mehr fort. Nachdem dieselben Parteien, deren Fraktionen die „regierungsfähige Mehrheit" im Parlament stellen, aus denselben Führungsspitzen ebenso die Ämter der Regierung wie der Regierungsfraktionen im Parlament besetzen. Was zu weitestgehender Homogenität, wenn nicht Identität der Hier wie Dort schon im Vorfeld der Meinungs- und Willensbildung agierenden Personen und formulierten Programme führt. Die man als Vorabstimmung und Grundsatzabsprache der Politik in Regierung und Parlament wollen oder doch in einer Parteiendemokratie jedenfalls für unvermeidbar halten kann. Die jedoch andererseits eben jene kritische Distanz und effektive Kontrolle der Regierung durch die Regierungsfraktionen im Parlament ausschließt, die weitestgehende persönliche Unabhängigkeit und sachliche Unbefangenheit der Träger der staatlichen Gewalt im Parlament von denen der Regierung voraussetzt.

WERNER MAIHOFER

1413

Begnügt man sich darum nicht mit der Illusion der hier weiterhin vorgeführten Scheingeschäftigkeit von Kritik und Kontrolle, dann muß man erkennen, daß nach der Realität der Demokratie von heute die parlamentarische Kontrolle eine solche der Regierung durch die Opposition ist 70 . Was auch im Bereich der Gesetzgebung darin Ausdruck findet, daß auch die heute weithin von der Regierung ausgehenden Initiativen zur Gesetzgebung nurmehr zu einer marginalen Kontrolle durch die Abgeordneten der Regierungsfraktionen führt, die regelmäßig durch Grundsatzbeschlüsse im Vorfeld der Regierungserklärung oder schon durch sog. Koalitionsvereinbarungen und laufende Koalitionsabsprachen auf eine bestimmte Linie festgelegt sind. Dadurch hat sich das Verhältnis Regierung und Parlament im Bereich der Gesetzgebung, zugespitzt ausgedrückt: in ein solches der Kontrolle der Regierung über die Exekutive ihrer Initiativen im Parlament verwandelt, unter ständiger sog. Formulierungshilfe der Regierung und ihrer Verwaltung, in der ohnehin die eigentlichen Urheber und Macher der meisten Gesetze sitzen. Freundlicher ausgedrückt: das Parlament so mit seiner Regierungsmehrheit zur Exekutive der Legislative in der Regierung wird 71 . Da auch die Opposition in beiden Fällen zwar die kritische Distanz zur Regierung hat, sie jedoch zu einer effektiven Kontrolle eben das nicht hat, was ihr allein Effektivität im Konflikt verschafft: die Mehrheit, ist für einen bestimmten Bereich der Gesetzgebung, die der „Zustimmung auch des Bundesrates" bedürfen, die parlamentarische Kontrolle vom Bundestag in das föderative Organ des Bundesrates ausgewandet und so, im Konfliktsfall mit Regierungsvorlagen, letztlich an die Opposition im Bundesrat übergegangen, die sich dazu notfalls des Hebels des sog. Vermittlungsausschusses bedient. Alle diese Notausstiege aus der verfassungsmäßigen Gewaltenteilung spiegeln nur den heutigen Effektivitätsverlust der Gewaltenkontrolle im Verhältnis Regierung und Parlament, der wirksam nur durch eine Berichtigung dieses Verhältnisses selbst: durch Rückbesinnung der Abgeordneten, auch in einer Regierungsmehrheit, auf ihre verfassungsmäßige Verpflichtung zur Macht- und Herrschaftskontrolle als gewählte „Vertreter des ganzen Volkes" überwunden werden kann, deren Loyalität und Disziplin in einer konstitutionellen Demokratie keine andere als die gegenüber dem ganzen Volke sein kann und darf, aus dessen Wahl und aus dessen Verfassung sich ihr Auftrag als Träger der höchsten Gewalt im Staate ableitet: der einer Volksvertretung. Nur so ist die im System einer Demokratie vorausgesetzte effektive Gewaltenkontrolle wieder herzustellen. Nur so ist das Parlament auch wieder zur permanenten Herrschaftslegitimation dieser Repräsentanten selbst als „Vertreter des ganzen Vol-

70

Zur

heutigen

„Gewaltenteilung"

zwischen

71

Z u r „empirischen B e t r a c h t u n g des Gesetzge-

Regierung und O p p o s i t i o n oben schon ein-

bungsalltags" des näheren: W .

drücklich: H . - P . SCHNEIDER S. 2 4 4 f f ; und zu

Gesetzgebungswissenschaft,

dieser

bung, hrsg. von G . Winkler u . a . , 1 9 8 1 , S. 3 f f

und

„neuen

Frontstellung:

Oppositionsfraktion"

Regierungsgrundsätzlich

auch: K . STERN Staatsrecht ( F n . 6 4 ) S. 8 0 6 f f .

insbes. S. 2 0 f f .

in:

MAIHOFER Gesetzge-

1414

9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

kes" gegenüber eben diesem Souverän: dem „ganzen Volke" in den Stand zu setzen, die nach Art. 38 G G zum Funktionsprinzip des Repräsentativsystems unserer konstitutionellen Demokratie gehört 72 . Sie fordert in einem System der Demokratie die ständige Identifikation der Repräsentanten, nicht etwa mit dem nächstliegenden Interesse und Willen ihrer Fraktion oder Partei, ihrer Basis oder Klientel, sondern mit dem von ihnen im Staate: in Parlament oder Regierung repräsentierten und zu identifizierenden wirklichen Interesse und dem tatsächlichen Willen der in ihm lebenden Menschen. Nur so aber kann der Staat seinen Auftrag erfüllen, dessen Zweck der Mensch ist, der ganze Mensch: auch in seinen gegensätzlichen Interessen und daraus folgenden Konflikten; das ganze Volk, nicht nur der den eigenen Interessen Näherstehenden, sondern auch und gerade der ihnen Fernerstehenden, ja Entgegenstehenden. Zumal der Benachteiligten und Hintangesetzten, deren Vertretung in ihrem Interesse und Willen die Sache eines Vertreters des „ganzen Volkes" nicht minder ist, eher mehr als die all der Anderen. Nur aus diesem Ethos ihrer Repräsentanten läßt sich die Idee der Demokratie verwirklichen, läßt sich der hohe Anspruch alltäglich erfüllen, der feiertäglich doch in aller Munde ist: daß der Mensch der Zweck des Staates ist, und nichts sonst 73 . Das setzt in einer konstitutionellen Demokratie die ständige Selbstkritik und Selbstkontrolle solcher Träger der Staatsgewalt in Legislative wie Exekutive voraus: aus dem Horizont des Publikums nach dem Prinzip der Publizität. Danach muß sich jeder Repräsentant des Volkes: des Publikums bei jedem Akt der Politik, will er sich dessen Legitimität in einer Demokratie versichern, nach bestem Wissen und Gewissen fragen: Ob er, wenn er die Tatsachengrundlagen und Beweggründe publik machte, die ihn zu solcher Ausübung der Staatsgewalt bestimmen, er die Zustimmung des Publikums erwarten könnte, oder mit der Mißbilligung der Öffentlichkeit rechnen müßte. Bei einer solchen Selbstvergewisserung des politisch Handelnden nach dem Prinzip der Publizität, danach also, ob die Gründe seines Handelns öffentliche Bekanntmachung: „Publizität vertragen", wird die ständige Rückkoppelung der Repräsentanten: der „Vertreter des ganzen Volkes" zum Prinzip der Legitimität: der Rechtmäßigkeit und zugleich Volksnähe der eingeschränkten Mehrheitsherrschaft in einer konstitutionellen Demokratie gemacht. Es verpflichtet den Amtsträger wie den Volksvertreter in einer Demokratie bei jeder Ausübung staatlicher Gewalt sich eben jene Frage vorzulegen, die schon für KANT allein die „Einhelligkeit der Politik mit der Moral" nach dem „transzendentalen Prinzip des öffentlichen Rechts" verbürgt, das da lautet: „Alle auf das Recht an72

Zum „Grundsatz des freien Mandats" des Abgeordneten im einzelnen: K. HESSE Grundzüge (Fn. 66) S. 2 2 7 f f ; und zum „Prinzip der Repräsentation": G. LEIBHOLZ Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl., 1966.

73

Zur Begründung des „ E t h o s der Repräsentation", auch aus der „gleichen Freiheit eines jeden", eindrucksvoll oben jetzt: M. KRIELE S. 150f.

WERNER

MAIHOFER

1415

derer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht" 7 4 . Das heißt nicht: daß nicht auch in einer Demokratie Politik nach der „allgemeinen Klugheitslehre" verfährt: „zu seinen auf Vorteil berechneten Absichten die tauglichsten Mittel zu wählen", aber: daß sie als „ausübende Rechtslehre" immer zugleich nach dem Prinzip der Publizität vom Horizont des Publikums her gedacht und gemacht werden muß, soll sie mit der Moral im Einklang stehen, die in einer Demokratie alle Staatstätigkeit auf den Menschen als ihren Zweck verpflichtet: „Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es noch so große Aufopferung kosten". Die Erfüllung dieser aus der Idee der Demokratie folgenden Legitimation der Politik kann jedoch nur gelingen, wenn sie in der Realität der Demokratie ihre Entsprechung findet. Dies aber setzte voraus, daß dieses System so funktioniert, daß die Repräsentanten in einer Volksvertretung, die sich bestreben ihrem Verfassungsauftrag gerecht zu werden: die geforderte Identifikation mit den Interessen und dem Willen des „ganzen Volkes" nach bestem Wissen und Gewissen zu ihrer Sache zu machen, die akzeptierte Regel und nicht die diskriminierte Ausnahme in allen Fraktionen eines Parlaments sein können. Liegt es doch in der Logik des Systems, daß sie nur so auf Dauer auch die „Zustimmung" im Volke zu der von den jeweiligen Repräsentanten zugleich „mitvertretenen" Partei verstärken und damit auch deren Chance in der Konkurrenz mit anderen Parteien verbessern können 7S . Zugleich aber auch, daß sie nur so den Staat von jener Entfernung und Entfremdung von den „wirklichen Menschen", dem sog. „einfachen Bürger" bewahren, die zur Gretchenfrage der Parteiendemokratien von heute zu werden beginnt. Deshalb muß unter den Funktionsbedingungen einer Parteiendemokratie, in der mit wachsendem Anteil Berufspolitiker die Funktion dieser Repräsentanten des „ganzen Volkes" wahrzunehmen beginnen, das System der Repräsentation neu reflektiert und so „rekonstituiert" werden, daß nicht durch deren übermächtiges Karriereinteresse die gesamte Volksvertretung mehr und mehr zur Farce einer Parteiveranstaltung denaturiert wird. Durch Abgeordnete, die sich bereits heute weithin nicht mehr als „Vertreter des ganzen Volkes", sondern der eigenen Partei fühlen und entscheiden. 74

KANT Anhang „ Z u m ewigen Frieden", in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Ausgabe Weischedel bei Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Bd. VI, 1964, S. 244ff, wo diese Verträglichkeit mit Publizität jedoch an Fällen äußerlicher Verhinderung eines Aktes der Politik durch öffentliche Bekanntmachung der eigenen Absicht exemplifiziert ist (aaO, S. 245ff).

75

So spricht auch H . - P . SCHNEIDER oben S. 2 5 4 f zu Recht davon: „ V o r aller aber setzt Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G einer weiteren parteipolitischen ,Ubermächtigung' des Mandats, dessen zunehmend imperativer Charakter

wenigstens da facto kaum zu übersehen ist, auch in der Verfassungspraxis unüberwindliche Schranken. Wenn sich Abgeordnete nach eigenem Bekunden immer häufiger genötigt sehen, aus bloßer Partei- Fraktions- oder gar nur Regierungsräson gegen ihre Uberzeugung zu stimmen, ist diese verfassungsrechtliche Grenze bereits überschritten"; ebenso wie D. GRIMM oben S. 3 5 4 f zutreffend das „freie Mandat", auch und gerade in der Parteiendemokratie, zum (wie die teilnehmende Beobachtung lehrt, einzig möglichen, wenn auch noch nicht zureichend wirksam gewordenen) „Gegengewicht gegen die Oligarchietendenzen in den politischen Parteien" erklärt.

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9. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber

Und sich so dem Konformitätsdruck und Fraktionszwang allenfalls dann widersetzen oder entziehen, selbst bei sog. Gewissensentscheidungen, wenn sie sich unter noch stärkerem Druck und nachhaltigem Zwang der Delegierten an ihrer sog. Basis wissen, von denen ihre Wiederwahl und damit der Verbleib in der Karriere des Politikers vorentscheidend abhängt. Lassen wir dem heutigen Trend der Realität, gegen Buchstaben und Geist unserer Verfassung, weiter seinen schon eingefahrenen Lauf, dann wird das Parlament von einer Repräsentanz des höchsten Souveräns: des Volkes, zur Repräsentation einer bloßen Majorität: von Parteien. Mit all den dann früher oder später unvermeidlichen organisatorischen Konsequenzen wie: Imperatives Mandat und Mandatsverlust bei Parteiwechsel, die KELSEN, schon zu seiner Zeit für eine zur leeren Hülle und zum schönen Schein einer Volksvertretung gewordene Parteiendemokratie gefordert hat 76 . Es sollte uns doch zu denken geben, daß selbst ein so vehementer Kritiker der westlichen Demokratie, wie des ursprünglich und noch weithin mit ihm verbundenen Kapitalismus, wie Nicos POULANTZAS, am Ende seines Lebens zu der Einsicht zurückkehrt 77 , die nicht nur denen ins Stammbuch geschrieben scheint, die aus all den schrecklichen Erfahrungen der Menschheitsgeschichte mit solcher absoluter Demokratie: einer uneingeschränkten, nurmehr durch die jeweilige Mehrheit an der sog. Basis kontrollierten und legitimierten Mehrheitsherrschaft, keine Lehre zu ziehen bereit sind. Sie scheinen mehr noch denen gesagt, die in unserer in einem Repräsentationssystem verfaßten konstitutionellen Demokratie im Alltagsgeschäft aus dem Auge zu verlieren beginnen, daß mit Repräsentation: der ständigen, nicht bloß Vertretung, sondern Vergegenwärtigung der Interessen und des Willens des ganzen Volkes durch die Repräsentanten, das System dieser Demokratie steht, aber auch fällt. „Das Dilemma, das man umgehen muß, ist also im Grunde folgendes: Entweder behält man den gegenwärtigen Staat bei und verläßt sich nur auf die repräsentative Demokratie, an der man nur einige zweitrangige Korrekturen anbringt — dies führt zum sozialdemokratischen Etatismus und zum angeblich liberalen Parlamentarismus. Oder aber man verläßt sich allein auf die direkte Basisdemokratie und die Selbstverwaltungsbewegung. Dies führt über kurz oder lang unvermeidlich zum statistischen Despotismus oder einer Diktatur der Experten. Das Grundproblem eines demokratischen Wegs zum Sozialismus und eines demokratischen Sozialismus ist die Frage, wie man eine radikale Transformation des Staates in Gang setzen kann, wenn man die Ausweitung und Vertiefung der Freiheiten und Institutionen der repräsentativen Demokratie (die auch eine Errungenschaft der Volksmassen waren) mit der Entfaltung der Formen der direkten Demokratie und von Selbstverwaltungszentren verbindet?"

76

H . KELSEN Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1929.

77

N . POULANTZAS Staatstheorie, 1978, S. 234; Hervorhebungen im Original.

Stichwortverzeichnis Abgaben 890 Abgeordneter s. a. Bundestag; Parlamentarisches System Angehöriger des öffentl. Dienstes 1156 Aufgaben im Bundestag 267 f besonderes Berufsrecht 1151 Diäten (-urteil) 255, 268, 286, 1358 Gewissensfreiheit 331 Kandidatenaufstellung 246, 288, 291 Mandat 254 ff, 256 f, 353, 356 —Mandatsverlust 313, 1416 —parteigebundenes 352 ff, 1416 Oligarchisierung des Parlamentsbetriebes 285 und Parteiverbot 354 Professionalisierung 285 f, 1358, 1415 Spezialisierung 1114 Status 255, 267 f, 356 als „Vertreter des ganzen Volkes" 246, 253, 256 f, 354 ff, 1394, 1413 f Zusammensetzung des Bundestages 263 f Absolutismus 214 s. a. Gewaltenteilung Ältere Generation s. a. Generationenvertrag Einbeziehung in Familienförderung 604 Akademiker Überangebot 1005 Aktie 692, 694 Alimentation 1158 s. a. Öffentlicher Dienst Alliierte Vorbehalte 35 f, 37 s. a. Viermächtestatus Altersruhegeld 799 Amt s. Öffentlicher Dienst Amtshilfe und Datenweitergabe 124 zwischen Sicherheitsbehörden 1323 ff Anliegerrechte 688 f Antagonistische Konflikte 159 f, 215 Anwaltszwang 1220 Anzeigenblätter 446 Arbeiterbewegung 1377 Arbeitgeberverbände s. Sozialpartner

Arbeitnehmer und Grundrechtskatalog 1365 f Recht auf Arbeit 1368 s. a. Grundrechte, soziale Arbeitsförderungsgesetz 799, 802 Arbeitskampf Aussperrung 742, 759 ff —„kalte Aussperrung" 761 f und Gemeinwohlbindung 533 f, 750 f Schlichtung 762 f Streik 733, 742, 758 f —öffentl. Dienst 1155 und Tariffähigkeit 753 f Arbeitslosenversicherung 774, 776, 789, 794, 798 Arbeitslosigkeit 233, 526, 1378, 1747 Erweiterung des öffentl. Dienstes 1161 f Arbeitsrecht 125, 527 Aristoteles 175, 215, 956, 1293, 1303 Asylrecht 87, 1347, 1356, 1361 Ausgestaltung des Rechtsschutzes 1223, 1231, 1250 Aufklärung 1385, 1405 Aufopferungsanspruch 782 Ausländer Ausländerrecht 1315, 1317, 1361, 1372 extremistische Gruppen 1306 Wahlrecht 74, 306 f, 1331, 1372, 1382 Aussperrung s. Arbeitskampf Auswärtige und supranationale Beziehungen 850 f Baufreiheit 685 f Befriedungsfunktion des BVerfG 1269 des Rechts 1250 s. a. Innere Annahme Beiträge 890 Beliehener 1151 Bepackungsverbot 894 f Berlin im Bundesrat 923 Rechtslage nach innerstaatlichem Recht 57 Status 29 ff, 46, 54 ff im System der Finanzverfassung 887 f Viermächte-Abkommen 40 ff, 44, 46, 55 ff, 58

1418 Berufsbeamtentum 1159 s. a. Öffentlicher Dienst Funktionsvorbehalt 1170 ff, 1381 f Strukturgarantie des Art.33 Abs.5GG 1176 ff —Adressaten der Strukturgarantie 1185 ff —und allg. Grundrechte 1188 f —Grundelemente des Berufsbeamtentums 1179 ff —hergebrachte Grundsätze 1176 f, 1184 f —Lebenszeitprinzip 1182 ff —Systemvereinbarkeit 1178 f Berufsbildung 1025 ff, 1038, 1053, 1055, 1057 s. a. Bildungswesen Berufsfreiheit 86, 97, 98 f, 102, 113, 219, 223 f, 621 ff, 628 ff, 1002 f, 1006 f, 1029 f s. a. Bildungswesen und Eigentum 631 ff, 664 und öffentliche Monopole 623 ff und öffentlicher Dienst 623, 1183, 1186 f, 1189 Recht auf Bildung 1002 ff, 1388 sozialer Bezug 715 und Sozialisierung 616 staatl. Konkurrenzwirtschaft 625 ff und Steuern 648 und Unternehmerfreiheit 626 f Berufslenkung 128, 1003, 1005, 1014 s. a. Planung Besatzungsrecht 6 f Besatzungszonen 4 ff, 30 ff, 54, 812 f Beschleunigungsgebot 1221 Besitzstand 99, 500, 523, 526 f, 601 ff, 1278, 1379 Besitzstandsklausel im Medienbereich 418 Besitzstandssicherung durch Tarifvertrag 739, 744 Besonderes Gewaltverhältnis 492 s. a. Öffentl. Dienst Bestandsgefährdung von Bund oder Land 1299 f, 1309 f Bestimmtheitsgebot für Strafgesetze 1229 Betriebsverfassungsgesetz 699, 737 Bildschirmtext 467 Bildungswesen 999 ff s. a. Berufsbildung; Numerus clausus; Schulwesen; Wissenschaft allg. Folgerungen aus der Bundestreue 1028 ff Bildungsexplosion 567, 1000 Bildungsgesamtplan 1027, 1036, 1038 Bildungspflicht 1055, 1057

Stichwortverzeichnis Bildungsplanung 128 Entfaltung der Persönlichkeit 1017 Gesetzesvorbehalt 1044 Kompetenzabgrenzung im Bundesstaat 570, 955, 977 f, 999 ff, 1025 ff Kriterien einer Aufgabenverteilung 1048 ff und „Kulturstaatsprinzip" 955, 977, 988 „Minimumstandard" 1009, 1028 Neuordnung 1052 ff, 1056 f, 1348, 1389 Normenflut 1044 f politische Probleme des sog. Exekutivföderalismus 1041 ff, 1045 ff Recht auf Bildung 1002 ff, 1388 Unitarisierung durch Grundrechtsschutz 1028 ff Vereinheitlichung durch vertragliche Zusammenarbeit —Länder-Selbstkoordinierung 1039 ff —zwischen Bund und Ländern 1033 ff, 1042 Vereinheitlichungsbedarf als Anlaß neuer Bundeskompetenzen 1052 ff Bodenrecht 1408 Brief-und Fernmeldegeheimnis 14, 85, 1220, 1314, 1321f Briefwahl S.Wahlrecht Briefzustellung verzögerte 1221 Brüderlichkeit 194, 205, 224 ff, 1395 f, 1403 Bürgerinitiativen 255, 286, 345, 536, 1411 s. a. Partizipation Bürgernähe 539 ff, 1358, 1378 s. a. Verwaltung Bürgerrechte 87, 139 ff, 143 s. a. Grundrechte; Menschenrechte Bürokratie 127, 1044 f, 1051, 1138, 1378 Bundesaufsicht 827, 918 f, 1125, 1299 Bundesbank 642 ff, 863 Bundesgerichte s. Gerichtsorganisation Bundesintervention 828 Bundeskanzler 243 f, 248, 270 f, 1133 Bundesländer s. a. Bundesstaat; Finanzverfassung; Gesetzgebung; Verwaltung Entstehung 5 f, 812 f, 1346 und „Kulturstaatsprinzip" 955 f Neugliederung 6, 12, 859 ff, 986, 1346 Neuordnung 1410 Rechtsbeziehungen im Bundesstaat 818 Staatsqualität 817 f, 822, 830 im System der Finanzverfassung 854, 863 ff, 868, 881 ff, 885 ff, 891 f

Stichwortverzeichnis (Bundesländer) und Verfassungsrechtsprechung 1263 f Zuständigkeitsabgrenzung gegenüber dem Bund 821 ff —Außenbeziehungen 850 f —Gesetzgebung 828 ff, 835 ff, 978 ff, 1197 f —insbes. im Bildungswesen 999 f, 1025 ff, 1051 ff —insbes. im „Kulturstaatsbereich" 978 ff —Rechtsprechung 849 ff —Verwaltung 837 ff, 847 ff, 1027 Bundespräsident 9, 243 f, 1357, 1409 Ausfertigung von Gesetzen 913, 1109 f Bundesrat 899 ff Abstimmungsverhalten als Gegenstand einer Koalitionsvereinbarung 924 f s. a. Vermittlungsausschuß; Zustimmungsgesetz Arbeitsweise 928 ff —Empfehlungsdrucksachen 929 —Sitzungen 929 ff —Vorlagen 928 f Bedeutung 13, 869, 899 ff, 1094, 1111 und Bundesregierung 932 ff —insbes. Informationspflicht 932 f —Teilnahmerecht 933 f —Zitierrecht/Fragerecht 933 f und Bundestag 243, 291, 820 f, 935 ff Enquéte-Kommission Verfassungsreform 948 f Funktion und Aufgaben 820 f, 904 ff —föderatives Bundesorgan 904 ff —in innenpolitischen Ausnahmesituationen 918 f —im Justizbereich 920 f —Konsultationsverfahren in EG-Angelegenheiten 917 f —Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung 820 f, 905 ff, 1108 ff, 1125, 1334 —Mitwirkung an der Bundesverwaltung 820 —im personellen Bereich der Bundesverwaltung 919 —insbes. Ratifikationsgesetz 914 —insbes. bei Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften des Bundes 821, 916 f —im Verteidigungsfall 921 f und Geldleistungsvorschriften der EG 881 Gesetzesinitiativen 1111 und kostenwirksame Gesetze 869 und Landesparlamente 924 Mehrheitsverhältnisse als Thema bei Landtagswahlen 943, 946, 1049

1419 im Meinungsbild 947 ff Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung 1413 Organisation 926 ff —Ausschüsse 927 f —Präsidium 926 —Sekretariate 928 —ständiger Beirat 926 f Politisierung 364, 941 ff, 943 ff, 1049 Steuergesetze 883 Stimmabgabe 923 Vorläufer und Entstehungsgeschichte 899 ff Wahl der Mitglieder durch Landesparlamente 260 Weisungsrecht der Landesregierungen 906, 923, 1048f Zusammensetzung 922 ff Bundesrecht und Landesrecht 823 ff Bundesregierung s. a. Regierung Bildung und Auflösung 9, 270 ff und Bundesrat 932 ff und Bundestag 13, 273 ff, 650 f, 1119 Bundesrepublik Deutschland s. a. Deutschland und D D R 37 ff, 48, 1377 und Deutsches Reich 34 ff, 47 ff Entstehung 4 ff, 34 ff, 812 f Entwicklung seit 1949 11, 1347 f Bundesstaat 809 ff s. a. Bundesländer; Bundesrat; Bundesstaatsprinzip; Gesetzgebung; kooperativer Föderalismus; Verwaltung Aufgabenteilung 12, 810, 821 ff, 828 ff, 837 ff, 849 ff, 1093 f, 1100 ff, 1123 ff —im Bildungswesen (einschl. Neuordnung) 1025 ff, 1039, 1045 ff —im „Kulturstaatsbereich" 978 ff Begriff 810 Bund-Länder-Einrichtungen und -Ausschüsse 855, 904, 378, 1000 f, 1027, 1028, 1033 ff, 1044, 1047, 1054, 1117 f Bund-Länder-Streitigkeiten 1263 f geschichtliche Entwicklung 810 ff —Einflußfaktoren 7, 815 f, 1346 —insbes. nach 1945 812 ff Landesparlamente 258 ff s. a. dort Rechtsprechung 1201 „Schwerregierbarkeit" 816, 862 Staatsverträge und Verwaltungsabkommen 851, 855 —(Bund)-Länder-Abkommen im Bildungswesen 1028, 1029 f, 1040

1420 (Bundesstaat) unitarischer 987, 1028, 1029 f, 1048 Unitarisierungstrend 905, 1337 —im Bildungswesen als Anlaß für neue Bundeskompetenzen 1040, 1051 ff Vertragschließungsbefugnisse 851 Bundesstaatsprinzip im Ausland 1045 ff Ausprägungen 817 ff —Abgrenzung im Bildungsbereich 999 f, 1025 ff, 1051 ff —Bundesfreundlichkeit/Bundestreue 824 ff, 853, 1028 ff, 1197 f —Homogenitätsprinzip 819 f, 988, 1299 —Rechtsbeziehungen innerhalb des Bundesstaates 818 —spezifische Einwirkung des Bundes 827 f —Staatsqualität der Länder 817 f —Zweigliedrigkeit 817, 879, 884 f, 1030, 1043, 1045 Auswirkungen auf die Wirtschaftsordnung 617 „bündischer" Föderalismus 1048 ff Exekutivföderalismus 1045 ff, 1050, 1055 ff Gefährdung im Gesetzgebungsprozeß 1117 f generelle Ausprägung 9, 12, 21 Legitimation 814 ff, 1045 f, 1048, 1057 —breitgestreute Regierungserfahrung 815 —Entfaltungsspielraum 815 —Freiheitssicherung 816 —Gewaltenteilung 364, 816 —Integrationshilfe 815 —Minderheitenschutz 815 —Transparenz 815 verfassungsrechtliche Grundentscheidung 809, 862, 899, 953, 1306 Würdigung und Ausblick 862, 1337, 1345 f Bundestag s. a. Abgeordneter; Gesetzgebung; Parlamentarisches System; Wahlrecht aktuelle Probleme 283 ff Anfragen 268 f, 274 f Arbeitsweise 13, 267 ff —Ausschußarbeit 1113 f —Beratung von Gesetzentwürfen 1107 ff Auflösung 271 ff Bedeutung 260 und Bundesrat 243, 259 f, 291, 821, 904, 935 ff, 1049 und Bundesregierung 13, 269 ff, 273 ff, 650 f, 1119 ff

Stichwortverzeichnis —Zitierungsrecht 274 Enquete-Kommission 288 Funktionsbereiche 261 ff —Gesetzgebungsfunktion 261 —Kontrollfunktion 262 f, 273 ff, 288 f —Offentlichkeitsfunktion 262 —Wahlfunktion 261, 270 ff —Willensbildungsfunktion 262 Gesetzesinitiativen 1105 Hilfsdienste 268 f und Öffentlichkeit 1114 Opposition 273 ff Organisation 264 ff, 285 —Altestenrat 267 —Ausschüsse 13, 265 f, 273 f, 285 —Fraktionen 266 f —Geschäftsordnung 264 f, 287 f —Plenum 265 —Präsidium 267 Planungsbeteiligung 283, 1042, 1142 ff, 1145 ff s. a. Planung Reformansätze und -aufgaben 287 ff, 1141 ff Verfassungsdebatten 1333 und Vermittlungsausschuß 940 ff Zusammensetzung 263 f Bundesverfassungsgericht 1253 ff s. a. Verfassungsgerichtsbarkeit Anrufung durch Opposition 1334, 1364, 1370 Arbeitsbelastung 1254, 1288 f Arbeitsstil 1285 Argumentationsstil 1139, 1343 Befriedungsfunktion 1269, 1275, 1342, 1370 Beitrag zur Bewährung des GG 21 ff Bindungswirkung der Entscheidungen 90, 1271 ff Entstehungsgeschichte 1261 f als „Ersatzgesetzgeber" 1018, 1027 Gerichtseigenschaft 1282 und Gesetzgeber 18f, 87, 95 f, 105 f, 485, 499, 1333 f, 1370 häufigster Anrufungsgrund 87 Hüter der Verfassung 20, 90, 1257, 1298 Methodenpluralismus 1285 politische Relevanz 1265, 1268, 1272 f, 1274, 1278 Rechtsgrundlagen 1263 Reformüberlegungen 1288 f Richter 363, 921, 1273 ff Selbstbeschränkung 87, 95 f, 711, 832 f, 1278 f, 1282, 1284, 1370, 1371, 1376 Sondervotum 1274 f

Stichwortverzeichnis (Bundesverfassungsgericht) Statusfragen 1268, 1276, 1281 f als Superrevisionsinstanz 488 und supranationale Gerichte 1269 ff Verfahrensarten 1263 ff Verfahrensfülle 509 im Verteidigungsfall 1268 wertorientierte Rechtsprechung 1281 Würdigung 14, 90, 1287 f, 1359 Zuständigkeiten 1263 ff Bundesverwaltung 844 ff s. a. Exekutive; Verwaltung Bundeswehr 12 f, 23, 919, 1174, 1316 f, 1341 f, 1410 s. a. Verteidigungsfall, Wehrdienst Bundeszwang 827, 918 f, 1125, 1299 Burckhard 967 Chancengerechtigkeit/-gleichheit 219, 223 f, 541 ff, 1308, 1368, 1397 s. a. Gleichheit; Gerechtigkeit; Freiheit im Kommunikationsbereich 397 ff Citoyen 141, 188, 965 Daseinsvorsorge 23, 92, 1172 f s. a. Sozialstaatsprinzip; Staatliche Aufgaben Datenschutz 122 ff, 1325 f im Medienbereich 454, 465 Datenverarbeitung und Menschenwürde 122 ff Demokratie 173 ff und Anspruchsdenken 188 Begriff 173 f, 176 f und Brüderlichkeit 195 und Despotie 191 f, 193 „direkte" 189 f und Freiheitsprinzip 178 ff, 191, 205 ff und Gewaltenteilungsprinzip 186 ff, 193, 194 und Gleichheitsprinzip 183 ff, 186, 189, 205 ff, 220 Grundprinzipien freiheitlicher 177 ff, 194 ff, 953, 1383, 1401, 1414, 1416 humane 230 Krise 186 Legitimationselemente 184 ff, 953, 1394 liberale und soziale D. des GG 177 ff, 183 ff, 188, 194 ff, 212 ff, 218, 223, 230, 235 f, 957, 1388, 1395, 1401 als Ordnung der Brüderlichkeit in Freiheit 224 ff als Ordnung der Freiheit 205 ff als Ordnung der Gleichheit in Freiheit 212 ff, 217 f, 224 Rätedemokratie 174

1421 und Rechtmäßigkeitsprinzip 180 ff, 194 und Sozialismus 218 Tocqueville 214, 218, 1387 Verwirklichung durch organisatorische Grundprinzipien 236 Volksdemokratie 174 wehrhafte/streitbare 1297, 1303 ff, 1326 f, 1343, 1369, 1402 Demokratieprinzip 9, 17, 23, 173 ff, 295, 393, 462, 480, 486, 815, 1153 f, 1191, 1284, 1410 f und Allparteienkoalition im sog. Exekutivföderalismus 1047, 1048 f im Bildungswesen 1389 Einfluß der Konkordanzdemokratie 364 Gefährdung im Gesetzgebungsprozeß 1113 und Gesellschaft 1387 f, 1390, 1392 und Gesetzesvorbehalt 1021 ff und Grundrechte 387 f und Grundrechtsausübung 564, 569, 989 f und „nicht erfülltes Grundgesetz" 177 Organisations- und Verfahrensregeln 144 und parlamentarisches System 252 und Parteien 319 ff, 330 f, 334 und Privatwirtschaft 717, 719, 1390, 1403 f repräsentative Demokratie 189, 192, 194, 1395, 1409, 1412 —besonderes Ethos 150, 1412, 1414 Rückkopplungseffekt 356 und Staatsleitung 643 und Streik im öffentl. Dienst 1194 ff und verbandliche Binnenstruktur 382 ff —verfassungsrechtliche Grundlagen 384 ff und Vereinigungsfreiheit 375 Verletzung durch rollenorientierte Rechtsprechung 157 Voraussetzungen 136, 143 ff, 1338 —Anerkennung der Verfassungsordnung 144 —bürgerliche und politische Rechte 143 f —Gewaltenteilung 143 f —ideengeschichtliche 177 ff, 194 —Selbstbestimmung 143 Demokratietheorie 177, 178 f, 183, 188, 191, 384 Demonstration 85 gewaltsame 152 ff Demonstrationsfreiheit 1398 Demoskopie und Verfassungsverständnis 1349, 1356 Despotismus 1416 Deutsche Demokratische Republik und Bundesrepublik Deutschland 37 ff und Deutsches Reich 36 f

1422 (Deutsche Demokratische Republik) Entstehung 5, 7, 34 ff Deutschland 29 ff s. a. Bundesrepublik Deutschland; Deutsche Demokratische Republik Grenzfragen 44 ff Rechtslage, allg. 29 ff, 33 ff, 47 ff, 54 ff, 58 Staatsangehörigkeit 39, 48 ff Viermächtestatus 36, 37, 40 ff Deutschlandvertrag 6 Dezentralisierung 815 f d'Hondt s. Wahlrecht, Sitzverteilungsverfahren Diskriminierungen 187 f, 213 f, 222, 233 als Verletzung des allg. Freiheitsanspruchs 152 ff Dolmetscher im Strafverfahren 1227 Doppelbestrafung 1230 f Ehe und Familie 87, 88, 93, 100, 102 ff, 527, 555 ff s. a. Elternrechte Begriff in Art. 6 Abs. 1 G G 581 Benachteiligung der „Familienfrau" 597 ff Berufstätigkeit der Frau 597 f Elternrecht und Staatsmacht 563 ff und Elternrechte 128 Entwicklung des Ehebegriffs 593 Geburtenrückgang 589 ff, 1406 zur Identität der Schutzgüter in Art. 6 Abs. 1 GG 582 Insemination 121 f nichteheliche Lebensgemeinschaft 563, 574 ff Onkelehe 562 Problematik des sog. Eheprivilegs 594 f, 1352 ff, 1354 f, 1406 Probleme des Ehegatten-Splittings 601 ff, 1354 soziale und rechtliche Wandlungen 558 ff, 1379, 1385, 1387, 1405 ff und Sozialrecht 781 f staatliche Benachteiligung kinderreicher Ehepaare 597 ff staatliche Förderung 580, 595, 602 ff, 1353 ff, 1406 Eherecht 560, 585 ff, 1352 ff, 1364, 1386 f, 1406 Ehrenamt 1151 Richter 1138 ff Eigentum 653 ff s. a. dort Anteilsrechte 692 f, 694 Begriff 653 ff, 660 ff

Stichwortverzeichnis und Berufsfreiheit 631 ff, 664, 666 f und Besteuerung 232, 646 ff Enteignung 674 ff, 689 f Enteignungsentschädigung 678 ff und Freiheitssicherung (personale Funktion) 86, 102, 655, 657 f, 662, 669, 1351, 1365, 1366 Funktion und Funktionswandel 654 ff, 659 f, 1351, 1366 ff Geldentwertung 671 f gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum 656 f, 661 ff, 665, 667 f, 669 ff, 672 ff, 686 f, 690 ff Gewerbebetrieb 692 f Grundeigentum 683 ff, 1367, 1404 Grundstücksenteignung 689 f historische Entwicklung 657 f Inhaltsbestimmung und Enteignung 674 ff, 683 f Medieneigentum 396 f, 410, 414 f, 432, 449 ff als Menschenrecht 197, 201 f öffentlich-rechtliche Rechtspositionen 668 f, 1351 Plangewährleistung 681 f Privatnützigkeit 655, 662, 666, 668, 673 an Produktionsmitteln 152, 158 ff, 222, 1366 f, 1392, 1404 Rechtsstellungs- und Institutsgarantie 93, 664 ff Rentenanwartschaften und -ansprüche 668 f, 782 f, 804 Schranken 667 Schutz- und Ordnungsziele 660 ff, 666 ff Sicherung im „contrat social" 178 Sicherung durch Verfahrensgestaltung 102, 662 f sozialer Bezug 91, 620, 655 f, 662, 672 ff, 683 f, 714, 1361, 1365, 1366 f, 1408 Sozialisierung 694 ff, 1361 Steuer 646 ff, 669 f subjektives öffentliches Recht 658 ff, 663 Umverteilung 542, 659 s. a. dort Unternehmenseigentum 665, 691 ff, 694 Vermögensbildung 660 und Wirtschaftsordnung 86, 615, 655 f, 690 ff und Wirtschaftsverfassung 690 f Eigentumsgarantie und Sozialrecht 782 f Einkommensteuer 884 Einspruchsgesetze 908 ff, 945 Elterliches Sorgerecht 572

Stichwortverzeichnis Elternrechte 563 ff, 988, 1007, 1010, 1012 f, 1014 ff, 1352, 1389 s. a. Ehe und Familie; Schulwesen Energieversorgung 23, 526, 1173 s. a. Kernenergie Enquete-Kommission Verfassungsreform 14, 1142, 1357, 1383, 1408 Bundesratsprinzip 948 f Finanzverfassung 866, 896 f Gesetzgebungskompetenzen 829, 834 Mandatsverlust 313 Parlamentarisches System 288 f Stärkung der Gemeinden 859 Verfassungsgericht 1254 Vertragsabschlußkompetenzen 850 f Verwaltungskompetenzen 839 Wahlrecht 311 Enteignung 674 ff Abgrenzung zur Inhaltsbestimmung 674 f, 683 f allgemeine Voraussetzungen 675 ff Entschädigung 678 ff, 782 insbes. von Grundstücken 689 f Rückerwerbsrecht 676 Entfaltung der Persönlichkeit 86, 129, 134 f, 145 f, 195, 208, 213 f, 230, 1006 ff, 1017 s. a. Freiheit; Menschenwürde Entfremdung 228 ff Erbrecht 151, 663, 1391, 1404 Ergänzungszuweisungen 887 Ersatzdienst, ziviler 14, 1286, 1361 s. a. Kriegsdienstverweigerung Erziehung 988 Erziehungsziele 565, 568, 965, 966, 1007, 1008, 1013, 1022, 1173 f, 1303, 1348 staatsbürgerliche 187, 1293, 1294, 1300, 1303, 1345, 1348 wertebildende Institutionen 1346 f, 1379 Europäische Gemeinschaften 63 ff s. a. Wahlrecht, Ausländer Beitritt zur EMRK 71 ff Beteiligung der Bundesländer in EG-Angelegenheiten 917 f Erklärung zur Demokratie (1978) 73 Finanzwirtschaft 891 im System der Finanzierungszuständigkeiten des GG 880 f im System der Steuerverteilung 888 Übertragung von Hoheitsrechten 10 Europäische Integration 59 ff Ansätze seit 1945 59 ff Mitbestimmung als europäische Aufgabe 730 f Möglichkeiten und Grenzen 74

1423 Europäische Menschenrechtskonvention 60 ff, 71 ff, 79, 83, 202, 1064, 1217 f, 1269 ff Europäische Sozialcharta 62 f, 79, 83 Europäischer Gerichtshof (EuGH) 68, 69 ff, 1217, 1270f Grundrechtsschutz 71 Europäisches Gemeinschaftsrecht und bundesstaatliche Kompetenzverteilung 852 demokratische Legitimation der Gemeinschaftsorgane 66 insbes. Grundrechtsgeltung 63 ff, 66 ff, 71, 73 f, 79, 1217 f und nationales (Verfassungs-)Recht 63 ff politische Teilhaberechte/soziale Rechte 74 sog. Solange-Beschluß des BVerfG 65 f soziale Freiheiten/Verbürgungen 68 f Europäisches Parlament Wahlrecht 295 ff Exekutive Exekutivföderalismus 856, 1045 ff, 1050, 1055 ff s. a. Kooperativer Föderalismus —Einstimmigkeitsprinzip 1046, 1050 Exekutivkooperation 1041 ff, 1048 Existenzminimum 115 s. a. Menschenwürde; Sozialstaatsprinzip Extremismus 1335 s. a. Öffendicher Dienst, Verfassungstreue Fachministerkonferenzen 259, 284, 855, 904, 1001, 1039f s. a. Kultusministerkonferenz „Faires Verfahren" 1225 ff Familie s. Ehe und Familie Fernmeldemonopol 441 Fernsehen 389 ff s. a. Rundfunk Femunterricht 1026, 1041 Finanzausgleich 826, 865, 886 ff Finanzgerichtsbarkeit 890 Finanzhilfen gemäß Art 104 a Abs. 4 GG 877 Finanzreform (1969) 847, 853 Finanzverfassung 645 ff, 814, 853 f, 863 ff s. a. Steuern Bundesauftragsverwaltung 869 ff Bundesgesetz und Länderhaushalte 869 Enquete-Kommission Verfassungsreform 866 Finanzhilfen (Art. 104a) 1027, 1054 Finanzierungskompetenz 867 ff Finanzreform 1969 12, 865 f Finanzwirtschaft 890 ff

1424 (Finanzverfassung) geschichtlicher Rückblick 864 ff Haushaltsrecht 892 ff —Haushaltsgrundsätze 893 ff —Rechnungslegung 895 f —Sondervorschriften 896 f —überplanmäßige Ausgaben 1299 —Vetorecht der Bundesregierung 895 Kostenlast und Verwaltungskompetenz 868 Mischfinanzierung 871 ff —allg. Geldleistungsgesetze 873 f —Finanzhilfen gemäß Art. 104 a Abs. 4 GG 877 f —Gemeinschaftsaufgaben 874 ff, 1027 f s. a. dort —Kriegsfolgelasten 872 —Sozialversicherung 872 f —ungeschriebene Bundeszuständigkeit 878 f sonstige Einnahmen 890 Stellung der EG 880 f —im System der Steuerverteilung 888 f Stellung der Gemeinden 879 ff —Abgrenzung gegenüber dem Bund 879 —Abgrenzung gegenüber den Ländern 879 f —im System der Steuerverteilung 888 Steuerverteilung —Aufkommen 883 f —horizontaler Finanzausgleich 887 —unter den Ländern 885 ff —Stellung Berlins 887 f —Stellung der EG 888 —zwischen Bund und Ländern 881 ff Steuerverwaltung 889 f Umsatzsteuerverteilung 869 Finanzwirtschaft 890 ff Flugblatt 438 f „Flurbereinigungsabkommen" 847, 983 Föderalismus Begriff 810 s. a. Bundesstaatsprinzip; Kooperativer Föderalismus Fondswirtschaft 822, 894 Forschungsförderung 1026 f, 1038 Forschungsfreiheit Gen-Technologie 1371 Forschungspolitik 1136 Fraktionen 266 f, 286, 333, 353, 907, 1023, 1412, 1415 Fraktionsdisziplin 254, 257 f, 353 f, 1415 Frankfurter Dokumente 7, 813 Frankfurter Nationalversammlung 81, 93, 900, 1009

Stichwortverzeichnis Frankfurter Reichsverfassung 811, 1256, 1294, 1377 Frau „Berufsfrau"/„Familienfrau" 597 ff Gleichberechtigung 86, 146, 217, 561, 1386 neues Selbstverständnis 561, 563, 591 f, 1406 Freiheit 129 ff und Demokratieprinzip 177 ff, 185, 188, 191 als „gesellschaftlich erfüllte" 210, 957, 988, 1389 durch Gesetze 179 und Gewaltenteilung 193 und Gleichheit 129 ff, 133 ff, 190, 193 f, 205 f, 213, 218, 220, 232, 1397, 1403 —Balance als fortdauernder Auftrag 151 f Grundlagen —Rechtsprinzip und Menschenwürde 129 ff —zusätzliche Legitimationsgründe 130 ff Leitprinzip der Verfassungsauslegung 132 f, 173, 204 ff pluralistische 1308 Privilegien und Diskriminierungen 152 ff und Sachzwänge 536 und Sicherheit des anderen 208 f, 215, 1398 und soziale Gerechtigkeit 145 ff, 1376 s. a. Gerechtigkeit, soziale „sozialistische Alternative" 158 ff und Wohlfahrtstaat 213 f Freiheitliche demokratische Grundordnung 10, 163, 165, 166 ff, 173, 968, 1276, 1296, 1299 f, 1303 f, 1305 ff, 1340, 1394, 1402 Freiheitsbeschränkung durch allgemeine Gesetze 124, 148 f s. a. Diskriminierungen im „contrat social" 179 Ordnung der Freiheit 205 ff Rechtfertigungsbedürftigkeit 139 f Rechtfertigungsgründe 140 f Freiheitsentziehung 1228 f Freiheitsrechte 84 ff, 88 f, 100 f, 103 s. a. Grundrechte, staatl. Beitrag allgemeine Handlungsfreiheit 86, 1189 f Chancen zur Mitwirkung 113 in dubio pro übertäte 140, 209, 1398 und Eigentum 657 als Grundlage der Wirtschaftsverfassung 614, 619, 711 ff nur im Rahmen der Verfassungsordnung 163 ff

Stichwortverzeichnis (Freiheitsrechte) Schranken aus dem Sozialstaatsprinzip 534 und Sozialrecht 779 ff Freiheitssicherung und -Verwirklichung durch organisatorischen Teil des GG 135 ff staatliche Schaffung von Rahmenbedingungen 24 f, 88, 92 f, 95, 96 ff, 105, 140 f, 515 f, 537 s. a. Grundrechte, staatl. Beitrag Freistaat 190, 192 Freizügigkeit 84, 89, 1190 Friedensbewegung 1341 f Friedensordnung/Friedenssicherung 58 s. Zukunftsprobleme Fürsorgerecht 784 f, 790 f Fürstenspiegel 1293 Gebühren 890 Geburtenrückgang 562, 588 ff, 595, 606 f, 803 Gegenseitigkeit als Prinzip gesetzgeberischer Gerechtigkeit 180 Geldleistungsgesetze 873 f Gelöbnis 1301 Gemeinden 857 ff s. a. Kommunale Selbstverwaltung Aufgaben im Kulturstaatsbereich 984 ff ehrenamtliches Element 858 Finanzierungszuständigkeiten 865, 879 ff Finanzwirtschaft 859, 891 Gebietsreform 858 Gesetzesausführung 858, 879 f Steuern 882 f, 884 verfassungsrechtlicher Kernbereich 87, 93, 857 Gemeinsamer Ausschuß 922, 1111 Gemeinschaftsaufgaben 815, 834, 848, 854, 862, 865, 874 ff, 1103 ff, 1118 Abschaffung 1048, 1054 Bildungsplanung 999 f, 1028, 1035 ff, 1042 Forschungsförderung 1027, 1038 Hochschulbau 1026, 1034 ff, 1054 und Parlamente 1041 f Verfahren 876 Gemeinschaftsgut 629 ff Gemeinwohl 109, 127, 176, 180 f, 183 f, 189, 190, 212 f, 220, 226, 291, 336 f, 375, 385, 399, 402 f, 418, 429, 437, 439, 448, 452, 459, 464, 496, 501, 513, 516, 531 ff, 629, 639 f, 662, 675 ff, 689 f, 715, 750 f, 815, 891, 985, 1082, 1153, 1158, 1173, 1194 f, 1343 Generalklauseln 491, 1229 f

1425 Generationenvertrag 562, 588 ff, 602 ff, 1347, 1350, 1353 Generatives Verhalten 588 ff Gerechtigkeit durch allgemeines Gesetz 179 f, 212 ff und Grundgesetz 1244 und Menschenwürde 111 und Rechtspflege 1199 und Rechtsstaatsprinzip 480 ff, 488, 497 soziale 129, 131, 136, 184, 188, 212 ff, 215, 221 ff, 233, 376, 456, 511, 522, 541, 553, 659 f, 783, 957, 1337, 1368, 1390 —Allgemeinheit des Gesetzes 145 ff, 148 ff —und formale Rechtsgeltung 145 ff —Privilegien und Diskriminierungen 152 ff —Rechtfertigung von Gesetzesverletzungen 152 ff —durch rollenorientierte Rechtsprechung 155 ff —Rückgriff auf Menschenrechte 146 f —sog. Präjudizienvermutung 149 staatl. Beitrag zur Gewährleistung 1157 s. a. Grundrechte, staatl. Beitrag Steuergerechtigkeit 652 Gerichtsbarkeit s. Rechtsprechung Gerichtsorganisation 13, 849 f, 1202, 1207 ff außerstaatliche Gerichte 1215 ff Berufsgerichtsbarkeit 1212 Bundesarbeitsgericht 1207, 1210 Bundesfinanzhof 1207, 1210 Bundesgerichtshof 1207, 1209 Bundessozialgericht 1207, 1210 Bundesverwaltungsgericht 1207, 1210, 1241 f Disziplinargerichtsbarkeit 1211 —Bundesdisziplinargericht 1211 —Richterdienstgerichte 1211 —Truppendienstgerichte 1211 —Wehrstrafgerichtsbarkeit 1211 Entlastung durch alternative Konfliktregelungen 1249 f gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe 1208 f Gerichtszweige 1209 ff —allg. Verwaltungsgerichtsbarkeit 1210 —Arbeitsgerichtsbarkeit 1209 f —Finanzgerichtsbarkeit 1210 —Gerichte für besondere Sachgebiete 1211 f —ordentliche Gerichtsbarkeit 1209

1426 (Gerichtsorganisation) —Sozialgerichtsbarkeit 1012 geschichtlicher Rückblick 1206 ff nichtrichterliche Organe der Rechtspflege 1240 ff Patentgerichtsbarkeit 1211 Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder 1213 ff verwaltungsmäßige Zuordnung der Gerichte 1212 f Gerichtsverfassung und-verfahren 1218 ff Instanzenzug 509, 1220 unangemessene Dauer 1270 verfassungsrechtliche Gewährleistungen 100 ff, 495, 1218 ff —Chancengleichheit 1227 f —„faires Verfahren" 1225 ff —gesetzlicher Richter 1223 ff —insbes. für den Beschuldigten 1219 ff —Öffentlichkeit 1231 f —rechtliches Gehör 1224 f —Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung 84, 1228 f —Rechtsschutzgarantie 1219 ff Gesamtschule 1016 ff Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 12, 544, 613, 617, 642, 650 f, 783, 877 Geschichtsbewufitsein 1348, 1377 Geschichtsunterricht 1303, 1347 f, 1377 Gesellschaft s. Staat und Gesellschaft Gesellschaftsrecht 627, 633, 697, 712 ff, 720, 725 ff, 728, 730 Gesellschaftsvertrag (contrat social) 178 ff, 191, 194, 967, 1393 Gesetz s. a. Normenflut Adressaten 1116 Adressaten als Urheber 182 Allgemeinheit des Gesetzes 145 f, 148 f, 180, 190 „Geist der Gesetze" 186 f, 192 Gesetzesbegriff 1097 f, 1099 Gesetzesperfektionismus 491 Gesetzesqualität 490, 498 f, 506 ff, 823, 1100, 1115, 1245 f, 1333 f, 1387 Kriterien der Legalität 179 ff, 182 mißbräuchliche Inanspruchnahme 795 ff politische Funktion 1097, 1098 f, 1104 f, 1114 f, 1119 f privilegierende und diskriminierende Gesetzesverletzungen 152 ff auf Probe (Pilotprojekte) 421, 1123 Selbstbindung des Gesetzgebers 1098

Stichwortverzeichnis Verzicht auf Gesetzesvollzug 153 f, 1342, 1347, 1358, 1363 Zeitgesetz 1115 f Gesetz und Recht 203, 487 f, 1243 ff Gesetzesvorbehalt 88 f, 139 f, 203 f, 490 ff, 1021 ff, 1044, 1100 f, 1145 Gesetzgebung 1093 ff allg. Anforderungen im Bereich der Wirtschaftspolitik 639 ff Ausnahmesituationen 1111 Bedeutungseinbuße 1117 Ermittlung des Gesetzesbedarfs 1104 ff Formulierungshilfen 285 f und gesellschaftlicher Wandel 1120 f s. a. Sozialer Wandel Gesetzesänderung 1115 f, 1119f Gesetzesinitiativen 261, 906 ff, 1104 ff, 1413 Gesetzeskosten 650, 869 Gesetzesvorbereitung 1105, 1106 f Gestaltungsspielraum 656, 661 ff, 665, 669 ff, 686 f, 690 f, 1008, 1010 ff, 1025, 1030 f s. a. Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber Grundsatzgesetzgebung 834 als Korrektiv von Ungleichheit 185, 212 f, 215, 221 ff, 227 s. a. Gerechtigkeit; Gleichheit Kulturfreundlichkeit 970 legislatorischer Pragmatismus 1119 ff und Ministerialverwaltung 1120, 1132 s. a. Verwaltung und politische Planung 13, 1145 ff s. a. Planung Probleme des Gesetzgebungsprozesses 1112 ff —Bundesstaatsprinzip 1117 f —Demokratieprinzip 1113 —Rechtsstaatsprinzip 1115 Prognosespielraum 420 f, 639 ff, 642, 710 f, 714 als Reaktion auf Verwaltungsverbund 1125 Verbandseinfluß 1106 Verfahren 905 ff, 932 f, 1099 ff —„Anpassungsmechanismen" 1108, 1125 f —Fristen 1110 —Phasen 1106 ff Zuständigkeiten 821 f, 828 ff, 978 ff, 1101 ff —Abgrenzungsprobleme 835 ff —des Bundes 830 ff, 1101 f —insbes. ungeschriebene 834 f, 878 f, 981, 982

Stichwortverzeichnis (Gesetzgebung) —der Länder 831 ff, 835, 836 f, 1101 —Verlagerung auf den Bund 830, 905, 1102 f Gesetzgebungsaufträge s. Grundgesetz; Staatszielbestimmungen Gesetzgebungslehre 499, 506 ff Gesetzgebungsnotstand 13, 915 f, 1111, 1299 Gewaltenteilung/-trennung 244 f, 322 f, 360 f, 492 ff, 816, 829, 1093 f, 1341, 1412 ff Absolutismus 137 f, 160 ff, 164 Alternative 162 und Demokratieprinzip 177, 186 ff, 193 f, 953 Element der Stabilisierung 1298 Erstreckung auf öffentlich-rechtliche Medien 323 und Exekutivkooperation 1045 ff und öffentl. Dienst 1156 Unabhängigkeit der Rechtsprechung 1200 f, 1232 ff, 1236 f Voraussetzung für Demokratie 137 Voraussetzung für Freiheit und Gleichheit 137 ff Gewaltmonopol des Staates 136 f, 152 f, 159, 482, 1129, 1200, 1377, 1379 f Selbstschutzgruppen 154 Gewaltverzicht 41 f Gewerbebetrieb 692 f s. a. Eigentum Gewerkschaften s. Sozialpartner Glaubensfreiheit 85, 113 s. a. Religionsfreiheit Gleichheit/Gleichheitssatz 86 f, 88, 129 ff, 204 f, 483, 1308, 1367 s. a. Gerechtigkeit; Grundrechte, Teilhaberrechte; Sozialstaatsprinzip; Staatl. Aufgaben; Willkürverbot; Wohlfahrt Ableitung auch aus Art. 2 Abs. 1 GG 134 f Abweichen von gesetzl. Regelung in anderem Bundesland 819, 1028 f und Allgemeinheit des Gesetzes 145 ff, 148 ff Anrufung des Bundesverfassungsgerichts 87 Berufung auf Gleichheitsgebot nur im Rahmen der Verfassungsordnung 163 f, 168 im Bildungswesen 1002 f, 1006 f, 1008, 1029, 1030 und „contrat social" 179 und Demokratieprinzip 177 ff, 183 ff, 185, 186 ff, 205 f

1427 und Freiheit 129 ff, 133 ff, 190, 193 f, 205 f, 213, 218, 220, 1397, 1403 —Balance als fortdauernder Auftrag 151 f und Gesellschaft 213 ff, 217 Gleichberechtigung der Frau 86, 146, 217, 561 f, 1386 „im Zweifel für die Gleichheit" 216, 1397 Leitprinzip der Verfassungsauslegung 132 f Lohngleichheit 747 f, 757 mehr als Wahlrechtsgleichheit 183, 213 und Menschenwürde 112 Privilegien und Diskriminierungen 152 ff Rechtsprinzip und Menschenwürde als Grundlage 129 ff Sicherung durch organisatorischen Teil des GG 135 ff sog. Präjudizienvermutung 149 „sozialistische Alternative" 158 ff und Sozialrecht 782 im Steuerrecht 651 f bei Subventionsvergabe 1391 und Transferleistungen 801 ff und Wohlfahrt 214 ff, 219 zentrale Aufgabe der modernen Demokratie 184, 213, 220, 1384 und Zugang zum Gericht 1227 zusätzliche Legitimationsgründe 130 ff Godesberger Programm 705, 1367, 1374 Gottesebenbildlichkeit des Menschen 197 Grundeigentum 683 ff Anliegerrechte 688 f Baufreiheit 685 f Bodenrecht 1367, 1404 Enteignung 689 f Inhalts- und Schrankenbestimmung 686 ff Sozialgebundenheit 683 ff, 1367 Grundgesetz 3 ff Bedeutung für nichtstaatlichen Bereich 10, 17, 21, 24 f, 92, 95 f, 102 ff, 1362 Bedeutung der Verfassungsauslegung 11, 14, 18 f, 82, 90 Beeinträchtigung durch „parakonstitutionelle" Entscheidungsträger 377 ff demokratische Legitimation 11, 132 f, 1407 eingebrachtes Traditionsgut 173, 1177, 1348 Ersatzfunktion 22, 1377 im geschichtlichen Zusammenhang 3 ff, 8 ff, 132, 138, 317 f, 810 f, 899, 1059, 1206, 1254, 1348, 1377 und Gesetzgebungsaufträge 539, 955, 987, 1367, 1368 f, 1369 s. a. Staatszielbestimmungen Grundordnung 1253

1428 (Grundgesetz) grundsätzliche Bedeutung 10 f, 20 ff, 1331 ff, 1339 f, 1345, 1362 f —Anforderungen der Zukunft 23 ff, 380, 1332, 1346, 1362 ff, 1380 s. a. Zukunftsprobleme —Eignung zur Konfliktregelung 15, 17, 26, 102, 108 f, 1332, 1338, 1342, 1379 innere Annahme 16, 20, 105, 131, 132 s. a. dort Menschenbild 109 ff, 528 ff, 558 „nichterfülltes" 177, 1407 Parteienkonsens 1333 f, 1361 ff als relativ offene Verfassung 18, 105 f, 480, 556, 1056 f, 1336, 1350, 1361, 1364 ff und überpositive Rechtsordnung 108 als Verfahrensordnung 1340, 1350 Verfassungsänderungen seit 1949 12 ff, 830, 1362 verfassungsrechtliche Grundentscheidungen 17, 477 ff, 517 ff, 809, 862, 899, 1277, 1345, 1363, 1394, 1401 Voraussetzungen künftiger Funktionsfähigkeit 25 ff —Offenheit 27 —keine Überforderung durch die Politik 26, 1370 f, 1376 ff Vorbehalt einer gesamtdeutschen Verfassung 11 als Wertordnung 17 f, 21 f, 93 ff, 97, 102 ff, 108, 110, 507, 519, 527 ff, 1340, 1345, 1374 s. a. Wertentscheidungen des GG, Wertsystem wirtschaftspolitische Neutralität 416, 550, 609 ff, 615, 619, 711 ff, 777, 1337, 1351, 1361, 1364 f, 1403 Grundkonsens 15 f, 20, 132 f, 178, 185, 191 f, 205, 322 f, 480, 485 f, 505, 507, 517 f, 523 f, 529, 702 ff, 708 f, 725, 1040, 1112, 1255, 1275 f, 1286, 1288, 1321, 1326 f, 1333 ff, 1338 ff, 1346 ff, 1356 ff, 1358, 1361 ff, 1373 ff, 1377, 1378 ff, 1381 ff, 1383 ff, 1393 ff, 1396, 1399 ff, 1402 ff Grundlagenvertrag 37 f, 39 f, 41, 48, 50 f, 307 Grundrechte 77 ff als Abwehrrechte 24, 91 ff, 389, 989, 1298 f, 1336, 1351, 1408 —insbes. im Medienbereich 391 f, 422 ff Ausgestaltung durch Gesetzgeber 88 f, 93, 95, 96 ff, 105

Stichwortverzeichnis Bedeutung für nichtstaatlichen Bereich 102 ff, 105 f, 321 Begrenzungen 88 ff, 141, 394 f, 397, 403, 409, 410 f, 414, 1065, 1076 Bindung der Tarifvertragsparteien 747 f und Demokratieprinzip 387 f, 564, 568 f, 1351 ff, 1355 f Drittwirkung 103 f, 434 Einfluß auf Verfassungsverständnis 10, 95 f, 1351 als Elemente eines Staats- und Gesellschaftskonzepts 321, 389 Entstehung 80 ff, 111 ff, 391 f, 657 f Fortentwicklung durch Auslegung 14, 25, 82, 90 ff, 1264 Garanten politischer Betätigung 321 Geltungsbereich 87 f bei Georg Jellinek 81 im geschichtlichen Zusammenhang 203 und gesellschaftliche Macht 24 f, 92 f, 102 ff, 211, 321, 391, 401, 423 s. a. Machtausübung Grundrechtsgewährleistungen 83 Grundrechtskonflikte 92, 99, 537 f, 1365 f Grundrechtsmündigkeit 574 f, 1017 grundsätzliche Bedeutung 79 f, 90 ff, 104 f, 1365 insbes. im Schul- und Bildungswesen 1002, 1006 f, 1009 ff, 1028 ff Institutsgarantie 93, 557, 1177 kollektive Grundrechtsausübung 566 ff korporatives Element 375 im „Kulturstaat" 988 ff, 994 ff in Landesverfassungen 5 f, 82 f, 1367 als objektive Prinzipien 93 ff, 102 ff, 126, 389, 557, 1009, 1408 s. a. Wertentscheidungen des G G / W e r t system im öffentl. Dienst 1153, 1186 ff und Rechtsstaatsprinzip 9, 89 f, 494 Sicherung durch Organisations- und Verfahrensgestaltung 100 ff, 399, 417, 496, 662 f, 1222 f, 1341, 1351 Sicherung bei veränderten Wertvorstellungen der Mehrheit 1351 ff, 1355 soziale 98 ff, 538 f, 733, 1336, 1357, 1367 ff sozialer Bezug 385, 534, 537, 553, 620, 627, 1365f

Stichwortverzeichnis (Grundrechte) staatlicher Beitrag zur Grundrechtsverwirklichung 24 f, 92 ff, 96 ff, 100 ff, 103, 105, 110, 113, 115 ff, 140 f, 147, 201, 210 f, 217, 321, 389 f, 391 f, 395, 398, 400 f, 407, 410 f, 416 ff, 448, 537 f, 544, 573 f, 955, 968, 994 ff, 1003, 1005, 1007 f, 1009 ff, 1024, 1029, 1281, 1351, 1368, 1407f „starker Staat" 105 als Teilhaberechte 24 f, 96 f, 102, 210, 389, 516, 668 f, 781, 802 f, 989, 995 ff, 1003 f, 1006 ff, 1024, 1336, 1351, 1388, 1408 Übersicht 83 ff Vermischung von Demokratieprinzip und Grundrechtsschutz 569 Verwirklichung durch Organisation 382, 386 Verwirkung 165, 173, 1267, 1311, 1317, 1319 Vorbehalt des Möglichen 91, 97, 102, 544 Würdigung und Ausblick 104 ff und Zuständigkeitsverteilung zwischen Staat und Gesellschaft 385 Grundrechtsabsolutismus 571 Grundrechtsverweser 572 Grundwerte/-diskussion 22, 116, 129, 191, 204 f, 393 f, 447, 486 f, 507, 518 f, 527 f, 552, 1012, 1100, 1276, 1326, 1335, 1340, 1371, 1373 ff, 1382, 1393 ff, 1394 ff, 1395 ff, 1399 ff s. a. Grundgesetz als Wertordnung; Wertentscheidungen des G G / Wertsystem als Legitimationsreserve 1376 Hausbesetzungen 152 ff Haushalt 1127, 1128 s. a. Finanzverfassung Haushaltsgesetz 906, 909, 937 f Haushaltsgrundsätzegesetz 892 Haushaltsrecht 834, 892 ff, 1299 Haushaltsstrukturgesetz 798 Haushaltswesen s. Finanzverfassung Hegel 190, 228, 963 Heimarbeitsgesetz 737 Herrenchiemsee 7, 250 f, 902, 1306 Herrschaft Kontrolle 186 Legitimation 178, 181 ff, 184 f, 189 ff s. a. Machtausübung; Regierung Herrschaftsformen 175, 186 f, 188 f, 191, 193, 1383 Hess, Rudolf 1221

1429 Hobbes 209 Hochschullehrer beamtenrechtl. Sonderstatus 1184 Hochschulrahmengesetz 825, 1025 f, 1030, 1033 Hochschulurteil 1024 f, 1286, 1389 s. a. Wissenschaft Hochschulzugang 1004 f, 1052 s. a. Numerus clausus Homo sociologicus 226 Homogenitätsprinzip 819 f Humanisierung des Arbeitslebens 532, 744 v. Humboldt, W. 959 f Immissionen 689 Immunität 255 f Impermeabilität 1128 Indemnität 205 f Inelegilibität 1156 Inflation 656, 671 f Inkompatibilität 1156 Mitglieder von Rundfunkräten 368 f Innere Annahme des demokratischen Staates 105 f, 131, 144, 377, 380, 387, 815, 994 f, 1321, 1338 ff, 1345, 1348, 1349, 1357 ff, 1393 ff, 1395, 1414 f, 1416 gerichtlicher Entscheidungen 1250 der Rechtsordnung 15 f, 20, 187, 359, 505 f, 525, 586, 1115, 1116, 1349, 1407 —insbes. durch junge Generation 588 s. a. dort der Rechtsprechung 1342 Insemination 121 f Integrationsaufgabe Erziehung 1173 f von Staat und Verfassung 15 f, 20, 105 f, 519, 540, 546 f, 552, 862, 1331, 1345, 1349, 1369, 1377 Integrationsfunktion des Bundesstaatsprinzips 815 einer homogenen Sozialstruktur 245 f der Kirchen 1077, 1079, 1086 f kleiner sozialer Einheiten 1379 der Massenmedien 393 f des parlamentarischen Systems 239, 248, 290 f der Parteien 290 f von Regierung und Opposition 248 des Sozialstaatsprinzips 546 f Verarbeitung von Konfliktpotential 247 f

1430 Interessenausgleich 180 f, 183, 188, 190 f, 212, 213, 215, 221, 227, 324, 374, 376, 516, 519 f, 522, 529, 531, 534, 546, 552, 642, 728 f, 1411, 1416 Interessengruppen 247, 324, 337, 368 f, 375, 376 f, 377, 382 f, 386 ff, 1152, 1379 Interpretationsherrschaft 1286, 1326, 1339, 1380 Interzonenhandel 38, 40 Investitionsförderung von Ländern und Gemeinden 977 Investitionslenkung 380, 613, 691 s. a. Wirtschaftsordnung/-verfassung Junge Generation alternative Lebensformen 230, 1385 Einstellungswandel 587 f, 1346, 1352 f, 1385, 1386 Jugendpolitik als Element des „Kulturstaates" 977, 988 Orientierungsunsicherheit 1335, 1378 Studentenprotest 1968 229, 1379, 1390 s. a. Protestbewegung Tolerierung unrechtmäßiger Gewaltausübung 152 ff Vertrauenskrise 1378 zukünftige Renten 803 Zukunftssicherung 1350 s. a. Sozialstaatsprinzip, zeitliche Dimension Justizgrundrechte s. Gerichtsverfassung und -verfahren Kabelfernsehen 404, 442, 454 s. a. Kommunikationsfreiheit, neue Kommunikationstechnologien Kabelkommunikation 467 ff Kant 190, 198, 205, 207, 209, 212, 214, 228, 236, 961, 963 ff, 969, 996, 1384, 1392, 1414 Kapitalismus 220, 1389 f, 1392, 1416 Kapitulationserklärung 30 Kartellrecht 612 Kernenergie 84, 153, 283, 547, 830, 1135, 1223, 1380, 1412 s. a. Energieversorgung Kinder s. a. Ehe und Familie; Geburtenrückgang; Schulwesen Grundrechtsträger 572 ff Kindergeld 604, 1354 ff Kindeswohl 572 ff nichteheliche Kinder 86, 782 in nichtehelichen Lebensgemeinschaften 584, 1406

Stichwortverzeichnis soziale Benachteiligung von Familien mit Kindern 598 ff Steuerrecht 234, 603 ff, 1354 ff, 1405 f Kirchen, Religionsgemeinschaften und Staat 1059 ff, 1361 s. a. Religionsfreiheit; Toleranzprinzip Ablösungsauftrag und Kirchengutsgarantie 1084 ff behördliches Fragerecht 1071 Einfluß auf Eherecht 560 Grundsätze gegenseitiger Beziehungen 1064 Grundsatz gegenseitiger Beziehungen 1400 Kindestaufe 1067 Kirchensteuer 1071 f, 1084 f kirchliche Gerichte 1216 f kirchlicher Dienst 1150 kirchliches Selbstbestimmungsrecht („eigene Angelegenheiten") 1063, 1066, 1077, 1080 ff —insbes. Krankenhausentscheidung 1083 f Körperschaftsstatus 1077 ff Konfliktfelder —Prozeßrecht 1074 —Schulgebet 1069, 1074 —theologische Fakultäten 1069, 1075 im „Kulturstaat" 977 Landesverfassungen 1060 f religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates 142, 150, 561, 954, 1063, 1065 ff, 1071, 1072, 1078, 1080, 1086, 1308, 1376 religionsfreiheitliche Gewährleistungen 1009 ff, 1061, 1067, 1070 f, 1074 f Schulen und Anstalten 564 ff, 1009 ff, 1072, 1 0 7 4 f Staatskirche 989, 1068, 1077 ff Staatsleistungen 1062, 1075, 1084 ff Stellungnahmen zur Mitbestimmung 706 f Tarifautonomie 748 f Trennungsprinzip 1062 f Verfassungsbeschwerde gegen innerkirchlichenAkt 1081 verfassungspolitischer Ausblick 1086 f verfassungsrechtliche Fundamentalnormen 1061, 1361 Verträge 1059, 1073, 1086 f Weimarer Reichsverfassung 1061 f Klassenkampf 159 f, 185, 246, 728 Koalitionsfreiheit 86, 88, 103, 531 ff, 534 f, 632 ff, 712 ff, 733 ff, 741 ff, 1366 s. a. Tarifautonomie; Vereinigungsfreiheit Koalitionsregierung 248

Stichwortverzeichnis Koalitionsvereinbarung 299, 925, 1413 Königsteiner Abkommen 980 Körperliche Unversehrtheit 84, 89 Beeinträchtigung durch technische Großanlagen 84 Schutzpflicht des Staates 103 Kommunale Selbstverwaltung 879, 888, 891, 984 ff, 1263 f, 1295 s. a. Gemeinden Kommunikationsfreiheit 389 ff s. a. Medienfreiheit; Medienpolitik Beschränkungen 419 Bezug zu verfassungsrechtlichen Grundprinzipien 393, 395, 402, 408 f, 416, 461 f Chancengleichheit 397 ff, 406, 409, 415 —insbes. Legitimationspflicht für „Privilegien" 397 ff, 403, 409 f, 429, 433, 460 ff —insbes. im Vertriebsbereich 440 f Entfaltungsinteresse der Kommunikatoren 396, 428 f, 434, 450 f, 461 ff geschichtliche Entwicklung 391, 1295 Medieneigentümer 396 f, 413 ff, 432, 434, 449 f, 457 Medienfreiheit und Meinungsfreiheit 403, 406 ff medienpolitische „Bausteine" 421 ff Medienstruktur 408, 411, 414 ff, 443 ff neue Kommunikationstechnologien 390, 404, 441 ff, 445 f, 462, 467 ff —verfassungsrechtliche Einordnung 468 öffentliche Aufgabe der Medien 402 f, 409, 415, 462 personaler und sozialer Bezug 390 f, 394 ff —als Kriterium einer Inhalts- und Schrankenbestimmung 394 f, 399, 403, 409, 410 f, 414 Pilotprojekte 421 Programmbindungen 451 ff, 462 ff —insbes. Ausgewogenheit 462 publizistische Gewaltenteilung 430 ff Rezipientenbeteiligung 437, 461 f Rundfunkurteil vom 16.6.1981 455 ff, 466 als „Rundumfreiheit" 401 f, 422 f, 450 f Sicherung durch Abwehrrechte —Herstellung und Verbreitung 423 ff —Zensurverbot 426 ff staatliche Schaffung von Rahmenbedingungen 389, 391, 394 f, 398 f, 406 f, 408 f, 411, 416 ff, 448 ff, 451 f, 454, 458 ff, 469 —Einschätzungskompetenz des Gesetzgebers 419 f, 448

1431 —insbes. Grundrechtsverwirklichung durch Organisation und Verfahren 399, 417 Staatsfreiheit 402, 406, 422, 452 Tendenzfreiheit 450 f Treuhandprinzip 399, 429, 461 ff Zugangsrechte 411, 437 ff Konflikt s. Grundgesetz Grundsätzliche Bedeutung, Eignung zur Konfliktregelung Konjunktursteuerung 892 Konkordanzdemokratie 364, 1118, 1144, 1146 f, 1346 Konkordatsurteil 999 Konkurrentenklage 638, 693 im Beamtenrecht 1165 f Konkurrenzdemokratie 364, 1118, 1144, 1146 Konkurrenzwirtschaft 625 ff Konsensbedarf 378, 380 s. a. Grundkonsens; Innere Annahme Kontrollrat 32, 34 Konzertierte Aktion 637 Kooperativer Föderalismus 259, 417, 851, 854 ff, 987, 1000 f, 1036, 1043 f, 1045 ff, 1050 f, 1103, 1117 Kooperativer Parlamentarismus 275, 284 Korporatismus 86, 247, 377 ff, 1137 Krankenversicherung 776, 788 Kreditaufnahme 892, 894 f Kriegsdienstverweigerung 85, 88 s. a. Ersatzdienst Kriegsfolgelasten 872 KSZE-Konferenzen 80 Kulturbegriff 957 ff, 966 ff, 976, 977 ff Individualität/Pluralität 955, 962, 970 ff, 976 Kultur als Tradition und Innovation 963 ff, 969 ff, 975 f normative Elemente 962 ff Religion und Kultur 962 ff, 966 f, 968, 974, 988 Kulturbild des Grundgesetzes 988 ff Kulturelle Neutralität des Staates 954 ff, 965, 968 ff, 976, 992, 993 Kulturförderung 954, 974 f, 980, 994 ff Kulturgut 978 ff Kulturhoheit 571, 983 ff, 999 Kulturpolitik 955, 977 ff, 985, 992 Kulturstaat 393, 953 ff, 977 ff, 988 ff, 1024 Aufgabenteilung im Bundesstaat 978 ff, 983 ff, 987 Begriff 956 ff, 966 ff, 969 ff und Demokratieprinzip 957, 962

1432 (Kulturstaat) Erwerbskultur 973 ff, 996 und Gemeinden 984 ff geschichtliche Entwicklung 956 ff, 966 ff kulturelle Grundrechte 988 ff, 994 ff, 1388 und Recht 966 „Solidarität des Staates" 969, 975 Vereinsleben 985 Weltkultur 973 ff Kultusminister (-Konferenz) 980, 1000 f, 1028, 1031, 1033, 1036, 1039 f, 1052 Kunst/Kunstfreiheit 85, 954 f, 968, 973, 977, 988 f, 990 ff Landesliste S.Wahlrecht Landesparlamente 258 ff, 856 und Bundesrat 924, 949 und Exekutivkoordinierung 1031, 1035, 1042 f, 1045 f Funktionseinbuße 856 f, 905, 1043, 1112, 1118, 1146, 1346, 1358 und Gemeinschaftsaufgaben 876, 1042 und Wesentlichkeitstheorie 1023 Zuständigkeit im Schulwesen 1000 Landesplanung 1143 Landesrecht und Bundesrecht 823 ff Landesregierungen 854 ff, 1118 ff, 1134 s. a. Exekutive; kooperativer Föderalismus; Regierung Einfluß über den Bundesrat 905, 923 f, 1048 Unterrichtung der Landesparlamente in Bundesratsangelegenheiten 924 Landesverfassungen 819, 823 f, 1367 Entstehung 5 f Erziehungsziele 1303 und frühere Verfassungen 8 grundgesetzliche Vorgaben 818 plebiszitäre Elemente 1409 ff Recht auf Bildung 1002 ff Leben 84, 89, 103 s. a. Freiheit; Grundrechte Schutzpflichten 103, 211, 574, 1342, 1355, 1386, 1406, 1408, 1412 Lebensgefühl, allgemeines 524 ff, 1336, 1343, 1350, 1353 f, 1377 ff Orientierungsunsicherheit 1383, 1385 f, 1401 s.a. Junge Generation; Wertentscheidungen des GG Sicherheitsstreben 526 Lebensrisiken

Stichwortverzeichnis Funktion des Sozialrechts 768 Legitimation Bedeutung der Grundwertediskussion 1376 Maßstäbe „legitimer" Ordnung 16 f s. a. Innere Annahme; Staatliche Aufgaben Wirkung plebiszitärer Elemente 1370 Legitimationsbedarf staatlicher Gewalt 569, 1409 ff, 1411 ff, 1413 f Legitimatorische Funktion der Parteien 326 f Legitimität 252, 377, 380, 387, 1374, 1414 Maßstäbe „legitimer Ordnung" 1344, 1358 Leistungsbegriff 545, 1376 Liberalismus 376, 516, 957, 1368, 1388, 1390 f, 1395 s. a. Demokratie, liberale Lindauer Abkommen 851 Locke, John 194 ff Machtausübung s. a. Herrschaft als Anlaß staatl. Regelung zu 24, 211, 221, 321, 407, 422 durch Massenmedien 406 f, 447, 450 Machtprinzip 129 Marktwirtschaft s. Wirtschaftsordnung Marx 228 ff, 971, 1385 Marxismus 158 ff Massengesellschaft und Menschenwürde 114 f, 118, 119 und Vereinsamung 1353 f Massenmedien 389 ff, 977, 988 f s. a. Medienpolitik; Medienstruktur Funktionen 422 —insbes. Integrationsfunktion 393 f als Machtinstrument 406 f, 413, 436, 447 als „öffentliche Aufgabe" 394, 402 f, 409, 415 Zugangsrechte 437 ff Medienfreiheit s. a. Kommunikationsfreiheit; Medienstruktur; Medienpolitik im Bundesstaat 416 f Element der Gewaltenteilung 323 Grundrechtsträger 407 f, 414, 433 f und Meinungsfreiheit 406 ff, 413 ff —aliud gegenüber Meinungsfreiheit 407 f, 413 f —Meinungsfreiheit als Basisgrundrecht 412 Sicherung durch Verfahrensregelungen 101 Medienpolitik 389 ff, 421 ff, 827, 995 s. a. Kommunikationsfreiheit; Werbung

Stichwortverzeichnis (Medienpolitik) Binnenbeziehungen der Grundrechtsträger (insbes. redaktionelle Autonomie) 432 ff, 451 f, 463 f duale Rundfunkverfassung 465 f Gesetzgebungskompetenzen 416 f Gewaltenteilung zwischen Presse und Rundfunk 430 f als Grundrechtspolitik 390, 410 ff Integrationsmodell 458 ff —Datenschutz 465 —Finanzierungsprobleme 459 ff —pluralistische Binnenorganisation 463 f —Programmbindungen 462 ff —Transparenz 465 —Treuhandprinzip 461 f, 464 Markt-/Konkurrenzmodell 443 ff —Datenschutz 453 f —Finanzierungsprobleme („Massengeschmack") 446 ff —freiwillige Selbstkontrolle 453 —insbes. im Rundfunk 454 ff —ökonomischer Wettbewerb und publizistische Leistung 443 ff —Programmbindungen 451 ff —Tendenzfreiheit 450 f —Transparenz 453 f —Vielfaltssicherung 449 f —Wettbewerbssicherung 448 f Medienmißbrauch 1371 f politische Parteien 366 ff, 434, 458 ff, 463 Strukturmodelle 428 ff, 443 ff, 458 ff —Integrationsmodell 347 f, 399, 428 f, 437, 439 f, 458 ff —Markt-/Konkurrenzmodell 428, 436, 443 ff —Misch- u. Sondermodelle 429 f, 437 Zugangsrechte/Offnungspflichten 436 ff, 1332 —Abbau von Versorgungsdefiziten 441 —Ausgewogenheit 367, 462 —Fernmeldemonopol 441 —Kontrollorgane 457, 463 f —Medieninhalt 436 ff —Reformbedürftigkeit der geltenden Rundfunkgesetze 464 —Staatsvertrag betr. Rundfunkgebühren 461 —Vertrieb und Netz 440 ff zukünftige Anforderungen angesichts neuer Technologien 467 f, 1384 Medizinstudium 1005

1433 Meinungs- und Informationsfreiheit 85, 89, 112, 389 f, 396, 403 f, 418 f, 995, 1307 f, 1326, 1332, 1338, 1388 s. a. Kommunikationsfreiheit; Medienfreiheit und Medienfreiheit 406 ff Mensch „neuer Mensch" 158, 160 f Menschenbild der Parteien 1399 Menschenbild des Grundgesetzes 109 ff, 196, 528 ff, 779 f im Verfahrensrecht 1219, 1224 ff, 1230 f Menschenbild des Sozialgesetzgebers 795 ff Menschenrechte 79 f, 87, 93 f, 194 ff, 201, 223, 236, 973, 1407 s. a. Europäische Menschenrechtskonvention Bekenntnis im Grundgesetz 8, 16, 82, 106, 107, 1374 bürgerliche und politische Rechte 141 ff, 144 f, 163 Vereinte Nationen 163 wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 144 f, 163 Menschenwürde 107 ff, 129 f, 142, 184, 194 ff, 219, 223, 225 f, 230 ff, 236, 962, 968, 973, 1341, 1344, 1388, 1402, 1407 allg. Technisierung der Staatstätigkeit 124 ff und allgemeines Persönlichkeitsrecht 112, 120 Art. 1 Abs. 1 G G als Rechtsnorm 110 Auswirkung auf andere Verfassungsnormen 109 f, 111 ff Begriff und Inhalt 113 ff Datenverarbeitung 122 ff Existenzminimum 115, 514 Gefährdungen in der Massengesellschaft 114 f Gefahr der „Verplanung" 126 f Gen-Technologie 1371 f geschichtliche Bezüge 107 ff als Grundrecht 111 ff Insemination 121 f, 1371 f Medienmißbrauch 1371 f und Mitbestimmung 718 f oberstes Prinzip 8, 17, 82, 84, 94, 108 f, 110 f, 196 als Orientierungspunkt des materialen Rechtsstaatsbegriffs 481 Privat- und Intimbereich 118 ff s. a. Privatsphäre Rechtsträger 111, 114 Schutzpflicht des Staates 110, 113, 115 ff

1434 (Menschenwürde) Strafrecht und Strafverfahren 116 f, 120, 125 f Todesstrafe 1231 Menschheit Mitverantwortung 236 Minderheitenschutz 114, 232 ff, 359, 463, 1288, 1339, 1351, 1370, 1379, 1388 Minderheitsherrschaft 175 Minister besonderes Berufsrecht 1151 Ministeranklage 241, 258, 1256 Ministerpräsidentenkonferenz 259, 284, 855, 1038, 1040, 1338 Ministerverantwortlichkeit Bedeutung der Personalhoheit 1166, 1179 f, 1190 f Mischfinanzierung 871 ff Mischverwaltung 818, 847 f Mißtrauensvotum 9, 13, 240, 241, 258, 271, 271 ff, 274 ff Mitbestimmung 534, 633 f, 694, 697 ff, 1390 s. a. Unternehmensverfassung; Wirtschaftsordnung Betriebsverfassungsgesetz 699 Biedenkopf-Kommission 706 f Funktionsfähigkeit des Unternehmens 726 —Patt-Situation 727 ff Grundpositionen der politischen Parteien 704 ff, 708 f, 725, 1337 innere Rechtfertigung 716 ff —Eigenverantwortlichkeit der Unternehmensleitung 722 f —insbes. Legitimationsfunktion 718 ff —Integrationsfunktion 720 ff —Unternehmensgröße 723 ff insbesondere: Parität 709 f, 711, 726 ff Mitbestimmungsergänzungsgesetz (1956) 700 Mitbestimmungsgesetz (1976) 701 f Montanmitbestimmung 699 ff im öffentl. Dienst 1166 f, 1190 f politischer Grundkonsens 702 ff, 708 f, 725, 1376 Positionen der Sozialpartner 709 ff Weiterentwicklung 634 f, 713 ff, 715, 1367 im Wertsystem des GG 721 f, 728 ff, 1367 —europäische Aufgabe 730 f —freiheitswahrende Funktion 730 —friedenstiftende Funktion 728 Mitbestimmungsurteil 609, 620, 634, 640 f, 710 ff, 744 ff, 754, 1287, 1332, 1365, 1371

Stichwortverzeichnis Mißtrauensvotum 274 ff Monopole (öffentliche) 623 ff Montanmitbestimmung 699 ff, 727 Montesquieu 176, 179, 182, 196 ff, 224 Moral/Moralität 221, 231 f, 965, 1386, 1387, 1415 Moskauer Vertrag 42, 48 Mündiger Bürger 23, 126, 131, 143 f, 154, 198, 232, 246, 401, 447, 455, 463, 535 f, 538, 540, 546, 1249, 1295, 1358 Nachrichtendienste 1313 ff, 1322 ff Nächstenliebe 118, 199 f, 225, 229 ff, 233 f, 545 Nation 38, 1348, 1377 nationale Repräsentanz 980 ff, 996 Naturrecht 16, 197, 201, 203, 1401 Naturschutz 977 Nichteheliche Lebensgemeinschaft 574 ff, 1352 f, 1406 insbes. Vermögensauseinandersetzung 582 Kindeswohl 583 Rechtsprobleme 578 f Sozialrecht 582 f Ursachen 585 ff Nichtidentifikationsgrundsatz 151 Normenflut 261, 268, 492, 505 ff, 1001, 1044, 1113, 1115 f, 1117, 1289, 1378 f Normenkontrolle 1256, 1257 f, 1259 f, 1265 ff abstrakte 1265, 1289, 1370 Haushaltsausgleich 894 konkrete 488 ff, 1201, 1244, 1266 Notar 1151, 1242 Notstand 12, 14, 90, 501 f, 504, 896, 919, 1296, 1316, 1342, 1361, 1410 Notverordnungen 1257 Nulltarif 544 Numerus-clausus-Urteil 97, 99, 102, 538, 1002 ff, 1028 f, 1033, 1038, 1041 s. a. Hochschulzugang Landeskinderklausel 1029, 1032 Oberbundesanwalt 1241 Oberstufenreform 1118 Obiter dictum 1232 Öffentlicher Dienst 1149 ff s. a. Berufsbeamtentum Alimentationsprinzip 770, 1158, 1181 —Anpassung an allg. Lebensbedingungen 1184 f, 1186 f —Beihilfe 1177, 1197 Amt 1161, 1188 —Ämter außerhalb des öffentl. Dienstes 1151 f

Stichwortverzeichnis (Öffentlicher Dienst) —Amtsbereich und Grundrechte 1188 —Amtsbezeichnung 1186 —Amtseid 1300 —Amtsethos 150 f, 153, 155, 1152 f, 1159, 1173 f, 1179, 1181 —Amtsidee 1152 f —Amtsrecht 1150 f —Legitimation 1153 f —neue Ämter 1197 f Amtsführung 1158 Amtspflichtsverletzung 1156 Arbeitnehmer 1193 ff, 1364 —Dienstverhältnis 1196 —Probleme des Streikrechts 1194 ff —Probleme der Tarifautonomie 1194 ff Ausgrenzung von Gesetzgebung und Regierung 1151 außerdienstl. Verhalten 1190 Bedeutung der Weisungshierarchie 1154 als Beharrungselement 1156 und Berufsfreiheit 623, 1183, 1186 f, 1189 Besoldung und Versorgung 1186, 1197 f und Demokratieprinzip 1153 ff, 1159 f Dienstrecht 1150 f, 1152, 1158, 1161 f, 1180 f, 1189 f —Dienstrechtsreform 1174 f Effizienz 1175, 1180 Eigenverantwortung 1154 Einheit des Beamtentums 1181 Einschränkung der Wählbarkeit 1156 f Fürsorgepflicht 1181 Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG 1382, 1170 ff —als Schutznorm 1170 f —Vorbehaltsbereiche 1171 ff und gesellschaftlicher Wandel 1184 f Gesetzgeber als Adressat der Strukturgarantie 1185 f Gesetzgeber und Tarifbereich 1195 Gesetzgebungskompetenz 1197 f und Gewaltenteilungsprinzip 1155 f Gleichheit aller Deutschen 1163 Grundprinzipien 1159 Grundrechtsgeltung 1153, 1158, 1187 ff historische Entwicklung 1159 f Hochschullehrer 1184 Inhalt und Umfang 1149 f Laufbahnprinzip/-recht 1181, 1197 f Lebenszeitprinzip 1181 Legitimationskette 1155, 1166 f Leistungsauftrag 1156 Loyalität 362, 1154, 1155 f, 1164, 1196 Nebentätigkeit 1183, 1187, 1189 f

1435 als Objekt konjunktureller und beschäftigungspolitischer Ziele 1161 f, 1183 —insbes. Arbeitsmarktabgabe 1187 Personalvertretungsrecht 1180 f, 1190 f, 1197 f und polit. Parteien 362, 1154 f, 1159, 1164 f, 1183 politische Beamte 362, 1169 f, 1182 f Reformansätze 1175 Remonstration 1188 und republikanisches Prinzip 1152 f Richterstatus 1191 f Soldatenstatus 1192 f Sonderstatus und allg. Gleichheitssatz 1186 f Spitzenpositionen auf Zeit 1183 Spitzenverbände 1188 f Statusgruppen 1150 Streikverbot 1156, 1170 f, 1173, 1177 f, 1185 ff Strukturgarantie des Art. 33 Abs. 5 GG 1176 ff, 1233 f subjektive Rechte 1186, 1188 f Tarifvertragsrecht 1151 f, 1194 Teilzeitbeamte 1181, 1183 f Uberversorgung 801 Verfassungstreue 165 ff, 339, 1162 f, 1169, 1174, 1180, 1184, 1185, 1297, 1300, 1301, 1305, 1312, 1313, 1318, 1326 f, 1337 f, 1369, 1381 f —Differenzierung 1181 f —insbes. Arbeitnehmer 1196 —politische Betätigung 1190 als Wirksamkeitsbedingung der Verfassung 150, 1152, 1158 f Zugang —Auswahlverfahren 1167 ff —Eignungskriterien 1162 f, 1164 ff —Individualrecht 1165 f —organisatorische Voraussetzungen 1161 —Personalhoheit des Ressortministers 1166 f —durch politische Wahl 1169 f —Zielsetzung des Art. 33 Abs. 2 GG 1160 sog. Zweispurigkeit 1174 f Öffentliches Recht Herausbildung im 19. Jahrhundert 1128 Öffentlichkeitsprinzip 1231 f, 1295, 1308 Opportunitätsprinzip 154 Opposition Anrufung des Bundesverfassungsgerichts 1334, 1362 f, 1364 Element funktioneller Gewaltenteilung 244 f, 276 f, 281 ff, 289 f Fundamentalopposition 1379

1436 (Opposition) Integrationsaufgabe 248, 251 Mitarbeit an der Gesetzgebung 1108 „Oppositionsbonus" 289 f Oppositionsführer 248, 289 f und Parlamentarismuskritik 281 f, 1043, 1050 und Planung 1144 f, 1146 Rechtsstellung 277, 288, 1381 und Regierung 277 f, 815, 1413 Respektierung von Mehrheitsentscheidungen 246 gegenüber staatlicher Planung 126 f Organisation s. Verfahrensregelungen Organisationsgewalt 837 Organleihe 848 f Organstreitigkeiten 1263 f Orwell („1984") 127 Parakonstitutionelle Entscheidungsträger 380, 382 Parlamentarischer Rat 7, 251, 813, 903, 1306 Parlamentarisches System 239 ff, 1097 ff s. a. Abgeordneter; Bundestag; Gesetzgebung Abgrenzung zu anderen Systemen 242 —insbes. Rätesystem 242, 281 f aktuelle Probleme 283 ff, 1358 f, 1381 f, 1412 ff —Funktionsmängel des Parlamentsbetriebs 285 f —Informationsdefizit 283 —Planungsdefizit 13, 283 Ausgestaltung im GG 251 ff Begriff und Formen 240, 245 und Demokratieprinzip 252 f Effizienz 242 Einfluß „parakonstitutioneller" Entscheidungsträger 380 Ethos der Repräsentation 150 f und Exekutivkooperation/Exekutivföderalismus 1041 ff, 1045 ff, 1049 ff, 1055 Fraktionsdisziplin 254, 257, 353 f Fundamentalopposition 1379 Gefährdung der Legitimationsbasis 1047, 1049, 1057, 1409 ff, 1412 ff geschichtliche Entwicklung 248 ff institutionelle Merkmale 243 ff Integrationswirkung 239, 248, 290 kooperativer Parlamentarismus 275, 284 Kritik 279 ff, 1041 ff, 1046 f, 1049, 1055, 1057, 1358 f, 1379, 1409 ff, 1412 ff und Landesparlamente 258 ff

Stichwortverzeichnis und Parteien 241 f, 246 f, 255 f, 279 f, 290 f, 317 ff, 323 ff, 331 und plebiszitäre Elemente 242, 252, 286 s. a. dort Reformansätze 287, 1141 ff und Regierung 241 f, 244 f, 251 f, 269 ff, 284, 357, 361, 1412 ff und Repräsentationsprinzip 252 f s. a. dort Selbstauflösungsrecht des Parlaments 241, 244, 272f soziokulturelle Bindungen 245 ff Theorie und Kritik 278 ff Verfassungsdebatten 1333 ff verfassungsrechtliche Kernelemente 131, 251 f Willensbildung 242 Zukunftsprobleme 290 ff, 1141 ff, 1358 f, 1409 ff s. a. dort —„Regierbarkeit" 291 f —Rolle der Parteien 290 —Zukunftseignung 292 Parlamentsverdrossenheit 255, 264, 275, 279 ff, 286 f Parteiaustritt und Bundestagsmandat 313 Parteien 317 ff s. a. Fraktionen Amterpatronage 1164 f Allparteienkoalition im sog. Exekutivföderalismus 364 f, 1047, 1048, 1050 Aufnahme- und Ausschlußvoraussetzungen 342 f Besetzung von Richterstellen 363 f, 1135 f und Demokratieprinzip 319 ff, 330 f, 334 Einfluß im Medienbereich 347 f, 365 ff, 463 f Entwicklung 317 f Entwicklungstendenzen 1346 f Finanzierung 326, 348 ff Funktion 317, 319, 323 ff, 330 f, 334 f, 370, 375, 384, 386 ff —partizipatorische und legitimatorische Elemente 326, 334 f Grüne 345, 1346, 1363 Grundpositionen zur Mitbestimmung 704 ff, 708 f, 725 f als Grundrechtsträger 335 und Grundwertediskussion 1335, 1373 ff, 1393 ff, 1399 ff s. a. dort imperatives Mandat 352 ff, 1416 innerparteiliche Demokratie 339 ff, 355, 382, 1308

Stichwortverzeichnis (Parteien) Innovationsbedarf 345, 372, 1346 Integration in staatliches System 352 ff nach Leibholz 326, 331, 371 Mehrparteiensystem 375 Mitgliederzahl im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung 356 Nachwuchsorganisationen 292 f und öffentlicher Dienst 362 f, 1155 im parlamentarischen System 241, 246, 253 ff, 279 f, 290 f, 1412, 1415 Parteiendemokratie 1155, 1395, 1412 Parteiengleichheit 343 ff —Fünf-Prozent-Klausel 344 ff —bei öffentl. Leistungen 345 ff „Parteienkultur" 247 Parteienverdrossenheit 290, 371 Parteigerichtsbarkeit 1216 in der Rechtsprechung des BVerfG 326, 333 ff, 346 ff, 349, 351 ff, 371 Repräsentationsmonopol 371 Rückkopplungseffekt 356 Sensibilität für neue Fragestellungen 345, 1374 ff, 1401 Staatsfreiheit 335 ff, 343 f —Betätigungsfreiheit 337 f —Gründungsfreiheit 336 f —Programmfreiheit 336 f und Staatsrechtslehre 366 ff im System der Gewaltenteilung 360 ff und Verbände 375, 378, 387 Verfassungskonsens 1333 ff, 1361 ff, 1399 f und Verfassungsrecht allg. 317 ff Wahlwerbesendungen 346 ff, 437 f, 1318 Wahlwerbung der Regierung 357 ff zentrale Aufgabe der Parteiendemc j-atie 184 zwischen Staat und Gesellschaft 317, 327 ff, 370, 968 Parteiengesetz Übertragbarkeit auf Verbände 387 Parteienrecht aktuelle Streitfragen 328 f Parteiverbot 10, 165, 167, 173, 338 f, 1267, 1304, 1307, 1311, 1317 f, 1319, 1326 Partizipation 326 f, 341, 355, 383 f, 386, 495, 567 f, 571, 976, 995, 1141, 1143, 1144 f, 1387 f, 1411, 1416 s. a. Mündiger Bürger Paulskirchenverfassung s. Frankfurter Reichsverfassung Persönlichkeit s. Entfaltung der Persönlichkeit

1437 Persönlichkeitsrecht 86, 89, 112, 120 Personalkosten 869 Personalpolitik 362 f, 1126, 1134 Personalvertretungsgesetz 737 Petitionsrecht 87 Pflichten staatsbürgerliche 1345, 1357 Steuerpflicht 651 f Wehrpflicht 14, 1295 s. a. Ersatzdienst Plangewährleistung 681 f, 684 f s. a. Eigentum; Grundeigentum Planification 613 Planung Berufslenkung 128, 1003 f, 1005, 1014 im Bildungswesen 128 Bindung über Wahlperiode hinaus 550, 794 Eigenbereich der Regierung 284 Früherkennung 292 f Grenzen/Gefahren 93, 124 ff, 551 Haushaltsplan 893 ff insbes. im Bildungswesen 1021, 1034, 1036 insbes. im Wirtschaftsbereich 13, 377, 613 ff, 636 f, 691, 1404 Parlamentsbeteiligung 13, 283, 1041 f, 1143, 1144 f, 1146 Partizipation 292, 1143, 1144 f s. a. dort Regierungsplanung als Prozeß 1143 staatliche Planung allgemein 13, 92 f, 126 f, 377, 546 ff, 549 ff, 1121 ff, 1126 ff, 1137 ff, 1142 ff, 1144 f, 1146 f, 1195 ff, 1388 s. a. Staatliche Aufgaben; Zukunftsprobleme Piaton 956, 1293, 1303, 1384 Plebiszitäre Elemente 9, 242, 252, 286, 288, 322 f, 1356, 1369 f, 1409 ff, 1416 Pluralismus 15, 162, 375, 376, 378, 397, 437, 462, 464, 566, 1007, 1066, 1068, 1087, 1308, 1326 f, 1338, 1388, 1400 Politicai question-Doktrin s. Bundesverfassungsgericht, Selbstbeschränkung; Supreme Court Politik des „muddling through" 1138 ff, 1143 f Überforderung der Verfassung 25 f und Wirtschaft 549 und Wissenschaft 549 Politiksegmentierung 1114 Politikverflechtung 855, 1001, 1042, 1045 ff, 1055 ff, 1117, 1119, 1127 Politische Führung 16, 1135, 1138, 1142, 1146, 1339

1438 (Politische Führung) im Gesetzgebungsprozeß 1104, 1105, 1146 f Politische Grundentscheidungen und rechtliche Sicherung 490 Politische Kultur 22, 80, 187, 240, 245 f, 862, 955, 995, 1094, 1130, 1279, 1377 Politisches System 23, 183, 185, 328 f, 330, 365, 373, 379 f, 1057, 1347, 1393, 1396, 1402, 1411, 1415 Polizei- und Ordnungsrecht 154 Polizeibeamte Einsatz gegen unrechtmäßige Gewaltausübung 152 f hinreichende Ausstattung 155 Positivismus 16, 967 Potsdamer Abkommen 31, 34, 37, 45 Präjudiz 149 Präsidentenanklage 1316 f Pressefreiheit s. Kommunikationsfreiheit; Medienpolitik Presserechtsrahmengesetz 429, 433 Privatsphäre 86, 108, 118 ff, 122 ff, 125, 225 Privilegien als Verletzung des allg. Freiheitsanspruchs 152 ff rollenorientierte Rechtsprechung 155 ff staatl. Duldung von unrechtmäßigem Widerstand 152 f Verzicht auf Gesetzesvollzug 153 ff Privilegierungen 187, 213, 221 Produktionsfaktoren 222, 627, 637, 705 ff, 721, 726, 1366 f, 1390, 1391, 1404 Prognose 495, 503 f, 613, 639 ff, 642, 710 f, 714, 1350, 1361 f Protestbewegung 22 f, 115, 228 f, 337 f, 345 s. a. Junge Generation Prozeß s.Gerichtsverfassung und -verfahren; Rechtsprechung Publizität 1414 Pufendorf 961 ff, 966 Rätesystem 174, 280 f Rahmengesetzgebung 833, 1053, 1103 Rahmenplanung 857 Ratifikationsgesetze (im Bundesrat) 914 Rechnungshof 895 Recht und Politik 490, 500, 1243 ff, 1247 ff, 1278 f, 1334 s. a. Verfassungsgerichtsbarkeit

Stichwortverzeichnis Rechtliches Gehör 1224 ff s. a. Gerichtsverfassung und -verfahren; Grundrechte Rechtmäßigkeit und Demokratieprinzip 177 f, 180, 194, 206 s. a. Rechtsstaatsprinzip Rechtsanwalt 1242 Rechtsgesinnung/-bewußtsein 525, 1115, 1117 s. a. Innere Annahme der Rechtsordnung Parteilichkeit des Rechts 129, 142 Relativität des Rechts 556 Rechtsgewährung als knappes Gut 505 ff, 508, 1248 ff Rechtskultur 131, 966, 1096, 1100, 1111, 1123, 1127 ff, 1132, 1135 Rechtsordnung Befriedungsfunktion 19 s. a. Innere Annahme Versagen im Eherecht 585 ff Rechtspflege 1205 f, 1232 ff s. a. Rechtsprechung; Richter Rechtspfleger 1240 f Rechtsprechung 1199 s. a. Gerichtsorganisation; Gerichtsverfassung und -verfahren; Richter Abgrenzung zu anderen gerichtlichen Aufgaben 1205 f aktuelle Probleme 1248 ff durch außerstaatliche Gerichte 1215 ff Begriff und Eigenart 1202 ff Begriff des „Richters" nach Art. 92 GG 1205 Beitrag zur Normenflut 506 f Belastung durch Prozessflut 507, 1258 ff im Bundesstaat 849 ff, 1202, 1207 f und Gerechtigkeit 155, 1199 Gewaltentrennung 1200 ff durch internationale und supranationale Gerichte 1217 f Klassenjustiz 156 Kostenvorschriften 1220, 1227 Präjudizienvermutung 149 Rechtsschutzgarantie 1200, 1219 ff rollenorientierte 155 ff als staatliche Grundfunktion 1199 ff, 1201 f, 1243 ff ständische Gerichtsbarkeit 1201 Streitschlichtung 159 verfassungsrechtliche Grundlagen 9, 13, 1199 ff, 1218 ff Rechtsschutzgarantie 494 f, 1219 ff „G-10-Gesetz" 1220 Gefährdung durch Verfahrensdauer 508 Gnadenentscheidung 1220

Stichwortverzeichnis (Rechtsschutzgarantie) und politische Grundentscheidungen 490 Regierungsakte 1219 f Rechtssoziologie 1250 f Rechtsstaat 477 ff Herausforderung durch Terrorismus 501 ff und ungeschriebenes Staatsnotrecht 504 f Rechtsstaatsprinzip 477 ff allg. Grundsätze für Auslegung und Anwendung 517 ff, 1245 ff, 1283 Ausnahmezustand 1296 Bindung an Gesetz und Recht 487 ff, 1243 ff und Demokratieprinzip 485 f, 953, 956 f und „effizienter Staat" 502 ff „faires Verfahren" 1225 ff formale Merkmale 477 ff Gefährdung im Gesetzgebungsprozeß 1115 f Gerechtigkeit 480 ff, 487 f, 497, 1244 s. a. dort Gesetzesvorbehalt 490 f, 1021 f, 1246 s. a. dort Gesetzesvorrang 490 f Gewaltenteilung 492 s. a. dort und gewandeltes Grundrechtsverständnis 23 und Gleichheitssatz 483 insbes. Grundrechtsschutz 9, 90, 103, 494 ff „introvertierter" Rechtsstaat 105 materieller Rechtsstaatsbegriff 479 ff, 494 ff, 500, 1199, 1225 f und Menschenwürde 109 f, 481 und Normenflut 507 s. a. dort und Prozeßflut 507 f, 1248 ff Rechtsgewährung als knappes Gut 505 ff, 508, 1248 ff Rechtspflege als Kernstück 1199 ff Rechtsprinzip gegen Machtprinzip 129 Rechtsschutzgarantie 494 f, 508, 1200, 1220 ff Rechtssicherheit 482 ff Rückwirkung 497 rule of law 137 und sozialer Wandel 500 ff, 1246 s. a. dort Steuern 645 f Verfahrensgrundrechte 494 ff s. a. Gerichtsverfassung und -verfahren; Grundrechte in der Verfassungsrechtsprechung 481 ff Verhältnismäßigkeit 482, 498 s. a. dort

1439 Vertrauensschutz 483 f, 496 ff Vorrang der Verfassung 485, 487 Rechtsverordnungen Zustimmung des Bundesrates 916 f Rechtswissenschaft 1384, 1415 s. a. Staatsrechtslehre Regierbarkeit 291 f, 816, 862, 1140, 1347 Regierung 1093 ff, 1123 ff s. a. Bundesregierung; Landesregierungen; Planung; Staatliche Aufgaben (Bund)-Länder-Kooperation 1041 ff Funktionseinbuße durch Konkordanzdemokratie 364 Legitimation 190 Öffentlichkeitsarbeit 277 f, 357 ff und Opposition 277 f und Parlament 275, 284 f, 856, 1041 ff, 1119, 1120, 1145 ff, 1412 ff —Berichtspflichten 1145 im parlamentarischen System 13, 240 ff, 243 ff, 247 f, 251 ff, 269 ff, 284, 357, 361 Regierungswechsel 11, 361 und Verwaltung 361 ff, 1132, 1133, 1133 ff, 1134, 1140, 1142 —insbes. Planung 1142 ff Vorgaben des GG 1138 ff Reichsgericht 1207, 1257 Reichskammergericht 1206 f, 1255 Reichssozialgesetze 772 ff Reichsverfassung 1871 811 f, 901, 1256 Religionsfreiheit s. a. Kirchen/Religionsgemeinschaften und Staat Abwehrrecht 1064 f, 1067, 1071 Grundrecht und sog. Kirchenartikel 1064 immanente Schranken 1076 individuelles/korporatives Recht 1064, 1070 Inhalt 1064 ff institutionelle Garantie 1076 und Menschenwürde 1070 negative/positive 1064 f, 1072 f objektive Wertentscheidung 1065, 1076, 1077, 1083 Schulbereich 101 f, 1009 ff, 1069, 1072, 1074 f Teilhaberecht/Gewährleistungen 1061, 1067, 1070 f, 1075 f Religionsgemeinschaften s. Kirchen/Religionsgemeinschaften und Staat Rentenanwartschaften und -ansprüche 669, 782 f, 804 Rentenversicherung 776, 788 f, 795

1440 (Rentenversicherung) Rentenanpassung 801 f Repräsentationsprinzip 150, 189, 192 f, 194, 252 ff, 320, 331, 333, 353, 1356, 1395, 1409, 1411, 1413 f, 1416 s. a. Demokratieprinzip; Parlamentarisches System Republik 17, 176, 190 Republikanisches Prinzip 1152 res publica 176, 956, 1152 „Retortenbaby" 121 f, 1371 Rettungsdienst 211 Richter nach Art. 92 GG 1205 Bindung an Gesetz und Recht 149, 157, 488 ff, 1243 ff gesetzlicher 1223 ff Gewissenskonflikt 1244 f „politischer Richter" 155 ff, 1247 ff Stellung nach dem GG 849 f, 1191 f, 1232 ff —Dienstaufsicht 1237 f —ehrenamtlicher 1238 ff —Inkompatibilitäten 1236 —Neutralität 1235 f —Personalpolitik 363, 1234, 1235 f, 1238 —Richteramtsbezeichnung 1191, 1234 —Richteranklage 1235, 1320 —Richterverhältnis 1232 ff —Richterwahlausschuß 1234 —Unabhängigkeit 156 f, 1191 f, 1232 ff, 1235 ff —Unparteilichkeit 1236 —Verantwortlichkeit 150 ff, 1234 f —Zugehörigkeit zum öffentl. Dienst 1150 Verfassungstreue 1319 Richterrecht 489, 1233 f, 1243 ff, 1245 ff Präjudiz 149 Richterwahl 363 f, 1273 f v. Rotteck, Carl 1294 f Rousseau 175 f, 178 ff, 188 ff, 194, 212, 213, 221, 222, 223, 224, 228, 232, 236, 965, 967, 996, 1389, 1393, 1411 Rundfunk 389 ff s. a. Kommunikationsfreiheit; Massenmedien; Medienfreiheit; Medienpolitik Staatsfreiheit 366 ff, 402, 406, 422, 452, 458 Rundfunkgebühren (Staatsvertrag) 461 Rundfunkräte 368 ff, 464 s. a. Parteien, Einfluß im Medienbereich Sartre 229 Satellitenfunk 442, 467

Stichwortverzeichnis Schiedsgerichte 1215 f Schiffahrtsgerichte 1212 Schulwesen 999 ff, 1009 ff s. a. Bildungswesen; Erziehung Anerkennung von Schul- und Bildungsabschlüssen 1002, 1031, 1052 f, 1055, 1057 Eignungsfeststellung 566, 572, 1014 f Elternrechte 563 ff, 1007, 1010 ff, 1389 —Konkordanz 568 Gesamtschule 1016 ff Gesetzesvorbehalt 506, 1000, 1021 ff, 1045, 1053 Grundrechtsgeltung 564 ff, 988, 1002 ff, 1004 ff, 1009 ff, 1017 Länderzuständigkeit 87, 1000 f Normenflut 507, 1045 Numerus clausus und Schulklima 1004 f Privatschulen 1012 Schulformangebot 1014 ff Schulpflicht 146, 1016, 1173 f Sexualkunde 1021 ff staatliche Schule 1173 f Schutz der Verfassung 163 ff, 191, 1293 ff, 1338, 1343, 1369 Abwehrstrategien 1312 ff Brief- und Fernmeldegeheimnis 1321 ff und Datenschutz 1325 ff Gegenströmungen 163 f geschichtlicher Rückblick 1293 ff, 1295 ff und Grundrechtssicherung 1276, 1326, 1357 Institute 1311 ff Kontrolle der Nachrichtendienste 1322 ff politisches Strafrecht 1320 f Präventivmaßnahmen 1317 ff und Rechtsstaat 1296 Schutzgüter 1303 ff, 1308 f —insbes. Bestand und Sicherheit des Bundes oder eines Landes 1309 ff —insbes. freiheitliche demokratische Grundordnung 9 f, 1305 ff sonstige Sicherungen 1300 systematische Gliederung 1295 ff verfassungssichernde Normen 9 f, 89 f, 165, 1297 Voraussetzung für Freiheit und Gleichheit 164 Widerstandsrecht 1321 Schwangerschaftsunterbrechung 800 f, 1286, 1342 s. a. Leben/Schutzpflichten Selbstbeschränkung der Gerichte s. Bundesverfassungsgericht, Selbstbeschränkung

Stichwortverzeichnis Selbstbestimmung 198 ff, 216 f, 219 f, 962 f, 968, 1407 Selbstbestimmungsrecht 48, 51 f, 58, 143 Gefahren durch Gen-Technologie 1371 Selbstorganisation im sozialen Bereich 1368 Sexualkunde 1021 f Sicherheit 201 f, 208 ff, 215, 1398, 1403 staatl. Gewährleistung 1157 Sittengesetz 580 Soldaten Bürger in Uniform 1192 Zugehörigkeit zum öffentl. Dienst/Status 1150, 1192 Solidargemeinschaft 784 Solidarität 199, 201, 225 ff, 230, 231 ff, 512, 525, 527, 530, 545, 607, 813, 970, 1395 Sondervotum 1244 f, 1274 f „Soziale Demontage" 795 Soziale Frage 772 ff, 786 „neue soziale Frage" 512, 792 Soziale Marktwirtschaft s. Wirtschaftsordnung Sozialer Rechtsstaat 477 ff, 552 f s. a. Demokratie, soziale und liberale D. des G G ; Rechtsstaatsprinzip; Sozialstaatsprinzip Leistungsauftrag an öffentl. Dienst 1156 f, 1174 Steuern als Bindeglied zwischen Sozialstaatsund Rechtsstaatsprinzip 645 f sozialer Wandel 18, 23 ff, 91, 105 f, 500 ff, 517 f, 524, 528, 529 f, 546 ff, 1120 f, 1138, 1142, 1336, 1347, 1350, 1352, 1383, 1386, 1387, 1400, 1402 ff, 1404 f, 1407 ff Auswirkung auf öffentl. Dienst 1184 f Sozialhilfe 799 Sozialisierung 380, 521, 542, 616, 694 ff Sozialismus 694, 1374, 1395, 1416 und Demokratie 217 f Eigentumsrecht 658 Sozialität 199, 226 Sozialleistungen 543 s. a. Sozialpolitik; Sozialstaatsprinzip geschichtliche Entwicklung 771 ff Sozialpartner 735, 751 Arbeitgeberverbände 751, 763 f Gewerkschaften 751 f, 756, 1400 Interessenausgleich 227 Sozialpolitik 526 f, 548, 765 ff, 791 ff aktuelle Probleme 794 ff, 803 f Definition 792 als Gesellschaftspolitik 232, 792 bei knappen Ressourcen 794 f, 1336 f

1441 Mißbrauchsfälle 795 ff soziales Netz 795 ff, 1336 f, 1364, 1378 und Sozialrecht 791 als Teil der Gesamtpolitik 792 f verfassungsorientierte 793 f, 796 f Sozialprodukt 646, 650 Sozialrecht 233, 765 ff Abgrenzung zu anderen Rechtsgebieten 769 ff Bagatellrisiken 799 ff in der Bundesrepublik Deutschland 775 ff —Fürsorge 775, 790 f —Kriegslast 525, 775 —Sozialgesetzbuch 777 —Sozialversicherung 775 f, 785 ff —Versorgung 789 f Einteilung nach Bereichen 784 f —funktionale Gliederung 785 —materielle Gliederung 784 f im formellen Sinne 766 f Fremdlasten 799 ff geschichtliche Entwicklung 771 ff Gesetzgebungskompetenzen 777 f Karenztage 800 im materiellen Sinne 767 ff —Anliegen der Sozialgesetzgebung 768 —Definition 768 ff —gemeinschaftsbezogene Ausrichtung 767 Mißbrauchsgefahren 797 ff schwer zugängliche Materie 505 f Schwerbehinderte 800 und Sozialpolitik 791 ff und „Sozialverfassung" 777 ff —formelle Direktiven 777 ff —materielle Direktiven 779 ff Systemwidrigkeiten 801 ff als Teil des öffentl. Rechts 765 Sozialspirale 794 Sozialstaat 477 ff allgemeine Grundlagen 515 ff, 524 ff, 543 ff Sozialstaatsprinzip 17, 92, 509 ff, 953 f, 956 f, 1308, 1336, 1340, 1361 allg. Grundsätze für Auslegung und Anwendung 517 ff, 523 und andere Verfassungsgrundsätze 780 —Parallele zum föderalistischen Prinzip 541 —Rechtsstaatsprinzip 514 s. a. Sozialer Rechtsstaat und bestehende Gesellschaftsordnung 521 Bewährungsprobe 512, 543, 1347 bisherige Auslegungsansätze 509 ff und Eigentum 659 f

1442 (Sozialstaatsprinzip) und Eigenverantwortung 531, 545 als Element bürgernaher Verwaltung 539 ff Element des Interessenausgleichs 252, 519, 522, 529, 531 f, 536, 538, 546 als ethisches Element 525 und Familienförderung 596 f, 602 f Gemeinschaftsbezogenheit 110 gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 544 Gestaltungsaufgabe des Staates 515 ff, 530, 538, 547 ff, 550, 553, 793, 1368 s. a. Staatliche Aufgaben und Gießkannenprinzip 541 und Gleichheitsgebot 541 Grenzen rechtlicher Festschreibung 27, 520 und Grundkonsens 517, 523 als Homogenitätsverbürgung zwischen Staat und Gesellschaft 385 und Koalititonsfreiheit 532 ff und Leistungsprinzip 545, 1376 und Massenmedien 393, 462 und Menschenbild 529 und Menschenwürde 109, 110, 117 als methodisches Prinzip 552 f, 1343 „neue soziale Frage" 512 als neues Verfassungselement 8, 25 und nichteheliche Lebensgemeinschaft 579 Prozeßkostenhilfe 1227 in der Rechtsprechung 513 f und rollenorientierte Rechtsprechung 156 ff im Schul- und Bildungswesen 1003, 1006 ff, 1012, 1029, 1030 und soziale Grundrechte 98 ff, 1367 f als sozialer Generalvorbehalt 534 und Sozialpflichtigkeit 545 und Sozialrecht 779 ff, 793 Staatzielbestimmung 523 stärkste Ausprägung im demokratischen Verfassungsstaat 147 und Steuern 645 ff und Teilhaberechte 96 ff, 990 als verbindliche Leitlinie 509 ff Verwirklichung durch Koalitionsfreiheit 733 f, 739 f, 745 f und Wachstum 794 und Wirtschaftsverfassung 617 f, 1391 zeitliche Dimension 546 ff zukunftsorientierter Rechtsbegriff 522 ff, 550, 1351 Sozialverfassung des GG 610, 777 f, 1378 Gesetzgebungskompetenzen 777 f materielle Direktiven 779 ff Rechtsprechungskompetenzen 779 und Sozialpolitik 793 f Verwaltungskompetenzen 779

Stichwortverzeichnis Sozialversicherung 526 f, 668 f, 1174 Benachteiligung der „Familienfrau" 605 f Benachteiligung kinderreicher Ehepaare 600 Finanzierung 787 f Geburtenrückgang 588 ff, 603 ff, 803, 1347, 1353f —Familienförderung 603 ff gegliederte 775 f geschichtliche Entwicklung 771 ff Leistungen 788 f Mischfinanzierung 872 f Neugestaltung 607 Schwangerschaftsabbruch 800 f Sozialversicherungsverhältnis 146, 786 f Wesen 785 f Zwangsversicherung 786 Sozialwissenschaften 1384 Sport 977 Sportgerichtsbarkeit 1216 Staat s. a. Bundesstaat; Bundesrepublik Deutschland; Kirchen/Religionsgemeinschaften und Staat „Absterben" 158 f, 162 Begriff 206, 329, 968, 994 Erhaltung als Grund für Freiheitsbeschränkungen 140 Legalitätsverlust 153 f, 1357, 1363 Legitimation von Hoheitsgewalt 206 f, 1158 s. a. Herrschaft nicht nur Dienstleistungsunternehmen 1157 religiöse und weltanschaulische Neutralität 1308 Staatspflege 1345 Staatswandel und Staatsreform 1141 Staat und Gesellschaft 123, 183, 184, 188, 194, 210 f, 213 ff, 222, 223, 227 f, 230, 234, 317, 373 ff, 384 f, 516, 530 ff, 996, 1137, 1150, 1152, 1157 f, 1378, 1384, 1387 f, 1392 Vergesellschaftung durch kollektive Grundrechtsausübung 569 Staatliche Aufgaben s. a. Gerechtigkeit; Gleichheit; Grundrechte/staatl. Beitrag zur Grundrechtsverwirklichung; Kulturstaat; Planung; Sozialer Rechtsstaat; Wirtschaftsordnung; Wohlfahrt; Zukunftsprobleme alleinige Ausrichtung auf den Menschen 195, 227 f, 230 Anspruchsdenken 1343, 1345, 1357 außerstaatliche Vorentscheidungen 328, 1391, 1400

Stichwortverzeichnis (Staatliche Aufgaben) Ausübung des Gewaltmonopols 152 ff —Selbstschutzgruppen 154 im Bereich von Sicherheit und Ordnung 152 ff, 516, 1157 im Bereich der Wirtschaftsordnung 23 ff, 220 f, 223 f, 233, 377 ff, 545, 610, 613 ff, 618, 636, 691, 693, 712, 724 ff, 891 f, 1364 f, 1368, 1389 ff —Unternehmensverfassung als rechtspolitische Aufgabe 724 ff Ebenen staatlicher Aufgabenerfüllung 866 ff Entstaatlichung/Privatisierung 1137, 1175 Gemeinwohlverwirklichung 180 s. a. Gemeinwohl „Gleichheit der Wohlfahrt aller" 184 ff, 212 ff, 216 f, 222 ff kulturelle 953 ff, 966 ff, 975, 977 ff, 988 ff, 994 ff Legitimation für neue Aufgaben 1173 Legitimationskette 1154, 1158 Mindeststandard an sozialer Gerechtigkeit 1157 Personalbedarf 1161 f Probleme weitgehender Technisierung 124 ff Randfunktionen 1175 rechtliche Bindung des „Ausgabengesetzgebers" 650 ff Rechtsprechung 1201 ff Rechtsschutz 1157 Schul- und Bildungswesen 1008 f, 1009 ff s. a. dort Schutz vor Medienmißbrauch 1372 Sicherheit 201, 208 ff, 215, 516, 1157, 1366, 1408 s. a. dort im sozialen Bereich 515 ff, 530, 532, 538 f, 553, 610, 771 ff, 1366, 1368 und Tarifautonomie 744 f, 763, 1344 Verteilung im Bundesstaat 810, 821 ff, 1101 ff Vollzug durch öffentl. Dienst 1149, 1150 f Wandlungen 23 f, 377 ff, 862, 1117, 1128 ff Staatsangehörigkeit 39, 48 ff nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland 48 ff, 307 im Verhältnis zur D D R 51 f im Verhältnis zu Drittstaaten 52 f Staatsanwalt 1240 f Staatsautorität Tolerierung unrechtmäßiger Gewaltausübung 152 ff

1443 Staatsfunktionen 1095 ff, 1136, 1137, 1140 s. a. Staatliche Aufgaben Staatsgerichtshof 1257 Staatshaftung 1157 Staatsquote 614 Staatsräson 195, 1277 Staatsrechtslehre und Grundkonsens 1339, 1348 und Grundrechtsschutz 82 und „Kulturstaat" 955 und Parteienproblematik 369 ff Staatsschutz 1267, 1310 s. a. Schutz der Verfassung Staatsverdrossenheit 23, 506, 524, 1055, 1138, 1343 Staatsverschuldung 793, 794 Staatswirtschaft 544 f Staatszielbestimmungen 25, 26, 83, 98 f, 402, 523, 539, 617 f, 657, 838, 955, 989, 1009, 1100, 1138 ff, 1157 f, 1340, 1350, 1357, 1367, 1368f s. a. Grundgesetz; Gesetzgebungsaufträge; staatliche Aufgaben; Zukunftsprobleme Staatszweck 180, 195, 976, 1383, 1404, 1414 s. a. staatliche Aufgaben Städtebauförderungsgesetz 986 Stagnation 543 Steuern 865 f, 881 ff, 885 ff, 888 ff s. a. Finanzverfassung und Berufsfreiheit 648 Ehegatten-Splitting 601 ff und Eigentumsgarantie 646 ff, 669 f und Geldentwertung 669 Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit 651 f Kinder 603 ff im sozialen Rechtsstaat 645 ff, 793, 796 ff —Belastung durch ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen 796 ff —offene Flanke der Wirtschaftsverfassung 232, 542 Steuerpolitik 152 Stiftung Preußischer Kulturbesitz 979 ff Strafgefangener passives Wahlrecht 255 Straf recht 116 ff Resozialisierung 234 zum Schutz der Verfassung 1296 f, 1302, 1320 f Straf rechtsreform 1385 Wirtschaftskriminalität 796 Strafverfahren 116 ff, 120, 125 f s. a. Gerichtsverfassung und -verfahren Strafverteidiger 1226

1444

Stichwortverzeichnis

Streik s. Arbeitskampf Strukturpolitik 877 Subsidiarität 233, 293, 530, 780, 813, 816, 987, 996 Subventionen 448, 618, 1391 Supreme Court 1259 Systemgerechtigkeit 782

Toleranzprinzip 564 f, 568, 993, 1011, 1013, 1064, 1073, 1168 f, 1348 Transferleistungen 652, 801 ff Transitabkommen 46 Transparenz 815 Verlust durch Konkordanzdemokratie 364 f s. a. Innere Annahme, Partizipation

Tarifautonomie 635 ff, 733 ff s. a. Arbeitskampf; Koalitionsfreiheit Funktion —Friedensfunktion 740 —Mitgestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen 739 f, 756 f, 763 f —Ordnungsfunktion 740 —Schutzfunktion 739 f und Gemeinwohlbindung 533 f, 750 f, 1344 geschichtliche Entwicklung 734 f, 739 und Gesetzgeber 740 f, 742, 744 ff, 763 gesetzliche Regelungen 735 ff Inhalt 742 f und Kirchenautonomie 748 ff im öffentl. Dienst 1194 ff Tariffähigkeit 752 ff Träger 751 ff —Anteil an staatsleitenden Funktionen 379, 388 verfassungsrechtliche Grundfragen 736, 741 ff, 754 f, 756 Würdigung und Ausblick 763 f Zwangsschlichtung 533, 535 Tarifvertrag Allgemeinverbindlicherklärung 736, 745 ff Bindung der Vertragsparteien 746 ff Differenzierungsklauseln 756 Effektivlohnklauseln 757 und freie Mitarbeiter 736 Funktionen 739 ff Inhalt von Tarifverträgen 738, 742 ff Lohngleichheit 748 f öffentlicher Dienst 1151 f Tarifvertragsgesetz 735 f Vertragsparteien 751 Vertrauensleuteklauseln 757 f Tarifvertragsrecht 735 ff, 1152 Technische Revolution 224 Technischer Wandel 526, 1122, 1350, 1371 f s. a. Sozialer Wandel Technisierung 124 ff Terrorismus 120 f, 501 ff, 1311 f Tocqueville 214, 218, 1387 Todesstrafe 117, 1231, 1407 Auslieferung an ausländischen Staat 1231

Überhangmandat S.Wahlrecht Umsatzsteuer 884 f, 886 Umsatzsteuerverteilung 824, 869 Umverteilung 184, 223, 232, 541 ff, 649 f, 659, 770, 1368, 1390 Umwelt 1408 Umweltrecht 1250 Umweltschutz 23, 84, 99, 125, 141, 830, 1347, 1373, 1378 UN-Beitritt 40 f, 44 Unfallversicherung 776, 788 Unregierbarkeit s. Regierbarkeit Unternehmensverfassung 620 ff, 697 ff, 1332 s. a. Mitbestimmung; Wirtschaftsverfassung Grundpositionen der politischen Parteien 704 ff, 725 Legitimation unternehmerischer Entscheidungen durch Mitbestimmung 718 ff Mitbestimmungsurteil 710 ff als rechtspolitische Aufgabe 633, 641, 724 ff, 728 Unternehmensleitung 722 Unternehmensrechtskommission 728 Unternehmensverband 656, 694, 721, 723, 725f verfassungsrechtlicher Gestaltungsspielraum 713 ff Unternehmerfreiheit 626 f, 633, 637 f, 691 ff Unverletzlichkeit der Wohnung 85, 113, 118 Urheberrecht 667 f Utopien 551 Verbände 373 ff, 1106, 1137 Bedeutung im demokratischen System 247, 373 ff Binnendemokratisierung 383 ff Binnenstruktur 381 f, 384 f Konstitutionalisierung 380 ff Öffentlichkeitsstatus 385 als „parakonstitutionelle" Entscheidungsträger 377 ff, 382 verfassungsrechtliche Grundlagen 384 ff

Stichwortverzeichnis Verbändegesetz 382 f, 387 f, 755, 1079 Verbandsklage 496, 1373 Verbraucherrolle 222, 229 Vereinigungsfreiheit 85, 88 f, 101, 373, 384 ff, 387 f, 632 ff, 712 ff s. a. Koalitionsfreiheit Verfahrensgrundrechte 116 f, 495, 1223 ff s. a. Gerichtsverfassung und -verfahren; Grundrechte, Sicherung durch Verfahrensgestaltung Verfahrensregelungen Bedeutung für Verfassungswirklichkeit 19, 100 ff, 1402 s. a. Grundrechte, Sicherung durch Verfahrensgestaltung Verfassung s. a. Grundgesetz; Schutz der Verfassung; Staatszielbestimmungen Aufgabe und Funktion 3 ff, 15 ff, 190 f —Integrationsfunktion 15 f, 17, 20, 25 f, 519, 540, 552, 1331 ff, 1345, 1349, 1369, 1376 —rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens 17, 20 f —Überforderung 25 f, 1376 ff —Wirkungsvoraussetzungen 20 s. a. Innere Annahme Definition 15, 17 Verfassungswandel 13 f, 391, 522, 546, 556, 558, 592 f, 1111, 1333 ff, 1335, 1339 f, 1346, 1349 f, 1356 ff, 1361 f, 1393 ff, 1400, 1407 f Verfassungsänderung Anforderungen 485, 1112, 1394, 1401 Element der Stabilisierung 1298 bei gewandelten Wertvorstellungen 1356 ff Grundgesetzänderungen seit 1949 12 f, 830 Schranken 89, 203 f, 1344 Verfassungsaufträge s. Grundgesetz, Gesetzgebungsaufträge, Staatszielbestimmungen Verfassungsauslegung 11, 18 f, 21 f, 25, 82, 90, 517 ff, 524, 557, 1283 ff, 1361, 1380, 1382, 1406, 1407 s. a. Interpretationsherrschaft Freiheit und Gleichheit als Leitprinzipien 132 f praktische Konkordanz 1365 verfassungskonforme Auslegung 1272 f, 1283 Verfassungsbeschwerde 13 f, 90 f, 1263 ff Annahmeverfahren 509, 1259, 1265 als Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips 1200 Frankfurter Reichsverfassung 1256

1445 Gleichheitssatz häufigster Grund 87, 90 gegen innerkirchlichen Akt 1081 zum Landesverfassungsgericht 1214 f als „nachträglich gewährtes Gehör" 493 Rechtsvergleich 1258 f Verfassungsgerichtsbarkeit 9, 485, 1253 ff s. a. Bundesverfassungsgericht Carl Schmitt 1257 f geschichtlicher Rückblick 1254 ff und Gesetzgeber 558, 1258, 1259 ff, 1265 f, 1272, 1283, 1284, 1285, 1333 Grenzen 1277, 1279 ff, 1283 ff, 1287 —funktionelle 96, 1279 f —der Interpretationsmacht 1283 ff Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte 1261 der Länder 850, 1213 ff Legitimation und Funktion 1275 ff, 1282 rechtsvergleichender Überblick 1258 ff Selbstbeschränkung 1278 f, 1282 und sozialer Wandel 1276 Voraussetzungen 1255 f „zwischen Recht und Politik" 1255, 1256, 1258, 1274 f, 1278 ff Verfassungsrecht s. a. Grundgesetz; Grundrechte; Verfassung Eigenart 17 ff —Offenheit 18 f, 21, 25, 27, 556 —Selbstgewährleistung 19 f —Vorrangfunktion 18 und einfaches Recht 90, 95 f, 556 f, 1370 f Verfassungsreform s. Enquète-Kommission Verfassungsreform; Zukunftsprobleme und Grundgesetz Verfassungsschutzämter 1296, 1313 Amtshilfe 1323 ff Verhältnismäßigkeit 91, 141, 155, 215, 482, 498 f, 628 ff, 639, 641 f, 649, 664, 673, 676, 686 f, 1006, 1168, 1228 Verjährungsdebatte 484, 1230 Verkehrswirtschaft 611, 618 Vermittlungsausschuß 260, 291, 908 ff, 930 f, 945 f, 1413 s. a. Bundesrat; Bundestag Haushaltsgesetz 938 Haushaltsstrukturgesetz 940 f Umsatzsteuerverteilung 939 f Vermögensbildung 223, 232, 660, 744, 1367, 1391, 1404 Versammlungsfreiheit 85, 88 Versammlungsrecht 1315, 1317 Versicherungsprinzip 784, 785 Versorgungsrecht 784, 789 f

1446 Versorgungsstaat 780 s. a. Sozialstaatsprinzip; Wohlfahrt Verteidigung 1378, 1380 Verteidigungsfall 1111, 1295 s. a. Bundeswehr Rechte des Bundesrates 921 f Vertragsfreiheit 637 f Vertrauensfrage 240, 241, 258, 272 f, 288 Vertrauensschutz 221, 484, 496 ff Vertreter des öffentl. Interesses 1241 Verwaltung 1093 ff, 1123 ff Abgrenzung zur Regierung 837, 1131 ff Amtshierarchie 1129 Bürgernähe 539 f, 815 Bürokratie 1137 ff s. a. dort Funktionen 1127 ff, 1129 f gesetzesfreie 838, 847 als Informations- und Führungssystem 1129 Koordinationsbedarf 1131, 1143 f Massenverwaltung 539 ff, 1358, 1378 f Ministerialverwaltung 244, 269, 285 f, 1032, 1040, 1043, 1044, 1120, 1124, 1140, 1172, 1334, 1413 Selbstbindung 149 Spezialisierung 1132 Strukturwandel 1129 ff, 1132 Typenzwang des GG 837 Zuständigkeiten im Bundesstaat 821 f, 837 ff, 1123 —Auftragsverwaltung 843 f, 869 ff —bundeseigene Verwaltung 1124 f —Bundesverwaltung 844 ff —Landesverwaltung 840 ff, 1124 —ungeschriebene Bundeskompetenzen 846 f —Verlagerung auf den Bund 839 —Verwaltungsverbund 847 ff, 1125, 1126 f —Verwaltungsvorschriften 842 f, 846, 917 —Zustimmungsbedürftigkeit von Organisations- und Verfahrensentscheidungen 841 f Verwaltungsgerichtsbarkeit s. Gerichtsorganisation Verwaltungskultur 1096, 1127 ff, 1131 f Videorekorder 445 Viermächtestatus 4, 36, 37, 40 ff, 48 Berlin 44, 46, 54 f Grenzfragen 44 ff Interventionsrechte 41 Spandauer Gefängnis 56, 1221 Truppenstationierung 42 f

Stichwortverzeichnis UN-Beitritt beider deutscher Staaten 40 f, 44 Wiedervereinigung 44 Völkerverständigung 1306 Volksentscheid/Volksherrschaft s. Demokratieprinzip; plebiszitäre Elemente Vorbereitungsdienst 1006 Vorrang des Gesetzes 490 ff Währungspolitik 642 ff Wahlen Funktion der Parteien 323 ff Minderheitenschutz 321 ff Wahlrechtsgrundsätze 320 Wesen und Funktion 295 f, 320 f —Konkurrenzprinzip 321 f, 326 Wahlkampfkostenerstattung 350 f Wahlpflicht 306 Wahlprüfungsausschuß 274 Wahlrecht 295 ff Annahme der Wahl 312 für im Ausland lebende Deutsche 308 für Berliner 308 Briefwahl 305, 310, 312 Bundeswahlgesetze 295 f —geltendes Wahlgesetz 300 ff —Reformüberlegungen 302 Europawahlen 295 f Fünf-Prozent-Klausel 11, 301 f, 344 ff Grabensystem 943 f Inkompatibilität 309 Kandidatenaufstellung 310 f, 340 Kommunalwahlrecht für Ausländer 74, 306 f, 1331, 1382 Kumulieren 311 Landesliste 300 Mandatsverlust 313 Panaschieren 311 passives —Beschränkung im öffentl. Dienst 1156 f Sitzverteilungsverfahren 312 Uberhangmandat 301 Wählernachfrage 303 f Wahlalter 308 Wahlanfechtung 313 f Wahlausschluß 309 Wahlergebnis 312 Wahlgebiet 304 ff Wahlhandlung 312 Wahlprüfung 313 ff Wahlrechtsgrundsätze 183, 303 ff Wahlsystem 297 ff, 300 ff —Mehrheitswahl 299 —Verhältniswahl 298

Stichwortverzeichnis (Wahlrecht) Wahlvorbereitungsurlaub 309 Wahlvorschlagsrecht 309 f Wahlrechts gleichheit 296 f Wahlrechtsstreitigkeiten 1266 f Wahlwerbesendungen 277 f, 357 ff, 437 f, 1316 Warschauer Vertrag 45 f Wasserabgabengesetz 1143 Wehrbeauftragter 13, 274 Wehrdienst 14, 1295 s. a. Bundeswehr Wehrverfassung 1361 Weimarer Reichsverfassung 81, 657, 734, 812, 901 f, 999, 1009 ff, 1256 f, 1339 Werbung 438, 443, 446 f, 451 f, 455, 460 s. a. Regierung, Öffentlichkeitsarbeit; Wahlwerbesendungen Weitentscheidungen des GG/Wertsystem 16 f, 22 f, 93 ff, 97, 102 ff, 111, 210, 389, 395, 479, 481, 557, 721 f, 728 ff, 989, 1024, 1029, 1076, 1083, 1264, 1281, 1286, 1335, 1338, 1340, 1345, 1374, 1385, 1387 ff, 1401 ff, 1406, 1408 s. a. Grundgesetz als Wertordnung; Grundrechte als objektive Prinzipien; Grundwertediskussion; sozialer Wandel; Verfassung Umbruchssituation 527, 1336, 1343, 1346 f, 1356 ff wertebildende Institutionen 1347, 1379 Wertsystem im totalitären Staat 86 Wesensgehaltsgarantie 89, 91, 112 Wesentlichkeitstheorie 492, 570, 1011 ff, 1044 Wettbewerb 221, 612, 618, 638 f, 691 f, 693 Wettbewerbsbeschränkungen im Medienbereich 443 ff, 448 Widerstand gegen die Staatsgewalt 152 ff Widerstandsrecht 1304, 1321, 1379 f Wiedervereinigung 44 Willkürverbot 114 f, 135, 149, 154, 484, 488 Wirtschaftliche Macht 24, 377, 388, 516 f, 532, 537, 691, 718 ff, 1391, 1404 s. a. Machtausübung Wirtschafts- und Sozialräte 247, 636 Wirtschaftsordnung 609 ff, 1391 ff s. a. Grundgesetz, wirtschaftspolitische Neutralität; Mitbestimmung; Wirtschaftsverfassung; Zentralverwaltungswirtschaft allg. Anforderungen an Gesetzgebung 639 —Abwägungsgebot 641 f —Prognosespielraum 639 ff

1447 —Übermaßverbot 639 f Ausgleich wirtschaftlicher Gegensätze 220, 223, 228, 233, 1390 duales System 636 Humanitätsproblematik 228 ff Interventionismus 655 f, 691 Marktwirtschaft 654 f, 662 nationalökonomische Grundmodelle 611 ff, 619 soziale Marktwirtschaft 233, 548, 614, 715, 718, 1404 Steuern 542, 645 ff, 792 f s. a. dort Unternehmensverfassung als rechtspolitische Aufgabe 724 ff Währungspolitik 642 ff Wirtschaftsverfassung 610, 614 ff, 711 ff, 718 f, 1337, 1351, 1361, 1365, 1389, 1403 s. a. Sozialisierung; Wirtschaftsordnung Bedeutung objektiver Verfassungsnormen 616 ff —Föderalismus 616 f —gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 617 —Gesetzesermächtigung 616 f —Sozialstaatsprinzip 617 Berufs- und Gewerbefreiheit 621 ff Bindung des „Ausgabengesetzgebers" 650 ff Eigentum 615, 620 f, 655 f, 690 ff, 714 Inhalt und Grenzen der Rahmenordnung 618 ff Mitbestimmungsurteil 609, 620, 634, 640 f, 710 ff s. a. dort Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit 632 ff s. a. dort Wirtschaftsfreiheit 637 ff —Dispositionsfreiheit 637 f —Vertragsfreiheit 637 f —Wettbewerbsfreiheit 638 f wirtschaftspolitische Neutralität des G G 609 ff, 615, 619 s. a. Grundgesetz, wirtschaftspol. Neutralität Wirtschaftswachstum 377, 543, 794, 877, 1335, 1347, 1368, 1377, 1380 Wissenschaft/Wissenschaftsfreiheit 85, 93, 101, 131, 954 f, 968, 973, 977, 988 f, 994, 1023 ff, 1184 Wohlfahrt 184 ff, 212 ff, 219 f, 222, 227, 1390, 1398, 1403 Wohnungspolitik 23

1448 (Wohnungspolitik) Benachteiligung von Familien mit Kindern 598 f

Zeitungen s. Medienpolitik Zensurverbot 401, 426 ff s. a. Medienfreiheit Zentralverwaltungswirtschaft 159 f, 611, 615 ff, 619, 636, 780 Zerlegungsgesetz 886 Zinsbesteuerung 671 Zivilisation 959, 973 Zukunftsangst 526, 528, 547, 1335, 1343, 1354, 1378 s. a. Lebensgefühl Zukunftsprobleme 292 f, 380, 528, 546 ff, 550, 1117, 1135 f, 1138, 1139, 1331 ff, 1346 ff, 1350, 1357 ff, 1361 ff, 1371 ff, 1378 ff, 1381 ff im Bildungswesen 1056 f, 1348 Friedenssicherung 528, 1341 f, 1378 Früherkennung 292 f, 345

Stichwortverzeichnis Geburtenrückgang 590 ff, 600 f, 607, 1353 f Gefährdung kultureller Fortschritte 965 Gerichtsbarkeit 1248 ff, 1287 f und Grundgesetz 23 ff, 104, 1346, 1357 ff, 1361 f, 1378 ff, 1380, 1381 f, 1393 ff, 1399 ff, 1402 f, 1404, 1407 ff, 1411 Kardinalproblem der modernen „Demokratie" 183 f, 186 Krisenzeichen 1147, 1336, 1346, 1383, 1385, 1387, 1401 Medienpolitik 467 ff, 1371 f, 1384 des parlamentarischen Systems 292, 1141 ff, 1346, 1358, 1381 f, 1409 ff, 1412 ff Sozialpolitik 233 f, 794 ff, 1390 Technisierung der Staatstätigkeit 124 f Verplanung des Menschen 126 ff Zustimmungsgesetz 364, 841 ff, 869, 881, 1109 Teilung von Gesetzentwürfen 841, 905, 907 f, 910 ff, 942 Zuverlässigkeit als Rechtsbegriff 166