Palpations-Techniken: Anatomie in vivo [1 ed.]
 9783132416338

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Palpations-Techniken Anatomie in vivo Herausgegeben von Bernhard Reichert Unter Mitarbeit von Wolfgang Stelzenmüller, Omer Matthijs 886 Abbildungen

Georg Thieme Verlag Stuttgart • New York

Anschriften Wichtiger Hinweis: Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spezialisten festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in diesem Buch abweicht. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer, ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen.

Bernhard Reichert, MSc PT, MT Stiegelgasse 6 71701 Schwieberdingen Dr. rer. med. Wolfgang Stelzenmüller M.Sc.PT bwmed GmbH Stresemannstr. 2–4 63303 Dreieich-Sprendlingen Dr. Omer Matthijs Schaftalbergweg 1a 8044 Weinitzen Österreich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Ihre Meinung ist uns wichtig! Bitte schreiben Sie uns unter: www.thieme.de/service/feedback.html

© 2018 Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstr. 14 70469 Stuttgart Deutschland Printed in Germany

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Umschlaggestaltung: Thieme Gruppe Fotos: Oskar Vogl, Affalterbach, Benjamin Stollenberg, Ludwigsburg, Kirsten Oborny, Thieme Gruppe Zeichnungen: Martin Hoffmann, Neu-Ulm, Markus Voll, München Satz: Sommer Media GmbH & Co. KG, Feuchtwangen gesetzt in Arbortext APP-Desktop 9.1 Unicode M180 Druck: Aprinta Druck GmbH, Wemding

DOI 10.1055/b-006-149928 ISBN 978-3-13-241633-8 Auch erhältlich als E-Book: eISBN (PDF) 978-3-13-241634-5 eISBN (epub) 978-3-13-241635-2

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Der Autor Bernhard Reichert wurde 1959 in Düsseldorf geboren. Nach Abitur, erster Berufsausbildung und Selbstständigkeit verlegten seine Familie und er den Wohnsitz nach Schwieberdingen im Kreis Ludwigsburg. ▶ Ausbildung ● 1979–1981 Berufsausbildung zum Masseur und med. Bademeister an der staatl. anerk. Massageschule der Unikliniken in Düsseldorf ● 1994–1995 Verkürzte Ausbildung zum Physiotherapeuten an der VPT Akademie – staatl. anerk. Massage-/Physiotherapeuten-Schule Fellbach ● 1996–1997 Ausbildung zum Bildungsmanager in der Aus- und Weiterbildung an der Führungsakademie der Fa. orgakom in Waldbronn ▶ Fort- und Weiterbildung (Auswahl) Manuelle Therapie ● Orthopädische Medizin nach Dr. Cyriax ● PNF ● Sportphysiotherapie, Medizinisches Aufbautraining ● Mobilisation neuraler Strukturen ● Anatomie an Präparaten

Andreas Hofacker, Benjamin Stollenberg und Bernhard Reichert (von links nach rechts).





▶ Beruflicher Werdegang 1984–1995 Selbständigkeit in eigener Praxis für Physikalischer Therapie in Solingen ● Seit 1994 Lehrkraft und zeitweise Fachlicher Leiter der Massageschule an der staatl. anerk. Physiotherapeuten-/ Massage-Schule e. V. Fellbach; Lehrtätigkeit, insbesondere in Manuelle Therapie, Funktionelle Anatomie, Klassische Massagetherapie, Spezielle Krankheitslehre Orthopädie ● Seit 1988 Referent in der Fort- und Weiterbildung, vorwiegend innerhalb der VPT Akademie in Fellbach mit Schwerpunkten der Anatomie und Manuellen Therapie ● Seit 1991 Referent bei Kongressen und Tagungen; Autor mehrerer Artikel in Fachzeitschriften und von Buchbesprechungen, Fachbuchautor ● Seit 1996 Selbstständig als Consultant und Inhaber der Fa. physio train consult mit Schwerpunkt auf Bildungsbedarfsanalyse und Bildungsplanung für Kliniken ●

















Seit 1999 anerkannter Fachlehrer für Manuelle Therapie (Verband der Ersatzkassen e. V.) Seit 2007 Bachelor of Science in Physiotherapy an der Dresdner International University (DIU) 2008 Praktikum an der Texas Tech University Health Science Center, Lubbock/Texas, USA Seit 2011 Master of Science in Physiotherapy an der University of Applied Sciences Vienna Seit 2008 Dozent der International Academy of Orthopedic Medicine (IAOM.eu) Seit 2008 Honorarlehrkraft der Dresden International University für „Wissenschaftliche Grundlagen“ sowie „Psychoaktive Massage“ in den Studiengängen Präventions-, Therapie- und Rehabilitationswissenschaften (BSc.) sowie Management für Gesundheitsfachberufe (BSc.) Seit 2009 Reviewer für den Thieme Verlag, Journal „physioscience“ 2011–2012 Vortragender der FH Kärnten Klagenfurt im Studiengang Physiotherapie für die Vorlesungen: Wissenschaftliche Methodik, Schmerzphysiologie, häufige Schmerzsyndrome 2012–2013 Dozent an der TAE Technischen Akademie Esslingen mit Vorlesung über wissenschaftliche Methodik. Vortragender an der FH Campus Wien für die Lehrveranstaltung Massagetherapie

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Der Autor ●







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Seit 2013 Selbstständiger Partner und praktischer Therapeut im Integrativen Deutsch-Asiatischen Therapiezentrum in Fellbach-Oeffingen Seit 2014 Dozent an der Steinbeis Hochschule Berlin, Institut Körperbezogene Therapien, Standorte Fellbach und Meckenheim, für die Vorlesungen in Manuelle Therapien und wissenschaftlicher Methodik 2016–2017 Vortragender an der FH Campus Wien für die Lehrveranstaltung Massagetherapie Seit 2017 Promotionsstudent an der Deutschen Sporthochschule Köln

Anregungen, Nachfragen und Kritik zum Buch sind gerne erbeten an: www.bernhardreichert.de

Geleitwort Geleitwort von Prof. Phil Sizer aus der englischen Ausgabe Band 2

In der klinischen Praxis mangelte es bislang an einem Lehrbuch, das der präzisen Durchführung von anatomischen In-vivo-Untersuchungen gewidmet ist, und der vorliegende hervorragende Text erscheint nun genau zur richtigen Zeit. Fachkräfte im Gesundheitswesen verzeichnen einen starken Anstieg des Bedarfs nach entsprechenden Untersuchungen und der Anwendung manueller therapeutischer Interventionen. Für beide sind ein umfassendes Verständnis und eine präzise Anwendung von Fertigkeiten in der oberflächlichen In-vivo-Anatomie erforderlich. Wenn eine chirurgische Freilegung nicht verfügbar ist, ist der Kliniker zur Identifikation der relevanten anatomischen Strukturen auf nicht chirurgische Methoden angewiesen. Somit werden Qualifikationen auf dem Gebiet der oberflächlichen Anatomie bei der Lokalisierung von Strukturen und Orientierungspunkten unerlässlich. Der vorliegende Text kann als Landkarte dienen, mittels derer die relevanten Strukturen exakt lokalisiert werden können. Die klaren Methoden, mit denen dieser Text Kliniker in der taktilen Lokalisierung unterweist, sind geeignet, Grundlagenwissen in struktureller und funktioneller Anatomie zu ergänzen. Die Autoren haben ihren Ansatz zur Identifikation von Strukturen sowohl nach Schichten als auch nach Körperregionen untergliedert. Diese Gliederung kann dem Kliniker Hinweise zur Visualisierung der relativen Tiefe einer bestimmten Struktur und ihren Beziehungen zu Strukturen in der Umgebung geben. Darüber hinaus ist der Text umfassend und bietet einen gründlichen, methodischen Zugang zu sämtlichen muskuloskelettalen Regionen des menschlichen Körpers. Dies unterstützt den Kliniker dabei, sich einen Zugang zur muskuloskelettalen oberflächlichen Anatomie des ganzen Menschen zu erschließen und ermöglicht ihm die Identifikation von Mustern, Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den Strukturen der verschiedenen Regionen. Und schlussendlich wird dem Kliniker auch vermittelt, wie er diese Informationen direkt auf klinische Untersuchungen anwenden kann. Somit wird die Lücke zwischen Wissen und Umsetzung geschlossen. Wird die präzise strukturelle Lokalisierung angewandt, um eine umfassende, systematische klinische Untersuchung zu ergänzen, kann sie helfen, einen Verdacht hinsichtlich der Beteiligung dieser Struktur an der Erkrankung des Patienten zu untermauern.

Die oberflächliche Anatomie ist im Wesentlichen manueller Natur. Daher kann der vorliegende Text dazu hinführen, dass an einer manuellen therapeutischen Intervention beteiligte Strukturen korrekt lokalisiert werden können. Und da die Reaktion eines Patienten auf manuelle therapeutische Interventionen vom Vertrauen eines Klinikers in die Anwendung einer Technik abhängen kann, könnten die umfassenden Kenntnisse eines Klinikers zur strukturellen Architektur, begleitet von einer präzisen taktilen Lokalisierung, dazu führen, dass ein Patient stärker auf eine Behandlung anspricht. Das Wissen und die Fertigkeiten, die dieser Text vermittelt, können die Basis für ein größeres klinisches Selbstvertrauen bilden, da ein Kliniker mit ihrer Hilfe beim Ansteuern einer bestimmten Struktur weniger auf Rätselraten angewiesen ist. Die Autoren geben praktische Hinweise für erfolgreiche Erfahrungen des Klinikers auf dem Gebiet der oberflächlichen In-vivo-Anatomie. Die Kliniker erhalten also nicht nur eine Anleitung dazu, welche Fertigkeiten sie nutzen können, sondern auch, wie sie diese am besten praktisch umsetzen. Der vorliegende Text hat das Potential, zu einem der Favoriten in der Bibliothek eines jeden praktisch arbeitenden Therapeuten zu werden und als Brücke zwischen funktionaler Wissenschaft, klinischen Erkenntnissen und praktischen Fertigkeiten zu dienen. Aufgrund dieser Eigenschaften, kann der Text den Kliniker bei seiner Entwicklung und seinem Fortschritt auf dem Weg zur manuellen Meisterschaft unterstützen.

Phillip S. Sizer Jr., PT, PhD, OCS, FAAOMPT Professor and Program Director, ScD Program in Physical Therapy Director, Clinical Musculoskeletal Research Laboratory, Center for Rehabilitation Research School of Allied Health Sciences, Texas Tech University Health Sciences Center Lubbock, TX, USA

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Vorwort Mit diesem Buch geht der frühere Band 1 der Anatomie in vivo Bücher quasi in die vierte Auflage und Band 2 in die zweite. Die sehr sinnvolle Zusammenlegung beider Bücher gleicht sich im Konzept der englischen Übersetzung an, die mittlerweile in 6 weitere Sprachen übersetzt wurde. In jeder deutschen und englischen Ausgabe findet eine Entwicklung durch Verfeinerung der Beschreibungen und Konkretisierung der Inhalte statt. Was gibt es Neues? Das 2015 ebenfalls im Thieme Verlag erschienene Buch „Massage-Therapie“, macht die vertiefende Darstellung der Funktionsmassage im Gesamtband überflüssig. Im Buch über Massage-Therapie findet man ausführliche Beschreibungen und bildliche Darstellungen sowie Videos zu Funktionsmassagen. Neben dieser inhaltlichen Straffung wurden einige, auf Palpation basierende Tests und Vorgehensweisen durch wissenschaftlich evaluierte und praktisch relevante ersetzt. Die Auseinandersetzung mit Zuverlässigkeit und Gültigkeit muss auch im Bereich der Palpation einen größeren Stellenwert einnehmen, will man sich auf ein Palpationsergebnis verlassen können. Die stärkere Auseinandersetzung mit Publikationen hat dazu geführt, dass jetzt jedes Kapitel ein separates Literaturverzeichnis hat. Man sollte ja meinen, dass es zur topografischen und morphologischen Anatomie nichts mehr hinzuzufügen gäbe. Weit gefehlt! Gut gemachte, neue anatomischen Studien helfen uns, mehr Sicherheit bei dem Auffinden klinisch relevanter Strukturen zu erlangen. Dies wird beispielsweise an der Diskussion über Ursprung und Verlauf des Ligamentum collaterale mediale des Kniegelenks in dem neu gestalteten Kapitel deutlich. Studienergebnisse von Forschern des anatomischen Institutes am Health Science Center der Texas Tech University werden in verschiedenen Kapiteln dieses Buchs dargestellt. Ganz neu und sicher ein weiteres Herausstellungsmerkmal ist das Kapitel über die Palpation am Bauch und in der Leistenregion. Eine anatomische Region, die für therapeutische Berufe eher ungewohnt und daher mit großer praktischer Unsicherheit verbunden ist. Dieses Kapitel bietet einen einfachen und praktischen Zugang. Dieses Buch erscheint in einem frischen Design, kontrastreicheren und einigen neuen Bildern und Grafiken. Das steigert das „Look and Feel“ sowie die Verständlichkeit erheblich.

Was bleibt? Das Buch soll zum Nachmachen anregen. Palpieren lässt sich nur durch praktische Übung erlernen. Dem Einsteiger sollen klare Vorgehensweisen in verständlicher Sprache nahegebracht werden. Quellen von Forschungswissen und anatomischen Studien verschaffen dem erfahrenen Therapeuten und der Lehrkraft mehr Sicherheit im Umgang mit den Ergebnissen gezielter Palpation.

Danksagung Das Überarbeiten, Weiterentwickeln und Zusammenfassen bestehenden Materials erfordert die gleiche Sorgfalt und Ernsthaftigkeit wie das Verfassen eines neuen Textes. Und das gelingt nur im Team. Ich bin sehr froh, mit Eva Maria Grünewald eine sehr erfahrene, kompetente und ausgeglichene Projektleitung des Verlags zu haben, die das Team fein koordiniert und auch mich sicher durch dieses Projekt geführt hat. Das redaktionelle Tuning des neuen und überabeiteten Textes übernahm Frau Martina Kunze mit Genauigkeit und sehr feinem Stil. Dem Zeichner Markus Voll danke ich für die hervorragende Anpassung und Neugestaltung verschiedener Grafiken. Mit Dennis Wagner stand das Modell aus dem Massage-Therapie-Buch auch hier für einige neue Fotos zur Verfügung, die von der Fotografin Frau Kirsten Oborny gekonnt ins rechte Licht gesetzt wurden. Frau Dr. med. Brigitte Klett, eine Allgemeinmedizinerin mit internistischem und psychosomatischem Schwerpunkt und Expertin für Traditionelle Chinesische Medizin (http://www.ida-therapiezentrum.de) hat mich fachlich bei der Entwicklung des Kapitels über die Palpation am Bauch und in der Leiste begleitet und mir so viel Sicherheit vermittelt. Besonders möchte ich Dr. Omer Matthijs ScD PT für seine inhaltliche Mitarbeit danken. Seine wissenschaftliche Leitung der International Academy of Orthopedic Medicine (IAOM.eu), die Mitarbeit bei wissenschaftlichen Projekten an der Texas Tech University in Lubbock/Texas und die Arbeit als praktisch tätiger Physiotherapeut ermöglichen die Kontinuität der Entwicklung von fachpraktischem Wissen, das für Therapeuten in der Praxis von größtem Nutzen ist. Seine Mitarbeit an diesem Projekt zeichnet sich durch das Einbringen des von ihm entwickelten oder zusammengefassten Fachwissens aus und stellt einen echten Gewinn für die inhaltliche Güte dar.

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Zum Buch ▶ Zur Entstehung. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis einer langjährigen Beschäftigung mit der Lehre der Anatomie sowie der praktischen Umsetzung in Befund und Therapie. Das geübte Anwenden einer gezielten Palpation ist der Schlüssel zu vielen lokalen Anwendungen, von der Physikalischen Therapie bis hin zur lokalen Injektion. Aus der Erkenntnis, dass man Anatomie erst wirklich dann gut begreift, wenn man das theoretische Wissen durch das „Anfassen“ der Struktur ergänzt, entwickelte sich der für mich zentrale Stellenwert der Anatomie in vivo. Eine weitere Erkenntnis war, dass erfahrene Therapeuten und auch Ärzte selbst nach vielen Berufsjahren noch Mühe haben können, bestimmte anatomische Gebilde gezielt aufzusuchen. Die Tätigkeit in der beruflichen Fortbildung hat mir gezeigt, dass erst die lokale Orientierung die nötige Sicherheit bringt, spezifische manuelle Techniken anzuwenden. Umso erfreulicher sind die Erfahrungen in der Vermittlung der Anatomie in vivo. Das Auffinden der gesuchten Strukturen, das Spüren unterschiedlicher Gewebswiderstände und das Erkennen von Details macht Schülern und Kursteilnehmern wirklich Spaß. Plötzlich werden Zusammenhänge klar und ein dreidimensionales Betrachten des Bewegungsapparates beginnt. Sich Techniken der gezielten Palpation anzueignen, ist für Ärzte und Therapeuten nicht schwer, da anatomisches Hintergrundwissen und die manuellen Fertigkeiten vorhanden sind. Wirklich wichtig sind nur wenige Fragen: ● Wo in etwa muss die gesuchte Struktur liegen? ● Welche Technik ist geeignet, um diese sicher aufzusuchen? ● Welche Kontur und Konsistenz kann man erwarten? Was ist normal und sind Varianten häufig? ● Welche Tricks kann man benutzen, um sich Sicherheit über die exakte Lokalisation zu verschaffen? ▶ Anwendbarkeit der Anatomie in vivo. Anatomie in vivo hat unbestritten einen hohen Stellenwert. Die Umsetzung in Befund und Behandlung zeigt sich an mehreren Beispielen: Im Rahmen der Befunderhebung versucht man, eine lädierte Struktur genau zu finden bzw. sie durch Druck oder quere Friktion auf Schmerzhaftigkeit zu prüfen (provokative Palpation). So genau Befunde auf eine betroffene Sehne oder einen Muskel etc. hinweisen, bleibt es häufig doch der lokalen Palpation vorbehalten, die nötige Sicherheit für das genaue Untersuchungsergebnis zu erbringen. Bestimmte manuelle Techniken können nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie sehr genau angewandt werden. Die Gelenkspieltests der Manuellen Therapie haben nur dann eine wertvolle Aussage, wenn sich die Bewe-

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gung der Gelenkpartner exakt an den anatomischen Gegebenheiten orientiert. In den meisten Fällen ist der Gelenkspalt die maßgebliche Größe. Somit entscheidet häufig das lokale Aufsuchen bestimmter Knochenpunkte und das Ertasten des Gelenkspaltverlaufes über die richtige Ausführung des Tests. Mobilisation mit Manueller Therapie, die diese anatomischen Größen nicht berücksichtigt, bewirkt entweder zu wenig oder schadet den Gelenkflächen. Die Palpation peripherer Nerven hat ebenfalls ihren Stellenwert in der Anatomie in vivo. Ihre „palpatorische Existenz“ ist allerdings häufig wenig bekannt. Dabei sind einige periphere Nerven des Armes und des Beines recht dicke Strukturen und an einigen Stellen sehr leicht zu finden. Ein weiterer Transfer zur Therapie stellt die Querfriktion nach Dr. Cyriax dar. Hier handelt es sich um eine manuelle, rhythmische Querreibung von Weichteilstrukturen, die vor allem zur Schmerzlinderung eingesetzt wird. Querfriktionen können zum einen zur Bestätigung eines Befundes provokativ eingesetzt werden, dienen aber auch der Therapie u. a. bei Tendopathien, Insertionstendopathien und Tendovaginitiden. Häufig sind die Grifftechniken zur Lokalisierung der Struktur im Rahmen der Anatomie in vivo und die therapeutisch eingesetzten Techniken identisch. Die Unterschiede bestehen in Dauer und Intensität. ▶ Auswahl der Strukturen. Die Anatomie in vivo konzentriert sich daher in diesem Buch auf die wichtigsten Stellen des Bewegungsapparates, die Beschwerden an Arm oder Bein hervorrufen können. Dies sind häufig irritierte Gelenke, gereizte Sehnen, deren Insertionen und Sehnenscheiden. Weiterhin sind Muskelbäuche, Bursen und Ligamente das Ziel der bewussten Lokalisierung. Die Auswahl stellt die wichtigsten und am häufigsten betroffenen Stellen dar, an denen Untersuchungs- und Behandlungstechniken in der täglichen Praxis angewendet werden. Die Anleitungen orientieren sich an „normalen“, das heißt, an nicht pathologisch veränderten Strukturen des Bewegungsapparates. Um krankhafte Veränderungen erkennen zu können, muss man sich in der Palpation des Normalen gut auskennen. Um den Lernenden nicht zu irritieren haben Autor und Verlag in diesem Werk die Schreibweise der Nomina anatomica auch in der eingedeutschten resp. Kurzform beibehalten. Ist – als Beispiel – der Processus coracoideus thematisiert, so wird im Folgenden vom „Coracoideus“ berichtet. Das ist ebenso gängig wie nach den Regeln des Medizin-Duden falsch; letzterer (und die Bearbeitungsregeln des Verlages) verlangt: „Korakoideus“.

Zum Buch ▶ Zielgruppe. Dieses Buch richtet sich an diejenigen, die sich mit der Befundung und Behandlung von Störungen und Erkrankungen des Bewegungsapparates befassen. So sollte es erfahrenen Schülern in der Ausbildung der physiotherapeutischen Berufe, Teilnehmern von verschiedenen Fortbildungskursen, interessierten Medizinstudenten und Ärzten sowie dem erfahrenen Therapeuten möglich sein, sich anhand dieses Buches am Bewegungsapparat orientieren zu können.

▶ Was kann dieses Buch leisten? Auffrischen des topographischen und funktionellen Wissens, ● Trainieren der Palpationstechniken, ● Vermittlung der zu erwartenden Gewebswiderstände, ● palpatorische Differenzierung verschiedener Gewebetypen, ● Sicherheit im gezielten Auffinden wichtiger Strukturen, ● zur Erfahrung im Umgang mit der Anatomie am lebenden Körper beitragen ●

Die Arbeit hinter den Kulissen

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1.1 Wie wird der Vorgang der Palpation hier verstanden?

1 Basisprinzipien „Um gut zu fühlen, muss man selbst entspannt sein.“ (A. Vleeming, Berlin 2003)

Das Bedürfnis, für Befund und Therapie wichtige anatomische Details am lebenden Körper aufzufinden, besteht schon seit Beginn der Berufsausbildung der Masseure bzw. Physiotherapeuten und im medizinischen Studium. Anatomie zu erlernen, wird durch die ungeheure Flut von Informationen für Auszubildende oder Studenten schnell zur trockenen und abstrakten Materie. Schnell sind die üblichen didaktischen Möglichkeiten in Material und Zeit innerhalb einer Ausbildung in den medizinischen Assistenzberufen ausgeschöpft. Meistens fehlt das Wiedererkennen anatomischer Details an einem Präparat, beispielsweise während des Besuches eines pathologischen Institutes innerhalb der beruflichen Aus- bzw. Fortbildung. Der Transfer des theoretischen Wissens an den lebenden Körper gelingt ebenfalls selten. So wird Anatomie in vivo zum beiläufigen Geschehen in Ausbildung und Studium, zum Zufallsereignis in Befund und Behandlung am Patienten, zum Gegenstand eines mühevollen Eigenstudiums oder Inhalt teurer beruflicher Fortbildung. Bei dem anatomischen Bildmaterial, das in der Ausund Fortbildung zur Verfügung steht, handelt es sich meist um Zeichnungen und damit um das virtuelle Abbild einer Idealvorstellung, den vermuteten Durchschnitt. Damit verstößt dieses Bildmaterial gegen ein Grundprinzip der Anatomie – die Variation (Aland u. Kippers 2005). Selbst die Vorstellung der anatomischen Norm kann nicht einheitlich sein, sondern muss interindividuelle (zwischen 2 Personen) bzw. intraindividuelle (links – rechts) Abweichungen in Bezug auf Lage und Form beinhalten. Die alten Anatomiebücher lehren uns die möglichen topografischen und morphologischen Varianten bestimmter Beschaffenheiten. Etwas, was moderne Anatomiebücher häufig nicht mehr leisten. In den Anatomieklassikern von Lanz/Wachsmuth wird z. B. geschildert, zu welchem Prozentsatz aller Individuen eine gesuchte Struktur eben anders geformt oder vielleicht nicht vorhanden ist, wie z. B., dass die lumbale Wirbelsäule in 5–20 % (je nach zitierter anatomischer Studie) keine 5 Wirbel hat. Zum Variantenreichtum in der Abgrenzung aller Wirbelsäulenabschnitte meint Töndury (1968; in Lanz u. Wachsmuth 2004, S. 23): „Nur etwa 40 % aller Menschen haben ihre Grenzen [der Wirbelsäulenabschnitte] am normalen Ort“. Was bedeutet es, wenn sich die Sicherheit der topografischen Orientierung, also unser anatomisches Schulwissen, in Variationen verliert? Zunächst muss man offen und bereit sein, die Situation einer anatomischen Abweichung bei der gerade stattfindenden Palpation zu akzeptieren. Die Palpationserfahrung und das Vertrauen in die

1 anatomischen Gegebenheiten, die bei jedem Individuum regelmäßig auftauchen, werden immer wichtiger. Bestimmte Strukturen sind hinsichtlich Lage und Form recht konstant, demnach ohne große Variationen auffindbar, wie z. B. die Crista iliaca, die Skapula, das Sternum und die Rippen 1–10. Um die Varianten erkennen zu können, braucht man Erfahrung. Der Vorgang der Palpation geht zunächst von der topografischen Norm aus und überträgt dieses Wissen auf die Situation am lebenden Körper. Zunächst versucht man, eine bestimmte Struktur zu finden. Danach stellt man sich ihre ungefähre Lage und Form vor und beginnt dann mit der gezielten Ertastung. Mit der richtigen Technik und der richtigen Erwartung an das, was man fühlen sollte, sowie mit genügend Erfahrung wird man schnell erfolgreich sein.

Merke Je unsicherer die Orientierung an konkreten strukturellen Details gelingt, desto hilfreicher sind technische Tricks, Leitstrukturen oder Hilfszeichnungen, die eine richtige Palpation bestätigen können.

In jedem Fall sollte man nicht verzagen, wenn eine palpatorische Aufgabe nicht gleich und sicher zu erfüllen ist.

1.1 Wie wird der Vorgang der Palpation hier verstanden? In diesem Buch geht es um klinisch relevante Strukturen des Bewegungsapparates sowie erreichbare Leitungsbahnen (Gefäße und periphere Nerven). Es geht um das systematische Umsetzen des topografisch-anatomischen Wissens in gezielte Palpation am lebenden Körper. Dem Therapeuten soll eine schlüssige Systematik an die Hand gegeben werden, um die relevanten Strukturen schnell und sicher aufzufinden. Diese „Werkzeugkiste“ an Techniken beinhaltet nicht nur die eigentliche Palpation, sondern auch Hinweise darauf, was man bei der Suche erwarten kann und welche Schwierigkeiten sich entgegenstellen können. Dabei geht es vor allem nicht um das Neuerfinden von Palpationstechniken, sondern um das Verdeutlichen der Systematik und die ausführliche Dokumentation der Techniken in Wort und Bild. Das umfangreiche Bildmaterial gibt Gelegenheit, die Ausführung der eigenen Technik zu kontrollieren. Die Beschreibungen haben den Anspruch, dass auch ein sehbehinderter Therapeut jede Struktur nach Vorlesen des Textes sicher lokalisieren kann.

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Basisprinzipien Andere Autoren, wie z. B. Winkel 2004, die sich mit Anatomie in vivo beschäftigen, beziehen mit ein: ● Oberflächentopografie (Einteilung des Körpers in verschiedene Regionen), ● anthropometrische Methoden (z. B. Längen- und Umfangmessungen) sowie die ● allgemeine bzw. lokale Inspektion von Körperregionen. Hier soll bewusst darauf verzichtet werden und der systematische Vorgang der Palpation am Lebenden in den Vordergrund gestellt werden.

1.2 Wann wird Palpation angewendet? Die gezielte Palpation von Strukturen erfolgt bei der physiotherapeutischen Untersuchung und Behandlung.

1.2.1 Physiotherapeutische Untersuchung Die physiotherapeutischen Untersuchung beinhaltet: ● Abgrenzung von Behandlungsgebieten ● Bestätigung der vermuteten Lokalisation ● Konsistenzprüfung von Haut und Muskulatur ● Extremitäten: provokative Palpation an Ligamenten, Sehnen, Insertionen, Gelenkkapseln etc. ● Wirbelsäule: lokal segmentale Provokation und Überprüfung der segmentalen Mobilität ● Überprüfung des Kiefergelenkes Eines der Ziele innerhalb des Untersuchungsganges am Bewegungsapparat ist es, bestehende Beschwerden des Patienten mit einem gezielten Test auszulösen, um die lädierte Struktur zu identifizieren. Die Genauigkeit der Tests und die Interpretation möglicher Testergebnisse sind heutzutage recht ausgefeilt. Dennoch gelingt es nicht immer, z. B. eine schmerzhafte Sehne aus einer Muskelsynergie herauszudifferenzieren. Häufig sind die möglichen schmerzverursachenden Lokalisationen an einer Struktur binnen weniger Zentimeter verteilt. Sie können beispielsweise an der Insertion, an der Sehne bzw. am Muskel-Sehnen-Übergang desselben Muskels lokalisiert sein. In diesen Fällen hilft nur die provozierende Detailpalpation.

1.2.2 Grundlage einer regionalen bzw. lokalen Behandlung Die Behandlung beruht auf folgenden Methoden: ● regionale Behandlung: Massagetherapie, Funktionsmassagen, Bindegewebsmassage, elektro-, hydro-, thermo-, balneotherapeutische Anwendungen, Totaltechniken der Manuellen Therapie

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lokale Behandlung: segmentale schmerzlindernde Behandlungen, beweglichkeitserhaltende bzw. -fördernde lokal segmentale Mobilisationstechniken der Manuellen Therapie, Querfriktionen nach Cyriax, Kolonmassage

Affektionen der Weichteile des Bewegungsapparates treten meist an räumlich sehr eng umschriebenen Stellen auf. Nur große Traumen oder Entzündungen nehmen einen großen Raum ein. In der Behandlung von Weichteilaffektionen durch Anwendungen der Physikalischen Therapie/Physiotherapie werden auch lokale, thermische, elektrotherapeutische oder mechanische Applikationen eingesetzt. In jedem Fall kann eine lokale Applikation dieser Therapeutika nur dann eine Wirkung entfalten, wenn sie auch die lädierte Struktur treffen. Sicherheit vermittelt hier nur der routinierte, sichere Einsatz von Palpationstechniken für das Aufsuchen der entsprechenden Stelle.

1.3 Workflow einer Palpation „Was man nicht kennt, spürt man nicht.“ Dieser einfache Spruch verdeutlicht die für die lokale Palpation notwendige Grundlage der topografischen und morphologischen Anatomie. Es macht keinen Sinn, z. B. einen bestimmten Querfortsatz suchen zu wollen, wenn man keine konkrete Vorstellung von seiner Gestalt, Lage und der räumlichen Beziehung zu seiner Umgebung hat. Es ist jedoch nicht leicht, immer das genaue anatomische Wissen über die klinisch relevanten Strukturen abrufen zu können, und die Beschäftigung mit dieser sehr umfangreichen Materie erfordert viel Zeit und Motivation. Daher gehen jedem neuen thematischen Bereich 2 kurze theoretische Abschnitte voraus: ● Die funktionelle Bedeutung der jeweiligen Region, z. B. des jeweiligen Wirbelsäulenbereiches und seiner einzelnen Anteile: Dies stimmt auf das zu besprechenden Thema ein und weist auf den derzeitigen Kenntnisstand über das faszinierende Zusammenspiel der einzelnen Anteile hin. ● Notwendige topografische Vorkenntnisse: Es ist sehr nützlich, sich vor der gezielten Suche nach einzelnen Strukturen nochmals die topografischen Beziehungen vor Augen zu halten. Daher wird in Text und Abbildung auf die wichtigen anatomischen Details hingewiesen, die man zur Palpation benötigt. ▶ Abb. 1.1 zeigt, wie bei einer Palpation vorgegangen werden sollte.

Basisprinzipien Andere Autoren, wie z. B. Winkel 2004, die sich mit Anatomie in vivo beschäftigen, beziehen mit ein: ● Oberflächentopografie (Einteilung des Körpers in verschiedene Regionen), ● anthropometrische Methoden (z. B. Längen- und Umfangmessungen) sowie die ● allgemeine bzw. lokale Inspektion von Körperregionen. Hier soll bewusst darauf verzichtet werden und der systematische Vorgang der Palpation am Lebenden in den Vordergrund gestellt werden.

1.2 Wann wird Palpation angewendet? Die gezielte Palpation von Strukturen erfolgt bei der physiotherapeutischen Untersuchung und Behandlung.

1.2.1 Physiotherapeutische Untersuchung Die physiotherapeutischen Untersuchung beinhaltet: ● Abgrenzung von Behandlungsgebieten ● Bestätigung der vermuteten Lokalisation ● Konsistenzprüfung von Haut und Muskulatur ● Extremitäten: provokative Palpation an Ligamenten, Sehnen, Insertionen, Gelenkkapseln etc. ● Wirbelsäule: lokal segmentale Provokation und Überprüfung der segmentalen Mobilität ● Überprüfung des Kiefergelenkes Eines der Ziele innerhalb des Untersuchungsganges am Bewegungsapparat ist es, bestehende Beschwerden des Patienten mit einem gezielten Test auszulösen, um die lädierte Struktur zu identifizieren. Die Genauigkeit der Tests und die Interpretation möglicher Testergebnisse sind heutzutage recht ausgefeilt. Dennoch gelingt es nicht immer, z. B. eine schmerzhafte Sehne aus einer Muskelsynergie herauszudifferenzieren. Häufig sind die möglichen schmerzverursachenden Lokalisationen an einer Struktur binnen weniger Zentimeter verteilt. Sie können beispielsweise an der Insertion, an der Sehne bzw. am Muskel-Sehnen-Übergang desselben Muskels lokalisiert sein. In diesen Fällen hilft nur die provozierende Detailpalpation.

1.2.2 Grundlage einer regionalen bzw. lokalen Behandlung Die Behandlung beruht auf folgenden Methoden: ● regionale Behandlung: Massagetherapie, Funktionsmassagen, Bindegewebsmassage, elektro-, hydro-, thermo-, balneotherapeutische Anwendungen, Totaltechniken der Manuellen Therapie

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lokale Behandlung: segmentale schmerzlindernde Behandlungen, beweglichkeitserhaltende bzw. -fördernde lokal segmentale Mobilisationstechniken der Manuellen Therapie, Querfriktionen nach Cyriax, Kolonmassage

Affektionen der Weichteile des Bewegungsapparates treten meist an räumlich sehr eng umschriebenen Stellen auf. Nur große Traumen oder Entzündungen nehmen einen großen Raum ein. In der Behandlung von Weichteilaffektionen durch Anwendungen der Physikalischen Therapie/Physiotherapie werden auch lokale, thermische, elektrotherapeutische oder mechanische Applikationen eingesetzt. In jedem Fall kann eine lokale Applikation dieser Therapeutika nur dann eine Wirkung entfalten, wenn sie auch die lädierte Struktur treffen. Sicherheit vermittelt hier nur der routinierte, sichere Einsatz von Palpationstechniken für das Aufsuchen der entsprechenden Stelle.

1.3 Workflow einer Palpation „Was man nicht kennt, spürt man nicht.“ Dieser einfache Spruch verdeutlicht die für die lokale Palpation notwendige Grundlage der topografischen und morphologischen Anatomie. Es macht keinen Sinn, z. B. einen bestimmten Querfortsatz suchen zu wollen, wenn man keine konkrete Vorstellung von seiner Gestalt, Lage und der räumlichen Beziehung zu seiner Umgebung hat. Es ist jedoch nicht leicht, immer das genaue anatomische Wissen über die klinisch relevanten Strukturen abrufen zu können, und die Beschäftigung mit dieser sehr umfangreichen Materie erfordert viel Zeit und Motivation. Daher gehen jedem neuen thematischen Bereich 2 kurze theoretische Abschnitte voraus: ● Die funktionelle Bedeutung der jeweiligen Region, z. B. des jeweiligen Wirbelsäulenbereiches und seiner einzelnen Anteile: Dies stimmt auf das zu besprechenden Thema ein und weist auf den derzeitigen Kenntnisstand über das faszinierende Zusammenspiel der einzelnen Anteile hin. ● Notwendige topografische Vorkenntnisse: Es ist sehr nützlich, sich vor der gezielten Suche nach einzelnen Strukturen nochmals die topografischen Beziehungen vor Augen zu halten. Daher wird in Text und Abbildung auf die wichtigen anatomischen Details hingewiesen, die man zur Palpation benötigt. ▶ Abb. 1.1 zeigt, wie bei einer Palpation vorgegangen werden sollte.

1.3 Workflow einer Palpation

Der allgemeine Ablauf der Palpation

Summenformel der Anatomie in Vivo

Aufgabenstellung

Topografie x Technik x Erfahrung

Vorbereitung

Vorgang der Lokalisation

sicheres Ergebnis

Abb. 1.1 Workflow einer Palpation.

1.3.1 Aufgabenstellung und Lokalisation Die Aufgabe der gezielten Palpation detaillierter Strukturen ist aus bereits erwähnten Gründen die Lokalisation der gesuchten Struktur. Die Lokalisation beginnt meist auf „sicherem Terrain“, d. h., zunächst werden bekannte bzw. gut erreichbare Knochen (z. B. Os sacrum, Hinterhaupt) und Muskeln (M. erector spinae, M. semispinalis capitis) palpiert. Können diese sicher aufgesucht werden, beginnt man mit der Palpation von schwierigeren Strukturen, z. B. mit ossären, ligamentären und muskulären Details. Die Palpation bedient sich stets adäquater Techniken, d. h. für jede Struktur gibt es eine bestimmte Technik, mit der diese am besten aufgesucht werden kann.

Merke Die gezielte Palpation bedient sich immer adäquater Techniken. Für jede Struktur gibt es eine bestimmte, besonders geeignete Technik.

1.3.2 Das sichere Ergebnis Ob man die gesuchte Struktur auch tatsächlich gefunden hat, lässt sich dann durch bestimmte Tricks überprüfen (Anspannung bestimmter Muskeln, passives Bewegen der Wirbel usw.). Hilfreich ist es auch, die Struktur bzw. deren Begrenzungen aufzumalen. Es zwingt den Palpierenden, zu dokumentieren und damit sich festzulegen, dass sich die gesuchte Struktur nach ihrer Palpation und Zeichnung auch wirklich dort befindet. Dies wird umso spannender, wenn man sich in einer kleinen Lerngruppe auf die taktile Suche begibt und die Ergebnisse der Palpation gegenseitig überprüft. Vleeming (persönl. Mitteilung), Begründer des Spine and Joint Centre Rotterdam und Pionier der gezielten Palpation, empfiehlt in seinen Kursen, bei jeder Palpation, auch am Patienten, die palpierte Struktur anzuzeichnen.

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Abb. 1.2 Erfolgsformel der Anatomie in vivo.

Alle Autoren, die sich mit gezielter Palpation beschäftigen, berichten, wie wichtig praktische Erfahrung dabei ist. Nach Einschätzung des Autors sollte jede Struktur mindestens 10-mal gezielt und richtig aufgesucht werden, um eine etwaige Vorstellung von der anzuwendenden Technik sowie der Lage und Form der Struktur zu bekommen. Die Erfolgsformel für eine sichere Palpation ist in ▶ Abb. 1.2 dargestellt.

Merke Letztlich ist die Erfahrung der entscheidende Faktor zum Erreichen der notwendigen Sicherheit.

1.3.3 Zentrale Aspekte der Durchführung Der Palpationsvorgang selbst ist von 3 wesentlichen Merkmalen geprägt: ● Einsatz der geeigneten Palpationstechnik ● erwartete Konsistenz ● Differenzierung der Widerstände der palpierten Strukturen Die Notwendigkeit topografischer und morphologischer Kenntnisse sowie die Erfahrung im Umgang mit gezielter Palpation wurden bereits erwähnt. Jede Struktur erfordert eine bestimmte Palpationstechnik und eine Vorstellung davon, wie sie sich „anfühlen“ sollte. Es ist also wichtig, dass man vorher bereits recht genau weiß, welches Widerlager das Gesuchte dem drückenden oder schiebenden Finger entgegenbringt. So setzt man z. B. eine Palpation zur genauen Bestimmung einer knöchernen Kante rechtwinklig zur gesuchten Kante ein und erwartet ein hartes Widerlager – eine harte Konsistenz. Um Strukturen sicher zu bestimmen bzw. ihre Lage und Form gegenüber den umliegenden Geweben abzugrenzen, benötigt man Fertigkeiten, um die verschiedenen typischen Konsistenzen der jeweiligen Gewebe voneinander differenzieren zu können.

Merke Weich-elastische Gewebe prüft man langsam, um die Elastizität wahrnehmen zu können.

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Basisprinzipien

Merke Harte Gewebe prüft man mit einer schnellen Bewegung, um sie als hart zu empfinden.

Diese Prinzipien sind auch für die Endgefühlprüfungen bei angulären passiven Funktionstests und translatorischen Tests (Gelenkspieltests) zu empfehlen.

1.3.4 Palpationsdruck Generell wählt man bei Anwendung der jeweiligen Technik eher einen geringeren Palpationsdruck.

Merke

Abb. 1.3 Prüfung der Hautkonsistenz mit der Abhebeprobe.

▶ Erwartung: Hautbeschaffenheit: glatte, geschmeidige Haut, ggf. mit leichter Behaarung ● Hauttemperatur: einheitlich körperwarm ● Hautkonsistenz: weich und sehr elastisch, bei zunehmenden Zug fester werdend ●

Allgemein gilt: so viel Druck wie nötig und so wenig Druck wie möglich.

Manche Therapeuten behaupten, dass man immer mit geringem Druck palpieren sollte. Diese Aussage ist definitiv falsch. Der einzusetzende Druck orientiert sich an: ● der zu erwartenden Konsistenz der gesuchten Struktur. Sucht man z. B. eine knöcherne Kante oder Erhebung, kann man davon ausgehen, dass sie bei direktem Druck mit einem harten Widerstand antwortet. Hier palpiert man eher mit mehr Intensität, um diese harte Rückantwort auch zu spüren. Ein weiches Gewebe wird man mit reduzierter Stärke aufsuchen. Drückt man hier zu stark, ist man nicht in der Lage, die hohe Nachgiebigkeit dieses Gewebes wahrzunehmen. ● der Festigkeit und Dicke des darüberliegenden Gewebes. Tief liegende Knochenpunkte, die von einer kräftigen muskulären Schicht oder von Fettgewebe überdeckt werden, können mit einer leichten Palpation nicht erreicht werden. Ein geschickter Therapeut kann die gesuchte Struktur und die zu erwartende Konsistenz mit der adäquaten Technik und dem passenden Palpationsdruck gut lokalisieren.

1.4 Palpationstechniken 1.4.1 Palpation der Haut ▶ Beispiel. Rückseite des Rumpfes. ▶ Technik: ● Hautbeschaffenheit: Bestreichen der Haut mit der flachen Hand ● Hauttemperatur: Bestreichen der Haut mit der Handrückseite ● Hautkonsistenz: Verschieblichkeitstest, Abhebeprobe, Kiblerfalte

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▶ Kommentar. Die oben beschriebene Erwartung der Hautbeschaffenheit stellt den Idealfall bei einem jungen Menschen dar. Selbstverständlich sind altersbedingte Veränderungen der Haut nicht gleich pathologisch zu werten. Der Flüssigkeitshaushalt der Haut bestimmt deren Konsistenz, die wir anhand von Elastizitätsproben feststellen können: Verschieblichkeitstest, Abhebeprobe (▶ Abb. 1.3) und Kiblerfalte. Alle 3 vorgestellten Tests sollten zu dem gleichen Ergebnis führen, d. h., sie sollten die gleiche Elastizität und Empfindlichkeit bzw. deren Veränderung feststellen. Ist dies nicht der Fall, müssen die Techniken überprüft oder der Patient erneut befragt werden. Diese Tests stellen eine unterschiedlich hohe Dehnungsbelastung der Haut dar. Ein empfindliches oder deutlich geschwollenes Areal lässt sich mit dem Verschiebetest sicher befunden, kleine Konsistenzunterschiede sind besonders gut mit der intensiv dehnenden Kiblerfalte festzustellen.

Tipp Bei der Arbeit am Patienten genügt dem erfahrenen Therapeuten die Durchführung von lediglich einem geeigneten Test. Die Testauswahl hängt von der Gewebeempfindlichkeit ab. Grundsätzlich hat die Kiblerfalte die größte Aussagekraft.

Merke Die Prüfung der Hautkonsistenz erlaubt keine Aussage über einen veränderten Muskeltonus.

Basisprinzipien

Merke Harte Gewebe prüft man mit einer schnellen Bewegung, um sie als hart zu empfinden.

Diese Prinzipien sind auch für die Endgefühlprüfungen bei angulären passiven Funktionstests und translatorischen Tests (Gelenkspieltests) zu empfehlen.

1.3.4 Palpationsdruck Generell wählt man bei Anwendung der jeweiligen Technik eher einen geringeren Palpationsdruck.

Merke

Abb. 1.3 Prüfung der Hautkonsistenz mit der Abhebeprobe.

▶ Erwartung: Hautbeschaffenheit: glatte, geschmeidige Haut, ggf. mit leichter Behaarung ● Hauttemperatur: einheitlich körperwarm ● Hautkonsistenz: weich und sehr elastisch, bei zunehmenden Zug fester werdend ●

Allgemein gilt: so viel Druck wie nötig und so wenig Druck wie möglich.

Manche Therapeuten behaupten, dass man immer mit geringem Druck palpieren sollte. Diese Aussage ist definitiv falsch. Der einzusetzende Druck orientiert sich an: ● der zu erwartenden Konsistenz der gesuchten Struktur. Sucht man z. B. eine knöcherne Kante oder Erhebung, kann man davon ausgehen, dass sie bei direktem Druck mit einem harten Widerstand antwortet. Hier palpiert man eher mit mehr Intensität, um diese harte Rückantwort auch zu spüren. Ein weiches Gewebe wird man mit reduzierter Stärke aufsuchen. Drückt man hier zu stark, ist man nicht in der Lage, die hohe Nachgiebigkeit dieses Gewebes wahrzunehmen. ● der Festigkeit und Dicke des darüberliegenden Gewebes. Tief liegende Knochenpunkte, die von einer kräftigen muskulären Schicht oder von Fettgewebe überdeckt werden, können mit einer leichten Palpation nicht erreicht werden. Ein geschickter Therapeut kann die gesuchte Struktur und die zu erwartende Konsistenz mit der adäquaten Technik und dem passenden Palpationsdruck gut lokalisieren.

1.4 Palpationstechniken 1.4.1 Palpation der Haut ▶ Beispiel. Rückseite des Rumpfes. ▶ Technik: ● Hautbeschaffenheit: Bestreichen der Haut mit der flachen Hand ● Hauttemperatur: Bestreichen der Haut mit der Handrückseite ● Hautkonsistenz: Verschieblichkeitstest, Abhebeprobe, Kiblerfalte

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▶ Kommentar. Die oben beschriebene Erwartung der Hautbeschaffenheit stellt den Idealfall bei einem jungen Menschen dar. Selbstverständlich sind altersbedingte Veränderungen der Haut nicht gleich pathologisch zu werten. Der Flüssigkeitshaushalt der Haut bestimmt deren Konsistenz, die wir anhand von Elastizitätsproben feststellen können: Verschieblichkeitstest, Abhebeprobe (▶ Abb. 1.3) und Kiblerfalte. Alle 3 vorgestellten Tests sollten zu dem gleichen Ergebnis führen, d. h., sie sollten die gleiche Elastizität und Empfindlichkeit bzw. deren Veränderung feststellen. Ist dies nicht der Fall, müssen die Techniken überprüft oder der Patient erneut befragt werden. Diese Tests stellen eine unterschiedlich hohe Dehnungsbelastung der Haut dar. Ein empfindliches oder deutlich geschwollenes Areal lässt sich mit dem Verschiebetest sicher befunden, kleine Konsistenzunterschiede sind besonders gut mit der intensiv dehnenden Kiblerfalte festzustellen.

Tipp Bei der Arbeit am Patienten genügt dem erfahrenen Therapeuten die Durchführung von lediglich einem geeigneten Test. Die Testauswahl hängt von der Gewebeempfindlichkeit ab. Grundsätzlich hat die Kiblerfalte die größte Aussagekraft.

Merke Die Prüfung der Hautkonsistenz erlaubt keine Aussage über einen veränderten Muskeltonus.

1.4 Palpationstechniken

1.4.2 Palpation von Knochenkanten ▶ Beispiele. Spina scapulae (▶ Abb. 1.4), Akromionrand, Gelenklinie des Handgelenkes, verschiedene Gelenkspalte, Crista iliaca, Corpus costae, Proc. spinosus, Proc. mastoideus, Arcus mandibulae ▶ Technik. Rechtwinklige Palpation mit der Fingerspitze gegen die Knochenkante. ▶ Erwartung. Harte Konsistenz und eine klare Grenze. ▶ Kommentar. Mit dieser Technik lassen sich die äußeren Begrenzungen, die exakten Ränder einer knöchernen Struktur sehr genau darstellen. Daher ist es wichtig, den palpierenden Finger immer exakt gegen die Kante einzustellen. Jede andere Technik ist weniger zuverlässig. Dies ist insbesondere beim Aufsuchen von Dornfortsätzen und deren Abgrenzung zu benachbarten Procc. spinosi zu beachten.

Tipp Die harte Konsistenz und die eindeutige Palpation einer knöchernen Kante lassen sich am besten spüren, wenn man die Palpation in weicherem Gewebe beginnt und sich in kleineren Schritten auf die vermutete Knochenkante zubewegt.

Schwellungen und knöcherne Deformationen im Rahmen einer Arthrose verändern die zu erwartende Konsistenz und Kontur der jeweiligen Struktur an dem betroffenen Gelenk. Mit zunehmender Spannung der darüberliegenden Gewebe sind alle knöchernen Konturen erschwert zu lokalisieren. Dies bedeutet für die Palpation am Rumpf: Eine aktive Spannung der Muskulatur wird durch Lagerung des Patienten im freien Sitz erzeugt. Eine zunehmende Spannung aller Weichteile erreicht man durch deren Verlängerung, sobald die normalen Wirbelsäulenkrümmungen beim Einstellen einer ASTE verändert werden: Unterlagerung der LWS in Bauchlage, Sitz vor einer Therapiebank mit aufgelegten Armen. Schwellungen und knöcherne Deformationen verändern zudem die zu erwartende Konsistenz und Kontur der jeweiligen Struktur.

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1.4.3 Palpation von knöchernen Erhebungen ▶ Beispiele. Epicondylus medialis femoris, Tuberculum von Lister, Spina iliaca anterior superior, Tuberositas tibiae, Tuberculum Gerdyi, Spina iliaca posterior superior, Protuberantia occipitalis externa, sakrale Procc. spinosi ▶ Technik. Flächige und kreisende Palpation mit der Fingerbeere, wenig Druck ausüben. ▶ Erwartung. Erkennbare Erhebung gegenüber der umliegenden Knochenfläche. Die Struktur selbst setzt dem direkten Druck einen harten Widerstand entgegen. ▶ Kommentar. Die Spinae des Beckens sind meist als deutliche Erhebungen gegenüber der Umgebung abgrenzbar (▶ Abb. 1.5). Nicht immer sind die Grenzen so klar spürbar wie hier. Mit dieser Technik sind auch kleinere Erhebungen zu erfassen, die an den Extremitäten mit Tubercula oder Tuberositas bezeichnet werden. Eine flächige Bewegung des palpierenden Fingers erlaubt die Wahrnehmung der Form. Mit zu viel Druck gelingt die Palpation nur schwer, weil dann die Unterschiede in der Form und Lage nicht mehr gut wahrgenommen werden können. Den direkten Druck auf die Struktur nutzt man nur, um zu bestätigen, dass es sich um Knochen handelt.

Tipp Eine Vorstellung von der Form der knöchernen Erhebung bekommt man aus der morphologischen Anatomie. Varianten sind allerdings häufig zu erwarten siehe z. B. Protuberantia occipitalis externa (S. 369). Diese kann recht deutlich erhaben oder auch sehr flach ausgestaltet sein. Abb. 1.4 Palpation von Knochenkanten – hier am Beispiel der Spina scapulae.

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Basisprinzipien

Abb. 1.6 Palpation von Muskelbäuchen am Beispiel der kleinen Glutealmuskeln.

Stärke der Faszien

Abb. 1.5 Lokalisation der Spina iliaca posterior superior.

1.4.4 Palpation von Muskelbäuchen ▶ Beispiele. M. infraspinatus, M. deltoideus, M. erector spinae, M. semispinalis capitis, Mm. glutei (▶ Abb. 1.6) ▶ Technik. Flächige Palpation mit Fingerbeeren, wenig Druck, langsame Ausführung, meist quer zum Faserverlauf. ▶ Erwartung. Weiche Konsistenz, leicht nachgebendes Gewebe, lässt häufig das Erspüren tiefer liegender Strukturen zu. ▶ Kommentar. Mit einer oder mehreren Fingerbeeren kann man die Muskeln flächig auspalpieren. Der Druck sollte direkt gegen die Muskulatur gerichtet sein. Nur bei langsamer Durchführung ist die weiche und elastische Konsistenz des Gewebes zu fühlen.

Tipp Die Konsistenz hängt direkt von der Muskelspannung sowie Stärke bzw. Spannung der umhüllenden Faszie des Muskels bzw. des Rumpfabschnittes ab.

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Die Faszien sind z. B. auf der ulnaren Seite des Unterarmes, an der Wade oder der Innenseite des Oberschenkels sowie auf der ventralen und lateralen Seite des Rumpfes, im Nacken und am Hals sehr weich. Hier geben die Muskeln auf die direkte Palpation einfach nach und vermitteln auch einen besonders weichen, elastischen Eindruck. Sind die Faszien jedoch sehr fest, bieten auch normotone Muskeln bei Palpation einen deutlich festeren Widerstand. Klassische Beispiele sind an den Extremitäten die Außenseite des Oberschenkels sowie an der Vorderseite des Unterschenkels. Am Rumpf sind es die Fascia thoracolumbalis über dem lumbalen M. erector spinae und die Rektusscheide. Der erhöhte Widerstand kann einen leicht zur Aussage eines Hypertonus dieser Muskeln verleiten. Das Wissen um die Beschaffenheit der Faszien hilft uns jedoch bei der Entwicklung der richtigen Erwartung an die Konsistenz des Muskelgewebes.

Vorspannung der Faszien Merke Eine weitere Einflussgröße für die Konsistenz des Muskelgewebes und auch der Haut ist die Ausgangslänge der Muskeln und der umhüllenden Faszien. Eine angenäherte Muskulatur fühlt sich gewöhnlich weicher an als eine durch Vorspannung verlängerte.

An den Extremitäten sind es die Winkelstellungen der beteiligten Gelenke, die zur Annäherung bzw. Verlängerung führen. Bei einem M. quadriceps femoris mit 90° Kniebeugung ist es sehr schwer, lokale Muskelverhärtungen zu erspüren. Am Rumpf ist es die Lagerung, die einen erheblichen Einfluss auf die Muskellänge haben kann. Man testet den Unterschied in der Palpation des lumbalen oder thorakalen Rückenstreckers in der Ausgangsstellung (ASTE)

1.4 Palpationstechniken Sitz im Vergleich zur Bauchlage. Auch wenn der Patient das Gewicht seines Oberkörpers gegen Bank und Auflagen abstützen kann und seine Arme bequem abliegen, entsteht durch die Flexion/Kyphose der LWS infolge des Sitzens und durch die Vorneigung des Körpers eine Verlängerung der Muskulatur. Auf Druck erhält man ein wesentlich festeres Gefühl. Schnell ist man geneigt, dies als pathologischen Muskelhartspann zu interpretieren. Auch die Unterlagerung der LWS in Bauchlage, ein deutliches Absenken des Kopfteiles und die Elevation der Arme verändern die Spannungsverhältnisse der Rückenmuskulatur. Um einen Patienten beschwerdearm zu lagern oder geschickt zu untersuchen, lässt es sich manchmal nicht vermeiden, die Muskeln anzunähern oder zu verlängern. Wichtig ist, dass man dies in seine Erwartung an die Konsistenz der palpierten Muskulatur mit einbezieht und die Ergebnisse nicht falsch interpretiert. Nachfolgende Übungsbeispiele sollen verdeutlichen, wie Unterschiede in der Faszienspannung die Interpretation der dorsalen Palpation beeinflussen können. ● Übungsbeispiel 1: Ertasten Sie die Glutealregion vom Os sacrum ausgehend systematisch nach lateral. In einem Abschnitt zwischen Trochanter major und Crista iliaca spüren Sie häufig eine Zone mit vermeintlichen Verhärtungen. Hier verläuft der Tractus iliotibialis (Verstärkung der Faszie an Gesäß und Oberschenkel) von seiner Insertion am Beckenkamm in Richtung Trochanter major und zum seitlichen Oberschenkel. Versuchen Sie herauszufinden, wie sich die Konsistenz des Traktus bei direktem Druck verändert, wenn Sie das Hüftgelenk vorher einmal in vermehrter Abduktion bzw. in Adduktion lagern (unterschiedliche Konsistenzen durch Vorspannung bzw. Annäherung). ● Übungsbeispiel 2: Der direkte Druck auf den lumbalen Rückenstrecker wird bereits von einer festeren Faszie gebremst. Versuchen Sie herauszufinden, wie sich die Konsistenz des Rückenstreckers bei direktem Druck verändert, wenn Sie das Becken vorher einmal zu sich ziehen bzw. von sich wegschieben und somit eine lumbale Seitneigung erzeugen (unterschiedliche Konsistenzen durch Vorspannung bzw. Annäherung). Eine Zunahme an lumbaler Spannung erfahren Sie auch, wenn Sie den Probanden beide Arme deutlich über Kopf anheben lassen.

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Abb. 1.7 Palpation von Muskelrändern – hier am Beispiel des M. adductor longus.

(▶ Abb. 1.7). Ein gefundener Muskelrand wird kontinuierlich verfolgt, um Verlauf und Ausdehnung des Muskels wahrzunehmen. ▶ Erwartung. Unter Anspannung zeigen sich die Muskelränder mit einer festen Konsistenz und einer einheitlichen und glatten Kontur. Sie sind von den umliegenden Muskeln über größere und kleinere Lücken abzugrenzen. ▶ Kommentar. Mehrere benachbarte Muskeln und deren Begrenzungen können nicht ohne selektive Muskelaktivität identifiziert bzw. voneinander differenziert werden. Ausgenommen sind hier austrainierte Muskeln bei geringem Körperfettanteil sowie ein erhabenes Muskelrelief bei bestehendem Muskelhartspann.

Tipp Eine schnelle Identifizierung eines Muskels und seiner Ränder gelingt in schwierigen Situationen mit einer alternierenden Muskelanspannung. Hier führt der Patient einen schnellen Wechsel zwischen An- und Entspannung des Muskels aus. Dazu erhält der Patient eindeutige Anweisungen. Manchmal bietet sich die reziproke Hemmung als hilfreiches Mittel an, um benachbarte Muskeln „auszuschalten“. Mitunter lassen sich auch die Muskelränder im weiteren Verlauf als Sehnen bis zur knöchernen Insertion verfolgen.

1.4.5 Palpation von Muskelrändern ▶ Beispiele. M. sartorius, M. adductor longus (▶ Abb. 1.7), Handextensoren, M. semispinalis capitis, M. erector spinae, M. sternocleidomastoideus ▶ Technik. Eine Muskelbegrenzung wird meist unter leichter Anspannung des Muskels ertastet. Dabei kann der palpierende Finger mit allen Varianten eingesetzt werden (Fingerspitze, Fingerbeere, Fingerseite) und sollte möglichst gegen den Muskelrand gestellt werden

1.4.6 Palpation von Sehnen ▶ Beispiele. Sehnen der Extensorenfächer der Hand, Flexoren von Hand und Finger, Sehne des M. biceps brachii (▶ Abb. 1.8), Sehnen der Fuß- und Zehenflexoren, Sehnen der ischiokruralen Muskelgruppe Die Muskulatur des Rumpfes inseriert selten mit einer Sehne an den knöchernen Fixpunkten. Die „fleischige“ Insertion ist eher die Norm.

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Basisprinzipien ▶ Technik. Die eingesetzte Technik hängt vom Schwierigkeitsgrad des Auffindens und dem Ziel der Palpation ab: ● schwierig zu lokalisierende Sehne: mit der Fingerbeere flach und direkt auf die vermutete Stelle, anschließend die Muskulatur alternierend anspannen lassen ● einfach zu lokalisierende Sehne: mit der Fingerspitze gegen den Rand der Sehne, ggf. muss noch der Muskel angespannt werden ● zur Schmerzprovokation: Querfriktion mit der beschwerten Fingerbeere bei sehr hohem Druck auf der vermutlich lädierten Stelle ▶ Erwartung. Feste und, unter muskulärer Anspannung, sehr feste Konsistenz. Auch bei hoher Spannung bleibt eine Sehne unter direktem Druck immer noch etwas elastisch. Meist handelt es sich um eine runde Struktur mit klar abgrenzbarer Kontur. Abb. 1.8 Palpation von Sehnen – hier am Beispiel der Handund Fingerflexoren.

Exkurs: Behandlung von Sehnenpathologie durch Friktionen



Die von James Cyriax entwickelten Techniken der queren Friktion von Weichteilstruturen lassen sich nicht nur innerhalb der Untersuchung als provokative Palpation einsetzen. Sie werden auch zur Behandlung von entzündlichen Störungen an Muskel-Sehnen-Übergängen, Sehnen, Insertionen, Sehnenscheiden und Gelenkkapseln sowie bei schmerzhaften degenerativen Sehnenerkrankungen eingesetzt. In diesem Exkurs sollen die Durchführungsmodalitäten für nachfolgende Beispiele in späteren Kapiteln besprochen werden. Ausführliche Informationen findet man bei Reichert (2015).



Quer-/Längsfriktionen bei entzündlichen Affektionen Eine Schmerzlinderung innerhalb der Behandlung ist bereits nach wenigen Minuten zu erwarten. Hiernach kann entweder die Intensität erneut verstärkt oder eine benachbarte, jetzt schmerzhaftere, Stelle gesucht werden. Da die Bewertung des schmerzlindernden Effekts von den Angaben des Patienten abhängt, sollte er zu Beginn der Behandlung bewusst wahrnehmen, wie intensiv die Querfriktionen ausgeführt werden. ● Richtung: quer oder längs zum Faserverlauf der betroffenen Struktur ● submaximale Intensität: Querfriktionen dürfen vom Patienten deutlich empfunden werden, aber nicht ausdrücklich schmerzhaft sein. Er sollte nicht mehr als Stufe 2–3 von 10 der visuellen Analogskala (VAS) für Schmerzen verspüren.

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▶ Kommentar. Sehnen und deren Insertionen gehören zu den häufigsten Strukturen der Weichteile des Bewegungsapparates, die lokale Läsionen zeigen können (z. B. Insertionstendinitis, Tendinose). Daher muss man sich mit unterschiedlichen Herangehensweisen diesem straffen Bindegewebe nähern können.



Druckbetonung nur in eine Richtung Dauer etwa 5–10 min weitere Behandlungsverfahren: Salbenverbände mit antiphlogistischen Wirkstoffen, Detonisierung der betroffenen Muskelbäuche, funktionelle Tapeverbände, thermische und elektrotherapeutische Verfahren der physikalischen Therapie

Querfriktionen bei Tendinosen Beim hoch dosierten exzentrischen Training, das sich bei Tendinosen etabliert hat, tritt eine Schmerzlinderung erst nach einigen Wochen ein. Bevor das Modell der Beeinflussung der Neovaskularisation von Tendinosen den erfolgreichen Einsatz von Querfriktionen erklärte, folgten viele Therapeuten der Vorstellung von Prentice (1994), dass die Wirkung auf der Umwandlung einer chronischen in eine akute Entzündung basiere, die dann ausheilen würde. Von diesem Erklärungsmodell kann man jetzt Abstand nehmen, da bei der Heilung einer Tendinose keine Entzündungszeichen beobachtet werden (Alfredson u. Lorentzon 2002). ● Richtung: quer zum Faserverlauf der betroffenen Struktur ● hohe Intensität: Bei dieser Indikation muss der Patient mindestens eine 5/10 VAS für Schmerzen empfinden, um einen Einfluss auf die Neovaskularisation zu haben. ● Druckbetonung in beide Richtungen ● Dauer etwa 10–20 min ● Eine Schmerzlinderung innerhalb der Behandlung ist nicht zu erwarten. ● weitere Behandlungsverfahren: exzentrisches Training, nächtliche Dehnlagerungen

1.4 Palpationstechniken

Tipp

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Wird eine Querfriktion nach Cyriax zur Schmerzprovokation bzw. zur Behandlung eingesetzt, sollte die Sehne nicht unter dem ausführenden Finger wegrutschen. Damit sie stabil genug bleibt, wird der Muskel in eine verlängerte Position gebracht und dadurch die Sehne gespannt.

1.4.7 Palpation von Ligamenten ▶ Beispiele. Lig. patellae (▶ Abb. 1.9), Lig. collaterale mediale des Kniegelenkes, Lig. talofibulare am oberen Sprunggelenk. Die direkte Palpation von Ligamenten der Wirbelsäule ist, mit ganz wenigen Ausnahmen (supraspinale Ligamente, Lig. nuchae), nicht möglich. ▶ Technik: ● einfach zu lokalisierendes Band: mit der Fingerspitze gegen den Rand des Ligaments, z. B. Lig. sacrotuberale ● schwer zu lokalisierendes Band: Ligament vorspannen und mit direktem Druck die fest-elastische Konsistenz wahrnehmen, z. B. Lig. nuchae ● zur Schmerzprovokation: Querfriktion mit der beschwerten Fingerbeere und sehr hohem Druck direkt auf dem Band ▶ Erwartung. Feste, bei Dehnung sehr feste Konsistenz. Auch unter hoher Spannung bleibt ein Ligament immer noch etwas elastisch. ▶ Kommentar. Ein weiteres straffes Bindegewebe sind die Kapselverstärkungsbänder. Im Gegensatz zu den Sehnen lassen sich die meisten Ligamente nicht so einfach von der unverstärkten Kapsel oder anderen Geweben abgrenzen. Als Bestandteil der Membrana fibrosa der Gelenkkapsel zeigen sie nur sehr selten klare Ränder. Ausnahmen sind beispielsweise das Lig. patellae und das mediale Kollateralband des Kniegelenkes. Sonst muss man schon den jeweiligen Verlauf kennen und die zugehörigen knöchernen Fixpunkte ausfindig machen, um sich die Lokalisation vorstellen zu können.

Tipp Passives Vorspannen und muskuläre Anspannung zur Darstellung der Kontur und Bestätigung der Lokalisation helfen meist nicht. Will man provozierende oder therapierende Querfriktionen auf einem Ligament einsetzen, muss auch hier die jeweilige Struktur stabil unter dem Finger bleiben und darf nicht darunter wegrutschen. Daher wird das Gelenk in eine Position gebracht, die das Ligament strafft. Bei Patienten mit frisch überdehnten oder teilrupturierten Bändern erfolgt diese Voreinstellung natürlich mit der nötigen Sorgfalt, d. h. langsam und schmerzfrei.

Abb. 1.9 Palpation des Lig. patellae.

1.4.8 Palpation von Kapseln ▶ Beispiele: ● Test einer Schwellung: Maxierguss am Kniegelenk, Erguss am Ellenbogengelenk ● Schmerzprovokation: Facettengelenke der HWS (▶ Abb. 1.10) ▶ Technik: Test einer Schwellung: Die Palpation wird flächig und langsam mit den Fingerbeeren direkt auf der Kapsel ausgeübt. Dabei wird mehrfach wiederholt mit geringem Druck gearbeitet. ● Schmerzprovokation: Die Palpation erfolgt flächig und langsam mit den Fingerbeeren direkt auf der Kapsel. Dabei wird die Fingerbeere wiederholt mit geringem Druck über die Kapsel bewegt. ●

▶ Erwartung: Test einer Schwellung: Man erwartet eine sehr weiche Konsistenz und eine Fluktuation der Synovia in der geschwollenen Kapsel. ● Schmerzprovokation: Schmerzwahrnehmung und ggf. eine etwas weichere Konsistenz bei Arthritiden im Vergleich zu nicht betroffenen Kapseln. ●

▶ Kommentar. Das Ergebnis dieser Palpation an Extremitätengelenken, das Feststellen einer Schwellung, muss mit einem Befund der lokalen Inspektion zusammenpassen. Meistens ist die Palpation auf Wärme ebenfalls positiv.

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Basisprinzipien

1.4.9 Palpation von Bursen ▶ Beispiele. Bursa olecrani (▶ Abb. 1.11), Bursa ischiadica, Bursa trochanterica ▶ Technik. Die Palpation wird flächig und langsam mit den Fingerbeeren direkt auf der Bursa ausgeübt. Dabei wird mehrfach wiederholt mit geringem Druck gearbeitet. ▶ Erwartung. Normalerweise ist eine Bursa als Struktur nicht wahrzunehmen, da es sich hier um 2 aufeinanderliegende kapselartige Schichten handelt. Eine nicht entzündete Bursa ist auch nicht druckempfindlich. Bei einer Bursitis erwartet man eine weiche Konsistenz und eine Fluktuation der Flüssigkeit in der geschwollenen Bursa unter wiederholtem Tasten. ▶ Kommentar. Der Anlass für das Aufsuchen von Flüssigkeitsfluktuationen in einem Schleimbeutel ist ein vom Patienten angegebener lokaler Schmerz. Dieser entsteht bei der orientierenden Untersuchung, wenn eine Kompression der Bursa erzeugt wird. Bei einer Bursitis trochanterica sind die Aktivität gegen Widerstand in Richtung Abduktion sowie die passive Adduktion des Hüftgelenkes schmerzhaft.

Abb. 1.10 Palpation der Kapseln der zervikalen Facettengelenke.

Sowohl das sakroiliakale Gelenk, die Facettengelenke der LWS und BWS sowie die Kopfgelenke sind palpatorisch nicht direkt erreichbar. Eine Palpation auf Wärme und Schwellung ist an Gelenken der Wirbelsäule nicht üblich, da meist zu viele Weichteile darüber liegen. Im Vordergrund steht die palpatorische Schmerzprovokation zur Höhenlokalisation der zervikalen Facettengelenke. Das Ergebnis dieser Palpation, also die Feststellung einer Druckschmerzhaftigkeit mit eventueller Schwellung, muss mit einem Befund der Funktionsprüfung einhergehen (z. B. endgradig gekoppelte Bewegungen).

Tipp Neben der Suche nach Läsionen an einem verletzten kapselverstärkenden Ligament eines Extremitätengelenkes ist die Bestätigung einer kapsulären Schwellung ein weiterer wichtiger Anlass der Gelenkkapselpalpation bei Verdacht auf Arthritis.

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Abb. 1.11 Palpation von Bursen – hier am Beispiel der Bursa olecrani.

1.4 Palpationstechniken

Tipp

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Führt man die Palpation mit 2 Fingerbeeren durch, die abwechselnd den Druck ausüben, kann man das Hinund-her-Fließen der Flüssigkeit sehr gut spüren. Muskuläre oder sehnige Strukturen, die über die betroffene Bursa ziehen (Tractus iliotibialis über der Bursa trochanterica), sollten während der Palpation nicht angespannt oder gedehnt sein. Die Palpation durch diese Gewebe hindurch verändert natürlich die Konsistenz. Unter Umständen ist diese bei einer Bursitis nun nicht mehr weich, und eine Fluktuation ist nicht mehr zu ertasten. Die Technik dient dann nur der Schmerzprovokation bei vermuteten Bursitiden.

1.4.10 Palpation neuraler Strukturen

Abb. 1.12 Palpation von peripheren Nerven – hier am Beispiel des N. peroneus superficialis.

▶ Beispiele. N. medianus, N. ulnaris, N. tibialis, N. peroneus communis, N. peroneus superficialis (▶ Abb. 1.12), N. ischiadicus, Plexus brachialis

Tipp

▶ Technik. Mit der Fingerspitze wird quer zum Verlauf der gesuchten neuralen Struktur palpiert. Wird der Nerv vorher unter Spannung gesetzt, kann man über ihn rutschen, wie bei einer gespannten Gitarrensaite. Nicht zu geringen Druck anbringen und nicht zu langsam durchführen.







▶ Erwartung. Unter Vorspannung spürt man bei direktem Druck auf den Nerv eine sehr feste und elastische Konsistenz. ▶ Kommentar. Periphere Nervenkompressionen werden in der Untersuchung von Patienten immer häufiger erkannt. Manchmal erwecken sie den Anschein der Läsion eines Muskels oder einer Sehne. Beispielsweise imponiert eine Reizung des N. ulnaris medial am Ellenbogengelenk wie ein „Golfarmsyndrom“ und eine Irritation des N. radialis wie eine Sehnenscheidenentzündung im Fach I der Extensorensehnen. Neben weiteren hinführenden Symptomen ist eine gute palpatorische Ausdifferenzierung sehr hilfreich. Kompressionen und Dehnungen neuraler Strukturen spielen bei der Untersuchung von Patienten mit Wirbelsäulenbeschwerden eine große Rolle. Die Ergebnisse der Befundung lassen Hinweise auf Art und Ausmaß der Schädigung zu. Manchmal erwecken lokale Reizungen den Anschein einer Läsion eines Muskels oder einer Sehne. Beispielsweise stellt sich eine Reizung des N. ischiadicus am Tuber ischiadicum, ein „Hamstring-Syndrom“, wie eine Bursitis oder muskuläre Affektion der ischiokruralen Muskeln dar. Eine gute palpatorische Ausdifferenzierung neuraler Strukturen ist wiederum nur am Übergang zwischen Rumpf und Extremitäten sowie im weiteren Verlauf der Extremitäten möglich.



Ohne Vorspannung der neuralen Strukturen ist das Ertasten und Lokalisieren meist nicht möglich. Wichtige periphere Nerven für die obere bzw. untere Extremität sind besonders rumpfnah recht dick. Direkter Druck und kurzfristige quere Auslenkung in seinem Verlauf wird von einem Nerv recht gut vertragen. Hier ist keine übergroße Vorsicht erforderlich. Erst Dehnungen über die physiologische Grenze hinaus, wiederholte Friktionen oder lang anhaltender Druck werden nicht toleriert. Empfindliche Personen beschreiben Kribbelgefühle, falls die Vorspannung eines Nervs unangenehm sein sollte. Hilfslinien lassen häufig die Lage einer neuralen Struktur deutlich werden (z. B. N. ischiadicus am Becken).

1.4.11 Palpation von Gefäßen (Arterien) ▶ Beispiele. A. brachialis, A. femoralis, A. tibialis anterior, A. occipitalis (▶ Abb. 1.13) ▶ Technik. Ein Finger wird mit der Beere flächig und mit sehr geringem Druck auf die vermutete Lokalisation der Arterie gelegt. ▶ Erwartung. Hier geht es nicht um Konturen, unterschiedliche Konsistenzen oder um eine Schmerzprovokation im Rahmen eines Tests, sondern um die Wahrnehmung der Pulsation als „Anklopfen“ der Arterie an der Fingerbeere. Dies gelingt nur bei geringem Auflagedruck. Ist der eingesetzte Druck zu hoch, können die Rezeptoren der Fingerbeere die Pulsation von der Konsistenz der umgebenden Weichteile nicht mehr unter-

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Basisprinzipien

Tipp Während der Palpation der Arterien sollte nach Möglichkeit das darüber liegende Gewebe locker sein. Wenn man Schwierigkeiten hat, die Pulsation eines Gefäßes zu finden, kann man die eingesetzte Fläche erweitern und eine oder zwei Fingerbeeren hinzunehmen. In jedem Fall sollte man sich zur Palpation genügend Zeit nehmen, da sich das Gefühl der Pulsation nicht sofort einstellt.

1.5 Palpationshilfen Gelegentlich wird es notwenig sein, sich zur Lokalisation der gesuchten Strukturen einiger Hilfen zu bedienen.

1.5.1 Leitstrukturen Manchmal ist das genaue Auffinden einer anatomischen Struktur durch direkte Palpation nicht oder nur schwer möglich. Hier benutzt man gerne andere anatomische Strukturen, die den palpierenden Finger zur gesuchten Stelle führen. Leitstrukturen können Sehnen sein, die die Lage einer Struktur verdeutlichen. Auch Muskelränder oder bestimmte knöcherne Punkte (Referenzpunkte) können zur Orientierung genutzt werden.

Abb. 1.13 Palpation von Arterien – hier der A. occipitalis.

scheiden. Bei kleineren Arterien kann zudem das Gefäß durch zu hohen Druck abgedrückt werden, was das Erspüren der Pulsation erschwert. ▶ Kommentar. Die Kenntnisse über Lage und Verlauf dieser Gefäße haben in der physiotherapeutischen Untersuchung und Behandlung des Rumpfes eine geringere Bedeutung als an den Extremitäten. Dennoch sollte man bei manuellen Anwendungen mit kräftigem Druck die Kompression neuraler Strukturen und Gefäße am Rumpf vermeiden. Dazu ist es aber immer noch wichtig, die palpablen Gefäße und ihre Lokalisation zu kennen. Arterien sind an der Rumpfwand selten palpabel. Sie sind lediglich an Hinterkopf, Hals und Gesicht eindeutig zu spüren.

Merke Kenntnisse über Lage und Verlauf der Gefäße dienen in der Untersuchung von internistischen Patienten der palpatorischen Bewertung der peripheren arteriellen Versorgung von Arm und Bein.

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▶ Beispiele: ● Die Sehne des M. sternocleidomastoideus führt den palpierenden Finger zum Gelenkspalt des SC-Gelenkes (▶ Abb. 2.40) und zur Lokalisation des Proc. mastoideus. ● Die Sehne des M. palmaris longus verdeutlicht die Lage des N. medianus am Unterarm (▶ Abb. 4.82). ● Das Os scaphoideum erreicht man in der Tabatière, die von 2 Sehnen gebildet wird (▶ Abb. 4.42). ● Der Gelenkspalt des distalen Radioulnargelenkes liegt direkt unter der Sehne des M. extensor digiti minimi (▶ Abb. 4.34). ● Die Spitze der Patella liegt immer in Höhe des Kniegelenkspaltes (▶ Abb. 6.16). ● Der N. peroneus communis liegt in der Kniekehle ca. 1 cm neben der Sehne des M. biceps femoris (▶ Abb. 6.69). ● Die 12. Rippe und der Querfortsatz von Th 12 liegen in Höhe des Proc. spinosus von Th 11 (▶ Abb. 1.14).

1.5.2 Verbindungslinien Eine weitere Möglichkeit, eine sichere Lokalisation ohne direkte Palpation zu erreichen, ist die Zuordnung durch Verbindungslinien zweier sicherer knöcherner Punkte. Diese Hilfe benutzt man vor allem, wenn die anatomischen Gegebenheiten, von denen die Verbindungslinien ausgehen, nur wenige Variationen aufweisen.

Basisprinzipien

Tipp Während der Palpation der Arterien sollte nach Möglichkeit das darüber liegende Gewebe locker sein. Wenn man Schwierigkeiten hat, die Pulsation eines Gefäßes zu finden, kann man die eingesetzte Fläche erweitern und eine oder zwei Fingerbeeren hinzunehmen. In jedem Fall sollte man sich zur Palpation genügend Zeit nehmen, da sich das Gefühl der Pulsation nicht sofort einstellt.

1.5 Palpationshilfen Gelegentlich wird es notwenig sein, sich zur Lokalisation der gesuchten Strukturen einiger Hilfen zu bedienen.

1.5.1 Leitstrukturen Manchmal ist das genaue Auffinden einer anatomischen Struktur durch direkte Palpation nicht oder nur schwer möglich. Hier benutzt man gerne andere anatomische Strukturen, die den palpierenden Finger zur gesuchten Stelle führen. Leitstrukturen können Sehnen sein, die die Lage einer Struktur verdeutlichen. Auch Muskelränder oder bestimmte knöcherne Punkte (Referenzpunkte) können zur Orientierung genutzt werden.

Abb. 1.13 Palpation von Arterien – hier der A. occipitalis.

scheiden. Bei kleineren Arterien kann zudem das Gefäß durch zu hohen Druck abgedrückt werden, was das Erspüren der Pulsation erschwert. ▶ Kommentar. Die Kenntnisse über Lage und Verlauf dieser Gefäße haben in der physiotherapeutischen Untersuchung und Behandlung des Rumpfes eine geringere Bedeutung als an den Extremitäten. Dennoch sollte man bei manuellen Anwendungen mit kräftigem Druck die Kompression neuraler Strukturen und Gefäße am Rumpf vermeiden. Dazu ist es aber immer noch wichtig, die palpablen Gefäße und ihre Lokalisation zu kennen. Arterien sind an der Rumpfwand selten palpabel. Sie sind lediglich an Hinterkopf, Hals und Gesicht eindeutig zu spüren.

Merke Kenntnisse über Lage und Verlauf der Gefäße dienen in der Untersuchung von internistischen Patienten der palpatorischen Bewertung der peripheren arteriellen Versorgung von Arm und Bein.

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▶ Beispiele: ● Die Sehne des M. sternocleidomastoideus führt den palpierenden Finger zum Gelenkspalt des SC-Gelenkes (▶ Abb. 2.40) und zur Lokalisation des Proc. mastoideus. ● Die Sehne des M. palmaris longus verdeutlicht die Lage des N. medianus am Unterarm (▶ Abb. 4.82). ● Das Os scaphoideum erreicht man in der Tabatière, die von 2 Sehnen gebildet wird (▶ Abb. 4.42). ● Der Gelenkspalt des distalen Radioulnargelenkes liegt direkt unter der Sehne des M. extensor digiti minimi (▶ Abb. 4.34). ● Die Spitze der Patella liegt immer in Höhe des Kniegelenkspaltes (▶ Abb. 6.16). ● Der N. peroneus communis liegt in der Kniekehle ca. 1 cm neben der Sehne des M. biceps femoris (▶ Abb. 6.69). ● Die 12. Rippe und der Querfortsatz von Th 12 liegen in Höhe des Proc. spinosus von Th 11 (▶ Abb. 1.14).

1.5.2 Verbindungslinien Eine weitere Möglichkeit, eine sichere Lokalisation ohne direkte Palpation zu erreichen, ist die Zuordnung durch Verbindungslinien zweier sicherer knöcherner Punkte. Diese Hilfe benutzt man vor allem, wenn die anatomischen Gegebenheiten, von denen die Verbindungslinien ausgehen, nur wenige Variationen aufweisen.

1.5 Palpationshilfen

1

Abb. 1.14 Leitstrukturen. Die 12. Rippe führt zum Proc. spinosus von Th 11.

Abb. 1.16 Bewegung des oben liegenden Wirbels zur Bestätigung der Lokalistion eines Interspinalraumes.

1.5.3 Tricks zur Bestätigung einer Palpation

Abb. 1.15 Verbindungslinien an Becken und LWS.

▶ Beispiele: ● Die palpatorische Unterscheidung der einzelnen Handwurzelknochen untereinander ist durch eine direkte Palpation nur schwer oder gar nicht möglich. Hier sind Verbindungslinien sehr hilfreich (▶ Abb. 4.53). Dorsal kann man beispielsweise sicher annehmen, dass der Gelenkspalt zwischen dem Skaphoid und dem Lunatum auf der Hälfte der Verbindungslinie zwischen dem Caput ulnae und dem Tuberculum von Lister liegt. Dies hört sich im ersten Moment immer noch reichlich kompliziert an. Wenn man aber diese knöchernen Punkte sicher findet, ist die Verwendung der Verbindungslinien leicht. ● Der N. ischiadicus liegt auf der Hälfte der Verbindungslinie zwischen der Spitze des Tuber ischiadicum und der Spitze des Trochanter major (▶ Abb. 5.10). ● Die Verbindung beider superioren posterioren Spinae des Beckens liegt in Höhe des Proc. spinosus von S 2 (▶ Abb. 1.15). ● Der N. ischiadicus liegt auf der Hälfte der Verbindungslinie zwischen der Spitze des Tuber ischiadicum und der Spitze des Trochanter major.

Bei Unsicherheiten über das Palpationsergebnis kann man verschiedene Tricks einsetzen, um die Lokalisation zu bestätigen: ● Das erfolgreiche Aufsuchen des Gelenkspaltes eines zervikalen Facettengelenkes an der HWS bestätigt man am besten mit einer passiven Bewegung der HWS. ● Das erfolgreiche Aufsuchen eines Interspinalraumes bestätigt man am besten mit einer passiven Bewegung eines beteiligten Wirbels (▶ Abb. 1.16). ● Die Palpation der knöchernen Insertion eines Muskelbauchs bzw. eines Muskelrandes findet man durch muskuläre Anspannung in mehreren, kurzen Wiederholungen. ● Palpable Ligamente (z. B. Lig. nuchae) kann man durch eine ausgiebige Bewegung straffen und somit die Veränderung der Konsistenz spüren. ● Meint man, einen peripheren Nerv zu spüren, kann man über verschiedene Gelenkeinstellungen den Nerv auf Spannung bringen bzw. entspannen. Diese Tricks bewirken einen Wechsel der gespürten Widerstände, die genau auf die gesuchte Struktur hindeuten. Ziel der routinierten Palpation muss es aber sein, die gewünschten Lokalisationen auch ohne diese Hilfen zu finden. Manche Tricks lassen sich nicht am Patienten umsetzen. So lässt sich bei einem schmerzhaft geschwollenen Gelenk u. U. eine Bewegung zur Bestätigung desgesuchten Gelenkspaltes nicht einsetzen, ohne dem Patienten noch mehr Beschwerden zu verursachen. Eine Bewegung zur Bestätigung des gesuchten Interspinalraumes kann z. B. in einem schmerzhaften Segment nicht erzeugt werden, ohne dem Patienten größere Beschwerden zu bereiten.

33

Basisprinzipien

1.5.4 Zeichnungen

1.6 Literatur

Das Anzeichnen anatomischer Strukturen ist keine Pflicht und kommt somit bei der Arbeit am Patienten eher selten vor. Zur Übung am Probanden ist das Kennzeichen der Lage bzw. des Verlaufs einer Struktur jedoch sehr hilfreich. Zum einen verdeutlicht eine Zeichnung die Anordnung verschiedener anatomischer Gebilde und schult das räumliche Vorstellungsvermögen. Zum anderen verpflichtet eine Zeichnung, die ggf. von einer dritten Person nachgeprüft werden kann, zur sicheren Festlegung. Bei der Anfertigung einer Zeichnung heißt es „Hand aufs Herz“. In diesem Buch werden Zeichnungen der Strukturen auf der Haut, wie z. B. knöcherne Kanten, Ränder von Muskeln und Sehnen so dargestellt, wie sie am Probanden erspürt werden. Sie dienen einer besseren Vorstellung von der Lage der jeweiligen Struktur. Das Anzeichnen einer anatomischen Konstruktion bedeutet, eine palpierte dreidimensionale Struktur auf die nahezu zweidimensionale Oberfläche zu übertragen. Daher erscheint eine Zeichnung immer etwas ausgiebiger und breiter, als die palpierte Struktur tatsächlich ist. Je oberflächiger eine Struktur liegt, umso zuverlässiger bildet eine Zeichnung deren tatsächliche Größe ab.

Aland RC, Kippers V. Addressing Interindividual Variation within a Science Dissection based Anatomy Course. In: Abstracts of the ANZACA 2005: 2nd Annual Conference of the Australian and New Zealand Association of Clinical Anatomists. Dunedin, Otago, N.Z. (Abstract No. 1). 2–3 September 2005 Alfredson H, Lorentzon R. Chronic tendon pain: no signs of chemical inflammation but high concentrations of the neurotransmitter glutamate. Implications for treatment? Curr Drug Targets 2002;3: 43–54 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie, Rücken. Berlin: Springer; 2004 Prentice W. Therapeutic Modalities in Sports Medicine. 3. Aufl. St. Louis: Mosby; 1994: 336–349 Reichert B. Massage-Therapie. Stuttgart: Thieme; 2015 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in vivo. 3. Aufl. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2004

1.5.5 Ausgangsstellungen zur Palpation Für das Einüben der palpatorischen Fertigkeiten ist es meist erforderlich, die Techniken zunächst an einem Probanden und in geeigneten ASTEn durchzuführen. Für das Training ist das in jedem Fall zulässig, auch wenn diese ASTEn nicht immer den Behandlungssituationen entsprechen. Wenn die Handhabung der empfohlenen und später beschriebenen Techniken in den Übungs-ASTEn recht sicher gelingt, sollte man den Probanden in schwierigere und praxisnahe Lagerungen bringen und die Lokalisation erneut versuchen. Die Erfahrung zeigt sich in einer schnellen und sicheren Lokalisation der gesuchten Struktur in jeder ASTE.

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Schulterregion

2 Schulterregion 2.1 Einleitung 2.1.1 Bedeutung der Schulterregion Dieses Kapitel betrachtet die Schulterregion unter funktionellen und pathologischen Gesichtspunkten. Die Schulterregion gehört zu den größten Bewegungskomplexen des Bewegungsapparates. Sie umfasst: ● das glenohumerale Gelenk ● die Gelenke des Schultergürtels (akromioklavikulares und sternoklavikulares Gelenk) ● das skapulothorakale Gleitlager ● den zervikothorakalen Übergang bis zum Segment T 5–T 6 ● die Gelenke der Rippen 1–6 Das oberste funktionelle Prinzip der Schulterregion ist die Optimierung der Armbewegungen in einem möglichst großen Radius, um der Bewegung eine mobile und zugleich stabile Basis zu verleihen. Die endgradige Armhebung gilt als eine der komplexesten Bewegungen unseres Körpers. Das diffizile Zusammenspiel der einzelnen Anteile der Schulterregion birgt demnach auch vielfältige Möglichkeiten biomechanischer Störungen. In jeder beweglichen Verbindung kann der Grund für eine eingeschränkte Armhebung oder Instabilität liegen. Die Zahl der möglichen Ursachen für einen Schulter-/ Armschmerz ist vergleichsweise hoch. Neben projizierten und fortgeleiteten Schmerzen aus der Halswirbelsäule und dem Thoracic-outlet-Syndrom reicht die Palette möglicher Ursachen über Arthritiden, Laxitäten und Instabilitäten bis hin zu Weichteilläsionen im Sinne eines

Angulus superior Spina scapulae

internen oder externen Impingements mit Labrumläsionen oder Pathologien der Rotatorenmanschettenmuskeln. Daher sieht sich der Therapeut bei „Schulterpatienten“ häufig in der zwingenden Situation, eine umfangreiche Befunderhebung aller Anteile des Schulterkomplexes durchführen zu müssen, deren Interpretation häufig schwierig ist.

2.1.2 Häufige therapeutische Tätigkeiten, die Palpationskenntnisse in dieser Region erfordern ●







Gelenkspieltests und Techniken der Manuellen Therapie (z. B. glenohumeral, akromioklavikular und sternoklavikular) Laxitäts- und Instabilitätstests an den Gelenken der Schulterregion lokale Querfriktionen nach Cyriax, z. B. an Sehnen und Insertionen der Rotatorenmanschettenmuskeln lokale Applikationen von Elektro- und Thermotherapie an Muskulatur und Gelenkstrukturen

2.1.3 Notwendige anatomische Vorkenntnisse Lage und Form der Gelenkpartner aller „Schultergelenke“ sowie Lage, Verlauf und Insertionen der klinisch wichtigen Muskeln, z. B. des M. subscapularis und anderer, müssen bekannt sein. Da die klinisch wichtigen Strukturen gerade am Glenohumeralgelenk recht eng beieinan-

Akromion Caput humeri Tuberculum majus

Basis spina scapulae Margo medialis scapulae

Angulus inferior

Abb. 2.1 Topografische Übersicht in der Ansicht von dorsal.

36

2.1 Einleitung der liegen, ist hier ein gutes räumliches anatomisches Vorstellungsvermögen von Vorteil. Insbesondere Kenntnisse über die Form der Spina scapulae und des Akromions, des proximalen Humerus, die Dimensionen der Klavikula sowie die Lage der Gelenkspalte sind wichtig (▶ Abb. 2.1 bis ▶ Abb. 2.3).

Glenohumerales Gelenk Als Pfanne des Schultergelenkes steht die Cavitas oder Fossa glenoidalis dem Caput humeri gegenüber. Ihre Konkavität öffnet sich nach lateral, anterior und etwas superior, in Verlängerung der Spina scapulae. Da sich die Skapula als relativ platter Knochen der Thoraxform anpasst, kippt die Pfanne in der Sagittalebene nach anterior, sodass die anterior-posteriore Ausdehnung der CaviAC-Gelenk

tas nicht transversal ist, sondern sich von posterior-superior nach anterior-inferior neigt. Das Caput humeri ist nahezu kugelförmig und verzeichnet in der Transversalebene eine Retrotorsion von ungefähr 30° gegenüber der Achse durch die Epikondylen des Humerus. Diese Retrotorsion bestimmt das Bewegungsausmaß der Außen- und Innenrotation. Eine geringe Retrotorsion führt zu einer geringeren Außenrotation. In der Frontalebene hat das Caput eine Anwinkelung von ungefähr 45° gegenüber dem Humerusschaft. Da die Insertion der Kapsel am Collum anatomicum, direkt im Anschluss an das Caput humeri, liegt, bedeutet das eine Spannung der superioren Kapselanteile bei hängendem Arm. Um die superioren und inferioren Kapselanteile gleichermaßen zu spannen, muss der Arm demnach ungefähr 45° abduziert werden, was der Ruheposition des Gelenkes entspricht.

2

Klavikula

Akromion Caput humeri Tuberculum majus Tuberculum minus

Proc. coracoideus

Abb. 2.2 Topografische Übersicht in der Ansicht von ventral.

oberer Rand der Spina scapulae

Margo superior

Angulus acromialis Klavikula Akromion AC-Gelenk Spina acromialis Tuberculum majus Sulcus intertubercularis Tuberculum minus Proc. coracoideus

Abb. 2.3 Topografische Übersicht in der Ansicht von kranial.

37

Schulterregion Aus der Anatomie heraus, die sich auf Röntgenbefunden gestützt hat, wurde behauptet, dass das Schultergelenk inkongruent sei und die Krümmungsradien der Gelenkpartner somit eine schlechte Passform hätten (Inkongruenz). Demnach könne die Pfanne kaum einen Beitrag zur Stabilität des Schultergelenkes leisten. Studien an Präparaten und moderne Bildgebung (CT und MRT) zeigen eine hohe Kongruenz zwischen Kopf und Pfanne. Ausschlaggebend sind die Form des Knorpelbelags der Pfanne und das Labrum glenoidale. In der ▶ Abb. 2.4 ist das aktuelle Wissen über die FormverhältAkromion

Cavitas glenoidalis Gelenkknorpel des Humeruskopfes

Labrum glenoidale

Abb. 2.4 Glenohumerale Gelenkflächenkongruenz (nach Omer Matthijs).

Akromion

M. supraspinatus

M. infraspinatus

M. teres minor

nisse im glenohumeralen Gelenk zeichnerisch zusammengefasst. Der Knorpel ist an den Rändern dicker als im Zentrum der Pfanne. Die Tiefe der Pfanne und die somit entstehende Kongruenz spielen eine entscheidende Rolle bei der Stabilität des glenohumeralen Gelenkes. Das Labrum glenoidale ist eine faserknorpelige Struktur, sie vergrößert die Kontaktoberfläche und wirkt wie eine Saugglocke. Weiterhin benutzen die lange Bizepssehne und die Kapsel das Labrum als Ursprungsstelle. Insgesamt erzeugt die hohe Kongruenz eine derart starke Adhäsion zwischen den Gelenkflächen, sodass es kaum möglich ist, den Kopf von der Pfanne in Traktionsrichtung zu separieren. Gokeler konnte in einer Studie darstellen, dass es mit 14 kg Traktionskraft nicht möglich ist, Kopf und Pfanne zu distanzieren (Gokeler et al. 2003). Die ▶ Abb. 2.5 zeigt eine Aufsicht auf die Cavitas mit dem faserknorpeligen Ring (Labrum glenoidale) und eine Innenansicht der Kapsel mit den Verstärkungsstrukturen sowie der Lage der Sehnen der Rotatorenmanschette. Die Fasern der unverstärkten Kapsel sind etwas verdreht angelegt, bei der rechten Schulter in Uhrzeigersinn, sodass die Kapsel sich schneller bei Extension als bei Flexion spannt. Etwa die Hälfte der Kapseloberfläche ist Insertionsstelle für die Rotatorenmanschettenmuskeln, wodurch die Kapsel enorm verstärkt wird. Die breiteste Sehne hat der M. subscapularis (Ssc), der die Kapsel anterior unterstützt. Im superioren Bereich der Kapsel gibt es eine Lücke in den Muskelinsertionen. An dieser Stelle verlässt das Caput longum des M. biceps brachii die Kapsel, um im Sulcus intertubercularis weiter zu verlaufen. Das sogenannte Rotatorenintervall wird durch 2 Zügel des Lig. coracohumerale verstärkt und überdacht (Werner et al. 2000). Die 3 glenohumeralen Ligamente, Ligg. glenohumerale superius, medius und inferius, entspringen am Labrum-

Lig. coracohumerale

Proc. coracoideus Sehne d. M. biceps brachii caput longum Lig. glenohumerale superius M. subscapularis

Cavitas glenoidalis

Lig. glenohumerale medius Lig. glenohumerale inferius – anteriores Band

Lig. glenohumerale inferius – posteriores Band

Abb. 2.5 Glenohumeraler Kapselaufbau (nach Omer Matthijs).

38

Recessus axillaris

2.1 Einleitung rand. Sie verstärken die Kapsel anterior und inferior und bremsen einige Humerusbewegungen mit zunehmender Spannung. Der Effekt dieser zunehmenden Spannung ist das Zentrieren des Kopfes in der Pfanne bei zunehmendem Bewegungsausmaß. Zwischen den beiden Anteilen des inferioren Bandes verspannt sich der Recessus axillaris. Die wichtigste zentrierende Aufgabe hat das Lig. glenohumerale inferius (anteriorer Teil). Es wickelt sich bei zunehmender Abduktion und Außenrotation (Ausholphase der Wurfbewegung) um den Humeruskopf und verhindert somit eine abnorme Verlagerung des Kopfes nach anterior (Subluxation). Der M. subscapularis spielt hier eine entscheidende verstärkende Rolle. Akromion, Lig. coracoacromiale und der Proc. coracoideus bilden das Schulterdach, die Fornix humeri. Im subakromialen Raum liegen die Sehnen der Rotatorenmanschette sowie die Bursa subacromialis (ohne Abbildung). Im Rahmen von Entzündungsprozessen haben die Sehnen sowie die Bursa bei Flexions- und Abduktionsbewegungen die Möglichkeit, zwischen den Tubercula und dem Schulterdach impinged (eingeklemmt) zu werden. Die Sehnen der Mm. supraspinatus (Ssp) und infraspinatus (Isp) überlappen einander. Lediglich der M. teres minor (Tm) hat keine Gelegenheit, im Sinne eines sogenannten externen Impingements eingeklemmt zu werden.

Akromioklavikulares Gelenk Als klassische Amphiarthrose weist das akromioklavikulare Gelenk (AC-Gelenk) alle typischen Charakteristika auf: ● Es ist Teil des Bewegungskomplexes Schultergürtel. ● Es bewegt sich aufgrund fehlender eigener Muskelversorgung nur mit den benachbarten Gelenken mit. ● Durch eine eher plane Gelenkfläche und sehr straffe Ligamente ist es gering beweglich. Das Gelenk ist dennoch sehr klein und der Gelenkspalt weist nur eine Länge von ca. 1 cm auf (▶ Abb. 2.6). Viele Personen haben einen intraartikulären Diskus. Es gibt erhebliche Formvarianten des akromialen Klavikulaendes in Frontal- und Transversalebene (Da Palma 1963). wobei die Klavikula nicht immer konvex ist. Colegate-Stone et al. (2010) beschreiben eine gleichmäßige Verteilung von senkrechtem, schrägem und gebogenem (Klavikula konvex) Verlauf bei ihren untersuchten Präparaten. Eine besondere Formvariante ist eine Klavikula mit ansteigender Erhebung von beiden Seiten, die wie ein „Vulkan“ aussieht und die genaue Lokalisation des Gelenkspaltes erheblich erschwert. Die ligamentären Sicherungen des AC-Gelenkes unterteilt man (Saccomanno et al. 2014) in: ● intrinsische Ligamente: Ligg. acromioclaviculare superius und inferius. Das superiore ist recht kräftig und bremst primär alle transversalen Bewegungen, so z. B. die translatorischen Tests der Manuellen Therapie (▶ Abb. 2.36).

Lig. ac superius

Kapsel Lig. conoideum

Lig. ac inferius

2

Lig. trapezoideum

Abb. 2.6 Aufbau des AC-Gelenkes (nach Omer Matthijs). ●

extrinsische Ligamente: Ligg. coracoclavicularia (Ligg. conoideum und trapezoideum). Ausgenommen bei passiver Elevation der Schulter sind sie nie völlig entspannt. Sie garantieren die Stabilität bei großen transversal einwirkenden Kräften (wenn z. B. die intrinsischen Bänder gerissen sind) und bremsen die vertikalen Bewegungen zwischen Akromion und Klavikula.

Als Amphiarthrose hat das AC-Gelenk zwar keine separat bewegende Muskelversorgung, dennoch können Fasern der absteigenden Portion des M. trapezius und des klavikulären Anteils des M. deltoideus den Gelenkspalt überragen und in der Tiefe Kontakt mit der Kapsel aufnehmen. Daher eignen sich beide Muskeln zur aktiven Stabilisierung des Gelenkes.

Sternoklavikulares Gelenk Im sternoklavikularen Gelenk (SC-Gelenk) werden die Bewegungen des Schultergürtels geführt, während die Kräfte für die Schultergürtelbewegungen mehr an der Skapula einwirken (▶ Abb. 2.7). Bei Stützen auf Arm und Hand überträgt es Kompressionskräfte auf den Rumpf. Ebenso werden endgradige Armelevationen über die 1. Rippe an den zervikothorakalen Übergang weitergeleitet. In der anatomischen Klassifikation als Sattelgelenk geführt, erweist es sich funktionell durch Rotation der Klavikula bei Armelevation als ein Kugelgelenk. Das schmale sternale Ende der Klavikula artikuliert mittels eines Diskus mit der Gelenkfläche des Manubrium sterni. Der Diskus unterteilt jedes Gelenk in 2 Kompartimente. Der Gelenkspalt neigt sich in der Frontalebene um ca. 45° von superior-medial nach inferior-lateral. Das knöchern eher instabil angelegte Gelenk erhält seine Stabilität durch intrinsische (direkt kapselverstärkende) und extrinsische Ligamente (Sewell et al. 2013):

39

Schulterregion

Clavicula

Cartilago costalis

Lig. sternoclaviculare Lig. interanterius claviculare

Discus articularis

Lig. sternocostale Manubrium radiatum sterni

Art. sternocostalis

Lig. costoclaviculare

Costa I

Abb. 2.7 Aufbau des SC-Gelenkes.





intrinsische Ligamente: Ligg. sternoclavicularis anterius und posterius, Lig. interclavicularis extrinsisches Ligament: Lig. costoclavicularis

Vor allem das kostoklavikulare Band ist biomechanisch hochinteressant. Es ist 3–10 mm lang und schließt sich der SC-Gelenkkapsel direkt lateral an (Tubbs et al. 2009). Endgradige Armelevationen werden über dessen Spannung auf die 1. Rippe und weiter an den zervikothorakalen Übergang weitergeleitet. Bei Pro- und Retraktionen gerät dieses Ligament auf Spannung und wird somit zur Umdrehungsachse. Daher verhält sich die Klavikula bei Bewegungen in beiden Ebenen im Sinne der Konvexregel. Bei einem Sturz auf den Arm mit protrahierter Schulter kann die Klavikula im schlimmsten Fall nach posterior luxieren.

2.2 Allgemeine Orientierung dorsal 2.2.1 Kurzbeschreibung des Palpationsganges Wir beginnen dorsal an der Skapula, orientieren uns in Richtung Schultereckgelenk, wenden uns dann der Region des SC-Gelenkes zu, um dann an der ventrolateralen Seite den Palpationsgang zu beenden. Diese Reihenfolge hat sich aus den Erfahrungen der Fortbildungskurse entwickelt und ist eine reine didaktische Empfehlung. Selbstverständlich kann der Thera-

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peut jederzeit an einer beliebigen Stelle die Palpation beginnen.

ASTE Das detaillierte Aufsuchen der wichtigsten Strukturen des Schultergürtels erfolgt in einer Übungs-ASTE. Der Proband sitzt aufrecht auf einem Stuhl oder auf einer Therapiebank, sodass die Schulterregion mühelos erreicht werden kann. Die Anteile der Schulterregion befinden sich in dieser Ausgangsstellung allgemein in einer neutralen Position und alle Strukturen sind gut zugänglich. Die dorsale Orientierung dieser Region beginnt mit der allgemeinen Betrachtung der topografischen Lage der Skapula im Verhältnis zur Wirbelsäule und zum Thorax und prüft weiterhin die Position der meist gut erkennbaren Knochenpunkte (Angulus inferior und Akromion). Daher steht der Therapeut zunächst hinter dem Probanden.

2.2.2 Topografische Lage der Skapula Der Angulus superior liegt in Höhe der Unterkante des Proc. spinosus von Th 1 und gleichzeitig in Höhe der 2. Rippe (▶ Abb. 2.8). Der palpatorisch deutlich lokalisierbare Angulus inferior liegt in Höhe der Unterkante des Proc. spinosus Th 7 bzw. lateral in Höhe Rippe 7. Der dreieckförmige Beginn der Spina scapulae ist etwa in Höhe des Proc. spinosus von Th 3 zu suchen (Winkel 2004, Kapandji 2006, Williams 2009, S. 745 f.).

Schulterregion

Clavicula

Cartilago costalis

Lig. sternoclaviculare Lig. interanterius claviculare

Discus articularis

Lig. sternocostale Manubrium radiatum sterni

Art. sternocostalis

Lig. costoclaviculare

Costa I

Abb. 2.7 Aufbau des SC-Gelenkes.





intrinsische Ligamente: Ligg. sternoclavicularis anterius und posterius, Lig. interclavicularis extrinsisches Ligament: Lig. costoclavicularis

Vor allem das kostoklavikulare Band ist biomechanisch hochinteressant. Es ist 3–10 mm lang und schließt sich der SC-Gelenkkapsel direkt lateral an (Tubbs et al. 2009). Endgradige Armelevationen werden über dessen Spannung auf die 1. Rippe und weiter an den zervikothorakalen Übergang weitergeleitet. Bei Pro- und Retraktionen gerät dieses Ligament auf Spannung und wird somit zur Umdrehungsachse. Daher verhält sich die Klavikula bei Bewegungen in beiden Ebenen im Sinne der Konvexregel. Bei einem Sturz auf den Arm mit protrahierter Schulter kann die Klavikula im schlimmsten Fall nach posterior luxieren.

2.2 Allgemeine Orientierung dorsal 2.2.1 Kurzbeschreibung des Palpationsganges Wir beginnen dorsal an der Skapula, orientieren uns in Richtung Schultereckgelenk, wenden uns dann der Region des SC-Gelenkes zu, um dann an der ventrolateralen Seite den Palpationsgang zu beenden. Diese Reihenfolge hat sich aus den Erfahrungen der Fortbildungskurse entwickelt und ist eine reine didaktische Empfehlung. Selbstverständlich kann der Thera-

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peut jederzeit an einer beliebigen Stelle die Palpation beginnen.

ASTE Das detaillierte Aufsuchen der wichtigsten Strukturen des Schultergürtels erfolgt in einer Übungs-ASTE. Der Proband sitzt aufrecht auf einem Stuhl oder auf einer Therapiebank, sodass die Schulterregion mühelos erreicht werden kann. Die Anteile der Schulterregion befinden sich in dieser Ausgangsstellung allgemein in einer neutralen Position und alle Strukturen sind gut zugänglich. Die dorsale Orientierung dieser Region beginnt mit der allgemeinen Betrachtung der topografischen Lage der Skapula im Verhältnis zur Wirbelsäule und zum Thorax und prüft weiterhin die Position der meist gut erkennbaren Knochenpunkte (Angulus inferior und Akromion). Daher steht der Therapeut zunächst hinter dem Probanden.

2.2.2 Topografische Lage der Skapula Der Angulus superior liegt in Höhe der Unterkante des Proc. spinosus von Th 1 und gleichzeitig in Höhe der 2. Rippe (▶ Abb. 2.8). Der palpatorisch deutlich lokalisierbare Angulus inferior liegt in Höhe der Unterkante des Proc. spinosus Th 7 bzw. lateral in Höhe Rippe 7. Der dreieckförmige Beginn der Spina scapulae ist etwa in Höhe des Proc. spinosus von Th 3 zu suchen (Winkel 2004, Kapandji 2006, Williams 2009, S. 745 f.).

2.2 Allgemeine Orientierung dorsal

2

Abb. 2.8 Lage der Skapula zur Wirbelsäule.

Abb. 2.9 Bewegung der Skapula bei endgradiger Arminnenrotation.

Tipp Diese einigermaßen konstant beschriebenen Zuordnungen gelten aber nur für die ASTE Sitz bei ruhender Schulter. Wechselt der Patient z. B. in eine Seitenlage, ist diese Zuordnung nicht mehr sicher, da sich die Lage der Skapula ändert (z. B. mehr Elevation oder Abduktion).

Margo medialis scapulae Bei endgradiger Arminnenrotation folgt die Skapula mit einem Wegklappen der Margo medialis von der Thoraxwand (▶ Abb. 2.9). Diese normale Unterstützung der Armbewegung sollte nicht als pathologisch betrachtet werden. Lediglich Zeitpunkt und Ausmaß dieser Bewegung lassen Rückschlüsse auf die Innenrotationsfähigkeit des Schultergelenkes zu. Ein ausgiebiges Wegklappen der Skapula lässt auf eine verminderte Innenrotationsfähigkeit des glenohumeralen Gelenkes oder eine große Retrotorsion des Humerus schließen. Die Margo medialis ist bei ruhendem Arm meist nur dann sichtbar, wenn die Stabilisation der Skapula gegen den Thorax durch eine muskuläre Schwäche der Mm. rhomboidei und vor allem des M. serratus anterior vermindert ist. Eine deutliche Schwäche oder Lähmung die-

Abb. 2.10 Scapula alata bei Parese des M. serratus anterior auf der linken Seite.

ser Muskeln bewirkt ein Wegkippen der Skapula besonders bei Armelevation, das als Scapula alata bekannt ist (▶ Abb. 2.10).

41

Schulterregion

2.3 Lokale Palpation dorsal 2.3.1 Übersicht über die Strukturen ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Angulus inferior scapulae Margo medialis scapulae Angulus superior scapulae Spina scapulae – inferiore Kante Angulus acromialis Akromion Spina scapulae – superiore Kante M. supraspinatus – Muskelbauch M. infraspinatus – Muskel-Sehnen-Übergang, Sehne und Ansatz

2.3.2 Kurzfassung des Palpationsganges Nach der einführenden Orientierung an der Schulterrückseite werden zunächst einige wichtige knöcherne Strukturen aufgesucht. Man beginnt zunächst medial und palpiert über die Spina scapulae zur lateralen Schulterregion. Hier interessieren vor allem die verschiedenen Anteile des Akromions. Sie führen uns zu 2 klinisch sehr wichtigen Strukturen, den Mm. supra- und infraspinatus.

Abb. 2.11 Position des Angulus inferior bei endgradiger Armelevation.

ASTE Die ASTE des Patienten ist die gleiche wie im vorhergehenden Abschnitt (Kap. 2.2.1).

2.3.3 Palpation einzelner Strukturen Angulus inferior scapulae Er ist ein wichtiger Referenzpunkt zur Beurteilung der Skapulabewegungen. Während einer Armhebung dient er dem Betrachter als Orientierung zur Beurteilung des Ausmaßes der Skapulaabduktion, -innen- und -außenrotation in Bezug zur Wirbelsäule.

Technik Um die Skapularotation zu beurteilen, palpiert man den Angulus inferior zunächst in der Ruhestellung der Skapula. Anschließend fordert man den Patienten zu einer Armhebung auf. Dabei ist es für die Skapulabewegung prinzipiell unerheblich, ob diese über Flexion oder Abduktion erfolgt. Am Ende der Armhebung realisiert man erneut palpatorisch die Lage des Winkels und beurteilt das Ausmaß der Bewegung, auch im Vergleich zur anderen Seite (▶ Abb. 2.11). Die exakte Lokalisation wird hier ggf. durch einen kräftigen M. latissimus dorsi erschwert. Nicht nur das Bewegungsausmaß ist für die Analyse der Skapulabewegung interessant. Ungleichmäßige oder gar ruckartige Bewegungen des Angulus inferior während der unterstützenden Mitbewegung bei einer Armeleva-

42

tion lassen auf eine schlechte Koordination bzw. mangelnde Kraft des M. serratus anterior schließen. Hierbei unterscheidet man vor allem zu Beginn und zum Schluss der Armelevation auffällige Scapulabewegungen, die man als Skapulawinging oder Skapulatipping bezeichnet. Scapulawinging beschreibt das kurzfristige Abklappen der Margo medialis in der Transversalebene. Das kurze Abheben des Angulus inferior in der Sagittalebene beschreibt der Begriff Scapulatipping. Eine mangelnde Unterstützung der Armhebung durch den Schultergürtel, messbar an der Bewegung der Skapula, ruft nicht nur eine verminderte Gesamtbewegung hervor, sondern kann auch die Ursache für verschiedene Formen des externen bzw. internen Impingements des Schultergelenkes sein.

Margo medialis scapulae Sie wird mit einer rechtwinkligen Palpationstechnik lokalisiert und von kaudal nach kranial verfolgt. Hier bietet sich dem Übenden die erste Möglichkeit, diese Technik bewusst einzusetzen und zwischen der weichen und elastischen Konsistenz der Muskulatur und dem harten Widerstand einer Knochenkante zu unterscheiden.

2.3 Lokale Palpation dorsal

2

Abb. 2.12 Palpation der Margo medialis.

Technik Die palpierenden Fingerkuppen stoßen von medial gegen die Kante (▶ Abb. 2.12). Die Lokalisation der Kante ist im unteren Bereich einfach, da es hier vergleichsweise wenige Muskeln gibt, die den Zugang erschweren. Verfolgt man die Kante nach kranial, wird das genaue Ertasten schwierig.

Tipp Sollten schwierige Bedingungen das Aufsuchen der Kante stark behindern, kann zur Hilfestellung der Arm in Innenrotation geführt und dadurch ein Wegklappen der Margo medialis bewirkt werden (▶ Abb. 2.9). Das Ziel der Palpationsübung sollte dennoch das Ausfindigmachen dieser Knochenkante bei jeder Schulter und bei unterschiedlichen Gewebsbedingungen sein.

Angulus superior scapulae Der Angulus superior liegt am kranialen Ende der Margo medialis und etwa in Höhe der 2. Rippe und liegt damit meist weiter kranial als vermutet.

Technik Der Finger wird in Verlängerung der Margo medialis am Hinterrand des Muskelbauchs der absteigenden Portion des M. trapezius platziert und palpiert von kranial gegen den Winkel.

Abb. 2.13 Palpation des Angulus superior.

Tipp Der Angulus superior ist sehr schwierig zu ertasten. Der vorbeilaufende M. trapezius und der inserierende M. levator scapulae zeigen hier häufig einen hohen Tonus, sodass der Unterschied zwischen dem erhöhten Muskeltonus und dem Angulus schwierig wird. Weiterhin liegt das häufig empfindliche erste Kostotransversalgelenk direkt kranial. Der Therapeut kann dieses Differenzierungsproblem lösen, indem er eine passive Schultergürtelelevation einbringt. Über den hängenden Arm bringt man mittels eines axialen Schubes eine Schulterelevation ein. Der Angulus superior zeigt sich dann mit einem Druck von kaudal gegen den palpierenden Finger (▶ Abb. 2.13).

Spina scapulae – inferiore Kante Sie ist eine weitere wichtige knöcherne Referenzgröße der dorsalen Palpation. Von hier aus hat der Therapeut den sicheren Zugang zum Akromion nach lateral sowie zu den Bäuchen klinisch auffälliger Muskeln (Mm. supraund infraspinatus). Der Verlauf der Spina scapulae zeigt die Richtung der Öffnung der Schultergelenkspfanne (Cavitas glenoidalis). In der Manuellen Therapie bedeutet

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Schulterregion

Abb. 2.14 Palpation der inferioren Kante der Spina scapulae.

dies die Traktionsrichtung für das Glenohumeralgelenk. Daher sollte der Manualtherapeut vor einer Traktion des Gelenkes die Richtung durch Palpation der Spina scapulae realisieren.

Technik Die Palpation der unteren bzw. oberen Kante der Spina scapulae erfolgt mit der bereits bekannten rechtwinkligen Technik. Da die Mm. supra- und infraspinatus nicht selten einen recht hohen Tonus haben, ist das genaue Aufsuchen etwas schwieriger als an der Margo medialis. Die Palpation der unteren Kante erfolgt von medial nach lateral. Der Verlauf der Spina ist geschwungen und wellenförmig. Dies entsteht durch den Zug der muskulären Ansätze, z. B. des aufsteigenden Teils des Trapeziusmuskels. Zur genauen Lokalisation gibt man etwas Druck mit den Fingerbeeren gegen den elastischen Widerstand von Haut und Muskulatur auf der Rückseite der Skapula und bewegt den palpierenden Finger nach kranial, bis die Fingerbeeren gegen einen harten Gegendruck stoßen (▶ Abb. 2.14). In dem Raum zwischen Unterkante der Spina scapulae, dem Angulus inferior und der Margo lateralis scapulae befindet sich der Muskelbauch des M. infraspinatus.

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Abb. 2.15 Palpation des Angulus acromialis.

Angulus acromialis Technik Am lateralen Ende der unteren Kante gelangt man an einen Winkel, der beim hängenden Arm deutlich prominent ist: der Angulus acromialis (▶ Abb. 2.15). An dieser Stelle beschreibt die Unterkante der Spina einen nahezu rechtwinklige Auslenkung und verläuft als Akromionrand nach ventromedial.

Akromion Die knöcherne Schulterhöhe ist ebenfalls ein wichtiger Referenzpunkt, dessen Höhe in dorsaler Betrachtung bei ruhender Schulter Auskunft über einen möglichen „Schulterhochstand“ geben kann. Während einer Armhebung dient es dem Betrachter als Orientierung zur Beurteilung des Ausmaßes und der Geschwindigkeit der Schultergürtelmitbewegung in Richtung Elevation und, von der Seite betrachtet, in Richtung Retraktion.

Tipp Die laterale Kante des Akromions hat eine allgemeine Ausrichtung nach anterior, medial und etwas nach superior. Verlauf und Dimension des Akromions sind stark intra- und interindividuell verschieden und erfordern eine genaue Palpation, die später beschrieben wird.

2.3 Lokale Palpation dorsal

2

Abb. 2.16 Palpation der superioren Kante der Spina scapulae.

Abb. 2.17 Querfriktion des Muskelbauchs des M. supraspinatus.

Spina scapulae – superiore Kante

M. supraspinatus – Muskelbauch

Beim nächsten Schritt der Palpation verfolgt man die superiore Kante der Spina scapulae von medial nach lateral, bis diese auf den hinteren Rand der Klavikula stößt. Man wird feststellen, dass die Spina deutlich dicker ist, als man sich dies zunächst vorstellt. Projiziert man die superiore und inferiore Kante durch ein Anmalen auf die Haut, so sind diese nahezu parallel zueinander, erscheinen sehr breit und haben sicher einen Abstand von ca. 2 cm.

Zwischen der oberen Kante der Spina scapulae und dem deszendierenden Anteil des M. trapezius liegt der Muskelbauch des M. supraspinatus in seiner knöchernen Grube. Zwischen dem Angulus superior und dem „hinteren V“ ist sein Muskelbauch bzw. weiter lateral der MuskelSehnen-Übergang palpabel.

Technik Die Palpation erfolgt erneut mit der Technik der rechtwinkligen Palpation, diesmal mit der Fingerbeere von kranial gegen die Kante stoßend und verfolgt diese vom medialen Beginn der Spina nach lateral (▶ Abb. 2.16). Man kann die Spina von der Basis bis zum Akromion verfolgen. Die Palpation endet lateral, indem die Fingerkuppe gegen einen weiteren harten Widerstand stößt. Dies ist die hintere Kante der Klavikula. Beide Knochenkanten (obere Kante der Spina scapulae und hintere Begrenzung der Klavikula) laufen zusammen und verjüngen sich zu dem „hinteren V“ (▶ Abb. 2.27).

ASTE Zum Auffinden des Muskelbauchs muss der Patient keine besondere Position einnehmen. Er bleibt im aufrechten Sitz, seine Schulter sollte von lateral gut zu erreichen sein. Zur besseren Erreichbarkeit des Muskel-Sehnen-Überganges kann man den Muskel durch eine passive Armabduktion in Skapulaebene (Scaption) annähern (▶ Abb. 2.17). Somit verschiebt sich der Muskel-Sehnen-Übergang und ist daher leichter palpatorisch erreichbar.

Technik Da der Muskelbauch des M. supraspinatus tief in der Fossa supraspinata liegt und nur an seiner schmalen Oberfläche direkt erreichbar ist, muss man eine Technik benutzen, die räumlich eng begrenzt appliziert wird, aber intensiv genug ist, die betroffenen Stellen zu erreichen. Die Palpation wird in Form einer Querfriktion durch-

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Schulterregion geführt. Diese Technik setzt man hier bei einer Befunderhebung ein, um Beschwerden dieser Struktur zu bestätigen oder zu behandeln. Die adäquate Technik ist der Einsatz des beschwerten Mittelfingers, der parallel zu den Muskelfasern von lateral kommend aufgesetzt wird (▶ Abb. 2.17). Die Querfriktion erfolgt durch eine Supination des Unterarmes mit Druck in die Tiefe und einer Bewegung von kaudolateral nach kraniomedial. Diese Technik kann auf dem Muskel in seiner gesamten Ausdehnung, zwischen dem Angulus superior der Skapula und dem „hinteren V“ eingesetzt werden. Lateral geht der Muskel in die Sehne über, deren klinisch interessante Insertion am Tuberculum majus in Neutralposition des Armes unzugänglich unterhalb des Akromions liegt. Auf diese Lokalisation wird in Kap. 2.7 eingegangen (▶ Abb. 2.63).

M. infraspinatus – Muskel-SehnenÜbergang, Sehne und Insertion ASTE Eine wesentlich aufwendigere Lagerung muss ein Patient einnehmen, um klinisch interessante Anteile des M. infraspinatus (Muskel-Sehnen-Übergang, Sehne sowie dessen Insertion) zugänglich zu machen. Der Proband befindet sich in Bauchlage, ganz nahe an der Bankkante der zu palpierenden Seite. Er stützt sich auf seine Unterarme und bekommt zum Schutz gegen eine unangenehme Hyperlordose eine Unterlage unter den Bauch. Durch diese Lagerung entstehen ca. 70° Flexion im Schultergelenk. Zusätzlich wird das Gelenk in eine leichte Adduktion (ca. 10°, Ellenbogen ca. eine Handbreit entfernt von der Bankkante) und ca. 20° Außenrotation (die Hand hält sich an der Kante fest) gebracht (▶ Abb. 2.18). Durch die Flexion wird der sonst unter dem Akromion schwer zugängliche Anteil der Insertion am Tuberculum majus nach dorsal herausgedreht (▶ Abb. 2.19). Diese Position wurde bereits von Cyriax 1984 beschrieben und durch Studien von Mattingly und Mackarey 1996 bestätigt. Die Sehne des M. infraspinatus gerät durch die

Abb. 2.18 ASTE zur Palpation des M. infraspinatus.

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Adduktion sowie Stütz auf den Ellenbogen mit Schub des Humerus nach kranial in Spannung und erlangt eine festere Konsistenz. Dies begünstigt während der Palpation die Abgrenzung des Muskel-Sehnen-Übergangs der Sehne gegenüber umliegenden Strukturen. Während der Anwendung der Technik als therapeutische Querfriktion bleiben Muskel-Sehnen-Übergang und Sehne stabil unter dem behandelnden Finger und weichen nicht aus.

Alternative ASTEn Da die übliche Lagerung des Patienten trotz lumbaler Unterstützung unangenehm für HWS und LWS sein kann, sind andere Lagerungen denkbar. 1. Der Patient legt sich vollständig auf den Bauch (kein Unterarmstütz auf der Bank). Der Arm der betroffenen Seite hängt seitlich an der Bankkante herunter und wird mit dem Unterarm auf einen Hocker abgelegt. Nun kann man versuchen, das Schultergelenk wieder in etwas Adduktion und Außenrotation einzustellen (▶ Abb. 2.20). 2. Der Patient sitzt vor der Kopfseite der Bank auf einem Hocker (ohne Abbildung). Der Arm wird in oben beschriebener Weise eingestellt und auf einem abgesenkten Kopfteil gelagert. Mattingly und Mackarey konnten 1996 bestätigen, dass die Insertion in gleicher Weise zugänglich ist (Mattingly u. Mackarey 1996).

Tipp Alle alternativen Positionen sind zwar für den Patienten angenehmer, der Lokalisation von Sehne und Insertion sind sie jedoch nicht besonders förderlich. Sie haben den Nachteil, dass der Humerus zu wenig axialen Druck erhält, um einen straffenden Schub gegen die Sehne auszuüben. Unter dem palpierenden Finger stellt sich die Sehne weniger fest dar und ist schwerer abzugrenzen gegenüber dem umliegenden Gewebe und der knöchernen Insertion. Während der Querfriktion gibt sie unter dem Druck deutlich nach.

Abb. 2.19 Lage des M. infraspinatus.

2.3 Lokale Palpation dorsal

M. supraspinatus

2

M. infraspinatus

M. teres minor

Abb. 2.21 Lage des M. infraspinatus (nach Omer Matthijs).

Abb. 2.20 Alternative ASTE.

Technik Als Startpunkt der Palpation dient der bereits bekannte hintere Winkel des Akromions (Angulus acromialis, ▶ Abb. 2.15). Die Lokalisation des breiten Muskel-SehnenÜbergangs des M. infraspinatus ist ca. 2 cm von dem Angulus acromialis auf einer Hilfslinie in Richtung Axilla zu suchen (▶ Abb. 2.21). Der Muskel-Sehnen-Übergang stellt sich dem palpierenden Finger als flache, fest gespannte Struktur dar, die der queren Palpation einen festen, aber noch elastischen Widerstand gibt. Um die Sehne zu erreichen, palpiert man die ertastete Struktur mit queren Friktionsbewegungen um ca. 2 cm nach lateral parallel der Spina scapulae. Der Widerstand, der dem Finger entgegengebracht wird, ist deutlich fester. Um zur Insertion an der mittleren Facette des Tuberculum majus (▶ Abb. 2.60) zu gelangen, verfolgt man die flacher werdende Sehne weiter nach lateral, bis der Palpation ein harter Widerstand entgegengebracht wird. An dieser Stelle befindet sich der tenoossale Übergang, die Infraspinatusinsertion. Bei diesem Palpationsgang können immer wieder derbe Faserbündel des M. deltoideus stören. Sie haben einen typisch schrägen, nach superior-medial aufsteigenden Verlauf. Die Ausdehnung der Facette kann man genau bestimmen. Bewegt man den palpierenden Finger weiter nach lateral, so rutscht er über den Rand der Facette auf den Humerus ab. Bewegt man den Finger in Richtung Akromion, kippt man um ca. 45° nach anterior ab und erreicht

die Facette des M. supraspinatus (▶ Abb. 2.59). Rutscht man nach inferior, kippt man erneut um 45°, diesmal auf die Facette des M. teres minor, ab (▶ Abb. 2.61). Zur Behandlung der mehr oberflächigen Anteile der Insertion, die im Rahmen einer Tendinitis oder Tendinose Beschwerden verursachen können, behandelt man eher auf dem lateralen Anteil der Facette. Anmerkung zur Behandlung bei Tendinosis: Die Querfriktion wird unter anhaltendem Druck in beide Richtungen mit erheblicher Intensität geführt. Behandelt man die humerusseitigen, tiefen Anteile der Sehne, die im Rahmen eines internen Impingements irritiert sein können, friktioniert man eher auf dem medialen Anteil der Facette. Die eigentliche Durchführung der Palpation bzw. querfriktionierenden Behandlung kann mit zwei verschiedenen, nachfolgend beschriebenen Techniken durchgeführt werden.

Technik – 1. Variante Die zur Schmerzprovokation bzw. Behandlung eingesetzte Querfriktion kann grundsätzlich mit 2 verschiedenen Varianten ausgeführt werden. Zur 1. Variante steht der Therapeut auf der zu behandelnden Seite und platziert seine aufeinandergelegten Daumen auf dem Muskel-Sehnen-Übergang bzw. der Sehne (▶ Abb. 2.22). Die Finger halten sich ventral am Korakoid fest. Die Daumen werden mit Hautkontakt und nahezu drucklos nach kaudal und etwas lateral geführt. Der Druck wird in die Tiefe aufgebaut und die Daumen werden mit diesem Druck nach kranial und etwas medial geführt. Dabei beschreiben beide Unterarme eine leicht supinierende Bewegung. Soll die Insertion behandelt werden, muss der Druck des friktionierenden Daumens nicht nur in die Tiefe, sondern auch nach lateral gegen die mittlere Facette des Tuberculum majus ausgeübt werden.

47

Schulterregion

2.4 Lokale Palpation lateral 2.4.1 Übersicht über die Strukturen ● ● ● ● ●

lateraler Rand des Akromions Spina acromialis AC-Gelenk – anteriorer Zugang AC-Gelenk – posteriorer Zugang AC-Gelenk

2.4.2 Kurzfassung des Palpationsganges

Abb. 2.22 Palpation des M. infraspinatus, 1. Technikvariante.

Wir befinden uns hier in einem weiteren Bereich wichtiger knöcherner Referenzpunkte, die uns den Zugang zu einigen klinisch auffälligen Strukturen verschaffen. Im Mittelpunkt dieses Palpationsganges steht das AC-Gelenk, dessen anteriorer und posteriorer Zugang verdeutlicht wird. Die genaue Lage des Gelenkes mit Palpation der Kapsel und Darstellung verschafft Sicherheit in der Lokalisierung sowie dem diagnostischen und therapeutischen Umgang mit dem Schultereckgelenk.

ASTE Der Proband sitzt mit entspanntem Schultergürtel auf einem Stuhl oder auf einer Therapiebank. Die laterale Schulterregion sollte mühelos erreicht werden können. Diese ASTE soll zunächst dem einfachen Üben der Palpation dienen. Verschiedene Untersuchungs- und Behandlungstechniken erfordern eine Rücken-, Seit- bzw. Bauchlage. Daher sollte das sichere Aufsuchen wichtiger Strukturen später in diesen ASTEn möglich werden.

Abb. 2.23 2. Palpation des M. infraspinatus, 2. Technikvariante, Detailansicht.

Technik – 2. Variante Alternativ kann der Therapeut kopfwärts und etwas kontralateral stehen. Die Daumen werden jetzt zur Stabilisation des Griffes gegen das Korakoid gestützt. Nun arbeiten die sich selbst beschwerenden Zeigefinger (▶ Abb. 2.23). Die Bewegungsrichtungen bleiben die gleichen, wie zuvor beschrieben. Die Hauptbewegung während der Durchführung beim Therapeuten ist die Extension im Handgelenk. Das ist weniger anstrengend als die Durchführung mittels Fingerbeugung.

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Ausgangspositionen für Fortgeschrittene Lokalisationen von Schmerzen am Schultergürtel bzw. Behandlung des AC-Gelenkes erfolgen nicht nur aus der sitzenden Position des Patienten heraus. Daher ist es sinnvoll, die Palpationen in anderen ASTEn zu wiederholen. Kenntnisse dieser Art kommen bei der Anwendung manualtherapeutischer Behandlung zur Geltung. Hierbei muss der Therapeut in der Lage sein, diesen kleinen Gelenkspalt in ungewöhnlichen ASTEn und ggf. auch ohne Augenkontrolle zu finden. Nach etwas Übung ist das Aufsuchen des AC-Gelenkspaltes in sitzender Position – wie oben beschrieben – nicht sehr schwierig. Ist man sich dieser Technik sicher geworden, kann man andere ASTEn wählen, um den Palpationsgang zu wiederholen: ● Palpation des ACG in Seitenlage oder Rückenlage ● jeweils bei ruhender Schulter und bei voller Armhebung

Schulterregion

2.4 Lokale Palpation lateral 2.4.1 Übersicht über die Strukturen ● ● ● ● ●

lateraler Rand des Akromions Spina acromialis AC-Gelenk – anteriorer Zugang AC-Gelenk – posteriorer Zugang AC-Gelenk

2.4.2 Kurzfassung des Palpationsganges

Abb. 2.22 Palpation des M. infraspinatus, 1. Technikvariante.

Wir befinden uns hier in einem weiteren Bereich wichtiger knöcherner Referenzpunkte, die uns den Zugang zu einigen klinisch auffälligen Strukturen verschaffen. Im Mittelpunkt dieses Palpationsganges steht das AC-Gelenk, dessen anteriorer und posteriorer Zugang verdeutlicht wird. Die genaue Lage des Gelenkes mit Palpation der Kapsel und Darstellung verschafft Sicherheit in der Lokalisierung sowie dem diagnostischen und therapeutischen Umgang mit dem Schultereckgelenk.

ASTE Der Proband sitzt mit entspanntem Schultergürtel auf einem Stuhl oder auf einer Therapiebank. Die laterale Schulterregion sollte mühelos erreicht werden können. Diese ASTE soll zunächst dem einfachen Üben der Palpation dienen. Verschiedene Untersuchungs- und Behandlungstechniken erfordern eine Rücken-, Seit- bzw. Bauchlage. Daher sollte das sichere Aufsuchen wichtiger Strukturen später in diesen ASTEn möglich werden.

Abb. 2.23 2. Palpation des M. infraspinatus, 2. Technikvariante, Detailansicht.

Technik – 2. Variante Alternativ kann der Therapeut kopfwärts und etwas kontralateral stehen. Die Daumen werden jetzt zur Stabilisation des Griffes gegen das Korakoid gestützt. Nun arbeiten die sich selbst beschwerenden Zeigefinger (▶ Abb. 2.23). Die Bewegungsrichtungen bleiben die gleichen, wie zuvor beschrieben. Die Hauptbewegung während der Durchführung beim Therapeuten ist die Extension im Handgelenk. Das ist weniger anstrengend als die Durchführung mittels Fingerbeugung.

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Ausgangspositionen für Fortgeschrittene Lokalisationen von Schmerzen am Schultergürtel bzw. Behandlung des AC-Gelenkes erfolgen nicht nur aus der sitzenden Position des Patienten heraus. Daher ist es sinnvoll, die Palpationen in anderen ASTEn zu wiederholen. Kenntnisse dieser Art kommen bei der Anwendung manualtherapeutischer Behandlung zur Geltung. Hierbei muss der Therapeut in der Lage sein, diesen kleinen Gelenkspalt in ungewöhnlichen ASTEn und ggf. auch ohne Augenkontrolle zu finden. Nach etwas Übung ist das Aufsuchen des AC-Gelenkspaltes in sitzender Position – wie oben beschrieben – nicht sehr schwierig. Ist man sich dieser Technik sicher geworden, kann man andere ASTEn wählen, um den Palpationsgang zu wiederholen: ● Palpation des ACG in Seitenlage oder Rückenlage ● jeweils bei ruhender Schulter und bei voller Armhebung

2.4 Lokale Palpation lateral Bei Armhebung verändert sich die räumliche Ausrichtung des Gelenkspaltes dramatisch. Zeigt dieser bei ruhender Schulter deutlich von posterior nach anterior, so ist er bei Armhebung infolge der begleitenden Skapularotation eher in Richtung Kinnwinkel ausgerichtet. Die laterale Palpation wird fortgesetzt, wenn die allgemeine und spezielle Orientierung ventraler Strukturen bekannt ist (▶ Abb. 2.58).

2.4.3 Palpation einzelner Strukturen Lateraler Rand des Akromions Vom Angulus acromialis ausgehend, versucht man, den Rand des Akromions nach anterior zu verfolgen. Die genaue Palpation ist nicht einfach, da dieser Rand immer wellig und gezackt ist und eine stark variierende Ausrichtung hat.

Technik Die eingesetzte Technik ist wiederum eine rechtwinklige Palpation. Hierzu kann erneut die Fingerkuppe oder alternativ auch die gesamte Länge des palpierenden Fingers gegen die Kante gesetzt werden (▶ Abb. 2.24).

Abb. 2.24 Palpation Akromionrand.

Spina acromialis Das konsequente Verfolgen des Akromionrandes endet in der anterioren Begrenzung, der Spina des Akromions. Dies ist eine kleine rundliche Spitze und ein wichtiger Referenzpunkt in der ventrolateralen Orientierung an der Schulter. Sie ist erst dann sicher erreicht, wenn der palpierende Finger eine dramatische Richtungsänderung der Knochenkonturen nach medial wahrnimmt. Ein häufiger Fehler ist, den Akromionrand nicht konsequent nach anterior-medial zu verfolgen. Von hier aus erarbeitet sich der Therapeut den vorderen Zugang zum AC-Gelenk und, mit einer Voreinstellung des Armes in endgradiger Innenrotation (▶ Abb. 2.62), den sicheren Zugang zur Insertion des M. supraspinatus.

2

Tipp Das Ertasten des Akromionrandes und der vorderen Spitze kann sich der Therapeut erleichtern, wenn er durch einen Zug am Oberarm nach inferior das Caput humeri vom Rand des Akromions oder von der Spina entfernt (▶ Abb. 2.25). Hierdurch werden die Palpation dieser Strukturen und das Abgrenzen gegenüber dem Humeruskopf sicherer. Die Knochenkanten sind nun deutlicher wahrzunehmen. Der Akromionrand dient Manualtherapeuten als Orientierung, um eine Gleittechnik des Humeruskopfes nach inferior zu kontrollieren.

Abb. 2.25 Palpation Akromionrand mit inferiorem Zug am Humerus.

49

Schulterregion

AC-Gelenk – anteriorer Zugang Die weitere Palpation erfolgt von der Spina acromialis weiter nach medial. Hier wird zuerst eine kleine Einkerbung und anschließend wieder ein knöcherner Widerstand spürbar. Dabei stößt die Fingerkuppe gegen die Klavikula, die Fingerbeere liegt auf dem „vorderen V“. Die Spitze dieser V-förmigen Einkerbung zeigt meist direkt nach posterior. Hier endet der vordere Anteil der ACGelenkkapsel.

Tipp Die Schwierigkeit der Lokalisierung besteht darin, die Spina acromialis genau zu ertasten und der Richtungsänderung nach medial konsequent zu folgen. Häufigster Fehler: Das „vordere V“ wird zu weit medial vermutet. Als erfolgreiche Palpationstechnik erweist sich das Auflegen des Zeigefingers mit der ulnaren Kante, sodass die Fingerbeere die Spitze dieser Spina tastet und die Fingerkuppe die Einkerbung, die das „V“ markiert.

AC-Gelenk – posteriorer Zugang Der vordere Zugang wurde bereits lokalisiert. Zur Markierung des weiteren Verlaufs benötigen wir das „hintere V“. Zuvor wurden bereits das Ertasten und Verfolgen der kranialen Kante der Spina scapulae und des posterioren Randes der Klavikula nach lateral beschrieben. Man wird feststellen, dass die Ausmaße des lateralen Endes der Klavikula deutlich größer sind, als man sie sich im All-

Abb. 2.26 Palpation posteriorer Rand der Klavikula.

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gemeinen aus der topografischen Anatomie vorstellt. Zudem stört der häufig erhebliche Tonus des M. trapezius, Pars descendens, den Zugang zur hinteren Kante.

Schritt 1: posteriorer Rand der Klavikula Man beginnt die Palpation weiter medial, an der Mitte der Klavikula. Hier ist der posteriore Rand gut zu spüren und mit einer rechtwinkligen Palpationstechnik dann nach lateral konsequent zu verfolgen. Dabei wird man durch den inserierenden M. trapezius, Pars descendens, an der Palpation stark behindert. Zur Senkung der Trapeziusspannung und leichteren Palpation wird der Kopf zur gleichen Seite geneigt, zur Gegenseite rotiert und der Muskel damit angenähert (▶ Abb. 2.26).

Tipp Eine weitere sichere Möglichkeit, den hinteren Rand der Klavikula zu finden, ist die Palpation von der superioren Kante der Spina scapulae nach anterior. Die nächste knöcherne Struktur mit knallhartem Widerstand muss die Klavikula sein.

Schritt 2: „posteriores V“ Als „hinteres V“ wird die Stelle bezeichnet, an der die beiden palpierten Ränder (superiore Kante der Spina scapulae und posteriorer Rand der Klavikula) zusammenlaufen. Die Spitze dieses „V“ zeigt nach anterior-lateral.

Abb. 2.27 Palpation „hinteres V“.

2.4 Lokale Palpation lateral

2

Abb. 2.29 Gelenkspaltausrichtung AC-Gelenk bei normaler Thoraxform.

Abb. 2.28 Anteriore und posteriore Begrenzung der Klavikula.

Will man diese Stelle exakt lokalisieren, variiert man die Technik, indem ein Finger steil zwischen die Begrenzungen von Spina scapulae und Klavikula aufgestellt wird (▶ Abb. 2.27). Das „hintere V“ befindet sich genau dort, wo beide Kanten keinen fest-elastischen Eindruck in der Tiefe mehr zulassen. Verfolgt man den vorderen Rand der Klavikula von medial nach lateral bis zum „vorderen V“, so stellt sich die gesamte Dimension der lateralen Klavikula dar. Die Ausdehnung wird häufig unterschätzt. Die Breite der hier angezeichneten Klavikulabegrenzungen resultiert letztlich aus der 2-dimensionalen Darstellung einer 3-dimensional palpierten Struktur (▶ Abb. 2.28).

AC-Gelenk Die allgemeine Ausrichtung des Gelenkspaltes des ACGelenkes ergibt sich aus der Verbindung der Spitzen beider „Vs“. Von dieser Verbindungslinie ist allein der anteriore Anteil (ca. 0,5–1 cm vom „vorderen V“ nach posterior) eine Orientierung zur Lokalisation des Gelenkes. Die allgemeine Ausrichtung des AC-Gelenkspaltes ist demnach nach anterior und häufig etwas nach lateral (▶ Abb. 2.29). Es gilt zu bedenken, dass auch hier intra- und interindividuelle Varianten in der Ausrichtung dieses Gelenkspaltes sehr wahrscheinlich sind. Wie stark die Ausrichtung variiert, hängt auch stark von der Haltung, der jeweiligen Thoraxform und der damit verbundenen Schultergürtelstellung ab. Bei betont kyphotischem Rücken hängt der Schultergürtel eher in Protraktion, und die Ausrichtung des AC-Gelenkspaltes zeigt häufig weiter nach anteriormedial mit einer deutlichen Neigung.

Abb. 2.30 Palpation der lateralen Klavikula, eher kraniale Ansicht.

Bei steilgestellter BWS (Flachrückentyp) orientieren sich die Scapulae häufig weiter nach medial zur Wirbelsäule. Die Position des Schultergürtels weicht auch hier gegenüber einer „normalen“ ab. Der Schultergürtel erscheint retrahiert, der AC-Gelenkspalt ordnet sich eher in der Sagittalebene ein.

Technik – AC-Gelenkkapsel Die zuvor beschriebene Vorgehensweise zum Aufsuchen des AC-Gelenkspaltes dient der schnellen Orientierung und kann palpatorisch noch spezifischer durchgeführt werden. Man beginnt zunächst mit der Palpation des pos-

51

Schulterregion

Abb. 2.31 Palpation der lateralen Klavikula, Detailansicht.

Abb. 2.33 Palpation der AC-Gelenkkapsel, eher kraniale Ansicht.

Klavikula

Klavikula

Akromion

Akromion

Abb. 2.34 Palpation der AC-Gelenkkapsel, Ansicht von ventral. Abb. 2.32 Palpation der lateralen Klavikula, Ansicht von ventral.

terioren Randes der Klavikula und verfolgt ihre Konvexität konsequent am lateralen Ende nach anterior (▶ Abb. 2.30). Benutzt man die Technik der rechtwinkligen Palpation mit der Fingerkuppe gegen den Klavikularand, so erspürt der Finger zunächst eine deutliche Stufe. Dabei liegt die Fingerbeere flach auf dem Akromion und die Fingerspitze stößt gegen die Klavikula (▶ Abb. 2.31 und ▶ Abb. 2.32). Der palpierende Finger befindet sich direkt über dem Gelenkspalt des AC-Gelenks, wenn sich dieser Rand nicht mehr stufig, sondern schräg abgeflacht anfühlt. Diese schräge „Rampe“ ergibt sich durch das Auffüllen der

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„Stufe“ mit der Kapsel und deren ligamentäre Verstärkungen (▶ Abb. 2.33 und ▶ Abb. 2.34).

Tipp Diese palpatorische Lokalisation der AC-Gelenkkapsel mit der Differenzierung Stufe versus Rampe beruht auf der Annahme, dass die Oberseite des Akromions flach nach medial gegen die Klavikula anläuft. Das ist aber nicht immer der Fall.

2.4 Lokale Palpation lateral

Clavicula Acromion

2

Abb. 2.35 Häufige Formvariation des AC-Gelenkspaltes in der Frontalebene: „Vulkan“ (nach Omer Matthijs).

Abb. 2.37 Translation des Akromions superoinferior.

Nimmt man die Lokalisationsmethode „Rampe“ als alleinige Methode zur Bestätigung der AC-Gelenkkapsel, so würde man das AC-Gelenk viel zu weit medial vermuten. Zur Absicherung der Lokalisation ist es daher immer empfehlenswert, eine Technik zu wählen, welche die Lage des Gelenkes durch Bewegung bestätigt (▶ Abb. 2.36 und ▶ Abb. 2.37).

Therapeutische Hinweise Abb. 2.36 Translation der Klavikula anterior-posterior.

Tipp Als eine häufige Formvariante erhebt sich die Akromionoberseite zur Klavikula hin wellenförmig, sodass beide Knochenpartner des AC-Gelenkes wie die Kegel eines Vulkans aufeinander zulaufen und der Gelenkspalt wie die Trichteröffnung des Vulkans imponiert (Da Palma 1963) (▶ Abb. 2.35). Diese Formvariante kann auch das Aufsuchen des hinteren „V“ als Lokalisationshilfe des AC-Gelenkspaltes erschweren (siehe Technik Spina scapulae, superiore Kante, (S. 45), und posteriores „V“, (S. 50)): Wenn man dem kranialen Aspekt der Spina scapulae folgt, kann das hintere „V“ irrtümlich dort identifiziert werden, wo sich der dorsale Aspekt des Vulkans nach kranial weg vom Akromion erhebt.

Wir befinden uns hier in einem weiteren Bereich wichtiger knöcherner Referenzpunkte, die uns den Zugang zu einigen klinisch auffälligen Strukturen verschaffen: ● Der Angulus acromialis dient als weiterer Ausgangspunkt für die Darstellung des Akromions und für einen sicheren Zugang zu den anterior-lateralen Strukturen des Tuberculum majus (▶ Abb. 2.59). ● Der laterale Rand des Akromions dient zur Differenzierung zwischen Skapula und Humeruskopf (wichtig für Techniken der Manuellen Therapie). ● Von der Spina acromialis aus lokalisiert man die klinisch interessanteste Stelle, die Supraspinatus-Insertion bei Armvorpositionierung (▶ Abb. 2.63) sowie den vorderen Zugang zum Akromioklavikulargelenk (AC-Gelenk). ● Das Bestimmen der allgemeinen Ausrichtung sowie die genaue Lokalisation des AC-Gelenkes dienen zum erfolgreichen Durchführen gelenkspezifischer Techniken aus der Manuellen Therapie und dem Einsatz Cyriax’-

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Schulterregion scher Querfriktionen auf die Gelenkkapsel. Die Kenntnis über seine Ausrichtung gewährleistet aussagekräftige Tests und gelenkschonende Mobilisation. Gelenkspezifische Techniken ermöglichen Aussagen über die Mobilität des AC-Gelenkes. Die transversale Translation prüft die Elastizität der Kapsel hinsichtlich einer Hypomobilität sowie die Stabilität der kapselverstärkenden Ligamente (▶ Abb. 2.36). Hierzu umfasst man mit Daumen und Zeigefinger der lateralen Hand fixierend das Akromion an Angulus und Spina acromialis. Daumen und einige Fingerkuppen der medialen Hand umfassen das laterale Ende der Klavikula und schieben es in anterior posteriorer Richtung. Mit einigen Versuchen unterschiedlicher Schubrichtung wird die Richtung mit dem größten Gelenkspiel ermittelt. Diese ist intra- sowie interindividuell recht variabel. Sollte man den Zeigefinger der lateralen Hand auf die vermutete Stelle des Gelenkspaltes legen, so kann man die Bewegung der Klavikula gegenüber dem Akromion taktil erfassen. Durch den Zug des hängenden Armes an der Skapula in dieser vertikalen ASTE sind die intrinsischen Ligamente bereits vorgespannt und lassen somit nur bedingt eine Aussage über die Mobilität zu. In der Rückenlage ist die Testung zuverlässiger. Schub und Zug am hängenden Oberarm beanspruchen das AC-Gelenk in vertikaler Richtung (▶ Abb. 2.37). Hier wird vor allem die Intaktheit der korakoklavikulären Liga-

mente geprüft. Positiv im Sinne einer Laxität ist der Test bei zu viel vertikaler Mobilität des Akromions gegenüber der stabilisierten Klavikula im Seitenvergleich. Palpierende Finger auf dem vermuteten Gelenkspalt können die richtige Lokalisation des AC-Gelenkes absichern und das Ausmaß an vertikaler Bewegung taktil erfassen. Schmerzlindernde Durchführung der Cyriax’schen Querfriktionen haben sich nicht nur in der Durchführung an irritierten Sehnen, Insertionen sowie Sehnenscheidenn sondern auch an verschiedenen Lokalisationen von Arthritiden kleinere Gelenke bewährt. Bei leichten Formen, vor allem traumatischer Arthritis der AC-Kapsel, bewährt sich die Durchführung der Querfriktionen. Nach sicherer Lokalisation der Kapsel wird der beschwerte Zeigerfinger mit der Beere direkt von kranial auf die Kapsel platziert (▶ Abb. 2.38). Der Daumen stützt sich stabilisierend von dorsal gegen die Spina scapulae. Mit Druck gegen die Kapsel und Hautreibung vermeidend, wird der Zeigefinger von anterior nach posterior mit Druck und ohne Druck zurückgeführt.

2.5 Allgemeine Orientierung ventral 2.5.1 ASTE Der Proband sitzt aufrecht mit ruhendem, entspanntem Schultergürtel. Der Untersucher steht zunächst vor dem Probanden. Vor weiterer spezieller Palpation bestimmter Strukturen sollte der Betrachter die ventrale Schulterregion zunächst grob unterteilen.

2.5.2 Fossa supra- und infraclavicularis Der geschwungene Verlauf der Klavikula unterteilt diese Region in Vertiefungen der Oberfläche superior und inferior der Klavikula (Fossa supra- bzw. infraclavicularis). Der nach anterior konvex geschwungene Teil der Klavikula begrenzt die supraklavikulare Grube von inferior, der nach posterior geschwungene Anteil die infraklavikulare Vertiefung von superior (▶ Abb. 2.39). Die Fossa supraclavicularis wird von folgenden Strukturen begrenzt: ● inferiore Grenze = posteriorer Rand der Klavikula ● mediale Grenze = klavikularer Anteil des M. sternocleidomastoideus und Skalenusmuskeln ● posteriore Grenze = deszendierender Anteil des M. trapezius.

Abb. 2.38 Querfriktion der AC-Gelenkkapsel.

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Im Boden dieser Grube befindet sich die 1. Rippe, der Durchtritt von Vena und Arteria subclavia durch die vordere und der Durchtritt des Plexus brachialis durch die hintere Skalenuslücke sowie dessen Verlauf bis zum Unterqueren der Klavikula.

Schulterregion scher Querfriktionen auf die Gelenkkapsel. Die Kenntnis über seine Ausrichtung gewährleistet aussagekräftige Tests und gelenkschonende Mobilisation. Gelenkspezifische Techniken ermöglichen Aussagen über die Mobilität des AC-Gelenkes. Die transversale Translation prüft die Elastizität der Kapsel hinsichtlich einer Hypomobilität sowie die Stabilität der kapselverstärkenden Ligamente (▶ Abb. 2.36). Hierzu umfasst man mit Daumen und Zeigefinger der lateralen Hand fixierend das Akromion an Angulus und Spina acromialis. Daumen und einige Fingerkuppen der medialen Hand umfassen das laterale Ende der Klavikula und schieben es in anterior posteriorer Richtung. Mit einigen Versuchen unterschiedlicher Schubrichtung wird die Richtung mit dem größten Gelenkspiel ermittelt. Diese ist intra- sowie interindividuell recht variabel. Sollte man den Zeigefinger der lateralen Hand auf die vermutete Stelle des Gelenkspaltes legen, so kann man die Bewegung der Klavikula gegenüber dem Akromion taktil erfassen. Durch den Zug des hängenden Armes an der Skapula in dieser vertikalen ASTE sind die intrinsischen Ligamente bereits vorgespannt und lassen somit nur bedingt eine Aussage über die Mobilität zu. In der Rückenlage ist die Testung zuverlässiger. Schub und Zug am hängenden Oberarm beanspruchen das AC-Gelenk in vertikaler Richtung (▶ Abb. 2.37). Hier wird vor allem die Intaktheit der korakoklavikulären Liga-

mente geprüft. Positiv im Sinne einer Laxität ist der Test bei zu viel vertikaler Mobilität des Akromions gegenüber der stabilisierten Klavikula im Seitenvergleich. Palpierende Finger auf dem vermuteten Gelenkspalt können die richtige Lokalisation des AC-Gelenkes absichern und das Ausmaß an vertikaler Bewegung taktil erfassen. Schmerzlindernde Durchführung der Cyriax’schen Querfriktionen haben sich nicht nur in der Durchführung an irritierten Sehnen, Insertionen sowie Sehnenscheidenn sondern auch an verschiedenen Lokalisationen von Arthritiden kleinere Gelenke bewährt. Bei leichten Formen, vor allem traumatischer Arthritis der AC-Kapsel, bewährt sich die Durchführung der Querfriktionen. Nach sicherer Lokalisation der Kapsel wird der beschwerte Zeigerfinger mit der Beere direkt von kranial auf die Kapsel platziert (▶ Abb. 2.38). Der Daumen stützt sich stabilisierend von dorsal gegen die Spina scapulae. Mit Druck gegen die Kapsel und Hautreibung vermeidend, wird der Zeigefinger von anterior nach posterior mit Druck und ohne Druck zurückgeführt.

2.5 Allgemeine Orientierung ventral 2.5.1 ASTE Der Proband sitzt aufrecht mit ruhendem, entspanntem Schultergürtel. Der Untersucher steht zunächst vor dem Probanden. Vor weiterer spezieller Palpation bestimmter Strukturen sollte der Betrachter die ventrale Schulterregion zunächst grob unterteilen.

2.5.2 Fossa supra- und infraclavicularis Der geschwungene Verlauf der Klavikula unterteilt diese Region in Vertiefungen der Oberfläche superior und inferior der Klavikula (Fossa supra- bzw. infraclavicularis). Der nach anterior konvex geschwungene Teil der Klavikula begrenzt die supraklavikulare Grube von inferior, der nach posterior geschwungene Anteil die infraklavikulare Vertiefung von superior (▶ Abb. 2.39). Die Fossa supraclavicularis wird von folgenden Strukturen begrenzt: ● inferiore Grenze = posteriorer Rand der Klavikula ● mediale Grenze = klavikularer Anteil des M. sternocleidomastoideus und Skalenusmuskeln ● posteriore Grenze = deszendierender Anteil des M. trapezius.

Abb. 2.38 Querfriktion der AC-Gelenkkapsel.

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Im Boden dieser Grube befindet sich die 1. Rippe, der Durchtritt von Vena und Arteria subclavia durch die vordere und der Durchtritt des Plexus brachialis durch die hintere Skalenuslücke sowie dessen Verlauf bis zum Unterqueren der Klavikula.

2.6 Lokale Palpation ventromedial

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Abb. 2.40 Palpation des M. sternocleidomastoideus, Pars sternalis. Abb. 2.39 Fossa supra- und infraclavicularis.

Die Fossa infraclavicularis wird von folgenden Strukturen begrenzt: ● superiore Grenze = inferiorer Rand der Klavikula ● mediale Grenze = lateraler Rand des M. pectoralis major, Pars clavicularis ● laterale Grenze = medialer Rand des M. deltoideus, Pars clavicularis Die Begrenzungen der Fossa supra- und infraclavicularis lassen sich mit Muskelaktivität sehr gut darstellen. Zur Darstellung der infraklavikulären Grube lässt man den Probanden aus der Nullposition eine leichte Armhebung über Flexion einbringen. Von hier aus wird, gegen einen leichten Widerstand, horizontal adduziert. Dies aktiviert vor allem die klavikulären Anteile des Deltamuskels und des M. pectoralis major. Beide muskulären Begrenzungen der Fossa infraclavicularis werden deutlich. Diese Vertiefung wird auch als deltoideopektorale Rinne oder Trigonum clavipectorale bezeichnet. Im Boden dieser Grube, medial der vorderen Deltamuskelfasern, befinden sich die Gefäße, die in Richtung Oberarm ziehen: Arteria und Vena subclavia oder auch als Arteria und Vena thoracoacromialis bezeichnet (Thiel 2006).

2.6 Lokale Palpation ventromedial 2.6.1 Kurzfassung des Palpationsganges Das weitere Aufsuchen bestimmter Strukturen am ventralen Schultergürtelbereich orientiert sich stark nach medial und dient vor allem der sicheren Lokalisierung des SC-Gelenkes.

ASTE Der Proband sitzt mit entspanntem Schultergürtel auf einem Stuhl oder einer Therapieliege, der Therapeut steht hinter ihm.

2.6.2 Palpation einzelner Strukturen M. sternocleidomastoideus Zunächst stellt man den sternalen Anteil des M. sternocleidomastoideus durch eine aktive Rotation des Kopfes zur Gegenseite dar. Gibt man dem Probanden zusätzlich einen leichten Widerstand in Seitneigung zur gleichen Seite, so projiziert sich der klavikuläre Anteil des Muskels heraus. Ihn kann man bis zur Insertion am medialen Drittel der Klavikula verfolgen.

Mediales Ende der Klavikula Der Muskelstrang des sternalen Anteils und seine Sehne werden von lateral palpiert und konsequent bis zur Insertion am Manubrium sterni verfolgt (▶ Abb. 2.40). Die Insertion liegt direkt medial des Gelenkspaltes des SC-Gelenkes. Kurz vor der sternalen Insertion spürt man lateral der Sehne eine deutlich knöcherne Struktur: Dies ist der obere Anteil des medialen Klavikulaendes.

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2.6 Lokale Palpation ventromedial

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Abb. 2.40 Palpation des M. sternocleidomastoideus, Pars sternalis. Abb. 2.39 Fossa supra- und infraclavicularis.

Die Fossa infraclavicularis wird von folgenden Strukturen begrenzt: ● superiore Grenze = inferiorer Rand der Klavikula ● mediale Grenze = lateraler Rand des M. pectoralis major, Pars clavicularis ● laterale Grenze = medialer Rand des M. deltoideus, Pars clavicularis Die Begrenzungen der Fossa supra- und infraclavicularis lassen sich mit Muskelaktivität sehr gut darstellen. Zur Darstellung der infraklavikulären Grube lässt man den Probanden aus der Nullposition eine leichte Armhebung über Flexion einbringen. Von hier aus wird, gegen einen leichten Widerstand, horizontal adduziert. Dies aktiviert vor allem die klavikulären Anteile des Deltamuskels und des M. pectoralis major. Beide muskulären Begrenzungen der Fossa infraclavicularis werden deutlich. Diese Vertiefung wird auch als deltoideopektorale Rinne oder Trigonum clavipectorale bezeichnet. Im Boden dieser Grube, medial der vorderen Deltamuskelfasern, befinden sich die Gefäße, die in Richtung Oberarm ziehen: Arteria und Vena subclavia oder auch als Arteria und Vena thoracoacromialis bezeichnet (Thiel 2006).

2.6 Lokale Palpation ventromedial 2.6.1 Kurzfassung des Palpationsganges Das weitere Aufsuchen bestimmter Strukturen am ventralen Schultergürtelbereich orientiert sich stark nach medial und dient vor allem der sicheren Lokalisierung des SC-Gelenkes.

ASTE Der Proband sitzt mit entspanntem Schultergürtel auf einem Stuhl oder einer Therapieliege, der Therapeut steht hinter ihm.

2.6.2 Palpation einzelner Strukturen M. sternocleidomastoideus Zunächst stellt man den sternalen Anteil des M. sternocleidomastoideus durch eine aktive Rotation des Kopfes zur Gegenseite dar. Gibt man dem Probanden zusätzlich einen leichten Widerstand in Seitneigung zur gleichen Seite, so projiziert sich der klavikuläre Anteil des Muskels heraus. Ihn kann man bis zur Insertion am medialen Drittel der Klavikula verfolgen.

Mediales Ende der Klavikula Der Muskelstrang des sternalen Anteils und seine Sehne werden von lateral palpiert und konsequent bis zur Insertion am Manubrium sterni verfolgt (▶ Abb. 2.40). Die Insertion liegt direkt medial des Gelenkspaltes des SC-Gelenkes. Kurz vor der sternalen Insertion spürt man lateral der Sehne eine deutlich knöcherne Struktur: Dies ist der obere Anteil des medialen Klavikulaendes.

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Schulterregion

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Abb. 2.41 Dimension des medialen Klavikulaendes.

Abb. 2.43 Bestätigung der Palpation durch Schulterelevation.

Tipp Abb. 2.42 Palpation des SC-Gelenkspaltes.

Etwa die Hälfte des breiter werdenden Klavikulaendes befindet sich in der Ruhestellung des Schultergürtels (bei normal hängender Schulter) oberhalb des SC-Gelenkspaltes (▶ Abb. 2.41). Diese Gelenkflächenanteile nehmen erst bei Elevation der Schulter Kontakt mit der sternalen Gelenkfläche auf. Die Erklärung hierfür ist das Gleiten der Klavikula nach inferiolateral bei Schulterelevation infolge der hier geltenden Konvexregel aus der Gelenkmechanik.

Gelenkspalt des SC-Gelenkes Der eigentliche Gelenkspalt des SC-Gelenkes befindet sich also etwas weiter inferior. Seine Ausrichtung kann man mit superiomedial nach inferiolateral in der Frontalebene beschreiben.

Technik Die Sehne des M. sternocleidomastoideus wird konsequent bis auf das Manubrium sterni weiterverfolgt. Die palpierende Fingerbeere richtet sich jetzt nach lateral aus. Stößt der palpierende Finger gegen das mediale Ende der Klavikula, so liegt der Gelenkspalt direkt unter der Fingerbeere (▶ Abb. 2.42).

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Die Lokalisierung des Gelenkes kann bei Patienten mit Beschwerden am SC-Gelenk durch Aufquellung der Kapsel erheblich behindert werden. Daher lässt sich die Lokalisation mittels Schultergürtelbewegungen bestätigen. Am besten eignet sich hierzu eine passive Elevation der Schulter über einen passiven proximalen Schub des Armes (▶ Abb. 2.43).

Vom medialen Ende der Klavikula und dem SC-Gelenk ausgehend, orientiert man sich am unteren Rand des Schlüsselbeins entlang nach lateral. Die genaue Lokalisation der Kante wird häufig durch die fleischige Insertion des klavikulären Anteils des M. pectoralis major erschwert. Weiterhin kann eine Aufquellung des kostosternalen Überganges, der sich direkt kaudal des SC-Gelenkes befindet, die Palpation erschweren. Nach etwa der Hälfte ihres Verlaufes von medial nach lateral kehrt sich der nach anterior konvexe Bogen der Klavikula in einen nach posterior konvexen Bogen um.

2.7 Lokale Palpation ventrolateral

Abb. 2.44 Traktionstest des SC-Gelenks.

2

2.6.3 Therapeutische Hinweise Eine Arthritis des SC-Gelenkes kann lokale und fortgeleitete Schmerzen in der Schulter bis zum Kiefer und Ohr verursachen (Hasset u. Barnsley 2001). Weiterhin kann eine kapsuläre Einschränkung die Elevation des Schultergürtels und des Armes teilweise erheblich einschränken. Ein gelenkspezifischer Test, beispielsweise in Traktionsrichtung, gibt Auskunft über die lokale Mobilität des Gelenkes (▶ Abb. 2.44). Um die Klavikula in Traktionsrichtung zu bewegen, umfasst man die Klavikula, stützt sich mit dem Thenar lateral gegen ihre Konkavität ab und zieht sie nach lateral, posterior und etwas superior. Die Information über das Ausmaß der Separation im SC-Gelenk erhält man vor allem taktil durch das Ertasten des Gelenkspaltes mit einer Fingerbeere.

2.7 Lokale Palpation ventrolateral 2.7.1 Kurzfassung des Palpationsganges Weiter nach lateral bildet die Klavikula die superiore Begrenzung der Fossa infraclavicularis. Die weiteren Begrenzungen sind die Muskelränder des M. deltoideus bzw. M. pectoralis mit ihren jeweiligen klavikulären Portionen (▶ Abb. 2.39). Es handelt sich hier um räumlich eng aneinander liegende Strukturen, deren Differenzierung teilweise recht schwierig ist und häufig nur mit Unterstützung durch Bewegung von Gelenkpartnern gelingt.

Die palpierende Hand bewegt sich folgerichtig von medial nach lateral und findet nahezu nach jedem Zentimeter eine neue Struktur. Der Zugang gelingt über die Lokalisation der Fossa infraclavicularis und des Proc. coracoideus.

2.7.2 Palpation einzelner Strukturen Proc. coracoideus ASTE Der Proband sitzt mit entspanntem Schultergürtel auf einem Stuhl oder einer Therapieliege. Der Arm liegt dem Körper an, der Unterarm ruht auf dem Oberschenkel. Der Therapeut steht hinter ihm. Für das weitere Vorgehen, hier an der rechten Schulter des Probanden dargestellt, palpiert die linke Hand des Therapeuten, die rechte führt den rechten Arm des Patienten, um das Schultergelenk in die jeweilige Position einzustellen bzw. diverse Widerstände zu geben (▶ Abb. 2.45).

Alternative ASTEn Sind die Strukturen der lateralen Schulterregion mit diesen Übungen sicher aufzufinden, sollte man die Palpation aus anderen und schwierigen ASTEn ausprobieren, z. B. Rückenlage des Patienten, Elevation des Armes.

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Schulterregion

Abb. 2.45 Darstellung der Fossa infraclavicularis.

Abb. 2.46 Palpation des Proc. coracoideus – mediale Begrenzung.

Technik Wie bereits beschrieben, ist die Fossa infraclavicularis mit muskulärer Aktivität in Adduktion besonders einfach darzustellen. Sie wird nach lateral in der Tiefe direkt vom Proc. coracoideus knöchern begrenzt. Um diesen prominenten Fortsatz zu finden, empfiehlt sich folgendes Vorgehen: Der palpierende Finger (hier wird der Mittelfinger bevorzugt, ▶ Abb. 2.46) legt sich unter muskulärer Anspannung in die Fossa und bleibt zunächst dort, auch wenn der Arm wieder in die ruhende ASTE zurückgeführt und entspannt wird. Nun betont man den Druck des Mittelfingers nach lateral und spürt sofort das knöcherne Widerlager der medialen Begrenzung des Proc. coracoideus. Legt man den Zeigefinger der palpierenden Hand direkt neben den Mittelfinger, liegt dessen Fingerbeere direkt auf dem Korakoid (▶ Abb. 2.47).

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Abb. 2.47 Palpation des Proc. coracoideus.

Abb. 2.48 Proc. coracoideus – mediale und laterale Begrenzung.

Die Palpation wird weiter nach lateral geführt. Der Mittelfinger der linken Hand bleibt zunächst in der Fossa infraclavicularis. Der Zeigefinger wird mit mäßigem Druck um etwa eine Fingerbreite weiter nach lateral geführt. Hier ist jetzt eine deutliche Einziehung spürbar, die zwischen dem lateralen Rand des Korakoids und dem Tuberculum minus humeri liegt (▶ Abb. 2.48). Im Folgenden kann man die Spitze des Proc. coracoideus von allen Seiten begrenzen: von superior, inferior und lateral (▶ Abb. 2.49). Es fällt auf, dass der Proc. coracoideus eine erstaunlich große Struktur ist.

Tipp Eine vorsichtige Intensität ist hier während der Palpation anzuraten, da der Druck gegen das Korakoid häufig als unangenehm empfunden wird.

2.7 Lokale Palpation ventrolateral der des Gelenkes auf Spannung kommen und die Klavikula rotatorisch in Bewegung setzen. Diese kurze Latenzzeit registriert der palpierende Finger am Korakoid. Bei der Elevation des Armes neigt sich der Proc. coracoideus nach hinten und oben, spannt das Lig. conoideum und bewirkt die Rückwärtsdrehung der Klavikula. Die Vorwärtsdrehung wird bei der entsprechenden Extension des Schultergelenkes durch selektives Spannen des Lig. trapezoideum unterstützt. Damit sich das Korakoid gegenüber der Klavikula reibungsfrei bewegen kann, gibt es zwischen beiden Strukturen häufig eine Bursa, in seltenen Fällen (< 1 %, Faraj 2003) ein Gelenk.

Abb. 2.49 Proc. coracoideus – superiore und inferiore Begrenzung.

Zur Erinnerung: Am Korakoid inserieren 4 ligamentäre und 3 muskuläre Strukturen, die an der Bildung des Schulterdaches beteiligt sind. Es ist eine Umschaltstelle der Kräfte, die das Schultereckgelenk stabilisieren und den Schultergürtel nach ventral ziehen können. Der untere Aspekt des Korakoids spielt eine wichtige Rolle in der Darstellung der räumlichen Ausrichtung der Cavitas glenoidale.

Anmerkungen und Übungen zum Proc. coracoideus Das Korakoid verändert die Lage in Bezug zur Klavikula bei Bewegungen des Armes, besonders bei einer Elevation über Flexion. Damit der Therapeut eine Vorstellung über die Lage des Korakoids bei dieser Bewegung bekommt, ist nachfolgende Übung empfehlenswert. Die rechte Hand palpiert mit einem Finger das Korakoid zwischen seiner oberen Begrenzung und der Klavikula. Die andere Hand bringt eine passive Elevation über Flexion ein. Im Verlaufe dieser Bewegung, und zwar mit zunehmender Skapularotation, wird deutlich, dass sich die Spitze des Korakoids der Unterkante der Klavikula nähert. Die Gegenprobe, mit einer Extension des Armes, zeigt eine Entfernung des Korakoids bezüglich der Klavikula. Doch dies ist nicht so eindrucksvoll zu spüren, da die begleitenden Skapulabewegungen deutlich geringer sind als bei der Elevation über Flexion. Zudem spannen sich hierbei die Fasern der klavikularen Deltamuskelportion und wirken sich störend auf die Palpation aus. Jetzt wird auch die kinetische Rolle der Ligg. coracoclavicularia deutlich, die meist nur in Verbindung mit der Stabilisierung des AC-Gelenkes betrachtet werden. Die eingebrachten passiven Bewegungen des Armes spannen die Weichteile um das Schultergelenk, die Skapula folgt der Bewegung. Zunächst bewegt sich die Skapula gegenüber der Klavikula im AC-Gelenk um ca. 10°, bis die Bän-

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Räumliche Ausrichtung der Cavitas glenoidalis Alle nötigen Strukturen sind jetzt bekannt, um die räumliche Ausrichtung der Schultergelenkpfanne komplett zu beschreiben. Ihre räumliche Lage resultiert vor allem aus der Anpassung der Skapula an die Form des Thorax. Die Cavitas glenoidalis öffnet sich im Allgemeinen nach lateral, anterior und etwas superior, in direkter Verlängerung der Spina scapulae. Die Anwinkelung der Cavitas in der Transversalebene nach anterior um ca. 20–30° ist sehr direkt von der individuellen Thoraxform abhängig. Bei Flachrückentypen orientiert sie sich mehr nach lateral, bei Rundrückentypen eher nach ventral. Diese Ausrichtung kann sich aber auch in verschiedenen ASTEn ändern. So kann eine Bauch-, Seiten- oder Rückenlage des Patienten die Lage der Skapula zum Thorax und damit die räumliche Ausrichtung der Cavitas glenoidalis verändern. Daher braucht der Therapeut zuverlässige Orientierungspunkte, um die genaue Ausrichtung der Gelenkpfanne zu ermitteln. Dies kann allein durch eine Verbindungslinie definiert werden, deren Eckpunkte jetzt zu lokalisieren sind: Angulus acromialis und unterer Aspekt des Proc. coracoideus.

Technik Hierzu postiert man den Daumen der rechten Hand auf den hinteren Winkel des Akromions (Angulus acromialis) und den Zeigefinger auf den unteren Aspekt des Korakoids. Hieraus ergibt sich die bestimmende Verbindungslinie. Diese verläuft, von kranial betrachtet, von posterolateral nach anterior-medial (▶ Abb. 2.50). Von der Seite betrachtet, verläuft sie nach anterior leicht abschüssig (▶ Abb. 2.51). Dies verdeutlicht die Anwinkelung der Cavitas glenoidalis in der Sagittalebene.

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Schulterregion

Abb. 2.50 Ausrichtung der Cavitas glenoidalis – Ansicht eher von kranial.

Abb. 2.52 Translation des Humerus nach posterior.

Abb. 2.51 Ausrichtung der Cavitas glenoidalis – Ansicht von der Seite.

auf der Gelenkpfanne bedeutet demnach ein räumliches Ausrichten nach anterior, medial und etwas inferior. Testet man nicht genau parallel, erhält der prüfende Therapeut keine aussagekräftigen Ergebnisse. Bei der translatorischen Technik des Humerus nach posterior (▶ Abb. 2.52) muss man die Richtung weit genug nach lateral einstellen, damit empfindliche Strukturen, vor allem das Labrum glenoidale, durch Kompression nicht gefährdet werden.

Sehne des M. subscapularis Alternative ASTEn Nachdem bei ruhender Schulter die Ausrichtung der Pfanne recht einfach nachzuvollziehen ist, sollte die Verbindungslinie in anderen Lagerungen des Patienten sowie in anderen Armstellungen, z. B. voller Armelevation geübt werden. Jedes Mal sollte der Therapeut versuchen, sich die Lage der Cavitas glenoidalis räumlich vorzustellen, bevor der Humerus gegenüber der Cavitas bewegt wird.

Therapeutischer Hinweis Diese genaue Darstellung der Cavitas-glenoidalis-Ebene ist für Manualtherapeuten in der Durchführung von Gelenkspieltests und manualtherapeutischen Gleittechniken sehr wichtig. Eine translatorische Technik nach anterior

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Eine deutliche Einziehung, die den lateralen Rand des Korakoids markiert, liegt spürbar unter dem Zeigefinger. Direkt lateral davon muss das Tuberculum minus humeri liegen. Die Lokalisation wird durch leichte passive Innenund Außenrotation des hängenden Armes bestätigt (▶ Abb. 2.53), wobei sich nur das Tuberculum minus unter dem Zeigefinger bewegt, das Korakoid verständlicherweise nicht. Wird der Arm in endgradige passive Außenrotation gebracht, spannt sich die breite Sehne des M. subscapularis und drückt den palpierenden Finger nach vorne an die Oberfläche. Verstärkt der palpierende Zeigefinger den Druck gegen die gespannte Sehne, so antwortet diese mit einer sehr festen und etwas elastischen Konsistenz.

2.7 Lokale Palpation ventrolateral

Tuberculum minus humeri Die Umrisse des Tub. minus zeigen eine tropfenförmige Gestalt in umgekehrter Form. Es läuft mit seiner Spitze nach inferior in eine Insertionsleiste, die Crista tuberculi minoris, aus. Es wird lateral vom Sulcus intertubercularis begrenzt (▶ Abb. 2.54).

Das Tuberculum minus wird in der gesamten Ausdehnung vom M. subscapularis als Insertion belegt. Laut Curtis und Mitarbeitern (Curtis et al. 2006) ist das Insertionsfeld 35–55 × 15–25 mm groß. Von hier aus ziehen oberflächlich liegende Fasern als transversales Band über den Sulcus intertubercularis und sichern die Lage der langen Sehne des M. biceps brachii in der Rinne. An der distal folgenden Crista tuberculi minoris inserieren der M. latissimus dorsi und der M. teres major. Die kraniale Begrenzung spürt man von der Klavikula ausgehend nach kaudal palpierend. Der Sulcus intertubercularis begrenzt das Tuberkulum lateral als gerade verlaufende Linie. Der mediale und eher konvexere Rand lässt sich nur bei schlanken Personen und entspannter Sehen erspüren. Insgesamt kann man davon ausgehen, dass die Höhe des Tuberkulums etwa 3 Fingerbreiten und die Breite etwa 2 Fingerbreiten des Probanden betragen. Die Insertion der Subskapularissehne kann sich infolge Überlastung schmerzhaft entzündlich zeigen und ggf. unter dem Schulterdach eingeklemmt werden und dann einen schmerzhaften Bogen während der Armhebung verursachen. Tiefe Sehnenanteile können bei einem internen Impingement zwischen Caput humeri und der Cavitas glenoidalis eingeklemmt werden.

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Sulcus intertubercularis Abb. 2.53 Aufsuchen des Tuberculum minus.

Technik – 1. Variante Der Mittelfinger übernimmt jetzt die Position des Zeigefingers. Der Sulkus ist palpabel, indem der spürende Zeigefinger über das Tuberculum minus hinweg weiter nach lateral gebracht wird. Unter ständiger leichter passiver Innen-/Außenrotation des Armes kann bestätigt werden, dass sich die schmale Vertiefung des Sulkus unter dem Finger hin- und herdreht, wobei dessen Ränder (Tuberculum majus und minus) zu spüren sind (▶ Abb. 2.55 und ▶ Abb. 2.56). Diese Methode kann durch einen voluminösen Deltamuskel erschwert werden.

Abb. 2.54 Lage und Größe des Tuberculum minus.

Abb. 2.55 ASTE Palpation des Sulcus intertubercularis.

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Schulterregion

Abb. 2.57 Aufsuchen der Deltalücke.

Daher sollte das Auffinden des Sulcus intertubercularis auch in anderen ASTEn des Patienten trainiert werden. Abb. 2.56 Palpation des Sulcus intertubercularis – Detailansicht.

Technik – 2. Variante Falls die beschriebene direkte Form, den Sulkus aufzusuchen, nicht gleich glückt, greift man auf eine indirekte Methode zurück. Bei aktiver Abduktion des Armes innerhalb der Ebene der Skapula (Scaption) liegt der Sulkus direkt unter einer Muskellücke des Deltamuskels. Man lässt den Arm des Probanden aktiv in Abduktion in der Skapulaebene halten, sodass die Muskellücke zwischen den akromialen und klavikularen Portionen des Deltamuskels deutlich wird. In den Längsverlauf der Muskellücke wird nun der palpierende Finger gelegt (▶ Abb. 2.57). Bei der Palpation auf der rechten Seite ist dies der linke Zeigefinger. In dieser Position befindet sich der Sulkus direkt unter der Muskellücke. Der Zeigefinger bleibt in der Muskellücke, während der Arm zurück in die ruhende Ausgangssituation geführt wird. Der palpierende Finger liegt mit großer Wahrscheinlichkeit über dem gesuchten Sulkus. Mit erneuter leichter rotatorischer Bewegung des Armes im Schultergelenk wird die Lokalisation des Sulcus intertubercularis unter dem Zeigefinger bestätigt.

Therapeutischer Hinweis Eine bekannte Weichteilpathologie an der Schulter ist die Sehnenscheidenaffektion der langen Bizepssehne im Sulcus intertubercularis. Diese wird zielführend mit lokalen Anwendungen aus der physikalischen Therapie, so auch mit Cyriax’scher Querfriktion, behandelt. Nur die genaue Palpation sichert hier den Behandlungserfolg.

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Tuberculum majus humeri Mit der Lokalisation der Anteile des Tuberculum majus schließt sich der Palpationskreis der lateralen Strukturen der Schulter. Das Tuberculum majus bietet den Rotatorenmanschettenmuskeln 3 kleine Flächen (Facetten) zur Insertion an: ● vordere Facette – M. supraspinatus, Insertionsfeld: 18–33 mm Länge, 12–21 mm Breite ● mittlere Facette – M. infraspinatus, Insertionsfeld: 20–45 mm Länge, 12–27 mm Breite ● hintere Facette – M. teres minor, Insertionsfeld: 20–40 mm Länge, 10–33 mm Breite (Curtis et al. 2006) Die nachfolgende Palpation hat die Aufgabe, die Ausdehnung des Tuberkulums deutlich zu machen und eine genaue Lokalisation der Insertionen der 3 Rotatorenmanschettenmuskeln zu ermöglichen. Die Anwendung von physikalisch-therapeutischen Maßnahmen (u. a. Querfriktionen) bieten sich allerdings in anderen ASTEn an, da die klinisch problematischeren Anteile hier besser erreichbar sind (▶ Abb. 2.18 und ▶ Abb. 2.62). Die vorangegangene Palpation hat mit dem Ertasten des Sulcus intertubercularis bereits den medialen Rand des Tuberculum majus aufgezeigt. Alle 3 Facetten zeigen eine typische Ausrichtung ihrer Lage in Bezug zum Schaft des Humerus (▶ Abb. 2.58): ● Die vordere Facette steht rechtwinklig zum Schaft. ● Die mittlere Facette ist hiervon um ca. 45° nach posterior-inferior angewinkelt. ● Die hintere Facette steht hierzu wiederum im 45° Winkel und damit wieder parallel zum Humerusschaft und in der Sagittalebene.

2.7 Lokale Palpation ventrolateral

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Abb. 2.59 Palpation der vorderen Facette.

Abb. 2.58 Lage der Facetten des Tuberculum majus.

Technik – vordere Facette Der gestreckte Zeigefinger wird mit seiner radialen Seite gegen den Rand des Akromions gestützt und rechtwinklig zum Sulcus intertubercularis ausgerichtet (▶ Abb. 2.59). Durch die intra- und interindividuell unterschiedliche Größe des Akromions (Engelhardt et al. 2017) variiert auch die erreichbare Fläche dieser Facette. Sie wird zudem nach vorne durch den Sulkus begrenzt. Diesen Rand spürt der palpierende Finger, der nach vorne in den Sulkus abrutscht. Die seitliche Grenze wird durch ein Abgleiten des Zeigefingers nach lateral deutlich.

Technik – mittlere Facette Vom Sulkus nach posterior über die ca. 2 cm lange vordere Facette palpierend gelangt man zur mittleren Facette, wenn der palpierende Finger über den 45° Winkel nach posterior-inferior abrutscht (▶ Abb. 2.60). Um die etwa 3 cm lange Facette (Curtis et al. 2006) als Fläche zu spüren, kann man auch die Daumenbeere zum Tasten einsetzen. Wiederum wird diese Fläche palpatorisch medial durch den Akromionrand und lateral durch ein rundliches Abgleiten nach inferior begrenzt.

Abb. 2.60 Palpation der mittleren Facette.

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Schulterregion

Abb. 2.62 ASTE – Palpation der Insertion des M. supraspinatus.

Abb. 2.61 Palpation der hinteren Facette.

Technik – hintere Facette Ebenfalls rutscht der Daumen über eine Kante nach posterior-inferior um 45° und landet somit auf der hinteren Facette des Tuberculum majus (ca. 3 cm Länge, Curtis et al. 2006). Der Daumen steht jetzt parallel zum Sulcus intertubercularis (▶ Abb. 2.61). Diese Facette ist durch die Weichteilabdeckung leider selten als Fläche abzugrenzen.

M. supraspinatus – Insertion Äußere Anteile des Tuberculum majus sind im Sitz lateral des Sulcus intertubercularis palpabel (▶ Abb. 2.58), aber hier befinden sich klinisch wenig interessante Anteile. Wichtige Insertionsgebiete der Mm. supraspinatus und infraspinatus liegen bei Einstellen des Armes in der physiologischen Nullposition schlecht erreichbar unterhalb des Akromions.

ASTE Hierzu wird der Patient mit dem Oberkörper in eine schräge Lage (ca. 60°) gegenüber der Rückenlage aufgerichtet, gegen das Fußteil der Therapieliege anlehnend, gelagert.

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Abb. 2.63 Lage der Insertion des M. supraspinatus.

Um die Insertion des M. supraspinatus zugänglich zu machen, muss man die vordere Facette des Tuberculum majus nach anterior hervorholen. Hierzu führt man den Arm des Probanden in eine Extension (ca. 30–40°), leichte Abduktion und endgradige Innenrotation (ca. 90°), sodass sein Handrücken mit der LWS Kontakt aufnimmt (▶ Abb. 2.62). Diese Position wurde bereits von Cyriax 1984 beschrieben (Cyriax 1984) und durch Studien von Mattingly und Mackarey 1996 (Mattingly u. Mackarey 1996) bestätigt. Nun liegt die klinisch wichtige Insertionsstelle direkt anterior und medial der Spina acromialis auf einem kleinen knöchernen horizontalen Plateau des Humerus (▶ Abb. 2.63 und ▶ Abb. 2.64).

2.7 Lokale Palpation ventrolateral

2

Abb. 2.65 Technik – Querfriktion des M. supraspinatus. Abb. 2.64 Verlauf des M. supraspinatus bei vorpositioniertem Arm.

Technik Zum Auffinden der Insertion verfolgt man den Rand des Akromions vom hinteren Winkel bis zur vorderen Spitze (▶ Abb. 2.24). Der palpierende Zeigefinger sollte jetzt so liegen, dass die Fingerbeere auf dem knöchernen Plateau liegt, der Fingernagel horizontal eingestellt ist und der Rand des Zeigefingers gegen die Spitze stößt (▶ Abb. 2.65). Führt man die Fingerbeere von der Akromionspitze nach anterior bis zur vorderen Kante, gelangt man an das Ende des Plateaus, wenn der Finger nach inferior abrutscht und der Fingernagel parallel zum Humerusschaft steht. Das Plateau der vorderen Facette ist medial begrenzt, wenn der Finger in den Sulkus abgleitet. Führt man den palpierenden Finger nach lateral, so ist das Plateau beendet, wenn man um 45° nach inferior auf die mittlere Facette abfällt (vgl. auch ▶ Abb. 2.55 bis ▶ Abb. 2.57).

Therapeutische Hinweise Wird diese Palpation im Rahmen einer Befunderhebung zur Schmerzprovokation bzw. bei der Behandlung einer Insertionstendopathie eingesetzt, führt man eine quere Friktion im Sinne der Cyriax’schen Lehre aus. Der Zeigefinger wird mit Hautkontakt und minimalem Druck etwas nach medial geführt. Hier baut er Druck in die Tiefe gegen das Plateau auf und wird nach lateral ohne Reibung über die Haut gezogen (▶ Abb. 2.65 und ▶ Abb. 2.66). Es sollte dem Therapeuten immer klar sein, dass der palpierende Finger nie direkt auf der Insertion liegen kann. Derbe Faserbündel des Deltamuskels und die Bursa subacromialis-subdeltoidea liegen noch darüber. Auch die Bursa kann entzündlich und schmerzhaft sein. Die Sicherheit, dass eine schmerzhafte Palpation dieser Stelle auch auf eine Supraspinatus-Insertionstendopathie

Abb. 2.66 Technik – alternative Ansicht von ventral.

hinweist, erhält der Therapeut nur durch entsprechende Befunde aus der Funktionsprüfung des Schultergelenkes. Liegt eine Tendopathie im Rahmen eines externen Impingements vor, werden eher die oberflächigen Sehnenanteile an der anterioren Kante des Plateaus betroffen sein. Behandlung bei Tendinitis: Die Richtung der druckbetonten Phase (nach medial oder lateral) der Querfriktion ist prinzipiell egal. Die lateral geführte Druckbetonung hat sich als ergonomisch vorteilhaft erwiesen. Die Intensität ist mäßig mit schmerzlinderndem Ziel. Behandlung bei Tendinosis: Die Querfriktion wird unter anhaltendem Druck in beide Richtungen mit erheblicher Intensität geführt. Um die tiefen, gelenkseitigen Sehnenanteile im Rahmen eines internen Impingements zu erreichen, arbeitet man mit Querfriktionen eher posterior auf der Facette, direkt vor der Akromionspitze.

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Schulterregion

Tipp Die ASTE des Probanden entspricht jetzt nicht dem aufrechten Sitz und die vorderen Anteile des Deltamuskels, durch die hindurch palpiert werden muss, sind gedehnt. Die Akromionspitze ist manchmal in der vorgeschlagenen ASTE schwer zu finden. Hier empfiehlt es sich, erst diese Spitze in der Ruheposition des Armes aufzusuchen und anschließend den Arm zu positionieren. Um die Palpationstechnik ergonomisch geschickt einzusetzen, empfiehlt es sich, die Therapieliege möglichst hoch einzustellen und kranial der Schulter des Patienten zu stehen.

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2.8 Literatur Colegate-Stone T, Allom R, Singh R et al. Classification of the morphology of the acromioclavicular joint using cadaveric and radiological analysis. J Bone Joint Surg Br 2010; 92:743–746 Curtis AS, Burbank KM, Tierney JJ et al. The insertional footprint of the rotator cuff: an anatomic study. Arthroscopy 2006; 22: 609.e1 Cyriax JH. Textbook of Orthopaedic Medicine, Volume 2: Treatment by Manipulation Massage and Injektion. 11th ed. London, England: Bailliere Tindall; 1984 Da Palma AF. Surgical Anatomy of Acromioclavicular and Sternoclavicular Joints. Surg Clin North Am 1963; 43: 1541–1550 Engelhardt C, Farron A, Becce F et al. Effects of glenoid inclination and acromion index on humeral head translation and glenoid articular cartilage strain. J Shoulder Elbow Surg 2017; 26: 157–164 Faraj AA. Bilateral congenital coracoclavicular joint. Case report and review of the literature. Acta Orthop Belg 2003; 69: 552–554 Gokeler A, van Paridon-Edauw GH, DeClercq S et al. Quantitative analysis of traction in the glenohumeral joint. In vivo radiographic measurements. Man Ther 2003; 8(2): 97–102 Hasset G, Barnsley L. Pain referral from the sternoclavicular joint: a study in normal volunteers. Rheumatol 2001; 40: 859–862 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Mattingly GE, Mackarey PJ. Optimal methods for shoulder tendon palpation: a cadaver study. Phys Ther 1996; 76: 16 673–16 673 Saccomanno MF, DE Ieso C, Milano G. Acromioclavicular joint instability: anatomy, biomechanics and evaluation. Joints. 2014 8; 2: 87–92 Sewell MD, Al-Hadithy N, Le Leu A et al. Instability of the sternoclavicular joint: current concepts in classification, treatment and outcomes. Bone Joint J. 2013; 95-B(6): 721–731 Thiel W. Photografischer Atlas der Praktischen Anatomie. 2. Aufl. Heidelberg: Springer; 2006 Tubbs RS, Shah NA, Sullivan BP et al. The costoclavicular ligament revisited: a functional and anatomical study. Rom J Morphol Embryol 2009; 50: 475–479 Werner A, Mueller T, Boehm D et al. The stabilizing sling for the long head of the biceps tendon in the rotator cuff interval. A histoanatomic study. Am J Sports Med 2000; 28: 28–31 Williams PL. Gray's anatomy. 40th ed.. Edinburgh: Churchill Livingstone; 2009 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in vivo. 3. Aufl. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2004

Schulterregion

Tipp Die ASTE des Probanden entspricht jetzt nicht dem aufrechten Sitz und die vorderen Anteile des Deltamuskels, durch die hindurch palpiert werden muss, sind gedehnt. Die Akromionspitze ist manchmal in der vorgeschlagenen ASTE schwer zu finden. Hier empfiehlt es sich, erst diese Spitze in der Ruheposition des Armes aufzusuchen und anschließend den Arm zu positionieren. Um die Palpationstechnik ergonomisch geschickt einzusetzen, empfiehlt es sich, die Therapieliege möglichst hoch einzustellen und kranial der Schulter des Patienten zu stehen.

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2.8 Literatur Colegate-Stone T, Allom R, Singh R et al. Classification of the morphology of the acromioclavicular joint using cadaveric and radiological analysis. J Bone Joint Surg Br 2010; 92:743–746 Curtis AS, Burbank KM, Tierney JJ et al. The insertional footprint of the rotator cuff: an anatomic study. Arthroscopy 2006; 22: 609.e1 Cyriax JH. Textbook of Orthopaedic Medicine, Volume 2: Treatment by Manipulation Massage and Injektion. 11th ed. London, England: Bailliere Tindall; 1984 Da Palma AF. Surgical Anatomy of Acromioclavicular and Sternoclavicular Joints. Surg Clin North Am 1963; 43: 1541–1550 Engelhardt C, Farron A, Becce F et al. Effects of glenoid inclination and acromion index on humeral head translation and glenoid articular cartilage strain. J Shoulder Elbow Surg 2017; 26: 157–164 Faraj AA. Bilateral congenital coracoclavicular joint. Case report and review of the literature. Acta Orthop Belg 2003; 69: 552–554 Gokeler A, van Paridon-Edauw GH, DeClercq S et al. Quantitative analysis of traction in the glenohumeral joint. In vivo radiographic measurements. Man Ther 2003; 8(2): 97–102 Hasset G, Barnsley L. Pain referral from the sternoclavicular joint: a study in normal volunteers. Rheumatol 2001; 40: 859–862 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Mattingly GE, Mackarey PJ. Optimal methods for shoulder tendon palpation: a cadaver study. Phys Ther 1996; 76: 16 673–16 673 Saccomanno MF, DE Ieso C, Milano G. Acromioclavicular joint instability: anatomy, biomechanics and evaluation. Joints. 2014 8; 2: 87–92 Sewell MD, Al-Hadithy N, Le Leu A et al. Instability of the sternoclavicular joint: current concepts in classification, treatment and outcomes. Bone Joint J. 2013; 95-B(6): 721–731 Thiel W. Photografischer Atlas der Praktischen Anatomie. 2. Aufl. Heidelberg: Springer; 2006 Tubbs RS, Shah NA, Sullivan BP et al. The costoclavicular ligament revisited: a functional and anatomical study. Rom J Morphol Embryol 2009; 50: 475–479 Werner A, Mueller T, Boehm D et al. The stabilizing sling for the long head of the biceps tendon in the rotator cuff interval. A histoanatomic study. Am J Sports Med 2000; 28: 28–31 Williams PL. Gray's anatomy. 40th ed.. Edinburgh: Churchill Livingstone; 2009 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in vivo. 3. Aufl. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2004

Ellbogenregion

3 Ellbogenregion 3.1 Einleitung 3.1.1 Bedeutung der Region aus funktionellen und anatomischen Gesichtspunkten Das Mittelgelenk der oberen Extremität (Art. cubiti) dient funktionell zur Verlängerung bzw. Verkürzung der Distanz zwischen Hand und Körper bzw. Gesicht. Die zweite funktionelle Aufgabe ist die Rotation der Hand, die auf dem Niveau des Unterarmes angesiedelt ist. Die Ansiedelung der Rotation des distalen Extremitätenabschnitts nicht ausschließlich im Mittelgelenk ist funktionell und letztlich auch anatomisch der bedeutendste Unterschied zum Mittelgelenk der unteren Extremität, dem Kniegelenk. Das Hauptgelenk für die Führung der Flexion und Extension ist das Humeroulnargelenk (Art. humeroulnaris – HUG). Das wichtigste Gelenk für die Steuerung der Umwendebewegungen des Unterarmes und somit der Rotation der Hand ist das proximale Radioulnargelenk (Art. radioulnaris proximalis – PRUG). Die Art. humeroradialis (HRG) ist funktionell lediglich ein Adapter zwischen der Führung der Flexion/Extension im HUG und den Umwendebewegungen Pronation/Supination im PRUG. Alle 3 Gelenke befinden sich innerhalb einer Kapsel, die sowohl genügend Freiheit für die sehr ausgiebigen Bewegungen in Flexion/Extension gewährleistet, als auch die seitliche Stabilität in vor allem extendierter Stellung garantiert (Ligg. collateralia). Weiterhin hält das Lig. anulare radii den Radius an der Ulna und gewährleistet somit direkt die Stabilität des PRUG. Knöcherne Strukturen sind hauptsächlich lateral und posterior und nur wenige medial erreichbar. Die Gelenkspalte werden bis auf wenige Ausnahmen unter den ausgeprägten Weichteilen verborgen. Daher ist es zur Lokalisation der Gelenke notwendig, Hilfe in Form von Leitmuskeln und räumlichen Zuordnungen in Anspruch zu nehmen. Will man z. B. den Radius anterior erreichen, muss man sich am medialen Rand des M. brachioradialis orientieren und von hier aus in die Tiefe palpieren. Die Lokalisierung der Gelenkpartner und die räumliche Vorstellung über die Stellung der Gelenkflächen entscheiden darüber, wie genau ein Therapeut seine Hände platzieren kann, um Gelenkpartner manualtherapeutisch zu bewegen. Neben der komplizierten knöchernen Situation zeichnet sich das Ellenbogengelenk durch eine Anlage von vielen, teils schlanken Muskeln aus, die sich in einen Strecker (M. triceps brachii) und mehrere Flexoren unterteilen lassen. Einige Synergisten für die Ellenbogenflexion haben ihre Hauptfunktion als Strecker oder Beuger des Handgelenks. Sie sind es insbesondere, die mit Überlastungssyndromen der Sehnen und Insertionen symptomatisch auffällig werden (Tennis- oder Golfarm) und den

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Therapeuten vor die Aufgabe stellen, die genaue Stelle der Läsion zu entdecken. Der Ursprung dieser Synergisten befindet sich an den Epikondylen des Humerus bzw. in deren unmittelbarer Umgebung.

3.1.2 Häufige therapeutische Tätigkeiten in dieser Region, die Palpationskenntnisse erfordern Die Palette der Techniken zur Befundung und Behandlung des Ellenbogengelenkes ist vielfältig und reicht vom Messen des Blutdrucks, Prüfen von Reflexen an Bizeps und Trizeps über elektro- und kryotherapeutische Anwendungen bis hin zu lokalen Querfriktionen und Techniken der Manuellen Therapie an den einzelnen Gelenkabschnitten.

3.1.3 Notwendige Vorkenntnisse (topografisch und morphologisch) Das Erkennen und Differenzieren tief liegender Strukturen mittels gezielter Palpation können nur dann wertvoll sein, wenn man die Zusammenhänge zu bestehenden topografischen Vorkenntnissen herstellen kann. Daher benötigt der suchende Therapeut eine räumliche Vorstellung der Knochenpartner, die an der Konstruktion der Art. cubiti beteiligt sind. Eine bildliche Vorstellung mit den Bezeichnungen der wichtigsten Strukturen aus verschiedenen Perspektiven ist daher notwendig. Der rundliche Schaft des Humerus verbreitert sich und wird zunehmend flacher. Er bildet Ränder (Margines) und Kanten (Cristae), die in Epikondylen enden und Ursprungsbereiche für eine Reihe von Muskeln darstellen. Der Humerus trägt den proximalen Gelenkkörper des Ellenbogengelenkes (Condylus humeri), der sich in Capitulum und Trochlea humeri unterteilt (▶ Abb. 3.1). In der

Crista supracondylaris Epicondylus lateralis

Humerus

Epicondylus medialis

Capitulum humeri Caput radii

Trochlea humeri Ulna

Tuberositas radii

Abb. 3.1 Topografie knöchern – Ansicht von anterior.

3.1 Einleitung Sagittalebene betrachtet, ist die Trochlea humeri von anterior nach posterior konvex. In der Frontalebene ist sie durch eine längs verlaufende zentrale Rinne konkav geformt.

Humeroulnares Gelenk Das humeroulnare Gelenk (HUG) ist ein Scharniergelenk mit einer sich während Flexion und Extension verändernden Achse. Diese Achse hat eine 3-dimensionale Ausrichtung, sodass die Bewegung in 3 anatomischen Bewegungen stattfindet. In Extension bewegt sich die Ulna immer in Valgus. In Flexion bewegt sie sich variabel in Varus oder Valgus (Matthijs et al. 2003). Die Ulna ist proximal wesentlich kräftiger ausgebildet als distal und bildet mit der Incisura trochlearis einen Gelenkpartner mit einer tiefen Pfanne, die um ca. 45° gegenüber dem Ulnaschaft geneigt ist. Die passive Stabilität des humeroulnaren Gelenkes wird vor allem durch die Form der Gelenkpartner gewährleistet, die tiefe Incisura trochlearis umfasst die Trochlea humeri um ca. 180° (Milz et al. 1997). Die Stabilität des Gelenkes basiert auf der knöchernen Konstruktion (Formschluss, Matthijs et al. 2003). Zudem haben beide Gelenkpartner einen kleinen, fast identischen Krümmungsradius. Die Incisura trochlearis kennt eine gewisse Variationsanatomie hinsichtlich ihres Knorpelbelags. Viele Incisurae haben in der Mitte keinen oder fast keinen Knorpelbelag (Milz et al. 1997). Dies bedeutet, dass bei mehreren Humeroulnargelenken keine Kontaktzone in der Mitte besteht oder dass die Incisura und Trochlea eine gewisse Inkongruenz aufweisen. Eckstein et al. haben seit 1993 in mehreren Publikationen über diese Inkongruenz berichtet. Die Trochlea humeri ist somit häufig größer als die Incisura und stützt in unbelasteter Position auf die Wände der Incisura. Mit zunehmender Belastung taucht die Trochlea tiefer in die Incisura und die Kongruenz nimmt dann zu (Eckstein et al. 1995).

Humeroradiales Gelenk Die Kugelform des Capitulum humeri hat einen sehr kleinen Radius und zeigt nach anterior-distal. Der Radius ist proximal im Vergleich zu seinem distalen Ende eher schmächtig und formt mit seinem Caput 2 Gelenkflächen, die mit dem Humerus und der Ulna gleichzeitig artikulieren (▶ Abb. 3.2). Die Fovea capitis radii bildet mit dem Capitulum humeri eine Art. trochoginglymus. Im Gegensatz zum HUG beruht die passive Stabilität nicht auf der knöchernen Konstruktion der Gelenkpartner, sondern mehr auf Kraftverschluss. Somit sind es die Kapsel und die Ligamente, die bei Spannung eine Kraft erzeugen, welche die physiologischen Kontaktzonen der Gelenkpartner aufrechterhält (Matthijs et al. 2003). Die Inkongruenz der Gelenkpartner hat zur Folge, dass Kapselfalten (Plicae) zirkulär in den Gelenkraum hineinragen. Im hu-

meroradialen Gelenk (HRG) werden 60 % der Achsenbelastung vom Unterarm auf den Oberarm übertragen, wobei die Kompression in Extension (mit Valgus) und Pronation sowie durch Aktivität der Handextensoren noch erhöht wird. So wird verständlich, dass Muskelaktivität der Handextensoren Schmerzen bei einer Arthrose bzw. Einklemmungen von Kapselfalten provozieren können. Dies macht die Differenzierung bei der Untersuchung von lateralen Ellenbogenschmerzen bei Greifaktivitäten schwierig. Zudem sind unter anderem Laxitäten und Instabilitäten des HRG weitere Ursachen für laterale Ellenbogenschmerzen (O’Driscoll 1991a).

3

Proximales Radioulnargelenk Das proximale Radioulnargelenk (PRUG) wird aus der Circumferentia radii als Gelenkkopf und der Incisura radialis ulnae mit dem Lig. anulare radii als Gelenkpfanne gebildet und ist eine Art. trochoidea (▶ Abb. 3.2). Die Gelenkfläche der Incisura radialis ulnae verläuft von anteriomedial nach posteriolateral. Bei den Umwendebewegungen des Unterarmes wird das Caput radii in einem osteofibrösen Ring aus Incisura und Ligament zentriert geführt. Obwohl die ganze Circumferentia einen Knorpelbelag besitzt, kommt ein Teil nie in Kontakt mit der ulnaren Gelenkfläche, sondern artikuliert ausschließlich mit dem Lig. anulare radii („the save zone“; Kuhn 2012). Das Lig. anulare radii liegt direkt der Circumferentia auf und ist daher nicht in der Lage, sich in Verkürzung anzupassen. Als pathologisch veränderte Mobilität ist somit eher eine Laxität als kapsulär bedingt Hypomobilität zu erwarten (Matthijs et al. 2003). Der Radiuskopf ist oval geformt. Der längere Diameter des Ovals beträgt in etwa 28 mm und der kürzere 22 mm. Durch einen seitlichen Überhang steht der Radiuskopf nicht genau in Verlängerung des Radiusschaftes. Der längste Durchmesser des Ovals stützt sich in der Nullposition gegen die Ulna. In dieser Position bewegt sich der Schaft in dieser Position weiter von der Ulna nach radial weg und es entsteht Platz für den Durchtritt der Tuberositas radii (mit der Insertion der langen Bizepssehne und einer

Humerus Crista supracondylaris Capitulum humeri

Caput radii Radius Ulna

Epicondylus lateralis Olekranon

Abb. 3.2 Topografie knöchern – Ansicht von lateral (radial).

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Ellbogenregion dazwischenliegenden Bursa) durch beide Unteramknochen hindurch. Am Ende der Pronation drückt sich die Tuberositas radii durch die Weichteile spürbar nach lateral heraus und ist so lokalen therapeutischen Interventionen zugänglich. Bei voller Supination dreht sich die Tuberositas radii nach vorne und ist in der Tiefe der Fossa cubitalis palpabel. Weichteilläsionen gehören zu den häufigsten Beschwerdebildern der physiotherapeutischen Praxis im Bereich des Ellenbogengelenkes. Bezeichnungen und Lage der Muskeln, die an den humeralen Epikondylen entspringen, gehören zum anatomischen Rüstzeug des Therapeuten. Insgesamt werden die palpierten Muskeln in späteren Anteilen des Kapitels näher erläutert. Vorab lassen sich einige interessante Aspekte beschreiben.

tionstendopathie bzw. Tendinose (Tennisarmsyndrom, ▶ Abb. 3.36). Er wird häufig therapeutisch gedehnt. Allerdings war die bislang angenommene Dehnposition (Extension und Pronation im Ellenbogen sowie Flexion und ulnare Abduktion des Handgelenkes) eher nicht die optimale Position der Verlängerung seiner Sarkomere. Lieber et al. (1997) beschreiben, dass Extension keine Dehnposition ist, und Ljung et al. (1999) halten fest, dass Pronation nicht zur Verlängerung des M. extensor carpi radialis brevis beiträgt. Das „Ziehen“ bei der herkömmlichen Dehnposition könnte auch durch eine Dehnung des N. radialis ramus superficialis verursacht werden. Die Mm. extensor carpi ulnaris, anconeus und supinator entspringen ebenfalls am lateralen Epikondylus, sind aber am Ellenbogen klinisch eher nicht auffällig.

Muskuläre Ursprünge im Bereich des lateralen Epicondylus humeri

Muskuläre Ursprünge im Bereich des medialen Epicondylus humeri

In 90° Flexion liegen die Muskeln des lateralen Ellenbogenbereichs nahezu parallel zueinander (▶ Abb. 3.3). Klinisch eher unauffällig entspringen in direkter Nachbarschaft der M. brachioradialis (Margo lateralis humeri) und M. extensor carpi radialis longus (Crista supracondylaris humeri). Direkt am Epicondylus lateralis haben mehrere Muskeln ihren Ursprung, deren Sehnen sehr oft ineinander übergehen und mit der humeroradialen Kapsel Kontakt haben: M. extensor carpi radialis brevis und M. extensor digitorum, M. extensor carpi ulnaris und M. anconeus. Das Wissen über die genaue Lage der Ursprünge entstammt Präparatestudien von Omer Matthijs an der Texas Tech University in Lubbock. Der kurze radiale Handextensor ist zum großen Teil die Struktur mit den häufigsten Weichteilirritationen im Sinne einer Inser-

Einige oberflächig liegende Muskeln des Oberarmes mit flexorischer Wirkung auf das Handgelenk entspringen mit einer gemeinsamen Sehne (Caput commune) an der distalen Spitze des medialen Epikondylus (▶ Abb. 3.4): Mm. flexor carpi radialis, palmaris longus, flexor carpi ulnaris und der humerale Kopf des M. flexor digitorum superficialis. Das bis zu 1 cm lange Caput commune kann mediale Ellenbogenschmerzen (Golfarmsyndrom) verursachen. Lediglich der M. pronator teres entspringt separat von einem Plateau auf der anterioren Seite des Epikondylus. Die Faszie des Unterarmes erhält einige Zentimeter distal des Ellenbogengelenkes eine sehnige und scharfrandige Einstrahlung des M. biceps brachii: Aponeurosis bicipitalis oder Lacertus fibrosus.

M. brachioradialis M. extensor carpi radialis longus M. extensor carpi radialis brevis M. extensor digitorum M. extensor carpi ulnaris M. anconeus

Abb. 3.3 Topografie muskulär – Ansicht von lateral (radial).

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3.1 Einleitung

M. triceps brachii M. biceps brachii M. brachialis M. flexor carpi radialis

3

M. pronator teres Lazertus fibrosus M. palmaris longus M. flexor carpi ulnaris

Abb. 3.4 Topografie muskulär – Ansicht von medial (ulnar).

Neurale Strukturen Neurale Strukturen spielen in der therapeutischen Betrachtung einer Gelenkregion eine besondere Rolle und sind differenzialdiagnostisch von großem Interesse. Man sollte sich daher vergegenwärtigen, dass alle 3 Hauptnerven für die Innervation von Unterarm und Hand (Nn. medianus, radialis und ulnaris) das Ellenbogengelenk passieren müssen (▶ Abb. 3.5). Jeder von ihnen durchläuft dabei

mindestens eine muskuläre Passage, die sich zu einem Engpass entwickeln und Kompression auf den Nerv ausüben kann. Daher sind periphere Nervenkompressionen eine ernst zu nehmende Alternative zu Weichteilirritationen im Sinnes eines Tennis- oder Golfarmes. Der N. radialis durchläuft posterior am Humerus den Sulcus nervi radialis, überquert das Ellenbogengelenk auf der Vorderseite und tritt durch 2 muskuläre Anteile des M. supinator. Im Radialistunnel (▶ Abb. 3.6) passiert er die scharfrandige Sehne des M. extensor carpi radialis brevis und die scharfrandige Arkade des M. supinator. Hier kann er eine Neurokontusion erleiden (Moradi et al. 2015), die gerne als Tennisarm missinterpretiert wird.

Sulcus n. radialis

N. radialis N. medianus N. ulnaris

Sulcus n. ulnaris Arkade von Frohse M. supinator Caput humerale

Abb. 3.5 Verlauf der wichtigsten peripheren Nerven des Armes.

Abb. 3.6 Radialistunnel (nach Omer Matthijs).

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Ellbogenregion Auf der medialen Seite hat der M. biceps brachii eine Weichteilrinne, den Sulcus bicipitalis, in der Gefäße und u. a. der N. medianus verlaufen. Letzterer passiert das Ellenbogengelenk mittelständig in der Ellenbeuge unterhalb des Lacertus fibrosus und durchdringt anschließend 2 Bäuche des M. pronator teres. Der Sulcus nervi ulnaris ist die bekannteste Nervenpassage am Ellenbogen. Der N. ulnaris ist der einzige der großen peripheren Nerven am Arm, der den Ellenbogen auf der Rückseite überquert (▶ Abb. 3.7). Weitgehend unbekannt sind mögliche Kompressionen des Nervs beim Eintritt durch den Kubitaltunnel (KT). Andreisek et al. (2006) halten fest, dass das Kubitaltunnelsyndrom das zweithäufigste Nervenkompressionssyndrom der oberen Extremität sei. Bereits moderate Kompression des KT, wie physiologisch beispielsweise bei einer ausgiebigen Flexion, verringern das Volumen deutlich. Grana beschreibt in seiner Monografie von 2001 das Kubitaltunnelsyndrom neben der medialen Epikondylopathie als häufige Ursache medialer Ellenbogenschmerzen bei amerikanischen Wurfsportlern (Grana 2001). Die Pathologie ist bereits seit mehr als 100 Jahren bekannt, wobei Feindel und Stratford 1958 erstmalig den Begriff geprägt haben (Robertson u. Saratsiotis 2005). Eine sehr detaillierte Beschreibung des KT geben O’Driscoll et al. in ihrer Veröffentlichung (1991b) an. Die Grundlage bildet der knöcherne Sulcus nervi ulnaris zwischen der Trochlea humeri und dem Epicondylus medialis. Der Boden des Tunnels wird von der HUG-Kapsel und dem darin verlaufenden Lig. collaterale ulnare gebildet (Robertson u. Saratsiotis 2005). Das Dach bilden der humerale und ulnare Kopf des M. flexor carpi ulnaris, die am Epicondylus lateralis respektive seitlich am Olekranon ansetzen. Sie bilden ein 3 cm langes Dreieck, in dem sich die tiefe Aponeurose des Muskels verspannt und den Tunnel großflächig abdeckt. In 70 % der Präparate von O’Driscoll bildet ein ca. 4 mm langes, ligamentartiges Retinakulum (cubital tunnel retinaculum oder Osborne’s ligament) die proximale Begrenzung. Es verspannt sich zwischen

Epikondylus und Olekranon. Ist das Retinakulum vorhanden, lässt es sich zu 90 % palpieren. Bei zunehmender Flexion strafft es sich und erhöht den Druck im Kubitaltunnel bis zu 20-fach (Polatsch et al. 2007), bei Extension wird es lax. Die Anwesenheit des Retinakulums wird mit einer möglichen neuralen Kompressionspathologie, das Fehlen mit einer möglichen Dislokation des N. ulnaris nach anterior über den medialen Epikondylus und einer möglichen Friktionsneuritis in Zusammenhang gebracht. Weiter proximal hat der N. ulnaris die Chance, durch den M. triceps brachii komprimiert zu werden.

3.2 Allgemeine Orientierung anterior 3.2.1 Begrenzungen der Fossa cubitalis Die Anatomie in vivo beginnt anterior an der Ellenbogenbeuge (Fossa cubitalis). Von hier aus wird die Palpation der Strukturen der medialen Seite, anschließend des lateralen Ellenbogens und schließlich posteriore Strukturen vorgestellt. Die Ellenbogenbeuge ist dreieckförmig (▶ Abb. 3.8) und wird ● proximal von dem Muskelbauch und den Sehnen der Mm. biceps brachii und brachialis (1) ● lateral von dem M. brachioradialis (2) ● medial von dem M. pronator teres (3) umrandet.

1

3 2

proximal N. ulnaris

mittig (Sulcus ulnaris) distal

Abb. 3.7 Passage des N. ulnaris im Kubitaltunnel.

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Abb. 3.8 Lage und Begrenzungen der Fossa cubitalis.

Ellbogenregion Auf der medialen Seite hat der M. biceps brachii eine Weichteilrinne, den Sulcus bicipitalis, in der Gefäße und u. a. der N. medianus verlaufen. Letzterer passiert das Ellenbogengelenk mittelständig in der Ellenbeuge unterhalb des Lacertus fibrosus und durchdringt anschließend 2 Bäuche des M. pronator teres. Der Sulcus nervi ulnaris ist die bekannteste Nervenpassage am Ellenbogen. Der N. ulnaris ist der einzige der großen peripheren Nerven am Arm, der den Ellenbogen auf der Rückseite überquert (▶ Abb. 3.7). Weitgehend unbekannt sind mögliche Kompressionen des Nervs beim Eintritt durch den Kubitaltunnel (KT). Andreisek et al. (2006) halten fest, dass das Kubitaltunnelsyndrom das zweithäufigste Nervenkompressionssyndrom der oberen Extremität sei. Bereits moderate Kompression des KT, wie physiologisch beispielsweise bei einer ausgiebigen Flexion, verringern das Volumen deutlich. Grana beschreibt in seiner Monografie von 2001 das Kubitaltunnelsyndrom neben der medialen Epikondylopathie als häufige Ursache medialer Ellenbogenschmerzen bei amerikanischen Wurfsportlern (Grana 2001). Die Pathologie ist bereits seit mehr als 100 Jahren bekannt, wobei Feindel und Stratford 1958 erstmalig den Begriff geprägt haben (Robertson u. Saratsiotis 2005). Eine sehr detaillierte Beschreibung des KT geben O’Driscoll et al. in ihrer Veröffentlichung (1991b) an. Die Grundlage bildet der knöcherne Sulcus nervi ulnaris zwischen der Trochlea humeri und dem Epicondylus medialis. Der Boden des Tunnels wird von der HUG-Kapsel und dem darin verlaufenden Lig. collaterale ulnare gebildet (Robertson u. Saratsiotis 2005). Das Dach bilden der humerale und ulnare Kopf des M. flexor carpi ulnaris, die am Epicondylus lateralis respektive seitlich am Olekranon ansetzen. Sie bilden ein 3 cm langes Dreieck, in dem sich die tiefe Aponeurose des Muskels verspannt und den Tunnel großflächig abdeckt. In 70 % der Präparate von O’Driscoll bildet ein ca. 4 mm langes, ligamentartiges Retinakulum (cubital tunnel retinaculum oder Osborne’s ligament) die proximale Begrenzung. Es verspannt sich zwischen

Epikondylus und Olekranon. Ist das Retinakulum vorhanden, lässt es sich zu 90 % palpieren. Bei zunehmender Flexion strafft es sich und erhöht den Druck im Kubitaltunnel bis zu 20-fach (Polatsch et al. 2007), bei Extension wird es lax. Die Anwesenheit des Retinakulums wird mit einer möglichen neuralen Kompressionspathologie, das Fehlen mit einer möglichen Dislokation des N. ulnaris nach anterior über den medialen Epikondylus und einer möglichen Friktionsneuritis in Zusammenhang gebracht. Weiter proximal hat der N. ulnaris die Chance, durch den M. triceps brachii komprimiert zu werden.

3.2 Allgemeine Orientierung anterior 3.2.1 Begrenzungen der Fossa cubitalis Die Anatomie in vivo beginnt anterior an der Ellenbogenbeuge (Fossa cubitalis). Von hier aus wird die Palpation der Strukturen der medialen Seite, anschließend des lateralen Ellenbogens und schließlich posteriore Strukturen vorgestellt. Die Ellenbogenbeuge ist dreieckförmig (▶ Abb. 3.8) und wird ● proximal von dem Muskelbauch und den Sehnen der Mm. biceps brachii und brachialis (1) ● lateral von dem M. brachioradialis (2) ● medial von dem M. pronator teres (3) umrandet.

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proximal N. ulnaris

mittig (Sulcus ulnaris) distal

Abb. 3.7 Passage des N. ulnaris im Kubitaltunnel.

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Abb. 3.8 Lage und Begrenzungen der Fossa cubitalis.

3.3 Lokale Palpation anterior In der Fossa cubitalis verlaufen A. brachialis und N. medianus gemeinsam unter dem Lacertus fibrosus zur Mitte des Unterarmes (▶ Abb. 3.8). Weiterhin suchen sich die rundlichen Sehnen der Mm. biceps brachii und brachialis ihre Insertionen an den entsprechenden Tuberositas der Unteramknochen.

3.3 Lokale Palpation anterior 3.3.1 Kurzfassung des Palpationsganges Die Lokalisation der verschiedenen Strukturen, die an der Ausformung der Ellenbogenbeuge beteiligt sind, erschließt man sich durch einen ausgiebigen Palpationsbeginn an der medialen Seite des Humerus, um letztlich die Strukturen der Fossa cubitalis aufzusuchen. Die Strukturen an der inneren Oberarmseite kann man in 2 Richtungen verfolgen: ● Zunächst wird man ihnen nach distal und anterior in die Ellenbogenbeuge nachspüren. ● Später wird die Palpation nach distal und medial zum medialen Epikondylus beschrieben. Wir starten medial und suchen hier vor allem ein Nerven- und Gefäßbündel, welches uns zur Vorderseite des Ellenbogengelenkes führt. Schließlich werden die einzelnen Strukturen in der Ellenbogenbeuge voneinander differenziert.

ASTE Zu Übungszwecken eignet sich folgende ASTE (▶ Abb. 3.9): Der Patient sitzt auf einem Hocker seitlich vor der Therapieliege, auf der der Therapeut Platz nimmt. Der Ellenbogen stützt sich dabei auf dem Oberschenkel des Therapeuten ab. Das Ellenbogengelenk ist flektiert und in Mittelstellung der Pronation/Supination einge-

Abb. 3.9 ASTE der Palpation anterior.

stellt. Die Ellenbeuge sollte dabei immer nach oben zeigen, als Zeichen der neutralen Lagerung des Oberarmes. Diese eher ungewöhnliche ASTE bietet mehrere Vorteile für eine Palpation am medialen Humerus und an der Ellenbogenbeuge: ● Die zu palpierenden Bereiche sind frei zugänglich. ● Das Ellenbogengelenk ist gut in verschiedenen Positionen einstellbar.

3

Letzteres ist von Vorteil, wenn man Bewegungen in dem Gelenk benötigt, um die Palpation zu bestätigen oder um bestimmte Muskeln bzw. Nerven durch Verlängerung vorzuspannen.

Alternative ASTEn Natürlich können auch andere Positionen und Grifftechniken benutzt werden, um die nachfolgend aufgelisteten Strukturen zu erreichen. Dennoch sollte immer gewährleistet sein, dass die Weichteile in der Umgebung des Ellenbogengelenkes nicht gequetscht werden und das Gelenk selbst verschiedentlich positionierbar ist. Palpation am eigenen Oberarm ist ebenso möglich, wenn das Ellenbogengelenk stabil aufliegt und die zweite Hand einen freien Zugang zum medialen Oberarm und der Ellenbeuge hat (▶ Abb. 3.10).

3.3.2 Palpation einzelner Strukturen Humerus – medialer Schaft Die Palpation der anterioren Ellenbeuge beginnt recht weit proximal, um so einen sicheren Zugang zu den Begrenzungen der Fossa cubitalis zu finden. Wichtig für die Palpation medial am Oberarm sind das freie Hängen des Trizeps und die allgemeine Entspannung der Muskeln.

Abb. 3.10 Eigenpalpation des Armes.

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3.3 Lokale Palpation anterior In der Fossa cubitalis verlaufen A. brachialis und N. medianus gemeinsam unter dem Lacertus fibrosus zur Mitte des Unterarmes (▶ Abb. 3.8). Weiterhin suchen sich die rundlichen Sehnen der Mm. biceps brachii und brachialis ihre Insertionen an den entsprechenden Tuberositas der Unteramknochen.

3.3 Lokale Palpation anterior 3.3.1 Kurzfassung des Palpationsganges Die Lokalisation der verschiedenen Strukturen, die an der Ausformung der Ellenbogenbeuge beteiligt sind, erschließt man sich durch einen ausgiebigen Palpationsbeginn an der medialen Seite des Humerus, um letztlich die Strukturen der Fossa cubitalis aufzusuchen. Die Strukturen an der inneren Oberarmseite kann man in 2 Richtungen verfolgen: ● Zunächst wird man ihnen nach distal und anterior in die Ellenbogenbeuge nachspüren. ● Später wird die Palpation nach distal und medial zum medialen Epikondylus beschrieben. Wir starten medial und suchen hier vor allem ein Nerven- und Gefäßbündel, welches uns zur Vorderseite des Ellenbogengelenkes führt. Schließlich werden die einzelnen Strukturen in der Ellenbogenbeuge voneinander differenziert.

ASTE Zu Übungszwecken eignet sich folgende ASTE (▶ Abb. 3.9): Der Patient sitzt auf einem Hocker seitlich vor der Therapieliege, auf der der Therapeut Platz nimmt. Der Ellenbogen stützt sich dabei auf dem Oberschenkel des Therapeuten ab. Das Ellenbogengelenk ist flektiert und in Mittelstellung der Pronation/Supination einge-

Abb. 3.9 ASTE der Palpation anterior.

stellt. Die Ellenbeuge sollte dabei immer nach oben zeigen, als Zeichen der neutralen Lagerung des Oberarmes. Diese eher ungewöhnliche ASTE bietet mehrere Vorteile für eine Palpation am medialen Humerus und an der Ellenbogenbeuge: ● Die zu palpierenden Bereiche sind frei zugänglich. ● Das Ellenbogengelenk ist gut in verschiedenen Positionen einstellbar.

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Letzteres ist von Vorteil, wenn man Bewegungen in dem Gelenk benötigt, um die Palpation zu bestätigen oder um bestimmte Muskeln bzw. Nerven durch Verlängerung vorzuspannen.

Alternative ASTEn Natürlich können auch andere Positionen und Grifftechniken benutzt werden, um die nachfolgend aufgelisteten Strukturen zu erreichen. Dennoch sollte immer gewährleistet sein, dass die Weichteile in der Umgebung des Ellenbogengelenkes nicht gequetscht werden und das Gelenk selbst verschiedentlich positionierbar ist. Palpation am eigenen Oberarm ist ebenso möglich, wenn das Ellenbogengelenk stabil aufliegt und die zweite Hand einen freien Zugang zum medialen Oberarm und der Ellenbeuge hat (▶ Abb. 3.10).

3.3.2 Palpation einzelner Strukturen Humerus – medialer Schaft Die Palpation der anterioren Ellenbeuge beginnt recht weit proximal, um so einen sicheren Zugang zu den Begrenzungen der Fossa cubitalis zu finden. Wichtig für die Palpation medial am Oberarm sind das freie Hängen des Trizeps und die allgemeine Entspannung der Muskeln.

Abb. 3.10 Eigenpalpation des Armes.

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Ellbogenregion

Abb. 3.11 Palpation des medialen Humerus.

Technik Der Humerusschaft lässt sich in weiten Teilen auf der medialen bzw. lateralen Seite zwischen den vorne liegenden Ellenbogenflexoren und dem M. triceps brachii erreichen. Auf der medialen Seite gelingt dies, wenn man das Flexorenpaket mit der flachen Hand etwas anhebt und die Fingerbeeren mit leichtem Druck in die Tiefe auflegt (▶ Abb. 3.11). Schnell stößt die flächige Palpation auf den Humerusschaft, der von einigen dünnen, längs verlaufenden Strukturen begleitet wird. Die Technik der Palpation wird quer zum Humerus, also anterior-posterior ausgeführt. Die weiche Struktur, auf die man in der posterioren Richtung stößt, ist der M. triceps brachii, der zur Beugerseite durch ein sehr festes Septum intermusculare abgeteilt ist.

Tipp Da diese Strukturen von Nerven und Gefäßen begleitet werden, sollte die Palpation wirklich flächig und dosiert durchgeführt werden. Humerus und das Nerven-GefäßBündel sind hier bei nahezu jedem Oberarm entlang seiner kompletten Ausdehnung von Axilla bis zum distalen Oberarm einfach zu erreichen.

M. biceps brachii Die Konturen des Bizeps sind im Allgemeinen unter Aktivität gegen leichten Widerstand recht gut zu spüren. Der mediale Rand führt zu dem Nerven- und Gefäßbündel sowie zu bestimmten Strukturen der Ellenbogenbeuge.

Technik Lacertus fibrosus Man sucht unter anhaltender leichter Aktivität den Muskel-Sehnen-Übergang des M. biceps brachii. Der Muskelbauch verjüngt sich nach distal und geht in 2 Sehnen

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Abb. 3.12 Eigenpalpation der A. brachialis.

über, die etwas unterschiedliche Richtungen verfolgen. Von medial angehakt ist sie sehr scharfkantig. Von anterior palpiert ist die Struktur flach und breit und stellt sich als derbe kollagene Platte dar (Lacertus fibrosus oder Aponeurosis bicipitalis). Sie kann weiter nach distal und medial verfolgt werden, verliert sich dann aber in der Faszie des Unterarmes über dem Muskelbauch des M. pronator teres (▶ Abb. 3.4 und ▶ Abb. 3.10).

Bizepssehne Die Hauptsehne des Bizeps erreicht der Therapeut, wenn er den Bereich des Muskel-Sehnen-Überganges von lateral anhakt. Durch das Einbringen einer kräftigen Isometrie in der beschriebenen Ausgangsstellung und zusätzlicher Supination ist sie deutlicher zu spüren. Verfolgt man sie konsequent mit querer Palpation auf der Sehne nach distal, so führt sie den palpierenden Finger an die distale Spitze der Fossa cubitalis.

Tuberositas radii Um die Tuberositas radii zu erreichen, muss die Bizepssehne mit zunehmendem Druck in die Tiefe bis in den Boden der Fossa cubitalis zur ihrer Insertion verfolgt werden. Wendet der Proband unter Beugeraktivität seinen Unterarm in Pronation, „verschwindet“ die Sehne, bei erneuter Aktivität in Flexion mit Supination „taucht“ sie wieder auf – ist deutlicher palpabel. Die Tuberositas selbst ist wiederum ohne Muskelaktivität zu erreichen. Die Lokalisation wird durch passive Pronation und Supination des Unterarmes bestätigt. Bei Supination erhält man einen Druck von der Tuberositas gegen den palpierenden Finger. Hier befindet sich auch die sehnige Insertion, die sich bei Pronation um den Radius wickelt und zwischen beiden Unteramknochen nach posterior durchtritt. Da ist sie dann auf gleicher Höhe (2–3 Fingerbreit) distal des Caput radii (▶ Abb. 3.35) während endgradiger Pronation prominierend zu spüren.

3.3 Lokale Palpation anterior

Tipp Die Palpationstechnik von Sehne und Insertion kann man zur provokativen Diagnostik einsetzen. Durch Aktivität ausgelöste anteriore Schmerzen in der Ellenbeuge weisen auf eine Insertionstendopathie hin. Passive Pronation lässt auf ein Durchtrittsproblem der Tuberositas mit anhängenden Weichteilen schließen, meist durch eine entzündlich angeschwollene Bursa zwischen inserierender Sehne und der Tuberositas (Bursa bicipitoradialis) verursacht.

3.3.3 Nerven- und Gefäßbündel Im Bereich des medialen Oberarmes verlaufen 2 wichtige periphere Nerven für die motorische Versorgung von Unterarm und Hand sowie 2 große Gefäße (▶ Abb. 3.13): ● N. medianus ● N. ulnaris ● A. brachialis ● V. basilica V. basilica, in der Tiefe die A. brachialis und der N. medianus bilden ein Nerven- und Gefäßbündel, welches im gesamten Verlauf des Humerus zu palpieren ist. Der N. ulnaris gehört von der Axilla bis zur Mitte des Oberarmes dazu, trennt sich aber weiter distal von den übrigen Strukturen, um posterior und medial das Ellenbogengelenk im Kubitaltunnel zu passieren. Die anderen Strukturen (N. medianus und die beiden Gefäße) verlaufen am Oberarm zunächst im Sulcus bicipitalis, um anterior und mittelständig (durch die Fossa cubitalis) über das Ellenbogengelenk zum Unterarm zu ziehen. Dies sind die längs verlaufenden Strukturen, die bei der queren Palpation des Humerus auf der medialen Seite auffallen.

N. medianus N. ulnaris A. brachialis

Eintritt in die Faszie

Technik A. brachialis Man fordert den Probanden auf, eine mäßig isometrische Aktivität in Flexion und Supination des Ellenbogengelenkes zu halten. Man benutzt die gleiche quere Palpationstechnik wie zuvor am Humerus (▶ Abb. 3.11). Die Lage des Nerven- und Gefäßbündels ist etwas posterior der medialen Bizepsbegrenzung. Diese Strukturen liegen dort in einer Weichteilrinne, dem Sulcus bicipitalis. Die palpierenden Fingerbeeren müssen also etwas flektiert werden, um sie dort zu erreichen. Bei jetzt wieder entspannten Muskeln lässt sich die Pulsation der A. brachialis bei flächigem und gemäßigtem Druck deutlich spüren. Sie lässt sich nach distal zur Fossa cubitalis gut verfolgen. Sie unterquert den Lacertus fibrosus zur Mitte der Ellenbogenbeuge (▶ Abb. 3.12). Anschließend teilt sie sich in die A. radialis und A. ulnaris auf, die erst am distalen Unterarm in Nähe des Handgelenkes palpatorisch wieder zu erreichen sind. Kurz vor dem Unterqueren des Lacertus fibrosus liegt die Stelle, die vorzugsweise beim Messen des Blutdruckes mithilfe einer Manschette und eines Stethoskops gewählt wird.

3

Tipp Wenn man nicht sicher ist, ob man die Arterie erreicht hat, kann man die Palpation bestätigen, indem zunächst der Puls am Handgelenk gesucht und etwas mehr Druck auf die Stelle ausübt wird, an der man die A. brachialis vermutet. Ist die Vermutung richtig, wird der Puls am Handgelenk schwächer. Ausgenommen bei schweren Gefäßerkrankungen kann man diesen Druck für einen kurzen Moment gefahrlos ausüben.

N. medianus Der N. medianus begleitet die Arterie bis kurz vor die Ellenbeuge. Zunächst unterquert er den Lacertus fibrosus, von dem er in seltenen Fällen auch irritiert werden kann (Gregoli et. al. 2013). Bevor er seinen medianen Verlauf am Unterarm beginnt, durchläuft er eine Passage zwischen dem ulnaren und humeralen Kopf des M. pronator teres. Bei stark hypertonen Situationen des Muskels kann es hier zu einer Kompressionsneuropathie des N. medianus kommen. Bei querer Palpation am medialen Oberarm (▶ Abb. 3.10) mit etwas mehr Druck gegen den Humerus rollt der Nerv unter den Fingern hin und her. Ein typisches Gefühl bei der Palpation neuraler Strukturen.

Abb. 3.13 Nerven und Gefäße in der Ansicht von medial (ulnar).

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Ellbogenregion

Tipp Die Differenzierung zum parallel verlaufenden Gefäß ist recht einfach. Selbstverständlich pulsiert der Nerv nicht und verändert auch nicht die Qualität des Radialispulses am Handgelenk. Lokalisation und Verlauf eines Nervs lassen sich mit wechselnder Spannung und Entspannung unter fortwährender Palpation bestätigen. Dies kann man recht gefahrlos durchführen, da periphere Nerven kurzfristigen und mäßigen Druck allgemein recht gut vertragen. Hin und wieder löst der Druck ein Kribbelgefühl in der Peripherie aus. Der N. medianus lässt sich in dieser ASTE durch Streckung des Ellenbogens und ggf. des Handgelenkes spannen. Er wird unter den palpierenden Fingern straffer.

M. brachialis Zunächst kehrt man zurück zum medialen Muskel-Sehnen-Übergang des Bizeps. Bildet man eine gedachte Linie vom Muskel-Sehnen-Übergang zum Epicondylus medialis (▶ Abb. 3.23), so erreicht man auf dieser Linie von anterior nach medial zunächst die A. brachialis und den N. medianus. Darunter und auf der Linie nach medial befindet sich ein Teil des Muskelbauchs des M. brachialis, der in seinem weiteren Verlauf zur Tuberositas ulnae zieht, die eher unter dem M. pronator teres liegt. Hierzu legt man 1–2 Fingerbeeren flach von anterior auf die vermutetet Lokalisation und stößt dabei mit den Fingerbeeren gegen den Muskel-Sehnen-Übergang des Bizeps (ohne Abbildung). Die Lokalisation wird durch abwechselnde Anspannung des Muskels in Flexion und Entspannung bestätigt.

M. pronator teres Die Fossa cubitalis wird nach medial durch den lateralen Rand des M. pronator teres gebildet. Der Muskel ist uns bei der Palpation des Lacertus fibrosus bereits begegnet. Er entspringt dem Humerus proximal des Epicondylus medialis humeri (▶ Abb. 3.14) und kreuzt den proximalen Unterarm hinüber zum Radiusschaft (▶ Abb. 3.14).

N. medianus

M. pronator teres

Technik Verfolgt man den ertasteten Muskelbauch des M. brachialis nach distal, so stößt man gegen den lateralen Rand des M. pronator teres. Bestätigt wird die Lokalisation durch die endgradige und mit etwas Nachdruck ausgeübte aktive Pronation des Probanden. Der Rand des M. pronator teres lässt sich nach distal bis zur Spitze der Fossa cubitalis verfolgen, bevor er unter dem Muskelbauch des M. brachioradialis wegtaucht.

M. brachioradialis Dieser Muskel ist der einzige Flexor des Ellbogengelenkes mit einer Innervation durch den N. radialis. Sein schlanker Muskelbauch begrenzt die Fossa cubitalis auf der lateralen Seite (▶ Abb. 3.15). Er wird vor allem bei einer Aktivität gegen Widerstand in Flexion mit einer Neutralstellung für Pronation/Supination deutlich.

Technik Verfolgt man den medialen Rand des Muskelbauchs unter fortwährender Anspannung nach proximal, so führt er den palpierenden Finger an das distale Drittel des Humerus auf der lateralen Seite zur Margo lateralis humeri und zur Palpation des N. radialis (▶ Abb. 3.36). Bei deutlicher isometrischer Anspannung zieht er die Weichteile des lateralen Oberarmes flach und bildet meist eine gut erkennbare Konkavität in Höhe der fleischigen Insertion.

3.3.4 Proximales Radioulnargelenk (PRUG) In Höhe der Fossa cubitalis markiert der mediale Rand des M. brachioradialis recht genau den Übergang zwischen Caput radii und Ulna (▶ Abb. 3.15).

Technik Man platziert einen palpierenden Finger in der Mitte der Fossa cubitalis zwischen der lateralen Bizepssehne und medialen Rand des M. brachioradialis. Mit deutlichem Druck in die Tiefe in der Fossa cubitalis und etwas nach lateral lässt sich bei Umwendebewegungen des Unterarmes die Bewegung des Radiuskopfes spüren. Jetzt bekommt der Übende einen Eindruck von der Lage des proximalen Radioulnargelenks: am medialen Rand des M. brachioradialis und in Höhe des Caput radii. Der Gelenkspalt selbst ist nicht zu tasten.

3.3.5 Therapeutische Hinweise Das Realisieren des Nerven- und Gefäßbündels auf der medialen Seite des Humerus ist für jeden Therapeuten sehr wichtig. Abb. 3.14 Lage des M. pronator teres – Ansicht von anterior.

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3.4 Lokale Palpation medial

Caput radii M. brachioradialis

Gelenkspalt PRUG

Translatorische Bewegungen des Radiuskopfes gegenüber der Ulna bzw. dem Humerus zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken gehören zum Repertoire jedes Manualtherapeuten. Die Kenntnis der Ausdehnung des Radiuskopfes nach medial und seiner Abgrenzung zur Ulna sichern den richtigen Griff. Diese Tests werden mit Fixation des Humerus im Humeroradialgelenk (HRG) zur Bestätigung einer kapsulären Hypomobilität bzw. Laxität und am PRUG (▶ Abb. 3.16) mit Fixation der Ulna ausschließlich zur Bestätigung einer Laxität genutzt.

3

3.4 Lokale Palpation medial 3.4.1 Übersicht über die Strukturen ● ●

Abb. 3.15 Lage des Gelenkspaltes – PRUG.

● ●



● ●

Humerus – medialer Rand N. ulnaris Sulcus nervi ulnaris und Kubitaltunnel Crista supracondylaris medialis und Epicondylus medialis humeri Insertionen am Epicondylus medialis (Caput commune, M. pronator teres) Typen der medialen Epikondylopathie Schnellorientierung am Unterarm

3.4.2 Kurzfassung des Palpationsganges Die lokale Palpation medial beginnt erneut am medialen Humerusschaft. Hier wird die letzte neurale Struktur des Nerven- und Gefäßbündels aufgesucht und in ihrem Verlauf zum Unterarm verfolgt. Anschließend folgen die knöchernen und muskulären Strukturen. Ihre Lokalisation und Differenzierung sind besonders im Rahmen einer medialen Epikondylopathie interessant. Hoppenfeld (1992) benutzt eine einfache und hilfreiche Technik, um sich die Lage derjenigen Muskeln am Unterarm vorzustellen, die am medialen Epikondylus entspringen. Sie wird abschließend vorgestellt (▶ Abb. 3.28).

Abb. 3.16 Laxitätstest im PRUG.

Ob es sich nun um die Anwendung einer klassischen Massagetherapie, einer Unterwassermassage oder einer Grifftechnik am Oberarm aus der Manuellen Therapie handelt, der mediale Oberarm und die Ellenbeuge sind vor jeglichem permanenten Druck oder Zug zu schützen! Ausgenommen sind lokale, fein dosierte und gezielte Anwendungen an umschriebenen Lokalisationen. Die Kenntnisse über den Verlauf der Sehnen des M. biceps brachii sind sehr nützlich, um eine Insertionstendopathie oder eine Bursitis an der Insertion zu bestätigen.

ASTE Es wird empfohlen, die ASTE zu Übungszwecken bzw. deren Alternative von der anterioren Palpation zu übernehmen (▶ Abb. 3.9): Der Patient sitzt auf einem Hocker vor der Therapieliege, auf der der Therapeut Platz nimmt. Der Ellbogen stützt sich dabei auf den Oberschenkel des Therapeuten ab. Der Oberarm ist dabei in der Schulter flektiert und etwas abduziert. Das Ellbogengelenk ist leicht flektiert und in Mittelstellung der Pronation/Supination eingestellt.

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3.4 Lokale Palpation medial

Caput radii M. brachioradialis

Gelenkspalt PRUG

Translatorische Bewegungen des Radiuskopfes gegenüber der Ulna bzw. dem Humerus zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken gehören zum Repertoire jedes Manualtherapeuten. Die Kenntnis der Ausdehnung des Radiuskopfes nach medial und seiner Abgrenzung zur Ulna sichern den richtigen Griff. Diese Tests werden mit Fixation des Humerus im Humeroradialgelenk (HRG) zur Bestätigung einer kapsulären Hypomobilität bzw. Laxität und am PRUG (▶ Abb. 3.16) mit Fixation der Ulna ausschließlich zur Bestätigung einer Laxität genutzt.

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3.4 Lokale Palpation medial 3.4.1 Übersicht über die Strukturen ● ●

Abb. 3.15 Lage des Gelenkspaltes – PRUG.

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Humerus – medialer Rand N. ulnaris Sulcus nervi ulnaris und Kubitaltunnel Crista supracondylaris medialis und Epicondylus medialis humeri Insertionen am Epicondylus medialis (Caput commune, M. pronator teres) Typen der medialen Epikondylopathie Schnellorientierung am Unterarm

3.4.2 Kurzfassung des Palpationsganges Die lokale Palpation medial beginnt erneut am medialen Humerusschaft. Hier wird die letzte neurale Struktur des Nerven- und Gefäßbündels aufgesucht und in ihrem Verlauf zum Unterarm verfolgt. Anschließend folgen die knöchernen und muskulären Strukturen. Ihre Lokalisation und Differenzierung sind besonders im Rahmen einer medialen Epikondylopathie interessant. Hoppenfeld (1992) benutzt eine einfache und hilfreiche Technik, um sich die Lage derjenigen Muskeln am Unterarm vorzustellen, die am medialen Epikondylus entspringen. Sie wird abschließend vorgestellt (▶ Abb. 3.28).

Abb. 3.16 Laxitätstest im PRUG.

Ob es sich nun um die Anwendung einer klassischen Massagetherapie, einer Unterwassermassage oder einer Grifftechnik am Oberarm aus der Manuellen Therapie handelt, der mediale Oberarm und die Ellenbeuge sind vor jeglichem permanenten Druck oder Zug zu schützen! Ausgenommen sind lokale, fein dosierte und gezielte Anwendungen an umschriebenen Lokalisationen. Die Kenntnisse über den Verlauf der Sehnen des M. biceps brachii sind sehr nützlich, um eine Insertionstendopathie oder eine Bursitis an der Insertion zu bestätigen.

ASTE Es wird empfohlen, die ASTE zu Übungszwecken bzw. deren Alternative von der anterioren Palpation zu übernehmen (▶ Abb. 3.9): Der Patient sitzt auf einem Hocker vor der Therapieliege, auf der der Therapeut Platz nimmt. Der Ellbogen stützt sich dabei auf den Oberschenkel des Therapeuten ab. Der Oberarm ist dabei in der Schulter flektiert und etwas abduziert. Das Ellbogengelenk ist leicht flektiert und in Mittelstellung der Pronation/Supination eingestellt.

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Ellbogenregion

3.4.3 Palpation einzelner Strukturen

N. ulnaris

Humerus – medialer Rand

Der N. ulnaris trennt sich etwa in der Mitte des Oberarmes von den anderen Strukturen des Nerven- und Gefäßbündels ab. Er zieht nach posterior, begleitet den M. triceps brachii und durchtritt das Septum intermusculare mediale (▶ Abb. 3.19 und ▶ Abb. 3.21). Dieser Weg ist insgesamt ca. 8 cm lang (Grana 2001). Der N. ulnaris passiert das Ellbogengelenk posterior im Sulcus nervi ulnaris (zu Begin des Kubitaltunnels) und verläuft ulnar und zwischen dem M. flexor carpi ulnaris und M. flexor digitorum profundus (Polatsch et al. 2007) nach distal zum Unterarm. Er wird erst wieder am distalen Unterarm palpabel (▶ Abb. 4.66).

Als Ausgangspunkt der medialen Palpation kehren wir zurück zur medialen Seite des Humerusschaftes (▶ Abb. 3.17).

Technik Man versucht, ihn durch die wenigen Weichteile flächig und quer zu spüren. Die Grifftechnik ist bei der lokalen Palpation anterior bereits ausführlich erläutert worden. Es empfiehlt sich lediglich, den Oberarm für einige nachfolgenden Techniken von unten her zu umgreifen. Um sich der Lokalisation sicher zu sein, wird empfohlen, die bisher ertasteten Strukturen des medialen Nerven- und Gefäßbündels im Sulcus bicipitalis am medialen Rand des Humerus aufzusuchen (▶ Abb. 3.18).

Technik Die palpierenden Finger bewegen sich vom medialen Humerusschaft nach posterior. Das Septum intermusculare mediale wird vom medialen Muskelbauch des M. triceps brachii als erweiterte membranartige Ursprungsfläche genutzt. Beide sind unter leichter Isometrie in Extension zu spüren. Der N. ulnaris ist von anterior gegen das Septum und den M. triceps brachii zu palpieren. Bei querer Palpation direkt auf dem Nerven stellt sich das typische Gefühl des Rollens unter dem palpierenden Finger ein. Unter querer Palpation verfolgt man den Nerv nach distal und posterior in Richtung Epicondylus medialis.

Tipp

78

Abb. 3.17 Palpation medialer Humerusschaft.

Die Sicherheit, dass man den N. ulnaris mit dieser Methode auch gefunden hat, entwickeln nur geübte Therapeuten. Häufig braucht man einen Trick, um sicher zu werden. Mit passiv eingebrachter Flexion des Ellbogens und ggf. Extension des Handgelenkes lässt sich der N. ulnaris auf Spannung bringen. Er wird unter der Palpation straffer und rollt wieder in der für periphere Nerven so typischen Art unter den Fingerkuppen hin und her.

Abb. 3.18 Palpation im Sulcus bicipitalis.

Abb. 3.19 Palpation des N. ulnaris am distalen Oberarm.

3.4 Lokale Palpation medial

Sulcus nervi ulnaris und Kubitaltunnel Auf der Rückseite des deutlich hervorstehenden Epicondylus medialis ist eine Rinne zu spüren: der Sulcus nervi ulnaris. In dieser liegt der N. ulnaris, von einer kleinen Arterie begleitet.

Technik Der Nerv ist im Sulkus mit einer queren Palpation bei mäßiger Ellbogenflexion (ca. 40–70°) am deutlichsten zu spüren. Bei mehr Beugung wird er gespannt und drückt den palpierenden Finger aus dem Sulkus heraus. Jetzt wird deutlich, dass man sich den N. ulnaris besonders in flektierter Ellbogenstellung gegen spitze Gegenstände stoßen kann. An dieser Stelle sind habituelle und traumatisch bedingte Luxationen des Nervs gelegentlich zu beobachten. Nach proximal kann man ihn wieder bis zum medialen Humerus verfolgen. Nach distal lässt sich der N. ulnaris nicht mehr so einfach erspüren, da er in der Höhe des Epikondylus in den Kubitaltunnel eintritt (▶ Abb. 3.20). In 70 % wird der Eintritt in den Tunnel durch ein ligament-

N. ulnaris

artiges Retinakulum markiert, das quer zum Verlauf des Nervs vom Epikondylus zum Olekranon läuft. Mit zunehmender Flexion spannt es sich und fixiert den Nerv im Sulkus, bei Extension wird es lax. Positioniert man einen palpierenden Finger zwischen Epikondylus und Olekranon (humeroulnare Grube), mit der Fingerbeere auf dem Nerv und nach distal ausgerichteter Fingerspitze, kann man gegen das Retinakulum andrücken und es in seinem Verlauf spüren. Die beste ASTE hierzu ist eine Flexion von 70–90°. Direkt distal des Retinakulums verfolgt man den Nerv noch etwa 3 cm mit querer Palpation durch die Aponeurose des M. flexor carpi ulnaris, bis er zwischen den Bäuchen der Mm. flexor carpi ulnaris und flexor digitorum profundus abtaucht. Aus der topografischen Anatomie kennt man seinen weiteren Verlauf auf der ulnaren Seite des Unterarmes bis neben das Os pisiforme. Hier ist er dann wieder palpabel. Der Boden des Kubitaltunnels ist ebenfalls ein Stück weit zu spüren. Hierzu platziert man wieder einen Finger in die humeroulnare Grube und richtet die Fingerspitze nach lateral gegen die Ulna, am N. ulnaris vorbei. Die mediale Fläche des Olekranon verfolgt man nach proximal und distal. An der meist anterioren Grenze dieser Fläche ist die Kapsel des HUG erreichbar, die medial und posterior gerne mal impingt (Boxer’s elbow, Robinson et al. 2017).

3

Crista supracondylaris medialis und Epicondylus medialis humeri Technik

Kubitaltunnel

Abb. 3.20 Passage des N. ulnaris im Kubitaltunnel.

Die Palpation beginnt erneut am medialen Humerusschaft (▶ Abb. 3.11) und verfolgt den Knochen konsequent nach distal. Es wird deutlich, wie sich der Humerus distal verbreitert und einen scharfen Rand erhält. Diese scharfkantige Crista supracondylaris medialis führt die Palpation auf die Spitze des stark ausgeprägten Epicondylus medialis. Von hier aus starten alle weiteren palpatorischen Eroberungen der Muskelansätze dieser Region (▶ Abb. 3.22).

M. pronator teres M. flexor carpi radialis M. palmaris longus Crista supracondylaris

M. flexor carpi ulnaris

Abb. 3.21 Palpation des Septum intermusculare mediale.

Epicondylus medialis

Abb. 3.22 Topografie muskulär – Ansicht von medial (ulnar).

79

Ellbogenregion

Insertionen am Epicondylus medialis (Caput commune, M. pronator teres) Von der Spitze des Epicondylus medialis aus starten 2 Palpationen zu den muskulären Insertionen.

Technik – M. pronator teres Rutscht man von der Spitze nach anterior in Richtung Ellenbeuge, erreicht man ein deutliches knöchernes Plateau (▶ Abb. 3.23). Hier liegt die Insertionsstelle des M. pronator teres. Sicherheit über die Lokalisation erhält man, wenn durch pronatorische Aktivität (vor allem am Ende der Pronation) der palpierende Finger von dem Plateau weggedrückt wird. Der M. pronator teres ist selten als Verursacher von Epikondylopathien bekannt (ausgenommen bei amerikanischen Wurfsportlern [Grana 2001]). Sein hypertoner Muskelbauch kann auf Dauer die Passage des N. medianus gefährden.

Technik – Caput commune Rutscht man von der Spitze des medialen Epikondylus (▶ Abb. 3.24) nach distal in Richtung Handgelenk, trifft man auf die straffe, rundliche und ca. 1 cm breite Struktur des Caput commune, das nach kurzem Verlauf wieder in weicheres Muskelgewebe übergeht. Zu einer gemeinsamen Ursprungssehne (Caput commune) zusammengefasst, konvergieren drei Sehnen zu einem weiteren Plateau zwischen der distalen Spitze des medialen Epikondylus und der Ursprungsstelle des M. pronator teres: der radiale und ulnare Handflexor sowie der Spanner der Handaponeurose (▶ Abb. 3.22). In der Tiefe (nicht palpabel) gesellt sich noch der humerale Kopf des superfizialen Fingerbeugers hinzu. Diese Ursprungsstelle des Caput commune liegt in einem Winkel von etwa 45° zum Schaft des Humerus.

Tipp Die Bestätigung der exakten Lokalisation erhält man durch muskuläre Aktivität. Man lässt gegen Widerstand in Hand- oder Fingerflexion anspannen und erhält unter der Palpation sofortigen Gegendruck durch Straffung der Sehne.

Weitere Techniken – Caput commune Die Ausdehnung des Caput commune ist über 2 weitere Techniken darstellbar. Zum einen wird eine quere Palpation eingesetzt, mit der die Dicke der Sehne und der Übergang zur Muskulatur erfasst werden (▶ Abb. 3.25). Um die Region besser erreichen zu können, kann man den Arm des Probanden in der Schulter etwas außenrotieren. Abb. 3.23 Palpation Ursprung des M. pronator teres.

Abb. 3.24 Palpation der distalen Epikondylenspitze.

80

Abb. 3.25 Quere Palpation des Caput commune.

3.4 Lokale Palpation medial

Technik Typ I

Abb. 3.26 Begrenzungen des Caput commune.

Zum anderen kann man die Ausdehnung des Caput commune in dessen Längsverlauf realisieren, wenn es von beiden Seiten mit den Zeigefingern begrenzt wird (▶ Abb. 3.26). Auch hier kann mäßige Aktivität in Fingeroder Handbeugung die Lokalisierung erleichtern.

3.4.4 Differenzierung innerhalb einer Epikondylopathie Diese inserierenden muskulären Strukturen sind für die Symptomatik des „Golfarmsyndroms“ verantwortlich zu machen. Winkel (2004) beschreibt hier 3 Typen einer Epikondylopathie, die sich vor allem in den verschiedenen Lokalisationen der Läsion innerhalb des zuvor genannten Verlaufes unterscheiden. Die Techniken werden als provokative Diagnostik im Rahmen der Befundung oder zur Behandlung eingesetzt. Das Ziel ist es, zunächst die Stelle mit der stärksten Schmerzangabe des Patienten herauszufinden, um sie anschließend mit entsprechenden Anwendungen der Physikalischen Therapie oder auch queren Friktionen nach Cyriax zu behandeln.

Typen der medialen Epikondylopathie Man unterscheidet folgende Typen: ● Typ I. Insertion des Caput commune an der distalen Spitze des Epikondylus; Pathologie eher als entzündliche Insertionstendopathie ● Typ II. Sehne des Caput commune, Pathologie eher als Tendinose (häufigste Form des Golfarmsyndroms) ● Typ III. Muskel-Sehnen-Übergang, eher entzündliche Pathologie

Will man die Insertion der kräftigen Sehne des Caput commune direkt am Epikondylus erreichen, benutzt man eine Technik, bei der die Fingerbeere gegen die distale Spitze des Epikondylus gerichtet ist (▶ Abb. 3.26). In diesem Fall ist dies die Fingerbeere des Zeigefingers der von proximal kommenden Hand. Hinzu wählt man eine angenäherte Situation der Flexoren, damit sich die Sehne entspannt und den Weg an die Insertion freigibt. Dazu bringt man die Hand des Probanden passiv in eine Flexion. Der beschwerte Zeigefinger wird mit dem seitlichen Rand gegen die Sehne gedrückt, die Fingerbeere richtet sich gegen den Epikondylus und übt Druck aus. Diese Technik wird von posterior nach anterior (in Richtung Ellenbeuge) mit verstärktem Druck gezogen. Liegt hier die Ursache für eine Epikondylopathie, wird der Patient dies mit einer deutlichen Schmerzangabe bestätigen.

3

Typ II und III Der Therapeut wendet den Unterarm der palpierenden Hand, sodass die Fingerbeere des beschwerten Zeigefingers nun direkt auf der etwa 0,5 bis 1 cm breiten Sehne liegt (▶ Abb. 3.27). Der Druck während der Palpation richtet sich direkt gegen die Sehne, die Bewegungsrichtung bleibt die gleiche. Will man den Muskel-Sehnen-Übergang erreichen, rutscht der suchende Finger wiederum etwa 1 cm weiter nach distal. Den Muskel-Sehnen-Übergang (Typ III) kann man durch die Verbreiterung der Struktur und die weichere Konsistenz von der Sehne (Typ II) unterscheiden.

Tipp Damit die Sehne sowie der Muskel-Sehnen-Übergang unter der Palpation nicht in die Tiefe ausweichen, sollte man diese Strukturen vorher etwas auf Spannung bringen. Hierzu bietet sich Extension des Handgelenkes und des Ellbogens an.

Vorsicht Der N. ulnaris verläuft direkt parallel der Insertion, der Sehne und des Muskel-Sehnen-Übergangs in einem Abstand von etwa 1 cm im Kubitaltunnel (▶ Abb. 3.27). Die genaue Lokalisation der muskulären Strukturen stellt sicher, dass es sich bei einem Patienten mit medialer Schmerzangabe wirklich um eine Epikondylopathie handelt. Nur wenn die Technik genau und nicht mit zu großer Bewegung durchgeführt wird, kann man sicher sein, den Nerv nicht zu treffen.

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Ellbogenregion

M. pronator teres

M. flexor carpi radialis M. palmaris longus M. flexor carpi ulnaris

Abb. 3.27 Palpation des N. ulnaris im Kubitalunnel.

Schnellorientierung am Unterarm Wie bereits erwähnt, inserieren am Epicondylus medialis folgende Muskeln: ● M. flexor carpi ulnaris (ulnarer Verlauf zum Handgelenk) ● M. palmaris longus (mittelständiger und oberflächlicher Verlauf zum Handgelenk) ● M. flexor digitorum superficialis caput humerale (mittelständiger und tiefer Verlauf zum Handgelenk) ● M. flexor carpi radialis (verläuft schräg nach radial zum Handgelenk) ● M. pronator teres (verläuft schräg zum Radius)

Abb. 3.28 Muskuläre Topografie am Unterarm – Ansicht von anterior.

Einige Sehnen dieser Muskeln begegnen uns bei der Palpation des Handgelenkes wieder. Die genaue Differenzierung der Muskelbäuche am Unterarm durch Palpation ist nicht möglich. Man kann lediglich noch den M. pronator teres vom Caput commune der Hand- und Fingerflexoren abgrenzen.

Technik Die Lage der Muskeln auf dem Unterarm und ihre Ausrichtung hin zur Hand lässt sich mit einem Trick darstellen, den man vorzugsweise am eigenen Arm ausprobiert. Der zu palpierende Unterarm wird in mäßiger Flexion des Ellbogengelenkes eingestellt. Die linke Hand wird mit der Stelle auf den Epicondylus medialis postiert, an welcher Thenar und Hypothenar zusammenlaufen. Die Finger liegen locker gespreizt schräg auf dem Unterarm. Bis auf den Kleinfinger repräsentiert je ein Finger Lage und Verlauf eines der Muskeln, die vom Epikondylus entspringen (▶ Abb. 3.28 und ▶ Abb. 3.29).

Abb. 3.29 Schnellorientierung am Unterarm.

82

3.5 Lokale Palpation lateral

Tipp Ihre tatsächliche Lage kann man mit Muskelaktivität bestätigen: ● Bei einer kräftigen endgradigen Pronation wird der Muskelbauch des M. pronator teres unter dem Daumen der aufgelegten Hand deutlich. ● Der Zeigefinger gibt den Verlauf des M. flexor carpi radialis an. Die Sehne wird am distalen Unterarm durch aktive Handflexion nach radial sehr deutlich. ● Der Ringfinger liegt über dem ulnaren Handbeuger. Flexion mit ulnarer Abduktion aktiviert den Muskel. ● In der Mitte der Unterarmvorderseite, angegeben durch die Lage des Mittelfingers, liegt der meist angelegte M. palmaris longus. Weiteres siehe Beschreibung der Palpation der Hand (▶ Abb. 4.64).

3.4.5 Therapeutische Hinweise Beschwerden auf der medialen Seite können auf Probleme des Humeroulnargelenkes oder auf Weichteilläsionen der dort inserierenden Muskeln hinweisen. In einer Befunderhebung wird schnell deutlich, mit welcher Art von Pathologie der Therapeut es zu tun hat. Die Differenzierung erfolgt über passive Bewegungsprüfungen bzw. Widerstandstests. Weichteilläsionen, die im Volksmund als „Golfarm“ bekannt sind, lassen sich durch Aktivität der Finger- und Handflexoren gegen einen möglichst großen Widerstand einfach bestätigen. Das genaue Bestimmen der lädierten Struktur ist letztlich nur mittels einer lokalen Palpation möglich. Stets muss man differenzialdiagnostisch einen Golfarm von einem Kubitaltunnelsyndrom unterscheiden. Insbesondere bei brennenden und nach distal ausstrahlenden Schmerzen sollte der Therapeut an diese Möglichkeit der neuralen Irritation denken. Die genaue Palpation zeigt die Lage des Nervs im Unterschied zu den muskulären Strukturen. Der Flexions-Kompressions-Test (Beekmann et al. 2009) ist gut in der Lage, bestehende Kubitaltunnelsyndrome zu erkennen. Dabei wird ein direkter Druck auf den N. ulnaris in maximaler Flexion des Ellbogens ausgeübt. Lokale und nicht lokale Schmerzen können somit in kurzer Zeit ausgelöst werden.

3

Abb. 3.30 ASTE der Palpation lateral.

Hier gilt es, analog zur medialen Seite ein exaktes Ausfindigmachen der Stellen zu ermöglichen, die auf eine Epikondylopathie hinweisen.

ASTE Es empfiehlt sich, den Arm in deutlicher Abduktion des Schultergelenkes (zwischen 45–90°) auf einer Therapieliege abzulegen. Das etwa 90° flektierte Ellbogengelenk wird in der Mittelstellung für Pronation und Supination eingestellt. Der Therapeut sitzt lateral vom Probanden (▶ Abb. 3.30).

3.5.2 Lokalisation der wichtigsten ossären Strukturen Übersicht über die Strukturen ●

● ● ● ● ● ● ●

3.5 Lokale Palpation lateral



3.5.1 Kurzfassung des Palpationsganges



Wiederum ist der Humerus Ausgangspunkt der gezielten Suche nach wichtigen Strukturen. Der erste Teil des lateralen Palpationsganges am Ellbogengelenk gilt vorwiegend den ossären Strukturen des humeroradialen Gelenkes (▶ Abb. 3.2). Anschließend werden die muskulären Strukturen zugänglich gemacht.



Humerus – lateraler Rand und Septum intermusculare laterale Crista supracondylaris lateralis Epicondylus lateralis Capitulum humeri und M. anconeus Humeroradiales Gelenk (HRG) Caput und Collum radii M. brachioradialis und N. radialis (proximaler Verlauf) M. extensor carpi radialis longus M. extensor carpi radialis brevis M. extensor digitorum M. extensor carpi ulnaris

Humerus – lateraler Rand und Septum intermusculare laterale Analog zur medialen Seite ist die Verbreiterung des distalen Humerus auch lateral zu spüren. Man sucht den Humerus im unteren Drittel des Oberarmes zwischen der Beuger- und der Streckergruppe auf.

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3.5 Lokale Palpation lateral

Tipp Ihre tatsächliche Lage kann man mit Muskelaktivität bestätigen: ● Bei einer kräftigen endgradigen Pronation wird der Muskelbauch des M. pronator teres unter dem Daumen der aufgelegten Hand deutlich. ● Der Zeigefinger gibt den Verlauf des M. flexor carpi radialis an. Die Sehne wird am distalen Unterarm durch aktive Handflexion nach radial sehr deutlich. ● Der Ringfinger liegt über dem ulnaren Handbeuger. Flexion mit ulnarer Abduktion aktiviert den Muskel. ● In der Mitte der Unterarmvorderseite, angegeben durch die Lage des Mittelfingers, liegt der meist angelegte M. palmaris longus. Weiteres siehe Beschreibung der Palpation der Hand (▶ Abb. 4.64).

3.4.5 Therapeutische Hinweise Beschwerden auf der medialen Seite können auf Probleme des Humeroulnargelenkes oder auf Weichteilläsionen der dort inserierenden Muskeln hinweisen. In einer Befunderhebung wird schnell deutlich, mit welcher Art von Pathologie der Therapeut es zu tun hat. Die Differenzierung erfolgt über passive Bewegungsprüfungen bzw. Widerstandstests. Weichteilläsionen, die im Volksmund als „Golfarm“ bekannt sind, lassen sich durch Aktivität der Finger- und Handflexoren gegen einen möglichst großen Widerstand einfach bestätigen. Das genaue Bestimmen der lädierten Struktur ist letztlich nur mittels einer lokalen Palpation möglich. Stets muss man differenzialdiagnostisch einen Golfarm von einem Kubitaltunnelsyndrom unterscheiden. Insbesondere bei brennenden und nach distal ausstrahlenden Schmerzen sollte der Therapeut an diese Möglichkeit der neuralen Irritation denken. Die genaue Palpation zeigt die Lage des Nervs im Unterschied zu den muskulären Strukturen. Der Flexions-Kompressions-Test (Beekmann et al. 2009) ist gut in der Lage, bestehende Kubitaltunnelsyndrome zu erkennen. Dabei wird ein direkter Druck auf den N. ulnaris in maximaler Flexion des Ellbogens ausgeübt. Lokale und nicht lokale Schmerzen können somit in kurzer Zeit ausgelöst werden.

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Abb. 3.30 ASTE der Palpation lateral.

Hier gilt es, analog zur medialen Seite ein exaktes Ausfindigmachen der Stellen zu ermöglichen, die auf eine Epikondylopathie hinweisen.

ASTE Es empfiehlt sich, den Arm in deutlicher Abduktion des Schultergelenkes (zwischen 45–90°) auf einer Therapieliege abzulegen. Das etwa 90° flektierte Ellbogengelenk wird in der Mittelstellung für Pronation und Supination eingestellt. Der Therapeut sitzt lateral vom Probanden (▶ Abb. 3.30).

3.5.2 Lokalisation der wichtigsten ossären Strukturen Übersicht über die Strukturen ●

● ● ● ● ● ● ●

3.5 Lokale Palpation lateral



3.5.1 Kurzfassung des Palpationsganges



Wiederum ist der Humerus Ausgangspunkt der gezielten Suche nach wichtigen Strukturen. Der erste Teil des lateralen Palpationsganges am Ellbogengelenk gilt vorwiegend den ossären Strukturen des humeroradialen Gelenkes (▶ Abb. 3.2). Anschließend werden die muskulären Strukturen zugänglich gemacht.



Humerus – lateraler Rand und Septum intermusculare laterale Crista supracondylaris lateralis Epicondylus lateralis Capitulum humeri und M. anconeus Humeroradiales Gelenk (HRG) Caput und Collum radii M. brachioradialis und N. radialis (proximaler Verlauf) M. extensor carpi radialis longus M. extensor carpi radialis brevis M. extensor digitorum M. extensor carpi ulnaris

Humerus – lateraler Rand und Septum intermusculare laterale Analog zur medialen Seite ist die Verbreiterung des distalen Humerus auch lateral zu spüren. Man sucht den Humerus im unteren Drittel des Oberarmes zwischen der Beuger- und der Streckergruppe auf.

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Ellbogenregion

M. extensor carpi radialis longus M. extensor carpi radialis brevis M. extensor digitorum

Abb. 3.31 Palpation des Humerus lateral.

Technik Mit flächiger und querer Palpation werden die Fingerbeeren auf die laterale Seite des Oberarmes gelegt (▶ Abb. 3.31). Das Ziel ist, eine harte Struktur mit runden Konturen zu finden (Humerusschaft). Auf der Suche nach dem Humerus können die palpierenden Finger über eine derbe, aber noch elastisch nachgebende Schicht rutschen. Hier handelt es sich um das Septum intermusculare laterale. Analog zur medialen Seite erhält der Trizeps eine membranartige Vergrößerung seiner Ursprungsfläche. Es lässt sich besonders gut darstellen, wenn der Proband den Trizeps anspannt und man versucht, von anterior gegen den Muskel zu palpieren. Direkt vor dem Septum ist der Humerus zu palpieren.

Crista supracondylaris lateralis Technik Dem Rand des Humerus mit einer queren Palpation nach distal folgend, geht das eher rundliche Gefühl der Palpation in das Wahrnehmen einer scharfen Kante über. Der palpierende Finger befindet sich über der Crista supracondylaris lateralis. Sie liegt direkt proximal des Epicondylus lateralis. Hier entspringt der M. extensor carpi radialis longus, direkt proximal davon der M. brachioradialis.

Epicondylus lateralis Technik Nachfolgende Beschreibung beinhaltet neues anatomisches Wissen, das das Bisherige über Morphologie des Epikondylus und Lage der muskulären Insertionen korrigiert. ▶ Abb. 3.32 wurde von Omer Matthijs erstellt und ist infolge einer Dissektion mehrerer Ellbogenpräparate

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M. supinator M. extensor carpi ulnaris

Abb. 3.32 Detailanatomie des Epicondylus lateralis humeri (nach Omer Matthijs).

an der Texas Tech University Health Science Center durch Dr. Sizer, Dr. Smith und Dr. Brismée zustande gekommen. Diese Zeichnung stimmt mit der Beschreibung aus der MRT-Studie an Präparaten von Zoner et al. (2010) größtenteils überein und wurde dann zur Publikation freigegeben. Die scharfe Kante der Crista supracondylaris wird weiter nach distal verfolgt. Sie verbreitert sich in eine nahezu dreieckige Struktur, die eine laterale Fläche und drei Kanten besitzt (▶ Abb. 3.32). An der superioren Kante (in ▶ Abb. 3.32 oben liegend) entspringt noch der M. extensor carpi radialis longus. Die anteriore flache Kante bietet den Mm. extensor carpi radialis brevis, extensor digitorum, extensor digiti minimi sowie extensor carpi ulnaris eine Ursprungsfläche. Der M. supinator nutzt die posteriore Kante in einem kleinen Areal als Ursprung. Direkt oberhalb liegt die größte Erhebung der kleinen seitlichen Fläche, der eigentliche Epicondylus lateralis. Diese im Vergleich zum medialen Pendant recht flache Erhebung wird dann mit einer rundlichen Palpation einer Fingerbeere ertastet. Das wesentlich Neue an dieser Darstellung ist die veränderte Lage des Ursprungs des M. extensor carpi radialis brevis. Er entspringt jetzt an der anterioren und nicht wie vorher angenommen und mehrfach publiziert an der superioren Kante des Epikondylus. Dies hat enorme Konsequenzen für die wichtigste Weichteilmanipulation am Ellbogen bei einem Tennisarmsyndrom (▶ Abb. 3.44).

3.5 Lokale Palpation lateral

Tipp Entscheidend für die korrekte Realisation der Konturen des lateralen Epikondylus ist das konsequente Verfolgen der Crista supracondylaris mit ihren 2 Ausläufern nach distal. Dies gelingt mit eine queren Palpation über die jeweiligen Kanten. Die distale Kante wird von den dort inserierenden Sehnen überdeckt und ist deutlich schwerer zu spüren.

Capitulum humeri und M. anconeus Von der anterioren Kante ausgehend palpiert man mit einer Fingerspitze und mäßigem Druck eine kurze Strecke nach anterior in Richtung Ellenbeuge und trifft auf eine rundlich konvexe Struktur, den anterioren Aspekt des Capitulum humeri. Nach distal orientiert gibt die Kante des Radiuskopfes direkt knöchernes Widerlager. Von der rundlichen posterioren Kante ausgehend (▶ Abb. 3.33) palpiert man über eine konvexe Struktur hinweg nach posterior und trifft auf die laterale Fläche des Olekranon. Die rundliche Struktur ist der posteriore Anteil des Capitulum humeri, die allerdings nur in gebeugten Positionen des Ellbogengelenkes zu ertasten ist.

Die gesamte seitliche Fläche zwischen Epicondylus lateralis, lateralem Olekranon und Rückseite des HRG wird vom Muskelbauch des M. anconeus überdeckt, dessen Kontraktion bei Aktivität in Extension mit direkter flächiger Palpation auf dem Muskelbauch gut zu spüren ist (▶ Abb. 3.34).

Humeroradiales Gelenk 3

Der Gelenkspalt des humeroradialen Gelenkes (HRG) ist jeweils nach distal auf dreierlei Weise erreichbar: ● vom anterioren Aspekt des Capitulum humeri ● vom posterioren Aspekt des Capitulum humeri ● von der distalen Kante der seitlichen Fläche mit dem Epicondylus lateralis Das Palpationsergebnis sollten immer eine schmale Einkerbung und eine anschließende Kante sein. Die Einkerbung ist der Gelenkspalt, die Kante ist der Radiuskopf. Es gibt mehrere Möglichkeiten, Sicherheit über die richtige Lokalisation zu erhalten.

Tipps 1. Tipp – Bestätigung durch Bewegung Die richtige Lagebestimmung des Palpationsfingers erhält man mittels Bestätigung durch eine passive Umwendebewegung des Unterarmes in Richtung Pronation bzw. Supination. Die Bewegung des Caput radii bestätigt die Lokalisation des Gelenkspaltes.

2. Tipp – der einfachste Palpationszugang

Abb. 3.33 Aufsuchen des Capitulum humeri posterior.

Wenn man von der distalen Kante der seitlichen Fläche mit dem Epicondylus lateralis nach distal zum Gelenkspalt des HRG gelangt, so wird an dieser Stelle die Palpation durch die Insertionssehnen etwas erschwert und der Gelenkspalt ist nur schwer zu ertasten. Startet man die Suche vom posterioren Aspekt des Capitulum humeri, fehlen hier die überlagernden Extensorensehnen und der Gelenkspalt zwischen dem eher geraden Radiuskopf und dem konvexen Capitulum klafft. Dies ist die beste Stelle, um den Gelenkspalt des humeroradialen Gelenkes zu finden (▶ Abb. 3.34).

3. Tipp – Bewegungspalpation An dieser Stelle kann man das Verhalten des Gelenkspaltes bei verschiedenen Positionen des Ellbogengelenkes nachvollziehen. In einer gestreckten Position ist er am deutlichsten zu spüren. Mit zunehmender Flexion schaukelt und gleitet das Radiusköpfchen am Capitulum humeri entlang nach anterior, die Kapsel über dem Gelenk strafft sich und das Capitulum wird prominent spürbar.

Abb. 3.34 Palpation des Gelenkspaltes HRG und M. anconeus.

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Ellbogenregion

Caput und Collum radii Im Folgenden werden die Konturen des proximalen Radius veranschaulicht. Die Lage und vor allem die Ausdehnung des Radiuskopfes werden den Übenden überraschen, wenn er sich das erste Mal der Struktur mit gezielter Wahrnehmung zuwendet.

Technik Caput radii Ausgehend vom Gelenkspalt des HRG, rutscht der palpierende Finger ein wenig weiter nach distal und liegt mit der Fingerbeere direkt auf dem Caput radii, über dem sich noch das Lig. anulare radii befindet. Die zu erwartende Höhe (proximal-distale Ausdehnung) beträgt ca. 11 mm (Kuhn 2012), was etwa einer Fingerbreite entspricht. Unter ausgiebigen Umwendebewegungen kann man spüren, wie sich der Radiuskopf unter dem Finger dreht. Da er einen querovalen Durchmesser hat, spürt man deutlich, dass der Finger bei einer Umwendung aus Supination in Pronation etwas weggedrückt wird. Die anteriore Begrenzung des Radiuskopfes spürt man, wenn der palpierende Finger den Kopf konsequent nach anterior verfolgt. Nun kann man mit den Zeigefingern die vordere und hintere erreichbare Begrenzung des Radiuskopfes umfassen und ihn in seiner ganzen Ausdehnung wahrnehmen (▶ Abb. 3.35). Meist überrascht seine Größe, da er deutlich ausgeprägter ist, als in den anatomischen Abbildungen dargestellt oder an anatomischen Modellen zu erkennen.

Tipp Es ist wichtig, dass man während der Palpation auf dem Radiuskopf nach anterior ganz beharrlich am Caput radii bleibt, bis Weichteile die weitere Palpation behindern. Später wird sich herausstellen, dass es sich hier um die Sehne des M. extensor carpi radialis brevis und den Bauch des M. extensor carpi radialis longus handelt. Zur Erinnerung: Das Caput radii ist ebenfalls in der Tiefe der Fossa cubitalis erreichbar (▶ Abb. 3.15). Den Radiuskopf in seiner ganzen Ausdehnung und Abgrenzung zum Collum radii erkennen zu können, ist die Basis für Techniken der Manuellen Therapie am humeroradialen und proximalen radioulnaren Gelenk (▶ Abb. 3.16) sowie für das Aufsuchen wichtiger muskulärer Anteile.

Collum radii Weiter nach distal verjüngt sich das Caput zum Collum radii. Folgt man palpatorisch mit einer aufgelegten Fingerbeere den Konturen des Caput radii, so rutscht man zum Collum regelrecht „in die Tiefe“ runter. Auch dessen Ausdehnung entspricht etwa eine Fingerbreite (ca. 12 mm; Kuhn 2012). Ab hier lässt sich der Radius nicht mehr direkt erreichen, da Muskeln den direkten Zugang verwehren. Die nächstprominente Struktur in der Palpation nach distal ist die Tuberositas radii, deren Erhabenheit bei endgradiger Pronation durch den Bauch des M. flexor carpi ulnaris (meist posteriorer Anteil) zu spüren ist.

M. brachioradialis und N. radialis (proximaler Verlauf) Der N. radialis überquert das Ellbogengelenk auf der Beugerseite. Die Leitstruktur hierzu ist der M. brachioradialis.

Technik

Abb. 3.35 Begrenzungen des Caput radii.

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Die weitere Palpation orientiert sich zunächst am distalen Oberarm. An der Margo lateralis humeri inseriert der M.2 brachioradialis fleischig. Bei einer kräftigen Aktivität gegen Widerstand der Flexion des Ellbogengelenkes tritt der schlanke Muskelbauch deutlich hervor. Man kann ihn an seinem medialen Rand bis zu seinem Ursprung verfolgen (▶ Abb. 3.36). Dort drückt er unter Aktivität die Weichteile des Oberarmes zu einer leichten Vertiefung zusammen. Direkt proximal davon, am Übergang zum Rand des Bizeps, ist der N. radialis mit einer queren Palpation in die Tiefe zu ertasten.

3.5 Lokale Palpation lateral

Tipp Bei querer Palpation mit leichtem Druck nach posterior gegen den Knochen stellt sich das typische Gefühl der Palpation von peripheren Nerven ein: Der Nerv rollt unter dem Finger hin und her. Sein Ramus superficialis begleitet den M. brachioradialis nach distal, etwa eine Handbreite proximal des Handgelenkes durchstößt dieser Ast die Unterarmfaszie, liegt sehr oberflächlich und ist dort erneut tastbar.

3.5.3 Aufsuchen der Muskeln und ihrer Insertionen Die Insertionen der Muskeln des posterioren Unterarmes in der Region des Epicondylus lateralis können Schmerzgeneratoren eines lateralen Ellbogenschmerzes sein, der im Volksmund als „Tennisarm“ bekannt ist. Allerdings sind dies nicht die einzigen Schmerzgeneratoren. Differenzialdiagnostisch sollte unbedingt die Arthrose des HRG bzw. Einklemmungen von Kapselfalten im HR-Gelenkspalt mit einbezogen werden. Notwendiges Vorwissen zum erfolgreichen Aufsuchen der Weichteilirritationen ist: ● Kenntnisse über die Morphologie des lateralen distalen Humerus (▶ Abb. 3.32). ● Die inserierenden Fasern der Mm. extensor carpi radialis brevis und extensor digitorum gehen in eine gemeinsame Sehnenplatte über, sodass man auch hier von einem Caput commune sprechen kann. ● Diese Sehnen haben mit der tiefer liegenden Kapsel des humeroradialen Gelenkes Kontakte. Dies führt zu der diagnostischen Schwierigkeit, laterale Beschwerden des Ellbogengelenkes den Weichteil- bzw. einer Gelenkaffektion sicher zuzuordnen.

3.5.4 Lokalisationen der lateralen Insertionstendopathien Lage der Tennisarm-Typen (▶ Abb. 3.37): ● Tennisarm Typ I – Insertion des M. extensor carpi radialis longus ● Tennisarm Typ II – Insertion des M. extensor carpi radialis brevis ● Tennisarm Typ III – Sehne des M. extensor carpi radialis brevis ● Tennisarm Typ IV – Muskel-Sehnen-Übergang des M. extensor carpi radialis brevis ● Tennisarm Typ V – Insertion des M. extensor digitorum communis

3

M. extensor carpi radialis longus Direkt an der Crista supracondylaris inseriert ebenfalls fleischig der M. extensor carpi radialis longus. Der kurze, rundliche und meist auffallend ausgeprägte Muskelbauch wird deutlich sichtbar, wenn eine isometrische Aktivität in Extension plus radiale Abduktion des Handgelenkes eingebracht wird (▶ Abb. 3.38). M. extensor carpi radialis longus M. extensor carpi radialis brevis

I II

III

IV

V

M. extensor digitorum M. extensor carpi ulnaris

Abb. 3.37 Lage der Tennisarm-Typen.

Abb. 3.38 Lage der Muskelbäuche der radialen Handextensoren. Abb. 3.36 Palpation N. radialis.

87

Ellbogenregion

Abb. 3.39 Muskelränder des M. extensor carpi radialis longus.

Abb. 3.40 Muskelränder des M. extensor carpi radialis brevis.

Technik Man orientiert sich am Ursprung des M. brachioradialis (Margo lateralis humeri) und tastet hiervon nach distal zur Crista supracondylaris. Eine Aktivität des Muskels drückt in jedem Fall den palpierenden Finger nach oben weg. Die Insertionstendopathie wird nach Winkel (2004) als Tennisarm Typ I beschrieben. Hat man den Muskel gefunden, lassen sich unter anhaltender Aktivität seine Ränder darstellen (▶ Abb. 3.39).

II

III

IV

M. extensor carpi radialis brevis Bei beschriebener Ausgangsposition liegt in der direkten Verlängerung des langen radialen Handextensors der schmale Muskelbauch des kurzen radialen Handextensors.

Technik Unter anhaltender Aktivität kann in dem Übergang zwischen beiden Muskelbäuchen eine seichte Vertiefung erspürt werden. Diese seichte Vertiefung befindet sich am distalen Ende des Bauchs des langen und am proximalen Beginn des Bauchs des kurzen radialen Handextensors. Wurde der Muskel aufgefunden, kann sein Muskelbauch umrandet werden (▶ Abb. 3.40). Nach anterior wird er durch den M. brachioradialis, nach posterior vom M. extensor digitorum begrenzt. Vom proximalen Beginn des Muskelbauchs bis zur distalen Kante des Epicondylus lateralis verläuft die Ursprungssehne. Dem M. extensor carpi radialis brevis werden 3 Möglichkeiten eines Tennisarmes zugeschrieben (Typ II–IV, ▶ Abb. 3.41).

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Abb. 3.41 Lage der Tennisarm-Typen II–IV.

Tipp Die Abgrenzung beider radialer Handextensoren zum M. brachioradialis hin ist einfach. Man kann den Befund durch abwechselnde Aktivität in Flexion des Ellbogens oder Extension des Handgelenkes bestätigen. Die Abgrenzung nach posterior zum benachbarten M. extensor digitorum ist weniger deutlich und erfolgt, wie nachfolgend beschrieben, unter Zuhilfenahme der reziproken Hemmung. Die Sehnen der Mm. extensor carpi radialis longus und brevis laufen parallel zur radialen Seite des Handgelenkes durch das 2. Sehnenfach. Der dargestellte Muskelbauch des M. extensor carpi radialis brevis ist nur sein an der Oberfläche erreichbarer Teil. Der größere Teil liegt tiefer und ist von den benachbarten Muskeln bedeckt.

3.5 Lokale Palpation lateral

3

Abb. 3.42 Muskelränder des M. extensor digitorum.

M. extensor digitorum communis An der anterioren Kante des Epicondylus lateralis inseriert der M. extensor digitorum communis. Der Muskelbauch liegt zwischen dem M. extensor carpi radialis brevis und dem M. extensor carpi ulnaris. Seine Insertionstendopathie wird von Winkel als Typ V des Tennisarmes beschrieben. Die enge Beziehung zum Ursprung des M. extensor carpi radialis brevis wird in der Praxis durch den häufigen symptomatischen Zusammenhang zwischen dem Typ II und Typ V des Tennisarmes bestätigt.

Technik Um den Muskel von seiner Umgebung zu unterscheiden, benötigt man nur seine selektive Aktivität. Man gibt zunächst einen leichten Widerstand im Handteller in Richtung Flexion des Handgelenkes. Hiermit werden alle Handextensoren reziprok gehemmt. Bei gleichzeitigem Fingerspiel (Bewegung der Finger wie beim Klavierspielen) kann man seinen Rand gegenüber den benachbarten Handstreckern deutlich abgrenzen (▶ Abb. 3.42).

M. extensor carpi ulnaris Der ulnare Handgelenkstrecker inseriert an den distalen Aspekt der vorderen Kante des Epikondylus und orientiert sich in seinem Verlauf nach distal direkt zur Margo posterior ulnae.

Technik Die Abgrenzung zur Ulna erfolgt über das Differenzieren von Konsistenzen, d. h., der Muskel bietet dem direkten Druck des palpierenden Fingers einen eher weichen und der Knochen einen deutlich harten Widerstand.

Abb. 3.43 Muskelränder des M. extensor carpi ulnaris.

Tipp Um den Muskel in seiner Gesamtheit darzustellen, kann man den Probanden um abwechselnde Anspannungen in Extension mit ulnarer Abduktion der Hand bitten (▶ Abb. 3.43). Die Abgrenzung nach radial zum M. extensor digitorum hin erfolgt, wie beschrieben, über die reziproke Hemmung der Handextensoren und Aktivität des Fingerstreckers. Weder Ursprung noch Sehnen oder Muskel-SehnenÜbergang sind im Zusammenhang mit Beschwerden am lateralen Ellbogen bekannt. Er scheint klinisch völlig unauffällig zu sein.

3.5.5 Therapeutische Hinweise – lokale Palpationstechnik für den Typ-II-Tennisarm Für alle Tennisarm-Typen sind Querfriktionstechniken zur Schmerzprovokation im Rahmen einer Befundung bzw. zu therapeutischen Zwecken beschrieben. Da der Typ-II-Tennisarm (in Kombination mit Typ V) der am häufigsten auftretende ist, wird die entsprechende Technik nachfolgend beschrieben.

Ausgangsposition Die ASTE hat 2 Schwerpunkte: ● Der Arm des Probanden sollte mit mäßige Abduktion im Schultergelenk und Flexion im Ellbogengelenk auf einer Therapieliege abgelegt werden. ● Das Ellbogengelenk sollte etwas über die Bankkante hinaus ragen, damit es von allen Seiten gut zugänglich ist.

89

Ellbogenregion Der Therapeut benutzt eine Hand zur Durchführung der Technik, die freie Hand stabilisiert den Arm des Patienten auf der Liege.

Technik Die ausführende Hand umfasst das Ellbogengelenk. Dabei haken sich die Fingerbeeren auf der medialen Seite an. Sie stabilisieren die quere Friktionstechnik, die durch den Daumen ausgeführt wird (▶ Abb. 3.44). Die Fingerbeere des Daumens nimmt Kontakt mit der anterioren Kante des lateralen Epikondylus auf (▶ Abb. 3.32). Unter einem deutlichen Druck gegen die anteriore Kante wird der Daumen in einer geraden Bewegung in Richtung Ellenbeuge geschoben. Ohne Druck, aber noch mit Hautkontakt wird der Daumen wieder zurück zur Spitze gezogen.

Der sehnige Ursprung des M. extensor carpi radialis brevis ist nicht als Erhebung tastbar, da dieser flach gegen die anteriore Kante einstrahlt. Bei einer bestehenden Tennisarmproblematik wird die Palpation schmerzhaft sein. Die Durchführung in der Behandlung orientiert sich an den Regeln zur Schmerzlinderung im Rahmen entzündlicher Irritationen: mäßige Intensität und nur eine Richtung mit dem therapeutischen Druck.

Tipp Eine Anwendung dieser Technik über mehrere Minuten kann für den Therapeuten schon anstrengend sein. Daher ist eine möglichst effiziente, aber auch kraftsparende Technik angeraten. Es wird daher empfohlen, die kleine Schubbewegung nicht aus den Daumengelenken auszuführen, sondern über die Bewegung der Hand oder gar des ganzen Armes, der während der Technik frei hängt und etwas horizontal eingestellt ist. Eine alternative Handhaltung mit Schub von distal gegen die Insertion mit einer Bewegung in anterior posteriorer Richtung ist ebenfalls möglich.

3.5.6 Palpation im Radialistunnel Obwohl bereits schon früher in der Literatur über die Irritation des N. radialis berichtet wurde, war es Eversmann (1995), der den Begriff des Radialistunnelsyndroms als neurale Kompression durch den M. supinator beschrieben hat. Der klinisch relevante Verlauf des N. radialis wird begrenzt durch die Mm. supinator, extensor carpi radialis logus und brevis sowie brachioradialis (Moradi et al. 2015) (▶ Abb. 3.45). An 2 unterschiedlichen und nah beieinander liegenden Stellen kann häufig eine Kompression ausgeübt werden:

Abb. 3.44 Querfriktion bei Typ-II-Tennisarm.

Abb. 3.45 Passagen im Radialistunnel (nach Omer Matthijs).

N. radialis

M. pronator teres

N. radialis R. profundus M. extensor carpi radialis brevis N. radialis R. superficialis

90

Arkade von Frohse M. supinator Caput humerale

3.5 Lokale Palpation lateral ●



in Höhe des Caput radii; an der scharfkantigen Aponeurose der Unterseite des M. extensor carpi radialis brevis (Vergara-Amador u. Ramírez 2015) in Höhe des Collum radii; an der ebenfalls scharfrandigen Grenze des oberflächigen Bauches des M. supinator (Arkade von Frohse; Moradi et al. 2015, Spinner 1968) sowie zurücklaufenden Ästen der A. radialis (leash of Henry, Ducic et al. 2012)

Provokative Palpation des N. radialis in Höhe des Caput radii Mit dieser Palpation kann der Verdacht auf eine Kontusion des N. radialis an der Unterseite des M. extensor carpi radialis brevis bestätigt werden.

Ausgangsposition Wie zur Palpation der lateralen Seite des Ellbogens vorgeschlagen, befindet sich die Schulter in mäßiger Abduktion und das Ellbogengelenk in 90° Flexion. Eine passive Handextension verursacht eine Annäherung der Handextensoren. Wenn das Ellbogengelenk frei erreichbar ist, gestaltet sich die Palpation einfacher. Jede Passage ist in 2 Einstellungen des Unterarmes (Pronation und Supination) erreichbar. Nur dann gilt eine provokative Palpation an einer Passage als negativ, wenn in beiden Unterarmeinstellungen nicht der typische Schmerz ausgelöst werden kann. Ansonsten muss von einer Pathologie der Sehne des M. extensor carpi radialis brevis (ECRB) oder des humeroradialen Gelenkes ausgegangen werden.

Technik 1 – in pronierter Unterarmeinstellung In dieser Position wird der N. radialis zwischen der Sehne des M. extensor carpi radialis brevis (ECRB) und dem Muskelbauch des M. extensor carpi radialis longus (ECRL) aufgesucht. Der Unterarm ist proniert und die Handextension passiv eingestellt. Der Daumen wird von lateral kommend auf das Caput radii positioniert und in dem

Daumengelenk stark gebeugt, sodass die Spitze des Daumens gegen den Untergrund drückt. Der Daumen wird so entlang des Caput radii nach anterior geführt, bis er gegen den Muskelbauch des (ECRL) drückt. Zur Bestätigung der Lokalisation lässt man isometrisch in radiale Handextension anspannen und nimmt somit den Rand des Muskelbauchs war. Nachfolgend drückt man spitz in die Tiefe und lässt den Patienten seine Wahrnehmung beschreiben (▶ Abb. 3.46).

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Technik 2 – in supinierter Unterarmeinstellung In dieser Position wird der N. radialis zwischen den Muskelbäuchen des M. extensor carpi radialis longus (ECRL) und dem M. brachioradialis (BR) aufgesucht. Der Unterarm ist jetzt supiniert und die Handextension weiterhin passiv eingestellt. Ausgehend von der Position der Palpation der Technik 1 wird der Daumen nahezu drucklos über den Bauch des ECRL geführt, bis die Daumenspitze den Bauch des BR spürt. Mit einer isometrischen Anspannung in Ellbogenflexion wird die richtige Lokalisation des Muskelrandes bestätigt. Nachfolgend drückt der Daumen spitz in die Tiefe und lässt den Patienten seine Wahrnehmung beschreiben (ohne Abbildung).

Provokative Palpation des N. radialis in Höhe des Collum radii Mit dieser Palpation kann der Verdacht auf eine Kontusion des N. radialis an der Arkade von Frohse bestätigt werden.

Ausgangsposition Die Einstellung des Armes in Flexion und der Hand in Extension bleibt wie zuvor bei der Palpation am Radiuskopf. Auch diese Passage ist in 2 Einstellungen des Unterarmes (Pronation und Supination) erreichbar. Nur dann gilt eine provokative Palpation an einer Passage als negativ, wenn in beiden Unterarmeinstellungen nicht der typische Schmerz ausgelöst werden kann. Ansonsten muss von einer Pathologie des Muskelsehnenübergangs des ECRB ausgegangen werden.

Technik 2 – in pronierter Unterarmeinstellung Palpationsvorgang, Bestätigung der richtigen Lokalisation zwischen dem Muskel-Sehnen-Übergang des ECRB und dem Muskelbauch des ECRL, Provokation und das Erfragen der Wahrnehmung durch den Patienten bleiben wie zuvor beschrieben. Der Start der Palpation ist jetzt das Collum radii (ohne Abbildung). Abb. 3.46 Technik 1 – in pronierter Unterarmeinstellung.

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Ellbogenregion

Abb. 3.47 Technik 2 – in supinierter Unterarmeinstellung.

Technik 2 – in supinierter Unterarmeinstellung

Abb. 3.48 Palpation der Ellbogengelenkkapsel.

Ausgehend von der Endposition der Technik 2 mit proniertem Unterarm wird der Daumen über den Muskelbauch des ECRL gegen den Rand des BR gebracht. Bestätigung der richtigen Lokalisation zwischen dem MuskelSehnen-Übergang des ECRB und dem Muskelbauch des ECRL, Provokation und das Erfragen der Wahrnehmung durch den Patienten bleiben wie zuvor beschrieben (▶ Abb. 3.47).

3.6 Allgemeine Orientierung am posterioren Humerus 3.6.1 Kurzfassung des Palpationsganges Die Orientierung an der rückwärtigen Seite des Ellbogengelenkes dient der: ● Palpation auf Wärme und Schwellung ● Lagebeziehung der 3 knöchernen Erhebungen

ASTE Eine besondere ASTE wird nicht benötigt. Die Rückseite des Ellbogengelenkes sollte zugänglich sein. Dies gelingt in verschiedenen Einstellungen des Armes, z. B. bei Armhebung über Flexion oder über Extension im Schultergelenk.

3.6.2 Palpation auf Wärme und Schwellung Die Rückseite des Ellbogens ist der einzige Bereich, der recht wenig von Weichteilen bedeckt ist. Somit lassen sich Schwellungen der Kapsel bzw. der Bursa olecrani gut erkennen und ertasten. Nur hier ist auch eine sichere Aussage über eine mögliche Wärmebildung der Gelenkkapsel möglich.

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Abb. 3.49 Palpationstechnik an der Bursa olecrani.

Technik Die Prüfung der Temperatur wird mit dem Handrücken, die Suche nach einer Schwellung eher mit den Fingerkuppen ausgeübt. Eine kapsuläre Schwellung zeigt sich medial bzw. lateral neben dem Olekranon. Die Palpation wird dort auch mit den Fingerbeeren direkt auf der Kapsel mit weicher, langsamer Technik ausgeübt (▶ Abb. 3.48). Eine geschwollene Bursa olecrani ist bereits optisch gut zu erkennen. Unter der Palpation direkt auf der Bursa fluktuiert die Flüssigkeit unter den Fingern (▶ Abb. 3.49).

Lagebeziehung der drei knöchernen Erhebungen Hier werden die Verhältnisse der palpablen Knochenpunkte zueinander bei unterschiedlichen Gelenkstellungen beschrieben. Diese „klinischen Bezugspunkte“ sind die Spitze des Olekranons und beide Epikondylen des Humerus.

Ellbogenregion

Abb. 3.47 Technik 2 – in supinierter Unterarmeinstellung.

Technik 2 – in supinierter Unterarmeinstellung

Abb. 3.48 Palpation der Ellbogengelenkkapsel.

Ausgehend von der Endposition der Technik 2 mit proniertem Unterarm wird der Daumen über den Muskelbauch des ECRL gegen den Rand des BR gebracht. Bestätigung der richtigen Lokalisation zwischen dem MuskelSehnen-Übergang des ECRB und dem Muskelbauch des ECRL, Provokation und das Erfragen der Wahrnehmung durch den Patienten bleiben wie zuvor beschrieben (▶ Abb. 3.47).

3.6 Allgemeine Orientierung am posterioren Humerus 3.6.1 Kurzfassung des Palpationsganges Die Orientierung an der rückwärtigen Seite des Ellbogengelenkes dient der: ● Palpation auf Wärme und Schwellung ● Lagebeziehung der 3 knöchernen Erhebungen

ASTE Eine besondere ASTE wird nicht benötigt. Die Rückseite des Ellbogengelenkes sollte zugänglich sein. Dies gelingt in verschiedenen Einstellungen des Armes, z. B. bei Armhebung über Flexion oder über Extension im Schultergelenk.

3.6.2 Palpation auf Wärme und Schwellung Die Rückseite des Ellbogens ist der einzige Bereich, der recht wenig von Weichteilen bedeckt ist. Somit lassen sich Schwellungen der Kapsel bzw. der Bursa olecrani gut erkennen und ertasten. Nur hier ist auch eine sichere Aussage über eine mögliche Wärmebildung der Gelenkkapsel möglich.

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Abb. 3.49 Palpationstechnik an der Bursa olecrani.

Technik Die Prüfung der Temperatur wird mit dem Handrücken, die Suche nach einer Schwellung eher mit den Fingerkuppen ausgeübt. Eine kapsuläre Schwellung zeigt sich medial bzw. lateral neben dem Olekranon. Die Palpation wird dort auch mit den Fingerbeeren direkt auf der Kapsel mit weicher, langsamer Technik ausgeübt (▶ Abb. 3.48). Eine geschwollene Bursa olecrani ist bereits optisch gut zu erkennen. Unter der Palpation direkt auf der Bursa fluktuiert die Flüssigkeit unter den Fingern (▶ Abb. 3.49).

Lagebeziehung der drei knöchernen Erhebungen Hier werden die Verhältnisse der palpablen Knochenpunkte zueinander bei unterschiedlichen Gelenkstellungen beschrieben. Diese „klinischen Bezugspunkte“ sind die Spitze des Olekranons und beide Epikondylen des Humerus.

3.7 Literatur

3.7 Literatur

Abb. 3.50 Palpation der knöchernen Referenzpunkte.

Abb. 3.51 Lage der Referenzpunkte bei Extension bzw. Flexion.

In einer 90° flektierten Position sollen diese Punkte ein gleichschenkliges Dreieck bilden (Hueter’sches Dreieck) (▶ Abb. 3.50) und bei extendierter Ellbogenstellung in einer Linie liegen (Hueter’sches Dreieck) (▶ Abb. 3.51). Diese Zuordnung gewährleistet einen groben Überblick über die Position der beteiligten Knochenanteile. In der posttraumatischen Behandlung ist es wichtig zu wissen, ob die physiologische Stellung dieser Knochenpunkte gewährleistet ist. Erkennt der Therapeut hier Abweichungen, ist eine röntgenologische Abklärung anzuraten.

Andreisek G, Crook DW, Burg D et al. Peripheral neuropathies of the median, radial, and ulnar nerves: MR imaging features. Radiographics 2006; 26: 1267–1287 Ducic I, Felder JM 3rd, Quadri HS. Common nerve decompressions of the upper extremity: reliable exposure using shorter incisions. Ann Plast Surg 2012; 68: 606–609. Beekman R, Schreuder AH, Rozeman CA et al. The diagnostic value of provocative clinical tests in ulnar neuropathy at the elbow is marginal. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2009; 80: 1369–1374 Eckstein F, Löhe F, Hillebrand S et al. Morphomechanics of the humero-ulnar joint: I. Joint space width and contact areas as a function of load and flexion angle. Anat Rec 1995; 243: 318–326 Eversmann WW. Entrapment and compression neuropathies. In: Green DP, Hotchkiss RN, eds. Operative Hand Surgery. 3 rd ed. New York: Churchill Livingstone; 1993: 1341–1385 Grana W. Medial epicondylitis and cubital tunnel syndrome in the throwing athlete. Clin Sports Med 2001;20:541–546 Gregoli B, Bortolotto C, Draghi F. Elbow nerves: normal sonographic anatomy and identification of the structures potentially associated with nerve compression. A short pictorial-video article. J Ultrasound 2013; 16: 119–121. Kuhn S, Burkhart KJ, Schneider J et al. The anatomy of the proximal radius: implications on fracture implant design. J Shoulder Elbow Surg 2012; 21: 1247–1254. Lieber RL, Ljung BO, Friden J. Sarcomere-Length in wrist extensor muscles – changes may provide insights into the etiology of chronic lateral epicondylitis. Acta Orthop Scand 1997; 68: 249–254 Ljung BO, Friden J, Lieber RL. Sarcomere length varies with wrist ulnar deviation but not forearm pronation in the extensor carpi radialis brevis muscle. J Biomech 1999; 32: 199–202 Matthijs O, van Paridon-Edauw, D, Winkel D. Manuelle Therapie der peripheren Gelenke. Bd. 2: Ellenbogen, Hand. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2003 Milz S, Eckstein F, Putz R. Thickness distribution of the subchondral mineralization zone of the trochlear notch and its correlation with the cartilage thickness: an expression of functional adaptation to mechanical stress acting on the humeroulnar joint? Anat Rec 1997; 248: 189–197 Moradi A, Ebrahimzadeh MH, Jupiter JB. Radial Tunnel Syndrome, Diagnostic and Treatment Dilemma. Arch Bone J Surg 2015; 3: 156–162 O'Driscoll SW, Bell DF, Morrey BF. Posterolateral rotatory instability of the elbow. J Bone Joint Surg 1991a; 73: 440–6 O'Driscoll SW, Horii E, Carmichael SW et al. The cubital tunnel and ulnar neuropathy. J Bone Joint Surg Br. 1991b; 73: 613–7 Polatsch DB, Melone CP Jr, Beldner S et al. Ulnar nerve anatomy. Hand Clin 2007; 23: 283–289 Robertson C, Saratsiotis J. A review of compressive ulnar neuropathy at the elbow. J Manipulative Physiol Ther 2005; 28: 345 Robinson PM, Loosemore M, Watts AC. Boxer's elbow: internal impingement of the coronoid and olecranon process. A report of seven cases. J Shoulder Elbow Surg 2017; 26: 376–381 Spinner M. The arcade of Frohse and its relationship to posterior interosseous nerve paralysis. J Bone Joint Surg Br 1968; 50: 809–12 Vergara-Amador E, Ramírez A. Anatomic study of the extensor carpi radialis brevis in its relation with the motor branch of the radial nerve. Orthop Traumatol Surg Res 2015; 101: 909–912 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in vivo. 3. Aufl. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2004 Zoner CS, Buck FM, Cardoso FN et al. Detailed MRI-anatomic study of the lateral epicondyle of the elbow and ist tendinous and ligamentous attachments in cadavers. AJR Am J Roentgenol 2010; 195: 629–636

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3.7 Literatur

3.7 Literatur

Abb. 3.50 Palpation der knöchernen Referenzpunkte.

Abb. 3.51 Lage der Referenzpunkte bei Extension bzw. Flexion.

In einer 90° flektierten Position sollen diese Punkte ein gleichschenkliges Dreieck bilden (Hueter’sches Dreieck) (▶ Abb. 3.50) und bei extendierter Ellbogenstellung in einer Linie liegen (Hueter’sches Dreieck) (▶ Abb. 3.51). Diese Zuordnung gewährleistet einen groben Überblick über die Position der beteiligten Knochenanteile. In der posttraumatischen Behandlung ist es wichtig zu wissen, ob die physiologische Stellung dieser Knochenpunkte gewährleistet ist. Erkennt der Therapeut hier Abweichungen, ist eine röntgenologische Abklärung anzuraten.

Andreisek G, Crook DW, Burg D et al. Peripheral neuropathies of the median, radial, and ulnar nerves: MR imaging features. Radiographics 2006; 26: 1267–1287 Ducic I, Felder JM 3rd, Quadri HS. Common nerve decompressions of the upper extremity: reliable exposure using shorter incisions. Ann Plast Surg 2012; 68: 606–609. Beekman R, Schreuder AH, Rozeman CA et al. The diagnostic value of provocative clinical tests in ulnar neuropathy at the elbow is marginal. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2009; 80: 1369–1374 Eckstein F, Löhe F, Hillebrand S et al. Morphomechanics of the humero-ulnar joint: I. Joint space width and contact areas as a function of load and flexion angle. Anat Rec 1995; 243: 318–326 Eversmann WW. Entrapment and compression neuropathies. In: Green DP, Hotchkiss RN, eds. Operative Hand Surgery. 3 rd ed. New York: Churchill Livingstone; 1993: 1341–1385 Grana W. Medial epicondylitis and cubital tunnel syndrome in the throwing athlete. Clin Sports Med 2001;20:541–546 Gregoli B, Bortolotto C, Draghi F. Elbow nerves: normal sonographic anatomy and identification of the structures potentially associated with nerve compression. A short pictorial-video article. J Ultrasound 2013; 16: 119–121. Kuhn S, Burkhart KJ, Schneider J et al. The anatomy of the proximal radius: implications on fracture implant design. J Shoulder Elbow Surg 2012; 21: 1247–1254. Lieber RL, Ljung BO, Friden J. Sarcomere-Length in wrist extensor muscles – changes may provide insights into the etiology of chronic lateral epicondylitis. Acta Orthop Scand 1997; 68: 249–254 Ljung BO, Friden J, Lieber RL. Sarcomere length varies with wrist ulnar deviation but not forearm pronation in the extensor carpi radialis brevis muscle. J Biomech 1999; 32: 199–202 Matthijs O, van Paridon-Edauw, D, Winkel D. Manuelle Therapie der peripheren Gelenke. Bd. 2: Ellenbogen, Hand. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2003 Milz S, Eckstein F, Putz R. Thickness distribution of the subchondral mineralization zone of the trochlear notch and its correlation with the cartilage thickness: an expression of functional adaptation to mechanical stress acting on the humeroulnar joint? Anat Rec 1997; 248: 189–197 Moradi A, Ebrahimzadeh MH, Jupiter JB. Radial Tunnel Syndrome, Diagnostic and Treatment Dilemma. Arch Bone J Surg 2015; 3: 156–162 O'Driscoll SW, Bell DF, Morrey BF. Posterolateral rotatory instability of the elbow. J Bone Joint Surg 1991a; 73: 440–6 O'Driscoll SW, Horii E, Carmichael SW et al. The cubital tunnel and ulnar neuropathy. J Bone Joint Surg Br. 1991b; 73: 613–7 Polatsch DB, Melone CP Jr, Beldner S et al. Ulnar nerve anatomy. Hand Clin 2007; 23: 283–289 Robertson C, Saratsiotis J. A review of compressive ulnar neuropathy at the elbow. J Manipulative Physiol Ther 2005; 28: 345 Robinson PM, Loosemore M, Watts AC. Boxer's elbow: internal impingement of the coronoid and olecranon process. A report of seven cases. J Shoulder Elbow Surg 2017; 26: 376–381 Spinner M. The arcade of Frohse and its relationship to posterior interosseous nerve paralysis. J Bone Joint Surg Br 1968; 50: 809–12 Vergara-Amador E, Ramírez A. Anatomic study of the extensor carpi radialis brevis in its relation with the motor branch of the radial nerve. Orthop Traumatol Surg Res 2015; 101: 909–912 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in vivo. 3. Aufl. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2004 Zoner CS, Buck FM, Cardoso FN et al. Detailed MRI-anatomic study of the lateral epicondyle of the elbow and ist tendinous and ligamentous attachments in cadavers. AJR Am J Roentgenol 2010; 195: 629–636

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4.1 Einleitung

4 Hand 4.1 Einleitung



4.1.1 Funktionelle Bedeutung der Hand Die knöchernen Konstruktionen von Hand und Fuß sind einen langen gemeinsamen Weg in der Entwicklungsgeschichte gegangen. Es sind heute noch viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden Skelettelementen zu entdecken (Ihle u. van Kampen 2011). Durch den Gewinn des aufrechten Stehens und der bipeden Fortbewegung haben sich die Skelettabschnitte der oberen und unteren Extremität in Form und Funktion bekanntermaßen ausdifferenziert. So kann man die Funktionen der Hand mit 3 Schwerpunkten umschreiben: Greiffunktion, Tastfunktion, Gestik/Kommunikation. Als Endorgan der oberen Extremität stellt die Hand ein sehr subtil einsetzbares, in Funktionsvielfalt ausgereiftes Arbeitsinstrument dar. Kapandji (2006) beschreibt sehr eindrucksvoll die verschiedenen Grifftechniken wie Flächengriffe und digitale Griffe, wobei der Pinzettengriff (bidigitaler Griff mit Daumen und Zeigefinger) der funktionell wichtigste ist. Ist es nicht immer wieder beeindruckend zu beobachten, mit welcher Präzision Sehbehinderte die verschiedensten Oberflächen, Materialien und Konsistenzen erkennen? Die hohe Dichte von Mechanorezeptoren in der Haut der Hand und speziell an den Fingerkuppen verleiht dem Menschen gerade hier eine ausgesprochen hohe Fähigkeit, Unterschiede auf kleinstem Raum wahrzunehmen (Diskriminationsfähigkeit). Die große sensorische Versorgung der Hand spiegelt sich wider in der Repräsentanz im sensorischen Kortex. In der sogenannten nonverbalen Kommunikation, das Zusammenspiel von Gestik, Mimik und Körperhaltung, spielt die Hand natürlich eine bedeutende Rolle. So kennt man geradezu typische, nationenübergreifende Gesten und Handhaltungen, die sich etabliert haben, wie beispielsweise den nach oben gereckten Daumen zum „Okay“.



Gründe für die Funktionsvielfalt der Hand Eine hohe Anzahl Gelenke im Bereich der Handwurzel und der Finger mit teils sehr großer Beweglichkeit. Das erstaunliche Zusammenspiel der Handwurzelknochen (Karpalia) begründet sich auf dreidimensionalen Bewegungen eines jeden Knochens bei Flächenbewegungen (Flexion und Extension) und Kantenbewegungen (ulnare und radiale Abduktion). Der Karpus verleiht mit zwei Gelenklinien (radio- und mediokarpal) der Hand die erstaunliche Mobilität von bis zu 180° Bewegungsumfang für Flexion und Extension.



Opposition des Daumens und der Finger. Die Fähigkeit des Daumenskeletts, sich den anderen Fingern zuzuwenden (Opposition), hebt die menschliche Hand funktionell von denen der Primaten ab. Die besondere räumliche Ausrichtung des Os trapezium in Bezug zu den anderen Handwurzelknochen ist der wichtigste Grund für diese Fähigkeit. Der entspannte Daumen hängt somit in Ruhe etwa 35° nach palmar und 15° nach radial und um 15° supiniert ausgerichtet (Zancolli et al. 1987). Das Daumensattelgelenk, für den Übergang zwischen Karpus und Metakarpus ausnahmsweise gut beweglich, sowie eine spezielle Muskelversorgung für den Daumen komplettieren das anatomische Rüstzeug zur Opposition. Allerdings sind nicht nur der Daumen, sondern auch die Finger zur Opposition fähig. Dies wird deutlich, wenn man die offene Hand von palmar betrachtet und einzeln die Finger flektiert. Jede Fingerkuppe zeigt in Flexion zum Daumensattelgelenk. ○ Eine weitere Möglichkeit, die Fingeropposition zu erkennen, ist die Gegenüberstellung von Daumen und Kleinfinger. Beide berühren sich mit den Fingerbeeren, nicht mit den Kanten. Zudem hat auch das Os metacarpale V einen eigenen M. opponens (▶ Abb. 4.1). Ein stabiles knöchernes Zentrum als Basis für die Greiffunktionen. ○ Mobilität, Ausdruck und Funktionsvielfalt könnten ohne eine stabile Basis nicht entstehen. Ohne einen zentralen Fixpunkt innerhalb der Hand würden die verschiedenen Greiffunktionen und die Entwicklung von Kraft kaum stattfinden können. ○ Dieses stabile Zentrum findet sich in dem Übergang zwischen dem Karpus (hier die distale Handwurzelknochenreihe) und den Basen der Mittelhandknochen II bis V (karpometakarpale Gelenklinie). Dieser Bereich ist durch Rigidität der gelenkigen Verbindungen gekennzeichnet. Alle anatomischen Parameter wie die zackige Gelenklinie, kompliziert gebaute Gelenkflächen und eine dichte ligamentäre Versorgung sprechen für Stabilität, nicht für Mobilität. ○ Weiterhin bildet dieser Übergang der Abschnitte Karpus und Metakarpus ein queres knöchernes Gewölbe, das in Lage, Bedeutung und entwicklungsgeschichtlichem Alter dem Quergewölbe des Fußes vergleichbar ist. Es ist die ossäre Grundlage für den Karpaltunnel (Sulcus carpi). Verformbarkeit der Mittelhand. ○ Die Mittelhandknochen sind proximal mit straffen Gelenken miteinander und mit dem Karpus verbunden. Distal sind sie, über Syndesmosen verbunden, ausgesprochen gut gegeneinander beweglich. So erhält der Handteller einerseits die Fähigkeit, sich abzuflachen – wichtig für Flächenkontakte – und

4

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Hand

4.1.2 Pathologie und häufige therapeutische Tätigkeiten Die Beschwerdebilder an der Hand, die eine therapeutische Herausforderung darstellen, sind vielfältig und umfassen nahezu die ganze Palette der postoperativen, traumatisch und nicht traumatisch bedingten Beschwerdebilder an Extremitäten. Das Besondere an diesem Skelettabschnitt ist die räumliche Enge der klinisch relevanten Strukturen. Die meisten Beschwerden sind innerhalb des Karpus oder in dessen unmittelbarer Nähe zu suchen. So nimmt auch der Bereich des Karpus bzw. seine direkte anatomische Umgebung den größten Umfang in der gezielten Palpation an der Hand ein.

Häufige Pathologie an der Hand ●

Abb. 4.1 Opposition von Daumen und Kleinfinger.





Abb. 4.2 Muskuläre Ansteuerung des Pinzettengriffs.



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andererseits die Möglichkeit, eine Hohlhand zu bilden – bedeutend für fingerbetonte Greiffunktionen. ○ Zudem befindet sich keine störende Muskelmasse im Handteller, ganz im Gegensatz zur kurzen Muskulatur an der Fußsohle. ○ Letztlich kann noch die verstärkte Faszie der Hand (Palmaraponeurose) durch hierfür extra angelegte Muskulatur gespannt werden (M. palmaris longus). Selektive muskuläre Ansteuerung. ○ Die außerordentliche Präsenz der Hand im primär motorischen Zentrum des Gyrus praecentralis (Williams 2009, S. 342) sowie die entwicklungsgeschichtlich jüngsten Bahnen der Willkürmotorik stellen die motorische Grundlage für die Funktionsvielfalt dar. Allein der funktionell so wichtige Pinzettengriff erfordert eine fein abgestimmte Koordination, basierend auf kleinen motorischen Einheiten (▶ Abb. 4.2).

Arthritiden, meist mit rheumatischem oder traumatischem Hintergrund. Gelenkentzündungen sind nicht nur im Bereich der Handwurzel, sondern auch am distalen radioulnaren Gelenk (DRUG) sowie am Daumensattelgelenk zu finden, was in der Differenzierung innerhalb der Befundung bei radialen oder ulnaren Beschwerden zu bedenken ist. Bewegungseinschränkungen, meist infolge von Ruhigstellungen z. B. nach gelenknahen Frakturen (CollesFraktur). Die entscheidende Frage, die sich ein Therapeut in der Betrachtung einer bewegungseingeschränkten Hand stellt, ist die Lokalisation des Mobilitätsmangels. Soll man mit der Therapie am radiokarpalen Gelenk beginnen oder muss zunächst lokal innerhalb des Karpus befundet werden? Instabilitäten im Bereich der Hand sind häufig Ursachen von Beschwerden. Sie können an verschiedenen Stellen vorhanden sein: ○ Global an den Gelenklinien des Karpus. Die midkarpale Instabilität ist am mediokarpalen Gelenk zwischen beiden Handwurzelknochenreihen lokalisiert (Lichtman u. Wroten 2006). Palmare Subluxationen des radiokarpalen Gelenkes werden typischerweise im Zusammenhang mit rheumatoiden Arthritiden gesehen. ○ Lokal innerhalb des Karpus: Hier steht das Os lunatum im Fokus. Es wird mit intrinsischen Ligamenten innerhalb der proximalen Reihe von Os scaphoideum und Os triquetrum in seiner Position kontrolliert. Rupturiert eines dieser Ligamente infolge eines Traumas, disloziert das Os lunatum vorwiegend mit einer translatorischen Komponente nach palmar und dreht sich zusätzlich (in Abhängigkeit von der verletzten Struktur) in ein dorsale oder palmare Richtung (Zanetti et al. 1998). ○ Weitere Instabilitäten sind am DRUG sowie am Daumensattelgelenk zu finden.

4.1 Einleitung ●





Weichteilaffektionen: ○ Die Passagen der Sehnen und Fixpunkte langer Muskeln am Handgelenk bieten zahlreiche Gelegenheiten für Überlastungsprobleme. Man findet hier die gesamte Palette möglicher Pathologien: Tendosynovitiden, Myotendosynovitiden und Insertionstendopathien. Auf der dorsalen Seite sind die Sehnenpassagen in Sehnenfächern organisiert, auf der palmaren Seite bündelt der Karpaltunnel 9 Sehnen und 1 Nerv. Die Beschwerden dieser Region lassen sich häufig mittels einer genau platzierten Anwendung therapeutisch gut beeinflussen. ○ Der Discus ulnaris ist der wichtigste Bestandteil des TFC-Komplexes (triangulärer fibrokartilaginärer Komplex). Dessen Entzündungen und Verletzungen sind ein häufiger Grund für lokale ulnare Schmerzen (Pang u. Yao 2017). Nervenkompressionen: Analog zur Situation am Ellenbogen können auch hier alle 3 großen peripheren Nerven in ihrer Passage am Handgelenk bzw. in unmittelbarer Nähe komprimiert werden. ○ Im Karpaltunnel ist dies bekanntlich der N. medianus. Verschiedene Provokationstests des Karpaltunnelsyndroms basieren auf der gründlichen Lokalisierung des Engpasses. Radfahrer komprimieren gelegentlich den N. ulnaris in der Loge de Guyon. Beim Durchtritt durch die Unterarmfaszie an die Oberfläche kann der N. radialis komprimiert werden. Die Anforderung an den Therapeuten besteht darin, mit dem Verständnis der lokalen Biomechanik und dem genauen Aufsuchen der beteiligten Knochenpartner die ursächliche Laxität und damit den Grund für die Beschwerden festzustellen. Lokale Anatomie in vivo auf der Basis eines guten topografischen und morphologischen Wissens ist hier die notwendige Grundlage.









Namen und Lage der Sehnen, die das Handgelenk überqueren Lage und Ausdehnung der Retinacula, welche die langen Sehnen in den Extensorenfächern bzw. im Karpaltunnel festhalten Lage und Konstruktion der Engpassstellen für periphere Nerven an der Hand, insbesondere des Karpaltunnels Lage und Erreichbarkeit des TFC-Komplexes

4.1.4 Längseinteilung des Handskeletts in Säulen mit deren klinischen Bedeutungen Die exakte anatomische Darstellung der Hand ist schon seit Da Vinci und Vesalius bekannt. Seitdem hat sich nichts daran geändert, die einfachere dorsale „transparentere“ Ansicht zu wählen, um die Anatomie zu beschreiben (Berger 2010). Neben der gewohnten queren anatomischen Einteilung der Hand in die Abschnitte Karpus, Metakarpus und Phalangen (▶ Abb. 4.3) besteht noch die Möglichkeit, das Handskelett in Längsrichtung einzuteilen (▶ Abb. 4.4). Das Säulenkonzept wurde bereits 1937 von Navarro beschrieben (Matthijs et al. 2003). Diese Einteilung erfolgt aufgrund von Erfahrungen nach klinischen Aspekten. Jede Säule hat 1 Strahl oder 2 Strahlen (Metakarpale plus Phalangen) und in Längsrichtung zugeordnete Handwurzelknochen. ▶ Radiale Säule. Sie besteht aus den Strahlen I und II sowie den Ossa trapezii und dem Os scaphoideum (distaler Pol). In dieser Säule sind am meisten arthrotische

Der Vorteil für die lokale Anatomie in vivo an der Hand ist besonders darin zu sehen, dass die Beschwerden eines Patienten meist sehr exakt angegeben werden können. Abgesehen von neuraler Irritation ist ein großes Schmerzwahrnehmungsgebiet so weit distal an der Extremität nicht zu erwarten. Dies bedeutet für die Befunderhebung, dass neben der Systematik der Funktionsprüfung die Schmerzangabe des Patienten einen großen Wert für die Identifizierung der betroffenen Struktur hat.

Phalangen

Metacarpus

4.1.3 Notwendige topografische und morphologische Vorkenntnisse Um die Anleitungen zur lokalen Palpation nachzuvollziehen, benötigt der Übende einige maßgebliche Hintergrundinformationen: ● knöcherner Aufbau des Hand- und Fingerskeletts, insbesondere Namen und Lage der Handwurzelknochen sowie Längseinteilungen der Hand

4

Carpus

Abb. 4.3 Quere Einteilung des Handskeletts.

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Hand

radiale Säule

zentrale Säule

ulnare Säule

Os capitatum

Os pisiforme

Os lunatum Radius

Abb. 4.6 Palmare tiefe extrinsische Ligamente.

Abb. 4.4 Längseinteilung des Handskeletts (Säulenkonzept).

Os capitatum Os hamatum Os pisiforme Os triquetrum Os lunatum

Os trapezoideum Os trapezium

▶ Ulnare Säule. Die Verbindungen des VI. und V. Strahls mit dem Os hamatum und dem Os triquetrum gegenüber dem Discus articularis ulnae sind bekannt für die große Wahrscheinlichkeit einer Hypermobilität, die unter Umständen auch zu Beschwerden führen können. Die Stabilität der ulnaren Säule hängt im besonderen Maße von der Intaktheit des TFC-Komplexes ab.

Os scaphoideum

Ulna

4.1.5 Karpus Radius

Abb. 4.5 Topografie des Karpus – Ansicht von palmar.

Veränderungen zu erkennen. Das Skaphoid bildet zu 4 benachbarten Karpalia und zum Radius Gelenke. Hypomobilitäten und Frakturen, vorzugsweise des Os scaphoideum, wird man vorzugsweise in der radialen Säule antreffen. Innerhalb dieser Säule kann man die Daumensäule separat betrachten, da das Daumenskelett durch die besondere Ausrichtung des Os trapezium von der restlichen Handwurzel abgestellt ist. Hierzu würde dann der Strahl I, das Os trapezium und und das Os scaphoideum zählen. ▶ Zentrale Säule. Der Leitstrahl der Hand (Metakarpale III und Mittelfinger) plus Os capitatum, Os scaphoideum (proximaler Pol) und Os lunatum bildet die zentrale Säule. Neben Lokalisationen von Hypomobilitäten ist die klinische Besonderheit dieser Säule das häufige Auftreten von lokalen Instabilitäten, vor allem des Os lunatum mit möglichen fixierten Dislokationen in einer nicht physiologischen Position unter Belastung. Letztlich wird eine

98

palmare Dislokation durch die sagittale Anwinklung des distalen Radius (palmarer Tilt) und die Anlage der tiefe palmaren Ligamente noch begünstigt (▶ Abb. 4.6). Lokale Mobilitätstests der gelenkigen Verbindungen des Os lunatum gegenüber den benachbarten Knochenpartnern überprüfen die lokale Stabilität, wenn man in der Lage ist, die Lage der einzelnen Karpalia genau zu bestimmen.

Die Anlage von 8 Handwurzelknochen in 2 Reihen liefert die Grundlage für den anatomischen Aufbau des Karpus. Bei dieser Reihenteilung hat die proximale Reihe der Handwurzelknochen eine besondere Bedeutung. Abgesehen vom M. flexor carpi ulnaris hat kein extrinsischer Muskel einen direkten Ansatz an dieser Reihe. Das Os pisiforme wird zwar als Handwurzelknochen klassifiziert, gehört aber biomechanisch nicht zur proximalen Reihe. Diese Unabhängigkeit von muskulären Einflüssen zeichnet die funktionelle Aufgabe der proximalen Reihe als zwischengeschaltetes Element (Intercalated Segment) aus, indem sie zwischen 2 rigiden Blöcken (distaler Unterarm und distale karpale Reihe der Metakarpalia) vermittelt. Dies gelingt der proximalen Reihe durch große passive Begleitbewegungen während der Flächenbewegungen (Extension und Flexion) und Randbewegungen (ulnarer und radialer Abduktion). Die Flächen- und Randbewegungen der Hand verteilen sich in 2 Gelenkreihen: radiokarpales und mediokarpales Gelenk, wobei jeder Handwurzelknochen ein eigenes Bewegungsausmaß hat (De Lange et al. 1987). Die Mobilität der Randbewegungen ist zudem von der Einstellung des Unterarmes abhängig. Bei einer vollen Supination

4.1 Einleitung wird der Unterarm durch Spannung bestimmter Fasern der Membrana interossea antebrachii nach distal gezogen und das Ausmaß der radialen Abduktion ist geringer als in voller Pronation. Os scaphoideum und Os lunatum artikulieren mit einer zugehörigen Gelenkflächengrube am Radius (Fossae scaphoidea und lunata), das Os triquetrum mit dem Discus articularis ulnae. Insgesamt hat der Radius 2 Anwinkelungen gegenüber seiner Längsachse: eine ulnare und eine palmare Kippung (▶ Abb. 4.18). Die distale Reihe artikuliert mit der proximalen Reihe im mediokarpalen Gelenk, wobei die distale Reihe eine grundsätzlich konvexe Form wie die proximale Reihe besitzt. Lediglich radial dreht sich die Kurvatur zwischen Os scaphoideum und beiden Ossa trapezii um. Dies ermöglicht beiden Ossa trapezii ein Schaukelgleiten bei einer Extension (mit radialer Abduktion) auf das Os scaphoideum hinauf, was sie bei endgradiger Bewegung in direkter Nähe zum distalen Radius bringt. Grundsätzlich gilt das mediokarpale Gelenk als Scharniergelenk, das um eine schräge Achse Radialextension und Ulnarflexion ermöglicht, was in der Literatur als „dart-throwing motion“ beschrieben wird (Moritomo et al. 2007).

4

Abb. 4.7 Kompensatorische Begleitbewegungen der proximalen Reihe bei radialer Abduktion.

4.1.6 Kinematisches und kinetisches Modell der Hand Die Aufgabe des Karpus ist, die Hand optimal für die verschiedenen Aufgaben räumlich einzustellen. Um dies zu erreichen, muss sowohl eine große Beweglichkeit erreicht und zeitgleich eine Stabilität gewährleistet werden (Ryu u. Klin 2010). Kinematisch besteht das biomechanische Modell des Karpus aus 2 gegenüber bewegenden, rigiden Teilen mit einem dazwischen geschalteten Element (Intercalated Segment): ● Die rigiden Teile sind der Radius proximal und die Ossa metacarpalia samt distaler Reihe. ● Die proximale Reihe stellt das Intercalated Segment dar, das in jeder Position eine stabile Pfanne nach distal und einen Kopf nach proximal darstellt. Dies gelingt der proximalen Reihe durch die kompensatorischen Bewegungen zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Reihe (▶ Abb. 4.7). Ryu spricht hier von einem „Vier-Einheiten-Konzept“: distale Reihe plus Ossa scaphoideum, lunatum und triquetrum (Ryu u. Klin 2010). Die Aufgabe dieses Modells ist es, die große Beweglichkeit unter kompressiven Kräften in jeder Position gleichzeitig zu gewährleisten. Die Stabilität der Hand wird von den knöchernen und vor allem kapsuloligamentären Strukturen gewährleistet. Der Karpus, mit Ausnahme des M. flexor cari ulnaris, wird von den Sehnen der extrinsischen Muskeln komplett überquert. Diese Sehnen inserieren an den Basen der Metakarpalia und am Fingerskelett.

Extension

Flexion

Abb. 4.8 Kinetisches Modell der Hand bei Greifbewegungen.

Kinetisch ist die größte Herausforderung, die Stabilität des Karpus während des aktiven Greifens von Gegenständen zu gewährleisten. Die maximale Greifkraft entsteht, wenn die Hand in leichter Extension gehalten wird. Das bedeutet, dass im Moment des Greifens die Handextensoren, Handflexoren, Fingerflexoren und Daumenflexor aktiv sind und dadurch eine Kompressionskraft auf den Karpus ausüben. In Mittelposition der Hand werden von der totalen Kompressionskraft ungefähr 50 % über die radiale, 30 % über die zentrale und 20 % über die ulnare Säule auf dem Unterarm weitergeleitet. Im Moment des Greifens befindet sich das mediokarpale Gelenk unter Aktivität beider radialer Handextensoren etwas in Radialextension. Dies hat 2 Mechanismen zufolge (▶ Abb. 4.8): ● Die kompressive Kraft auf der radialen Seite drückt den distalen Pol des Os scaphoideum nach palmar in Richtung Flexion (Kobayashi et al. 1997). Diese Flexionsten-

99

Hand



denz überträgt es über ein intrinsisches Band (Lig. scapolunatum) auf das Os lunatum. Die Radialextension spannt einen Teil der tiefen extrinsischen Bänder palmar: das Lig. arcuatum oder triquetrocapitatum. Dies übt eine extensorische Kraft auf das Os triquetrum aus, dass diese Extensionstendenz mittels eines weiteren intrinsischen Bandes (Lig. triqutrolunatum) auf das Os lunatum übermittelt.

Somit erhält das Os lunatum von radial eine Flexionsund von ulnar eine Extensionstendenz und bleibt bei intakten intrinsischen Ligamenten neutral für Flexion und Extension. Aus diesem Modell lassen sich verschiedene ligamentäre Verletzungen und karpale Instabilitäten auf die Hand ableiten, die während eines Sturzes auf die Hand entstehen.

2017). Er kann also die direkte Quelle von Schmerzen sein, eine häufige Ursache für ulnare Beschwerden des Handgelenkes.

4.1.8 Aufbau des Karpaltunnels Die Handwurzelknochen beider Reihen bilden ein queres Gewölbe, den Sulcus carpalis. Der Begriff „Reihe“ ist eigentlich verwirrend. Die Konstruktion des karpalen Gewölbes wird deutlich, wenn man die nach palmar hervorstehenden Knochenpunkte betrachtet (▶ Abb. 4.10): Hamulus ossis hamati

Os pisiforme

Tub. ossis trapezii

Lig. transversum carpi

Tub. ossis scaphoidei

4.1.7 TFC-Komplex Die Stabilität des ulnaren Karpus und die des distalen radioulnaren Gelenkes wird von dem sogenannten TFCKomplex kontrolliert (▶ Abb. 4.9). „TFC“ steht für triangulär und fibrokartilaginär.

Abb. 4.10 Begrenzungen des Karpaltunnels.

Aufgaben ● ● ●

Verankerung des Karpus an Ulna und Radius Übernahme von Druckkräften Stabilisation des distalen radioulnaren Gelenkes

Hauptbestandteile Discus articularis ulnae, Lig. collaterale carpi ulnare, tiefe ulnokarpale Ligamente und die Sehnenscheide des M. extensor carpi ulnaris. Der Diskus verspannt sich zwischen dem Proc. styloideus ulnae und dem Rand der Gelenkfläche des Radius für das DRUG und ist ligamentär verstärkt. Der TFC-Komplex ist randständig durch Äste der A. ulnaris vaskularisiert und mittels 3 verschiedener karpaler Gelenknerven nozisensorisch versorgt (Pang u. Yao

M. flexor digitorum profundus

Lig. transversum carpi

M. ext. carpi ulnare Discus articularis ulnae Lig. collaterale carpi ulnare

Abb. 4.9 Wichtige Anteile des TFC-Komplexes.

100

Abb. 4.11 M. flexor digitorum profundus.

4.1 Einleitung

N. medianus M. flexor digitorum superficialis

M. flexor pollicis longus

Lig. transversum carpi

4 Lig. transversum carpi

Abb. 4.12 M. flexor digitorum superficialis.



● ●

radial: Tubercula vom Os scaphoideum und Os trapezium ulnar: Os pisiforme und Hamulus ossis hamati Am Boden des Sulkus liegen die Ossa lunatum und capitatum. Dieser karpale Bogen wird vom Lig. transversum carpi zum Karpaltunnel abgeschlossen. Den Diameter des Tunnels beschreiben Schmidt und Lanz (2003, S. 31) zwischen 8 und 12 mm. Durch diesen engen Raum ziehen: ○ 4 Sehnen des M. flexor digitorum profundus (▶ Abb. 4.11) ○ 4 Sehnen des M. flexor digitorum superficialis (▶ Abb. 4.12) ○ 1 Sehne des M. flexor pollicis longus (▶ Abb. 4.13) ○ N. medianus (▶ Abb. 4.14)

Früher wurde die Passage der Sehne des M. flexor carpi radialis mit in den Karpaltunnel einbezogen. In der topografischen Anatomie wird ihr Durchtritt unter dem Ligamentum als separate Passage aufgeführt (Beckenbaugh 2010).

Abb. 4.13 M. flexor pollicis longus.

N. medianus

Lig. transversum carpi

M. flexor carpi radialis

M. flexor pollicis longus

M. flexor digitorum superficialis

M. flexor digitorum profundus

Abb. 4.14 Querschnitt durch den Karpaltunnel.

101

Hand

Ulna EDM

EIP

ED

EPL

Tuberculum dorsale radiale ECRB

ECRL EPB

ECU

APL

Radius FCU

Tub. v. Lister

IV M. ext. digitorum, M. ext. indicis proprius

I M. abd. pollicis longus M. ext. pollicis brevis II M. ext. carpi radialis longus M. ext. carpi radialis brevis

Abb. 4.16 Extensorensehnen und Retinaculum extensorum in der Ansicht von distal (nach Omer Matthijs). FCU = M. flexor carpi ulnaris ECU = M. extensor carpi ulnaris EDM = M. extensor digiti minimi EIP = M. extensor indicis proprius ED = M. extensor digitorum EPL = M. extensor pollicis longus ECRB = M. extensor carpi radialis brevis ECRL = M. extensor carpi radialis longus APL = M. abductor pollicis longus EPB = M. extensor pollicis brevis

V M. ext. digiti minimi VI M. ext. carpi ulnaris

III M. ext. pollicis longus

Sehnenfächer von radial nach ulnar ●

Abb. 4.15 Sehnenfächer der Hand- und Fingerextensoren.





102

4.1.9 Extensorensehnen und ihre Fächer



Die Sehnen der langen (extrinsischen) Muskeln, die das Hand- und Fingerskelett bewegen, werden palmar, dorsal und an den Seiten des Unterarmes durch eine tiefe Verstärkung der Unterarmfaszie an Radius und Ulna gehalten (Retinacula flexorum und extensorum). Durch die Retinakula behalten alle Sehnen ihre Beziehung zum Unterarm, auch während ausgiebiger Bewegung der Hand oder des Unterarmes mit Umwendebewegungen. Das Retinaculum extensorum verspannt sich zwischen dem Radius und der Sehnenscheide des M. flexor carpi ulnaris und ist zwischen den jeweiligen Sehnenfächern mit den Knochen verhaftet, sodass kleine osteofibröse Kanälchen zum Durchtritt der Sehnen entstehen (▶ Abb. 4.16). Die Sehnen sind hierbei mit Sehnenscheiden gegen die bei Bewegungen entstehende Reibung geschützt. Dieses Kanälchen für den Sehnendurchtritt nennt man Sehnenfach, von denen es 6 gibt (▶ Abb. 4.15).





Fach I: M. abductor pollicis longus (APL) und M. extensor pollicis brevis (EPB) Fach II: Mm. extensor carpi radialis longus (ECRL) und brevis (ECRB) Fach III: M. extensor pollicis longus (EPL) Fach IV: M. extensor digitorum (ED) und M. extensor indicis proprius (EIP) Fach V: M. extensor digiti minimi (EDM) Fach VI: M. extensor carpi ulnaris (EDU)

4.2 Allgemeine Orientierung dorsal 4.2.1 Kurzfassung des Palpationsganges In der folgenden Anleitung zum Aufsuchen der Strukturen der Hand wird zunächst dorsal begonnen. Zunächst verschafft sich der Therapeut einen Eindruck über die Dimension des Karpus mit seiner proximalen und distalen Begrenzung. Hierdurch erhält er genau Auskunft über die Größe von Karpus und Metakarpus. Dabei werden markante knöcherne Kanten und Punkte aufgesucht. Somit wird die Grundlage zur sehr lokalen Darstellung der Extensorensehnen in ihren Sehnenfächern sowie der einzelnen Handwurzelknochen (Karpalia) gelegt.

Hand

Ulna EDM

EIP

ED

EPL

Tuberculum dorsale radiale ECRB

ECRL EPB

ECU

APL

Radius FCU

Tub. v. Lister

IV M. ext. digitorum, M. ext. indicis proprius

I M. abd. pollicis longus M. ext. pollicis brevis II M. ext. carpi radialis longus M. ext. carpi radialis brevis

Abb. 4.16 Extensorensehnen und Retinaculum extensorum in der Ansicht von distal (nach Omer Matthijs). FCU = M. flexor carpi ulnaris ECU = M. extensor carpi ulnaris EDM = M. extensor digiti minimi EIP = M. extensor indicis proprius ED = M. extensor digitorum EPL = M. extensor pollicis longus ECRB = M. extensor carpi radialis brevis ECRL = M. extensor carpi radialis longus APL = M. abductor pollicis longus EPB = M. extensor pollicis brevis

V M. ext. digiti minimi VI M. ext. carpi ulnaris

III M. ext. pollicis longus

Sehnenfächer von radial nach ulnar ●

Abb. 4.15 Sehnenfächer der Hand- und Fingerextensoren.





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4.1.9 Extensorensehnen und ihre Fächer



Die Sehnen der langen (extrinsischen) Muskeln, die das Hand- und Fingerskelett bewegen, werden palmar, dorsal und an den Seiten des Unterarmes durch eine tiefe Verstärkung der Unterarmfaszie an Radius und Ulna gehalten (Retinacula flexorum und extensorum). Durch die Retinakula behalten alle Sehnen ihre Beziehung zum Unterarm, auch während ausgiebiger Bewegung der Hand oder des Unterarmes mit Umwendebewegungen. Das Retinaculum extensorum verspannt sich zwischen dem Radius und der Sehnenscheide des M. flexor carpi ulnaris und ist zwischen den jeweiligen Sehnenfächern mit den Knochen verhaftet, sodass kleine osteofibröse Kanälchen zum Durchtritt der Sehnen entstehen (▶ Abb. 4.16). Die Sehnen sind hierbei mit Sehnenscheiden gegen die bei Bewegungen entstehende Reibung geschützt. Dieses Kanälchen für den Sehnendurchtritt nennt man Sehnenfach, von denen es 6 gibt (▶ Abb. 4.15).





Fach I: M. abductor pollicis longus (APL) und M. extensor pollicis brevis (EPB) Fach II: Mm. extensor carpi radialis longus (ECRL) und brevis (ECRB) Fach III: M. extensor pollicis longus (EPL) Fach IV: M. extensor digitorum (ED) und M. extensor indicis proprius (EIP) Fach V: M. extensor digiti minimi (EDM) Fach VI: M. extensor carpi ulnaris (EDU)

4.2 Allgemeine Orientierung dorsal 4.2.1 Kurzfassung des Palpationsganges In der folgenden Anleitung zum Aufsuchen der Strukturen der Hand wird zunächst dorsal begonnen. Zunächst verschafft sich der Therapeut einen Eindruck über die Dimension des Karpus mit seiner proximalen und distalen Begrenzung. Hierdurch erhält er genau Auskunft über die Größe von Karpus und Metakarpus. Dabei werden markante knöcherne Kanten und Punkte aufgesucht. Somit wird die Grundlage zur sehr lokalen Darstellung der Extensorensehnen in ihren Sehnenfächern sowie der einzelnen Handwurzelknochen (Karpalia) gelegt.

4.2 Allgemeine Orientierung dorsal

Abb. 4.17 Topografie knöchern – Ansicht von radial.

4

Abb. 4.18 Palpation des Radius von distal.

ASTE Man wählt für die zu palpierende Hand eine entspannte Lagerung, die ohne jegliche Muskelaktivität beibehalten werden kann. Zur Palpation der ossären Strukturen ist es auch weiterhin absolut notwendig, dass jegliche Aktivität vermieden wird, da sonst die darüber liegenden Sehnen unter Spannung geraten und ein gezieltes Aufsuchen der tiefer liegenden ossären Strukturen verhindert wird. Hierzu werden Hand und Unterarm auf einer geraden Unterlage abgelegt (▶ Abb. 4.17). Der Therapeut sitzt an der ulnaren Seite.

Tipp

Abb. 4.19 Palpation des Proc. styloideus radii.

Zur Klärung der Richtungsangaben werden die Begriffe radial (daumenwärts), ulnar (kleinfingerwärts), dorsal (zum Handrücken zeigend) und palmar (zur Handfläche zeigend) verwendet. Dies mag unter Umständen gewöhnungsbedürftig sein, es erleichtert aber die genaue Bezeichnung und damit die Verständigung. So liegt z. B. der Gelenkspalt des distalen radioulnaren Gelenkes radial des Ulnaköpfchens.

4.2.2 Palpation einzelner Strukturen Proximale Begrenzung des Karpus (radiokarpale Gelenklinie) Die Abgrenzung der proximalen Handwurzelknochenreihe gegenüber dem Unterarm kennzeichnet den Gelenkspalt für das radiokarpale Gelenk. Diese Gelenklinie orientiert sich vornehmlich an den Rändern von Radius und Ulna.

Technik Der palpierende Finger kommt zunächst von distal, sodass die Fingerspitze gegen Radius und Caput ulnae stoßen kann (rechtwinklige Palpation, ▶ Abb. 4.18). Am leichtesten gelingt der Beginn auf der radialen Seite der Hand in einer Vertiefung am Karpus (Fossa radialis), die später noch genauer beschrieben wird (▶ Abb. 4.30).

Proc. styloideus radii

Abb. 4.20 Zeichnerische Darstellung der Palpationstechnik.

Die rechtwinklige Palpation ergibt hier einen deutlichen harten Widerstand, wenn man gegen den Radiusrand anstößt. Orientiert man sich noch etwas palmarwärts, kann man den Proc. styloideus radii, die radiale und recht palmare Begrenzung des Radius auffinden (▶ Abb. 4.19 und ▶ Abb. 4.20). Über dem radialen Styloid liegen die Sehnen des Extensorenfachs I und von seiner Spitze aus verläuft das radiale Kollateralband v-förmig zu den radialen Handwurzeln (Ossa scaphoideum und trape-

103

Hand

Abb. 4.21 Distaler radialer Radius.

Abb. 4.23 Palpation des DRUG.

Abb. 4.22 Palpation des Tuberculum radiale dorsale.

Abb. 4.24 Palpation des distalen Caput ulnae und Proc. styloideus ulnae.

zium). Direkt proximal des Processus inseriert der M. brachioradialis. Die Anspannung der Sehne und damit die genaue Stelle der Insertion lässt sich unter rhythmischer isometrischer Muskelaktivität ertasten. Die weitere Abgrenzung des Karpus vollzieht sich nun von radial nach ulnar in gleicher Technik, wobei zunehmend die rundlichen Sehnen stören, welche hier in ihren Fächern das Handgelenk überqueren (▶ Abb. 4.21). Wenn der palpierende Finger zwischen dem II. und III. Strahl nach proximal geführt wird, ertastet dieser, gerade auf dem Radius angelangt, in Höhe des Caput ulnae eine tropfenförmige Leiste, das Tuberculum radiale dorsale, auch Tuberculum von Lister genannt (▶ Abb. 4.22). Direkt distal davon befindet sich der Radiusrand. Weiter nach ulnar erreicht man den Übergang zwischen Radius und Ulna. Die Höhe des distalen radioulnaren Gelenkspaltes ist erreicht, wenn die eher geradlinige Kante des Radius in eine konvexe Form übergeht und der Übergang palpa-

104

torisch mit einer kleinen „V-förmigen“ Einkerbung versehen ist (▶ Abb. 4.23). Die Palpation endet distal des Ulnaköpfchens und des Proc. styloideus ulnae, welcher sich seitlich (ulnar und dorsal) am Caput ulnae befindet (▶ Abb. 4.24).

Tipp Wird das Ertasten der Radiuskante durch die Sehnen erschwert, bringt man eine leichte Extension in die entspannte Hand ein. Dadurch tauchen die Knochen der proximalen Reihe nach palmar ab und die Weichteilstrukturen werden locker. Die Lage der Sehne des M. extensor digiti minimi in Höhe des Caput ulnae bestätigt die Position des DRU-Gelenkspaltes (▶ Abb. 4.34).

4.2 Allgemeine Orientierung dorsal wird, häufig sind und der Therapeut eine räumliche Vorstellung über die Anwinkelung der Gelenkflächen und deren Variabilität haben sollte (▶ Abb. 4.28).

Ausrichtung des radiokarpalen Gelenkspaltes Um die proximale Begrenzung, die dem Gelenkspalt des radiokarpalen Gelenkes entspricht, in einem Schnellvorgang aufzufinden, verbindet man den Proc. styloideus radii, den distalen Aspekt des Tuberculum radiale dorsale, mit dem Proc. styloideus ulnae. So erhält man ohne großen Aufwand eine Linie, die recht genau den Verlauf und die Ausrichtung des radiokarpalen Gelenkspaltes wiedergibt. Es wird deutlich, dass die Ausrichtung des Gelenkspaltes nicht exakt rechtwinklig zum Unterarm eingestellt ist. Tatsächlich ist sie – von radial nach ulnar betrachtet – nach proximal schräg verlaufend (▶ Abb. 4.25). Die Winkelangaben sind in der Literatur unterschiedlich groß. Talesinik und Watson (1984) beschrieben den Mittelwert dieser Neigung bei 22° (12–30°), wobei die Links-rechtsUnterschiede mit im Mittel nur 1,5° sehr gering sind (Hollevoet et al. 2000). Hier nicht dargestellt, fällt die Gelenkfläche des distalen Radius in der Sagittalebene (von der Seite betrachtet) von dorsal-distal nach palmar-proximal ab. Dieser palmare Tilt hat eine Größe von durchschnittlich 11–15° (Taleisnik u. Watson 1984, Zanetti et al. 2001), der intraindividuell um durchschnittlich 2,5° (Hollevoet et al. 2000) variiert. Zanetti berichtet zudem von Veränderungen des palmaren Tilts in Abhängigkeit von der Unterarmposition. In voller Supination beträgt er 29°, in voller Pronation lediglich 13°. Der Grund für diese genaue Betrachtung liegt in der Tatsache, dass globale Mobilisationstechniken aus der Manuellen Therapie, wobei die ganze Hand im radiokarpalen Gelenk mobilisiert

Distale Begrenzung des Karpus (karpometakarpale Gelenklinie) Die distale Begrenzung des Karpus ist deutlich schwerer zu ertasten als vergleichsweise die proximale. Die ASTE bleibt die gleiche. Die Fingerspitzen der palpierenden Hand sind weiterhin nach proximal ausgerichtet. Zunächst wird die Gelenklinie an der Basis des Metakarpale III zum Kapitatum bzw. am Metakarpale IV zum Hamatum hin aufgesucht. Zentral geht das nur hier, da die Palpation der Gelenklinie weiter nach radial durch Ausziehungen zu den Metakarpalia II und III zu einem weiteren Proc. styloideus (Williams 2009, S. 862) nicht direkt möglich ist.

4

Technik Die palpierende Fingerbeere fährt direkt auf dem Schaft der III. oder zwischen der III. und IV. Metakarpale nach proximal, bis sie die Basis als Erhöhung wahrnimmt (▶ Abb. 4.26). Oben auf dieser Erhöhung befindet sich der gesuchte und sehr enge Gelenkspalt. Daher muss der Finger jetzt auf die Spitze gestellt werden, um sehr lokal und mit etwas Druck den Gelenkspalt als schmale Lücke wahrzunehmen (▶ Abb. 4.27). Diese Technik gilt für die Gelenkspalte zwischen Metakarpale III und Kapitatum sowie Metakarpale IV und Hamatum.

Tipp Aus eigener Erfahrung ist die Palpation mit Beginn an der Metakarpale IV einfacher. Der dort wahrgenomme Gelenspalt klafft etwas weiter und verändert seine Größe aus radialer in ulnarer Abduktion.

10–15°

Abb. 4.25 Ausrichtung des radiokarpalen Gelenkspaltes.

Abb. 4.26 Lokalisation der karpometakarpalen Gelenklinie.

105

Hand

Abb. 4.27 Palpationstechnik karpometakarpal.

Abb. 4.29 Translatorische Technik – Karpus nach palmar.

Tipp Wenn der Gelenkspalt in Höhe Metakarpale III, IV mit sehr spitzer Palpation nicht gut zu finden ist, lässt er sich mit Bewegungen in radialer Abduktion der Hand etwas besser ertasten. Ansonsten hilft Bestätigung durch Bewegung bei dieser sehr gering beweglichen Gelenklinie nicht.

Abb. 4.28 Karpusbegrenzungen.

Auf etwa gleicher Höhe liegt der Gelenkspalt zwischen Metakarpale V und dem Os hamatum. Die Basis des Metakarpale V bringt noch eine sehr hilfreiche anatomische Besonderheit mit: eine Tuberositas für die Insertion des M. extensor carpi ulnaris (▶ Abb. 4.36). Diese ist von proximal rechtwinklig gut zu ertasten. Mit gleicher Technik ist auch der Gelenkspalt radial am Metakarpale II zu ertasten. Wie bereits beschrieben, vereinigen sich ulnarer Aspekt des Metakarpale II und radiale Seite des Metakarpale III zu einer nach proximal vorstehenden Ausziehung, eine Art Proc. styloideus. Hier inseriert die Sehne des M. extensor carpi radialis brevis (Rauber u. Kopsch 2003). Wenn man die karpometakarpale Gelenklinie komplettiert, so ergibt sich im Zusammenhang mit der radiokarpalen Gelenklinie die komplette Ausdehnung der Karpalia (▶ Abb. 4.28). Der Raum zwischen beiden Gelenklinien beträgt ca. 2 Fingerbreiten des Probanden. Somit ist die Grundlage für die Lokalisation der einzelnen Handwurzelknochen dorsal gegeben.

106

4.2.3 Therapeutische Hinweise Die ermittelte Gelenklinie des radiokarpalen Gelenkes ist die maßgebliche Orientierungsgröße für einige Techniken der Manuellen Therapie. Die Anwinkelung in radioulnarer (▶ Abb. 4.29) sowie auch in dorsopalmarer Richtung (palmarer Tilt) ist daher unbedingt zu realisieren und zu beachten. Das abgebildete Beispiel zeigt eine translatorische Technik im radiokarpalen Gelenk, die sowohl zu Befundals auch zu Therapiezwecken genutzt werden kann. Hier wird die proximale Reihe des Karpus gegenüber dem Radius nach palmar geschoben. In diesem Fall versucht man, durch eine Unterlagerung des Unterarmes den palmaren Tilt auszugleichen, damit eine nahezu senkrechte Schubbewegung nach palmar über der distale Hand gelingen kann. Es wird deutlich, dass die Grifftechnik eine sichere Kenntnis über Lage und Ausrichtung des Gelenkspaltes und der Gelenkpartner benötigt.

4.3 Lokale Palpation der Weichteile dorsal

4.3 Lokale Palpation der Weichteile dorsal 4.3.1 Kurzfassung des Palpationsganges Nachdem die Dimension der Handwurzel und deren Abgrenzungen deutlich wurden, stehen die Weichteile (Sehnen, Gefäße und Nerven) im Mittelpunkt der lokalen Orientierung am Handrücken. Der Palpationsgang beginnt erneut radial, endet ulnar und deckt genau die Lage der Extensorensehnen auf.

● ●



Folgende Strukturen begrenzen die Fossa radialis: nach proximal = distaler Radius nach dorsal = Sehne des M. extensor pollicis longus (Sehnenfach III) nach palmar = Sehne des M. extensor pollicis brevis (Sehnenfach I)

Technik

Hand und Unterarm des Probanden sind erneut entspannt auf einer möglichst geraden Unterlage abgelegt. Der Therapeut sitzt generell seitlich davon. Zur genauen Palpation dorsal und ulnar am Handgelenk sollte die Hand mit der palmaren Seite aufliegen. Sucht man Strukturen eher auf der radialen Seite, stellt man die Hand auf der Kleinfingerseite auf.

Zur Darstellung der Fossa radialis benötigt man meistens eine Aktivität der beteiligten Muskeln, um die Lage der begrenzenden Sehnen und damit die Fossa radialis ausfindig zu machen. Die Hand des Probanden wird hierzu auf die Kleinfingerseite aufgestellt und man fordert ihn auf, den Daumen direkt nach oben wegzustrecken (Extension oder Abduktion in radialer Richtung). Falls die Fossa radialis jetzt nicht deutlich wird, kann man die begrenzenden Extensorensehnen des Daumens mit querer Palpationstechnik feststellen. Beide Sehnen der Daumenextensoren laufen nach distal aufeinander zu. Im Boden dieser Vertiefung sind die Strukturen der radialen Säule zu finden (Os scaphoideum [▶ Abb. 4.42] und Os trapezium [▶ Abb. 4.43]).

4.3.2 Palpation einzelner Strukturen

Extensorensehnen und ihre Fächer

Fossa radialis (Tabatière anatomique)

Die Sehnen der langen (extrinsischen) Muskeln, die das Hand- und Fingerskelett bewegen, werden dorsal und an den Kanten des Unterarmes durch eine Verstärkung der Unterarmfaszie an Radius und Ulna gehalten. Durch dieses Retinaculum extensorum werden alle Extensorensehnen am Unterarmskelett gehalten, auch während ausgiebigen Bewegungen der Hand oder Umwendebewegungen des Unterarmes. Das Retinakulum ist zwischen den jeweiligen Sehnen mit den Knochen verhaftet, sodass kleine osteofibröse Kanälchen zum Durchtritt der Sehnen entstehen (▶ Abb. 4.16). Die Sehnen sind hierbei mit Sehnenscheiden gegen die bei Bewegungen entstehende Reibung geschützt. Diese Kanälchen für den Sehnendurchtritt nennt man Sehnenfächer, von denen es 6 gibt.

ASTE

Im radialen Bereich des Karpus befindet sich eine dreieckförmige Vertiefung, die bereits als Ausgangspunkt zur Palpation der proximalen Karpusbegrenzung gedient hat. Sie wird als Fossa bzw. Fovea radialis oder Tabatière anatomique bezeichnet (▶ Abb. 4.30). Hier kann man als Therapeut kleinere und durch Entzündungen des Handgelenkes verursachte Schwellungen gut sehen und palpieren.

4

Technik – Fach I

Abb. 4.30 Lage der Fossa radialis.

Die Hand des Probanden steht weiterhin auf der ulnaren Handkante und die Fossa radialis wird unter Aktivität der Daumenmuskeln dargestellt (▶ Abb. 4.31 und ▶ Abb. 4.32). Man sucht das meist palmar liegende Sehnenbündel der dargestellten Sehnen mit querer Palpation auf. Der Proband kann dann die Aktivität wieder zurücknehmen und das Sehnenbündel wird nach proximal verfolgt, bis ein knöchernes Widerlager (Radius) zu spüren ist. Hier liegt der Durchtritt der beiden Sehnen unterhalb des Retinakulums im Fach I. Er liegt direkt über dem Proc. styloideus radii.

107

Hand

Abb. 4.31 Sehnen von Fach I und III.

M. ext. pollicis longus

Abb. 4.33 Tuberculum radiale dorsale und die Sehnen der Daumenextensoren.

Technik – Fach II M. ext. pollicis brevis M. abd. pollicis longus

Abb. 4.32 Topografie der radialen Sehnen (Fach I und III).

Tipp ●



Sollten die Sehnen über dem Radius schlecht spürbar sein, ist eine rhythmische muskuläre Aktivität in Daumenextension mit wiederkehrenden Spannungen der Sehnen sehr hilfreich. Man kann die Sehnen distal, in Höhe der Fossa radialis, voneinander differenzieren: ○ M. extensor pollicis brevis: Der Proband extendiert den Daumen, das Handgelenk bleibt dabei neutral. ○ M. abductor pollicis longus: Er ist deutlich schwerer zu palpieren oder gar zu sehen. Es gelingt recht sicher, wenn der Daumen kräftig in palmarer Richtung abduziert (zur Seite weggestreckt) wird. Das Handgelenk sollte dabei leicht gebeugt werden. Die Sehne führt zur Basis des I. Metakarpale.

Das Fach I ist eine der häufigsten Lokalisationen für Sehnenscheidenentzündungen mit der Bezeichnung Morbus de Quervain.

108

Zur weiteren Differenzierung von Fach II und III wird das Tuberculum radiale dorsale (Tuberculum von Lister) als Ausgangspunkt aufgesucht (▶ Abb. 4.22). Von hier aus orientiert sich der palpierende Finger nach radial. Unter ganz leichter, rhythmischer Aktivität in Richtung Extension der Hand kann man mit direkter Palpation einer Fingerbeere erneut Spannungen von Sehnen spüren, die zu den Mm. extensores carpi radialis longus und brevis gehören. Beide benutzen gemeinsam das II. Sehnenfach. Verfolgt man sie unter ständiger Aktivität weiter nach distal (ca. 2 cm), lokalisiert man eine „v-förmige“ Trennung beider Sehnen kurz vor dem Unterqueren der Sehne des M. extensor pollicis longus. Unter Umständen ist sogar das Verfolgen beider Sehnen zu ihren Insertionen mit gleicher Palpationstechnik möglich. Die Sehne des M. extensor carpi radialis longus inseriert eher radial an der Basis des Metakarpale II, die des M. extensor carpi radialis brevis zwischen den Basen II und III an der styloidförmigen Ausziehung der karpometakarpalen Gelenklinie (▶ Abb. 4.28).

Technik – Fach III Das Tuberculum radiale dorsale dient als Umlenkrolle für die Sehne des M. extensor pollicis longus. Hier erhält sie, vom distalen Unterarm herkommend, einen veränderten Verlauf in Richtung Daumenendphalanx (▶ Abb. 4.33). Palpiert man unter ständig wiederkehrenden Streckbewegungen des Daumens direkt ulnar des Tuberculums, so kann man dort die Anspannungen der Sehne wahrnehmen.

4.3 Lokale Palpation der Weichteile dorsal

Technik – Fach IV Die Sehnen des IV. Sehnenfaches liegen in direkter ulnarer Nachbarschaft zur Sehne des M. extensor pollicis longus. Die Sehnen des M. extensor digitorum sind einfach zu ertasten. Hierzu hebt der Proband die Finger wie beim Klavierspielen abwechselnd von der Unterlage. Der palpierende Finger auf dem vermuteten Sehnenfach wird von den Sehnen sofort nach oben weggedrückt. Die Sehne des 2. Muskels, der dieses Sehnenfach benutzt, des M. extensor indicis proprius, ist nicht isoliert darzustellen.

Tipp Die Palpation der Sehne des M. extensor indicis proprius gelingt am Handrücken direkt proximal des Köpfchens des Metakarpale II bei extendiertem Zeigefinger mit Bewegungen nach radial und ulnar. Hier ist sie bei direkter Palpation mit einer Fingerspitze zu spüren und gelegentlich zu sehen.

Technik – Gelenkspalt des distalen radioulnaren Gelenkes und Fach V

Tipp Damit es zu keiner Verwechslung mit den Sehnen des M. extensor digitorum kommt, empfiehlt es sich, die reziproke Hemmung des Fingerstreckers einzusetzen. Hierzu bittet man den Probanden, die Fingerbeeren II bis IV gegen die Unterlage zu drücken und anschließend nur den Kleinfinger zu extendieren (▶ Abb. 4.35).

Technik – Fach VI Direkt ulnar des Ulnaköpfchens liegt die Sehne des M. extensor carpi ulnaris. Sie ist unter rhythmischer Aktivität des Muskels (Extension mit ulnarer Abduktion der Hand) in Höhe des Karpus deutlich zu spüren. Sie lässt sich distalwärts zu ihrer Insertion an der Basis des Metakarpale V und proximalwärts bei ihrer Passage des Caput ulnae gut verfolgen. Hier im Fach VI verläuft die Sehne in einer seichten ossären Rinne (▶ Abb. 4.36). Belässt man 2 Finger auf der Sehne in ihrer Lage neben dem Ulnaköpfchen und bringt den Unterarm in Supination, so scheint es, dass sich das Caput ulnae unter die

4

Die weitere Palpation der dorsalen Weichteile der Hand orientiert sich in den Bereich des Caput ulnae, wobei der pronierte Unterarm entspannt aufliegt. Das Caput ulnae wird von 2 Sehnen eingerahmt. Radial vom Caput ulnae kann die Sehne des M. extensor digiti minimi unter leichter und rhythmischer Aktivität des Muskels gut erspürt und auch weiter nach proximal und distal verfolgt werden (▶ Abb. 4.34). Ihr Verlauf direkt radial des Ulnaköpfchens markiert die Lage des darunter liegenden Gelenkspaltes des distalen Radioulnargelenkes (DRUG). Die Sehne im Fach V gilt als Leitstruktur zum Auffinden bzw. Bestätigen der Lage des Gelenkspaltes (▶ Abb. 4.23). Abb. 4.35 Das Caput ulnae wird von 2 Sehnen eingerahmt.

Abb. 4.34 Palpation der Sehne des M. extensor digiti minimi.

Abb. 4.36 Lage der Sehne des M. extensor carpi ulnaris.

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Hand Sehne gedreht hat und diese jetzt dorsal auf dem Ulnaköpfchen liegt. Der Eindruck trügt, die Sehne im Sulkus bleibt stehen, während der Radius herumschaukelt. Das Caput ulnae bleibt immer auf der Beugerseite des Ellenbogens und ist nur in Pronation besser sicht- und erreichbar. Die ulnare Kante des Radius kann bei enormer Supination und Instabilität des DRUG die Sehnenscheide einklemmen und irritieren.

N. radialis (R. superficialis)

4.3.3 N. radialis, V. cephalica und A. radialis Durchschnittlich ca. 8 cm proximal des Proc. styloideus radii (Robson et al. 2008) durchdringt der N. radialis die Lücke zwischen den Sehnen des M. brachioradialis und M. extensor carpi radialis longus mit seinem oberflächlichen Ast die Unterarmfaszie (Balakrishnan et al. 2009). Dies ist der Übergang zwischen dem mittleren und distalen Drittel des Unterarmes, direkt proximal und radial der kurzen Muskelbäuche des Fachs I. Er verläuft direkt unter der Haut nach distal weiter und ist neben den Sehnen des II. Faches zu spüren.

Abb. 4.37 Die Äste des N. radialis – von radial betrachtet.

N. radialis (R. superficialis)

Technik N. radialis Zunächst werden die Muskelbäuche der Daumenextensoren unter deren Aktivität aufgesucht. Die zur Faust geballte Hand (Daumen eingeschlossen) wird in ulnare Abduktion und Extension geführt (Manöver nach Finkelstein). Bei der queren Palpation direkt proximal und radial der Muskelbäuche rollt er deutlich unter den Fingerkuppen hinweg. Er lässt sich in seinem gesamten radialen Verlauf verfolgen (▶ Abb. 4.37): ● Durchtritt durch die Unterarmfaszie; ab hier ist er erstmalig zu spüren. ● Dann überquert er die Sehnen vom Fach I. ● Am distalen Radius verläuft er zwischen dem II. Sehnenfach und dem M. brachioradialis. Robson et al. beschreiben die Entfernung zum Tuberculum radiale dorsale in Höhe des Handgelenkes mit ca. 1,5 cm (Robson et al. 2008). ● In der Fossa radialis wird der N. radialis von der V. cephalica begleitet. Sie kreuzt die Fossa oberflächlich. Da sie allgemein gut erreichbar an der Oberfläche liegt, eignet sie sich als venöser Zugang. In der Tiefe der Fossa, mit leichtem Druck gegen den ossären Boden (Os scaphoideum) palpiert, ist die schwache Pulsation eines Astes der A. radialis zu spüren (▶ Abb. 4.38), die den N. radialis in 72 % begleitet (Robson et al. 2008). ● Letztlich sind Nerv und Vene noch während der Überquerung der Sehne des M. extensor pollicis longus zu verfolgen, wobei der Nerv erneut unter querer Palpation mit leichtem Druck unter der Fingerbeere hin und her rollt.

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A. radialis

Abb. 4.38 Verlauf der A. radialis.

Tipp Die Spannung des N. radialis erhöht sich, wenn das Ellenbogengelenk gestreckt und die Hand flektiert wird. Die oberflächliche Lage des Nervs macht ihn für Kompression und Reibung anfällig, die häufig durch zu engen Armschmuck und schwere Uhren sowie Narben nach Venenpunktionen oder enge Unterarmgipsverbände verursacht wird (sogenanntes Wartenberg-Syndrom, Spies et al. 2016).

4.3.4 Therapeutische Hinweise Wie bereits betont, sind die Passagen der Sehnen mit ihren Sehnenscheiden durch die Extensorenfächer bevorzugte Lokalisationen für Entzündungen. Eine der häufigsten Tendosynovitiden ist im Fach I aufzufinden. In Höhe des Retinaculum extensorum bzw. proximal zu den Muskel-Sehnen-Übergängen ist der sogenannte Morbus de Quervain (Tendosynovitis stenosans) lokalisiert.

4.4 Lokale Palpation der Handwurzelknochen dorsal

Technik

Querfriktion Insertionstendopathie Fach VI

Querfriktion Fach I

Ein weiteres Beispiel für die Anwendungsmöglichkeiten der lokalen Palpation der Hand ist die Querfriktion der Insertion des M. extensor carpi ulnaris an der Basis des Metakarpale V. Da die Sehne direkt von proximal gegen die Basis einstrahlt, stellt sich dem Therapeuten die Aufgabe, palpatorisch überhaupt an die Insertion heranzukommen. Dies gelingt unter Berücksichtigung zweier Aspekte: ● Die Sehne muss gegen die Karpalia nach unten weggedrückt werden. ● Die palpierende Fingerbeere wird von proximal direkt gegen die Basis gestellt.

Zur provokativen Diagnostik bzw. zur Therapie einer Tendosynovitis setzt man eine quere Friktion ein. Hand und Daumen des Patienten werden schmerzfrei nach ulnar und in Extension vorpositioniert. Hierdurch erhält die Sehne mit der Sehnenscheide die nötige Spannung, damit sie unter dem Druck der Friktion nicht abtaucht oder wegrollt. Die freie Hand stabilisiert sich mit dem Daumen am Handrücken, der beschwerte Zeigefinger wird auf die lädierte Stelle platziert. Die Friktion erfolgt mit weichem Druck von palmar nach dorsal, exakt quer zum Faserverlauf der Sehne (▶ Abb. 4.39). Der Rückweg erfolgt ohne Druck, aber noch mit Hautkontakt. Diese Technik ist auch bis zu 5 cm proximal am Muskel-Sehnen-Übergang einzusetzen, falls hier die irritierte Stelle liegt.

4

Beides gelingt, wenn die zu therapierende Hand in eine Position geführt wird, die eine passive Annäherung der Sehne erlaubt (leichte ulnare Abduktion) und die palpierende Hand mit Pronation des Unterarmes eingestellt wird (▶ Abb. 4.40). Die eigentliche Querfriktion erfolgt mit Druck von palmar nach dorsal (▶ Abb. 4.40). Will man vor allem die Sehnenscheide am Fach VI behandeln, wird die Technik wie beim Fach I angewandt: ● Sehne und Sehnenscheide straffen, hier durch Einstellung der Hand in radialer Abduktion mit Flexion (ohne Abbildung). ● Die Technik erfolgt direkt quer zur Sehne; der Druck wird bei der Bewegung von palmar nach dorsal eingesetzt. Dieses prinzipielle Vorgehen ist auch bei allen anderen Sehnenscheidenaffektionen einsetzbar.

Abb. 4.39 Querfriktion der Sehnen im Fach I.

4.4 Lokale Palpation der Handwurzelknochen dorsal 4.4.1 Kurzfassung des Palpationsganges

M. ext. carpi ulnaris

Abb. 4.40 Querfriktion der Insertion vom Fach VI.

Bislang ist die Übersicht über die Dimensionen von Karpus und Metakarpus bekannt. Die Weichteilstrukturen an der Oberfläche des Handrückens und seinen Rändern sind ausfindig gemacht worden. Der nächste Schritt der Palpation geht in die Tiefe mit dem Ziel, die einzelnen Handwurzelknochen innerhalb des Karpus voneinander zu differenzieren (▶ Abb. 4.41). Hierbei orientiert man sich an der Längsaufteilung der Hand in Säulen, bestehend aus den Strahlen (Metakarpalia und Phalangen) plus zugehörigen Karpalia. Der Palpationsgang startet radial und endet ulnar. Wir beginnen mit der radialen Säule, vor allem mit dem Anteil, den man auch als „Daumensäule“ bezeichnen kann.

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4.4 Lokale Palpation der Handwurzelknochen dorsal

Technik

Querfriktion Insertionstendopathie Fach VI

Querfriktion Fach I

Ein weiteres Beispiel für die Anwendungsmöglichkeiten der lokalen Palpation der Hand ist die Querfriktion der Insertion des M. extensor carpi ulnaris an der Basis des Metakarpale V. Da die Sehne direkt von proximal gegen die Basis einstrahlt, stellt sich dem Therapeuten die Aufgabe, palpatorisch überhaupt an die Insertion heranzukommen. Dies gelingt unter Berücksichtigung zweier Aspekte: ● Die Sehne muss gegen die Karpalia nach unten weggedrückt werden. ● Die palpierende Fingerbeere wird von proximal direkt gegen die Basis gestellt.

Zur provokativen Diagnostik bzw. zur Therapie einer Tendosynovitis setzt man eine quere Friktion ein. Hand und Daumen des Patienten werden schmerzfrei nach ulnar und in Extension vorpositioniert. Hierdurch erhält die Sehne mit der Sehnenscheide die nötige Spannung, damit sie unter dem Druck der Friktion nicht abtaucht oder wegrollt. Die freie Hand stabilisiert sich mit dem Daumen am Handrücken, der beschwerte Zeigefinger wird auf die lädierte Stelle platziert. Die Friktion erfolgt mit weichem Druck von palmar nach dorsal, exakt quer zum Faserverlauf der Sehne (▶ Abb. 4.39). Der Rückweg erfolgt ohne Druck, aber noch mit Hautkontakt. Diese Technik ist auch bis zu 5 cm proximal am Muskel-Sehnen-Übergang einzusetzen, falls hier die irritierte Stelle liegt.

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Beides gelingt, wenn die zu therapierende Hand in eine Position geführt wird, die eine passive Annäherung der Sehne erlaubt (leichte ulnare Abduktion) und die palpierende Hand mit Pronation des Unterarmes eingestellt wird (▶ Abb. 4.40). Die eigentliche Querfriktion erfolgt mit Druck von palmar nach dorsal (▶ Abb. 4.40). Will man vor allem die Sehnenscheide am Fach VI behandeln, wird die Technik wie beim Fach I angewandt: ● Sehne und Sehnenscheide straffen, hier durch Einstellung der Hand in radialer Abduktion mit Flexion (ohne Abbildung). ● Die Technik erfolgt direkt quer zur Sehne; der Druck wird bei der Bewegung von palmar nach dorsal eingesetzt. Dieses prinzipielle Vorgehen ist auch bei allen anderen Sehnenscheidenaffektionen einsetzbar.

Abb. 4.39 Querfriktion der Sehnen im Fach I.

4.4 Lokale Palpation der Handwurzelknochen dorsal 4.4.1 Kurzfassung des Palpationsganges

M. ext. carpi ulnaris

Abb. 4.40 Querfriktion der Insertion vom Fach VI.

Bislang ist die Übersicht über die Dimensionen von Karpus und Metakarpus bekannt. Die Weichteilstrukturen an der Oberfläche des Handrückens und seinen Rändern sind ausfindig gemacht worden. Der nächste Schritt der Palpation geht in die Tiefe mit dem Ziel, die einzelnen Handwurzelknochen innerhalb des Karpus voneinander zu differenzieren (▶ Abb. 4.41). Hierbei orientiert man sich an der Längsaufteilung der Hand in Säulen, bestehend aus den Strahlen (Metakarpalia und Phalangen) plus zugehörigen Karpalia. Der Palpationsgang startet radial und endet ulnar. Wir beginnen mit der radialen Säule, vor allem mit dem Anteil, den man auch als „Daumensäule“ bezeichnen kann.

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Hand

Os trapezoideum

Os capitatum Os lunatum

Os trapezium Os scaphoideum

Os hamatum Os triquetrum

Abb. 4.42 Lokalisation des Os scaphoideum.

Abb. 4.41 Anteile der radialen Säule.

ASTE Hand und Unterarm des Probanden sind erneut entspannt auf einer möglichst geraden Unterlage abgelegt. Der Therapeut sitzt generell seitlich davon. Zur genauen Palpation dorsal und ulnar am Handgelenk sollte die Hand mit der palmaren Seite aufliegen. Sucht man Strukturen eher auf der radialen Seite, stellt man die Hand auf der Kleinfingerseite auf.

4.4.2 Karpalia der radialen Säule Knochen der Fossa radialis

Abb. 4.43 Lokalisation des Os trapezium.

Durch das Abspreizen des Daumens in radiale Abduktion wird die Fossa radialis geformt, die auch als Tabatière anatomique bekannt ist. Ihre sehnigen und knöchernen Begrenzungen sind bekannt (▶ Abb. 4.30). Wir palpieren nun die Karpalia am Boden der Fossa radialis.

Tipp

Technik Os scaphoideum Der Zeigefinger der palpierenden Hand streicht nun von distal kommend über den Daumen nach proximal, bis die Zeigefingerbeere in der Fossa liegt. In dieser Situation kann die Zeigefingerspitze bei einer Palpation nach proximal den Radiusrand sehr gut erspüren. Die Beere des Zeigefingers liegt nun direkt über dem radialen Aspekt des Os scaphoideum (▶ Abb. 4.42).

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Zur Bestätigung nutzt man das Verhalten des Skaphoids während passiver Bewegung der Hand nach radial und ulnar. Die Zeigefingerbeere wird bei ulnarer Abduktion von dem Skaphoid aus der Fossa herausgedrückt, während sie bei radialer Abduktion in einer verstärkten Vertiefung liegt.

Os trapezium Um die Begrenzung zum Os trapezium zu ertasten, muss die Zeigefingerspitze nach distal in Richtung Daumenspitze gedreht werden. Hierzu dreht man die palpierende Hand um 180°. Die Zeigefingerbeere liegt erneut in der seichten Vertiefung der Fossa radialis. Die Fingerspitze stößt jetzt in der Tiefe gegen den harten knöchernen Widerstand des Os trapezium (▶ Abb. 4.43).

4.4 Lokale Palpation der Handwurzelknochen dorsal

Tipp Die richtige Lokalisation wird mit Bewegung bestätigt. Wenn eine kleine passive Bewegung des Daumens in Extension ausgeführt wird, dürfte keine Bewegung an der Zeigefingerspitze zu spüren sein (▶ Abb. 4.44). Unter einer leichten radialen Abduktion taucht das Skaphoid erneut weg und das Trapezium bleibt deutlich als Kante spürbar.

Daumensattelgelenk Als mögliche Ursache radialer Beschwerden, sowohl aufgrund von Hypermobilität als auch von Arthritiden, ist die genaue Lokalisation des Daumensattelgelenkes sehr interessant. Der Zeigefinger bleibt zunächst auf dem Skaphoid, die Spitze lehnt sich gegen das Trapezium an. Nun rutscht der palpierende Zeigefinger wenige Millimeter nach distal.

Abb. 4.44 Bestätigung der Lokalisation des Os trapezium durch Bewegung.

Abb. 4.45 Palmare Palpation des Gelenkspaltes des Daumensattelgelenks.

Wenn man anschließend eine passive Bewegung des Daumens in Extension einbringt, muss eine Bewegung zu spüren sein. Die Basis des Metakarpale I stößt jetzt gegen den Finger. Direkt proximal befindet sich der Gelenkspalt des Daumensattelgelenkes in der Betrachtung von radial. Unter ständiger leichter Bewegung des Daumens kann das ganze Ausmaß der Basis erfasst werden. Verfolgt man die Basis nach palmar, bieten sich Bewegungen des Daumens in dorsaler und palmarer Richtung an (Abduktion, Adduktion). Bei der Adduktion des Daumens in dorsaler Richtung drückt sich die Basis nach palmar heraus (▶ Abb. 4.45). Sie folgt in dieser Ebene dem Rollgleitverhalten gemäß der Konvexregel der lokalen Biomechanik.

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Therapeutische Hinweise Folgende Beispiele zeigen die Möglichkeiten der lokalen Palpation der radialen Säule auf. ● Lokale Mobilitätstests ○ Ist einmal ein Handwurzelknochen lokalisiert, ist es möglich, ihn gezielt in den Gelenken mit seinen benachbarten Knochen in palmarer und dorsaler Richtung zu bewegen („ballottement tests“, Reagan et al. 1984). Dies gibt im Seitenvergleich Auskunft über mögliche Veränderungen im Sinne einer Hypobzw. Hypermobilität. So lassen sich die Mobilitätsstörungen, besonders bei kleineren oder endgradigen Einschränkungen der Handbewegungen, feststellen. ○ Beispielsweise lässt sich das Skaphoid isoliert gegenüber dem Radius bewegen (▶ Abb. 4.46). Hierzu stabilisiert man die Hand des Patienten mit der Kleinfingerseite gegen den Körper. Eine Hand umgreift den Radius und fixiert diesen. Die andere umfasst das Skaphoid von dorsal und palmar. Nun verschiebt man das Skaphoid nach dorsal und palmar (wobei man den palmaren Tilt des Radius beachtet) und vergleicht das Ausmaß der Bewegung mit der anderen Hand.

Abb. 4.46 Ballottement-Test: hier Skaphoid gegenüber Radius.

113

Hand

Abb. 4.48 Lage des Os capitatum.

Abb. 4.47 Traktion im Daumensattelgelenk.





Ähnliche Mobilitätsveränderungen lassen sich auch an dem so häufig mit schmerzhafter Arthritis (z. B. aktivierter Rhizarthrose) betroffenen Daumensattelgelenk feststellen. Eine der möglichen Techniken der Manuellen Therapie ist die Traktion am Daumensattelgelenk (▶ Abb. 4.47). Sie untersucht die aktuelle Elastizität der Kapsel durch Zug am Metakarpale I. Die Vorteile durch genaue Kenntnisse der lokalen Anatomie zeigen sich beim notwendigen exakten Stabilisieren des Trapeziums. Querfriktionen auf der Kapsel des Daumensattelgelenkes haben sich zur Schmerzlinderung als wirkungsvoll erwiesen. Voraussetzung ist die palpatorische Fähigkeit, den Gelenkspalt auffinden zu können.

4.4.3 Karpalia der zentralen Säule Die Lokalisation der weiteren Karpalia dorsal ist kaum noch mehr mit Palpation durchzuführen. Lediglich ulnar sind die Strukturen durch gezieltes Ertasten wieder voneinander zu differenzieren. Daher benötigen wird zunächst Hilfslinien und räumliche Beziehungen auf dem Handrücken. Voraussetzung ist, dass die Begrenzungen der Handwurzel nach proximal und distal (▶ Abb. 4.48) eingezeichnet sind.

Technik Os capitatum Die Palpation beginnt distal. Der Therapeut befindet sich hierfür eher in Verlängerung der Hand. Das Os capitatum ragt von der karpometakarpalen Linie (Ende Basis Metakarpale III) um zwei Drittel der Strecke zum Radius auf den Handrücken. Die Breite des Kapitatum ist auf jeder Seite ca. 1 mm breiter als die Basis des Metakarpale III. Diese Ausdehnung einnehmend wird das Kapitatum mit einem konvexen Bogen proximal eingezeichnet (▶ Abb. 4.48).

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Abb. 4.49 Palpation des Os scaphoideum dorsal.

Grobe Lokalisation Os lunatum und Os scaphoideum dorsal Zur weiteren Differenzierung der Handwurzelknochen benötigt man das Tuberculum radiale dorsale und den Gelenkspalt des DRUG als Bezugspunkte (▶ Abb. 4.22 und ▶ Abb. 4.23). Auf halber Strecke einer Verbindungslinie zwischen dem Kapitatum und dem Tuberculum radiale dorsale ist das Skaphoid, auf halber Stecke vom Kapitatum zum DRUG das Os lunatum aufzufinden. Eine weitere Verbindungslinie zeigt die Abgrenzung zwischen Os lunatum und Os scaphoideum. Hierzu verbindet man das Tuberculum radiale dorsale mit dem Gelenkspalt des DRUG. Auf halber Strecke liegt der Gelenkspalt zwischen beiden Karpalia.

Os scaphoideum und Os trapezoideum Das Os scaphoideum wurde bereits radial in der Fossa radialis aufgesucht. Die Abgrenzung zum Os lunatum ist bekannt. Letztlich muss noch geklärt werden, wie groß die Ausdehnung nach radial und distal ist. Die Begrenzung der dorsalen Ansicht des Os scaphoideum nach radial wird ertastet, indem man von der sicheren Lokalisation (Hälfte der Strecke Kapitatum – Tuberculum radiale dorsale) mit leichtem Druck in die Tiefe zur radialen Kante der Handwurzel palpiert. Der Rand des Os scaphoideum ist erreicht, wenn der palpierende Finger von der dorsalen Fläche nach radial abrutscht (▶ Abb. 4.49). Dies

4.4 Lokale Palpation der Handwurzelknochen dorsal

4 Abb. 4.50 Lage des Os scaphoideum und Os lunatum.

Abb. 4.51 Lokalisation des Os triquetrum.

liegt etwa zwischen der Basis Metakarpale II und dem Tuberculum radiale dorsale. Hier wird die Begrenzung eingezeichnet, deren Ausdehnung nach distal etwa zwei Drittel der Strecke Radiuskante – Basis Metakarpale II reicht (▶ Abb. 4.48). Von dieser Grenze aus füllt man den Raum zwischen Os scaphoideum und Basis Metakarpale II aus, um die Lage des Os trapezoideum darzustellen. Es hat distal etwa die Breite der Basis Metakarpale II. Die Lage des Os trapezium in der Ansicht von dorsal zu beschreiben, macht kaum Sinn, da es zur Ebene der anderen Karpalia um ca. 35° nach palmar gekippt liegt. Abb. 4.52 Lage des Os triquetrum und des Os hamatum.

Os lunatum Die sichere Lage des Os lunatum, auf halber Strecke der Verbindungslinie zwischen dem Os capitatum und dem Gelenkspalt des DRUG wurde bereits beschrieben. Nun wird die Lage abschließend angezeichnet. Das Os lunatum reicht vom Os scaphoideum bis zum Gelenkspalt des DRUG und von hier aus bis zum Kapitatum (▶ Abb. 4.50). Die Abgrenzung der korrekten Lokalisation gegenüber dem Radiusrand erhält man durch Bewegen der Hand in Flexion und Extension. Bei direkter Palpation einer Fingerbeere auf dem Os lunatum wird deutlich, dass bei einer Extension der Hand das Os lunatum palmarwärts abtaucht und die Kante des Radius spürbar wird.

4.4.4 Therapeutische Hinweise Das Überprüfen der Mobilität des Os lunatum gegenüber dem Kapitatum bzw. dem Radius gibt vor allem Auskunft über eine bestehende Instabilität des Os lunatum innerhalb der zentralen Säule. In der gelenkigen Verbindung zwischen Os lunatum und Skaphoid findet sich häufig eine Bewegungseinschränkung, die sowohl die Mobilität der proximalen Handwurzelknochenreihe als auch die der gesamten Handbewegungen stört.

4.4.5 Karpalia der ulnaren Säule Die Palpation beginnt proximal, also am Unterarm. Empfohlen wird eine Position des Therapeuten auf der Daumenseite der Hand. Hier hat er freien Zugang zur ulnaren Säule (▶ Abb. 4.54).

Technik Os triquetrum Zunächst orientiert man sich am Ulnaköpfchen und lokalisiert erneut den Proc. styloideus ulnae (▶ Abb. 4.24). Die nächste knöcherne Struktur distal des Caput ulnae ist das Os triquetrum. Im Übergang zum Triquetrum kann man eine Einziehung verspüren, die auf die Lage einen Discus articularis hinweist. Spürt die Fingerspitze diese Einziehung als schmale Konkavität (gegenüber Ulna und Triquetrum), liegt das Triquetrum unter der Fingerbeere (▶ Abb. 4.51). Es zeigt sich konvex nach ulnar prominierend. Diese Konvexität nimmt bei radialer Abduktion zu und bei ulnarer Abduktion deutlich ab. Somit lässt sich die richtige Lokalisation durch Bewegung bestätigen. Die ulnaren Begrenzungen dieser Konkavität werden mit dem Os lunatum verbunden, womit die gesamte Ausdehnung des Os triquetrum beschrieben wird (▶ Abb. 4.52).

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Hand Es wird deutlich, dass eine schmale Lücke zwischen der proximalen Grenze des Os triquetrum und dem Caput ulnae bestehen bleibt. Hier liegt der TFC-Komplex, vor allem der Discus ulnae. Das Os triquetrum dorsal und das Os pisiforme palmar lassen sich leicht zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen und ebenso leicht in dorsopalmarer Richtung gegenüber dem Caput ulnae mit dem Discus articularis bewegen (▶ Abb. 4.55). Diese Bewegung ist, im Vergleich zu allen vorher beschriebenen Bewegungen innerhalb des Karpus, immer sehr ausgiebig. Das Ausmaß der Bewegung gibt Auskunft über das Vorhandensein einer Laxität und damit die Fähigkeit des TFC-Komplexes, die ulnare Säule zu stabilisieren.

Tipp Die Lokalisierung des Os triquetrum ist prinzipiell recht einfach, da es der prominenteste Handwurzelknochen distal des Ulnaköpfchens ist. Dennoch gibt es Situationen, die zusätzliche Sicherheit verlangen. Zur weiteren Bestätigung der Lokalisation benutzt man folgende Möglichkeiten: ● Palpiert man das Os triquetrum von dorsal und bringt passive Bewegungen in Richtung Extension bzw. Flexion ein, drückt es sich bei Extension nach dorsal heraus und taucht bei Flexion nach palmar weg. ● Bei radialer bzw. ulnarer Abduktion wird deutlich, dass das normale Rollgleiten durch Drehbewegungen begleitet wird. Bei radialer Abduktion wird das Os triquetrum dorsal prominenter, bei ulnarer Abduktion taucht es erneut nach palmar weg. Dies ermöglicht das große Bewegungsausmaß in ulnarer Richtung und dass sich die Basis des Metakarpale V der Ulna nähern kann.

Os hamatum Das Os hamatum beginnt ulnar sehr unscheinbar und wird nach radial, zum Os capitatum hin, immer ausgeprägter. Es hat prinzipiell ebenfalls eine eher dreieckige Form, mit dem breiteren Anteil dem Kapitatum zugewandt (▶ Abb. 4.56). Das Hamatum füllt eine Lücke zwischen dem Triquetrum und der Basis Metakarpale V und ist als solches auch an der ulnaren Handkante in einer weiteren Konkavität zu spüren.

Tipp Zusammenfassend betrachtet, hat die Kontur aller Knochen von ulnar palpiert eine Wellenform (▶ Abb. 4.53): Ulna ist konvex – Diskus liegt in einer schmalen Konkavität – Triquetrum ist deutlich konvex – Hamatum fühlt sich wiederum konkav an – Basis Metakarpale V ist deutlich konvex. Will man das Hamatum in die lokale Untersuchung der Mobilität oder in mobilisierende Techniken einbeziehen, gelingt dies sicher, wenn man es direkt proximal der Basis des Metakarpale IV aufsucht (▶ Abb. 4.55).

Os hamatum Os metacarpale V

Os triquetrum Os pisiforme

Abb. 4.54 Topografie der ulnaren Säule.

Abb. 4.53 Übersicht über die Lage der Karpalia und ulnare Wellenform.

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Abb. 4.55 Abgrenzung Caput ulnae – Os triquetrum in vivo.

4.5 Allgemeine Orientierung palmar

Os hamatum Os triquetrum

4

Discus ulnae

Abb. 4.56 Lage des Os hamatum innerhalb der ulnaren Säule.

4.4.6 Therapeutische Hinweise Die „Hochburg der Hypermobilitäten“ an der Hand findet sich hier an der ulnaren Säule. Auch Angehörige der physiotherapeutischen Berufe müssen häufig auf den Kleinfingerballen stützen und lokal Druck übernehmen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich während der Berufsausbildung ulnare Stabilitätsschwächen mit Beschwerden zeigen. Nicht selten muss man die Empfehlungen zum Tragen einer speziellen Handbandage geben, die der ulnaren Säule mehr Halt gibt (Wrist restore®, www. IAOM.de, www.bernhardreichert.de). Im Zusammenhang mit lokalen Hypermobilitäten der ulnaren Säule und/oder des distalen Radioulnargelenkes sowie infolge axialer Druckbelastungen können Entzündungen oder Verletzungen des TFC-Komplexes, insbesondere des Discus ulnaris, Beschwerden ulnar, palmar oder dorsal an der ulnaren Seite des Handgelenkes verursachen. Diagnostisch sind Schmerzen bei endgradiger Pronation oder Supination des Unterarmes (Vezeridis et al. 2009) oder der Hand sowie durch weitere Zug- und Druckbelastungen mit endgradigen Bewegungen der Hand nach ulnar oder radial zu provozieren. Das Hochstützen aus einer sitzenden Position mit extendierter Hand („Press Test“, Lester et al. 1995) hat ein hohe Sensitivität hinsichtlich Rupturen des Diskus. Das „Ulnar Fovea Sign“ (Tay et al. 2007) hat eine gleich valide diagnostische Güte in der Erkennung von Verletzungen der Diskusligamente wie eine Bildgebung mit MRT (Schmauss et al. 2016). Tay beschreibt den manuellen Provokationstest folgendermaßen: Die Daumenspitze des Terapeuten presst gegen die eher palmare Seite des distalen Ulnarköpfchens in einem Intervall zwischen Proc. styloideus ulnae und der Sehne des M. flexor carpi ulnaris (▶ Abb. 4.57). Der Test ist positiv, wenn die Schmerzen des Patienten reproduziert werden können. Dabei ist der gesamte Arm des Patienten entspannt, das Ellenbogengelenk in ca. 90–110° Flexion eingestellt. Unterarm- und Handgelenk befinden sich in Neutralposition.

Abb. 4.57 Ulnar Fovea Sign (nach Tay et al. 2007).

4.5 Allgemeine Orientierung palmar 4.5.1 Kurzfassung des Palpationsganges Der zweite große Abschnitt in der palmaren Palpation der Hand sind die gezielte Lokalisierung der Karpalia und die Darstellung des Karpaltunnels. Der Übergang zwischen dem distalen Unterarm und dem Bereich der Handwurzel ist die Region der nachfolgenden Palpationsgänge. Der distale Unterarm präsentiert sich im Allgemeinen als Fläche, die von mehreren Sehnen, Gefäßen und neuralen Strukturen überzogen ist. Hier stellt sich die Frage, wo der Unterarm tatsächlich seine distale knöcherne Grenze hat und welche Weichteilstrukturen man palpatorisch auseinanderhalten kann. Weiter distal erhebt sich die Region, die im Allgemeinen „Handballen“ genannt wird. Hier laufen Daumenund Kleinfingerballen (Thenar und Hypothenar) zusammen. Dort finden viele kurze, intrinsische Muskeln für den I. und V. Finger ihren knöchernen Fixpunkt (Ursprung). Hier liegt der Bereich des Karpaltunnels, bekannt durch eine der häufigsten peripheren Kompressionsneuropathien, das Karpaltunnelsyndrom. Seine Lage und Ausdehnung lassen sich palpatorisch präzise klären.

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4.5 Allgemeine Orientierung palmar

Os hamatum Os triquetrum

4

Discus ulnae

Abb. 4.56 Lage des Os hamatum innerhalb der ulnaren Säule.

4.4.6 Therapeutische Hinweise Die „Hochburg der Hypermobilitäten“ an der Hand findet sich hier an der ulnaren Säule. Auch Angehörige der physiotherapeutischen Berufe müssen häufig auf den Kleinfingerballen stützen und lokal Druck übernehmen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich während der Berufsausbildung ulnare Stabilitätsschwächen mit Beschwerden zeigen. Nicht selten muss man die Empfehlungen zum Tragen einer speziellen Handbandage geben, die der ulnaren Säule mehr Halt gibt (Wrist restore®, www. IAOM.de, www.bernhardreichert.de). Im Zusammenhang mit lokalen Hypermobilitäten der ulnaren Säule und/oder des distalen Radioulnargelenkes sowie infolge axialer Druckbelastungen können Entzündungen oder Verletzungen des TFC-Komplexes, insbesondere des Discus ulnaris, Beschwerden ulnar, palmar oder dorsal an der ulnaren Seite des Handgelenkes verursachen. Diagnostisch sind Schmerzen bei endgradiger Pronation oder Supination des Unterarmes (Vezeridis et al. 2009) oder der Hand sowie durch weitere Zug- und Druckbelastungen mit endgradigen Bewegungen der Hand nach ulnar oder radial zu provozieren. Das Hochstützen aus einer sitzenden Position mit extendierter Hand („Press Test“, Lester et al. 1995) hat ein hohe Sensitivität hinsichtlich Rupturen des Diskus. Das „Ulnar Fovea Sign“ (Tay et al. 2007) hat eine gleich valide diagnostische Güte in der Erkennung von Verletzungen der Diskusligamente wie eine Bildgebung mit MRT (Schmauss et al. 2016). Tay beschreibt den manuellen Provokationstest folgendermaßen: Die Daumenspitze des Terapeuten presst gegen die eher palmare Seite des distalen Ulnarköpfchens in einem Intervall zwischen Proc. styloideus ulnae und der Sehne des M. flexor carpi ulnaris (▶ Abb. 4.57). Der Test ist positiv, wenn die Schmerzen des Patienten reproduziert werden können. Dabei ist der gesamte Arm des Patienten entspannt, das Ellenbogengelenk in ca. 90–110° Flexion eingestellt. Unterarm- und Handgelenk befinden sich in Neutralposition.

Abb. 4.57 Ulnar Fovea Sign (nach Tay et al. 2007).

4.5 Allgemeine Orientierung palmar 4.5.1 Kurzfassung des Palpationsganges Der zweite große Abschnitt in der palmaren Palpation der Hand sind die gezielte Lokalisierung der Karpalia und die Darstellung des Karpaltunnels. Der Übergang zwischen dem distalen Unterarm und dem Bereich der Handwurzel ist die Region der nachfolgenden Palpationsgänge. Der distale Unterarm präsentiert sich im Allgemeinen als Fläche, die von mehreren Sehnen, Gefäßen und neuralen Strukturen überzogen ist. Hier stellt sich die Frage, wo der Unterarm tatsächlich seine distale knöcherne Grenze hat und welche Weichteilstrukturen man palpatorisch auseinanderhalten kann. Weiter distal erhebt sich die Region, die im Allgemeinen „Handballen“ genannt wird. Hier laufen Daumenund Kleinfingerballen (Thenar und Hypothenar) zusammen. Dort finden viele kurze, intrinsische Muskeln für den I. und V. Finger ihren knöchernen Fixpunkt (Ursprung). Hier liegt der Bereich des Karpaltunnels, bekannt durch eine der häufigsten peripheren Kompressionsneuropathien, das Karpaltunnelsyndrom. Seine Lage und Ausdehnung lassen sich palpatorisch präzise klären.

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Hand

Abb. 4.58 Beginnende ASTE für die palmare Orientierung.

ASTE Für die nächsten Palpationen ist zunächst zu empfehlen, dass der Unterarm in leicht supinierter Position und die Hand vertikal aufgestellt, auf einer geraden Unterlage abgelegt wird (▶ Abb. 4.58). Der Therapeut sollte sich eher dorsal zur Hand positionieren. Bei Palpation der Handwurzelknochen im weiteren Fortgang der Palpation wird die Hand auf dem Handrücken abgelegt.

4.5.2 Radiusrand Den distalen Rand des Unterarmes zu erspüren, erfordert schon recht viel palpatorisches Geschick und Erfahrung. Die Radiusbegrenzung ist nur an wenigen Stellen wirklich gut zu erreichen. Ansonsten verwehren die vielen kräftigen Sehnen den freien Zugang und sind nur mit Geschicklichkeit und etwas stärkerem Druck zu umgehen. Der Zugang wird erneut in der Fossa radialis gesucht (▶ Abb. 4.30). Mit rechtwinkliger Palpation wird radial die Kante des Radius aufgesucht (▶ Abb. 4.42) und jetzt über die Sehnen nach palmar über den Proc. styloideus radii verfolgt. Direkt palmar der Sehnen vom Fach I ist der Radius gut zu erreichen. Seine Kante lässt sich auch gut darstellen. Weiter zur Mitte des Unterarmes und in Richtung Ulna stören die Sehnen der Flexoren erheblich.

Tipp Will man den Rand weiterhin ertasten, muss man die Hand deutlich und vor allem passiv flektieren. Jetzt stellt man den palpierenden Finger recht steil auf, sucht sich einen Weg an den Sehnen vorbei und versucht, gegen die Kante anzuhaken. Ist man mit der Palpation erfolgreich, stellt sich die Gelenklinie des radiokarpalen Gelenkes dar, die analog zur dorsalen Seite ebenfalls etwas nach ulnar-proximal abfällt (▶ Abb. 4.59). Auf der Hälfte der Strecke zwischen Proc. styloideus radii und dem Gelenkspalt des DRUG befindet sich eine kleine rundliche Erhebung, die den Übergang zwischen den Gelenkfacetten für das Os scaphoideum und Os lunatum der Gelenkfläche des Radius darstellt. An dieser Erhebung entspringen karpale Ligamente.

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Abb. 4.59 Radiokarpale Gelenklinie – Ansicht von palmar.

Weiterhin wird deutlich, dass die palmare Linie zur dorsalen Linie etwas nach proximal versetzt ist, was zeigt, dass der Radius dorsal etwas länger ist als palmar (palmarer Tilt). Dies ist wichtig für die translatorischen Techniken der Manuellen Therapie, unabhängig davon, ob es sich um eine Gesamtbewegung des Karpus oder einzelner Karpalia gegenüber dem Radius handelt. Die distale Begrenzung des Karpus lässt sich palpatorisch nicht ermitteln. In folgenden Abschnitten werden die palmar erreichbaren Erhebungen der Karpalia besprochen. Sie geben eine relative Orientierung der palmaren karpometakarpalen Gelenklinie.

4.6 Lokale Palpation der Weichteile palmar 4.6.1 Kurzfassung des Palpationsganges Wir lassen den Probanden eine kräftige Faust mit einer Flexion formen und betrachten nun die Sehnen im Bereich des Handgelenkes. Häufig ist bereits jetzt schon eine mittelständige Anlage von meist 3 Sehnen erkennbar (M. flexor carpi radialis, M. palmaris longus, M. flexor digitorum superficialis). Diese und weitere Weichteilstrukturen, die das Handgelenk überqueren, werden im Einzelnen differenziert und bestimmt. Wieder beginnt der Palpationsgang radial und endet auf der ulnaren Seite. Netter (1992) bezeichnet die Strukturen des radialen Abschnittes als „radiales Trio“ (▶ Abb. 4.60). Dies besteht in der Folge von radial aufgezählt aus: ● A. radialis ● Sehne des M. flexor carpi radialis ● Sehne des M. flexor pollicis longus

Hand

Abb. 4.58 Beginnende ASTE für die palmare Orientierung.

ASTE Für die nächsten Palpationen ist zunächst zu empfehlen, dass der Unterarm in leicht supinierter Position und die Hand vertikal aufgestellt, auf einer geraden Unterlage abgelegt wird (▶ Abb. 4.58). Der Therapeut sollte sich eher dorsal zur Hand positionieren. Bei Palpation der Handwurzelknochen im weiteren Fortgang der Palpation wird die Hand auf dem Handrücken abgelegt.

4.5.2 Radiusrand Den distalen Rand des Unterarmes zu erspüren, erfordert schon recht viel palpatorisches Geschick und Erfahrung. Die Radiusbegrenzung ist nur an wenigen Stellen wirklich gut zu erreichen. Ansonsten verwehren die vielen kräftigen Sehnen den freien Zugang und sind nur mit Geschicklichkeit und etwas stärkerem Druck zu umgehen. Der Zugang wird erneut in der Fossa radialis gesucht (▶ Abb. 4.30). Mit rechtwinkliger Palpation wird radial die Kante des Radius aufgesucht (▶ Abb. 4.42) und jetzt über die Sehnen nach palmar über den Proc. styloideus radii verfolgt. Direkt palmar der Sehnen vom Fach I ist der Radius gut zu erreichen. Seine Kante lässt sich auch gut darstellen. Weiter zur Mitte des Unterarmes und in Richtung Ulna stören die Sehnen der Flexoren erheblich.

Tipp Will man den Rand weiterhin ertasten, muss man die Hand deutlich und vor allem passiv flektieren. Jetzt stellt man den palpierenden Finger recht steil auf, sucht sich einen Weg an den Sehnen vorbei und versucht, gegen die Kante anzuhaken. Ist man mit der Palpation erfolgreich, stellt sich die Gelenklinie des radiokarpalen Gelenkes dar, die analog zur dorsalen Seite ebenfalls etwas nach ulnar-proximal abfällt (▶ Abb. 4.59). Auf der Hälfte der Strecke zwischen Proc. styloideus radii und dem Gelenkspalt des DRUG befindet sich eine kleine rundliche Erhebung, die den Übergang zwischen den Gelenkfacetten für das Os scaphoideum und Os lunatum der Gelenkfläche des Radius darstellt. An dieser Erhebung entspringen karpale Ligamente.

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Abb. 4.59 Radiokarpale Gelenklinie – Ansicht von palmar.

Weiterhin wird deutlich, dass die palmare Linie zur dorsalen Linie etwas nach proximal versetzt ist, was zeigt, dass der Radius dorsal etwas länger ist als palmar (palmarer Tilt). Dies ist wichtig für die translatorischen Techniken der Manuellen Therapie, unabhängig davon, ob es sich um eine Gesamtbewegung des Karpus oder einzelner Karpalia gegenüber dem Radius handelt. Die distale Begrenzung des Karpus lässt sich palpatorisch nicht ermitteln. In folgenden Abschnitten werden die palmar erreichbaren Erhebungen der Karpalia besprochen. Sie geben eine relative Orientierung der palmaren karpometakarpalen Gelenklinie.

4.6 Lokale Palpation der Weichteile palmar 4.6.1 Kurzfassung des Palpationsganges Wir lassen den Probanden eine kräftige Faust mit einer Flexion formen und betrachten nun die Sehnen im Bereich des Handgelenkes. Häufig ist bereits jetzt schon eine mittelständige Anlage von meist 3 Sehnen erkennbar (M. flexor carpi radialis, M. palmaris longus, M. flexor digitorum superficialis). Diese und weitere Weichteilstrukturen, die das Handgelenk überqueren, werden im Einzelnen differenziert und bestimmt. Wieder beginnt der Palpationsgang radial und endet auf der ulnaren Seite. Netter (1992) bezeichnet die Strukturen des radialen Abschnittes als „radiales Trio“ (▶ Abb. 4.60). Dies besteht in der Folge von radial aufgezählt aus: ● A. radialis ● Sehne des M. flexor carpi radialis ● Sehne des M. flexor pollicis longus

4.6 Lokale Palpation der Weichteile palmar

M. flexor carpi radialis

M. flexor pollicis longus

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A. radialis

Abb. 4.60 Radiales Trio nach Netter. Abb. 4.62 Sehne des M. flexor carpi radialis mit Tuberculum ossis scaphoidei.

A. ulnaris N. ulnaris M. flexor carpi ulnaris

Abb. 4.61 Ulnares Trio nach Netter.

Das ulnare Areal der palmaren Unterarmseite bezeichnet Netter (1992) als „ulnares Trio“ (▶ Abb. 4.61): ● Sehne des M. flexor carpi ulnaris ● N. ulnaris ● A. ulnaris

Abb. 4.63 Palpation der Arteria radialis.

4.6.2 Palpation einzelner Strukturen

A. radialis

M. flexor carpi radialis und Tuberculum ossis scaphoidei

Das Ertasten der Pulsation der A. radialis ist wohl die häufigste Form, die Schlagfrequenz des Herzens palpatorisch zu messen. Sie ist direkt radial vom M. flexor carpi radialis auf dem flachen Plateau des Radius besonders deutlich zu spüren (▶ Abb. 4.63). Aus der topografischen Anatomie kennt man ihren weiteren Verlauf, der nur phasenweise nachvollziehbar ist. Im Bereich des Handgelenkes wird sie kurz proximal des Tuberculum des Skaphoids nach dorsal abgelenkt, taucht zwischen den Sehnen des I. Faches und dem Skaphoid hindurch in die Fossa radialis, unterquert ebenfalls die Sehne des M. extensor pollicis longus und verläuft dorsal weiter zwischen Metakarpale II und III. Dabei begleitet sie häufig den superfizialen Ast des N. radialis (▶ Abb. 4.38).

Der Proband ballt die Hand zu einer Faust und flektiert sie minimal aktiv mit fortwährender Spannung. Von radial nach ulnar findet die Palpation zunächst die kräftige Sehne des M. flexor carpi radialis. Sie ist die Sehne, die am weitesten radial liegt. Wenn die Flexion mit einer radialen Abduktion der Hand verbunden wird, tritt die Sehne noch stärker hervor (▶ Abb. 4.62). Führt man den palpierenden Finger auf der Sehne distalwärts, so leitet uns die Sehne zu einem wichtigen knöchernen Referenzpunkt, an welchem sie nicht inseriert: Tuberculum ossis scaphoidei. Die Sehne läuft ulnar am Tuberculum vorbei und benutzt eine, vom eigentlichen Karpaltunnel unabhängige, Loge unter dem Lig. transversum carpi. Sie inseriert an der Basis des Metakarpale II.

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Hand

M. flexor pollicis longus Die letzte Struktur des radialen Trios ist die Sehne des M. flexor pollicis longus. Sie liegt ebenfalls direkt radial der Sehne des M. flexor carpi radialis etwas in der Tiefe und unterhalb der A. radialis. Unter wiederholter Aktivität des Daumengelenkes in Flexion lässt sie sich gut ertasten. Etwas weiter proximal ist die Kontraktion des Muskelbauchs deutlich spürbar. Die Sehne gehört zu den 10 Strukturen, die durch den Karpaltunnel ziehen.

Tipp Wenn die Differenzierung zwischen den Sehnen dennoch sehr schwierig ist, muss der karpale Flexor durch aktive Handgelenksstreckung reziprok gehemmt und damit entspannt werden.

Abb. 4.64 Darstellung der Sehne des M. palmaris longus.

4.6.3 Zusammenfassung aller radialen Strukturen Die palpablen Strukturen des distalen und radialen Unterarmes haben von dorsal nach palmar folgende Reihenfolge: ● Sehne des M. extensor pollicis longus (Fach III) ● Tuberculum radiale dorsale ● Sehnen der Mm. extensor carpi radialis longus und brevis (Fach II) ● N. radialis ramus superficialis, Vena cephalica ● Sehnen der Mm. extensor pollicis brevis und abductor pollicis longus (Fach I) ● Arteria radialis ● Sehne des M. flexor pollicis longus ● Sehne des M. flexor carpi radialis Abb. 4.65 Palpation des M. flexor carpi ulnaris.

M. palmaris longus Die mittlere der 3 zentral gelegenen Sehnen, welche wir zu Beginn mit Faustschluss darstellen konnten, gehört zum M. palmaris longus. Diese zieht über den Karpaltunnel zur Palmaraponeurose. Mit einer Gegenüberstellung von Daumen und Kleinfinger erreicht man eine deutlichere Darstellung dieser Sehne (▶ Abb. 4.64). Die Sehne gilt als Leitstruktur für den Verlauf des N. medianus, der sich direkt unterhalb der Sehne befindet und durch den Karpaltunnel zieht. Dieser Muskel hat die höchste beschriebene Variabilität in der Anatomie des Bewegungsapparates. Sein Fehlen wird in der Literatur durchschnittlich mit 15 % angegeben (Mbaka u. Ejiwunmi 2009). Seine Sehne wird von Chirurgen als körpereigenes Ersatzmaterial bevorzugt, beispielsweise um den TFC-Komplex bei einer chronischen Ruptur zu rekonstruieren (Bain et al. 2015).

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M. flexor digitorum superficialis Wir veranlassen wieder einen kräftigen Faustschluss und erkennen in der weiteren Palpation nach ulnar eine weitere Sehne, welche besonders gut zu ertasten ist, wenn der Proband zusätzlich das Drücken von Klein- und Ringfinger in die Handfläche betont. Das ist eine Sehne des M. flexor digitorum superficialis. Der M. flexor digitorum superficialis zieht, wie auch der profunde Fingerflexor, mit 4 Sehnen durch den Karpaltunnel.

M. flexor carpi ulnaris und Os pisiforme Unter wiederholtem Anspannen der geballten Faust in Flexion mit ulnarer Abduktion der Hand mit deutlichem Widerstand oder ausgiebiger Bewegung der Hand nach ulnar wird eine weitere Sehne tastbar (▶ Abb. 4.65). Die Sehne des M. flexor carpi ulnaris liegt ganz ulnar und leitet den palpierenden Finger nach distal zum Os pisiforme.

4.6 Lokale Palpation der Weichteile palmar

Hamulus ossis hamati Loge de Guyon

Os pisiforme

4

Abb. 4.66 Topografie ulnares Trio und Guyon-Loge.

Tipp

Abb. 4.67 Übersicht ulnare Strukturen palmar.

Diese Sehne ist nur in den seltensten Fällen wirklich gut sichtbar, da die Unterarmfaszie an dieser Stelle sehr weich ist. Hier sind also ausgiebige Aktivität und Palpation direkt proximal des Os pisiforme notwendig.

A. ulnaris und N. ulnaris Diese Arterie zu spüren ist nicht so einfach wie auf der radialen Seite. Daher benötigt diese Palpation absolute Entspannung der Sehnen und Muskeln auf der palmaren Seite und etwas Geduld. Die Pulsation der ulnaren Arterie spürt man im Zwischenraum der Sehnen des M. flexor digitorum superficialis und M. flexor carpi ulnaris durch flächiges Auflegen von Fingerbeeren mit geringem Druck. In ihrem weiteren Verlauf zieht sie über den Karpaltunnel hinweg, gibt einen Ast in die Guyon-Loge ab. Der Hauptstamm der Arterie zieht unterhalb der Palmaraponeurose bogenförmig über den Metakarpus (Arcus palmaris superficialis) und gibt dort weitere Äste ab. Der N. ulnaris liegt am distalen Unterarm direkt ulnar neben der A. ulnaris (▶ Abb. 4.66). Zur Palpation begibt sich der steil aufgestellte Finger wieder in den Raum zwischen den Sehnen von M. flexor carpi ulnaris und M. flexor digitorum superficialis (▶ Abb. 4.67). Man verwechselt den Nerv unter Umständen zunächst mit einer entspannten Sehne, da er etwa den gleichen Durchmesser hat. Wenn man oberflächlich und betont quer palpiert, so rollt er unter dem palpierenden Finger hin und her. Unter Fingerbeugeraktivität verändert er aber seine Lage und Konsistenz nicht. Arteria und Nervus sind gut 3–4 Finger breit nach proximal zu verfolgen, bis die langen Fingerbeugersehnen sie überdecken. Nach distal kann der Nerv auch weiterverfolgt werden (▶ Abb. 4.68). Hier passiert er das Handgelenk direkt radial des Os pisiforme und teilt sich daraufhin in 2 Äste auf. Ein Ast verschwindet mit dem Ast der A. ulnaris zwischen Os pisiforme und Os hamatum in der

Abb. 4.68 Palpation des N. ulnaris direkt radial des Hamulus ossis hamati.

sogenannten Guyon-Loge, der andere verläuft radial des Os hamatum in die Handinnenfläche. Neben dem Os hamatum ist der Nerv ebenso palpabel (▶ Abb. 4.68).

4.6.4 Zusammenfassung aller ulnaren Strukturen Die palpablen Strukturen der ulnaren Seite des distalen Unterames haben von dorsal nach palmar folgende Reihenfolge: ● Sehne des M. extensor digiti minimi (Fach V) ● Caput ulnae mit Proc. styloideus ulnae und TFC-Komplex ● Sehne des M. extensor carpi ulnaris (Fach VI) ● Sehne des M. flexor carpi ulnaris ● N. und A. ulnaris ● Sehne des M. flexor digitorum superficialis

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Hand

4.6.5 Therapeutische Hinweise

ASTE

Die Loge de Guyon wird aus den beiden benachbarten ossären Strukturen, dem Os pisiforme und dem Hamulus ossis hamati, sowie dem darüber liegenden Lig. pisohamatum gebildet. Dieses Ligament ist eine von den beiden Fortführungen der Sehne des M. flexor carpi ulnaris vom Os pisiforme ausgehend. In der Loge sind Kompressionsneuropathien des N. ulnaris als sogenannte Radfahrerlähmungen bekannt. Diese Druckläsionen entstehen durch das Abstützen des Armes auf der Kleinfingerseite der Hand, während diese sich in einer extendierten und nach radial abduzierten Position befindet.

Die ASTE zur Palpation der palmaren Weichteile ist auch hier maßgebend. Bei einigen Überprüfungen von Lokalisationen werden Bewegungen eingesetzt, wobei die Hand vertikal eingestellt wird. Wichtig ist jetzt eine gut entspannte Hand, damit keine gespannten Sehnen im Bereich des distalen Unterarmes und angespannte Muskelbäuche von Thenar und Hypothenar die Palpation an der Handwurzel stören.

4.7 Lokale Palpation der Handwurzelknochen palmar 4.7.1 Kurzfassung des Palpationsganges Das Ziel der Palpation palmar erreichbarer Handwurzelknochen ist vor allem die Darstellung der Lage des Karpaltunnels durch das Aufsuchen der ulnaren und radialen Knochenpunkte (▶ Abb. 4.69). Anschließend werden die ossären Begrenzungspunkte des Karpaltunnels an der Oberfläche verbunden, um die Ausdehnung des Tunnels deutlich zu machen. Zunächst wird die radiale und ulnare ossäre Wand lokalisiert. Anschließend palpiert und präzisiert man die distale Begrenzung des Unterarmes nochmals und ermittelt die Lage der Karpalia am Boden des Tunnels (Os lunatum und Os capitatum) durch Hilfslinien und räumliche Orientierungen. Schließlich zeichnet man das Lig. transversum carpi als Dach des Karpaltunnels ein.

Os hamatum (Hamulus ossis hamati) Os pisiforme Lig. transversum carpi N. medianus

Tuberculum ossis trapezii Tuberculum ossis scaphoidei

Abb. 4.69 Begrenzungen des Karpaltunnels und N. medianus.

122

4.7.2 Palpation einzelner Strukturen Os pisiforme Man beginnt zunächst am Os pisiforme. Dies ist bereits in der Palpation am Ende der Sehne des M. flexor carpi ulnaris entdeckt worden (▶ Abb. 4.65). Das Os pisiforme ist an der Basis des Hypothenars kaum zu übersehen. Mit steil aufgestellter Fingerspitze wird es umrandet. Das Ergebnis der Palpation der Ränder ist nahezu ein Kreis. Wenn man die äußere Begrenzung auf die Hand zeichnet, ergibt sich eine überraschende Größe. Auch hier erkennt man erneut die Unterschiede zu den Darstellungen gängiger Anatomiemodelle. Das Os pisiforme leitet die Kraft dieser Sehne zum Hamulus des Os hamatum und zur Basis des Metakarpale V. Insofern kann man sagen, dass es sich hier um den einzigen Handwurzelknochen handelt, an dem die Sehne eines extrinsischen Muskels der Hand inseriert. Da das Pisiforme deutlich über dem Niveau der anderen Karpalia und der Ulna liegt, wirkt es wie ein Sesambein, eingelagert in die Sehne des ulnaren Handflexors. Die Sehne ist in keiner Position der Hand reibenden Kräften gegenüber dem Hand- oder Unterarmskelett ausgesetzt und hat folglich auch keine Sehnenscheide. Weiterhin ist das Os pisiforme in die Muskeln des Hypothenars eingelagert und bietet einigen einen knöchernen Fixpunkt, wie beispielsweise dem Abduktor des Kleinfingers. Dies wird deutlich, wenn man bei entspannter Hand den Probanden zur rhythmischen und ausgiebigen Abduktion des Kleinfingers auffordert. Die Aktivität des Abduktors zieht das Pisiforme nach distal und spannt aus dieser Richtung die Sehne des M. flexor carpi ulnaris. Wenn es mit einem Daumen-Zeigefinger-Griff erfasst wird, kann man es bei entspannter Hand gegenüber dem darunter liegenden Triquetrum in seitlichen Richtungen bewegen (▶ Abb. 4.70 und ▶ Abb. 4.71). Bei einer ausgiebigen Extension der Hand hingegen wird es zwischen der Sehne des Flexor carpi ulnaris und dem Lig. pisometacarpeum eingespannt und befindet sich sozusagen in einer verriegelten Position. Zum einen nutzen Therapeuten gerne diese Situation, um Druck über die Hand lokal aufzubringen. Anderseits wird gelegentlich von einer pisotriquetralen Arthrose berichtet.

Hand

4.6.5 Therapeutische Hinweise

ASTE

Die Loge de Guyon wird aus den beiden benachbarten ossären Strukturen, dem Os pisiforme und dem Hamulus ossis hamati, sowie dem darüber liegenden Lig. pisohamatum gebildet. Dieses Ligament ist eine von den beiden Fortführungen der Sehne des M. flexor carpi ulnaris vom Os pisiforme ausgehend. In der Loge sind Kompressionsneuropathien des N. ulnaris als sogenannte Radfahrerlähmungen bekannt. Diese Druckläsionen entstehen durch das Abstützen des Armes auf der Kleinfingerseite der Hand, während diese sich in einer extendierten und nach radial abduzierten Position befindet.

Die ASTE zur Palpation der palmaren Weichteile ist auch hier maßgebend. Bei einigen Überprüfungen von Lokalisationen werden Bewegungen eingesetzt, wobei die Hand vertikal eingestellt wird. Wichtig ist jetzt eine gut entspannte Hand, damit keine gespannten Sehnen im Bereich des distalen Unterarmes und angespannte Muskelbäuche von Thenar und Hypothenar die Palpation an der Handwurzel stören.

4.7 Lokale Palpation der Handwurzelknochen palmar 4.7.1 Kurzfassung des Palpationsganges Das Ziel der Palpation palmar erreichbarer Handwurzelknochen ist vor allem die Darstellung der Lage des Karpaltunnels durch das Aufsuchen der ulnaren und radialen Knochenpunkte (▶ Abb. 4.69). Anschließend werden die ossären Begrenzungspunkte des Karpaltunnels an der Oberfläche verbunden, um die Ausdehnung des Tunnels deutlich zu machen. Zunächst wird die radiale und ulnare ossäre Wand lokalisiert. Anschließend palpiert und präzisiert man die distale Begrenzung des Unterarmes nochmals und ermittelt die Lage der Karpalia am Boden des Tunnels (Os lunatum und Os capitatum) durch Hilfslinien und räumliche Orientierungen. Schließlich zeichnet man das Lig. transversum carpi als Dach des Karpaltunnels ein.

Os hamatum (Hamulus ossis hamati) Os pisiforme Lig. transversum carpi N. medianus

Tuberculum ossis trapezii Tuberculum ossis scaphoidei

Abb. 4.69 Begrenzungen des Karpaltunnels und N. medianus.

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4.7.2 Palpation einzelner Strukturen Os pisiforme Man beginnt zunächst am Os pisiforme. Dies ist bereits in der Palpation am Ende der Sehne des M. flexor carpi ulnaris entdeckt worden (▶ Abb. 4.65). Das Os pisiforme ist an der Basis des Hypothenars kaum zu übersehen. Mit steil aufgestellter Fingerspitze wird es umrandet. Das Ergebnis der Palpation der Ränder ist nahezu ein Kreis. Wenn man die äußere Begrenzung auf die Hand zeichnet, ergibt sich eine überraschende Größe. Auch hier erkennt man erneut die Unterschiede zu den Darstellungen gängiger Anatomiemodelle. Das Os pisiforme leitet die Kraft dieser Sehne zum Hamulus des Os hamatum und zur Basis des Metakarpale V. Insofern kann man sagen, dass es sich hier um den einzigen Handwurzelknochen handelt, an dem die Sehne eines extrinsischen Muskels der Hand inseriert. Da das Pisiforme deutlich über dem Niveau der anderen Karpalia und der Ulna liegt, wirkt es wie ein Sesambein, eingelagert in die Sehne des ulnaren Handflexors. Die Sehne ist in keiner Position der Hand reibenden Kräften gegenüber dem Hand- oder Unterarmskelett ausgesetzt und hat folglich auch keine Sehnenscheide. Weiterhin ist das Os pisiforme in die Muskeln des Hypothenars eingelagert und bietet einigen einen knöchernen Fixpunkt, wie beispielsweise dem Abduktor des Kleinfingers. Dies wird deutlich, wenn man bei entspannter Hand den Probanden zur rhythmischen und ausgiebigen Abduktion des Kleinfingers auffordert. Die Aktivität des Abduktors zieht das Pisiforme nach distal und spannt aus dieser Richtung die Sehne des M. flexor carpi ulnaris. Wenn es mit einem Daumen-Zeigefinger-Griff erfasst wird, kann man es bei entspannter Hand gegenüber dem darunter liegenden Triquetrum in seitlichen Richtungen bewegen (▶ Abb. 4.70 und ▶ Abb. 4.71). Bei einer ausgiebigen Extension der Hand hingegen wird es zwischen der Sehne des Flexor carpi ulnaris und dem Lig. pisometacarpeum eingespannt und befindet sich sozusagen in einer verriegelten Position. Zum einen nutzen Therapeuten gerne diese Situation, um Druck über die Hand lokal aufzubringen. Anderseits wird gelegentlich von einer pisotriquetralen Arthrose berichtet.

4.7 Lokale Palpation der Handwurzelknochen palmar

Tipp Das Os pisiforme kann von allen Seiten erreicht werden. Selbst im Zwischenraum zum Hamulus des Hamatum (Guyon-Loge) lässt sich der Rand palpieren. Hierzu wird der palpierende Finger recht steil eingestellt und die Hand in leichter Flexion entspannt (▶ Abb. 4.72). Sollte der lokale Druck in der Loge kribbelnde Sensationen im Hypothenar des Probanden auslösen, wurde der Ast des N. ulnaris berührt.

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Hamulus ossis hamati

Abb. 4.70 Lokalisation des Os pisiforme am Modell.

Abb. 4.71 Lokalisation des Os pisiforme in vivo.

Abb. 4.72 Lage des Os pisiforme und Hamulus ossis hamati.

Ein weiterer, palmar gut erreichbarer Handwurzelknochen auf der ulnaren Seite ist das Os hamatum. Es ist über seinen ausgeprägtem Fortsatz, den Hamulus, zu lokalisieren. Zum schnellen Auffinden benutzt man einen Trick, der von Hoppenfeld (1992) beschrieben wurde und sich zur Palpation an der eigenen Hand anbietet. Man positioniert die Falte des Daumengelenkes (Art. interphalangea) mittig auf das Os pisiforme (▶ Abb. 4.73). Die Daumenspitze zeigt zur Mitte der Palma. Der Hamulus ist von hier aus um etwa die Länge des Daumenendgliedes entfernt. Legt man die Daumenbeere mit etwas Druck auf, erhält man durch den Hamulus sofort knöchernen Widerstand (▶ Abb. 4.74). Mit der gleichen Technik, wie bereits bei der Umrandung des Pisiforme beschrieben, kann man auch hier versuchen, die Begrenzungen des Hamulus ausfindig zu machen. Pisiforme und Hamulus bilden die ulnare ossäre Begrenzung des Karpaltunnels. Zwischen beiden erstreckt sich die Guyon-Loge, in der je ein Ast des N. ulnaris (▶ Abb. 4.67) und der A. ulnaris verlaufen. Die Loge de Guyon ist hier auch mit steiler und querer Palpations-

Abb. 4.73 Lokalisation Hamulus ossis hamati – Phase 1.

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Hand

Tub. ossis trapezii Tub. ossis scaphoidei M. flexor carpi radialis

Abb. 4.74 Lokalisation Hamulus ossis hamati – Phase 2. Hamulus ossis hamati

Os pisiforme

Abb. 4.76 Ossäre Begrenzungen des Karpaltunnels und Sehne des M. flexor carpi radialis.

Abb. 4.75 Die Sehne des M. flexor carpi radialis führt zum Tuberkulum des Skaphoids.

sis scaphoidei. Die genaue Lage und Ausdehnung werden durch eine rundliche Palpation auf dem Tuberculum deutlich. Das Tuberkulum wird als runder knöcherner Punkt erkannt, der bei Extension und radialer Abduktion der Hand stärker prominiert. Wohlgemerkt inseriert die Sehne nicht am Tuberkulum, dennoch leitet sie die Palpation dorthin. Der M. flexor carpi radialis verläuft durch eine eigene Loge neben dem Karpaltunnel zur Basis des Metakarpale II (▶ Abb. 4.76).

Os trapezium technik zu erreichen. Direkt radial des Hamulus ist der weitere Verlauf des einen Astes des N. ulnaris zu spüren (▶ Abb. 4.68).

Os scaphoideum Skaphoid und Trapezium stellen die radiale Begrenzung des Karpaltunnels dar. Beide haben Tuberkula, die von palmar her recht einfach palpatorisch zu erfassen sind. Das Tuberculum ossis scaphoidei ist bereits bei der Palpation der palmaren Weichteile aufgefallen. Hier hat der M. flexor carpi radialis als Leitstruktur gedient (▶ Abb. 4.75). Zur genauen Lokalisation des Tuberkulums wird zunächst die Sehne des M. flexor carpi radialis deutlich gemacht. Dies geschieht mittels einer Anspannung der Hand zur Faust in Palmarflexion mit radialer Betonung. Die radial prominente Sehne führt die quere Palpation zu einem markanten Knochenpunkt, dem Tuberculum os-

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Durch eine sehr kleine Rinne vom Skaphoid getrennt, schließt sich das Tuberculum des Trapeziums in Richtung Daumen an. Um die Rinne zu palpieren, sollte der Finger sehr steil aufgestellt werden. Diese Rinne stellt sich palpatorisch wie das „vordere V“ am AC-Gelenk dar und markiert hier den Gelenkspalt zwischen Skaphoid und Trapezium als Teil der mediokarpalen Gelenklinie. Das Tuberculum wird auch hier als runde, harte Struktur erkannt. Zur Bestätigung der Lokalisation kann man das Bewegungsverhalten beider benachbarter Karpalia ausnutzen. Es begründet sich durch die lokale Konvex-konkav-Regel aus der Arthrokinematik sowie begleitende Rotationen, die jeder Handwurzelknochen bei Handbewegungen durchführt (De Lange et al. 1987). Hierzu platziert man, von radial kommend, die Mittelfingerbeere auf das Skaphoid und die Beere des Zeigefingers direkt daneben auf das Trapezium (▶ Abb. 4.77).

4.7 Lokale Palpation der Handwurzelknochen palmar

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Abb. 4.77 Lokalisation des Skaphoid durch radiale Abduktion der Hand.

Tipp Man bringt zunächst aktiv oder passiv Extension und Flexion in die Hand ein. Die platzierten Fingerbeeren folgen den Handbewegungen. Beide Karpalia bewegen sich gegeneinander. Bei Extension prominiert das Skaphoid und das Trapezium wird weniger deutlich. Wird eine Flexion eingebracht, tritt das Trapezium deutlich hervor, das Skaphoid taucht weg. Die Rinne zwischen beiden Knochen wird jetzt noch deutlicher und das Trapezium ist von proximal anzuhaken.

Tipp Die Fingerbeeren bleiben auf den Tuberkula und Bewegungen in radialer bzw. ulnarer Richtung werden jetzt eingebracht. Nach radial tritt das Skaphoid deutlich an die Oberfläche und drückt den Mittelfinger geradezu weg (▶ Abb. 4.77). Das umgekehrte Bewegungsverhalten ist bei ulnarer Abduktion der Hand zu beobachten (▶ Abb. 4.78).

Der Gelenkspalt des Daumensattelgelenkes liegt vom Tuberculum ossis trapezii in direkter Verlängerung in Richtung Daumenskelett. Die Basis des Metakarpale I ist

Abb. 4.78 Lokalisation des Trapezium durch ulnare Abduktion der Hand.

wiederum sehr leicht mit einer Daumenadduktion in dorsaler Richtung darzustellen. Hier tritt die Basis palmar deutlich hervor (▶ Abb. 4.45).

Caput ulnae und radiokarpaler Gelenkspalt Nun sind die Knochenwände des Karpaltunnels bestimmt und die Karpalia des Tunnelbodens (zentrale Säule) werden gesucht. Zur Darstellung der genauen Lage benötigt man Hilfslinien und räumliche Orientierungen, da Os lunatum und Os capitatum durch Weichteile überlagert nicht direkt palpierbar sind. Die erste Hilfe stellt die genaue Lage des radiokarpalen Gelenkspaltes dar. In der allgemeinen Orientierung palmar wurde bereits versucht, den Radiusrand aufzusuchen. Der palpierende Finger orientiert sich jetzt an den ulnaren Aspekt dieser Linie, direkt proximal des Pisiforme (▶ Abb. 4.79). Hier sucht man mit kreisender Palpation das Caput ulnae auf. An der radialen Grenze liegt erneut das DRUG, die distale Grenze stellt einen Teil des radiokarpalen Gelenkspaltes dar. Nun sind alle Voraussetzungen geschaffen, das Lunatum zu lokalisieren (▶ Abb. 4.80).

125

Hand

Abb. 4.79 Palpation des Caput ulnae palmar. Abb. 4.81 Lage des Os lunatum.

Lig. transversum carpi und Karpaltunnel

Abb. 4.80 Übersicht über die palmar erreichbaren Strukturen.

Ossa lunatum und capitatum Die proximale Begrenzung des Lunatum ist der radiokarpale Gelenkspalt, der sich durch die Verbindung des Proc. styloideus radii mit dem distalen Aspekt des DRUGelenkspaltes ergibt. Etwa in der Mitte der Verbindung kann man mit spitzer Palpation, mäßigem Druck und etwas Geduld die Grenze zwischen der Gelenkfacette des Radius für das Skaphoid (Fossa scaphoidea) und der Gelenkfacette für das Lunatum (Fossa lunata) als leichte Erhöhung ertasten. Dies liegt direkt ulnar der Sehne des M. flexor carpi radialis. Somit wäre die Ausbreitung des Lunatum nach radial bestimmt. Die radiale Begrenzung ist, analog zur dorsalen Lokalisation, erneut der Gelenkspalt des DRUG. Die distale Ausdehnung wird durch eine Verbindungslinie zwischen Proc. styloideus radii und der Mitte des Os pisiforme dargestellt (▶ Abb. 4.81). Das Os capitatum liegt anatomisch im direkten Anschluss an das Os lunatum nach distal innerhalb der zentralen Säule. Wiederum benötigen wir eine Hilfslinie: Tuberculum ossis scaphoidei - Hamulus ossis hamati. Unter der Mitte dieser Strecke befindet sich das Os capitatum (▶ Abb. 4.81).

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Da man nun die ossären Wände und die Karpalia des Bodens lokalisiert hat, wird das Lig. transversum carpi, das den karpalen Bogen zu einem Tunnel abschließt, in seiner Lage und Ausdehnung hinzugefügt. Eine direkte Palpation ist nicht genau möglich, daher bedient man sich erneut Hilfslinien zur genauen Darstellung. Sicherlich lässt sich der Bereich durch eine sehr fest-elastische Konsistenz gegenüber den harten Karpalia bzw. den weichen Strukturen des Handtellers unterscheiden. Eine klare Abgrenzung ist palpatorisch dennoch kaum möglich. Beckenbaugh (2010) beschreibt den Beginn des Karpaltunnels am distalen Aspekt des Os lunatum. Zur sicheren Darstellung des Tunnels zieht man den Rückschluss, dass sich das Ligamentum zwischen den dargestellten Karpalia befinden muss, was auch von der Literatur unterstützt wird. Verbindet man Pisiforme und Hamulus auf der ulnaren mit den Tuberkula von Skaphoid und Trapezium auf der radialen Seite, wird die Ausdehnung des Ligaments deutlich. Bei der Betrachtung des zeichnerischen Ergebnisses sind 2 Tatsachen besonders auffällig. ● Die Ausdehnung des Ligaments ist recht groß. ● Die Form ist nicht quadratisch, sondern erinnert eher an ein Trapez mit einer breiten ulnaren Basis. Die breite Ausdehnung der Zeichnung des Ligaments soll nicht darüber hinweg täuschen, dass der Karpaltunnel ossär einen Durchmesser der Dicke eines Kleinfingers hat.

4.7 Lokale Palpation der Handwurzelknochen palmar

4

Abb. 4.82 Projektion des Lig. transversum carpi und des N. medianus.

Abb. 4.83 Perkussionstest nach Tinel.

N. medianus Neben den 9 Sehnen, die diesen Engpass durchlaufen, zieht der N. medianus in einer sehr oberflächlichen Lage hindurch (▶ Abb. 4.82). Sein Verlauf lässt sich palpatorisch nicht realisieren, sodass hier erneut Leitstrukturen und Informationen aus der topografischen Anatomie nötig sind. Am distalen Unterarm wird seine Lage durch den Verlauf des M. palmaris longus (▶ Abb. 4.64) gekennzeichnet. Der Nerv liegt direkt unter der Sehne und verläuft oberflächig liegend durch den Karpaltunnel, um anschließend vorwiegend den Hypothenar motorisch zu versorgen. Die Lage des Nervs im Karpaltunnel ist nicht konstant. Er verschiebt sich bei Bewegungen der Finger, der Hand, sogar des Ellenbogens und der Schulter nach proximal und distal. 60° Extension der Hand verändern seine Lage um durchschnittlich 19,6 mm nach distal und um 10,4 mm nach proximal nach 65° Flexion. Bewegungen der Finger von maximaler Extension nach maximaler Flexion verursachen eine Exkursion des Nervs von insgesamt 9,7 mm. Selbst 90° Ellenbogenflexion und Schulterabuktion und -adduktion können den Nerv im Karpaltunnel noch um 2,5–2,9 mm bewegen (Wright et al. 1996).

Abb. 4.84 Kompressionstest nach Tetro.

4.7.3 Therapeutische Hinweise Die Konsequenzen aus der Darstellung der Karpalia auf der Handbeugerseite beruhen auf 2 Aspekten: ● Genaue Lokalisierung der Karpalia. Dies wird vor allem benutzt, wenn man zu Zwecken lokaler Tests und Behandlungen der Handwurzelgelenke die jeweiligen Knochen genau auseinander



halten muss. Am Beispiel der Lokalisierung des Skaphoids dorsal und palmar wird deutlich, dass die Finger, die zum Griff notwendig sind, nicht genau gegenüber aufgesetzt werden können. Das Skaphoid reicht palmar deutlich weiter nach distal als seine dorsale Repräsentanz. Der Therapeut kommt um eine ganz genaue Lokalisation der Knochenpunkte nicht herum, ansonsten sind die Tests nicht aussagekräftig. Provokation von Kompressionsneuropathien. Zum Beweis bestehender Nervenkompressionssyndrome an der Hand kann man diese durch lokalen Druck auf den Engpass provozieren. Dies gilt sowohl

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Hand für das Karpaltunnelsyndrom als auch für die Kompression des N. ulnaris in der Loge de Guyon. Im Bereich des Karpaltunnels sind es Tests nach Tinel und Tetro, die sich die Kenntnisse der lokalen Anatomie in vivo zunutze machen. Beim Test nach Tinel werden Klopfbewegungen auf den Karpaltunnel gebracht in der Absicht, die Beschwerden des Patienten zu provozieren (▶ Abb. 4.83). Tetro beschrieb 1998 einen neuen karpalen Kompressionstest mit dauerhafter lokaler Kompression des Karpaltunnels in einer flektierten Handposition (▶ Abb. 4.84). Dabei liegt der Arm in Extension des Ellenbogens, Supination des Unterarmes. In einer 60° Flexionsposition der Hand wird über 2 Daumen ein Druck auf den Karpaltunnel ausgeübt. Der Test ist positiv, wenn die Symptome binnen 30 Sekunden auftreten. Mit einer Sensitivität von 86 % und einer Spezifität von 95 % gehört er zu den zuverlässigsten Test in der klinischen Diagnostik.

4.8 Literatur Bain GI, Eng K, Lee YC et al. Reconstruction of Chronic Foveal TFCC Tears with an Autologous Tendon Graft. J Wrist Surg 2015; 4: 9–14 Balakrishnan C, Bachusz RC, Balakrishnan A et al. Intraneural lipoma of the radial nerve presenting as Wartenberg syndrome: A case report and review of literature. Can J Plast Surg 2009; 17: e39–41 Beckenbaugh RD. The Carpal Tunnel Syndrome. In: Cooney WP. The Wrist: Diagnosis and Operative Treatment. 2nd ed. Philadelpia: Lippincott Williams & Wilkins; 2010: 1105 Berger RA. Anatomy of the Wrist In: Weinzweig J. Plastic Surgery – Secrets Plus. 2nd ed. St. Louis: Mosby; 2010: 939–945 De Lange ALH, Kauer JMG, Huiskes R. A kinematical study of the human wrist joint [Doctoral Thesis]. Nijmegen, NL: Universität Nijmegen; 1987 Hollevoet N, Van Maele G, Van Seymortier P et al. Comparison of palmar tilt, radial inclination and ulnar variance in left and right wrists. J Hand Surge; 2000; 25: 431–433 Hoppenfeld S. Klinische Untersuchung der Wirbelsäule und Extremitäten. 2. Aufl. Stuttgart: Fischer; 1992 Ihle JEW, van Kampen PN. Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere. 2nd ed. Heidelberg: Springer; 2011 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Kobayashi M, Garcia-Elias M, Nagy L et al. Axial loading induces rotation of the proximal carpal row bones around unique screw-displacement axes. J Biomech 1997; 30: 1165–1167 Kuhn S, Burkhart KJ, Schneider J et al. The anatomy of the proximal radius: implications on fracture implant design. J Shoulder Elbow Surg 2012; 21: 1247–1254

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Lester B, Halbrecht J, Levy IM et al. "Press test" for office diagnosis of triangular fibrocartilage complex tears of the wrist. Ann Plast Surg 1995; 35: 41–45 Lichtman DM, Wroten ES. Understanding midcarpal instability. J Hand Surg Am 2006; 31: 4 918–4 918 Matthijs O, van Paridon-Edauw, D, Winkel D. Manuelle Therapie der peripheren Gelenke, Bd. 2: Ellenbogen, Hand. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2003 Mbaka GO, Ejiwunmi AB. Prevalence of palmaris longus absence–a study in theYoruba population. Ulster Med J 2009;78:90–93 Moritomo H, Apergis EP, Herzberg G et al. 2007 IFSSH committee report of wrist biomechanics committee: biomechanics of theso-called dart-throwing motion of the wrist. J Hand Surg Am 2007; 32: 1447–1453 Netter FH. Farbatlanten der Medizin, Bd. 7: Bewegungsapparat I. Stuttgart: Thieme; 1992 Pang EQ, Yao J. Ulnar-sided wrist pain in the athlete (TFCC/DRUJ/ECU). Curr Rev Musculoskelet Med 2017; 10: 53–61 Rauber A, Leonhardt H (Hrsg.). Anatomie des Menschen: Lehrbuch und Atlas. Bd. 1, Bewegungsapparat. Stuttgart: Thieme; 1987 Rauber A, Kopsch F. Anatomie des Menschen. Bd. 1 Bewegungsapparat. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2003. Reagan DS, Linscheid RL, Dobyns JH. Lunotriquetral sprains. J Hand Surg Am 1984; 9: 502–514 Robson AJ, See MS, Ellis H. Applied anatomy of the superficial branch of the radial nerve. Clin Anat 2008; 21: 38–45 Ryu J, Klin J. Biomechanics of the Wrist. In: Weinzweig J. Plastic Surgery – Secrets Plus. 2nd ed. St. Louis: Mosby; 2010: 961–963 Schmauss D, Pöhlmann S, Lohmeyer JA et al. Clinical tests and magnetic resonance imaging have limited diagnostic value for triangular fibrocartilaginous complex lesions. Arch Orthop Trauma Surg 2016; 136: 873–880 Schmidt HM, Lanz U. Chirurgische Anatomie der Hand. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2003 Spies CK, Müller LP, Oppermann J et al. Die operative Dekompression des Ramus superficialis des Nervus radialis. Oper Orthop Traumatol 2016; 28: 145–152 Taleisnik J, Watson HK. Midcarpal instability caused by malunited fractures of the distal radius. J Hand Surg Am 1984; 9: 350–357 Tay SC, Tomita K, Berger RA. J Hand Surg Am 2007; 32: 438–444 Vezeridis PS, Yoshioka H, Han R et al. Ulnar-sided wrist pain. Part I: anatomy and physical examination. Skeletal Radiol 2010; 39: 733–745 Williams PL. Gray's anatomy. 40th ed. Edinburgh: Churchill Livingstone; 2009 Wright TW, Glowczewskie F, Wheeler D et al. Excursion and strain of the median nerve. J Bone Joint Surg Am 1996; 78: 1897–1903 Zancolli EA, Ziadenberg C, Zancolli E Jr. Biomechanics of the trapeziometacarpal joint. Clin Orthop Relat Res 1987; 220: 14–26 Zanetti M, Hodler J, Gilula LA. Assessment of dorsal or ventral intercalated segmental instability configurations of the wrist: reliability of sagittal MR images. Radiology 1998; 206: 339–345 Zanetti M, Gilula LA, Jacob HA et al. Palmar tilt of the distal radius: influence of off-lateral projection initial observations. Radiology 2001; 220: 594– 600

Hand für das Karpaltunnelsyndrom als auch für die Kompression des N. ulnaris in der Loge de Guyon. Im Bereich des Karpaltunnels sind es Tests nach Tinel und Tetro, die sich die Kenntnisse der lokalen Anatomie in vivo zunutze machen. Beim Test nach Tinel werden Klopfbewegungen auf den Karpaltunnel gebracht in der Absicht, die Beschwerden des Patienten zu provozieren (▶ Abb. 4.83). Tetro beschrieb 1998 einen neuen karpalen Kompressionstest mit dauerhafter lokaler Kompression des Karpaltunnels in einer flektierten Handposition (▶ Abb. 4.84). Dabei liegt der Arm in Extension des Ellenbogens, Supination des Unterarmes. In einer 60° Flexionsposition der Hand wird über 2 Daumen ein Druck auf den Karpaltunnel ausgeübt. Der Test ist positiv, wenn die Symptome binnen 30 Sekunden auftreten. Mit einer Sensitivität von 86 % und einer Spezifität von 95 % gehört er zu den zuverlässigsten Test in der klinischen Diagnostik.

4.8 Literatur Bain GI, Eng K, Lee YC et al. Reconstruction of Chronic Foveal TFCC Tears with an Autologous Tendon Graft. J Wrist Surg 2015; 4: 9–14 Balakrishnan C, Bachusz RC, Balakrishnan A et al. Intraneural lipoma of the radial nerve presenting as Wartenberg syndrome: A case report and review of literature. Can J Plast Surg 2009; 17: e39–41 Beckenbaugh RD. The Carpal Tunnel Syndrome. In: Cooney WP. The Wrist: Diagnosis and Operative Treatment. 2nd ed. Philadelpia: Lippincott Williams & Wilkins; 2010: 1105 Berger RA. Anatomy of the Wrist In: Weinzweig J. Plastic Surgery – Secrets Plus. 2nd ed. St. Louis: Mosby; 2010: 939–945 De Lange ALH, Kauer JMG, Huiskes R. A kinematical study of the human wrist joint [Doctoral Thesis]. Nijmegen, NL: Universität Nijmegen; 1987 Hollevoet N, Van Maele G, Van Seymortier P et al. Comparison of palmar tilt, radial inclination and ulnar variance in left and right wrists. J Hand Surge; 2000; 25: 431–433 Hoppenfeld S. Klinische Untersuchung der Wirbelsäule und Extremitäten. 2. Aufl. Stuttgart: Fischer; 1992 Ihle JEW, van Kampen PN. Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere. 2nd ed. Heidelberg: Springer; 2011 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Kobayashi M, Garcia-Elias M, Nagy L et al. Axial loading induces rotation of the proximal carpal row bones around unique screw-displacement axes. J Biomech 1997; 30: 1165–1167 Kuhn S, Burkhart KJ, Schneider J et al. The anatomy of the proximal radius: implications on fracture implant design. J Shoulder Elbow Surg 2012; 21: 1247–1254

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Lester B, Halbrecht J, Levy IM et al. "Press test" for office diagnosis of triangular fibrocartilage complex tears of the wrist. Ann Plast Surg 1995; 35: 41–45 Lichtman DM, Wroten ES. Understanding midcarpal instability. J Hand Surg Am 2006; 31: 4 918–4 918 Matthijs O, van Paridon-Edauw, D, Winkel D. Manuelle Therapie der peripheren Gelenke, Bd. 2: Ellenbogen, Hand. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2003 Mbaka GO, Ejiwunmi AB. Prevalence of palmaris longus absence–a study in theYoruba population. Ulster Med J 2009;78:90–93 Moritomo H, Apergis EP, Herzberg G et al. 2007 IFSSH committee report of wrist biomechanics committee: biomechanics of theso-called dart-throwing motion of the wrist. J Hand Surg Am 2007; 32: 1447–1453 Netter FH. Farbatlanten der Medizin, Bd. 7: Bewegungsapparat I. Stuttgart: Thieme; 1992 Pang EQ, Yao J. Ulnar-sided wrist pain in the athlete (TFCC/DRUJ/ECU). Curr Rev Musculoskelet Med 2017; 10: 53–61 Rauber A, Leonhardt H (Hrsg.). Anatomie des Menschen: Lehrbuch und Atlas. Bd. 1, Bewegungsapparat. Stuttgart: Thieme; 1987 Rauber A, Kopsch F. Anatomie des Menschen. Bd. 1 Bewegungsapparat. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2003. Reagan DS, Linscheid RL, Dobyns JH. Lunotriquetral sprains. J Hand Surg Am 1984; 9: 502–514 Robson AJ, See MS, Ellis H. Applied anatomy of the superficial branch of the radial nerve. Clin Anat 2008; 21: 38–45 Ryu J, Klin J. Biomechanics of the Wrist. In: Weinzweig J. Plastic Surgery – Secrets Plus. 2nd ed. St. Louis: Mosby; 2010: 961–963 Schmauss D, Pöhlmann S, Lohmeyer JA et al. Clinical tests and magnetic resonance imaging have limited diagnostic value for triangular fibrocartilaginous complex lesions. Arch Orthop Trauma Surg 2016; 136: 873–880 Schmidt HM, Lanz U. Chirurgische Anatomie der Hand. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2003 Spies CK, Müller LP, Oppermann J et al. Die operative Dekompression des Ramus superficialis des Nervus radialis. Oper Orthop Traumatol 2016; 28: 145–152 Taleisnik J, Watson HK. Midcarpal instability caused by malunited fractures of the distal radius. J Hand Surg Am 1984; 9: 350–357 Tay SC, Tomita K, Berger RA. J Hand Surg Am 2007; 32: 438–444 Vezeridis PS, Yoshioka H, Han R et al. Ulnar-sided wrist pain. Part I: anatomy and physical examination. Skeletal Radiol 2010; 39: 733–745 Williams PL. Gray's anatomy. 40th ed. Edinburgh: Churchill Livingstone; 2009 Wright TW, Glowczewskie F, Wheeler D et al. Excursion and strain of the median nerve. J Bone Joint Surg Am 1996; 78: 1897–1903 Zancolli EA, Ziadenberg C, Zancolli E Jr. Biomechanics of the trapeziometacarpal joint. Clin Orthop Relat Res 1987; 220: 14–26 Zanetti M, Hodler J, Gilula LA. Assessment of dorsal or ventral intercalated segmental instability configurations of the wrist: reliability of sagittal MR images. Radiology 1998; 206: 339–345 Zanetti M, Gilula LA, Jacob HA et al. Palmar tilt of the distal radius: influence of off-lateral projection initial observations. Radiology 2001; 220: 594– 600

Hüft- und Leistenregion

5 Hüft- und Leistenregion 5.1 Einleitung 5.1.1 Lenden-Becken-Hüft-Region (LBH-Region) Die funktionelle Einheit aus Hüftgelenken, Beckengelenken und der LWS wird allgemein als sogenannte LendenBecken-Hüft-Region (LBH-Region) bezeichnet. Da es sich hier um ein Buch über die gezielte Palpation an Extremitätengelenken handelt, werden aus der funktionellen Einheit vor allem der seitliche und vordere Hüftbereich herausgenommen und detailliert besprochen. Der rückwärtige Bereich des Beckens bleibt der Besprechung im Kap. 9 über die Palpation am dorsalen Becken vorbehalten.

5.1.2 Funktionelle Bedeutung des Beckens und des Hüftgelenkes Die LBH-Region ist, wie die gesamte Konstruktion der unteren Extremität, dem Prinzip der bipedalen Fortbewegung unterworfen. Die wichtigsten Aspekte sind demnach Tragen und Fortbewegen. In diesem Zusammenhang hat sie zunächst die Aufgabe, eine Verbindung der unteren Extremität zum Rumpf herzustellen. Im Gegensatz zu dem eher zierlichen Sternoklavikulargelenk, das den Übergang zwischen oberer Extremität und Rumpf bildet, sind die sakroiliakalen Gelenke (SI-Gelenke) sehr groß und rigide. Aufgrund der sehr steilen Gelenkflächen und der räumlich schrägen Position des Sakrums, ist das SI-Gelenk in mehrfacher Hinsicht kompliziert gebaut und enorm ligamentär gesichert. Die geringen Bewegungen der SI-Gelenke und der Symphysis pubica verleihen der Lastübertragung eine gewisse Federung, also Stoßdämpfung. Das Prinzip der Stoßdämpfung ist nicht dem Becken allein vorbehalten, es zeigt sich an der Wirbelsäule und in allen Abschnitten der unteren Extremität. Die komplexe Verbindung zwischen unterer Extremität und Wirbelsäule hat auch eine sehr direkte Übertragung von Bewegungen der Hüftgelenke auf die Wirbelsäule zur Folge. Dies wird deutlich, wenn man beispielhaft die Extension des Hüftgelenkes betrachtet, deren Normmaß mit 10–15° beschrieben wird. Bei Erreichen der endgradigen Extension läuft die Bewegung recht schnell auf die Beckenverbindungen (SI-Gelenke und Symphyse) und damit nahezu sofort auf die kaudalen lumbalen Segmente weiter. Auch Bewegungen von kranial auf das Becken und Bewegungen des Beckens haben Einfluss auf die anderen Anteile der LBH-Region.

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Eine weitere Aufgabe des Beckens ist die Übertragung der Körperlast auf die Unterlage im Sitz oder auf die Beine im Stand. Besonders verstärkte Anteile des Os ilium leiten die Körperlast in aufrechter Position vom SI-Gelenk zur Hüftgelenkspfanne.

5.1.3 Pathologie und häufige therapeutische Tätigkeiten Die Beschwerdebilder an der Hüfte, die in der täglichen Praxis präsent sind, sind vielfältig und sehr unterschiedlich. Wenn Schmerzen in der Gesäß-, Trochanter- oder Leistenregion angegeben werden, ist das funktionelle Herausdifferenzieren des Schmerzgenerators eine diagnostische Herausforderung und benötigt häufig viel Zeit und Aufwand. Die Herkunftsstellen für Schmerzen können in der Lendenwirbelsäule, den Beckenverbindungen und im Bereich der Hüftgelenke liegen. Schmerzgeneratoren an Becken und Hüfte können die unterschiedlichsten Gewebe sein: Kapseln, subchondraler Knochen, Labrum der Hüftgelenkspfanne, muskuläre Insertionen, Sehnen, Bursen oder periphere Nerven. Sogar das Lig. capitis femoris (Lig. teres) ist mittlerweile als Schmerzgenerator bekannt (Lampert 2009). Diagnostisch erschwerend kommt hinzu, dass rumpfnahe Schmerzquellen Beschwerden auch als fortgeleitete (Referred Pain) oder projizierte Schmerzen in die Beine übertragen können und sich das Schmerzwahrnehmungsgebiet somit erweitern kann. Daher empfiehlt es sich, in der Untersuchung der LBHRegion alle Anteile des Bewegungsapparates, die eine mögliche Ursache für die Beschwerden darstellen können, in die Befundung mit einzubeziehen.

Häufige Pathologie mit Schmerzgeneratoren an der Hüfte ●





Beschwerden seitlich an der Hüfte. Weichteilaffektionen über dem Trochanter major (Tendinosen, Bursitis trochanterica) und Referred Pain des Hüftgelenkes Beschwerden dorsal an der Hüfte. Insertionstendopathie der ischiokruralen Muskeln, Bursitiden, Piriformis-Syndrom, Hamstring-Syndrom, femoroazetabulares Impingement, Läsionen des Labrum acetabulare Leistenschmerzen. Insertionstendopathien, z. B. der Adduktoren, Irritationen der Symphyse, Pathologien des Hüftgelenkes (Arthrose, Arthritis, Labrumläsion, femoroazetabulares Impingement), Kompressionsneuropathien

5.1 Einleitung Diese Auswahl stellt nur einen Ausschnitt aller Beschwerden an Hüfte und Leiste dar, die häufig in der physiotherapeutischen Praxis vorkommen. Beschwerden, die sich dorsal am Becken zeigen, entstammen häufig einem Schmerzgenerator an der Wirbelsäule oder der SI-Gelenke. Die Differenzierung innerhalb der Hüft- und Leistenbeschwerden wird mittels spezieller Tests im Rahmen der Befunderhebung größtenteils gelingen. Dennoch benötigt man eine gezielte und provokative Palpation immer dann, wenn Tests keine weiteren Hilfen mehr geben und die genaue Stelle einer Läsion herausgefunden oder bestätigt werden soll.

5.1.4 Notwendige topografische und morphologische Vorkenntnisse Um die Anleitungen zur lokalen Palpation nachvollziehen zu können, benötigt der Übende einige maßgebliche Hintergrundinformationen: ● knöcherner Aufbau des Beckens, insbesondere der erreichbaren Knochenerhebungen ● Geometrie des proximalen Femurs, insbesondere des Antetorsionswinkels (ATW) ● Namen und Lage der Muskeln, die das Hüftgelenk überqueren

Knöcherne Anatomie Becken Das Außergewöhnliche am knöchernen Becken ist die dreidimensionale Konstruktion großer Knochen zu einem Ring. Dies macht die zweidimensionale bildliche Darstellung, die uns aus anatomischen Büchern zur Verfügung steht, so unzureichend. Daher ist es wichtig, eine bildliche Vorstellung der Ringstruktur aus verschiedenen Perspektiven zu entwickeln.

Die Knochenpunkte des Beckens, deren gezieltes Aufsuchen in diesem Kapitel besprochen wird, liegen vor allem auf der Vorderseite (▶ Abb. 5.1). Zusammengefasst sind es die anterior zugänglichen Anteile des Os ilium und des Os pubis. In dieser Anleitung zur Palpation im Hüftbereich wird auch auf die lokale Anatomie tief dorsal am Becken eingegangen (▶ Abb. 5.2). Lediglich das Tuber ischiadicum wird hier als dorsaler Referenzpunkt gesucht. Alle weiteren Strukturen werden im Kap. 9 (Palpation am dorsalen Becken) besprochen.

Hüftgelenk Die Geometrie der Gelenkpartner kann prädisponierenden Charakter für bestimmte Pathologien des Hüftgelenkes haben (femoroazetabulares Impingement mit/ohne Läsionen des Labrum acetabulare sowie Koxarthrose). Daher sei hier kurz darauf eingegangen. Das Hüftgelenk erfährt enorme Veränderung während der Entwicklung und individuelle Ausprägungen der räumlichen Ausrichtung von Kopf und Pfanne sind die Regel. Bekannt sind die individuell unterschiedlichen Größenangaben des CCD-Winkels (Center-Collum-Diaphysen), der die superior-mediale Ausrichtung des Femurkopfes gegenüber dem Schaft beschreibt und bei Geburt ca. 150° beträgt. Die Reduzierung des Winkels während des Älterwerdens auf das Maß von ca. 133° bei einem 15-Jährigen und noch darunter beim Erwachsenen ist inter- und intraindividuell unterschiedlich. Insgesamt hat sich die Literatur darüber geeinigt, dass man von einer Coxa vara ab etwa 120° und geringer spricht. Dies kann ein femorazetabulares Impingement zwischen Collum femoris und Azetabulumrand begünstigen. Ein CCD-Winkel von über 135° birgt als Coxa valga nicht nur einen prädisponierenden Faktor für eine frühzeitige Koxarthrose, sondern belastet auch das Labrum am superioren Rand der Pfanne (Matthijs et al. 2003).

5

Crista iliaca Spina iliaca ant. superior Spina iliaca ant. inferior Trochanter major

Trochanter major

Tuberculum pubicum

Tuber ischiadicum

Abb. 5.1 Strukturen des Beckens – Ansicht von ventral.

Abb. 5.2 Ossäre Strukturen – Ansicht von dorsal.

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Hüft- und Leistenregion

ca. 14–15 °

45° nach caudomedial

Abb. 5.3 Antetorsionswinkel.

Der Antetorsionswinkel (ATW) ist mitbestimmend für das Ausmaß der Rotationen des Hüftgelenkes. Je größer er ist, umso größer ist die Innenrotationsfähigkeit des Hüftgelenkes – bei normal elastischen Weichteilen (Kapsel und Muskulatur). Der ATW bezeichnet die Größe der Verdrehung des Femurhalses gegenüber dem Schaft nach anterior. Die Situation des Schaftes wird zeichnerisch meist als Querverbindung durch die Kondylen am distalen Femur dargestellt (▶ Abb. 5.3). Kleinkinder haben einen hohen ATW (30–45°; Rudorff 2007) und können daher oft erstaunlich innenrotieren. Mit dem Skelettwachstum reduziert sich der ATW auf ein durchschnittliches Normmaß von 14–15° (von Lanz u. Wachsmuth, 2004), das in der Literatur unterschiedlich angegeben wird. Die Reduzierung des frühkindlichen ATW von ca. 35° (Matthijs et al. 2003) endet in inter- und vor allem auch intraindividuellen Unterschieden. Die Bestimmung des ATW ist interessant, wenn ein seitendifferenter Befund im Ausmaß der Rotationsfähigkeit der Hüftgelenke festgestellt wird. Das Ausmaß von Innen- plus Außenrotation sollte immer gleich sein. Der ATW bestimmt die Verteilung zugunsten der Innen- oder Außenrotation. Diese gängige Lehrmeinung in der Physiotherapie wurde allerdings 2006 durch de Tavares Canto bestritten (de Tavares Canto 2006). Er fand in seiner Studie keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem ATW und dem Ausmaß an Rotation, sodass gefolgert werden muss, dass noch weitere Parameter, wie z. B. die Geometrie der Pfanne, einen Einfluss auf Hüftrotationen haben. Die manuelle Bestimmung des ATW (▶ Abb. 5.14) durch Palpation des seitlichen Trochanter major hat ihren besonderen Stellenwert in der präoperativen Diagnostik von zerebralparetischen Kindern vor Derotationsosteotomien. Von hier aus kommen auch Validierungsstudien (Ruwe et al. 1992, Chung et al. 2010), die dem Test eine exzellente Genauigkeit bescheinigen. Am Os femoris ist es vor allem der Trochanter major, der palpatorisch einfach erreichbar ist. Alle anderen femoralen Strukturen sind entweder durch die starken Weichteile verborgen oder müssen mittels Leitstrukturen erkannt werden.

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Abb. 5.4 Anwinkelung des Azetabulums.

Die Größe des Trochanter major in vivo ist erstaunlich. Posterior beispielsweise gibt es zur Außenbegrenzung des Tubers lediglich einen Zwischenraum von ca. 2–3 Fingerbreiten. Auch hier sind die zeichnerischen Abbildungen sowie die gängigen Anatomiemodelle verwirrend. Der Trochanter wird zu klein und die räumlichen Beziehungen zum Becken zu groß wiedergegeben. Die Geometrie des Acetabulum coxae wurde durch Studien in den letzten Jahren ebenfalls konkretisiert. Es ist zu allen 3 Ebenen angewinkelt. In der Frontalebene beträgt es bei Kindern ca. 60°, bei Erwachsenen ca. 45° zur Transversalen (▶ Abb. 5.4). In der Transversalen ist das Azetabulum häufig uneinheitlich aus der Sagittalebene nach lateral gekippt. Der obere Teil beschreibt ca. 20°, der untere ca. 45° Anwinkelung, wodurch eine Torsion des Azetabulums deutlich wird. Innerhalb der Sagittalebene ist die Pfanne um ca. 30° nach hinten gekippt, wodurch die Einkerbung des Pfannenrandes nach inferior und anterior zeigt.

Relevante Weichteile anterior Die Lage der anterioren Muskeln werden gewöhnlich in 2 Dreiecke eingeteilt, um eine schnelle Orientierung zu erhalten und weitere Strukturen leicht finden zu können: ● Trigonum femorale laterale (▶ Abb. 5.5) ● Trigonum femorale mediale (▶ Abb. 5.6) Das Trigonum femorale laterale wird begrenzt durch: den M. tensor fasciae latae (medialer Rand des Muskelbauchs) ● den M. sartorius (lateraler Rand des Muskelbauchs) ●

Es handelt sich hier eigentlich nicht um ein Dreieck, sondern um eine nach kranial gerichtete Pfeilspitze. Die dritte Begrenzung zum Dreieck fehlt. Beide beteiligten Muskeln haben mit der Spina iliaca anterior superior (SIAS) Kontakt. Dies ist der wichtigste ossäre Orientierungspunkt am ventralen Becken. In der Tiefe dieses „Dreiecks“ liegen die inferiore Spina und der M. rectus femoris mit Sehne und Insertion.

5.1 Einleitung

N. femoralis M. tensor fasciae latae

A. femoralis V. femoralis

Trigonum femorale lat.

Tractus iliotibialis

M. sartorius

Abb. 5.7 Nerv- und Gefäßbündel in der Leiste. M. rectus femoris ● ●



Abb. 5.5 Trigonum femorale laterale.

Lig. inguinale

Trigonum femorale mediale M. sartorius M. adductor longus

den M. sartorius (medialer Rand des Muskelbauchs) den M. adductor longus (medialer Rand des Muskelbauchs) das Leistenband (Lig. inguinale)

5

Die Kenntnisse dieses Dreiecks verhelfen dem Auffinden der Läsionsstellen der funktionell und klinisch wichtigen Flexoren- und Adduktorengruppen. Weiterhin wird die Lage eines großen Nerv- und Gefäßbündels in der Mitte des Dreiecks beschrieben. Hier befinden sich (von lateral nach medial) (▶ Abb. 5.7): ● N. femoralis ● A. femoralis ● V. femoralis Die Gefäße verlassen den Beckenraum gemeinsam und unterqueren das Leistenband in der Lacuna vasorum, während der Nerv den M. iliopsoas in der Lacuna musculorum beim Durchtritt begleitet. Das Lig. inguinale ist eine Faszienraffung der ventrolateralen Muskeln, also kein richtiges Ligament im herkömmlichen Sinne und verspannt sich zwischen der SIAS und dem Tuberculum pubicum als weiterer wichtiger knöcherner Orientierungspunkt. Lateral an der SIAS ist das Leistenband recht flach und verjüngt sich durch seine spiralförmige Anlage offensichtlich nach medial. Die Leistenbeuge (Sulcus inguinalis) stimmt nur bei mageren Personen mit der Lage des Leistenbandes überein. Bei schon leicht erhöhtem Körperfettanteil sinkt die Leistenbeuge unter das Niveau des Bandes. In der Leistenbeuge liegen Leistenlymphknoten (Nodi lymphatici inguinales superficiales), die hier nicht weiter besprochen werden. Der inguinale Bereich kranial des Leistenbandes wird im Kap. 11 (Bauchregion) erläutert.

Abb. 5.6 Trigonum femorale mediale.

Symphysis pubica Das Trigonum femorale mediale ist das eigentliche Trigonum femorale und wurde erstmals vom italienischen Anatom Antonio Scarpa (1752–1832) beschrieben. Es ist tatsächlich ein Dreieck und wird gebildet durch:

Als wichtiger Bestandteil des Beckenrings kontrolliert die Symphyse die Bewegungen der Ossa coxae maßgeblich und hat einen großen Einfluss auf die SI-Gelenke. Das bedeutet, dass die Symphyse den meisten Widerstand gegenüber den Bewegungseinflüssen auf den Beckenring bietet.

133

Hüft- und Leistenregion

Lig. interpubica sup. Cavum articulare

Discus interpubis Lig. arcuatum pubis

Abb. 5.8 Aufbau der Symphysis pubica.

Mit einer Länge von 4–5 cm hat sie eine enorme Größe, die durch ihre Kippung von ca. 45° (Mens et al. 1999) von ventrokranial nach dorsokaudal nicht so in Erscheinung tritt (▶ Abb. 5.8). In der Mitte, zwischen beiden Rami symphyseales der Schambeine, befindet sich ein fibrokartilaginärer Diskus. Dieser Discus interpubicus variiert in Dicke und erhält etwa ab dem 10. Lebensjahr einen zunehmend größer werdenden Schlitz (Cavum articulare), der ab dem 30. Lebensjahr eine Synovialmembran erhält. Die Symphyse wird durch das Lig. interpubica superius und Lig. arcuatum pubis stabilisiert. Das Lig. arcuatum pubis ist der wichtigste Stabilisator und besteht aus dicken bogenförmig verlaufenden Fasern, die direkt medial der Insertionen des M. gracilis an den Schambeinästen befestigt sind. Große Scherkräfte können hier zu Irritationen führen. Diese Scherkräfte entstehen bei unipodaler Belastung. Beim Gehen entsteht eine vertikale und ventrale Translation von 2,2 mm bzw. 1,3 mm (Meissner 1996). Durch die sehr differenzierte Innervation (Nn. ilioinguinalis und genitofemoralis, Th 12–L 2 sowie N. pudendus, S 2–S 4) ist die Symphyse ein potenzieller Schmerzgenerator mit einem möglichen Schmerzwahrnehmungsgebiet uni- oder bilateral im Unterbauch, anal und genital, inguinal, aber auch in Richtung medialer Oberschenkel. Arthropathien der Symphyse werden in 4 Stadien eingeteilt und gehen oft mit einer Instabilität (Zunahme an Translationen) einher. Palpation mit dem Ziel der Lokalisation einer irritierten muskulären Struktur bei sogenannten Adduktorenproblemen sollte immer die Möglichkeit der Irritation der Symphyse einbeziehen.

134

Relevante Weichteile posterior Die für diesen Palpationsgang wichtigen Weichteile posterior an der Hüfte sind die ischiokruralen Muskeln und deren Insertion am Tuber ischiadicum (▶ Abb. 5.10). M. biceps femoris, M. semimembranosus und M. semitendinosus konvergieren mit ihren Muskelbäuchen nach proximal in eine gemeinsame Ursprungssehne (Caput commune). Die Ausrichtung der Muskelbäuche ist proximal am Femur nicht mittelständig, sondern eher schräg nach medial. Der Grund für diesen schrägen Verlauf ist in der eher medialen Lage des Tubers zu sehen. Fasern der Ursprungssehne (z. B. Anteile des M. biceps femoris) gehen in einigen Fällen sogar weiter bis in das Lig. sacrotuberale, können die Spannung des Ligaments erhöhen und haben somit theoretisch eine direkte Einflussmöglichkeit auf das sakroiliakale Gelenk (Mercer et al. 2005). Windisch et al. (2017) beschreiben in ihrer anatomischen Studie, dass der M. semitendinosus häufig direkt in das Ligament übergeht. Die funktionelle Bedeutung dieser Muskelgruppe wird weit über ihre konzentrisch-dynamische Funktion (Extension des Hüftgelenkes, Flexion im Kniegelenk) hinaus betrachtet. Nach proximal betrachtet, gehören sie zu den Muskeln, die das Becken in der Sagittalebene kontrollieren und ein ventrales Abkippen des Beckens verhindern. Im Bezug zum Kniegelenk entwickeln sie am Ende der Schwungphase ihre stärkste Aktivität. Sie bremsen den Schwung des Unterschenkels nach vorne ab, kurz bevor die Ferse aufsetzt und verhindern so ein Durchschlagen in die passiven Strukturen des Gelenkes. Am Ende der Schussphase in gedehnter Stellung bremsen sie die Tibiabewegung ab und nehmen dabei bis zu 85 % der kinetischen Energie auf (Spomedial 2009). Während Hüftflexion und -extension bewegt sich der N. ischiadicus in seinem Verlauf am lateralen Tuber und dem Caput commune entlang. Vor allem bei Adduktion wird er gegen seine Nachbarn komprimiert. Infolge von Narbenbildungen nach muskulären Verletzungen, langem Sitzen, schnellen Läufen oder übertriebenen Dehnungsübungen der ischiokruralen Muskeln kann der Nerv durch Reibung oder Dehnung irritiert werden (Hamstring-Syndrom, Puranen u. Orava 1991).

Bursen Muskelverläufe an knöchernen Erhebungen und Kanten vorbei sowie Insertionen ermöglichen eine hohe Anzahl Bursen unterschiedlichster Lokalisation. Die ▶ Abb. 5.9 zeigt eine Übersicht über diejenigen Bursen, die klinisch interessant als Bursitis in Erscheinung treten können und häufig indirekt palpabel sind. Hier handelt es sich um die: ● Bursa iliopectinea, die gekammert zwischen der Unterseite des N. iliopsoas und der Eminentia iliopectinea den Verlauf des Muskels bei dem Durchtritt unter dem Leistenband gegen Reibung schützt

5.2 Lokale Palpation lateral

Bursa m. glutaei medii

Bursa iliopectinea mediale Kammer Bursa iliopectinea laterale Kammer

M. glutaeus medius

Bursa subtendinea trochanterica (gluteal) Bursa trochanterica

M. piriformis

Bursa m. glutaei minimi

M. glutaeus minimus

Bursa ischioglutealis (ischiadica)

Bursa trochanterica

Abb. 5.9 Bursen der Hüftregion (nach Omer Matthijs).

posterior

anterior

5

Abb. 5.11 Insertionen und Bursen am lateralen Trochanter major (nach Omer Matthijs). M. piriformis N. ischiadicus

M. biceps femoris M. semitendinosus M. semimembranosus

Relevante Weichteile lateral Am Trochanter major sind Tendinosen und Bursitiden als Quelle lateraler Schmerzen der Hüftregion bekannt (Barratt et al. 2017). Die von Dr. Omer Matthijs zusammengefasste Arbeit von Pfirrmann (2001) verdeutlicht die Lage der glutealen Insertionen und Bursen (▶ Abb. 5.11). Von posterior nach anterior betrachtet, gibt es einen kontinuierlichen Wechsel von Bursen und Insertionen. Jede Insertion des M. gluteus minimus hat eine eigene Bursa zum Schutz vor Reibung. Die größte Bursa bedeckt die posteriore Facette des Trochanter major, den distalen und lateralen Anteil der Sehne des M. gluteus medius und den proximalen Anteil des Ursprungs des Vastus lateralis (Pfirrmann et al. 2001).

5.2 Lokale Palpation lateral N. tibialis N. peroneus communis

5.2.1 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen ● ● ●

Abb. 5.10 Wichtige Weichteilstrukturen posterior.





Bursen des Trochanter major. Hier liegen unterhalb der Insertion der Mm. gluteus minimus und medius jeweils eine Bursa subtendinea. Auf der lateralen Fläche in Abgrenzung zum Tractus iliotibialis liegt die Bursa trochanterica (Pfirrmann et al. 2001). Bursa ischiadica m. glutei maximi, welche am inferiormedialen Aspekt des Tuber ischiadicum zu finden ist und eine Reibung des M. gluteus maximus gegenüber dem Tuber reduziert.

Trochanter major Antetorsionswinkel (ATW) Insertionen und Bursen am Trochanter major

5.2.2 Kurzfassung des Palpationsganges Es handelt sich hier um das Aufsuchen leicht zugänglicher Strukturen. Zunächst geht es um die Lokalisation sowie die Wahrnehmung der Ausdehnung des Trochanter major. Die Palpation des Trochanters dient zur Provokation lokaler schmerzhafter Weichteile (Bursen und Insertionen) sowie zur Darstellung des Antetorsionswinkels (ATW), einer wichtigen Größe in der Geometrie des proximalen Femurs.

135

5.2 Lokale Palpation lateral

Bursa m. glutaei medii

Bursa iliopectinea mediale Kammer Bursa iliopectinea laterale Kammer

M. glutaeus medius

Bursa subtendinea trochanterica (gluteal) Bursa trochanterica

M. piriformis

Bursa m. glutaei minimi

M. glutaeus minimus

Bursa ischioglutealis (ischiadica)

Bursa trochanterica

Abb. 5.9 Bursen der Hüftregion (nach Omer Matthijs).

posterior

anterior

5

Abb. 5.11 Insertionen und Bursen am lateralen Trochanter major (nach Omer Matthijs). M. piriformis N. ischiadicus

M. biceps femoris M. semitendinosus M. semimembranosus

Relevante Weichteile lateral Am Trochanter major sind Tendinosen und Bursitiden als Quelle lateraler Schmerzen der Hüftregion bekannt (Barratt et al. 2017). Die von Dr. Omer Matthijs zusammengefasste Arbeit von Pfirrmann (2001) verdeutlicht die Lage der glutealen Insertionen und Bursen (▶ Abb. 5.11). Von posterior nach anterior betrachtet, gibt es einen kontinuierlichen Wechsel von Bursen und Insertionen. Jede Insertion des M. gluteus minimus hat eine eigene Bursa zum Schutz vor Reibung. Die größte Bursa bedeckt die posteriore Facette des Trochanter major, den distalen und lateralen Anteil der Sehne des M. gluteus medius und den proximalen Anteil des Ursprungs des Vastus lateralis (Pfirrmann et al. 2001).

5.2 Lokale Palpation lateral N. tibialis N. peroneus communis

5.2.1 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen ● ● ●

Abb. 5.10 Wichtige Weichteilstrukturen posterior.





Bursen des Trochanter major. Hier liegen unterhalb der Insertion der Mm. gluteus minimus und medius jeweils eine Bursa subtendinea. Auf der lateralen Fläche in Abgrenzung zum Tractus iliotibialis liegt die Bursa trochanterica (Pfirrmann et al. 2001). Bursa ischiadica m. glutei maximi, welche am inferiormedialen Aspekt des Tuber ischiadicum zu finden ist und eine Reibung des M. gluteus maximus gegenüber dem Tuber reduziert.

Trochanter major Antetorsionswinkel (ATW) Insertionen und Bursen am Trochanter major

5.2.2 Kurzfassung des Palpationsganges Es handelt sich hier um das Aufsuchen leicht zugänglicher Strukturen. Zunächst geht es um die Lokalisation sowie die Wahrnehmung der Ausdehnung des Trochanter major. Die Palpation des Trochanters dient zur Provokation lokaler schmerzhafter Weichteile (Bursen und Insertionen) sowie zur Darstellung des Antetorsionswinkels (ATW), einer wichtigen Größe in der Geometrie des proximalen Femurs.

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Hüft- und Leistenregion

ASTE Der Proband befindet sich in Bauchlage, die Arme liegen dem Körper an und die Sprunggelenke können auf einer Fußrolle gelagert sein. Einer Modifikation der Bauchlage bedarf es nur bei Patienten mit Beschwerden der Hüftgelenke oder der LWS. Zur Lokalisation von Grenzen und Flächen des Trochanter major und zur Bestimmung des ATW wird es notwendig sein, das Knie anzubeugen, um rotatorische Bewegungen in das Hüftgelenk einzubringen. Der Therapeut steht kontralateral.

5.2.3 Palpation einzelner Strukturen Trochanter major Als nahezu einziger direkt erreichbarer Anteil des proximalen Femurs dient der Trochanter major als wichtiger Orientierungspunkt in der seitlichen Hüftregion. Er und seine direkte Umgebung bieten Ansatzbereiche vieler kleiner, vom Becken herkommender Muskeln. Zudem verlängert er den Kraftarm für die kleinen Glutealmuskeln und ermöglicht Rückschlüsse auf die Geometrie des Femurs. Der Trochanter major ist natürlich lateral und etwa in Höhe der Sakrumspitze zu finden (Kap. 9). Diese liegt etwa am Beginn der Analfalte. In Bezug zum Darmbeinkamm (Crista iliaca) liegt der Trochanter etwa eine Handbreit kaudal.

Technik Der Trochanter wird in der beschriebenen Region mit flächiger Palpation von lateral und mäßigem Druck in die Tiefe gesucht und bei hartem Widerlager als solcher erkannt. Mit rechtwinkliger Palpation können seine superiore sowie anteriore und posteriore Begrenzung gut ertastet werden (▶ Abb. 5.12). Nimmt man die anteriore und posteriore Grenze zwischen Daumen und Zeige-

Abb. 5.12 Palpation der Trochanterspitze.

136

finger, wird die breite Ausdehnung des Trochanters deutlich (▶ Abb. 5.13). Direkt flächig von lateral erspürt man eine große Fläche des Trochanters, die den kleinen Glutealmuskeln Insertionen bietet und von einigen Bursen geschützt ist.

Tipp Da diese Region oft adipös ist, ist die Palpation manchmal etwas schwierig und eine Hilfe zur Bestätigung der Lokalisation notwendig. Hierzu kann der Therapeut das Kniegelenk auf der entsprechenden Seite flektieren und so über den Hebel des Unterschenkels abwechselnd etwas Innenrotation und Außenrotation des Hüftgelenkes einbringen. Hierbei rollt der Trochanter unter den palpierenden Fingern hin und her, sodass sowohl die seitliche Fläche als auch die Begrenzungen gut zu ertasten sind. Von hier aus startet die später folgende laterale und dorsale Palpation.

Antetorsionswinkel Der Antetorsionswinkel (ATW) sowie die Geometrie der Hüftgelenkspfanne sind für das Ausmaß der Innenrotation des Hüftgelenkes mitbestimmend. Je größer der ATW ist, umso größer ist die Innenrotationsfähigkeit des Hüftgelenkes – bei normal elastischen Weichteilen (Kapsel und Muskulatur). Bei zerebralparetischen Kindern wird er vor Derotationsosteotomien bestimmt. Die manuelle Schnellbestimmung des ATW geht auf Drehmann 1909 (Tönnis u. Legal 2014) zurück und basiert auf der Schätzung bzw. Goniometermessung des Winkels im Moment der Palpation der meist lateralen Vorwölbung des Trochanters (Ruwe et al. 1992). Die Genauigkeit dieser Schnellbestimmung ist erstaunlich hoch. Ruwe beschreibt die durchschnittliche Differenz des Trochanteric Prominence Angle Tests mit ca. 4° zu intraoperativen Messungen mit einem Intratester-Fehler von 5°. Die exzellente Validität und Reliabilität dieses Tests wurden von Chung (2010) nochmals bestätigt.

Abb. 5.13 Ertasten der Trochanterbreite.

5.2 Lokale Palpation lateral

5

Abb. 5.15 Darstellung des Antetorsionswinkels (ATW) – Phase 2.

Abb. 5.14 Darstellung des Antetorsionswinkels (ATW) – Phase 1.

Technik Das Knie wird bei rotationsfreier Position im Hüftgelenk flektiert und in der Sagittalebene eingestellt. Die palpierende Hand orientiert sich seitlich am Trochanter und nimmt flächigen Kontakt auf (▶ Abb. 5.14). Die Hüfte wird innenrotiert, indem der Unterschenkel aus der Sagittalebene nach lateral geführt wird. Jetzt sollte man sich vorstellen können, dass der Trochanter major während der Innenrotation einen Kreisbogen um den Hüftkopf beschreibt. Wenn der Trochanter unter der Palpation die Stellung erreicht hat, in der er am weitesten nach lateral herausragt, wird die Innenrotation gestoppt (▶ Abb. 2.6 und ▶ Abb. 5.15). Jetzt steht das Collum femoris in der Frontalebene und man kann den Antetorsionswinkel ermitteln (in Winkelgraden schätzen oder mit einem Goniometer messen). Durchschnittlich werden ca. 10–16° erwartet (Schneider et al. 1997). Die Werte sind teilweise abhängig von der Methode bildgebender Verfahren und variieren intraindividuell (ca. 5°, Schneider et al. 1997) und interindividuell.

Palpation der Insertionen und Bursen am lateralen Trochanter major Die Anheftungsregion der pelvitrochantären Muskeln sowie der kleinen Glutealmuskeln lässt sich palpatorisch auf Druckdolenz untersuchen.

ASTE Der Patient befindet sich in Seitenlage, die zu palpierende Seite liegt oben. Er rutscht auf der Therapieliege etwas mehr zur Seite des Therapeuten. Hüft- und Kniegelenke sind in mäßiger Flexion eingestellt. Die Kniegelenke liegen aufeinander und haben ggf. eine weiche Zwischenlage. Zunächst werden die erreichbaren Ränder des Trochanter major mit rechtwinkliger Palpation dargestellt und die Begrenzung auf der Oberfläche übertragen (▶ Abb. 5.11).

Tipp Sind die Ränder des Trochanters nicht gut zu ertasten, kann die richtige Lokalisation durch Rotation des Beines und Bewegung des Knochens unter der palpierenden Hand immer wieder sehr einfach bestätigt werden.

137

Hüft- und Leistenregion

Abb. 5.16 Palpation der Bursa trochanterica.

Hierauf wird die dargestellte Fläche mit einer Linie von anterior nach posterior in eine proximale und eine distale Hälfte unterteilt. Rechtwicklig dazu wird eine weitere Linie aufgebracht, die diese Fläche in eine anteriore und eine posteriore Hälfte unterteilt. So entstehen Quadranten. ● Der anterior-proximale Quadrant enthält an seinem anterioren und an seinem posteriorem Drittel eine flächige Markierung für die Bursae mm. glutei minimi und medii. ● Der posterior-distale Quadrant enthält eine auffüllende Markierung für die Bursa trochanterica (▶ Abb. 5.11). ● Die Insertion der Sehne des M. gluteus minimi reicht von der anterioren Begrenzung des anterior-distalen Quadranten bis zum mittleren Drittel des anteriorproximalen Quadranten. ● Die Insertion der Sehne des M. gluteus medius reicht von den posterioren zwei Dritteln des anterior-distalen Quadranten bis zur oberen Hälfte des posterior-proximalen Quadranten (▶ Abb. 5.11).

Bursa trochanterica Neben muskulären oder tenoossären Beschwerden sind Bursitiden in der Trochanterregion als Quelle lokaler lateraler Gesäßschmerzen bekannt. Die häufigste Entzündung ist die der Bursa trochanterica m. glutaei maximi. Mit der gleichen oben beschriebenen flächigen Technik können die Trochanterseite und medial der Tuberositas glutea auf Druckempfindlichkeit palpiert werden (▶ Abb. 5.16).

Hinweis zur Pathologie Sie werden hier, wie bei jeder anderen markanten Stelle mit einer Bursa, diese als Struktur nicht spüren können. Lediglich bei einer Bursitis hat man eine Rückmeldung des Patienten durch Schmerzprovokation und bei Palpation evtl. auch das Gefühl fluktuierender Synovialflüssigkeit in der angeschwollenen Bursa. Eine Bursitis trochanterica ist bereits seit Langem als Ursache für einen seitlichen Hüftschmerz bekannt. Ein

138

Abb. 5.17 Palpation der Insertionen am Trochanter.

detailliertes Verständnis der Morphologie der peritrochanteren Bursen ist wichtig für die Bestätigung einer Diagnostik durch Palpation sowie Therapie, z. B. mit lokalen Infiltrationen. Dunn et al. (2003) haben in einer Studie die morphologischen Zusammenhänge und Positionen der verschiedenen peritrochantären Bursen an 21 Leichen untersucht. Sie konnten insgesamt 121 Bursen an 10 verschiedenen Stellen lokalisieren. Neben den vielen Variationen konnte aber immer eine Bursa zwischen dem Trochanter major und dem M. gluteus maximus bzw. dem Tractus iliotibialis beobachtet werden. Meistens wurde auch eine Bursa zum M. gluteus minimus entdeckt. Eine Bursitis kann gut mit direktem Druck gegen den Trochanter, vor allem in Seitenlage, bestätigt werden. Die IAOM (International Academy of Orthopedic Medicine) differenziert nach eigenen Erkenntnissen Insertionstendopathien und Bursitiden mit direkter provokativer Palpation in verschiedenen Positionen des Hüftgelenkes. Der Beginn ist in der ASTE Seitenlage (ohne Abbildung). ● Die schmerzhafte Stelle auf dem Trochanter wird palpatorisch gesucht. ● Die Palpation wird mit aktiver Abduktion wiederholt. Bleibt die Schmerzintensität unter Abduktion konstant, handelt es sich um eine Insertionstendopathie, nimmt sie ab, dann um eine Bursitis trochanterica. Die Insertionstendopathie kann mit großflächigen queren Fingerfriktionen auf dem Trochanter behandelt werden (▶ Abb. 5.17). Die seitliche Gesäßregion wird häufig von Patienten als schmerzhaft angegeben. Dabei lässt sich primär nicht herausfinden, ob es sich dabei um Beschwerden handelt, die auch in der Region verursacht werden. Sehr häufig sind diese Angaben eine Folge fortgeleiteter oder projizierter Schmerzen mit weiter proximal liegenden Schmerzgeneratoren. Neben einer fundierten Funktionsprüfung ist hier die lokale Palpation mit provokativer Zielsetzung sehr hilfreich, um den Punkt der Schmerzentstehung genau zu klären.

5.3 Lokale Palpation dorsal

5.3 Lokale Palpation dorsal 5.3.1 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen ● ● ●

pelvitrochantäre Lücke Tuber ischiadicum ischiokrurale Muskelbäuche und Ursprungssehne

5.3.2 Kurzfassung des Palpationsganges Im Folgenden wenden wir uns einer weiteren leicht auffindbaren ossären Struktur zu, dem Tuber ischiadicum (oder auch Tuber ossis ischii). Es ist ein wichtiger Fixpunkt für starke Ligamente, die mithelfen, das SIG zu sichern (Lig. sacrotuberale), sowie für kräftige Extensoren (ischiokrurale Muskeln). Die sehnigen Anteile dieser Muskeln konvergieren zum Tuber und sind vor der Insertion als große gemeinsame Sehne spürbar.

ASTE Der Proband befindet sich in Bauchlage, d. h., die Arme liegen dem Körper an und die Sprunggelenke können auf einer Fußrolle gelagert werden. Einer Modifikation der Bauchlage bedarf es nur bei Patienten mit Beschwerden der Hüftgelenke oder der LWS. Zur Palpation der ischiokruralen Ursprungssehne kann es von Vorteil sein, den Patienten in Seitenlage mit flektierten Hüftgelenken zu bringen.

5.3.3 Palpation einzelner Strukturen Breite der pelvitrochantären Lücke Der Raum zwischen dem Trochanter major und dem Tuber ischiadicum wird sowohl in Anatomiebüchern als auch an den üblichen Modellen viel zu groß dargestellt.

Bei einem rotationsneutral gelagerten Bein ist er jedoch nur 2–3 Finger breit. Diese Lücke wird bei Außenrotation noch erheblich verschmälert. Wie bereits besprochen, liegen hier die pelvitrochantären Muskeln sowie der etwa daumenbreite N. ischiadicus (▶ Abb. 5.18).

Technik Von der letzten Technik ausgehend, wird eine Hand gedreht und 2 Finger mit deutlichem Druck in die Weichteile an der Rückseite des Trochanter major gedrückt. Nun bestätigt man die richtige Lokalisation und die Nachbarschaft zu den knöchernen Strukturen mit Konsistenzprüfung. Mit einem Finger drückt man gegen den Rand des Trochanters, mit dem anderen in Richtung Tuber. In beiden Fällen ist mit einer harten, knöchernen Antwort zu rechnen.

5

Tuber ischiadicum Als Tuber ischiadicum wird die apophysäre Auftreibung der Rückseite des Os ischium zwischen seinem Korpus und Ramus bezeichnet. Insgesamt ist er nach posterior gerichtet, sodass man lediglich beim „schlampigen“ Sitzen Gewicht über ihn auf die Unterlage abgibt. Bei einem vertikalen Becken ist das Tuber in seiner Längsachse von inferior-medial nach superior-lateral ausgerichtet. Von medial wird sein kompletter Rand als Insertion des Lig. sacrotuberale genutzt und sein lateraler Rand liegt am Ursprung vom M. quadratus femoris. Die Verteilung der Insertionssehnen und die Lage der Bursa ischioglutealis (Bursa ischiadica) sind enorm variantenreich. Anteile der Sehnen können auch ohne tuberale Insertionen direkt in das Lig. sacrotuberale übergehen. Der M. adductor magnus inseriert vorwiegend an dem nach ventral anschließenden Ramus ischiopubicus (Windisch et al. 2017).

Technik 1. Variante: Von der Rückseite des Trochanter major fällt der palpierende Finger in eine pelvitrochantäre Grube, die etwa zwei Fingerbreit ist und medial vom lateralen Rand des Tubers begrenzt wird (Kap. 9). In dieser Lücke befinden sich der M. quadratus femoris und der N. ischiadicus, der hart am Tuberrand entlangläuft und ggf. dort auch pathologisch entlang reibt. 2. Variante: Mit einem Gabelgriff (Daumen medial) verfolgt der Therapeut die quere Gesäßfalte nach medial, bis der Daumen gegen den Tuber anstößt (▶ Abb. 5.19). Maßgeblich für die Palpation ist zunächst die Spitze des Tubers.

Abb. 5.18 Darstellung der pelvitrochantären Lücke.

139

Hüft- und Leistenregion

Abb. 5.19 Palpation des Tuber ischiadicum.

Palpation der Aktivität des Beckenbodens Von den erreichbaren kaudalen Anteilen des Tubers kann eine Beckenbodenaktivität gespürt werden, ohne der Analregion zu nahe zu kommen.

Technik Zur Palpation der Aktivität an der rechten Seite stellt sich der Therapeut auch neben die rechte Körperseite des Probanden. Empfohlen wird eine flächige Technik mit den Fingerkuppen. Vom Tuber aus werden die Fingerkuppen nach medial geführt und folgen dabei den knöchernen Konturen. Werden die Fingerbeeren festelastisch gebremst, so befindet man sich palpatorisch auf dem Beckenboden. Dies wird durch eine entsprechende Aktivität bestätigt. Durch das Anspannen der Muskulatur (M. levator ani) werden die Fingerbeeren nach dorsal herausgedrückt.

Hinweis zur Pathologie Diese Palpation eignet sich als Feedbackmethode im Rahmen der Anleitung von Patienten zur Stimulation bzw. Kräftigung der Beckenbodenmuskeln. Patienten können diese taktile Bestätigung auch bei Eigenübungen umsetzen.

Ischiokrurale Muskelbäuche und Ursprungssehne Ziel ist es, die Abgrenzungen der Muskulatur sowie deren Insertion zu spüren. Unter muskulärer Arbeit in Knieflexion gegen einen Widerstand werden die Muskelbäuche deutlich (▶ Abb. 5.20).

140

Abb. 5.20 Darstellung der Muskelbäuche der Mm. ischiocrurales.

Technik – Muskelbäuche Unter anhaltender oder rhythmischer Aktivität lassen sich die Ränder gut ertasten. So erkennt man deutlich, dass die Muskeln auf der Oberschenkelrückseite keinen geraden, sondern einen schrägen Verlauf haben. Ihre Richtung weicht nach proximal und medial zum Tuber ischiadicum hin.

Tipp Da die Muskeln in Bauchlage von proximal angenähert sind, sollte man das Knie nicht zu ausgiebig flektieren und die Aktivität nicht zu stark werden lassen. Es besteht die Gefahr eines Muskelkrampfes. Will man Tendopathien oder Insertionstendopathien durch erhebliche Aktivität provozieren, so bietet sich als ASTE eine Bauchlage mit den Beinen im Überhang an. Hier kann die Aktivität in Knieflexion aus Hüftflexion heraus erfolgen. Die Mm. ischiocrurales sind somit proximal vorgedehnt, besser zu provozieren und krampfen nicht so leicht.

Nach lateral werden die Muskeln – hier vor allem der M. biceps femoris – vom Vastus lateralis des M. quadriceps femoris begrenzt. Dies ist umso erstaunlicher, da man den Vastus eher anterior als posterior am Oberschenkel erwartet. In Realität liegt der M. quadriceps nicht nur anterior bzw. lateral unter dem Tractus iliotibialis, sondern auch sehr weit posterior.

Technik – Ursprungssehne Die Ränder der Muskeln lassen sich nach proximal gut verfolgen. Sie laufen zu einem Caput commune zusammen und sind daher auch nicht mehr zu differenzieren. Diese gemeinsame Ursprungssehne inseriert eher an der

5.3 Lokale Palpation dorsal

Abb. 5.21 Palpation des Caput commune – Variante 1.

5

Abb. 5.23 Querfriktion des Caput commune.

Therapeutische Hinweise Die ischiokruralen Muskeln können, vor allem bei Sportlern mit muskulären Verletzungen, Insertionstendopathien oder Tendopathien, in Insertionsnähe durch einen lokalen Schmerz auffallen. Die lokale Palpation sichert das gezielte Aufsuchen der lädierten Struktur. Querfriktionen, zur Provokation oder therapeutisch eingesetzt, werden dann bevorzugt in einer Seitenlage durchgeführt. Askling konnte 2007 zeigen, dass Verletzungen der ischiokruralen Muskulatur sportartspezifisch unterschiedlich sind und die Verletzungshöhe mit der Dauer der Rehabilitation zusammenhängt (Askling u. Thorstensson 2007). Superiore Verletzungen (1–3 cm inferior des Tubers bei Tänzern) hatten eine längere Rehabilitationsdauer als inferiore Verletzungen (7–10 cm inferior des Tubers bei Sprintern). Palpation einer Verletzungshöhe kann nach Asklings Auffassung bereits Hinweise auf die Rehabilitationsdauer geben.

Technik Abb. 5.22 Palpation des Caput commune – Variante 2.

superioren Hälfte des Tubers, direkt medial des N. ischiadicus. Die Sehne selbst lässt sich mit Daumen und Zeigefinger (Variante 1, ▶ Abb. 5.21) oder mit beiden Händen (Variante 2, ▶ Abb. 5.22) von dem umliegenden eher weichen Gewebe palpatorisch abgrenzen.

Tipp Sollte eine Aktivität des M. gluteus maximus die Palpation stören, kann man diesen durch die Aufforderung, das Knie gegen die Bank zu drücken, reziprok hemmen.

Als Ausgangsposition wählt man in Seitenlage eine deutliche Hüftflexion, um die Ursprungssehne etwas vorzuspannen. Dadurch erhält die Querfriktion ein stabiles Widerlager. Gegebenenfalls müssen die Kniegelenke noch etwas gestreckt werden. Die palpierende Hand orientiert sich vom Tuber aus nach distal und verabreicht quere Friktionen, die ihre Druckbetonungen von medial nach lateral haben. Es ist ratsam, die friktionierende Hand mit der zweiten, freien Hand zu beschweren (▶ Abb. 5.23). Dies macht die Durchführung der Technik weniger ermüdend.

141

Hüft- und Leistenregion

5.4 Lokale Palpation ventral 5.4.1 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen Zur Orientierung wird diese Region in 2 Dreiecke eingeteilt. Die Begrenzung, aber auch die Inhalte dieser Dreiecke werden gezielt aufgesucht. Trigonum femorale laterale (Begrenzungen und Inhalt): ● M. sartorius ● M. tensor fasciae latae ● Sehne des M. rectus femoris ● Spina iliaca anterior inferior (SIAI) Trigonum femorale mediale (Begrenzungen): M. sartorius ● M. adductor longus ● Lig. inguinale

Strukturen in der Tiefe werden mithilfe von Leitstrukturen und Muskelaktivität aufgesucht. Die Palpation des medialen Oberschenkeldreiecks folgt. Auch hier werden zunächst die Begrenzungen gesucht und anschließend die Strukturen im Inneren des Dreiecks (z. B. ein Nerv- und Gefäßbündel) palpiert.

ASTE Der Proband befindet sich in neutraler Rückenlage. Die Kniegelenke sind mit einer Rolle unterlagert, die Arme liegen entspannt dem Körper an. Der Proband sollte zweckmäßig entkleidet sein, damit seine Leistenregion gut zugänglich ist. Für die Bestätigungen einiger Lokalisationen wird es notwendig sein, das Hüftgelenk aktiv oder passiv zu flektieren oder zu rotieren.



5.4.2 Kurzfassung des Palpationsganges Die lokale Palpation ventral in der Hüftregion dient vor allem dem Aufsuchen von Weichteilstrukturen, d. h. von Muskelbäuchen und ihrer Insertionen, die besondere klinische Bedeutung haben. Der Palpationsgang beginnt am lateralen Oberschenkeldreieck (▶ Abb. 5.24). Die begrenzenden Muskeln werden dargestellt und deren Ränder genau abgegrenzt. Die

5.4.3 Palpation einzelner Strukturen Trigonum femorale laterale Das laterale Oberschenkeldreieck wird von folgenden Strukturen begrenzt: ● lateraler Rand des M. sartorius ● vorderer Rand des M. tensor fasciae latae Es handelt sich hier eigentlich nicht um ein „Dreieck“, sondern um eine nach kranial gerichtete Pfeilspitze (▶ Abb. 5.25). Die dritte, inferiore Begrenzung zum Dreieck fehlt. Die wichtigste ossäre Struktur ist die SIAS, die an der Pfeilspitze liegt.

M. tensor fasciae latae

Trigonum femorale lat.

Tractus iliotibialis

M. sartorius

M. rectus femoris

Abb. 5.24 Trigonum femorale laterale.

142

Abb. 5.25 Zeichnung des Trigonum femorale laterale.

5.4 Lokale Palpation ventral

M. sartorius Der wichtigste Muskel, welcher hier zur Orientierung dient, ist der M. sartorius. Er teilt durch seinen diagonalen Verlauf am Oberschenkel das laterale von dem medialen Dreieck ab. Ohne muskuläre Aktivität lassen sich die Ränder dieser Muskeln selten erkennen. Daher wird zur Darstellung der Muskelbegrenzungen, beim M. sartorius reicht das bis etwa Mitte des Oberschenkels, entsprechende Aktivität des einzelnen Muskels gefordert. Die Mm. sartorius und tensor fasciae latae sind Flexoren des Hüftgelenkes und daher auch mit einer Aktivität in Hüftflexion darzustellen. Hierzu fordert man den Probanden auf, das Bein aus der Nullposition des Hüftgelenkes leicht anzuheben. Das Kniegelenk kann dabei etwas gebeugt sein. Bei Probanden mit einem normalen Körperfettanteil lassen sich unter anhaltender Hüftbeugeaktivität in der Hüftregion Konturen von 2 Muskeln erkennen. Den M. sartorius hebt man durch eine zusätzliche Außenrotation im Hüftgelenk hervor. Sehr häufig kann man den Muskelbauch mit beiden Rändern bis etwa zur Mitte des Oberschenkels erkennen. Nur bei wirklich mageren Menschen ist sein Verlauf auch in der distalen Hälfte des Oberschenkels sichtbar (▶ Abb. 5.26).

Sein medialer Rand begrenzt das Trigonum femorale mediale, sein lateraler Muskelrand das laterale femorale Dreieick (▶ Abb. 5.27). Nun wird der laterale Rand des M. sartorius nach proximal verfolgt, bis der palpierende Finger von lateral einen weich-elastischen Gegendruck erhält. Dies ist der vordere Rand des M. tensor fasciae latae (▶ Abb. 5.28).

M. tensor fasciae latae Die Konturen des Oberschenkelbindenspanners (die deutsche Übersetzung des Muskelnamens) werden besonders deutlich, wenn der Proband das flektierte Bein aus der Außen- in die Innenrotation bringt. Der anteriore (mediale) Rand des M. tensor fasciae latae ist recht gut zu spüren. Der posteriore (laterale) verliert sich meistens in der Oberschenkelfaszie (▶ Abb. 5.29). Der Muskelbauch wird zu seinem fleischigen Ursprung verfolgt. Es wird deutlich, dass es sich dabei nicht nur um die SIAS handelt, wie es häufig in den Anatomiebüchern angegeben wird, sondern auch um ein breites Stück der Crista iliaca.

5

Abb. 5.26 M. sartorius – gesamter Verlauf.

Abb. 5.28 Spitze des Trigonum femorale laterale. Abb. 5.27 M. sartorius – Palpation der Muskelränder.

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Hüft- und Leistenregion

Abb. 5.29 Ränder des M. tensor fasciae latae.

Abb. 5.30 Lage der Rektussehne.

M. rectus femoris und Spina iliaca anterior inferior Die Muskelränder des M. tensor fasciae latae und M. sartorius laufen nach kranial, im Sinne eines umgedrehten „V“ oder wie eine Pfeilspitze, zusammen. Die Spitze liegt deutlich inferior und lateral der Spina iliaca anterior superior (SIAS). Der Boden dieses inkompletten Oberschenkeldreiecks wird durch den M. rectus femoris gebildet (▶ Abb. 5.30). An der Stelle, an welcher die Muskelränder des M. tensor fasciae latae und M. sartorius zusammenlaufen, taucht die Ursprungssehne des M. rectus femoris in die Tiefe zur Spina iliaca anterior inferior (SIAI) ab. Um diese Insertion zu erreichen, entspannt man die oberflächigen Weichteile und bringt das zu palpierende Bein passiv in eine Flexion des Hüftgelenkes von ca. 90° und hält dabei den Unterschenkel horizontal (▶ Abb. 5.31). Der Proband muss dabei sein Bein zunächst völlig entspannt hängen lassen. Mit dem Daumen der freien Hand palpiert man mit mäßigem Druck an der Spitze des Dreiecks in die Tiefe. Mit querer Palpation versucht man nun, die Rektussehne ausfindig zu machen, die etwas fester ist als die Umgebung. Der Start der Palpation auf dem M. rectus femoris ist etwa eine Handbreit distal der SIAS. Etwa 5–6 cm distal der Spina taucht der M. rectus femoris

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Abb. 5.31 Palpation der Ursprungssehne des M. rectus femoris.

5.4 Lokale Palpation ventral

Lig. inguinale

Trigonum femorale mediale M. sartorius M. adductor longus

5

Abb. 5.33 Trigonum femorale mediale.

Abb. 5.32 Palpation der Spina iliaca anterior inferior (SIAI).

● ● ●

in die Tiefe unterhalb des M. sartorius ab und trifft auf die Insertion an der inferioren Spina ca. 4 cm distal und medial der SIAS (▶ Abb. 5.32).

● ● ● ●

Lig. inguinale N. cutaneus femoris lateralis Nerv-Gefäß-Bündel M. iliopsoas, Bursa iliopectinea M. pectineus Tuberculum pubicum M. gracilis

Tipp Man findet die Sehne sofort, wenn der Proband ganz leichte rhythmische Kniestreckungen einbringt, indem er den Fuß etwas nach oben kickt. So bleiben die umgebenden Hüftflexoren entspannt, stören die Palpation nicht und ausschließlich der M. rectus femoris ist aktiv. Hat man die Sehne gefunden, verfolgt man sie in die Tiefe zur inferioren Spina. Dort ist man angelangt, wenn man einen ossären Widerstand spürt. Drückt man etwas flächiger, aber mit deutlichem Druck gegen die Spina, müsste sich das ganze Becken etwas bewegen.

Trigonum femorale mediale Übersicht über die zu palpierenden Strukturen ▶ Abb. 5.33 und ▶ Abb. 5.34 ● M. sartorius ● M. adductor longus ● Spina iliaca anterior superior (SIAS)

M. sartorius Wiederum ist der M. sartorius eine bestimmende Struktur zur Orientierung im medialen Oberschenkeldreieck. Man stellt den Muskel dar (▶ Abb. 5.27) und verfolgt unter fortwährender Aktivität seinen medialen Rand so weit wie möglich nach distal, mindestens bis zur Mitte des Oberschenkels.

M. adductor longus Der Proband beugt das Knie mäßig an und lässt es anschließend in ca. 45° Abduktion des Hüftgelenkes sinken. Wenn der Proband das Bein in dieser Position hält, arbeiten alle Adduktoren isometrisch. Derjenige Muskel, der aus dieser Gruppe am deutlichsten hervortritt, ist der M. adductor longus (▶ Abb. 5.35). Der anteriore Rand des M. adductor longus ist die maßgebliche Begrenzung für das mediale Trigonum.

145

Hüft- und Leistenregion

Tipp Sollte diese Aktivität nicht ausreichen, um den Muskelbauch zu sehen oder zu spüren, kann man noch zusätzlich einen Kontakt medial am Kniegelenk geben und den Probanden isometrisch gegen die Hand anspannen lassen. Dies müsste ausreichen, um den Muskel in seiner Ausdehnung deutlich zu machen.

Spina iliaca anterior superior, Lig. inguinale, N. cutaneus femoris lateralis

Abb. 5.34 Darstellung des medialen Oberschenkeldreiecks.

Abb. 5.35 Muskelränder des M. adductor longus.

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Die proximale Begrenzung des Dreiecks wird durch den Verlauf des Leistenbandes (Lig. inguinale) verdeutlicht. Das Band reicht von der SIAS zum Tuberculum pubicum, welches der Symphyse kraniolateral aufsitzt. Das Leistenband ist eine Verschmelzung von mehreren Faszien, sodass bei dem Versuch einer queren Palpation der deutliche Rand der Struktur fehlt. Die Differenzierung zwischen der SIAS und dem Band erfolgt bevorzugt durch Abgrenzung zur SIAS und mit Konsistenzprüfung. Die Palpation kann mit einer Finger- oder, wie hier dargestellt, mit einer Daumenbeere erfolgen. Man beginnt im „sicheren Terrain“, auf der Crista iliaca, und verfolgt diese mit einer queren Palpation nach distal und medial. Solange man mit dem Daumen auf der Crista oder der Spina liegt, ergibt sich das Gefühl einer runden Struktur, die auf direkten Druck knöchern hart antwortet (▶ Abb. 5.36 und ▶ Abb. 5.37). Rutscht man mit dem Daumen von der Spina herunter, stellt sich das Gefühl einer flachen Palpation ein, mit einer elastischen Konsistenz auf direkten Druck. Jetzt kann man die SIAS von distal anhaken und den Beginn des inguinalen Bandes verdeutlichen (▶ Abb. 5.38 und ▶ Abb. 5.39). Direkt medial der SIAS und inferior des Leistenbandes ist es möglich, den N. cutaneus femoris lateralis in seinem Verlauf in Richtung Oberschenkel als dünnen Strang (ca. 3 mm Durchmesser) quer zu palpieren. Seine Lage zu den knöchernen Referenzpunkten wird in der Literatur mit einem Abstand von ca. 0,7–1,6 cm von der SIAS angegeben (Dias Filho et al. 2003, Doklamyai et al. 2008), von der Femoralarterie liegt er ca. 5–6 cm entfernt. Hat man ihn lokalisiert, rollt er bei querer Palpation unter der Fingerspitze hin und her. Er begleitet den M. iliacus und unterquert das Leistenband sehr weit lateral. An der SIAS winkelt er zum lateralen Oberschenkel ab, den er anterior-lateral in einem handbreitgroßen Areal sensibel versorgt (Trepel 2004, S. 38). Der Verlauf und seine Verästelung sind aber sehr variabel (Doklamyai et al. 2008), sodass es gut möglich ist, den Nerv nicht oder an einer etwas anderen Stelle zu finden. Infolge lang anhaltender Kompressionen in der lateralen Leistenregion kann es immer wieder zu Irritationen kommen (Meralgia paraesthetica).

5.4 Lokale Palpation ventral

5

Abb. 5.36 Palpation auf der SIAS in vivo.

Abb. 5.38 Palpation auf dem Lig. inguinale in vivo.

Abb. 5.37 Palpation auf der SIAS (Zeichnung).

Abb. 5.39 Palpation auf dem Lig. inguinale (Zeichnung).

Im „Boden“ des medialen femoralen Dreiecks befinden sich die o. g. besonderen Strukturen, deren Auffinden nun beschrieben wird.

Nervus, Arteria und Vena femoralis Die A. femoralis ist diejenige Struktur, die zur weiteren Orientierung innerhalb des medialen Schenkeldreiecks geeignet ist. Von ihr aus sind die weiteren Anteile des Nerv-Gefäß-Bündels sowie weitere Muskeln aufzufinden (▶ Abb. 5.40). Ihr Verlauf innerhalb des Oberschenkeldreiecks reicht von der Mitte des Lig. inguinale zur Spitze des medialen Schenkeldreiecks. Dem Therapeuten gibt sie eine Vorstellung über die Lage des Caput femoris. Die mediale

Seite des Hüftgelenkes liegt direkt unter dem Gefäß. Das Zentrum des Femurkopfes liegt zwischen 15 und 24 mm lateral der Arterie (Sawant et al. 2004). Folgendes Vorgehen führt zur gleichen Lokalisation: Die inguinale Linie (SIAS – Tuberculum pubicum) wird gemittelt und davon wird eine Linie 2,5 cm rechtwinklig nach inferior und lateral verfolgt. Zur Palpation werden eine oder mehrere Fingerbeeren flach und mit wenig Druck auf die Mitte des Leistenbandes gelegt (▶ Abb. 5.41). Recht bald erfährt eine Fingerbeere die rhythmische Pulsation der Arterie. Die topografische Anatomie gibt jetzt vor, dass direkt lateral davon der Nervus und direkt medial davon die Vena femoralis liegen müssen.

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Hüft- und Leistenregion

Abb. 5.40 Nervus, Arteria und Vena femoralis im Trigonum femorale mediale.

Abb. 5.42 Erreichbarkeit des M. iliopsoas.

Abb. 5.41 Palpation der Arteria femoralis.

Abb. 5.43 Palpation des M. pectineus.

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5.4 Lokale Palpation ventral

M. iliopsoas und Bursa iliopectinea Lateral des Nerv- und Gefäßbündels, in dem lateralen superioren Winkel des medialen Oberschenkeldreiecks, ist ein Teil des M. iliopsoas erreichbar. Der Winkel wird bestimmt durch das Lig. inguinale und den medialen Rand des M. sartorius. Dort platziert man den palpierenden Daumen. Durch eine Hüftflexion werden Trochanter minor und der Muskelbauch des M. psoas major nach anterior gebracht und somit ist der Muskel erreichbar. Generell ist eine etwa 45°Flexion ausreichend, der Fuß kann auf der Bank aufstützen und der Oberschenkel wird passiv stabilisiert. Die Technik ist mit diesen Parametern mit der ▶ Abb. 5.42 vergleichbar. Direkt darunter befindet sich die Bursa iliopectinea, die auf der Eminentia oder Protuberantia iliopectinea liegt und durch Druck in die Tiefe nur mittelbar lokalisiert werden kann. Bei einer Bursitis ist sie hier druckdolent. Wiederum darunter befindet sich die Kapsel des Hüftgelenkes.

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M. pectineus Im weiteren Anschluss an das Nerv- und Gefäßbündel nach medial kann die proximale Insertion des M. pectineus direkt am scharfen Rand des Pecten ossis pubis palpiert werden. Hierzu proniert man den Unterarm und wendet die palpierende Fingerbeere gegen den oberen Ast des Os pubis. Die Druckrichtung ist grob zur kontralateralen SIAS des Probanden. Optimal ist die Technik, wenn der Finger parallel zum Leistenband ausgerichtet wird. Die Palpation erfolgt mit einer flächigen Friktion von medial nach lateral (▶ Abb. 5.43).

Tipp Da der palpatorische Druck häufig als recht unangenehm empfunden wird, sollte die Technik daher mit vorsichtiger Dosierung vorgenommen werden. Diese Technik kann, wie alle dargestellten muskulären Palpationen, sowohl zur Schmerzprovokation als auch zur Behandlung einer Tendinitis eingesetzt werden.

Tuberculum pubicum, Mm. adductor longus und brevis Der M. adductor longus kann sowohl an der proximalen Insertion, an der Sehne als auch am Muskel-SehnenÜbergang irritiert sein. Zunächst wird die proximale Insertion des M. adductor longus am Tuberculum pubicum aufgesucht. Hierzu wird der palpierende Finger vom Pecten ossis pubis etwas weiter nach medial geführt (▶ Abb. 5.44). Das Tuberculum pubicum liegt an der kranialen Begrenzung der Symphysis pubica. Es ist als große deutliche Erhebung in jeder Richtung abgrenzbar. Die Sehne des Adduktors hat ihre proximale Fixation am Unterrand des Tuberkulums. Man erreicht die Insertion bei entspannter Muskulatur. Der palpierende Finger wird

Abb. 5.44 Palpation des Tuberculum pubicum.

mit proniertem Unterarm und etwas Druck (in Richtung gegenüberliegende SIAS) gegen das Tuberkulum geführt. Eine querreibende Technik übt den Druck nach superiormedial und die Bewegung von posterior nach anterior aus. Zur Bestätigung der richtigen Lokalisation benutzt man Muskelaktivität. Unter Anspannung wird der palpierende Finger von der Insertion weggedrückt. Sollte die Insertionssehne als rundliche Struktur nicht direkt auffindbar sein, kann man auch den Muskelbauch des M. adductor longus mit oben beschriebener Technik darstellen (▶ Abb. 5.45) und nach proximal zur Insertion verfolgen. Die Insertionssehne, als Variante auch zweigeteilt angelegt, sowie der Muskel-Sehnen-Übergang sind deutlich voneinander differenzierbar. Die Konsistenz des MuskelSehnen-Überganges ist im Vergleich zur Sehne noch recht weich, während die Sehne den deutlich festen Gegendruck einer gestrafften kollagenen Struktur bietet. Die Lage des Muskelbauchs ist bereits durch die vorangegangene Abgrenzung des medialen Oberschenkeldreiecks bekannt. Der M. adductor brevis lässt sich in der Grube posterior der Sehne des M. adductor longus mit Druck in die Tiefe erreichen (ohne Abbildung). Von hier aus kann man ihm zu seiner Insertion folgen, die in Bezug zur Insertion des M. adductor longus etwas weiter anterior liegt.

M. gracilis Um die Lage und den Verlauf des M. gracilis von Lage und Verlauf des M. adductor longus zu differenzieren, stellt man zunächst den Muskelbauch des M. adductor longus (▶ Abb. 5.45) dar.

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Hüft- und Leistenregion

Abb. 5.45 Ränder des M. adductor longus.

Abb. 5.46 Ränder des M. gracilis.

Hierzu hält der Proband das flektierte und nach außen fallende Bein mit isometrischer Aktivität. Die Ränder des Muskelbauchs des M. adductor longus lassen sich wieder gut gegenüber der weichen Umgebung abgrenzen (▶ Abb. 5.45). Nachfolgend fordert man den Probanden auf, seine Ferse in die Unterlage (und in Richtung Gesäß) zu drücken. Hierdurch muss der M. gracilis in seiner Funktion als Knieflexor anspannen (▶ Abb. 5.46). Der nun deutlich hervortretende Muskelbauch ist wiederum bis zur Insertion am Unterrand der Symphyse bis zum inferioren Ramus zu verfolgen. Die Querfriktion an der Grazilisinsertion wird in gleicher Technik wie beim M. adductor longus (mit mehr Fläche) durchgeführt.

Tipp Abb. 5.47 Differenzierungstest Symphysenpathologie.

Sollte diese Methode keine eindeutige Lokalisation des M. gracilis ermöglichen, macht man sich erneut das Prinzip der reziproken Hemmung zunutze. Zunächst lässt man das in Knie- und Hüftgelenk leicht flektierte Bein nach außen sinken und gibt einen leichten Widerstand am lateralen Kniegelenk. Hierdurch muss der Proband eine Aktivität in Richtung Abduktion entwickeln, wodurch alle Adduktoren reziprok gehemmt werden. Nun fordert man den Probanden erneut zur Kniebeugeaktivität (mit seiner zweiten Funktion im benachbarten Kniegelenk) auf. Jetzt tritt der Muskelbauch des M. gracilis gegenüber seiner Umgebung deutlich heraus.

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Tipp zur topografischen Anatomie Die Äste des Os pubis werden von den Adduktoren hufeisenförmig als Ursprungsfläche genutzt. Um sich die Lage ihrer proximalen Insertionen einprägen zu können, benutzt man gerne den Begriff „Pelogram“ als Eselsbrücke. „Pe“ steht für M. pectineus, „lo“ für M. adductor longus, „gra“ für M. gracilis, „M“ für M. adductor magnus. Nur der M. adductor brevis ist hier nicht berücksichtigt.

5.5 Literatur

Therapeutische Hinweise Alle Palpationen der Muskelbäuche und deren Insertionen kann man zur Differenzierung innerhalb der Befunderhebung nutzen, nachdem durch Widerstandstest der Adduktion diese Muskeln als Schmerzgeneratoren infrage kommen. Diese Techniken lassen sich aber auch bei der entsprechenden Weichteilpathologie (z. B. Insertionstendopathien) therapeutisch als Cyriax’sche Querfriktion einsetzen. An eine Tendopathie oder Insertionstendopathie ist aber wirklich erst dann zu denken, wenn man die mögliche Beteiligung der Symphyse ausgeschlossen hat. Das Schmerzwahrnehmungsgebiet einer Irritation der Symphysis pubica kann nicht nur den Symphysenbereich selbst betreffen, sondern auch in den Unterbauch, die Genital- und Analregion sowie die Adduktoren reichen. Es empfiehlt sich daher, einen positiven Widerstandstest in Adduktion und ggf. Flexion des Hüftgelenkes mit einer festen Gurtanlage um das Becken zu wiederholen (▶ Abb. 5.47). Hierzu eignen sich zunächst gewöhnliche Fixationsgurte wie für die Manuelle Therapie. Der Widerstandstest, der ohne Gurt positiv war und einen Leistenschmerz oder einen „Adduktorenschmerz“ ergeben hat, wird mit Gurtanlage wiederholt. Sollte die Wiederholung des Tests einen deutlich geringeren Schmerz ergeben, liegt die Vermutung nahe, dass die Symphyse oder ggf. ein sakroiliakales Gelenk Ursache der Beschwerden sind.

5.5 Literatur Askling C, Thorstensson A. Acute harmstrings strains involving the proximal free tendon attachement to the ischial tuberosity are associated with prolonged rehabilatation time. Barcelona 6th Interdisciplinary Word Congress on Low Back & Pelvic Pain; 2007 Barratt PA, Brookes N, Newson A. Conservative treatments for greater trochanteric pain syndrome: a systematic review. Br J Sports Med 2017; 51: 97–104 Chung CY, Lee KM, Park MS et al. Validity and reliability of measuring femoral anteversion and neck-shaft angle in patients with cerebral palsy. J Bone Joint Surg Am 2010; 92: 1195–1205 Dias Filho LC, Valença MM, Guimarães Filho FA et al. Lateral femoral cutaneous neuralgia: an anatomical insight. Clin Anat 2003; 16: 309–316 Doklamyai P, Agthong S, Chentanez V et al. Anatomy of the lateral femoral cutaneous nerve related to inguinal ligament, adjacent bony landmarks, and femoral artery. Clin Anat 2008; 21: 769–774 Dunn T, Heller CA, McCarthy SW et al. Anatomical study of the ‘trochanteric bursa’. Clin Anat 2003; 16: 233–240 Lampert C. Läsionen des Lig. capitis femoris Pathologie und Therapie. Arthroskopie 2009; 22: 293–298 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie, Rücken. Berlin: Springer; 2004 Matthijs O, van Paridon-Edauw, D, Winkel D. Manuelle Therapie der peripheren Gelenke, Bd. 3: Hüfte, Knie, Sprunggelenk, Fuß und Knorpelgewebe. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2003 Meissner A. Biomechanical investigation of the pubic symphysis. Unfallchirurg 1996; 6: 415–421 Mens JM, Vleeming A, Snijders CJ et al. The active straight leg raising test and mobility of the pelvic joints. Eur Spine J 1999; 8: 468–73 Mercer SR, Woodley SJ, Kennedy E. Anatomy in practice? the sacrotuberous ligament. NZ J Physiother 2005; 33: 91–94 Pfirrmann CW, Chung CB, Theumann NH et al. Greater trochanter of the hip: attachment of the abductor mechanism and a complex of three bursae– MR imaging and MR bursography in cadavers and MR imaging in asymptomatic volunteers. Radiology 2001; 221: 469–477 Puranen J, Orava S. The hamstring syndrome–a new gluteal sciatica. Ann Chir Gynaecol 1991; 80: 212–214 Rudorff von KD. Orthopädie für Physiotherapeuten. Steinfurt: Internationale Medizinische Akademie Steinfurt (IMAS) e. V.; 2007 Ruwe PA, Gage JR, Ozonoff MB et al. Clinical determination of femoral anteversion. A comparison with established techniques. J Bone Joint Surg Am 1992; 74: 820–830 Sawant MR, Murty A, Ireland J. A clinical method for locating the femoral head centre during total knee arthroplasty. Knee 2004; 11: 209–12 Schneider B, Laubenberger J, Jemlich S et al. Measurement of femoral antetorsion and tibial torsion by magnetic resonance imaging. Br J Radiol 1997; 70: 57–59 Spomedial. Belastung und Beanspruchung des Stütz- und Bewegungsapparates im Fußball. 2009. Im Internet: http://vmrz0100.vm. ruhr-uni-bochum.de/spomedial/content/e866/e2442/e12729/e12752/ e12754/e12788/index_ger.html; Stand: 16.10.2017 de Tavares Canto RS. Femoral Neck Anteversion: A Clinical vs Radiological Evaluation. Acta Ortop Bras 2005; 13: 171–174 Tönnis D, Legal H. Die angeborene Hüftdysplasie und Hüftluxation im Kindes- und Erwachsenenalter: Grundlagen, Diagnostik, konservative und operative Behandlung. Heidelberg: Springer; 1984 Trepel M. Neuroanatomie. Struktur und Funtion. München: Urban & Fischer Verlag bei Elsevier; 2004 Windisch G, Dolcet C, Auer B et al. Anatomy of the ischial tuberosity [unveröffentl.]. Graz: Institut für makroskopische und klinische Anatomie der Universität Graz; 2017

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5.5 Literatur

Therapeutische Hinweise Alle Palpationen der Muskelbäuche und deren Insertionen kann man zur Differenzierung innerhalb der Befunderhebung nutzen, nachdem durch Widerstandstest der Adduktion diese Muskeln als Schmerzgeneratoren infrage kommen. Diese Techniken lassen sich aber auch bei der entsprechenden Weichteilpathologie (z. B. Insertionstendopathien) therapeutisch als Cyriax’sche Querfriktion einsetzen. An eine Tendopathie oder Insertionstendopathie ist aber wirklich erst dann zu denken, wenn man die mögliche Beteiligung der Symphyse ausgeschlossen hat. Das Schmerzwahrnehmungsgebiet einer Irritation der Symphysis pubica kann nicht nur den Symphysenbereich selbst betreffen, sondern auch in den Unterbauch, die Genital- und Analregion sowie die Adduktoren reichen. Es empfiehlt sich daher, einen positiven Widerstandstest in Adduktion und ggf. Flexion des Hüftgelenkes mit einer festen Gurtanlage um das Becken zu wiederholen (▶ Abb. 5.47). Hierzu eignen sich zunächst gewöhnliche Fixationsgurte wie für die Manuelle Therapie. Der Widerstandstest, der ohne Gurt positiv war und einen Leistenschmerz oder einen „Adduktorenschmerz“ ergeben hat, wird mit Gurtanlage wiederholt. Sollte die Wiederholung des Tests einen deutlich geringeren Schmerz ergeben, liegt die Vermutung nahe, dass die Symphyse oder ggf. ein sakroiliakales Gelenk Ursache der Beschwerden sind.

5.5 Literatur Askling C, Thorstensson A. Acute harmstrings strains involving the proximal free tendon attachement to the ischial tuberosity are associated with prolonged rehabilatation time. Barcelona 6th Interdisciplinary Word Congress on Low Back & Pelvic Pain; 2007 Barratt PA, Brookes N, Newson A. Conservative treatments for greater trochanteric pain syndrome: a systematic review. Br J Sports Med 2017; 51: 97–104 Chung CY, Lee KM, Park MS et al. Validity and reliability of measuring femoral anteversion and neck-shaft angle in patients with cerebral palsy. J Bone Joint Surg Am 2010; 92: 1195–1205 Dias Filho LC, Valença MM, Guimarães Filho FA et al. Lateral femoral cutaneous neuralgia: an anatomical insight. Clin Anat 2003; 16: 309–316 Doklamyai P, Agthong S, Chentanez V et al. Anatomy of the lateral femoral cutaneous nerve related to inguinal ligament, adjacent bony landmarks, and femoral artery. Clin Anat 2008; 21: 769–774 Dunn T, Heller CA, McCarthy SW et al. Anatomical study of the ‘trochanteric bursa’. Clin Anat 2003; 16: 233–240 Lampert C. Läsionen des Lig. capitis femoris Pathologie und Therapie. Arthroskopie 2009; 22: 293–298 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie, Rücken. Berlin: Springer; 2004 Matthijs O, van Paridon-Edauw, D, Winkel D. Manuelle Therapie der peripheren Gelenke, Bd. 3: Hüfte, Knie, Sprunggelenk, Fuß und Knorpelgewebe. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2003 Meissner A. Biomechanical investigation of the pubic symphysis. Unfallchirurg 1996; 6: 415–421 Mens JM, Vleeming A, Snijders CJ et al. The active straight leg raising test and mobility of the pelvic joints. Eur Spine J 1999; 8: 468–73 Mercer SR, Woodley SJ, Kennedy E. Anatomy in practice? the sacrotuberous ligament. NZ J Physiother 2005; 33: 91–94 Pfirrmann CW, Chung CB, Theumann NH et al. Greater trochanter of the hip: attachment of the abductor mechanism and a complex of three bursae– MR imaging and MR bursography in cadavers and MR imaging in asymptomatic volunteers. Radiology 2001; 221: 469–477 Puranen J, Orava S. The hamstring syndrome–a new gluteal sciatica. Ann Chir Gynaecol 1991; 80: 212–214 Rudorff von KD. Orthopädie für Physiotherapeuten. Steinfurt: Internationale Medizinische Akademie Steinfurt (IMAS) e. V.; 2007 Ruwe PA, Gage JR, Ozonoff MB et al. Clinical determination of femoral anteversion. A comparison with established techniques. J Bone Joint Surg Am 1992; 74: 820–830 Sawant MR, Murty A, Ireland J. A clinical method for locating the femoral head centre during total knee arthroplasty. Knee 2004; 11: 209–12 Schneider B, Laubenberger J, Jemlich S et al. Measurement of femoral antetorsion and tibial torsion by magnetic resonance imaging. Br J Radiol 1997; 70: 57–59 Spomedial. Belastung und Beanspruchung des Stütz- und Bewegungsapparates im Fußball. 2009. Im Internet: http://vmrz0100.vm. ruhr-uni-bochum.de/spomedial/content/e866/e2442/e12729/e12752/ e12754/e12788/index_ger.html; Stand: 16.10.2017 de Tavares Canto RS. Femoral Neck Anteversion: A Clinical vs Radiological Evaluation. Acta Ortop Bras 2005; 13: 171–174 Tönnis D, Legal H. Die angeborene Hüftdysplasie und Hüftluxation im Kindes- und Erwachsenenalter: Grundlagen, Diagnostik, konservative und operative Behandlung. Heidelberg: Springer; 1984 Trepel M. Neuroanatomie. Struktur und Funtion. München: Urban & Fischer Verlag bei Elsevier; 2004 Windisch G, Dolcet C, Auer B et al. Anatomy of the ischial tuberosity [unveröffentl.]. Graz: Institut für makroskopische und klinische Anatomie der Universität Graz; 2017

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6.2 Funktionelle Bedeutung des Kniegelenkes

6 Kniegelenk 6.1 Einleitung Die Art. genus ist nicht nur das größte, sondern auch das biomechanisch komplizierteste Gelenk. Es verbindet die längsten Knochen miteinander, hat die größte Gelenkhöhle, das größte Sesambein (die Patella) und die größte Kapsel (Matthijs et al. 2006). Therapeuten müssen sich in der täglichen Praxis häufig mit diesem Gelenk auseinandersetzen. Posttraumatische und postoperative Behandlungen des Gelenkes gehören zum therapeutischen Repertoire nahezu jeder Rehabilitationsklinik oder physiotherapeutischen Praxis. Dieses Gelenk wird vergleichsweise oft operiert. Arthrotische Veränderung der Gelenkflächen und Verletzungen des komplexen Bandapparates und der Menisken sind in der Regel die Anlässe zur operativen Intervention. In Deutschland wurden 2015 allein bei Frauen ca. 108.000 Endoprothesen am Kniegelenk implantiert. Damit rangert allein diese Knie-OP auf Platz 11 der häufigsten Operationen bei Frauen in Deutschland (Statistisches Bundesamt 2017). Neben den entsprechenden Nachbehandlungen, deren Konzepte mittlerweile recht ausgefeilt sind, steht der Therapeut nicht selten traumatischen und nicht traumatischen Beschwerden des Gelenkes gegenüber, die scheinbar zunächst schwierig einzuordnen sind und ein systematisches und technisch sauberes Vorgehen in der Befunderhebung erfordern. Auf der Suche nach der Ursache und Lokalisation der Beschwerden spielt neben der systematischen Befragung und Befundung die zielgerechte Palpation eine zentrale Rolle.

6.2 Funktionelle Bedeutung des Kniegelenkes Ein grundsätzliches Funktionsprinzip der Gelenke der unteren Extremität wird auch hier am Kniegelenk deutlich. Die untere Extremität muss zu einer stabilen Tragesäule verriegelt werden können, verbunden mit einem hohen Maß an Mobilität. Diese Mobilität bedeutet für das Kniegelenk ein enormes Ausmaß an Flexion, womit die Distanz zwischen dem Körper und dem Fuß verringert wird. In so banalen Situationen wie dem Hocken, dem Treppensteigen mit hohen Stufen oder dem Einsteigen in ein Auto wird die Notwendigkeit ausgiebiger Flexion deutlich. Die zweite Form der Mobilität wird durch die Rotation des Kniegelenkes dargestellt. Sie ist allerdings mit der Winkelstellung des Kniegelenkes in Flexion verbunden und aktiv nur im Bewegungsraum zwischen ca. 20° und 130° Flexion möglich. Zwischen 20° Flexion und maximaler Extension verriegelt sich das Kniegelenk mit einer Schlussrotation. In Belastung dreht das Femur bei endgra-

diger Extension in Innenrotation bzw. die Tibia in offener Kette endgradig in Außenrotation. Aktive Rotation in Extensionsendstellung ginge vermutlich zuasten der Stabilität, die gerade in Streckstellung wichtig ist. Die Rotationsmöglichkeit des Fußes ist hauptsächlich auf dem Niveau des Kniegelenkes verankert. Die restliche Rotation findet im Bewegungskomplex aus beiden Sprunggelenken und den transversalen Tarsalgelenken statt. Gerade die Rotationsfähigkeit der Tibia im Kniegelenk stellt besondere Anforderungen an die Konstruktion der Gelenkpartner des Kniegelenkes. Eine axiale Rotation des Unterschenkels im Kniegelenk erfordert eine zentrale Drehsäule (vor allem hinteres Kreuzband), einen flachen Drehteller (proximales Ende der Tibia) und einen nahezu punktuellen Gelenkflächenkontakt. Dieser plane Drehteller bedingt ein hohes Maß an Inkongruenz der Gelenkpartner. Wären die Gelenkflächen der Tibia stärker gewölbt, würde dies die Rotationsfähigkeit behindern. Die Inkongruenz ermöglicht zwar eine einfache Rotation, erschwert aber die Stabilität und Lastübertragung. Zum Ausgleich des punktuellen Kontaktes der Gelenkpartner und der Schmierung der Gelenkflächen funktionieren die Menisken als Ergänzung im Sinne beweglicher Gelenkpfannen. Da die Stabilität hier knöchern nicht dargestellt werden kann, sind es interne und externe Bandstrukturen (Kreuz- und Seitenbänder) sowie Einstrahlungen muskulärer Anteile in die Kapsel (Dynamisierungen), die diese Aufgabe erfüllen (Kraftschluss). All diese Ligamente unterstützen sich in der Funktion gegenseitig (Matthijs et al. 2006). Die Kreuzbänder übernehmen die primäre Sicherung des Gelenkes in Sagittalebene. Diese Funktion ist auch durch Tests in der Sagittalebene überprüfbar: z. B. Schubladentest und Test nach Lachman. Weiterhin kontrollieren sie durch angepasste Spannungsverhältnisse die Arthrokinematik für Flexion und Extension und begrenzen die Innenrotation. Die Aufgabe der Sicherung des Kniegelenkes in der Frontalebene teilen sich die Kollateralbänder und die hintere Kapsel. Die Dynamisierung verschiedener kollagener Strukturen eines Gelenkes ist keine „Erfindung“ des Kniegelenkes, wird aber hier besonders deutlich. Dynamisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Muskeln bzw. ihre Sehnen in Anteile der Kapsel oder der Menisken einstrahlen. Durch ihre Aktivität werden die verschiedenen Kapselanteile gespannt und verstärkt. Die Menisken werden während aktiver Bewegung des Kniegelenkes nicht nur passiv von den Femurkondylen gegenüber der Tibia nach anterior bzw. posterior „gewalzt“, sondern auch durch muskuläre Aktivität mitgeführt.

6

153

Kniegelenk

6.3 Pathologie und häufige therapeutische Tätigkeiten 6.3.1 Auswahl möglicher Beschwerdebilder Sämtliche Varianten von Erkrankungen oder Verletzungen des Kniegelenkes hier aufzuführen, würde den Rahmen und die Zielsetzung des Buches sprengen. Daher sollen nur die wichtigsten Gruppen aufgelistet werden: ● kapsuläre oder nicht kapsuläre Bewegungseinschränkungen ● Laxität bzw. Instabilität ● traumatische und degenerative Meniskuspathologie, Impingement der Meniskushörner ● ligamentäre Verletzungs- oder Überlastungssyndrome ● muskuläre Verletzungs- oder Überlastungssyndrome (inkl. der Sehnen und Insertionen) ● Erkrankungen des Gelenkknorpels femorotibial (z. B. Osteoarthrose oder Osteochondrosis dissecans) ● patellofemorale Beschwerdebilder (z. B. Chondromalazie bzw. „Jung girl’s knee syndrome“)

6.3.2 Häufige therapeutische Tätigkeiten ●





Prüfen und Wiederherstellen der Mobilität bei bestehender Bewegungseinschränkung Verbessern der muskulären Gelenkführung bei Instabilität Behandlung der ligamentären und muskulären Verletzungs- oder Überlastungsbeschwerden

Das häufige Auftreten von Reizungen bzw. Verletzungen an Bandstrukturen, Sehnen und Bursen zeigt sich an der Etablierung eigenständiger Begriffe, wie z. B. „Runner's Knee“ (Tractus-iliotibialis-Friktionssyndrom), „Jumper's Knee“ (Insertionstendopathie des Lig. patellae an der Apex patellae) und „Nonnenknie“ (Bursitis praepatellaris).

6.4 Notwendige topografische und morphologische Vorkenntnisse Das gezielte Aufsuchen der wichtigsten Strukturen des Kniegelenkes und seiner Umgebung bedarf guter anatomischer Vorkenntnisse. Die meisten knöchernen und ligamentären Strukturen sind aus der Ausbildung, dem Studium und beruflicher Praxis bekannt. Wichtig ist das Entwickeln eines räumlichen Vorstellungsvermögens, um die Konstruktion des Gelenkes aus verschiedenen Perspektiven betrachten zu können. Die Komplexität der

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Konstruktion des Kniegelenkes darzustellen, übersteigt die Aufgabe des Buches. Daher werden nachfolgend nur grundlegende Aspekte dargestellt. Die Art. genus unterteilt sich in die Art. femorotibialis und Art. patellofemoralis.

6.4.1 Femorotibiale Gelenkkonstruktion Embryologisch entwickelt sich das Kniegelenk aus 2 Anteilen: mediales und laterales Kompartiment. Die ursprüngliche synoviale Trennwand geht im Laufe der Entwicklung zurück und bleibt häufig als synoviale Plica (z. B. Plica mediopatellaris) noch bestehen. Diese ursprüngliche Einteilung des Kniegelenkes kann aber aus anatomischen und funktionellen Gesichtspunkten erhalten bleiben. Grundsätzlich gilt, dass das laterale Kompartiment beweglicher ist. Die leicht konvexe Form der lateralen Tibiakondyle und der beweglichere, eher O-förmig angelegte und verformungsfreudigere laterale Meniskus sprechen dafür. Orientiert am Aufbau der Kapsel lässt sich das Kniegelenk in der Frontalen in insgesamt 3 Etagen einteilen (Matthijs et al. 2006): ● femorotibiales Gelenk: eher punktueller und direkter Kontakt zwischen Femurkondylen und Tibiakondylen ● meniskofemorales Gelenk: Kontakt zwischen den Femurkondylen und den Menisken ● meniskotibiales Gelenk: Kontakt zwischen den Tibiakondylen und den Menisken Analog zu dieser Aufteilung beschreibt man die jeweiligen Kapselanteile, z. B. meniskofemorale Kapselanteile. Das Femur verdickt sich am distalen Ende und bildet 2 Kondylen aus (▶ Abb. 6.1). Dies mag dazu verleiten, das

Femur

Epicondylus lateralis Tuberculum Gerdyi Caput fibulae

Fibula

Tuberculum adductorium Epicondylus medialis Patella

Tuberositas tibiae

Tibia

Abb. 6.1 Topografie knöcherner Referenzpunkte – Ansicht von anterior.

6.4 Notwendige topografische und morphologische Vorkenntnisse Kniegelenk als Art. condylaris einzustufen. Jedoch ist es mit den Bewegungen in Flexion, Extension, Innen- sowie Außenrotation als Art. trochoginglymus zu klassifizieren. Der mediale femorale Kondylus ist „länger“ als der laterale, um die Schrägstellung des Femurs im Raum auszugleichen. Demgegenüber steht der laterale Kondylus etwas weiter nach anterior hervor und bietet der Patella ein laterales Widerlager. Die femoralen Kondylen bilden anterior gemeinsam eine gekehlte Facies patellaris als Gelenkpartner für das patellofemorale Gelenk. Distal und posterior klaffen die Kondylen und bilden die ca. 20–22 mm breite Fossa intercondylaris (Wirth et al. 2005), den „Aufenthaltsraum“ der Kreuzbänder. Beide femoralen Kondylen haben eine bikonvexe Form. In der Sagittalebene nimmt ihre Krümmung nach posterior zu (▶ Abb. 6.2), wobei dies beim lateralen Kondylus ausgeprägter ist. Demnach artikulieren die Kondylen in Flexion mit einer kleineren Fläche mit den Tibiakondylen als in Extension. Die femoralen Kondylen weisen eine Impressionslinie auf, die in endgradiger Extension gegen die Tibia und die Meniskusvorderhörner auflaufen: Sulcus terminalis. Das Aufstützen gegen Meniskus und Tibia lateral initiiert in belasteter Position die Schlussrotation, wobei der mediale Kondylus noch eine längere posteriore Gleitbewegung vollzieht und somit das Femur in Innenrotation zwingt. Das Femur trägt proximal des Gelenkkörpers einen medialen bzw. lateralen Epikondylus, Fixpunkte der Kollateralbänder. Die kolbenförmige Auftreibung der proximalen Tibia (▶ Abb. 6.1) bildet 2 knorpelbedeckte Facetten (Tibiakondylen) und eine Area intercondylaris mit Eminentia intercondylaris aus. Diese bieten Anheftungsstellen für beide Menisken und beide Kreuzbänder. Frontal betrachtet sind beide tibialen Gelenkflächen leicht konkav. Sagittal bleibt die mediale Gelenkfläche konkav. Demgegenüber bildet die laterale Gelenkfläche eine leichte Konvexität aus, was

Femur Epicondylus lateralis

Caput fibulae

Patella

Tuberculum Gerdyi Tuberositas tibiae

Fibula

Tibia

Abb. 6.2 Topografie knöcherner Referenzpunkte – Ansicht von lateral.

die arthrokinematische Rollkomponente im lateralen Kompartiment begünstigt. Weiterhin sagittal betrachtet fällt das Tibiaplateau gegenüber der tibialen Längsachse nach posterior und distal durchschnittlich um ca. 10° ab (Matthijs et al. 2006). Diese Anwinkelung ist embryologisch mit 45° angelegt, entwickelt sich intraindividuell unterschiedlich stark zurück und ist daher sehr variabel. Die proximale Tibia trägt 2 große Rauigkeiten zur Insertion kräftiger ligamentärer Strukturen: Tuberositas tibiae für das Lig. patellae und Tuberculum Gerdyi für die hauptsächliche Insertion des Tractus iliotibialis. Zusammen mit dem Caput fibulae bilden die beiden Rauigkeiten ein gleichschenkliges Dreieck. Gelegentlich ist ein weiteres Sesambein am Kniegelenk aufzufinden. Die Fabella ist in Höhe des lateralen Femurkondylus in die Sehne des lateralen Gastroknemiuskopfes eingelagert. Die Angaben über die ossäre Häufigkeit der Fabella schwanken zwischen 8 und 20 % (Petersen u. Zantop 2009). Ist sie nicht ossär vorhanden, kann sie als fibröse oder faserknorpelige Struktur angelegt sein. Wichtige Ligamenta der posterioren Kapsel haben Kontakt mit ihr (Ligg. popliteum obliquum, popliteum arcuatum, fabellofibulare). Die Menisken haben als bewegliche Pfannen die Aufgaben, die Inkongruenz zwischen den Kondylen des Femurs und der Tibia auszugleichen, Gewicht in belasteter Situation zu übernehmen und während ihrer Bewegungen Synovia gegen den Gelenkknorpel der artikulierenden Kondylen zu pressen und somit die Grundlage eine Knorpelernährung zu gewährleisten. Die Ligg. cruciata haben als zentraler Pfeiler oder Binnenbänder die Aufgaben, die Arthrokinematik des Kniegelenkes zu steuern, die Sicherung des Gelenkes in Sagittalebene zu gewährleisten und die Innenrotation zu begrenzen. Sie verlaufen generell von der femoralen Fossa intercondylaris zur tibialen Area intercondylaris. Sie bestehen jeweils aus mehreren Bündeln enorm zugfestem, in sich torquiertem Kollagen Typ I, umhüllt von einer Synovialmembran. Streng genommen liegen sie daher innerhalb der fibrösen Kapsel (intraartikulär), aber ohne direkten Kontakt mit der Synovia (extrasynovial). Einige Anteile der Cruciata sind isometrisch und bleiben bei jeder Gelenkposition auf Spannung (Begleitbündel). Andere Anteile werden bei endgradigen Bewegungen zunehmend rekrutiert (Sicherheitsbündel, Fuss 1989). Die Kapsel lässt sich unterschiedlich einteilen. Man kann oberflächig und tiefer liegende Anteile unterscheiden sowie eine Einteilung nach Richtungen angeben. So unterscheidet man: ● mediale Anteile der Kapsel mit dem verstärkenden Lig. collaterale mediale ● laterale Anteile ohne direkte Verstärkung durch das Lig. collaterale laterale ● eine anteriore Kapsel mit dem Lig. patellae, den longitudinalen und transversalen Retinaculae sowie den patellomeniskalen Ligamenten. Die anteriore Kapsel

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155

Kniegelenk



bildet einen Recessus suprapatellaris, der an der posterioren Hälfte der Basis patellae inseriert und der Patella bei zunehmender Flexion eine bis zu 8 cm große Verschiebung nach inferior gewährleistet. Verstärkungen der posterioren Kapsel, lateral z. B. durch das Lig. popliteum arcuatum und medial durch das Lig. popliteum obliquum

Die Sicherung in der Frontalebene wird durch die Kollateralbänder und posteriore Kapsel hergestellt. Alle Anteile erhalten zunehmend Spannung bei Extension. Die posteriore Kapsel sichert primär in völliger Extension, während die Kollateralbänder ab leichter Flexion die primäre Stabilität gegen Varus- und Valgus-Stress gewährleisten. Beide Kollateralia unterscheiden sich morphologisch und arbeiten synergistisch in der Begrenzung der Außenrotation. Das mediale Kollateralband hat den femoralen Fixpunkt am Epicondylus medialis femoris sowie Tuberculum adductorium und verbreitert sich enorm (3–4 cm) in Höhe des Gelenkspaltes. Nach Liu et al. (2010) verläuft es um weitere ca. 6,2 cm ab dem Gelenkspalt zur Facies tibialis medialis, unterhalb des Pes anserinus superficialis. Es hat einen superfizialen (eher anterioren) und einen profunden (eher posterioren) Anteil. Der superfiziale Anteil verdreht sich bei Knieflexion ineinander und ist daher als konvexe Erhebung über dem Gelenkspalt palpabel. Der posteriore Anteil hat einen engen Kontakt mit der Basis des medialen Meniskus. Das laterale Kollateralband ist vergleichsweise kurz (ca. 5 cm), rundlich und dünn. Es besitzt keinen Kapsel- oder Meniskuskontakt. Seine Fixpunkte sind der laterale femorale Epikondylus und das Caput fibulae.

6.4.2 Patellofemorale Gelenkkonstruktion Die Patella, das größte Sesambein des menschlichen Körpers, hat frontal betrachtet eine grundsätzlich dreieckige Form (▶ Abb. 6.3). Die abgerundete Basis patellae ist ca. 1,5 cm dick und bietet im posterioren Bereich die Insertion des Recessus suprapatellaris und anterior die Insertion der größten Anteile des M. quadriceps femoris. Die Basis patellae legt sich bei ca. 90° flach und parallel zum Schaft des Femurs. Daher ist die anteriore Kante der Basis sehr einfach und die posteriore eher schwierig palpabel. Die Basis wird seitlich von hervorstehenden „Ecken“, dem medialen bzw. lateralen Pol der Patella, begrenzt. Von hier aus verjüngt sich die Patella zur Apex patellae, die im Allgemeinen auf dem Niveau des femorotibialen Gelenkspaltes liegt. Das distale Drittel ist Anheftungsbereich des Lig. patellae sowohl an den Rändern als auch etwas an den anterioren und posterioren Flächen. Die Rückseite der Patella zeigt mittelständig einen longitudinalen First, von dem aus mediale und laterale Facetten abgehen, die insgesamt die Facies articularis patellae darstellen. Die

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Basis patellae

lateraler Pol

medialer Pol

Apex patellae

Abb. 6.3 Anteile der Patella – Ansicht von anterior.

longitudinale Erhebung greift in den Sulkus der femoralen Facies patellaris, die extensionsnah das artikulierende Pendant bildet. Mit zunehmender Flexion gleitet die Patella an ihren seitlichen Flächen über die femoralen Kondylen. Während einer ausgiebigen Flexion beschreibt die Patella Bewegungen, die man wie folgt bezeichnen kann: ● inferiores Gleiten, bis zu 8 cm ● Shift, seitliche Bewegungen nach medial und dann nach lateral ● Tilt, Kippen um ihre Längsachse ● Rotation der Apex patellae nach medial, gemäß der Schlussinnenrotation der Tibia

6.4.3 Art. tibiofibularis proximalis Im Unterschied zum Ellenbogengelenk artikuliert am Mittelgelenk der unteren Extremität nur ein Knochen des mittleren Extremitätenabschnitts (hier: Tibia) mit dem Knochen des proximalen Extremitätenabschnitts (Femur). Die Fibula bildet mit dem posterior-lateralen Tibiakopf eine Amphiarthrose, deren Gelenkspalt um ca. 45° von anterior-lateral nach posterior-medial ausgerichtet ist (▶ Abb. 6.2). In einigen Fällen kommuniziert die Gelenkhöhle mit der des femorotibialen Gelenkes und ist dann als Teil des Kniegelenkes zu betrachten. Das proximale tibiofibulare Gelenk (TFG) gehört funktionell zum tibiotarsalen Bewegungskomplex und bewegt sich bei Extension und Flexion des Fußes mit allen Begleitbewegungen, vor allem in anterior-posteriorer Richtung mit. Es wird ligamentär im Sinne des Kraftverschlusses gesichert und bietet einigen Muskeln Ansatzstellen, wobei die wichtigste die Insertion des M. biceps femoris ist. Der Bizeps hat eine grundsätzlich disloziierende Einwirkung auf das proximale TFG.

6.4.4 Muskeln des Kniegelenkes Der M. quadriceps femoris dominiert die Extension des Kniegelenkes (▶ Abb. 6.4). Seine Fasern inserieren teilweise an der anterioren Basis der Patella und laufen zudem anterior über die Patella sowie als longitudinale Retinaculae parapatellar zur Tibia. Der Vastus medialis, teilweise von der Sehne des M. adductor magnus entspringend

6.4 Notwendige topografische und morphologische Vorkenntnisse

M. vastus lateralis

Quadrizepssehne

Patella

Patella

Lig. patellae

Lig. patellae

Tuberositas tibiae

Abb. 6.5 M. rectus femoris mit Patella und Ligament bei Knieflexion. Abb. 6.4 M. rectus femoris mit Patella und Ligament bei Knieextension. M. quadriceps femoris

(Scharf et al. 1985), bietet der Lateralisierungstendenz aktiv Gegenhalt, da er in den wichtigsten medialen Stabilisator der Patella, das mediale patellofemorale Ligament, inseriert (Panagiotopoulos et al. 2006). Das wohl größte muskuläre Individuum des Körpers, der M. vastus lateralis, inseriert mit einer ca. 5 cm langen Sehne am lateralen Aspekt der Basis patellae. Die Verdickung des Muskelbauchs während Kontraktion spannt den Tractus iliotibialis von innen heraus. Unterhalb des M. rectus femoris, als Abspaltung des M. vastus intermedius, liegt der M. articularis genus. Seine Fasern strahlen in den Recessus popliteus ein und spannen diesen bei aktiver Knieextension und verhindern so das Einklemmen femoropatellar. Die Flexoren des Kniegelenkes sind stärker differenziert und stellen auch die Gruppe der Innen- und Außenrotatoren. Als Agonisten kann man die Mm. ischiocrurales betrachten (Hamstrings), während die weiteren Anteile des Pes anserinus (Mm. sartorius und gracilis) sowie die Köpfe des M. gastrocnemius und der M. popliteus synergistisch wirken. Die Aufteilung der ischiokruralen Muskeln am distalen Oberschenkel formt die proximale Hälfte der rautenförmigen Fossa poplitea. Der M. biceps femoris als wichtigster Außenrotator hat eine sehr variable Aufteilung seiner Insertionssehne. Er inseriert hauptsächlich am Caput fibulae (▶ Abb. 6.6), an der kruralen Faszie und der Tibia (Tubbs et al. 2006). Dabei „umarmen“ seine Fasern das laterale Kollateralband. Einige Fasern strahlen in das Lig. arcuatum genus und in die Sehne des M. popliteus (Tubbs et al. 2006). Einstrahlungen in das Hinterhorn des lateralen Meniskus werden ebenfalls beschrieben. Als weitere wichtige Struktur befindet sich lateral der Tractus iliotibialis (▶ Abb. 6.6). Dynamisiert von den Mm. tensor fascae latae, gluteus maximus und vastus lateralis wird der Traktus als Verstärkung der lateralen Oberschenkelfaszie beschrieben, die im engen Verhältnis zum

6

M. biceps femoris Tractus iliotibialis Lig. collaterale laterale

Lig. patellae

Caput fibulae N. peronaeus communis

Abb. 6.6 Relevante Weichteile lateral.

Septum intermusculare laterale steht. Direkt proximal erhält er ligamentäre Einstrahlungen des Femurs (Kaplanfasern). Seine distale Insertion ist hauptsächlich am Tuberculum Gerdyi anterior-lateral am Tibiakopf zu sehen. Weitere Einstrahlungen sind die Faszien der Fußextensoren sowie die proximale und anteriore Patella (Lig. iliopatellae), welches ebenfalls eine Lateralisierungstendenz auf die Patella ausüben kann. Bei ca. 30–40° Flexion des Kniegelenkes liegt der Traktus direkt über dem Epicondylus lateralis. Mit zunehmender Extension wirkt er extensorisch, mit zunehmender Flexion als Synergist der Flexoren. Zudem hat er eine außenrotatorische Wirkung auf das Kniegelenk. Medial dominieren die Pes-anserinus-Muskeln die muskuläre Anatomie (▶ Abb. 6.7). In das Pes anserinus superficialis enden bekanntermaßen Fasern der Mm. sartorius, gracilis und semitendinosus, die sich proximal des Gelenkes sehr gut differenzieren lassen, distal des Gelenkspaltes in eine breite Insertionssehne eingehen, die

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Kniegelenk Tab. 6.1 Übersicht Dynamisierungen. Muskel

Dynamisierte Struktur

M. quadriceps femoris

anteriore Kapsel (Lig. patellae und verschiedene Retinaculae), Menisken (über Ligg. patellomeniscalia)

M. adductor magnus

Lig. collaterale mediale

M. biceps femoris

Ligg. collaterale laterale und arcuatum genus, Meniscus lateralis

M. popliteus

posteriore Kapsel (Lig. arcuatum genu) und Meniscus lateralis

M. semimembranosus

posteriore Kapsel (Lig. popliteum obliquum), Meniscus medialis

M. gastrocnemius

posteriore Kapsel

an der medialen Tibiafläche inseriert. Sie überqueren das Kniegelenk auf der posterioren Seite in Bezug zur Flexions-/Extensionsachse und wirken demnach flexorisch und innenrotatorisch. Die Sehne des M. semitendinosus ist unter flexorischer Aktivität am distalen posterioren Oberschenkel deutllich prominent. Eine Reihe kleinere Bursen sichert die Insertionsplatte zum medialen Kollateralband und zum Periost der Tibia hin gegen Reibung. Der Pes anserinus profundus wird durch die Sehne des M. semimembranosus gebildet, die sich in 5 Insertionszüge aufteilt. Neben 2 Insertionen an der Tibia sind die Einstrahlungen in die Faszie des M. popliteus, das Hinterhorn des medialen Meniskus sowie die posterior-mediale Kapsel (Lig. popliteum obliquum) zu erwähnen. Posterior ist oberflächig der M. gastrocnemius dominierend, der mit der Aufteilung seiner beiden Bäuche die distale Hälfte der rautenförmigen Fossa poplitea formt. Tiefe Anteile der Sehnen strahlen in die posteriore Kapsel ein. Der M. popliteus entspringt fleischig von der posterioren proximalen Tibia. Sein Muskelbauch liegt anterior des medialen Gastroknemiuskopfes und ist somit nicht direkt palpabel. Die Sehne, die nach proximal und lateral aufsteigt, teilt sich in 3 Anteile, die am medialen Meniskus inserieren und in die posterior-laterale Kapsel einstrahlen. Die eigentliche Insertionssehne quert den Gelenkspalt zwischen dem lateralen Kollateralband und den Gelenkpartnern femorotibial und inseriert etwa 0,5 cm distal und anterior des Epicondylus lateralis. Aus den bisherigen Einführungen zu den Muskeln des Kniegelenkes wird deutlich, dass neben den bewegenden Funktionen die Einstrahlungen in Kapseln, Faszien oder Menisken eine wichtige anatomische Tatsache sind. Der Effekt ist die Spannung dieser Strukturen unter muskulärer Aktivität, die als „Dynamisierung“ bezeichnet wird. An anderen Gelenken, wie z. B. am Schultergelenk, sind Dynamisierungen ebenfalls bekannt. Allerdings ist der differenzierte Kontakt von Muskeln zu Strukturen des Gelenkes hier am Kniegelenk besonders ausgeprägt. ▶ Tab. 6.1 soll eine zusammenfassende Übersicht über alle Dynamisierungen geben.

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M. vastus medialis

M. gracilis

M. sartorius

M. semitendinosus

Lig. patellae

N. saphenus

Abb. 6.7 Relevante Weichteile medial.

6.4.5 Neurale Strukturen Die wichtigsten neuralen Strukturen passieren das Knie auf der posterioren Seite. Lediglich ein großer Ast des N. femoralis überquert das Gelenk medial: der N. saphenus (▶ Abb. 6.7). Seine Lage ist höchst variabel. Er tritt gewöhnlich zwischen den Mm. sartorius und gracilis an die Oberfläche und verläuft subkutan nach distal (von Lanz u. Wachsmuth 2003). Etwa eine Handbreit proximal und posterior des Kniegelenkes teilt sich der N. ischiadicus in seine beiden Anteile auf. Direkt in der Kniekehlenmitte zeigt sich der N. tibialis. Die Größe dieser Struktur kann man mit bleistiftstark bis kleinfingerdick beschreiben. Der N. peroneus communis verläuft nach dem Abzweig vom N. tibialis nach lateral und begleitet die Bizepssehne zum Caput fibulae. Distal vom Fibulakopf kreuzt er nach anteriorlateral und zweigt sich anschließend weiter auf. In Höhe der Bizepssehne liegt der Nerv ca. 1 cm breit nach medial versetzt.

6.5 Palpation auf Wärme und Schwellung

6.5 Palpation auf Wärme und Schwellung 6.5.1 Palpation auf Wärme Eine Reizung der Kapsel zeigt sich auch durch Wärmebildung. Im Vergleich mit der Gegenseite sowie mit den Weichteilen proximal und distal kann der Therapeut hierzu eine Aussage treffen. Dass beide Kniegelenke im Normalfall gleich temperiert sein sollten, bedarf keiner ausführlichen Erläuterung (▶ Abb. 6.8). Die Betrachtung des Gelenkes im Vergleich mit seiner Umgebung ist allerdings interessant. Man kann davon ausgehen, dass ein nicht betroffenes Gelenk in der Palpation kühler ist als die Umgebung, d. h. als die Weichteile proximal und distal/ lateral.

6.5.2 Palpation auf Schwellung Kurzfassung des Palpationsganges Im Rahmen verschiedener Gelenkerkrankungen und Verletzungen, z. B. des Kapsel-Band-Apparates, der Menisken und der Kreuzbänder treten Schwellungen auf. Treten sie posttraumatisch binnen 1 Stunde auf, handelt es sich sehr wahrscheinlich um ein Hämarthros. Langsam auftretende Gelenkergüsse sind sehr wahrscheinlich synovialer Natur. Nicht traumatisch bedingte Schwellungen, die direkt nach einer Belastung auftreten, zeugen von chondralen Läsionen. Allmählich entstehende Schwellungen nach einer Belastung deuten eher auf eine degenerative Meniskopathie hin. In jedem Fall geben Schwellungen einen Hinweis auf eine Gelenkpathologie. Eine ausführliche Befunderhebung, ggf. mit gelenkbeanspruchenden und auf Schmerzprovokation und Stabilität ausgelegten Zusatztests, hat allein schon die Möglichkeit, einen Erguss und Wärmebildung des Gelenkes hervorzurufen oder zu verstärken. Beschrieben werden die Techniken zur Darstellung von Schwellungen des Gelenkes im Sinne ● eines Maxiergusses, Nachweis einer starken Schwellung, ● eines Midiergusses, Nachweis einer mittleren Schwellung, ● eines Miniergusses, Nachweis einer leichten Schwellung.

ASTE Der Patient befindet sich in Rückenlage oder im Langsitz auf der Therapieliege. Das betreffende Kniegelenk liegt in maximal möglicher und beschwerdefreier Extension (wenn nötig, Kniekehle unterlagern). Zur Darstellung eines Miniergusses muss das Kniegelenk allerdings voll extendierbar sein, da sonst die Wahrscheinlichkeit eines falsch negativen Ergebnisses sehr groß ist.

Maxierguss Eine große Schwellung des Gelenkes inspektorisch und palpatorisch zu erkennen, ist keine große Kunst. Bei Extension ist die Kapsel posterior und seitlich gestrafft. Bei einem intraartikulären Gelenkerguss sammelt sich dieser anterior unter der Patella und hebt diese ggf. hoch.

Technik Der Test hat zum Ziel, die Synovia unter der Patella zu sammeln und durch Druck auf die Kniescheibe das Ausmaß der Schwellung zu erfassen. Beide Hände arbeiten hier mit abduziertem Daumen. Die von distal kommende Hand wird in Höhe des Kniegelenkspaltes aufgelegt. Sie verhindert, dass die Synovia sich distal und seitlich der Patella verteilen kann (▶ Abb. 6.9). Die von proximal kommende Hand beginnt etwa 10 cm oberhalb der Patella mit einer breitflächigen Ausstreichung. Dadurch wird der Recessus suprapatellaris ausgestrichen, die Synovia unter der Patella gesammelt und diese hochgehoben. Ein Finger der proximalen Hand wird dann auf die Patella gelegt. Es wird Druck nach posterior ausgeübt, bis die Patella wieder auf ihr femorales Gleitlager trifft. Das Kriterium für den Test im Seitenvergleich, das Ausmaß der Schwellung, ist die Dauer, bis die Patella gegen den Femur anschlägt. Der intraartikuläre Erguss wird dann nach medial und lateral gegen die palpierenden Finger gedrückt. Das Zeichen einer tanzenden Patella ist bei einer extraartikulären Schwellung nicht vorhanden (Strobel u. Stedtfeld 2013).

6

Tipp Dieser Test wird auch „tanzende Patella“ genannt. Er wird von Therapeuten in vielen Varianten der Grifftechnik durchgeführt, die alle zulässig sind, solange die Bedingungen zur Ausführung beachtet werden: Flüssigkeit unter der Patella sammeln und halten sowie einen direkten posterioren Druck auf die Patella ausüben.

Midierguss Der Test mit der „tanzenden Patella“ ist recht bekannt. Weniger geläufig ist der Test zur Realisierung eines mittleren Ergusses.

Technik Auch hier führt die proximale Hand eine nach distal gerichtete Streichung aus. Die distale Hand formt ein enges „V“ zwischen Daumen und Zeigefinger. Dieses „V“ wird von distal gegen die seitlichen Ränder der Patella gelehnt und die Fingerbeeren auf den Gelenkspalt gelegt (▶ Abb. 6.10).

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Kniegelenk

Abb. 6.8 Test auf Wärme.

Abb. 6.11 Test auf Minierguss Phase 1.

Abb. 6.9 Test auf Maxi-Erguss.

Abb. 6.12 Test auf Minierguss Phase 2.

Während der Streichung wird nun die Synovia unter die Patella nach distal geschoben. Die zum „V“ geformte Hand nimmt Ausbreitung der Synovia als zunehmenden Druck wahr. Das Kriterium für diesen Test ist das ggf. unterschiedliche Ausmaß dieses Druckes im Seitenvergleich.

Minierguss

Abb. 6.10 Test eines mittleren Ergusses.

160

Eine mittlere bzw. eine große Schwellung des Kniegelenkes zu erkennen, ist sicherlich nicht sehr schwer. Um einen Minierguss zu erkennen, bedarf es einer besonderen Technik. Die Ausgangsstellung muss eine volle Extension sein, die passiv gehalten wird.

6.6 Lokale Palpation anterior

Technik – Phase 1 Der Therapeut streicht mindestens 3-mal flächig die mediale Seite des Kniegelenkes nach proximal-lateral aus (▶ Abb. 6.11). Hierdurch wird die Synovia in andere Gelenkanteile verlagert.

Technik – Phase 2 Gleich im Anschluss wird die laterale Kniegelenkseite einmal flächig nach proximal ausgestrichen und die synoviale Flüssigkeit in den Gelenkbinnenraum und nach medial zurückgeschoben (▶ Abb. 6.12). Gleichzeitig beobachtet der Therapeut die Region des medialen Gelenkspaltes, direkt neben der Patella. Im Normalfall besteht hier eine leichte Konkavität, die bei einem negativen Ergusstest auch konkav bleibt. Bei einem kleinen Gelenkerguss entwickelt sich während des lateralen Ausstreichens medial eine kleine „Beule“.

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6.6 Lokale Palpation anterior 6.6.1 Kurzfassung des Palpationsganges Mit der anterioren Palpation werden die Begrenzungen der Patella sowie deren Verbindung zur Tibia lokalisiert (▶ Abb. 6.13).

ASTE Als Ausgangsposition wählt man eine erhöhte Sitzposition für den Probanden, z. B. am Rand einer Behandlungsliege. Der Unterschenkel sollte möglichst frei im Überhang und von einer Hand des Therapeuten in mehr oder weniger Flexion bewegbar sein. Diese ASTE gewährt einen freien Zugang zu den erreichbaren Strukturen der anterioren, medialen und lateralen Seite des Kniegelenkes. Lediglich zur Palpation der posterioren Seite muss man die ASTE wesentlich verändern. In dieser ASTE leistet der Proband keine Haltearbeit, um diese Position zu bewahren, und alle Muskeln sind entspannt. Das Lig. patellae ist mäßig gespannt und die Basis patellae ist in der ganzen Ausdehnung erreichbar.

Alternative ASTEn Die oben beschriebene ASTE dient hauptsächlich zu Übungszwecken. Im täglichen Umgang mit dem Kniegelenk in Befundung und Behandlung ergeben sich notwendigerweise noch mehr Zugangsmöglichkeiten und Winkelstellungen, in welchen sich die Hand des Therapeuten dem Gelenk nähert.

Abb. 6.13 Erreichbare Strukturen anterior.

Wenn der nachfolgende Palpationsgang sicher am Probanden oder Patienten umgesetzt wurde, sollte er in abgewandelter Form wiederholt werden: ● volle Extension ● zunehmende Flexion ● Seitenlage des Patienten ● ohne Augenkontrolle ● bei arthrotischen und/oder geschwollenen Gelenken Bei voller Extension sind die Basis sowie die Pole der Patella besser zu palpieren, die Apex sowie das Ligamentum sind durch den seitlich hervorquellenden Hoffa’schen Fettkörper jedoch schwieriger zu palpieren. Mit zunehmender Flexion werden, durch zunehmende Spannung der anterioren Strukturen, alle Konturen erschwert zu lokalisieren sein. Schwellungen und knöcherne Deformationen im Rahmen einer Arthrose verändern die zu erwartende Konsistenz und Kontur der jeweiligen Struktur.

6.6.2 Palpation einzelner Strukturen Basis patellae Die Umrandung der Patella beginnt an ihrer Basis. Wie in der topografischen Einführung zum Kniegelenk bereits erwähnt, ist die Basis patellae sehr dick und hat eine vordere und hintere Begrenzung.

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6.6 Lokale Palpation anterior

Technik – Phase 1 Der Therapeut streicht mindestens 3-mal flächig die mediale Seite des Kniegelenkes nach proximal-lateral aus (▶ Abb. 6.11). Hierdurch wird die Synovia in andere Gelenkanteile verlagert.

Technik – Phase 2 Gleich im Anschluss wird die laterale Kniegelenkseite einmal flächig nach proximal ausgestrichen und die synoviale Flüssigkeit in den Gelenkbinnenraum und nach medial zurückgeschoben (▶ Abb. 6.12). Gleichzeitig beobachtet der Therapeut die Region des medialen Gelenkspaltes, direkt neben der Patella. Im Normalfall besteht hier eine leichte Konkavität, die bei einem negativen Ergusstest auch konkav bleibt. Bei einem kleinen Gelenkerguss entwickelt sich während des lateralen Ausstreichens medial eine kleine „Beule“.

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6.6 Lokale Palpation anterior 6.6.1 Kurzfassung des Palpationsganges Mit der anterioren Palpation werden die Begrenzungen der Patella sowie deren Verbindung zur Tibia lokalisiert (▶ Abb. 6.13).

ASTE Als Ausgangsposition wählt man eine erhöhte Sitzposition für den Probanden, z. B. am Rand einer Behandlungsliege. Der Unterschenkel sollte möglichst frei im Überhang und von einer Hand des Therapeuten in mehr oder weniger Flexion bewegbar sein. Diese ASTE gewährt einen freien Zugang zu den erreichbaren Strukturen der anterioren, medialen und lateralen Seite des Kniegelenkes. Lediglich zur Palpation der posterioren Seite muss man die ASTE wesentlich verändern. In dieser ASTE leistet der Proband keine Haltearbeit, um diese Position zu bewahren, und alle Muskeln sind entspannt. Das Lig. patellae ist mäßig gespannt und die Basis patellae ist in der ganzen Ausdehnung erreichbar.

Alternative ASTEn Die oben beschriebene ASTE dient hauptsächlich zu Übungszwecken. Im täglichen Umgang mit dem Kniegelenk in Befundung und Behandlung ergeben sich notwendigerweise noch mehr Zugangsmöglichkeiten und Winkelstellungen, in welchen sich die Hand des Therapeuten dem Gelenk nähert.

Abb. 6.13 Erreichbare Strukturen anterior.

Wenn der nachfolgende Palpationsgang sicher am Probanden oder Patienten umgesetzt wurde, sollte er in abgewandelter Form wiederholt werden: ● volle Extension ● zunehmende Flexion ● Seitenlage des Patienten ● ohne Augenkontrolle ● bei arthrotischen und/oder geschwollenen Gelenken Bei voller Extension sind die Basis sowie die Pole der Patella besser zu palpieren, die Apex sowie das Ligamentum sind durch den seitlich hervorquellenden Hoffa’schen Fettkörper jedoch schwieriger zu palpieren. Mit zunehmender Flexion werden, durch zunehmende Spannung der anterioren Strukturen, alle Konturen erschwert zu lokalisieren sein. Schwellungen und knöcherne Deformationen im Rahmen einer Arthrose verändern die zu erwartende Konsistenz und Kontur der jeweiligen Struktur.

6.6.2 Palpation einzelner Strukturen Basis patellae Die Umrandung der Patella beginnt an ihrer Basis. Wie in der topografischen Einführung zum Kniegelenk bereits erwähnt, ist die Basis patellae sehr dick und hat eine vordere und hintere Begrenzung.

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Kniegelenk

Abb. 6.14 ASTE und Technik der Palpation der Basis patellae.

In extendierter Position ist lediglich die anteriore Kante des Basis patellae gut erreichbar. Sie verbindet beide Pole in einer bogenförmigen Linie. Mit einem Druck auf die Apex schaukelt man die Basis hoch und somit lässt sich die posteriore Kante erreichen. Die hintere Kante ist die maßgebliche Grenze in flektierter Position. Das Ziel der Palpation ist es, diese Kante gegenüber dem Femur und den umgebenden Weichteilen darzustellen. In gebeugter Position des Kniegelenkes liegt die Basis patellae parallel zum Oberschenkel und schmiegt sich der Form der femoralen Facies patellaris an. Ihre Abgrenzung ist daher nur unter leichten, passiven Bewegungen des Kniegelenkes in Extension und Flexion zu palpieren (▶ Abb. 6.14).

Tipp Die eingebrachte Bewegung des Unterschenkels sollte sehr klein und absolut passiv geschehen! Jede Aktivität des Quadrizeps erschwert eine Lokalisierung der Patellabasis enorm.

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Abb. 6.15 Palpation medialer Pol der Patella.

zweite Hand bringt kleine und passive Extensionsbewegungen in das Gelenk ein. Dies führt dazu, dass die Patella ebenfalls kleine Bewegungen nach proximal ausführt und mit ihrer posterioren Kante gegen die Fingerkuppen der palpierenden Hand anstößt. Somit ist diese Kante lokalisiert und kann sich nach medial und lateral zu den beiden Polen verfolgen lassen. Diese Linie läuft in der Mitte etwas spitz zu und repräsentiert damit die Verlängerung der rückwärtigen Leiste, welche die mediale von der lateralen Facette trennt. Die vordere Fläche ist weniger breit als die posteriore, sodass von der anterioren Fläche zu jeder Seite eine Schräge zu der palpierten Kante abfällt. Will man die Ausdehnung dieser Vorderfläche erfassen, kann man eine Umrandung erstellen, in dem der Beginn der Schräge eingezeichnet wird. So erhält man letzlich 2 Umrandungen der Patella.

Ränder der Patella Die Umrandung der Patella folgt nun mit rechtwinkliger Palpationstechnik den Konturen an den beiden Polen vorbei zur Apex (▶ Abb. 6.15).

Technik

Technik

Der Therapeut legt einige Fingerkuppen, etwa 3 cm proximal einer Verbindungslinie der beiden patellaren Pole, auf den Oberschenkel. Zur rechtwinkligen Palpation der Kanten sind sie nach distal ausgerichtet (▶ Abb. 6.13). Die

Die exakte Begrenzung der Patella im Bereich des lateralen Pols ist, im Vergleich zur medialen Seite, nicht einfach. Der laterale Femurkondylus ragt weiter nach anterior als der mediale und nähert sich mit seiner Kontur

6.6 Lokale Palpation anterior der Form der Patella an. Um die Patella vom lateralen Femurkondylus zu differenzieren, bedarf es hin und wieder etwas Bewegung im Kniegelenk, welche die Patella als den bewegten Knochen verdeutlicht. Zur Palpation wird wieder die beschriebene rechtwinklige Technik benutzt.

Tipp In flektierter Position ist das Band unter mäßiger Spannung. Der Druck gegen das Band muss daher recht kräftig sein. Sollte die Abgrenzung Apex zu Ligament nicht gelingen, wird das in extendierter Knieposition wiederholt.

Apex patellae Das distale Drittel der Patella inklusive der Apex dient dem Lig. patellae als proximaler Befestigungsbereich. Daher ist die Begrenzung der Patella nach distal nur mittelbar durch das Ligamentum hindurch zu erreichen.

Technik Die palpierende Hand nähert sich der Apex erneut mit der rechtwinkligen Technik. Zunächst wird ein deutlicher Druck gegen das Lig. patellae ausgeübt, das hierauf mit deutlich fester Konsistenz antwortet. Unter anhaltendem Druck gegen das Band versucht die palpierende Fingerkuppe, nach proximal Kontakt mit der Apex aufzunehmen. Die erwartete Konsistenz ist hart und die Kante ist deutlich zu spüren (▶ Abb. 6.16). Mit gleicher Technik lassen sich die Patellaränder im ligamentären Insertionsbereich gut lokalisieren. Hier befinden sich Lokalisationsmöglichkeiten häufiger Weichteilpathologie des Lig. patellae (Tendinosen, „Jumper's Knee“), auf deren Behandlung später noch eingegangen wird. Daher ist eine genaue Lokalisierungstechnik von großem Vorteil.

Abb. 6.16 Palpation Apex patellae.

Ränder des Lig. patellae Das Lig. patellae ist an der proximalen (Apex patellae) und distalen Insertion (Tuberositas tibiae) gegenüber den knöchernen Fixpunkten abzugrenzen. Weiterhin kann man die seitlichen Konturen erfassen. Nachfolgend werden hierzu 2 Technikvarianten beschrieben: ● Variante 1: Von der Apex aus palpiert man etwas nach distal und befindet sich direkt auf dem Band. Von hier aus sucht man die seitlichen Grenzen. ● Variante 2: In Höhe der Apex befinden sich, bei einem nicht arthrotischen und nicht geschwollenen Kniegelenk, 2 leichte Gruben. Dies sind die vorderen Zugänge zum Kniegelenkspalt. Von diesen Gruben aus zur Mitte palpierend, trifft man auf die feste und noch etwas elastische Konsistenz des patellaren Bandes.

6

Man kann die Ränder des Bandes von der Patella bis zur Tuberositas tibiae verfolgen (▶ Abb. 6.17) und stellt fest: ● Das Band ist sehr breit. ● Es konvergiert leicht verjüngend zur Tuberositas tibiae.

Abb. 6.17 Ränder des Ligamentum patellae.

163

Kniegelenk

Tuberositas tibiae

Tipp

Die Tuberositas läuft nach distal in die Margo anterior tibiae aus. Diese ist entlang des gesamten Unterschenkels gut zu verfolgen. Medial zeigt die Tibia eine Fläche, welche nach posterior von der Margo medialis tibiae begrenzt wird. Lateral und proximal der Tuberositas liegt eine Rauigkeit, an welcher der Tractus iliotibialis inseriert (Tuberculum Gerdyi).

Hin und wieder erscheint diese Region durch eine Bursitis druckschmerzhaft, wobei die Fluktuation der Flüssigkeit in der entzündeten Bursa infrapetallaris profunda (unterhalb des inserierenden Ligaments) oder Bursa subcutanea tuberositats tibiae (direkt auf der Tuberositas) zu spüren ist.

Technik Die Abgrenzung zwischen Lig. patellae und der Tuberositas gelingt mit der gleichen Technik (Wahrnehmen unterschiedlicher Konsistenz) wie an der Apex. Bei direktem Druck auf das Band fühlt man eine feste und dennoch elastische Konsistenz (▶ Abb. 6.18). Führt man die Palpation nach distal fort, zeigt sich die Tuberositas durch einen deutlich harten Widerstand. Der Übergang zwischen elastischer und harter Konsistenz markiert die proximale Begrenzung der Tuberositas. Ihre weitere Größe ist mit kreisender Palpation flach aufgelegter Fingerbeere zu erfassen. Bei Formabweichungen z. B. infolge einer aseptischen Knochennekrose (Morbus Osgood-Schlatter) gelingt das außerordentlich gut.

Abb. 6.18 Palpation am Übergang Ligamentum patellae – Tuberositas tibiae.

164

6.6.3 Therapeutische Hinweise Die Palpationstechniken der anterioren Kniegelenkregion werden für 2 häufige therapeutische Tätigkeiten genutzt: ● Beweglichkeitsprüfung des patellofemoralen Gelenkes und Dehnung des Recessus suprapatellaris ● Querfriktionen an Ligamentum und Apex patellae

Techniken am patellofemoralen Gelenk Die Überprüfung bzw. Wiederherstellung der Mobilität der Patella auf ihrem femoralen Gleitlager ist in der postoperativen Behandlung zum Erhalt oder der Wiederherstellung der Knieflexion wichtig. In einer recht frühen Phase der Nachbehandlung wird dies zunächst in einer extensionsnahen Position der Fall sein. Die Patella lässt sich so am leichtesten in alle Richtungen bewegen, da sich die umgebenden Strukturen in einem weniger gespannten Zustand befinden. Das Ziel ist der Erhalt der Elastizität der Kapsel und vor allem des Recessus suprapatellaris. Daher ist die Mobilität der Patella nach distal die wichtigste Bewegungsrichtung, die es zu erhalten gilt. In einem späteren Stadium der Nachbehandlung wird die Mobilität, falls notwendig, mit dehnenden Techniken wiederhergestellt. Dies macht aber nur in einer flektierten Position des Kniegelenkes an der Bewegungsgrenze Sinn. Daher wird in dieser Vorpositionierung getestet und ggf. mobilisiert. Die Techniken der Anatomie in vivo helfen, auch bei noch geschwollenem Gelenk, die Basis der Patella exakt zu lokalisieren und den Griff wirkungsvoll einzusetzen. Hierbei werden die Fingerkuppen der distalen oder der Handballen der proximalen Hand auf die Basis der Patella gelegt (▶ Abb. 6.19), um den distalen Schub auszuüben.

6.6 Lokale Palpation anterior

Abb. 6.20 Querfriktionen des Ligamentum patellae.

6

Abb. 6.19 Gleittechnik Patella nach inferior.

Querfriktionen des Lig. patellae Tendopathien (insbesondere Tendinosen) des Lig. patellae sind häufig vorkommende Weichteilläsionen am Kniegelenk. Insbesondere bei Sprungsportarten mit explosiver Streckung oder exzentrischer Kniebeugung treten sie gehäuft auf (Tan u. Chang 2008). Van der Worp et al. (2011) berichten in ihrem Review von einer Häufigkeit von bis zu 45 % bei Leistungsvolleyballern. Zur genauen Lokalisierung und Behandlung einer lädierten Stelle innerhalb dieser großen Struktur werden Querfriktionstechniken benutzt. Ist das Ligament selbst Ziel der Technik, sollte das Gelenk so positioniert werden, dass das Band nicht unter dem Druck des friktionierenden Fingers ausweicht. Daher ist eine flektierte Einstellung mit Vorspannung des Bandes zu wählen (▶ Abb. 6.20). Zum Einsatz kommt erneut der beschwerte Zeigefinger. Über den lateral abgestützten Daumen erhält die reibende Technik, mit Druck quer zum Faserverlauf, ihre Stabilität.

Tipp Nutzt man diese Technik provokativ im Rahmen der Befundung, muss man häufig geduldig mehrere Stellen des Bandes palpieren, um die (meist) lädierte Stelle zu finden. Als Therapeut sollte man etwas proximal des Kniegelenkes stehen, damit der eigene Körper die Bewegungen der palpierenden Hand nicht behindert.

Abb. 6.21 Querfriktionen des Apex patellae.

Querfriktionen an der Apex patellae Der Übergang zwischen Ligament und Apex ist nicht einfach zu palpieren. Will man die Knochenkante erreichen, muss man zunächst das Band nach unten wegdrücken. In flektierter Gelenkstellung ist dies nur bedingt möglich. Eine extensionsnahe Position ist daher empfehlenswert, wobei man darauf achten sollte, dass bei zu viel Extension ein hervorquellender Hoffa’scher Fettkörper die Technik stören könnte. Die querreibende Fingerbeere wird jetzt der Apex zugewandt. Unter permanentem Druck auf das Band werden mehrere Stellen der Apex und der seitlichen Patellaränder abpalpiert (▶ Abb. 6.21). Die zweite Hand sichert proximal gegen das Ausweichen der Kniescheibe. Man kann zusätzlich noch etwas Druck auf die Basis ausüben, damit die Apex nach anterior kippt und dadurch noch besser zugänglich wird.

165

Kniegelenk

6.7 Lokale Palpation medial 6.7.1 Kurzfassung des Palpationsganges Nach der palpatorischen Betrachtung der Knievorderseite werden jetzt die seitlichen Regionen des Gelenkes besprochen. Auf der medialen Seite wird ein sicherer Zugang zum Gelenkspalt gesucht. Die artikulierenden Knochen werden, soweit es möglich ist, von anterior zur Rückseite des Gelenkes verfolgt. Maßgebliche knöcherne Referenzpunkte medial sind: ● Begrenzungen des medialen Gelenkspaltes ● Spitze des Tuberculum adductorium ● Epicondylus medialis ● Tuberculum gastrocnemius Maßgebliche Weichteile sollen lokalisiert werden: Lig. patellotibiale mediale ● Lig. meniscofemorale ● Plica synovialis mediopatellaris ● Lig. collaterale mediale, Pars superficiale ● Insertionen am Pes anserinus superficialis ●

dest 2 Stellen, die auf Druck weich nachgeben. Sie sind die sichersten Zugänge zur Darstellung der Konturen der Gelenkpartner. Lediglich bei endgradiger Extension quillt der Hoffa’sche Fettkörper (Corpus adiposum infrapatellare) medial und lateral neben der Patellasehne hervor und erschwert diese Lokalisierung.

Technik – Tibiaplateau Will man die tibiale Kante exakt palpieren, setzt man die von proximal kommende Hand mit rechtwinkliger Technik ein. Die zweite Hand kontrolliert den Unterschenkel. Die palpierende Fingerbeere wird in das medial der Apex patellae liegende Grübchen platziert. Die Fingerspitze stößt nach distal gegen die hart antwortende Tibiakante (▶ Abb. 6.23). Von hier aus kann man mit dieser Technik das Tibiaplateau recht weit nach posterior verfolgen. Zu erwarten ist eine eher gerade Linie, die etwas nach posterior-distal abfällt. Diese Neigung (Tibia Slope) ist medial und lateral sogar etwas unterschiedlich und kann im Allgemeinen zwischen 4 und 10° erwartet werden (Nunley et al. 2014).

Tipp

ASTE Als Ausgangsposition wählt man eine erhöhte Sitzposition für den Probanden, z. B. am Rand einer Behandlungsliege. Der Therapeut sitzt eher auf der lateralen Seite davor (▶ Abb. 6.22). Der Unterschenkel sollte möglichst frei im Überhang und von einer Hand des Therapeuten in mehr oder weniger Flexion bewegbar sein. Diese ASTE gewährt einen freien Zugang zu den erreichbaren Strukturen der medialen Seite des Kniegelenkes.

Im Verlauf der Palpation nach posterior wird die tibiale Kante durch die Anwesenheit des medialen Kollateralbandes schwerer zu ertasten. Sicherheit gibt eine Bestätigung der Palpation durch Bewegung des Unterschenkels. Eher anterior sollte hierzu eine leicht passive Extension eingebracht werden, wobei die Tibia gegen die palpierende Fingerspitze anstößt. Weiter nach posterior bieten sich ausgiebige Rotationen an.

Alternative ASTEn Die oben beschriebene ASTE dient hauptsächlich zu Übungszwecken. Im täglichen Umgang mit dem Kniegelenk in Befundung und Behandlung ergeben sich notwendigerweise noch mehr Zugangsmöglichkeiten und Winkelstellungen, in welchen der Therapeut die Strukturen lokalisieren muss.

6.7.2 Begrenzungen des medialen Gelenkspaltes Der mediale Femurkondylus und der mediale Tibiakondylus begrenzen den Gelenkspalt. Mit einiger Übung kann man die Begrenzungen des Spaltes bis weit nach posterior verfolgen, bis man gegen die Weichteile der Pes-anserinus-Muskeln anstößt. Die Tibiakante wird allgemein zur Beschreibung der räumlichen Ausrichtung des femorotibialen Gelenkspaltes benutzt. Grundsätzlich befinden sich medial und lateral in Höhe der Apex patellae 2 Grübchen oder zumin-

166

Abb. 6.22 ASTE Palpation medial.

6.7 Lokale Palpation medial

Abb. 6.23 Palpation der Tibiakante.

Abb. 6.24 Palpation medialer Femurkondylus.

Technik – medialer Femurkondylus Die palpierende Hand kommt jetzt von distal und wird erneut in die Vertiefung medial der Apex patellae platziert (▶ Abb. 6.24). Die Fingerspitze drückt in die Vertiefung und versucht, die obere Knochenstruktur zu erreichen. Der harte Widerstand ist die überknorpelte Gelenkfläche des Condylus medialis femoris. Rutscht man von hier aus etwas weiter nach proximal, erreicht man eine weitere wulstige Kante, die Knorpel-Knochen-Grenze des Kondylus, die bei arthrotischen Kniegelenken, durch vermehrten Zug an der Kapsel, ausgeprägt erhöht ist. Dem Femurkondylus wird von dem ersten harten Kontakt aus weiter nach posterior nachgespürt (▶ Abb. 6.25). Dabei muss die Palpation der Form des Femurkondylus folgen. Es ist eine konvex geformt Linie zu erwarten (▶ Abb. 6.26). Der Raum zwischen Lig. patellae und den medialen Kondylen von Femur und Tibia wird hier als mediales Gelenkspaltdreieck bezeichnet. Wie bei dem Erspüren der tibialen Kante wird auch hier die Kante des Femurs über eine Strecke von ca. 3– 4 cm sehr undeutlich. Das mediale Kollateralband stört auch hier den direkten Zugang.

6

Abb. 6.25 Verfolgen der Kante des Femurkondylus nach posterior.

Tipp Manchmal erscheint es geeignet, mit dem steil aufgestellten Fingernagel zu palpieren. Die Knochenkante wird dann noch deutlicher. Abb. 6.26 Palpation des Femurkondylus posterior.

Weiter posterior stößt der Finger gegen einige weiche Strukturen (▶ Abb. 6.36). Es handelt sich hier um die Muskeln, die ihren Ansatz am Pes anserinus superficialis haben. Der Gelenkspalt lässt sich eine weitere Strecke nach posterior verfolgen, wenn man unter der Palpation

den Unterschenkel etwas anhebt und die Oberschenkelmuskeln nach unten hängen lässt. Posterior wird der Femurkondylus unter dem palpierenden Finger wieder deutlich erreichbar.

167

Kniegelenk

Tuberculum adductorium und Sehne des M. adductor magnus Auf dem medialen Kondylus femoris erheben sich 3 knöcherne Strukturen, die nachfolgend aufgesucht werden: Tuberculum adductorium, Epicondylus medialis und ein Tuberculum gastrocnemius. Wichtige Weichteile stehen mit diesen Erhebungen in Kontakt. Die Beschreibungen folgen einer anatomischen Studie von LaPrade und Mitarbeitern (2007) (▶ Abb. 6.29). Die meist proximale Erhebung ist das Tuberculum adductorium, das wiederum nach proximal mit einer Apex abschließt. Hier endet die Crista supracondylaris medialis und inseriert die Sehne des hinteren Teils des M. adductor magnus. Die besonders starke Erhebung der Apex und die Insertion sind sehr gut zu ertasten (▶ Abb. 6.27, ▶ Abb. 6.28). Zum Aufsuchen der Apex streicht man mit der flachen Hand unter mäßigem Druck auf der Oberschenkelinnenseite von der Mitte aus nach distal. Die erste knöcherne Struktur, auf die man trifft, ist die gesuchte Apex des Tuberculum adductorium. Mit lokal eingesetzter, kreisender Palpation kann man die Dimensionen der Apex genau erfassen. Die rundliche, fest gepannte Sehne liegt direkt proximal der Apex und ist bei einer queren Palpation mit mäßigem Druck deutlich zu ertasten (▶ Abb. 6.27).

Die Ausdehnung des gesamten Tuberculum adductorium ist recht groß. Hier entspringt auch das nicht zu ertastende Retinaculum mediale patellae, das zum transversalen ligamentären Führungsapparat der Patella gehört (von Lanz u. Wachsmuth 2003). Zum weiteren Aufsuchen startet die Palpation: ● auf dem höchsten Punkt des Tuberkulums – weitere knöcherne Referenzpunkte ● von der Apex des Tuberkulums – Urpsprünge der Anteile des Lig. collaterale mediale

6.7.3 Epicondylus medialis femoris LaPrade et al. (2007) beschreiben ihn als meist anterioren und distalen knöchernen Vorsprung auf der medialen Epikondyle. Von dem höchsten Anteil des Tuberculum adductorium orientiert sich das Festlegen der Spitze des Epicondylus medialis um ca. 12 mm (9–15 mm) nach distal und anschließend um ca. 8 mm (6–12 mm) nach anterior. Dabei ist unbedingt zu berücksichtigen, wo in einer sitzenden ASTE des Patienten die Richtungen distal und anterior räumlich anzutreffen sind (▶ Abb. 6.29).

Tipp Das Sitzen am Bankrand drückt die posterioren Weichteile des Oberschenkels seitlich nach anterior. Falls die Pes-anserinus-Muskeln die Palpation der Sehne erschweren, kann man sie durch Anheben des Oberschenkels nach unten hängen lassen (▶ Abb. 6.28). Somit wird der sichere Zugang zur Sehne möglich.

Abb. 6.27 Palpation der Sehne des M. adductor magnus.

168

Abb. 6.28 Palpation mit Anheben des Oberschenkels.

6.7 Lokale Palpation medial

1 9 mm 3 12 mm

Abb. 6.30 Palpation des Ligamentum patellotibiale mediale.

2

8 mm

6

Abb. 6.29 Knöcherne Erhebungen auf der medialen Epikondyle. 1 = höchster Punkt des Tuberculum adductorium, 2 = Epicondylus medialis femoris, 3 = Tuberculum gastrocnemius.

6.7.4 Tuberculum gastrocnemius mediale Von dem höchsten Anteil des Tuberculum adductorium orientiert sich das Festlegen des Epicondylus medialis nach LaPrade et al. (2007) um ca. 9 mm (7–11 mm) nach distal und anschließend um ca. 8 mm (6–12 mm) nach posterior (▶ Abb. 6.29).

6.7.5 Anterior-mediale und mediale Weichteile Mediales Gelenkspaltdreieck In dem nahezu dreieckigen Gelenkspalt direkt medial der Patella lassen sich bei schlanken Personen einige Weichteile ertasten. Mit mäßigem Druck und steil aufgestellter Fingerspitze kann man mit mediolateral geführten kleinen Bewegungen das schmale Lig. patellotibiale mediale ertasten, das zur mittleren Schicht der anterioren Kapsel zählt (▶ Abb. 6.30). Sein Verlauf ist von der Patella nach distal und lateral absteigend. Bei leichter isometrischer Aktivität in Extension strafft sich das Band. Weiter nach proximal auf dem medialen Femurkondylus, direkt neben dem Patellarand, liegt die Plica synovialis mediopatellaris (▶ Abb. 6.31). Sie ist individuell unterschiedlich groß und hat eine Mindestbreite von 5 mm. Einmal ertastet kann der Verlauf ggf. auch über den anterior-medialen Gelenkspalt verfolgt werden. Ihr Verlauf ist parapatellar nach distal und medial absteigend. In manchen Fällen kann sie sich infolge von Einklemmungen am medialen Patellarand entzünden, verdicken und anterior

Abb. 6.31 Technik: Plica synovialis mediopatellaris

verspürte Knieschmerzen verursachen. Besonders in 30° Flexion ist sie mit einem Druck gegen den medialen Patellarand auf Schmerzen zu provozieren. In dem medialen Gelenkspaltdreieck sind die meniskotibialen Verbindungen der tiefen Schicht der Kapsel mit Druck gegen die Tibiakante zu erreichen. Sie sind als Struktur nicht zu erkennen, jedoch bei Entzündungen auf Schmerzen zu provozieren. Dies gelingt besonders gut bei 90° flektiertem und stark außenrotiertem Kniegelenk mit deutlichem Druck von proximal gegen die Tibiakante (▶ Abb. 6.45).

Mediales Kollateralband Während der Darstellung der knöchernen Strukturen war das Verfolgen der Kanten durch das mediale Kollateralband erschwert. Es ist im Bereich des Kniegelenkspaltes ca. 3–4 cm breit. Nun soll das Ligament möglichst vollständig dargestellt werden: femoraler Insertionsbereiche, anteriore und posteriore Ausdehnung über dem Gelenkspalt sowie der tibiale Fixationsbereich. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an den anatomischen Studien von Liu et al. (2010), LaPrade et al. (2007) und Saigo et al. (2017).

169

Kniegelenk

Femorale Insertionsbereiche Liu et al. (2010) und Saigo et al. (2017) sind sich in ihren Studienergebnissen einig, dass der femorale Insertionsbereich ● der Pars superficialis etwa 1–2 cm groß direkt vom Epicondylus medialis entspringt. Lediglich LaPrade et al. (2007) legen die Insertion posterior davon. Von da aus verläuft die Pars superficialis etwa 3 cm bis zur Gelenklinie (Liu et al. 2010) und ist auch dort zu ertasten. ● der Pars posterius obliquus an einer Fläche zwischen Epicondylus medialis und Tuberculum gastrocnemius mediale entspringt. Dies wäre ca. 2 cm in direkter distaler Linie zur Apex des Tuberculum adductorium zu sehen (Saigo et al. 2017). Die Wichtigkeit dieser sehr detaillierten anatomischen Kenntnisse wird im Abschnitt der therapeutischen Hinweise später erläutert.

Bei der Palpation entlang der tibialen Kante nach posterior wird der palpierende Finger recht bald durch eine flache, sehr feste und manchmal scharfkantige Struktur, die das Ertasten der Gelenkspaltbegrenzungen erschwert, an die Oberfläche gedrückt. Dieser Rand ist die anteriore Kante des Lig. collaterale mediale superficiale. Prinzipiell gilt: Solange der Gelenkspalt nicht deutlich zu ertasten ist, verstärkt das Kollateralband die Kapsel und gibt die direkte Palpation der ossären Strukturen nicht frei. Der superfiziale Anteil ist als eigenständige Struktur palpabel, da der anschließende posteriore oblique Anteil deutlich dünner ist. Mit querer Palpation auf dem Anteil nach anterior und posterior erspürt man eine konvexe Erhebung, die zwischen 1,5 und 2 cm lang ist (Liu et al. 2010). Dies gelingt in flektierter Position besonders gut. Die hintere Begrenzung dieser konvexen Erhebung, die das superfiziale Bündel markiert, stellt den Übergang zum posterioren (oder profunden) Anteil des Kollateralbandes dar.

Ausdehnung über dem Gelenkspalt Die palpierende Fingerbeere wird mit deutlichem Druck in das mediale Gelenkspaltdreieck gelegt. Die Fingerspitze ist diesmal im Verlauf des Gelenkspaltes ausgerichtet (▶ Abb. 6.32).

Abb. 6.32 Palpation mediales Kollateralband, anteriore Kante.

170

Abb. 6.33 Palpation posteriore Grenze.

6.7 Lokale Palpation medial

6

Abb. 6.34 Palpation posteriore Grenze mit Anheben des Oberschenkels.

Abb. 6.35 Darstellung der distalen Insertion des Lig. collaterale mediale.

Tipp

Tipp

Die Rückverlagerung des superfizialen Anteils des Innenbandes aus extendierter in flektierter Gelenkstellung ist palpabel. Markiert man die vordere Kante des Bandes in extendierter Gelenkstellung, lässt den Finger an der palpierten Stellung und führt dann das Knie in Flexion, so lässt der Druck gegen den Finger nach, wenn das Band nach posterior rutscht.

Die posteriore Begrenzung ist lediglich im Rückschluss aus der Tatsache zu lokalisieren, dass das Fehlen des Bandes wieder einen ungestörten Zugang zu den Gelenkpartnern gewährt. Hierzu sollte man über einen axialen Schub am Unterschenkel den Oberschenkel etwas von der Unterlage heben, die Muskeln hängen lassen und so den Gelenkspalt spüren (▶ Abb. 6.34).

Die Palpation wird auf dem posterioren obliquen Anteil des Seitenbandes fortgesetzt. Die posteriore Begrenzung dieses Anteils und damit des gesamten medialen Kollateralbandes ist erreicht, wenn der Gelenkspalt wieder deutlicher zu spüren ist (▶ Abb. 6.33). In diesem Bereich hat das Band auch die engsten Verbindungen zum medialen Meniskus.

Tibiale Insertion Um die gesamte Dimension dieses Bandes zu erfassen, verbindet man die Begrenzungen der jeweilgen Anteile in Höhe des Gelenkspaltes mit den femoralen Insertionsbereichen. Um den weiteren Verlauf nach distal darzustellen, muss man sich vorstellen, dass das Band vom Gelenkspalt um weitere durchschnittlich 6,2 cm (Liu et al. 2010) nach distal und etwas anterior verläuft. Es geht im Bereich der hinteren Hälfte der medialen Tibiafläche (halbe Distanz zwischen posteriorer und anteriorer Tibiakante) unterhalb des Pes anserinus superficialis flächig in das Periost über (▶ Abb. 6.35). Betrachtet man den ge-

171

Kniegelenk samten, nach distal und anterior absteigenden Verlauf des Ligaments und bedenkt die Masse an Kollagen, mit der das Band die Kapsel verstärkt, so wird verständlich, dass das Band die primäre Bremse für Valgusstress, aber auch für die Außenrotation des Gelenkes ist.

mit Diabetes, Kniearthrosen und Übergewicht scheinen ein erhöhtes Risiko zu haben, ein „Anserine-Syndrom“ zu entwickeln (Helfenstein u. Kuromoto 2010). Zudem wird auch eine Valgusdeformation, ggf. mit erhöhter Valguslaxität, als Risikofaktor diskutiert (Alvarez-Nemegyei 2007).

Pes-anserinus-superficialis-Gruppe

Technik – Insertionsbereich

Diejenigen Strukturen, die uns bislang in der posterioren Lokalisation der medialen gelenknahen Strukturen behindert haben, sollen nun identifiziert werden. Es handelt sich um die Muskelgruppe, die am Pes anserinus superficialis inseriert. Im Einzelnen sind dies von anterior nach posterior: ● M. sartorius ● M. gracilis ● M. semitendinosus

Im Bereich des Pes anserinus sind die Sehnen nicht mehr voneinander zu differenzieren. Dies gelingt weder mit lokaler Palpation noch in der Anatomie an Präparaten. Man kann lediglich die untere Begrenzung des Insertionsbereiches darstellen. Die palpierende Hand liegt flächig der medialen Unterschenkelseite, der Daumen der anterioren Tibiakante auf. Streicht man nun von distal nach proximal, ertasten die Finger zunächst die eher konvexe Form des M. gastrocnemius, dann eine seichte Konkavität. Stoßen die Finger wieder gegen eine leichte Konvexität, so liegt hier die distale Begrenzung des Pes anserinus superficialis (▶ Abb. 6.36). Dies wird mit einer schräg nach vorne abfallenden Linie markiert (▶ Abb. 6.37).

Die Lage der Insertion wird von Helfenstein und Kuromoto (2010) mit 5 cm distal des Gelenkspaltes angegeben. Zahlreiche Bursen liegen zwischen dem tibialen Anteil des Innenbandes und den Pes-anserinus-Insertionen. Beschwerden (Bursitis oder Tendinitis) werden vor allem bei Langdistanzläufern beobachtet. Auch Personen

Abb. 6.36 Darstellung des Insertionssbereiches der Pes-anserinus-superficialis-Muskeln.

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Abb. 6.37 Lage der Pes-anserinus-superficialis-Muskeln.

6.7 Lokale Palpation medial

Abb. 6.39 Palpation N. saphenus.

Technik

Abb. 6.38 Differenzierung proximal des Kniegelenks.

Technik – muskuläre Differenzierung Die einzelnen Muskeln sind proximal des Kniegelenkes voneinander zu trennen (▶ Abb. 6.38). Die geeignete Stelle hierfür liegt posterior des Vastus medialis. Alle Muskeln lassen sich als Gruppe mit Aktivität in Flexion, ggf. mit Innenrotation des Kniegelenkes anspannen. Diejenige Sehne, die bei Isometrie in Flexion am deutlichsten hervortritt, ist die Sehne des M. semitendinosus.

Tipp Um die einzelnen Muskeln über eine selektive Aktivität ausfindig zu machen, benutzt man ihre Funktion im zweiten Gelenk, dem Hüftgelenk. So findet man den: ● M. sartorius mit zusätzlicher Aktivität in Flexion ● M. gracilis mit zusätzlicher Aktivität in Adduktion ● M. semitendinosus mit zusätzlicher Aktivität in Extenson des Hüftgelenkes

N. saphenus Die wichtigsten neuralen Strukturen passieren das Knie auf der posterioren Seite. Lediglich ein großer Ast des N. femoralis überquert das Gelenk medial: der N. saphenus. Seine Lage ist höchst variabel (mündl. Mitteilung Dos Winkel). Die abgebildete Lage ist daher nur eine beispielhafte Darstellung dieser individuellen Situation.

Für die palpatorische Lokalisation neuraler Strukturen braucht man eine ganz bestimmte Technik. Um die Bewegung eines peripheren Nervs bzw. seines Astes wahrzunehmen, hakt man diesen mit spitz aufgestellter Fingerbeere an und zupft an ihm wie an einer lockeren Gitarrenseite. Mit anterior-posterioren Bewegungen auf dem medialen Kondylus bzw. über dem medialen Gelenkspalt versucht man zunächst, mit der flach eingesetzten und später ggf. steil aufgestellten Fingerspitze eine dünne Struktur zu finden. Die Lokalisierung ist äußerst schwierig. Der Nerv ist lokalisiert, wenn eine dünne Struktur unter dem palpierenden Finger hin und her rollt (▶ Abb. 6.39).

6

6.7.6 Therapeutische Hinweise Wozu braucht man die Lokalisierung des Gelenkspaltes? Wie bereits beschrieben, wird mithilfe der Tibiakante die räumliche Ausrichtung des Gelenkspaltes festgestellt. Sie ist Orientierungsgröße für die translatorischen Techniken der Manuellen Therapie. In Bezug zur Längsachse der Tibia steht sie nicht exakt rechtwinklig, sondern fällt grob nach posterior um ca. 10° nach distal ab. Bei den abgebildeten Anwendungsbeispielen handelt es sich um Gleittechniken der Tibia nach posterior, um das notwendige Schaukelgleiten femorotibial herzustellen, das zur Durchführung einer störungsfreien Flexion unerlässlich ist. Ob es sich nun um eine Einstellung des Gelenkes um ca. 100° Flexion (▶ Abb. 6.40) oder eine endgradige Vorpositionierung (▶ Abb. 6.41) handelt, in jedem Fall muss man die genaue räumliche Ausrichtung des Gelenkspaltes beachten, um parallel dazu zu schieben.

173

Kniegelenk

Abb. 6.40 Gleittechnik Tibia nach posterior.

Abb. 6.42 Palpation des Gelenkspalts.

Abb. 6.43 Steinmann-II-Test, Phase 1

Abb. 6.41 Gleittechnik bei endgradiger Vorpositionierung.

Provokation der Meniskusvorderhörner Die Menisken bewegen sich auf dem Tibiaplateau bei Flexion nach posterior und bei Extension nach anterior. In endgradiger Extension sind die meniskalen Vorderhörner im Gelenkspalt direkt neben der Apex patellae erreichbar. Der Steinmann-II-Test ist ein Provokationstest der Meniskusvorderhörner auf Schmerz. Er kann aus Flexion

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Abb. 6.44 Steinmann-II-Test, Phase 2.

6.7 Lokale Palpation medial in Extension mit zunehmendem oder aus Extension in Flexion mit abnehmendem Schmerz durchgeführt werden (wie hier gezeigt). Zur Durchführung des Tests stellt man das Kniegelenk zunächst in voller Extension ein und positioniert den Daumen der testenden Hand mit deutlichem Druck neben der Apex patellae in den Gelenkspalt (▶ Abb. 6.42). Bei einer Läsion des Meniskusvorderhornes ist dieser Druck schmerzhaft. Anschließend wird das Kniegelenk kontrolliert aus der vollen Extension in Flexion geführt (▶ Abb. 6.43 und ▶ Abb. 6.44). Der Meniskus gleitet dabei auf der Tibia nach posterior und verlässt den Druck des postierten Daumens. Das Nachlassen des Druckschmerzes bestätigt die Läsion des Mensikusvorderhorns.

Querfriktionen der femoralen Insertionen des Lig. collaterale mediale In ihrer anatomischen Studie konnten Luyckx et al. (2016) die besonderen Zugbelastungen des Lig. collaterale mediale, Pars superficiale, an der femoralen Insertion beschreiben. Dieser Anteil des Innenbandes behält in jeder Winkelstellung seine Länge und ist demzufolge als isometrisch zu betrachten. Es verformt sich während der Bewegung aus Extension in Flexion in 3 Ebenen. Proximal der Gelenklinie verdreht es sich. Die anteriore Kante verlagert ihre Position dabei spürbar nach posterior. Von Lanz und Wachsmuth (2003) beschreiben eine Bursa lig. collateralis medialis direkt distal des Epikondylus, die Reibungen des Ligaments bei Kniebewegungen gegenüber dem femoralen Kondylus reduziert. Die Verdrehung des Bandes bewirkt eine erhöhte Spannung an der femoralen Insertion. Daher können Verletzungen des Innenbandes nicht nur auf Höhe des Gelenkspaltes, sondern auch an der proximalen (und auch distalen) Insertion beobachtet werden. Luyckx (2016) appelliert an die Chirurgen, bei der Rekonstruktion eines rupturierten Innenbandes auch die proximalen Insertionsbereiche einzubinden. Für die therapeutischen Berufe impliziert dies die ausgedehnte palpatorische Suche nach der/den genauen Lokalisation(en) einer Verletzung.

Querfriktionen der meniskotibialen Ligamente Die Vertiefung neben der Apex patellae ist nicht nur Ausgangspunkt für die Lokalisation der Knochenpartner, sondern auch für die Palpation der meniskotibialen Ligamente. Die „Coronary-Ligaments“ sind häufig Anlass anteriormedialer Kniebeschwerden, besonders infolge traumatischer Meniskusläsionen. Sie inserieren einige Millimeter distal des Gelenkspaltes (Bikkina et al. 2004). Man erreicht sie mit der Querfriktionstechnik, indem man den palpierenden Zeigefinger in die bekannte Grube

Abb. 6.45 Querfriktionen der meniskotibialen Bänder.

neben dem Apex patellae platziert und die Fingerbeere nach distal – zum Tibiaplateau – wendet (▶ Abb. 6.45). Um das mediale Tibiaplateau besser zugänglich zu machen, dreht man es mit einer Außenrotation weiter nach vorne heraus. Die querfriktionierende Bewegung des Fingers erfolgt mit Druck (gegen die Tibia) von posterior nach anterior hin zur Apex patellae. Diese Technik lässt sich sowohl zur Schmerzprovokation einer lädierten Struktur als auch zur Therapie einsetzen.

6

Querfriktionen des medialen Kollateralbandes Verletzungen des medialen Seitenbandes sind häufig. Erfahrungsgemäß befinden sich die meisten Läsionen des insgesamt ca. 9 cm langen Bandes (Liu et al. 2010) in Höhe des Gelenkspaltes. Um die lädierte Stelle exakt zu identifizieren, benutzt man die beschriebene Technik zur Lokalisierung der vorderen Kante des Bandes (▶ Abb. 6.46). So kann man zunächst sicher sein, dass man in Höhe des Gelenkspaltes ist. Nun übt man Querfriktion mit posterior-anterioren Bewegungen auf dem Ligament aus, die sich 5-mm-weise nach posterior über die gesamte Breite des Bandes hinweg bewegen.

Joint Line Tenderness Test Mit diesem Test versucht man, insbsondere bei arthrotischen Kniegelenken, zwischen der arthrotisch bedingten Empfindlichkeit und einer degenerativen Mensikuspathologie zu unterscheiden. Er wird bei einem 90° flektiertem Knie in der ASTE Rückenlage durchgeführt und kann für die medialen und lateraler Gelenklinie eingesetzt werden (▶ Abb. 6.47). Der mediale Meniskus wird

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Kniegelenk bei Innenrotation des Kniegelenkes deutlicher palpabel, der laterale bei Außenrotation (Malanga et al. 2003). Zur alleinigen Diagnostik einer Meniskopathie sollte er mit anderen Tests (z. B. McMurray-Test) kombiniert werden. Seine wissenschaftlichen Gütekriterien werden in der Literatur unterschiedlich hoch angegeben und liegen gemittelt bei einer Sensitivität von 0,72 und einer Spezifität von 0,75 (Berberich 2017). Die Palpation startet am Vorderrand des superfizialen Teils des Innenbandes mit kräftigem Druck und kleiner anterior-posteriorer Bewegung. Dies wird zentimeterweise nach posterior fortgesetzt, bis der Patient seinen typischen Schmerz angibt. Anschließend wird unter fortwährender Lokalisation der empfindlichen Stelle das Knie zu- oder abnehmend gebeugt. Verändert sich nun die Position der empfindlichen Stelle, dann lässt dies auf eine Meniskusläsion schließen. Verändert sie sich nicht, dann stammt die Empfindlichkeit von degenerativen Gelenkveränderungen.

6.8 Lokale Palpation lateral 6.8.1 Kurzfassung des Palpationsganges Die Vorgehensweise entspricht weitestgehend derjenigen auf der medialen Seite. Zunächst wird auf der lateralen Seite ein sicherer Zugang zum Gelenkspalt gesucht. Die artikulierenden Knochen werden von anterior zur Rückseite des Gelenkes verfolgt. Strukturen, die den Gelenkspalt kreuzen, werden lokalisiert und benannt (▶ Abb. 6.48).

ASTE Als Ausgangsposition wählt man erneut eine erhöhte Sitzposition für den Probanden, z. B. am Rand einer Behandlungsliege. Der Therapeut sitzt eher auf der medialen Seite davor. Der Unterschenkel sollte möglichst frei im Überhang und von einer Hand des Therapeuten in mehr oder weniger Flexion bewegbar sein (▶ Abb. 6.49). Diese ASTE gewährt einen freien Zugang zu den erreichbaren Strukturen der lateralen Seite des Kniegelenkes.

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Abb. 6.46 Querfriktion des medialen Kollateralbandes.

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Abb. 6.47 Joint Line Tenderness Test.

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Abb. 6.48 Strukturen der lateralen Seite des Kniegelenks. 1: laterales Gelenkspaltdreieck 2: Tractus iliotibialis mit Fasern zur Patella (Lig. iliopatellare). 3: Tuberculum Gerdyi 4: Epicondylus lateralis femoris 5: Caput fibulae 6: Lig collaterale laterale 7: Sehne des M. biceps femoris 8: N. peroneus communis

Kniegelenk bei Innenrotation des Kniegelenkes deutlicher palpabel, der laterale bei Außenrotation (Malanga et al. 2003). Zur alleinigen Diagnostik einer Meniskopathie sollte er mit anderen Tests (z. B. McMurray-Test) kombiniert werden. Seine wissenschaftlichen Gütekriterien werden in der Literatur unterschiedlich hoch angegeben und liegen gemittelt bei einer Sensitivität von 0,72 und einer Spezifität von 0,75 (Berberich 2017). Die Palpation startet am Vorderrand des superfizialen Teils des Innenbandes mit kräftigem Druck und kleiner anterior-posteriorer Bewegung. Dies wird zentimeterweise nach posterior fortgesetzt, bis der Patient seinen typischen Schmerz angibt. Anschließend wird unter fortwährender Lokalisation der empfindlichen Stelle das Knie zu- oder abnehmend gebeugt. Verändert sich nun die Position der empfindlichen Stelle, dann lässt dies auf eine Meniskusläsion schließen. Verändert sie sich nicht, dann stammt die Empfindlichkeit von degenerativen Gelenkveränderungen.

6.8 Lokale Palpation lateral 6.8.1 Kurzfassung des Palpationsganges Die Vorgehensweise entspricht weitestgehend derjenigen auf der medialen Seite. Zunächst wird auf der lateralen Seite ein sicherer Zugang zum Gelenkspalt gesucht. Die artikulierenden Knochen werden von anterior zur Rückseite des Gelenkes verfolgt. Strukturen, die den Gelenkspalt kreuzen, werden lokalisiert und benannt (▶ Abb. 6.48).

ASTE Als Ausgangsposition wählt man erneut eine erhöhte Sitzposition für den Probanden, z. B. am Rand einer Behandlungsliege. Der Therapeut sitzt eher auf der medialen Seite davor. Der Unterschenkel sollte möglichst frei im Überhang und von einer Hand des Therapeuten in mehr oder weniger Flexion bewegbar sein (▶ Abb. 6.49). Diese ASTE gewährt einen freien Zugang zu den erreichbaren Strukturen der lateralen Seite des Kniegelenkes.

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Abb. 6.46 Querfriktion des medialen Kollateralbandes.

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Abb. 6.47 Joint Line Tenderness Test.

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Abb. 6.48 Strukturen der lateralen Seite des Kniegelenks. 1: laterales Gelenkspaltdreieck 2: Tractus iliotibialis mit Fasern zur Patella (Lig. iliopatellare). 3: Tuberculum Gerdyi 4: Epicondylus lateralis femoris 5: Caput fibulae 6: Lig collaterale laterale 7: Sehne des M. biceps femoris 8: N. peroneus communis

6.8 Lokale Palpation lateral

Abb. 6.50 Palpation der Tibiakante.

Von hier aus kann man mit dieser Technik das Tibiaplateau recht weit nach posterior verfolgen. Zu erwarten ist wiederum eine eher gerade Linie, die nach posterior etwas schräg abfällt (Tibia Slope).

Abb. 6.49 ASTE Palpation lateral.

Alternative ASTEn Die oben beschriebene ASTE dient hauptsächlich zu Übungszwecken. Im täglichen Umgang mit der lateralen Seite des Kniegelenkes zwingen Befund- und Behandlungstechniken oft zu anderen Winkelstellungen. Zur Festigung der Palpationsfertigkeiten sollte daher der Palpationsgang in den ASTEn der täglichen Arbeit am Patienten wiederholt werden.

6.8.2 Palpation einzelner Strukturen Laterales Gelenkspaltdreieck Vorgehensweise und eingesetzte Techniken entsprechen grundsätzlich der medialen Palpation. Erneut orientiert man sich zunächst an der Apex patellae, um den Gelenkspalt leicht zu erreichen. Er wird begrenzt vom lateralen Femurkondylus und vom lateralen Tibiaplateau.

Technik – laterales Tibiaplateau Um die tibiale Kante exakt zu palpieren, benutzt man die von proximal kommende Hand mit rechtwinkliger Technik. Die zweite Hand kontrolliert den Unterschenkel. Die palpierende Fingerbeere wird in das lateral der Apex patellae liegende Grübchen platziert. Die Fingerspitze stößt nach distal gegen die hart antwortende Tibiakante (▶ Abb. 6.50).

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Tipp Im Verlauf der Palpation nach posterior wird die tibiale Kante durch die Anwesenheit zweier Weichteilstrukturen undeutlich. Zur Sicherheit der Palpation kann man eine Bestätigung durch Bewegung des Unterschenkels erhalten. Hier bieten sich nochmals leichte passive Extension und ausgiebige Rotationen des Gelenkes an.

Technik – lateraler Femurkondylus und Lig. patellotibiale laterale Die palpierende Hand kommt jetzt von distal und wird erneut in die Vertiefung lateral der Apex patellae platziert. Die Fingerspitze drückt in die Vertiefung und versucht, die proximale Knochenstruktur zu erreichen (▶ Abb. 6.51 und ▶ Abb. 6.52). Der harte Widerstand ist die überknorpelte Gelenkfläche des Condylus lateralis. Rutscht man von hier aus etwas weiter nach proximal, erreicht man eine weitere Kante, die Knorpel-KnochenGrenze des Kondylus. Analog zum medialen patellotibialen Band verläuft das laterale Band in der Vertiefung medial der Apex schräg nach lateral abwärts zur Tibia und sollte mit Druck in die Tiefe und Querbewegung der Fingerspitze nach medial und lateral zu ertasten sein, was allerdings nicht immer gelingt (ohne Abbildung). Dem Femurkondylus wird von dem ersten harten Kontakt aus weiter nach posterior nachgespürt (▶ Abb. 6.53). Die Palpation muss der Form des Femurkondylus folgen. Es ist eine konvex geformt Linie zu erwarten, die einen

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Kniegelenk kleineren Radius als medial aufweist. Der laterale Femurkondylus ist etwa 1–2 cm kürzer als der mediale (von Lanz u. Wachsmuth 2003, S. 237). Im Allgemeinen lassen sich die knöchernen Grenzen des Gelenkspaltes besser als auf der medialen Seite ertasten. Sollte die Palpation lateral dennoch schwierig sein, kann man den steil aufgestellten Fingernagel einsetzen. Die Knochenkante wird dann noch deutlicher. Die hinteren Anteile des Gelenkspaltes sind auf der lateralen Seite ohne besondere Behinderungen durch Weichteile palpabel. Ein Anheben des Beines, um die Muskulatur hängen zu lassen, ist hier weniger notwendig.

Tractus iliotibialis Abb. 6.51 Palpation Femurkondylus anterior.

Der Tractus iliotibialis überquert als flache, breite und fest-elastische Struktur das Kniegelenk und inseriert direkt distal des Gelenkspaltes an einer Rauhigkeit (Tuberculum Gerdyi) (▶ Abb. 6.2). Insgesamt imponiert der Traktus weniger breit als das mediale Kollateralband, das an vergleichbarer Stelle medial den Gelenkspalt überquert. Auch ist die vordere Kante des Traktus weniger scharfkantig als die Pars superficiale des Innenbandes.

Technik – in Höhe des Gelenkspaltes

Abb. 6.52 Palpation Fermurkondylus lateral.

Abb. 6.53 Palpation Fermurcondylus posterior.

178

Die palpierende Fingerbeere wird mit deutlichem Druck in das laterale Gelenkspaltdreieck gelegt. Die Fingerspitze ist diesmal im Verlauf des Gelenkspaltes nach lateral ausgerichtet. Bei der Palpation der femoralen und tibialen Kondyle nach lateral wird man ebenfalls nach kurzer Strecke aus dem Gelenkspalt an die Oberfläche gedrückt (▶ Abb. 6.54). Dies markiert die anteriore Grenze des Traktus. Die Gelenkpartner sind, solange der Traktus den

Abb. 6.54 Palpation Tractus iliotibialis – anteriore Kante.

6.8 Lokale Palpation lateral

Tractus iliotibialis Lig. iliopatellare

Tuberculum Gerdyi

Abb. 6.56 Palpation des Tuberculum Gerdyi.

Technik

Abb. 6.55 Palpation proximal des Kniegelenks.

Gelenkspalt überquert, weniger deutlich zu erspüren. Somit lässt sich im weiteren Verlauf der Palpation nach posterior auch die posteriore Grenze des Traktus bestimmen.

Technik – proximal des Kniegelenkes Hier ist der Traktus in seiner vollen Breite ausfindig zu machen, wenn diese kollagene Struktur durch kräftige Muskelaktivität gespannt wird. Aktiviert werden M. vastus lateralis (mit Knieextension) und M. tensor fasciae latae (mit Flexion und Innenrotation). Kurz proximal des Niveaus der Patellabasis kann man die Kanten des Traktus mit rechtwinkliger Palpationstechnik darstellen (▶ Abb. 6.55). Ein nicht unerheblicher Anteil der Traktusfasern zieht von der Vorderseite des Traktus zur lateralen Kante der Patella und inseriert hier distal der Vastus-lateralis-Sehne. In Flexionsposition kann man diese Fasern (Lig. iliopatellare) durch Isometrie in Flexionsrichtung auf Spannung bringen und somit gut gegenüber den Vastusfasern differenzieren (▶ Abb. 6.56).

Tuberculum Gerdyi Die hauptsächliche Insertion des Traktus an der Tibia hat mehrere Synonyme: Tuberositas von Gerdy, Tuberositas lateralis tibiae, Tuberositas tractus iliotibialis.

6

Diese Rauigkeit ist im Allgemeinen leicht zu lokalisieren und zu begrenzen, indem man wieder einige Fingerbeeren flach einsetzt und die anterior-laterale Seite der Tibia kurz unterhalb des Gelenkspaltes bestreicht (▶ Abb. 6.56). Palpatorisch stellt sich die Erhebung als Halbrund direkt im Anschluss an die tibiale Knochenkante dar. Zur Tuberositas tibiae und zum Caput fibulae bildet sie ein gleichschenkliges Dreieck. Stellt man das Kniegelenk bei ca. 30–40° Flexion ein, liegt der Traktus direkt über dem Epicondylus lateralis. Weniger Flexion verlagert ihn nach anterior des Epikondylus, mehr Flexion nach posterior. Hierdurch wird deutlich, dass bei jedem Schrittzyklus der Traktus über den Epikondylus rutschen muss. Gelegentlich kann dies vor allem bei zyklischen Sportbelastungen zu Beschwerden führen und wird als ilitiobiales Friktionssyndrom bezeichnet (Shamus u. Shamus 2015).

Epicondylus lateralis femoris und Insertion des M. popliteus Dieser ist weit weniger prominent als das mediale Pendant und mit gleicher Technik zu ertasten. Er dient als ein möglicher Orientierungspunkt zum Aufsuchen des lateralen Kollateralbandes.

Technik – Epikondylus Mit 2 flach eingesetzten Fingerbeeren wird die Region mit wenig Druck und kreisenden Bewegungen palpiert (▶ Abb. 6.57). Die stärkste Erhöhung ist der laterale Epikondylus. In einigen Fällen ist eine echte Spitze des Epikondylus aufgrund der sehr flachen Wölbung nicht zu spüren (Takeda et al. 2015).

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Kniegelenk

Technik

Epicondylus lateralis

Das Aufsuchen dieser prominenten Struktur am posterior-lateralen Tibiaplateau erfolgt meist problemlos mit zunächst flach eingesetzten Fingerbeeren. Anschließend werden die Konturen des Fibulaköpfchens anterior, proximal und posterior dargestellt. Die hierzu genutzte Technik ist wieder die rechtwinklige Palpation. Bei der ersten Lokalisierung des Caput fibulae wird man über die Größe erstaunt sein (▶ Abb. 6.58). Weiterhin wird deutlich, dass das Fibulaköpfchen eine Spitze hat, die individuell recht variabel ausfällt.

Tipp Abb. 6.57 Palpation des Epicondylus lateralis femoris.

Technik – Sehne des M. popliteus Vom Epikondylus aus ist die sehnige Insertion des M. popliteus zu erspüren. Hierzu palpiert man von der Spitze des Epikondylus ca. 0,5 cm nach distal und dann die gleiche Strecke nach anterior. Die Insertion der zwischen Kollateralband und Kapsel hindurch ziehenden Sehne ist selten als abgrenzbare Struktur ertastbar. Daher lässt man zur Bestätigung der Lokalisation vom Probanden ganz leichte rhythmische Kniebeugeaktivitäten ausführen. Unter dem palpierenden Finger ist dann eine Aktivität zu spüren. Diese Lokalisierung ist allerdings als recht schwer einzustufen (ohne Abbildung).

Caput fibulae

Falls Lokalisierung und detaillierte Umrandung dennoch nicht einfach sein sollten, kann man die deutlich hervorgehobene Sehne des M. biceps femoris nach distal bis zum Fibulaköpfchen verfolgen.

Laterales Kollateralband Wenn der Therapeut eine Verbindungslinie zwischen dem Epicondylus lateralis und dem Caput fibulae einzeichnet, markiert er somit den Verlauf und die Ausdehnung des lateralen Kollateralbandes.

Technik Da bei der beschriebenen Ausgangssituation der lateralen Kniegelenkpalpation das Band relativ entspannt bleibt, ist die direkte Lokalisierung mit Querpalpation nicht immer erfolgreich (▶ Abb. 6.59).

Als nächster Punkt der lateralen Palpation des Kniegelenkes wird das Caput fibulae in seinen Ausmaßen umrandet. Es ist als Insertion des lateralen Kollateralbandes und des M. biceps femoris sowie als Gelenkpartner der Art. tibiofibularis interessant.

Abb. 6.58 Begrenzungen des Caput fibulae.

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Abb. 6.59 Palpation laterales Kollateralband.

6.8 Lokale Palpation lateral

Tipp Es gibt 2 Möglichkeiten, das Band deutlicher darzustellen: ● Zur Bestätigung der Lokalisation verlässt man die Ausgangssituation. Ein Finger bleibt auf der Region, an der das Band vermutet wird. Ein „Viererzeichen“ wird eingebracht. Hierzu wird das zu palpierende Bein über das andere gelegt, sodass im Hüftgelenk eine Flexion mit Abduktion und Außenrotation entsteht (▶ Abb. 6.60). ● Bei entspannt hängendem Knie entsteht jetzt ein Varus-Stress auf das Gelenk, der eine Spannung des Kollateralbandes hervorruft. ● Nun stellt sich das Band unter dem palpierenden Finger als kurze, kräftige und rundliche Struktur dar. Es bleibt lokalisiert, während das Bein wieder in die Ausgangsposition zurückgebracht wird. ● Weit weniger aufwendig, um die vermutete Lokalisation dieses Bandes zu bestätigen, ist das Einbringen einer kräftigen passiven Außenrotation des Gelenkes. Das Band hat einen nach posterior absteigenden Verlauf und wird hierdurch ebenfalls gespannt und lokalisierbarer (ohne Abbildung).

Sehne des M. biceps femoris Der M. biceps femoris ist der einzige wirklich effektive Flexor und Außenrotator des Kniegelenkes. Seine Sehne ist unter isometrischer Aktivität meist deutlich sichtbar (▶ Abb. 6.61). Er inseriert mit einigen Fasern am lateralen Meniskus, einige Fasern „umarmen“ das laterale Kollateralband, während der größte Teil seiner Sehne am Caput fibulae inseriert.

Technik Die breite, prominente Sehne lässt sich mit rechtwinkliger Palpation an der anterioren und posterioren Seite begrenzen (▶ Abb. 6.62). Die folgende Struktur nach anterior ist der Tractus iliotibialis, nach posterior der N. peroneus communis. Die Sehne lässt sich einfach bis zu ihrer Insertion am Caput fibulae verfolgen.

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Abb. 6.61 Anspannung des M. biceps femoris.

Abb. 6.60 Palpation mithilfe des „Viererzeichens“.

Abb. 6.62 Muskelränder des Biceps femoris proximal des Kniegelenks.

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Kniegelenk

N. peroneus communis Er gehört zu den großen peripheren Nerven, die das Kniegelenk überqueren. Wie aus der topografischen Anatomie bekannt, teilt er sich vom gemeinsamen Verlauf mit dem N. tibialis etwa eine Handbreit proximal des Gelenkes ab (▶ Abb. 6.63). Anschließend begleitet er die Sehne des M. biceps femoris und überquert die Fibula unterhalb des Caput, bevor er sich in die profunden und superfizialen Äste aufteilt.

Technik Eine steil aufgestellte Fingerspitze rutscht am Fibulaköpfchen nach distal, bis es sich nicht mehr als knöcherne Verdickung darstellt und nur Weichteile zu spüren sind. Von hier aus etwas nach posterior ist der Nerv zu palpieren und wird mit einer kleinen queren Bewegung (proximal-distal) „gezupft“ (▶ Abb. 6.63). Die Dicke des Nervs überrascht, wenn man ihn zum ersten Mal lokalisiert.

6.8.3 Therapeutische Hinweise Gelenkspalt Die Anwendung der Palpation des Gelenkspaltes findet auch lateral in der winkelgenauen Ausführung der manualtherapeutischen Gleittechniken ihre praktische Umsetzung (▶ Abb. 6.39).

Meniscus lateralis

Behandlung des lateralen Kollateralbandes Analog zur medialen Seite sind Querfriktionen zur Bestätigung bzw. Behandlung schmerzhafter Läsionen des lateralen Seitenbandes möglich. Insgesamt gibt es 3 Möglichkeiten, das Band aufzusuchen: ● quere Palpation im Verlauf des Gelenkspaltes ● von den knöchernen Fixpunkten des Bandes (Epikondylus und Caput fibulae) aus ● das „Viererzeichen“ einbringen Als Ausgangsstellung eignet sich erfahrungsgemäß eine Einstellung des Kniegelenkes in ca. 90° Flexion bei Rückenlage des Patienten. Mit einer leichten Außenrotation lässt sich das Band etwas stabiler unter dem friktionierenden Finger vorspannen. Andere ASTEn sind auch möglich (▶ Abb. 6.64). Der Therapeut steht auf der gegenüberliegenden Seite. Mit einer Hand sichert er die Gesamtposition des Beines, die andere bringt die Technik ein. Die Friktion wird mit dem beschwerten Zeigefinger durchgeführt, während sich der Daumen medial abstützt, um den Griff zu sichern. Nach Aufsuchen des Bandes werden quere Friktionen auf der Struktur eingesetzt, um die lädierte Stelle genau zu lokalisieren (▶ Abb. 6.65). Dabei wird das Band in mehreren kleinen Schritten abgesucht. Die Technik wird therapeutisch bei subklinischer Dosierung mit schmerzlinderndem Ziel angewandt.

Der Steinmann-II-Test zur Provokation des lateralen Meniskusvorderhorns ist auch hier mit gleicher Ausführung anwendbar (▶ Abb. 6.43 und ▶ Abb. 6.44).

Abb. 6.63 Palpation N. peroneus communis.

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Abb. 6.64 ASTE Querfriktion Ligamentum collaterale laterale.

6.9 Lokale Palpation posterior

Abb. 6.65 Detailansicht der Querfriktion.

Traktus-Friktionssyndrom Gründe für laterale Schmerzen der Knieregion sind zahlreich. Nur zu häufig werden Beschwerden dem femorotibialen Gelenk oder dem lateralen Meniskus zugeordnet. Daher sollen 2 pathologische Möglichkeiten aufgezeigt werden, die unabhängig von den artikulären Pathologien sind. Anatomie in vivo ist hier unabdingbare Voraussetzung, diese Beschwerden zu erkennen und zu benennen. Bei Sportlern mit extrem häufigen Flexions-Extensions-Zyklen im Bewegungsablauf kann ein Runner's Knee oder Traktus-tibialis-Friktionssyndrom auftreten. Dies wird durch das wiederholte Reiben des Traktus über den Epicondylus lateralis während Beugung und Streckung verursacht. Meist spielen noch zusätzliche pathogene Faktoren, wie beispielsweise eine varische Abweichung der Gelenkstatik, eine weitere Rolle. Die Nutzbarkeit der Anatomie in vivo zeigt sich in der Möglichkeit, eine Reizung des Traktus bzw. der Bursa zwischen Traktus und Epikondylus zu bestätigen. Die Feststellung, dass es sich hier um eine (eher einfach zu behandelnde) periartikuläre Problematik handelt, stellt wichtige Weichen für die weitere Befundung und Behandlung des betroffenen Knies dar.

Arthritis des proximalen tibiofibularen Gelenkes Bei einem weiteren Beschwerdebild mit Schmerzen auf der anterior-lateralen Seite der Knieregion handelt es sich um eine Arthritis des Gelenkes zwischen Caput fibulae und der posterior-lateralen Tibia. Auch hier ist die Tatsache, dass es sich nicht um das femorotibiales Gelenk handelt, sehr wichtig. Das tibiofibulare Gelenk gehört funktionell zum Bewegungskomplex der wichtigen Gelenke des Fußes (tibiotarsaler Komplex). Vor allem bei Flexions-Extensions-

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Abb. 6.66 Gelenkspieltest tibiofibular.

Bewegungen des Fußes wird die Fibula mitbewegt. Und dies natürlich auch proximal. Eine ligamentäre Sprunggelenkverletzung im Sinne eines „Umknicktraumas“ zieht häufig die Fibula in eine veränderte Position mit posteriorer Laxität und ggf. Dislokalisation im proximalen tibiofibularen Gelenk. Beides äußert sich über einen längeren Zeitraum im Sinne einer kapsulären Reizung mit anterior-lateralen Schmerzen, die ohne Kenntnis dieser Zusammenhänge schwer einzuordnen sind. Allein die lokale Palpation an der anterioren Gelenkseite bzw. ein gut durchgeführter Gelenkspieltest am tibiofibularen Gelenk können diese Beschwerden bestätigen (▶ Abb. 6.66).

6.9 Lokale Palpation posterior 6.9.1 Kurzfassung des Palpationsganges Auf der Rückseite des Kniegelenkes prägt die Kniekehle (Fossa poplitea) das Bild der topografischen Anatomie und das palpatorische Vorgehen. Sie stellt eine rautenförmige Vertiefung zwischen muskulären Begrenzungen dar. Das Ziel der Anatomie in vivo ist es, die Begrenzungen der Kniekehle sowie deren Inhalt zugänglich zu machen. Um sich in der Fossa poplitea zu orientieren, ist es ratsam, die Weichteilstrukturen (Muskulatur und Nerven) deutlich auf Spannung zu bringen, damit ihre Konturen deutlich werden.

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6.9 Lokale Palpation posterior

Abb. 6.65 Detailansicht der Querfriktion.

Traktus-Friktionssyndrom Gründe für laterale Schmerzen der Knieregion sind zahlreich. Nur zu häufig werden Beschwerden dem femorotibialen Gelenk oder dem lateralen Meniskus zugeordnet. Daher sollen 2 pathologische Möglichkeiten aufgezeigt werden, die unabhängig von den artikulären Pathologien sind. Anatomie in vivo ist hier unabdingbare Voraussetzung, diese Beschwerden zu erkennen und zu benennen. Bei Sportlern mit extrem häufigen Flexions-Extensions-Zyklen im Bewegungsablauf kann ein Runner's Knee oder Traktus-tibialis-Friktionssyndrom auftreten. Dies wird durch das wiederholte Reiben des Traktus über den Epicondylus lateralis während Beugung und Streckung verursacht. Meist spielen noch zusätzliche pathogene Faktoren, wie beispielsweise eine varische Abweichung der Gelenkstatik, eine weitere Rolle. Die Nutzbarkeit der Anatomie in vivo zeigt sich in der Möglichkeit, eine Reizung des Traktus bzw. der Bursa zwischen Traktus und Epikondylus zu bestätigen. Die Feststellung, dass es sich hier um eine (eher einfach zu behandelnde) periartikuläre Problematik handelt, stellt wichtige Weichen für die weitere Befundung und Behandlung des betroffenen Knies dar.

Arthritis des proximalen tibiofibularen Gelenkes Bei einem weiteren Beschwerdebild mit Schmerzen auf der anterior-lateralen Seite der Knieregion handelt es sich um eine Arthritis des Gelenkes zwischen Caput fibulae und der posterior-lateralen Tibia. Auch hier ist die Tatsache, dass es sich nicht um das femorotibiales Gelenk handelt, sehr wichtig. Das tibiofibulare Gelenk gehört funktionell zum Bewegungskomplex der wichtigen Gelenke des Fußes (tibiotarsaler Komplex). Vor allem bei Flexions-Extensions-

6

Abb. 6.66 Gelenkspieltest tibiofibular.

Bewegungen des Fußes wird die Fibula mitbewegt. Und dies natürlich auch proximal. Eine ligamentäre Sprunggelenkverletzung im Sinne eines „Umknicktraumas“ zieht häufig die Fibula in eine veränderte Position mit posteriorer Laxität und ggf. Dislokalisation im proximalen tibiofibularen Gelenk. Beides äußert sich über einen längeren Zeitraum im Sinne einer kapsulären Reizung mit anterior-lateralen Schmerzen, die ohne Kenntnis dieser Zusammenhänge schwer einzuordnen sind. Allein die lokale Palpation an der anterioren Gelenkseite bzw. ein gut durchgeführter Gelenkspieltest am tibiofibularen Gelenk können diese Beschwerden bestätigen (▶ Abb. 6.66).

6.9 Lokale Palpation posterior 6.9.1 Kurzfassung des Palpationsganges Auf der Rückseite des Kniegelenkes prägt die Kniekehle (Fossa poplitea) das Bild der topografischen Anatomie und das palpatorische Vorgehen. Sie stellt eine rautenförmige Vertiefung zwischen muskulären Begrenzungen dar. Das Ziel der Anatomie in vivo ist es, die Begrenzungen der Kniekehle sowie deren Inhalt zugänglich zu machen. Um sich in der Fossa poplitea zu orientieren, ist es ratsam, die Weichteilstrukturen (Muskulatur und Nerven) deutlich auf Spannung zu bringen, damit ihre Konturen deutlich werden.

183

Kniegelenk

N. ischiadicus M. biceps femoris V. poplitea A. poplitea N. peronaeus communis N. tibialis

Abb. 6.68 Topographie Nerv- und Gefäßbündel posterior.

6.9.2 Palpation einzelner Strukturen Neurale Strukturen in der Kniekehle Abb. 6.67 ASTE Palpation posterior.

ASTE Der Proband befindet sich dabei in Rückenlage. Der Therapeut stellt das Bein in eine Position, die derjenigen beim Straight-leg-raise-Test stark ähnelt, wobei die Reihenfolge der Einstellungen etwas abweicht (▶ Abb. 6.67). Zur Übung wird also folgende Kombination empfohlen: ausgiebige Flexion des Hüftgelenkes mit Extension des Kniegelenkes (bei diesem Probanden sind es ca. 50° Flexion) sowie mäßige Extension des Fußes. Der Vorteil dieser ASTE ist die freie Aufsicht auf die Kniekehle, der freie palpatorische Zugang mit einer Hand sowie passiv vorgespannte Weichteilstrukturen. Die Einstellung des Beines wird mit einer Hand des Therapeuten gesichert. Es sollte bei der Grifftechnik möglich sein, noch zusätzlich eine Extension des Fußes einzubringen, um weitere muskuläre und neurale Strukturen auf Spannung zu bringen. Die zweite Hand ist frei für das gezielte Aufsuchen der jeweiligen Struktur.

Alternative ASTEn Diese ASTE ist für den Patienten nicht gerade bequem und wird nur zu Übungszwecken empfohlen. Der Palpationsgang sollte daher nach sicherem Auffinden der beschriebenen Strukturen in anderen und entlasteten ASTEn geübt werden. Die Bestätigung aufgefundener muskulärer Strukturen kann dann über selektives Anspannen erfolgen.

184

In der Kniekehle verlaufen folgende neurale und vaskuläre Strukturen (▶ Abb. 6.68): ● N. tibialis ● N. peroneus communis ● A. und V. poplitea Wenn man in der beschriebenen Ausgangsposition noch zusätzlich eine besonders deutliche Extension des Fußes einbringt, lassen sich die neuralen Strukturen in der Fossa poplitea gut darstellen. Durch endgradige Flexion der Hüfte und Extension im Kniegelenk ist die Elastizität dieser peripheren Nerven bereits nahezu aufgehoben. Die Vorpositionierung des Fußes führt zu einer maximalen Spannung.

Technik – N. tibialis Etwa eine Handbreit proximal des Kniegelenkes teilt sich der N. ischiadicus in seine beiden Anteile auf. Direkt in der Kniekehlenmitte zeigt sich der N. tibialis. Der direkte Druck auf den gespannten Nerv vermittelt ein sehr festes elastisches Gefühl (▶ Abb. 6.69). Die zu erwartende Größe dieser Struktur kann man mit bleistiftstark bis kleinfingerdick umschreiben.

Tipp Falls die Einstellung des Beines nicht ausreichen sollte, um den Nerv so zu spannen, dass er als feste Struktur erkennbar ist, kann man noch zusätzlich eine Adduktion mit Innenrotation im Hüftgelenk einbringen. Dies erhöht die passive Spannung des Nervs.

6.9 Lokale Palpation posterior

3 2

1

4

5

Abb. 6.69 Palpation des N. tibialis. 1 = M. biceps femoris, 2 = N. peroneus communis, 3 = N. tibialis, 4 = M. semitendinosus, 5 = M. gracilis.

6

Abb. 6.70 Palpation des N. peroneus communis.

Sehne des M. biceps femoris Technik – N. peroneus communis Der N. peroneus communis verläuft nach dem Abzweig vom N. tibialis nach lateral und begleitet die Bizepssehne zum Caput fibulae. Distal vom Fibulakopf kreuzt er nach anterior-lateral und zweigt sich anschließend weiter auf. In Höhe der Bizepssehne liegt der Nerv ca. 1 cm breit nach medial versetzt. Man kann ihn aufgrund der Spannung durch Palpation von der Sehne deutlich unterscheiden (▶ Abb. 6.70).

Tipp Wenn der Nerv nicht ausreichend vorgespannt ist, um ihn als feste Struktur wahrzunehmen, kann man zusätzlich mit veränderten Einstellungen des Fußes arbeiten, um die Spannung zu erhöhen. Hier bietet sich Adduktion mit Supination an. Flexion des Fußes erhöht die Spannung theoretisch auch, ist hier aber nicht so geeignet, da der benachbarte Kopf des M. gastrocnemius entspannt wird und die Abgrenzung des Nervs von seiner Umgebung erschwert.

Die Sehne des Bizeps ist die laterale Begrenzung der Fossa poplitea. In der ASTE ist die Sehne so gespannt und prominent, dass sie nicht zu verfehlen ist. Die Palpation der Sehne führt nach distal wiederum zum Caput fibulae. Nach proximal zeigt das Verschwinden der deutlichen Kontur der Sehne den Beginn des Muskelbauchs vom Caput breve.

Sehnen der Pes-anserinus-Muskeln Die Differenzierung der Muskulatur, die die Kniekehle medial begrenzt, ist schon deutlich anspruchsvoller.

Technik – Sehne des M. semitendinosus Aus dieser Gruppe ist die Sehne des M. semitendinosus am meisten prominent. Man kann sie leicht von der Kniekehlenmitte aus nach medial aufsuchen und mit den Fingerkuppen anhaken (▶ Abb. 6.71). Die Sehne lässt sich noch etwas nach distal verfolgen. Auf der Knieinnenseite verlieren sich ihre Konturen in der kollagenen Platte des Pes anserinus superficialis.

185

Kniegelenk

Abb. 6.71 Palpation der Sehne des M. semitendinosus.

Tipp Sollte die Sehne bei schwierigen Gewebsbedingungen nicht exakt lokalisierbar sein, kann man zur Bestätigung der Lokalisation den Probanden auffordern, etwas Aktivität in Richtung Extension des Hüftgelenkes aufzubringen. Die Sehne wird dann deutlicher hervorgehoben.

Technik – Sehne des M. gracilis Direkt medial von der Sehne des M. semitendinosus, durch eine kleine Lücke getrennt, kann man die Sehne des M. gracilis palpieren. Dies gelingt insbesondere dann, wenn der Proband zusätzlich im Hüftgelenk adduziert (▶ Abb. 6.72).

Palpation der Sehne des M. semitendinosus. Technik – Sehne des M. sartorius Wiederum weiter nach medial, ebenfalls nach einer kleinen Muskellücke, findet der palpierende Finger die eher flache Struktur des M. sartorius. Die genaue Abgrenzung gegenüber der Sehne des M. gracilis erfolgt durch einen Widerstand in Flexion des Hüftgelenkes. Hierdurch entspannt sich der M. gracilis wieder bzw. der M. sartorius stellt sich besser dar (ohne Abbildung).

186

Abb. 6.72 Differenzierung zwischen M. semitendinosus und M. gracilis.

6.9.3 Therapeutische Hinweise Cave Fossa poplitea Vorsicht Die Kenntnis über die einfache Erreichbarkeit so empfindlicher Strukturen wie der peripheren Nerven in der Kniekehle bzw. der benachbarten Gefäße sollte jeden Therapeuten davor bewahren, einen übermäßigen Druck in der Kniekehle auszuüben. Gefährdet wird diese Region durch Anwendungen wie Unterwasser-Druckstrahlmassage und lokale Friktionstechniken, z. B. auf den M. popliteus bzw. im Rahmen von Mobilisationstechniken mit gelenknahem Druck auf die Wade. Querfriktionen der Bizepssehne oder des MuskelSehnen-Überganges sollten genau platziert werden. Hier ist die Differenzierung zum N. peroneus communis sehr wichtig. Sichere Kenntnisse der Anatomie in vivo bieten hierfür die nötige Grundlage.

6.10 Literatur

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187

7.1 Einleitung

7 Fuß 7.1 Einleitung 7.1.1 Bedeutung des Fußes aus biomechanischen und funktionellen Gesichtspunkten ▶ Funktionelle Aufgaben ● Übertragen des Körpergewichtes auf die Unterlage. In der Standphase des Schrittzyklus oder auch im bipodalen Stand leitet die Konstruktion des Fußes federnd und stoßdämpfend die Körperlast an die Unterlage weiter. Dabei steht die Fußsohle als Doppelwinkelhebel in Ruhe rechtwinklig zur Achse des Unterschenkels und kann die Körperlast über eine große Fläche verteilt weiterleiten. ● Stoßdämpfung. Dieses Grundprinzip erstreckt sich über die gesamte untere Extremität und die Wirbelsäule. Am Fuß wird Stoßdämpfung realisiert durch: ○ eine mehrfach gekammertes, ca. 2 cm dickes Fersenkissen (heal pad; Williams 2009) ○ eine Knochenkonstruktion, die mehr an eine federnde Platte als an ein starres Gewölbe erinnert ○ ein erstaunliches Maß an Mobilität innerhalb der transversalen Tarsalgelenke ● Fortbewegung. Der Schrittzyklus ist wohl das komplizierteste Bewegungsmuster des Bewegungsapparates, gefolgt von der vollen Armhebung und der hochzervikalen Biomechanik. Die Rolle des Fußes innerhalb der unteren Extremität sind die Kontaktaufnahme, die Gewichtsübernahme, die bewegliche Anpassung an unebene Unterlagen, das Anbieten einer sicheren Unterstützungsfläche und die Propulsion. Dabei unterscheiden sich 2 besondere Muster voneinander: ○ Während der Landungsphase (loading response) federt der Fuß in eine komplette Eversionsbewegung ein. Dabei gehen Kalkaneus in eine Valgus und der Vorfuß (transversale Tarsalgelenke) in eine Extension, Abduktion und Pronation. Die dabei begleitende Innenrotation des Talus nimmt folgend die Tibia und später auch das Femur in eine Innenrotation mit. Diese Kettenreaktion beginnt am Kalkaneus und endet etwa bei Th 8. ○ Die Vorbereitung für eine Kettenreaktion zur Einleitung der Abstoßphase beginnt proximal. Das Durchschwingen des anderen Beines ergibt eine kurzfristige Innenrotation des Hüftgelenkes des Standbeines, die sich nach Aufnahme der Spannung der pelvitrochantären Muskeln und der Gelenkkapsel in eine Außenrotation des Femurs verändert. Diese femorale Rotation nimmt letztlich Tibia und Talus ebenfalls in eine Außenrotation mit, worauf der



Kalkaneus mit Varus und Innenrotation reagiert. Vor allem die Aktivität des M. peroneus longus hält dabei tarsometatarsal den Fußinnenrand zunächst weiter gegen den Boden. Die folgende Verschraubung macht den Fuß rigide und bereit zur Lastübertragung, während der Kalkaneus den Boden verlässt. Sensorik. Die Informationen der vielen Mechanorezeptoren in Gelenken, Bändern und Fußsohle tragen zur Koordination des Stehens und Gehens sowie zum Aufbauen des Gleichgewichtes bei. Verletzungen beispielsweise der tiefen intrinsischen Ligamente zwischen Talus und Kalkaneus im Sinus tarsi infolge eines Inversionstraumas können zu chronischen Schmerzen und vor allem zu Instabilitätsgefühlen während des Fersenkontaktes führen (Helgeson 2009).

7.1.2 Besonderheiten der knöchernen Konstruktionen

7

Hand- und Fußskelett haben viele Parallelitäten in der stammesgeschichtlichen Entwicklung. So lassen sich in der transversalen Gliederung Wurzel-, Mittelbereich und Endglieder vergleichend beschreiben (Starck 1978, S. 10). Im Vergleich zum Bau des Handskelettes fallen die Fußwurzelknochen durch eine deutliche Zunahme an Knochenmasse und Abnahme an Mobilität zu ihrer Umgebung auf. Die auch an der Hand erkennbaren Wölbungen in der Skelettkonstruktion erfahren am Fuß allseits anerkannte stärkere Ausprägungen als Längs- und Quergewölbe, wobei das mediale Gewölbe höher ist als das laterale. Der Kalkaneus hat sich entwicklungsgeschichtlich aus einer flachen Lage aufgerichtet und den Talus mit in eine vertikale Position genommen. Hierdurch entstanden die Längsgewölbe, die nicht starr, sondern sehr elastisch die Körperlast auf die Unterlage abgeben. Die Längsgewölbe werden durch die Aponeurosis plantaris, plantare Ligamente (Lig. plantaris longus) sowie die kurzen Fußmuskeln im Sinne einer Zuggurtung gesichert. Im Bereich des Metatarsus fällt die entwicklungsgeschichtliche Wiederangliederung des I. Strahles mit dem des Großzehenstrahls an die restlichen Mittelfußknochen auf. Mit dieser Entwicklung ging ein enormer Verlust an Greiffähigkeiten gegenüber einem Primatenfuß zugunsten verbesserter Stütz- und Abrollfähigkeiten einher. Die nahezu rechtwinklige Abwinkelung des Fußskelettes gegenüber der Beinachse in 2 Richtungen wird als Doppelwinkelhebelkonstruktion bezeichnet. Dies ermöglicht die Fortbewegung als Sohlengänger und bietet große Hebel für die vom Unterschenkel her angreifenden langen Muskeln.

189

Fuß Eine herausragende Stellung hat der Talus. An ihm inseriert kein Muskel. Alle extrinsischen Sehnen laufen an ihm vorbei und intrinsische entspringen nicht von ihm. Der Talus verteilt in belasteter Situation das Körpergewicht an Vorfuß und Ferse. Dabei fungiert er als zwischengeschaltetes, adaptives Element (Intercalated Segment; Landsmeer 1961), vergleichbar mit der Rolle der proximalen Handwurzelknochenreihe. Neben der Aufgabe, einen großen Beitrag zur Extensions- und Flexionsfähigkeit des Fußes zu leisten, vermittelt der Talus die Rotationen des Unterschenkels auf den Fuß und umgekehrt.

7.1.3 Besonderheiten der Nomenklatur Die nahezu rechtwinklige Anordnung des Fußskelettes zum Unterschenkel erzwingt eine abgewandelte Nomenklatur zur genauen Lage- und Richtungsbezeichnung von Strukturen am Fußskelett. Folglich wird für die nachfolgenden Lagebezeichnungen ein Vorschlag unterbreitet, um der besonderen Konstruktion des Fußes Rechnung zutragen. Oberhalb des Talus ist es die übliche Nomenklatur und ab dem Talus wird die übliche Terminologie durch eine fußspezifische ersetzt. Die ▶ Abb. 7.1 zeigt mit einer transversalen Linie durch den Talus die Grenze der Bezeichnungen.

7.1.4 Biomechanische Besonderheiten Eine der herausragenden biomechanischen Besonderheiten des Fußes ist die Ausbildung eines kinematischen Komplexes, bestehend aus oberem Sprunggelenk (OSG,

Abb. 7.1 Spezielle Nomenklatur am Fuß.

superior posterior

anterior inferior

oberhalb Talus

unterhalb Talus

dorsal proximal

distal plantar

190

Art. talocruralis), unterem Sprunggelenk (USG, subtalarer Komplex) und den transversalen Tarsalgelenken (TTG, Artt. tarsi transversa). Man muss diesen tarsokruralen Gelenkkomplex unbedingt funktionell als Einheit betrachten. Vor allem bei Bewegungen in der geschlossenen Kette agieren die gelenkigen Anteile immer zusammen. Die transversalen Tarsalgelenke spielen im biomechanischen Verbund mit OSG und USG eine weitere wichtige Rolle für die Mobilität und Flexibilität des Fußes. Störungen innerhalb der Gelenkkette, die insgesamt der Chopart’sche Linie gleichen, sind ausschließlich durch Gelenkspieltests der jeweiligen Gelenkverbindungen festzustellen. Entscheidend für die Kettenreaktion von distal nach proximal während der Landungsphase ist die Einstellung des subtalaren Komplexes (USG) während des Fersenkontaktes. Die Position und Bewegungsmöglichkeiten des Kalkaneus bestimmen den weiteren Ablauf. Daher wird der subtalare Komplex auch als Schlüsselgelenk bezeichnet. Das Bewegungsverhalten von Talus und Kalkaneus ist als gegenläufig zu betrachten, während die Bewegungen der transversalen Tarsalgelenke immer den Bewegungen des Kalkaneus folgen. Während der Landungsphase kippt der Kalkaneus nach lateral in eine Valgusposition. Sein distales Ende schwingt dabei nach lateral in eine Abduktion. Zeitgleich dreht sich das Caput tali nach medial, was als Innenrotation (oder Adduktion) bezeichnet wird. Bei Inversion des Kalkaneus während der Abstoßphase verhalten sich beide im umgekehrten Muster, pressen die distalen Tarsalia in eine rigide Position zusammen, die somit bereit zur Gewichtsübernahme während der Fersenhebung werden (▶ Abb. 7.2). Die Rotationen des Talus und die seitlichen Bewegungen des distalen Kalkaneusendes sind oft unbekannte und unterschätzte Bewe-

7.1 Einleitung ●

Heilung des Ligaments in physiologischer Position, um eine posteriore Dezentrierung des belasteten Unterschenkels auf dem Talus zu vermeiden.

Anatomie in vivo dient als Grundlage zur lokalen Schmerzlinderung infolge der Verletzung und Untersuchung einiger Komplikationen, z. B. der Überdehnung der Peroneussehnenscheiden oder des Lig. bifurcatum. ▶ Bewegungseinschränkungen. Die Hypomobilitäten am OSG, meist infolge von Ruhigstellungen oder Arthritiden, sind sehr bekannt. Auch die anderen Anteile des kinematischen Komplexes müssen in die Untersuchung einer Bewegungseinschränkung einbezogen werden. Grundlage dafür sind beispielsweise die genauen Kenntnisse über Lage und Ausrichtung der Gelenkspalte der transversalen Tarsalgelenke. Abb. 7.2 Biomechanik subtalar.

gungsanteile, die für eine reibungslose Kinematik entscheidend sind. Vor allem die Außenrotation des Talus ist eine entscheidende Komponente, die in den meisten belasteten Flexions- und Extensionspositionen des OSG begleitend entsteht (Van Langelaan 1983, Huson 1987, Huson 2000, Lundberg 1989). Die einzelnen Anteile des kinematischen Komplexes beeinflussen sich gegenseitig und sind auch bei Störungen der Mobilität immer als Ganzes zu betrachten, zu befunden und ggf. zu behandeln. Nicht selten sind Hypound Hypermobilitäten in direkter Nachbarschaft beheimatet. Bei Störungen der Beweglichkeit sind daher alle Gelenke selektiv zu überprüfen. Zur Lokalisation der jeweiligen gelenkigen Verbindungen ist allerdings die genaue Kenntnis der Lage der Gelenkspalte notwendig.

7.1.5 Häufige Beschwerdebilder des Fußes Jede Störung der Sensibilität, der Mobilität und der muskulären Ansteuerung des Fußes hat Einfluss auf höhere Abschnitte der unteren Extremität, das Becken und die Wirbelsäule. Daher ist den Beschwerden des Fußes immer besondere Aufmerksamkeit zu schenken. ▶ Arthritiden. Sie sind vor allem traumatischer und rheumatischer Genese. Traumatische Arthritiden des OSG entstehen meist durch die so häufigen „Umknicktraumata“. Das Lig. talofibulare anterius, das die Kapsel des OSG anterior-lateral verstärkt (▶ Abb. 7.7), gehört wohl zu den am häufigsten verletzten Strukturen des Bewegungsapparates. Die Aufgaben des therapeutischen Managements dieser Bandverletzung sind: ● Kontrolle der posttraumatischen Entzündungszeichen ● Untersuchung und Behandlung der vielen Komplikationsmöglichkeiten

▶ Laxitäten und Instabilitäten. Posttraumatische Bandlaxitäten am OSG sind bekannt. Die anterioren Bänder des OSG haben die wichtige Aufgabe, die Tibia bei belasteter Situation auf dem Talus zu halten. Bei ausgiebigen Laxitäten ist das nicht mehr gewährleistet, sodass die Tibia nach posterior dezentriert auf dem Talus steht (Hintermann 1999). Bei belasteten Bewegungen in Extension kann die gestörte Arthrokinematik des OSG eine Bewegungseinschränkung des Gelenkes vortäuschen. In den anderen Anteilen des kinematischen Komplexes zwischen OSG, USG und TTG können sich noch weitere Laxitäten verstecken. Traumatische Verletzungen der interossalen Bänder zwischen Talus und Kalkaneus können zu einem Sinus-tarsi-Syndrom führen, wobei die Betroffenen u. a. ein Instabilitätsgefühl des Rückfußes (Akiyama et al. 1999) vor allem beim Fersenkontakt angeben. Bandlaxitäten der transversalen Tarsalgelenke stoppen die Bewegungen des Fußes in der Landungsphase zu spät und bewirken eine Hyperpronation des Fußes in der mittleren Standphase.

7

▶ Weichteilaffektionen: Tendosynovitiden. Neben den ligamentären Verletzungen sind es vor allem die Achillodynie und Sehnensscheidenentzündungen der extrinsischen (langen) Muskulatur des Fußes, die schmerzhaft in Erscheinung treten. Sehnenscheiden befinden sich an den Umlenkungen der langen Sehnen an jeder Fußseite: ○ lateral: Mm. peronei hinter dem lateralen Malleolus, Retinaculae peroneum superius und inferius ○ anterior: Fuß-/Zehenextensoren unter dem Retinaculae extensorum superius und inferius ○ medial: tiefe Fuß-/Zehenflexoren hinter dem medialen Malleolus, Retinaculum flexorum, im Tarsaltunnel ● Überbelastungen und traumatische Überdehnungen sowie Eimblutungen verursachen eine Tendosynovitis. ●

191

Fuß ●





Tendinopathien. Insertionstendopathien werden gesehen: ○ medial: M. tibialis posterior an der Tuberositas ossis navicularis ○ lateral: M. peroneus brevis an der Basis Metatarsale V ○ posterior: M. triceps surae an der Insertion der Achillessehne (Tuber calcanei). Schmerzhafte und nicht schmerzhafte Tendinosen (die häufig zu Spontanrupturen führen) sind an Sehnen des M. triceps surae (mittlere Portion) und des tibialis posterior (Yao et al. 2015). Lokale plantare Schmerzen. Sie können unterteilt werden in: ○ muskuläre Ansatztendinopathien (z. B. Mm. flexor digitorum brevis und abductor hallucis), Neurokontusionen (plantare Äste des N. tibialis) ○ Fasciosis oder Ansatzbeschwerden der Fascia plantaris (Fasciitis plantaris). Beschwerden der Plantarfaszie sind häufig mit einer knöchernen Wucherung an der Kalkaneusinsertion („Fersensporn“) assoziert (Johal u. Milner 2012).

▶ Kompressionen oder Überdehnungen neuraler Strukturen. sind neben der beschriebenen Ursache plantarer Schmerzen am Fuß an weiteren Stellen möglich. Zwei periphere Nerven betrifft dies am häufigsten: ● N. tibialis im Tarsaltunnel (hinter dem medialen Malleolus). Raumenge im Tarsaltunnel, der auch von den Sehnen der Mm. flexor hallucis longus, flexor digitorum longus und tibialis posterior als Passage genutzt wird, komprimiert hier primär die neurale Struktur (Hudes 2010). Nach Durchtritt durch den Tunnel teilt sich der N. tibialis in 2 plantare Nerven auf. ● Ramus intermedius des N. peroneus superficialis. Dieser Nervenast liegt sehr oberflächlich anterior-lateral und distal am Unterschenkel. Er kreuzt das OSG medial des Malleolus fibularis. Eine mögliche Verletzung kann durch eine Überdehnung bei einem „Umknicktrauma“, durch iatrogene Verletzungen (Blair u. Botte 1994) oder durch Irritation nach unachtsam ausgeführten Querfriktionen des Lig. talofibulare anterius entstehen. Auf eine neurale Irritation weisen stets die gleichen Erkennungsmerkmale hin: lokale und nicht lokale brennende Schmerzen und Innervationsstörungen im Versorgungsgebiet des Nervs.

7.1.6 Notwendige topografische und morphologische Vorkenntnisse Dem Palpationsgang am Fuß sollten fundierte Kenntnisse in der topografischen Anatomie zugrunde liegen. Nachfolgende Bemerkungen sollen eine Anregung zum weiteren Studium der Topografie sein.

192

Calcaneus Os cuboideum

Talus Os naviculare Ossa cuneiformea

Metatarsus Chopart’sche Gelenklinie Lisphranc’sche Gelenklinie

Phalangen

Abb. 7.3 Topografie des Fußskeletts.





Ossär. Die knöcherne Gesamtkonstruktion des Fußes, dessen Abschnitte, Gelenklinien, die Namen der einzelnen Fußwurzelknochen und deren bewegliche Verbindungen sollten bekannt sein (▶ Abb. 7.3). Die transversale Unterteilung des Fußskelettes in Abschnitte der Phalangen, des Metatarsus und Tarsus ist sicher bekannt. Die Lisfranc’sche Linie mit ihren eher rigiden Gelenken grenzt den Metatarsus vom Tarsus ab. Die Gelenke der Chopart’schen Gelenklinie (zwischen Talus und Os naviculare medial sowie Kalkaneus und Os cuboideum lateral) sind Teile der Artt. tarsi transversa. Um die Bedeutung des funktionellen Zusammenhangs bei belasteten Fußbewegungen hervorzuheben, werden die beteiligten Gelenke zum tibiotarsalen Komplex (Padovani 1975) zusammengefasst. Dieser Bewegungskomplex beinhaltet die Art. talocruralis (OSG), den subtalaren Komplex (Art. talocalcanearis, USG) mit 2 Gelenkkammern sowie die Artt. tarsi transversa. Funktionell gehören die distalen Syndesmosen und das proximale tibiofibulare Gelenk mit zu diesem Komplex. Muskulär. Sehnen und Sehnenscheiden der langen (extrinsischen) Fußmuskeln, vor allem deren Passage am tibiotarsalen Komplex und ihre Insertionen. ▶ Abb. 7.4 verdeutlicht den Verlauf medial und plantar im Tarsaltunnel. Dieser Raum bietet Durchtritt für 3 Sehnen, 2 Gefäße und den N. tibialis. Er wird durch ein Retinaculum flexorum zum Tunnel abgedeckt. Der besondere Verlauf der Mm. peronei mit mehrfach verändertem Sehnenverlauf hinter dem lateralen Malleolus, der Trochlea peronealis und am Os cuboideum (M. peroneus longus) wird in der ▶ Abb. 7.5 dargestellt. Die Fuß- und Zehenextensoren passieren das obere Sprunggelenk dorsal (▶ Abb. 7.6). Die Lage

7.1 Einleitung

M. tibialis posterior M. flexor digitorum longus M. flexor hallucis longus

M. extensor digitorum longus

M. tibialis anterior M. extensor hallucis longus

M. triceps surae

Abb. 7.4 Extrinsische Muskeln – Ansicht von medial.

Abb. 7.6 Extrinsische Muskeln – Ansicht von dorsal. M. peronaeus longus

7 Lig. talofibulare post.

M. extensor digit. longus

Lig. calcaneofibulare Lig. talofibulare ant.

M. peronaeus brevis

Abb. 7.5 Extrinsische Muskeln – Ansicht von lateral. Abb. 7.7 Wichtige Bänder der Sprunggelenke lateral.



ihrer Sehnen erklärt die Nebenfunktionen: Mm. tibialis anterior und extensor hallucis longus adduzieren und supinieren den Fuß, während der M. extensor digitorum longus mit seiner Abspaltung (M. peroneus tertius) als einziger Eversor des Fußes zusätzlich eine Abduktion und Pronation bewirkt. Bei allen Sehnen extrinsischer Muskeln (ausgenommen Achillessehne) gilt: Sie werden mit Retinacula gegen das Fußskelett gehalten und benötigen zum Schutz gegen Reibung Sehnenscheiden, die mehrere Zentimeter lang sind. Ligamentär. Der funktionell und klinisch wichtige Bandapparat des Fußes befindet sich lateral (▶ Abb. 7.7) und medial (▶ Abb. 7.8) von den Malleoli ausgehend. Die talofibularen Bänder kontrollieren die Position der Unterschenkelgabel auf dem Talus, während das kalkaneofibulare Band zudem die subtalaren Gelenke überragt. Das Lig. deltoideum ist eine derbe kollagene Platte,

die vom medialen Malleolus ausgehend zu Talus, Kalkaneus und Os naviculare reicht (▶ Abb. 7.8). In der Präparation gelingt es, mindestens 4 separate Ligamente darzustellen. Im Vergleich zur lateralen Seite stellt sich dieser Bandkomplex deutlich derber und stabiler dar. Im Vergleich zum Malleolus lateralis reicht der mediale nicht so weit nach plantar und dem Bandkomplex kommt zudem eine bremsende Aufgabe der Pronation während der Landungsphase zu. Das kalkaneonavikulare Band schließt den Gelenkraum zwischen Talus, Kalkaneus und Navikulare plantar ab (Lig. calcaneonaviculare, „Pfannenband“) und trägt neben anderen plantaren Ligamenten und den kurzen, intrinsischen Muskeln zur Sicherung des medialen Längsgewölbes bei.

193

Fuß

Lig. deltoideum: Lig. tibiotalare post. Lig. tibiocalcaneare Lig. tibionaviculare Lig. tibiotalare ant.

Lig. calcaneonaviculare

Abb. 7.9 Mediale Gelenkspalte und Referenzpunkte.

Abb. 7.8 Wichtige Bänder der Sprunggelenke medial.



Neural. Der N. tibialis (▶ Abb. 7.22) passiert auf der medialen Seite den Tarsaltunnel, spaltet sich in die Nn. plantares medialis und lateralis auf und innerviert die plantaren intrinsischen Muskeln. Eine mögliche Kompressionsneuropathie im Tunnel wurde bereits beschrieben. Die Nn. peronei (oder fibulares) profundus und superficialis (▶ Abb. 7.63) haben einen dorsalen Verlauf auf den Fuß. Während der profunde Ast die dorsal liegenden intrinsischen Muskeln innerviert, sind die Äste des N. peroneus superficialis rein sensibel. Sie treten zunächst ca. 10 cm proximal des OSG gemeinsam unter der Unterschenkelfaszie hervor, teilen sich in verschiedene Rami auf und ziehen zum Fußrücken. Der besondere Verlauf des N. cutaneus dorsalis intermedius wird in einem späteren Kapitel (S. 217) beschrieben.

7.2 Palpation des medialen Fußrandes 7.2.1 Kurzfassung des Palpationsganges Zunächst werden alle relevanten Strukturen im Bereich des oberen Sprunggelenkes (OSG) aufgesucht. Hier interessieren sowohl die knöchernen Referenzpunkte als auch klinisch wichtige Weichteilstrukturen. Daraufhin werden alle Gelenkspalte der medialen Seite bis hin zum Großzehengrundgelenk ertastet (▶ Abb. 7.9). Es ist ratsam, sich vorab die Richtungsbezeichnungen für Unterschenkel und Fuß der ▶ Abb. 7.1 nochmals anzuschauen.

194

Abb. 7.10 ASTE der Palpation medial.

ASTE Der Proband sitzt erhöht, z. B. am Rand einer Therapiebank. Der Therapeut sitzt auf einem Hocker an der lateralen Fußseite. Er lagert den distalen Unterschenkel auf seinem Oberschenkel, sodass der Fuß kontrolliert frei hängen kann (▶ Abb. 7.10). Diese ASTE ist für die Palpationsübung nicht zwingend. Es können auch andere Lagerungen des Patienten gewählt werden. Die beschriebene ASTE ermöglicht dem Patienten eine dauerhafte angenehme Sitzposition, dem Therapeuten den bestmöglichen Zugang mit beiden Händen am frei beweglichen und nahezu neutral eingestellten Fuß.

Fuß

Lig. deltoideum: Lig. tibiotalare post. Lig. tibiocalcaneare Lig. tibionaviculare Lig. tibiotalare ant.

Lig. calcaneonaviculare

Abb. 7.9 Mediale Gelenkspalte und Referenzpunkte.

Abb. 7.8 Wichtige Bänder der Sprunggelenke medial.



Neural. Der N. tibialis (▶ Abb. 7.22) passiert auf der medialen Seite den Tarsaltunnel, spaltet sich in die Nn. plantares medialis und lateralis auf und innerviert die plantaren intrinsischen Muskeln. Eine mögliche Kompressionsneuropathie im Tunnel wurde bereits beschrieben. Die Nn. peronei (oder fibulares) profundus und superficialis (▶ Abb. 7.63) haben einen dorsalen Verlauf auf den Fuß. Während der profunde Ast die dorsal liegenden intrinsischen Muskeln innerviert, sind die Äste des N. peroneus superficialis rein sensibel. Sie treten zunächst ca. 10 cm proximal des OSG gemeinsam unter der Unterschenkelfaszie hervor, teilen sich in verschiedene Rami auf und ziehen zum Fußrücken. Der besondere Verlauf des N. cutaneus dorsalis intermedius wird in einem späteren Kapitel (S. 217) beschrieben.

7.2 Palpation des medialen Fußrandes 7.2.1 Kurzfassung des Palpationsganges Zunächst werden alle relevanten Strukturen im Bereich des oberen Sprunggelenkes (OSG) aufgesucht. Hier interessieren sowohl die knöchernen Referenzpunkte als auch klinisch wichtige Weichteilstrukturen. Daraufhin werden alle Gelenkspalte der medialen Seite bis hin zum Großzehengrundgelenk ertastet (▶ Abb. 7.9). Es ist ratsam, sich vorab die Richtungsbezeichnungen für Unterschenkel und Fuß der ▶ Abb. 7.1 nochmals anzuschauen.

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Abb. 7.10 ASTE der Palpation medial.

ASTE Der Proband sitzt erhöht, z. B. am Rand einer Therapiebank. Der Therapeut sitzt auf einem Hocker an der lateralen Fußseite. Er lagert den distalen Unterschenkel auf seinem Oberschenkel, sodass der Fuß kontrolliert frei hängen kann (▶ Abb. 7.10). Diese ASTE ist für die Palpationsübung nicht zwingend. Es können auch andere Lagerungen des Patienten gewählt werden. Die beschriebene ASTE ermöglicht dem Patienten eine dauerhafte angenehme Sitzposition, dem Therapeuten den bestmöglichen Zugang mit beiden Händen am frei beweglichen und nahezu neutral eingestellten Fuß.

7.2 Palpation des medialen Fußrandes

7.2.2 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●

medialer Malleolus Sustentaculum tali Caput und Collum tali Proc. posterior tali (Tuberculum mediale) Sehne des M. tibialis posterior Tuberositas ossis naviculare Lage der Bandstrukturen der medialen Seite Sehne des M. flexor digitorum longus Sehne des M. flexor hallucis longus A. tibialis posterior und N. tibialis Sehne des M. tibialis anterior Gelenkspalte des medialen Fußrandes

Medialer Malleolus Die Palpation beginnt mit dem Umranden des medialen Malleolus. Zum Aufsuchen knöcherner Randstrukturen wird die rechtwinklige Palpationstechnik eingesetzt.

Technik Die hintere (der Achillessehne zugewandte) und plantare Begrenzung des medialen Malleolus sollte eher mit dem von proximal kommenden Zeigefinger, die vordere Begrenzung und der Übergang zum Gelenkspalt des oberen Sprunggelenkes mit dem von distal kommenden Zeigefinger palpiert werden (▶ Abb. 7.11). Die Begrenzungen sind allgemein gut zu erreichen und mit der rechtwinkligen Palpation klar zu markieren. Es gibt nur eine Sehne, die ein Teilstück der Kante überquert und die Palpation etwas stören könnte. Der Übergang der vorderen Kante zum OSG-Gelenkspalt ist nicht einfach, da die Sehne des M. tibialis anterior den Zugang behindert.

Nach Umranden des Innenknöchels kann man feststellen, wo dieser am weitesten nach proximal, plantar bzw. distal herausragt. Die Stelle, die am weitesten nach ● distal herausragt, wird später als vordere Spitze des Malleolus bezeichnet. ● plantar herausragt, wird später als plantare oder untere Spitze des Malleolus bezeichnet. ● proximal herausragt, wird später als hintere Spitze des Malleolus bezeichnet.

Tipp Man sollte vermeiden, die Weichteile der medialen Seite zu stark vorzuspannen. Das verhindert den freien Zugang zur Knochenkante des Innenknöchels. Durch eine Kontrolle des Fußes in mittlerer Gelenkposition gelingt dies durch die von distal kommende Hand am besten. Wenn die Kante des medialen Malleolus genau verfolgt wird, ist eine kleine Einziehung an der plantaren Spitze zu spüren. Diese v-förmige Einziehung trennt die vordere Portion des medialen Malleolus (Colliculus anterior) von der hinteren (Colliculus posterior; Weigel u. Nerlich 2004).

7

Sustentaculum tali Die nächste ossäre Struktur befindet sich ca. 1 cm direkt plantar der plantaren Malleolusspitze: das Sustentaculum tali. Es handelt sich um einen knöchernen Vorsprung des Kalkaneus nach medial. Das Sustentaculum tali ist aus Sicht der topografischen und funktionellen Anatomie recht interessant: ● Es trägt medial den Taluskopf wie ein balkonartiger Vorsprung. ● An der proximalen Grenze des Sustentaculum endet der Canalis tarsi, der beide Kammern des unteren Sprunggelenkes trennt. ● Es wird von der Sehne des M. flexor hallucis longus unterquert. ● Zwei Ligamente inserieren am Sustentaculum tali: ein Teil vom Deltaband und das Lig. calcaneonaviculare, das „Pfannenband“ (▶ Abb. 7.17). ● Der Talus ist zwischen Sustentaculum tali und Malleolus auf der medialen Seite mittelbar zu ertasten.

Technik

Abb. 7.11 Umrandung des medialen Malleolus.

Das Sustentaculum tali ist von plantar her eindeutig, der Übergang zum Talus nach dorsal eher schwer feststellbar. Die plantare Begrenzung erreicht man, indem man durch die Weichteile von der Fußsohle her in Richtung Malleolus tastet. Die erste ossäre Struktur mit entsprechend hartem Widerstand ist das Sustentaculum tali (▶ Abb. 7.12).

195

Fuß

Abb. 7.12 Palpation des Sustentaculum tali.

Zum Auffinden der rundlichen dorsalen Begrenzung legt man einen Finger mit wenig Druck zwischen die plantare Knöchelspitze und das Sustentaculum tali (also auf den darunterliegenden Talus) und kippt den Kalkaneus mit kleinen Bewegungen nach medial (Varus) bzw. lateral (Valgus). So differenziert man das sich bewegende Sustentaculum tali von dem hier weniger bewegenden Talus. Die spürbaren Veränderungen bei Valgus und Varus sind wechselnde Spannung und Entspannung der darüber liegenden Weichteilte (Retinacula und Deltaband) und können die knöcherne Differenzierung erschweren. Weiterhin wird die proximale und distale Begrenzung des Sustentaculum tali dargestellt. Das Sustentakulum hat eine Länge von 22–25 mm und eine Höhe von 11– 18 mm (Olexa et al. 2000). Je nach Formvariante lassen sich die Ausmaße in der Palpation allerdings nicht immer erfassen. Distal schließt sich das Caput tali und proximal das Tuberculum mediale des Proc. posterior tali an (▶ Abb. 7.14).

Caput und Collum tali Vom Sustentaculum nach distal palpiert sind in kurzer Folge 2 knöcherne Erhebungen zu ertasten: Caput tali und Tuberositas ossis navicularis. Direkt im Anschluss an das Sustentakulum findet man das Caput tali nach medial herausragend. Wenn die Fingerbeere des palpierenden Fingers auf der vermuteten Stelle liegt, wird die richtige Lokalisation mit Bewegung bestätigt. Hierzu wird die Ferse nach medial gekippt (Eversion), was bei einer ungestörten subtalaren Biomechanik zur Folge hat, dass der Taluskopf sofort nach lateral wegdreht. Die Rückbewegung des Kalkaneus in Eversion lässt das Caput medial wieder prominieren.

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Abb. 7.13 Lokalisation des Collum und Talus oberhalb des Proc. posterior tali.

Tipp Dreht man den Taluskopf mittels Inversion der Ferse nach lateral weg, so erreicht man die distale Begrenzung des Sustentakulums (Palpation nach proximal) sowie die Tuberositas ossis navicularis (noch eindeutig) in der Palpation nach distal.

Von der vorderen bzw. hinteren Spitze des Innenknöchels aus können Anteile des Talus erreicht werden (▶ Abb. 7.13). Orientiert man sich von der vorderen Spitze aus weiter distal, erreicht man sofort das Collum tali. Hier inseriert der vorderste Anteil des Deltabandes: das Lig. tibiotalare anterius. Weniger deutlich zu spüren sind die posterioren Gelenkflächenanteile direkt proximal des Malleolus. Diese liegen direkt oberhalb des Proc. posterior des hinteren Talusfortsatzes.

Proc. posterior tali (Tuberculum mediale) Ein weiterer knöcherner Referenzpunkt findet sich proximal und plantar des Innenknöchels. Das Tuberculum mediale des Proc. posterior tali liegt demnach im direkten Anschluss an das Sustentaculum nach proximal.

Technik Der palpierende Finger bewegt sich von der hinteren Spitze des medialen Malleolus mit mäßigem Druck schrittweise nach posterior und etwas plantar. Vom Sustentaculum nach proximal palpiert, ist das Tuberkulum ebenso gut aufzufinden. Mit einer kreisenden Palpation findet man das Tuberkulum als eine weitere knöcherne Erhebung (▶ Abb. 7.14). Hier inseriert das hintere tibiotalare Band – ein weiterer Anteil des Deltabandes.

7.2 Palpation des medialen Fußrandes

Abb. 7.14 Palpation des Proc. posterior tali. Abb. 7.15 Palpation der Sehne des M. tibialis posterior.

Tipp

Tuberositas ossis navicularis

Zur eindeutigen Darstellung benutzt man die Bestätigung durch Bewegung. Die freie Hand bringt abwechselnd Dorsalextension bzw. Plantarflexion des Fußes ein. Bei Dorsalextension drückt sich der Proc. posterior des Talus vermehrt gegen den palpierenden Finger, bei Plantarflexion taucht er weg. Dies resultiert aus dem Rollgleitverhalten des Talus während der Bewegung und der damit verbundenen räumlichen Lageveränderung.

Verfolgt man die Sehne des M. tibialis posterior konsequent nach distal, erreicht man eine knöcherne Erhebung, die Tuberositas ossis navicularis, die mit rundlicher kreisender Palpation in ihrer Größe zu erfassen ist. Zur exakten Lokalisierung sollte man die Aktivität des Muskels und damit die Spannung der Sehne wegnehmen lassen. Die Tuberositas stellt sich als deutliche und rundliche Erhebung dar. Sie antwortet auf Druck mit hartem Widerstand, während die Sehne noch etwas elastisch reagiert. Zur Differenzierung gegenüber dem ebenfalls in proximaler Nachbarschaft herausragendem Caput tali kippt man die Ferse nach medial, worauf das Caput tali nach lateral schwenkt und die proximale Begrenzung des Navikulare deutlich macht. Hier befindet sich der talonavikulare Gelenkspalt (▶ Abb. 7.27). Die Tuberositas ist in ihrer Ausdehnung am medialen Fußrand, aber auch plantar, mit einer rundlichen Palpation zu ertasten.

Sehne des M. tibialis posterior Sie ist die prominenteste Sehne auf der medialen Seite und gehört zu denjenigen, die vom Retinaculum flexorum an das Fuß- bzw. Unterschenkelskelett fixiert wird. Die Besonderheit in ihrem Verlauf ist die Lage in einer eigenen tiefen Rinne (Sulcus tendinis m. tibialis posteriores; von Lanz u. Wachsmuth 2003) auf dem Malleolus medialis, knapp unterhalb der Beuge-/Streckachse des oberen Sprunggelenkes. Man benutzt diese Sehne als Leitstruktur zum letzten wichtigen knöchernen Referenzpunkt auf der medialen Fußseite, dem Os naviculare.

Technik Theoretisch lässt sich die Sehne mit flächiger und querer Palpation, auch in entspanntem Zustand, auf dem Malleolus finden. Häufig ist dies dennoch recht schwierig (▶ Abb. 7.15). Durch isometrische oder rhythmische Aktivität des Muskels in Richtung Inversion des Fußes (Plantarflexion mit Adduktion und Supination) macht man sie für die Palpation deutlicher. Sie ist dadurch in ihrem gesamten Verlauf vom distalen Unterschenkel bis zu ihrer hauptsächlichen Insertion an der navikularen Tuberositas zu verfolgen.

7

7.2.3 Lage der Bandstrukturen der medialen Seite Die Anteile des Deltabandes und das „Pfannenband“ sind die wesentlichen Ligamente der medialen Fußseite (▶ Abb. 7.8). Durch die Lokalisation der knöchernen Referenzpunkte in unmittelbarer Nähe des Innenknöchels sind alle Bezugspunkte, um eine Vorstellung über die Lage des Deltabandes aufzubauen, bekannt. Das Lig. deltoideum lässt sich anatomisch in mehrere Anteile unterscheiden. Die Bezeichnungen der Ligamente orientieren sich an den knöchernen Fixpunkten. Es handelt sich – in der Lage von anterior (distal) nach posterior (proximal) – um das: ● Lig. tibiotalare anterius; vordere Spitze des medialen Malleolus – Collum tali ● Lig. tibionaviculare; vordere Spitze des medialen Malleolus – Tuberositas ossis navicularis

197

Fuß ●



Lig. tibiocalcaneare; plantare Spitze des medialen Malleolus – Sustentaculum tali Lig. tibiotalare posterius; hintere Spitze des medialen Malleolus – Proc. posterior tali





Lig. tibiocalcaneare durch Eversion (Kippen des Kalkaneus nach lateral) Lig. tibiotalare posterius durch Dorsalextension mit Abduktion und Pronation

Technik

Lig. calcaneonaviculare plantare

Lig. deltoideum

Das Lig. calcaneonaviculare plantare (Pfannenband) unterquert das Caput tali zwischen dem Sustentaculum tali und der Tubersositas ossis navicularis. Es ist als kräftige rundliche Struktur tastbar und konvergiert mit der Sehne des M. tibialis posterior zur Tuberositas. Die Abgrenzung zu den benachbarten ossären Fixpunkten ist durch eine Bewegung von der Ferse (mit Vorfuß) zu bestätigen. Die Fingerbeere liegt auf dem medial erreichbaren Aspekt des Caput tali zwischen Sustentakulum und der navikularen Tuberositas. Die Fingerspitze ist nach plantar gerichtet (▶ Abb. 7.17). Beim Kippen der Ferse nach medial verschwindet das Caput nach lateral. Distal und proximal werden die ossären Nachbarpunkte deutlich spürbar. Mit Druck nach lateral kann die Fingerspitze gegen das Pfannenband anstoßen. Kippen der Ferse betont nach lateral, lässt das Caput tali nach medial prominieren, wodurch sich das Band spannt.

Die einzelnen Ligamente des Deltabandes (Lig. deltoideum) sind palpatorisch nicht zu lokalisieren. Sie gehen mit ihren Fasern ineinander über und es liegen zu viele andere Weichteile darüber, um sie direkt zu erreichen (Retinaculum flexorum und verschiedene Sehnen). Lediglich ihre Ausdehnung ist durch Verbindung der jeweiligen knöchernen Fixpunkte auf der Haut darstellbar. Der Vorteil dieses Vorgehens sind das Herstellen einer räumlichen Vorstellung und das Verständnis für die unterschiedlichen Spannungsverhältnisse in verschiedenen Gelenkpositionen. So versteht man beispielsweise die zunehmende Spannung des Lig. tibiotalare posterius bei zunehmender Dorsalextension des Fußes (▶ Abb. 7.16). Das Tuberculum mediale des Proc. posterior tali projiziert sich nach proximal und plantar und entfernt sich vom Innenknöchel. Dadurch strafft sich das Band und unterstützt den Zusammenhalt der Gelenkpartner des oberen Sprunggelenkes.

Zur weiteren Übung Folgende Bewegungen spannen die jeweiligen Bandstrukturen des Deltabandes: ● Lig. tibiotalare anterius durch Plantarflexion mit Abduktion und Pronation ● Lig. tibionaviculare durch Plantarflexion mit Abduktion und Pronation

Sehne des M. flexor digitorum longus Neben der Sehne des M. tibialis posterior ist die zweite Sehne, die mit ihrer Sehnenscheide den Tarsaltunnel unterhalb der Lamina profunda des Retinaculum flexorum passiert. Sie ist wie die nachfolgend beschriebene Sehne nur proximal von Talus und Kalkaneus deutlich zu lokalisieren. Man sucht zunächst die Sehne des M. tibialis posterior auf und verfolgt diese nach proximal, bis etwa 2–3 Fingerbreit oberhalb des Malleolus medialis.

Lig. calcaneonaviculare

Abb. 7.17 Palpation des Pfannenbandes. Abb. 7.16 Verlauf des Lig. tibiotalare posterius.

198

7.2 Palpation des medialen Fußrandes Von der Sehne aus palpiert man nach posterior in Richtung Achillessehne. Die nächste wulstige Erhebung ist die Sehne des M. flexor digitorum longus (▶ Abb. 7.18 und ▶ Abb. 7.19).

Tipp Da dieser Bereich häufig durch Fettgewebe ausgefüllt ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass man die Sehne allein durch quere Palpation lokalisiert, recht gering. Daher benutzt man zur Bestätigung der richtigen Lokalisation eine aktive und rhythmisch eingebrachte Zehenbeugung. Jetzt ist die zu- und abnehmende Spannung der Sehne eindeutig zu spüren. Gelingt das nicht, ist die Spannung der Sehne auch durch passiv eingebrachte Zehenextension zu erhöhen, um sie so besser spüren zu können.

Sehne des M. flexor hallucis longus Mit der gleichen Vorgehensweise wird die nächste Sehne mit ihrer Sehnenscheide ertastet. Sie liegt direkt posterior der oben beschriebenen Sehnen und ist die dritte, die vom Retinaculum flexorum am Skelett des Unterschenkels und Fußes fixiert wird. Nach plantar läuft die Sehne in einem eigenen Sulkus an der Tibia und später zwischen beiden Tubercula des Proc. posterior tali weiter. Von der Sehne des M. flexor digitorum longus aus orientiert sich die Palpation erneut etwas weiter nach posterior auf die Achillessehne zu (▶ Abb. 7.20 und ▶ Abb. 7.21). Als letzte feste und elastische Struktur vor der Achillessehne ist die Sehne des M. flexor hallucis longus in der Tiefe zu spüren. Die Bestätigung der Lokalisation erfolgt mit rhythmischer Aktivität, hier mit Beugung der Großzehe. Auch eine passive Extension der Großzehe

7

Abb. 7.18 Palpation der Sehne des M. flexor digitorum longus – in vivo.

M. tibialis posterior M. flexor digitorum longus

Abb. 7.19 Palpation der Sehne des M. flexor digitorum longus – Zeichnung.

Abb. 7.20 Palpation der Sehne des M. flexor hallucis longus – in vivo.

M. flexor hallucis longus

Abb. 7.21 Palpation der Sehne des M. flexor hallucis longus – Zeichnung.

199

Fuß bringt die gewünschte Spannung der Sehne zur besseren Lokalisation. Man kann die Sehne nach plantar bis direkt proximal des Tuberculum mediale quer palpierend verfolgen.

Weitere Strukturen des Tarsaltunnels Neben den 3 beschriebenen Sehnen bzw. Sehnenscheiden verlaufen 3 weitere Strukturen zwischen der profunden und superfizialen Lamina des Retinaculum flexorum (von Lanz u. Wachsmuth 2003) hinter dem medialen Malleolus zur Fußsohle (▶ Abb. 7.22): ● V. tibialis ● A. tibialis posterior ● N. tibialis Davon ist die Arterie sicher und der Nerv etwas schwieriger palpabel.

Technik – Arteria tibialis posterior Zunächst wird der Proc. posterior tali aufgesucht. Von hier aus orientiert man sich etwas nach proximal und legt sehr lokal eine Fingerbeere flach und mit wenig Druck auf. Von Lanz und Wachsmuth beschreiben ihre Lage wie folgt: „Der Puls der A. tibialis posterior ist im Sulcus malleolaris medialis etwa in der Mitte zwischen Malleolus medialis und Tendo calcaneus (Achillis) zu fühlen.“ (von Lanz u. Wachsmuth 2003, S. 337) Nach kurzer Zeit flächiger und geduldiger Palpation stellt sich die Pulsation der Arterie ein. Man kann sie noch eine kurze Strecke nach proximal verfolgen. In ca. 72 % teilt sich die Arterie innerhalb des Tarsaltunnels in weitere Äste auf (Yang et al. 2017).

Technik – N. tibialis In direkter Nachbarschaft der Arterie liegt der N. tibialis, der sich zu 70 % während des Durchtritts durch den Tarsaltunnel in 2 weitere Äste aufteilt (Nn. plantares; Yang et al. 2017). Zur Darstellung des Nervs oder seiner Äste wird die spitze Palpation oberhalb des Retinakulums quer zur Struktur eingesetzt mit dem Versuch, diese wie eine Gitarrenseite anzuhaken. Bei exakter Lokalisation rollt der Nerv unter dem palpierenden Finger weg. Die begleitende Vene ist palpatorisch nicht zu identifizieren. Die Relation der Lage von Arterie und Nerv ist höchst variabel. Die Arterie kann proximal oder distal des Nervs oder sogar zwischen den neuralen Ästen liegen.

Technik – Retinaculum flexorum Die proximale Kante des Retinaculum flexorum ist spürbar. Der Ausgangspunkt ist eine Stelle direkt plantar und proximal des Tuberculum mediale des Proc. posterior tali mit einer Fingerspitze, die nach plantar und distal ausgerichtet ist. Mit deutlichem Druck in die Tiefe rutscht die Fingerspitze etwas nach plantar und distal, bis eine fest-elastische Kante deutlich wird. Diese Kante wird durch Eversion der Ferse gestrafft (▶ Abb. 7.24).

Technik – Sehne des M. tibialis anterior Der Palpationsgang verlässt die Regio malleolaris medialis und wendet sich den weiteren Strukturen der medialen Fußseite zu. Die Sehne des M. tibialis anterior ist eine Leitstruktur, um Gelenkspalte des medialen Fußrandes aufzufinden. Die breite Sehne des M. tibialis anterior lässt sich durch Muskelaktivität in Extension mit Adduktion und Supina-

A. tibialis posterior N. tibialis N. plantaris medialis N. plantaris lateralis

Retinaculum flexorum

Abb. 7.22 Verlauf von A. und N. tibialis.

200

Abb. 7.23 Darstellung der Sehnen von Mm. tibialis anterius und posterius.

7.2 Palpation des medialen Fußrandes

Abb. 7.25 Gelenkspalte des medialen Fußrandes.

Abb. 7.24 Palpation des Reticulum flexorum. Talus

tion des Fußes gut darstellen (▶ Abb. 7.24). Problemlos sind ihre Ränder zu markieren und nach distal zum medialen Fußrand zu verfolgen. Hier verbreitert sie sich, wird flacher und entzieht sich der weiteren Palpation. An dieser Stelle befindet sich der Gelenkspalt zwischen dem Os cuneiforme mediale und der Basis des Os metatarsale I (MT I).

Sustentaculum tali Os naviculare Tuberositas ossis naviculare Os cuneiforme mediale

7

Os metatarsale I

Gelenkspalte des medialen Fußrandes Folgende Gelenkspalte werden aufgesucht (▶ Abb. 7.25 und ▶ Abb. 7.26): ● Talus – Os naviculare, Art. talonavicularis, Teil der Chopart’schen Gelenklinie ● Os naviculare – Os cuneiforme mediale ● Os cuneiforme mediale – Basis MT I, Teil der Lisfranc’schen Gelenklinie ● Caput MT I – Basis Grundphalanx I, Art. metatarsophalangea; Großzehengrundgelenk

Abb. 7.26 Topografie der medialen Gelenkspalte.

Technik Gelenkspalt Art. talonavicularis Lässt man beide prominenten Sehnen der medialen Fußseite – Mm. tibialis anterior und tibialis posterior – durch eine Anspannung in Adduktion und Supination darstellen (▶ Abb. 7.24), so wird meistens eine Grube am medialen Fußrand sichtbar, die von ihrer Lage und Form entfernt an die Fossa radialis der Hand erinnert. In dieser Grube befindet sich der Gelenkspalt der Art. talonavicularis. Der Verlauf des Gelenkspaltes an der medialen Fußseite ist nicht rechtwinklig zum Fußrand, sondern fällt gegenüber einer Linie, die den Fußrand rechtwinklig trifft, um ca. 30° schräg von distal-dorsal nach plantar-proximal etwas ab. Wenn man Bewegungen des Vorfußes in Adduktion einbringt, um die Lokalisation zu bestätigen, kann man ein recht großes Bewegungsaus-

Abb. 7.27 Palpation des talonavikularen Gelenkspaltes.

maß erwarten. Unter der Bewegung stößt das Os naviculare gegen den tastenden Finger (▶ Abb. 7.27), der parallel des Gelenkspaltes ausgerichtet ist. Dieser Gelenkspalt ist der mediale Anteil der transversalen Tarsalgelenke.

201

Fuß

Tipp Eine weitere und sichere Möglichkeit, den Gelenkspalt zu finden, ist der Weg über die Lokalisierung der Insertion des M. tibialis posterior, die Tuberositas ossis navicularis (▶ Abb. 7.15). Der Gelenkspalt liegt direkt proximal der Tuberositas. Das Os naviculare ist nicht nur medial zu erreichen. Man sollte stets vor Augen haben, dass es genauso breit ist wie der Talus (▶ Abb. 7.59). Die Ausdehnung der weiteren Fußwurzelknochen nach dorsal ist weder palpatorisch noch mit Gelenkspieltests genau abgrenzbar. Die Abgrenzung zur Fußsohle hin ist allerdings einfach. Der palpierende Finger verlässt den harten Widerstand der Tarsalia und erreicht eine weiche und elastische Konsistenz.

Gelenkspalt Os naviculare – Os cuneiforme mediale Direkt distal der Tuberositas ossis navicularis fällt der palpierende Finger in eine leichte Einziehung, die von der Form her an das vordere „V“ des ACG erinnert. Diese Einkerbung markiert den Gelenkspalt zwischen dem Os naviculare und dem anschließenden Os cuneiforme mediale.

Gelenkspalt Os cuneiforme mediale – Basis Metatarsale I Dieser Gelenkspalt ist palpatorisch sehr schwer zu lokalisieren (▶ Abb. 7.28). Zum einen ist der Gelenkspalt nicht groß, zum anderen gibt es hier kaum Bewegung, die man zur genaueren Lokalisierung benutzen könnte. Eine typische Eigenschaft der tarsometatarsalen Gelenke in der Lisfranc’schen Linie.

Abb. 7.28 Palpation Gelenkspalt Os cuneiforme I und Metatarsale I.

202

Gelenkspalt der Art. metatarsophalangea Zunächst muss das distal ausgeprägte Caput MT I aufgesucht werden. Es erscheint am distalen Ende der MT I groß und konvex. Der Gelenkspalt des Großzehengrundgelenkes liegt distal davon (▶ Abb. 7.29). Dies wird daher so deutlich hervorgehoben, da man ohne Palpationserfahrung den Gelenkspalt gerne proximal sucht.

Bestätigung der Gelenkspalte durch Bewegung Nachfolgend wird die optimale Technik zur Bestätigung der Lokalisation der Gelenkspalte durch Bewegung beschrieben. Ausgenommen im talonavikularen Gelenk sind nur kleine Bewegungen möglich, durch die sich die Lage der Gelenkspalte bestätigen lässt. Daher muss diese Technik dreierlei leisten: ● flächige, aber deutliche Fixation der proximalen Knochen, damit diese sich nicht mitbewegen (von proximal kommende Hand) ● Spüren der Bewegung im Gelenkspalt (von proximal kommende Hand) ● Einbringen der kleinen Bewegung (von distal kommende Hand) Palpiert wird immer mit dem Zeigefinger oder Mittelfinger der proximalen Hand. Die restlichen Finger und der Hypothenar halten die Knochen proximal des Gelenkspaltes flächig entgegen, damit die kleine Bewegung, die man einbringen kann, nicht nach proximal weiterläuft. Die distale Hand bringt die Bewegung so ein, dass der distal liegende Knochen mit seiner Kante gegen den palpierenden Finger anstößt. Meist ist die Bewegungsrichtung eine Adduktion oder eine Extension.

Abb. 7.29 Palpation Gelenkspalt Großzehengrundgelenk.

7.2 Palpation des medialen Fußrandes

7.2.4 Therapeutische Hinweise Anwendung der Ottawa Ankle Rules Um die hohen Kosten von Röntgenerstuntersuchungen infolge Umknicktraumata zu senken, entwickelte eine Gruppe um Ian G. Stiell an der University von Ottawa 1991 Vorhersageregeln (Stiell et al. 1992). Diese Prediction Rules sollten in der Lage sein, die An- oder Abwesenheit von Frakturen am Sprunggelenk und Mittelfuß zu erkennen. Mittlerweile sind diese Regeln häufig auf ihre diagnostische Wertigkeit hin überprüft worden. Bachmann und Mitarbeiter (2003) kommen in ihrem Systematic Review zu einer Sensitivität von 96 bis 99 % und schätzen das Potenzial einer Einspaarung von Röntgenerstuntersuchungen auf 30 bis 40 %. Die Anwendung der Ottawa Ankle Rules (▶ Abb. 7.30) ist sehr einfach und basiert hauptsächlich auf provokativer Palpation. Wenn einer der nachfolgenden Punkte erfüllt ist, dann ist eine Fraktur sehr wahrscheinlich:

Abb. 7.30 Ottawa Ankle Rules – Palpation posteriorer Rand Fibula.





● ● ●

Druckschmerz entlang der distalen 6 cm am posterioren Rand der Tibia Druckschmerz entlang der distalen 6 cm am posterioren Rand der Fibula Druckschmerz an der Basis des Metatarsale V Druckschmerz am Os naviculare direkt nach der Verletzung maximal nur 4 Schritte möglich

Querfriktionen bei Tendosynovitis des M. tibialis posterior Tendopathien, Reizungen der Sehnenscheide oder der Insertion des M. tibialis posterior gehören zu den häufigeren Weichteilläsionen auf der medialen Fußseite und treten häufig im Zusammenhang mit Plattfußdeformitäten auf (Wilder u. Sethi 2004). Neben der Achillessehne, den Sehnen der Mm. peronei, ist die Sehne des M. tibialis posterior die meist betroffene (Wilder u. Sethi 2004). Bei Patienten mit klinisch bestätigter Irritation betrug die MRI-bestätigte Prävalenz einer Tendinosis 52 % und die Prävalenz der Peritendinosis 66 % (Premkumar et al. 2002). ● Zunächst wird die Sehne mit der zuvor beschriebenen Technik aufgesucht. ● Die Querfriktion wird unter schmerzfreier Vorspannung der Sehne durchgeführt. Daher wird der Fuß in eine Position, bestehend aus Abduktion mit Pronation und ggf. etwas Extension, eingestellt. Diese Vorspannung stabilisiert die Struktur während der Technik. Sie rollt damit nicht unter dem friktionierenden Finger hin und her. ● Die von dorsal kommende Hand palpiert die Sehne mit ihrer Scheide über die gesamte erreichbare Strecke. An der Stelle mit der deutlichsten Schmerzangabe durch den Patienten wird die quere Friktionstechnik eingesetzt (▶ Abb. 7.31).

7

Querfriktionen bei Insertionstendopathie des M. tibialis posterior ●



Abb. 7.31 Querfriktion der Sehne des M. tibialis posterior.

Zunächst wird die Sehne bis zu ihrer Insertion verfolgt und die Tuberositas ossis navicularis mit kreisender Palpation der Fingerbeere in ihrem vollen Ausmaß lokalisiert. Die Tuberositas stellt zwar nicht den ganzen Insertionsbereich der Sehne dar, doch ist sie die klinisch interessanteste Stelle. Um die Insertion gut erreichen zu können, muss die Sehne vom friktionierenden Finger weggedrückt werden können (▶ Abb. 7.32). Die hierzu notwendige Entspannung der Sehne erreicht man durch eine Einstellung des Fußes in Adduktion mit Supination. Dies entspannt zudem den M. abductor hallucis, der somit auch etwas weiter plantar den Kontakt zur Tuberositas frei gibt.

203

Fuß

Abb. 7.32 Querfriktion der Insertion des M. tibialis posterior.



Die Technik ist eine Bewegung des Fingers unter Druck von plantar nach dorsal. Sie sollte mit der von distal kommenden Hand ausgeübt werden, damit die Fingerbeere des Zeigefingers deutlichen Kontakt mit der Tuberositas aufnehmen kann. Der Daumen der friktionierenden Hand hakt sich dabei am lateralen Fußrand an und stabilisiert somit den Griff.

Gelenkspezifische Techniken – Art. talonavicularis Die transversalen Tarsalgelenke spielen im biomechanischen Verbund mit OSG und USG eine entscheidende Rolle für die Mobilität und Flexibilität des Fußes. Störungen innerhalb der transversalen Gelenke sind ausschließlich durch Gelenkspieltests der jeweiligen Gelenkverbindungen festzustellen. Daher spielt das Wissen über die genaue Lage und Ausrichtung der Gelenkspalte eine entscheidende Rolle. Der medial liegende Anteil der transversalen Tarsalgelenke ist die Art. talonavicularis, die es zu untersuchen und ggf. zu mobilisieren gilt. Bei den gelenkspezifischen Techniken kommt es darauf an, die Fußwurzelknochen möglichst gelenknah zu greifen und sie exakt parallel des Gelenkspaltes zu bewegen. Das Os naviculare lässt sich gegenüber dem Talus nach plantar (medial mit Supination) bzw. dorsal (lateral und Pronation) schaukelgleiten (▶ Abb. 7.33). Im Unterschied zu den anderen Gelenkspalten, die am medialen Fußskelett erreichbar sind, ist das lokale Bewegungsausmaß recht groß.

Abb. 7.33 Schaukelgleiten talonavikular.

A. tibialis posterior Die Qualität der Pulsation der A. tibialis posterior gibt Aufschluss über die Durchblutungs- und Versorgungssituation von Fuß und Zehen. Diese Information ist für die Beurteilung von peripheren arteriellen Verschlusserkrankungen wichtig.

Tarsaltunnelsyndrom Zur Diagnostik eines Tarsaltunnelsyndroms, einer Kompressionsneuropathie des N. tibialis bzw. seiner plantaren Äste, spielen die Provokationstests die wichtigste Rolle (Abouelela u. Zohiery 2012). Im Rahmen des Triple Compression Tests nutzt man zunächst die Druckerhöhung im Tarsaltunnel durch eine passive maximale Flexion plus Inversionsposition des gesamten Fußes. Zusätzlich wird ein manueller Druck direkt auf den Tarsaltunnel ausgeübt. Eine Irritation des N. tibialis posterior oder seiner Äste liegt vor, wenn binnen dieser 30 Sekunden die Beschwerden (z. B. lokale Schmerzen) des Patienten auslösbar sind. Abouelela und Zohiery (2012) bescheinigen diesem Test eine Sensitivität von 86 % und eine Spezifität von 100 %.

7.3 Palpation des lateralen Fußrandes 7.3.1 Kurzfassung des Palpationsganges Zunächst werden alle relevanten ossären Erhebungen aufgesucht und dargestellt. Anschließend werden die großen Sehnen mit ihren schützenden Sehnenscheiden ermittelt. Die wichtigen Gelenkspalte werden lokalisiert und eine Vorstellung über die Lage der Bandstrukturen des OSG vermittelt.

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Fuß

Abb. 7.32 Querfriktion der Insertion des M. tibialis posterior.



Die Technik ist eine Bewegung des Fingers unter Druck von plantar nach dorsal. Sie sollte mit der von distal kommenden Hand ausgeübt werden, damit die Fingerbeere des Zeigefingers deutlichen Kontakt mit der Tuberositas aufnehmen kann. Der Daumen der friktionierenden Hand hakt sich dabei am lateralen Fußrand an und stabilisiert somit den Griff.

Gelenkspezifische Techniken – Art. talonavicularis Die transversalen Tarsalgelenke spielen im biomechanischen Verbund mit OSG und USG eine entscheidende Rolle für die Mobilität und Flexibilität des Fußes. Störungen innerhalb der transversalen Gelenke sind ausschließlich durch Gelenkspieltests der jeweiligen Gelenkverbindungen festzustellen. Daher spielt das Wissen über die genaue Lage und Ausrichtung der Gelenkspalte eine entscheidende Rolle. Der medial liegende Anteil der transversalen Tarsalgelenke ist die Art. talonavicularis, die es zu untersuchen und ggf. zu mobilisieren gilt. Bei den gelenkspezifischen Techniken kommt es darauf an, die Fußwurzelknochen möglichst gelenknah zu greifen und sie exakt parallel des Gelenkspaltes zu bewegen. Das Os naviculare lässt sich gegenüber dem Talus nach plantar (medial mit Supination) bzw. dorsal (lateral und Pronation) schaukelgleiten (▶ Abb. 7.33). Im Unterschied zu den anderen Gelenkspalten, die am medialen Fußskelett erreichbar sind, ist das lokale Bewegungsausmaß recht groß.

Abb. 7.33 Schaukelgleiten talonavikular.

A. tibialis posterior Die Qualität der Pulsation der A. tibialis posterior gibt Aufschluss über die Durchblutungs- und Versorgungssituation von Fuß und Zehen. Diese Information ist für die Beurteilung von peripheren arteriellen Verschlusserkrankungen wichtig.

Tarsaltunnelsyndrom Zur Diagnostik eines Tarsaltunnelsyndroms, einer Kompressionsneuropathie des N. tibialis bzw. seiner plantaren Äste, spielen die Provokationstests die wichtigste Rolle (Abouelela u. Zohiery 2012). Im Rahmen des Triple Compression Tests nutzt man zunächst die Druckerhöhung im Tarsaltunnel durch eine passive maximale Flexion plus Inversionsposition des gesamten Fußes. Zusätzlich wird ein manueller Druck direkt auf den Tarsaltunnel ausgeübt. Eine Irritation des N. tibialis posterior oder seiner Äste liegt vor, wenn binnen dieser 30 Sekunden die Beschwerden (z. B. lokale Schmerzen) des Patienten auslösbar sind. Abouelela und Zohiery (2012) bescheinigen diesem Test eine Sensitivität von 86 % und eine Spezifität von 100 %.

7.3 Palpation des lateralen Fußrandes 7.3.1 Kurzfassung des Palpationsganges Zunächst werden alle relevanten ossären Erhebungen aufgesucht und dargestellt. Anschließend werden die großen Sehnen mit ihren schützenden Sehnenscheiden ermittelt. Die wichtigen Gelenkspalte werden lokalisiert und eine Vorstellung über die Lage der Bandstrukturen des OSG vermittelt.

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7.3 Palpation des lateralen Fußrandes

Abb. 7.35 Umrandung des lateralen Malleolus.

Malleolus lateralis Die Palpation beginnt analog zur medialen Seite mit der Umrandung des Malleolus. Zur Erinnerung: Die provokative Palpation der distalen 6 cm des posterioren Fibularandes gehört zur Testbatterie der Ottawa Ankle Rules (Kap. 7.2.4). Alle wichtigen lateralen Ligamente der Sprunggelenke beginnen hier. Das Retinaculum musculorum peroneorum superius reicht vom lateralen Malleolus fersenwärts und verhindert die Luxation der Peroneussehnen.

7

Abb. 7.34 ASTE der Palpation des Fußrandes lateral.

Technik

ASTE Der Therapeut setzt sich an die mediale Seite des Fußes und legt den Unterschenkel des Probanden auf seinem Oberschenkel ab. Dies gewährt einen sehr variablen Zugang zu den lateralen Strukturen bei einem gut bewegbaren Fuß (▶ Abb. 7.34).

7.3.2 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Malleolus lateralis Trochlea peronealis Basis Metatarsale V Mm. peroneus longus und brevis Art. calcaneocuboidea Gelenkspalte Metatarsale IV/V zum Os cuboideum Dimensionen des Os cuboideum Lage der lateralen Bandstrukturen Lig. talofibulare anterius

Die von distal kommende Hand benutzt eine rechtwinklige Palpation der Fingerbeeren, um die Kanten des Außenknöchels darzustellen. Dies gelingt recht einfach, da der Malleolus insgesamt sehr prominent ist (▶ Abb. 7.35). Verfolgt man die Kante nach anterior, ist auch der Übergang zur vorderen Tibiakante darstellbar. Das distale Ende der Tibiakante markiert den Gelenkspalt des oberen Sprunggelenkes. Direkt distal davon befinden sich Collum und Caput tali. Bei den Abgrenzungen des Malleolus spricht man hier auch von einer plantaren bzw. distalen Spitze. Die genaue Palpation der Kante zeigt, dass der laterale Malleolus überraschend weit nach medial reicht.

Trochlea peronealis Als Trochlea peronealis wird eine kleine, tropfenförmige Erhebung auf der Außenseite des Kalkaneus bezeichnet, die ca. 1 cm plantar und 1 cm distal des lateralen Malleolus liegt. An diesem Punkt trennen sich die bislang parallel verlaufenden Sehnen der Mm. peronei ab (▶ Abb. 7.36 und ▶ Abb. 7.37). Diese Stelle wird von dem inferioren peronealen Retinakulum überspannt.

205

Fuß ●

Der Proband wird aufgefordert, den Fuß gegen etwas Widerstand in Richtung Flexion mit Abduktion und Pronation zu führen. Dies innerviert die Mm. peronei und lässt die Sehnen am lateralen Fußrand deutlich promenieren. Eine Sehne lässt sich bis zur Basis des Metatarsale V verfolgen.

Eine weitere Sehne inseriert flächig an dieser Basis etwas weiter dorsal und distal. Es ist die Sehne des variabel angelegten M. peroneus tertius. Dieser ist, fälschlicherweise als solcher bezeichnet, eben kein dritter Peroneus, sondern eine Abspaltung des M. extensor digitorum longus. Abb. 7.36 Lage der wichtigsten ossären Referenzpunkte der lateralen Fußseite.

Tipp Zur Erinnerung: Der direkte Druck gegen die Basis des Metatarsale V gehört zur Testbatterie der Ottawa Ankle Rules (Kap. 7.2.4).

Mm. peroneus longus und brevis Die beiden Mm. peronei gehören zur Gruppe der Flexoren des Fußes. Sie hinterqueren die Beuge-/Streckachse des OSG, indem sie, in einer tiefen fibularen Führungsrinne (malleolare Grube), hinter dem Malleolus lateralis verlaufend das Fußskelett erreichen. Das Retinaculum musculorum peroneorum superius stabilisiert die Sehen in ihrer Grube und formt so den superioren peronealen Tunnel (Athavale et al. 2011).

Technik Abb. 7.37 Lage der Sehnen der Mm. peronei.

Technik Plantar und ein wenig zehenwärts von der distalen Spitze des Malleolus ist eine kleine tropfenförmige Leiste spürbar, die individuell sehr unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Zur eindeutigen Darstellung sollten die Peroneussehnen völlig entspannt sein, ansonsten prominieren sie zu stark und lassen die Lokalisation der Trochlea nicht zu.

Basis Metatarsale V Die Tuberositas ossis metatarsi V, die Verstärkung des proximalen Endes der V. Metatarsale, ist am lateralen Fußrand recht einfach zu spüren. Zur sicheren Lokalisation gibt es 2 Möglichkeiten: ● Mit 2–3 Fingerkuppen rutscht man seitlich von der Ferse nach distal in Richtung Kleinzehe. Die erste wirklich deutliche knöcherne Erhebung ist die Tuberositas des Metatarsale V.

206

Palpation der Sehnen am Unterschenkel Beide haben ihr Ursprungsgebiet lateral an der Fibula. Daher verläuft die Sehne des M. peroneus longus eine gewisse Strecke auf dem Muskelbauch des M. peroneus brevis. Direkt proximal des Malleolus liegen die Sehnen also übereinander. Mit rhythmischer Muskelaktivität beim Führen des Fußes in Richtung Flexion, Abduktion und Pronation spürt man mit direkter und flächiger Palpation die Muskelbäuche. Die oberflächig erreichbare Sehne ist dem M. peroneus longus zuzuordnen. Der M. peroneus brevis liegt deutlich schlechter erreichbar „versteckt“ darunter. Die Abgrenzung der Muskelbäuche und weiter distal der Sehnen zur Fibula bzw. zum Begleitgewebe der Achillessehne gelingt ebenfalls mit rhythmischer Muskelaktivität (▶ Abb. 7.38).

7.3 Palpation des lateralen Fußrandes

Retinaculum musculorum peroneorum superius

Abb. 7.38 Lokalisation der Sehnen der Mm. peronei am distalen Unterschenkel.

Palpation der Sehnen am Malleolus lateralis Beide Sehnen verlaufen übereinander liegend in einem eigenen Sulkus posterior und distal des lateralen Malleolus. Hier sind sie mit dem Retinaculum musculorum peroneorum superius fixiert, das in Breite, Dicke und Insertionen stark variiert und durch Inversionstraumata stark gedehnt wird (Ferran et al. 2006). Das Retinakulum lässt sich mit direkter Palpation und wechselnder Spannung durch Extension, Adduktion und Supination palpieren und wird manchmal für das Lig. calcaneofibulare gehalten, was jedoch in seinem weiteren Verlauf schlechter palpabel ist (ohne Abbildung). Verletzungen des Retinakulums erscheinen klinisch wie eine Sehnenscheidenpathologie. Die Sehnenscheiden der Mm. peronei erstrecken sich 2 cm proximal des Malleolus bis etwa zur Trochlea peronealis. Die Sehnenscheide des M. peroneus brevis kann sogar mit der Kapsel des OSG kommunizieren. Rupturen der Kapsel verursachen daher häufiger Einblutungen in die Sehnenscheide. Luxationen aus der stabilisierten Position innerhalb der Führungsrinne entstehen vorwiegend traumatisch (Marti 1977). Die Tendenz dazu kann aber auch angeboren sein. Die Longussehne kann man hier nur palpieren, wenn man sich von posterior dem Malleolus nähert. In der Tiefe der malleolaren Grube gelingt die Palpation nur mit Mühe und steil aufgestellter Fingerspitze.

Palpation des Retinaculum musculorum peroneorum superius Von der distalen posterioren Kante der Fibula verläuft es leicht plantar abfallend fersenwärts, um direkt nach dem Überqueren der Peroneussehnen am Kalkaneus zu inserieren. Direkt dahinter (weiter fersenwärts) verläuft der N. cutaneus dorsalis lateralis vom Unterschenkel zur lateralen Fußseite (von Lanz u. Wachsmuth 2003, S. 345), der in der Tiefe mit aufgestellter Fingerspitze anzuhaken ist.

Abb. 7.39 Palpation des Retinaculum musculorum peroneorum superius.

Verletzungen des Retinakulums sind eine mögliche ligamentäre Komplikation eines Umknicktraumas des Fußes und können infolge einer Ruptur und flach angelegter malleolarer Grube (in 18 % aller Personen; Ferran et al. 2006) zu Subluxationen mit Schädigungen der Peroneussehnen führen. Die superiore Kante des Retinakulums ist deutlich zu ertasten. Dabei rutscht die nach plantar ausgerichtete Fingerspitze zunächst am distalen Unterschenkel über die Peroneussehnen weiter nach plantar. Wenn das Abtauchen der Sehnen in Peroneustunnel zu ertasten ist, wird die Fingerspitze aufgestellt. Mit zunehmendem Druck versucht man nun, die superiore Kante des Retinakulums wahrzunehmen, die sich bei Inversion der Ferse deutlich strafft (▶ Abb. 7.39). Bei leichten Verletzungsgraden des Retinakulums (ohne Abriss) können therapeutisch hier unter anderem Querfriktionen einen schmerzlindernden Effekt haben.

7

Palpation der Sehnen am lateralen Fußrand Beide Sehnen werden gemeinsam zur Trochlea peronealis geführt. Direkt distal des lateralen Malleolus taucht die Brevissehne unter der Longussehne hervor. An der Trochlea teilt sich der gemeinsame Verlauf, hier fixiert vom Retinaculum musculorum peroneorum inferius. Die Longussehne verläuft am lateralen Fußrand zum Os cuboideum und taucht nach plantar und medial ab. Sie wird somit in ihrem Verlauf zum dritten Mal umgelenkt. Im Allgemeinen ist sie am lateralen Fußrand nur äußerst schwer palpabel und von der Brevissehne differenzierbar. Die Brevissehne lässt sich mit querer Palpation bis zur Insertion noch gut verfolgen (▶ Abb. 7.40). Sollte man sie zwischen der Trochlea und der Basis des Metatarsale V nicht sehen oder quer palpieren können, fordert man den Probanden zu abwechselnder Spannung und Entspannung in Richtung Abduktion und Pronation des Fußes auf.

207

Fuß

Abb. 7.40 Palpation der Sehne des M. peroneus brevis.

Abb. 7.41 Palpation der Kalkaneusspitze.

Art. calcaneocuboidea Die Palpation verlässt zunächst die Region um den Malleolus und wendet sich der Lokalisation weiterer Fußwurzelknochen und deren gelenkigen Verbindung zu. Hier geht es vor allem um die Darstellung des Os cuboideum und dessen artikulären Kontakte. Zuvor noch ein paar Merksätze zu dieser Region: ● Etwa zwei Drittel der Länge des Kalkaneus liegen proximal und nur ein Drittel distal des Außenknöchels. ● Die Ausdehnung des Os cuboideum am lateralen Fußrand ist sehr gering (ca. 1 Fingerbreit). ● Alle Sehnen der Fußextensoren liegen auf dem Talus. Der interessanteste Gelenkspalt am lateralen Fußrand ist zweifelsohne der C-C-Gelenkspalt (Art. calcaneocuboidea). Dieser Gelenkspalt stellt den äußeren Anteil der Chopart’schen Linie (Artt. tarsi transversa) dar.

Technik Es gibt 3 Möglichkeiten, diesen Gelenkspalt aufzusuchen. ● Verfolgen der dorsalen Kante des Kalkaneus ● direktes Aufsuchen des Proc. anterior calcanei ● plantares Abschätzen der Kuboidgröße Die letze Möglichkeit ist die unsicherste und daher nicht explizit beschrieben. Die Hypothese ist, dass das Os cuboideum plantar lediglich eine Länge (Kalkaneus bis Basis des Metatarsale V) von 1 cm hat. Von der Basis aus nach proximal verfolgt, müsste demnach der C-C-Gelenkspalt plantar dort zu finden sein.

208

Abb. 7.42 Darstellung der Palpationstechnik am Kalkaneus.

1. Möglichkeit – Verfolgen der dorsalen Kante des Kalkaneus Die erste Möglichkeit orientiert sich an der dorsale Kante des Kalkaneus. Diese Kante begrenzt den Sinus tarsi plantar. Man findet sie, wenn man den Fuß zunächst in leichte Inversion (Flexion mit Adduktion und Supination) führt. Hierauf palpiert man anterior des Außenknöchels nach plantar. Eine scharfe Kante stellt sich dar, die man konsequent nach distal und medial verfolgen muss, bis das Caput tali die Palpation stoppt (▶ Abb. 7.41 und ▶ Abb. 7.42).

7.3 Palpation des lateralen Fußrandes

Abb. 7.43 Lage des Gelenkspaltes zwischen Kalkaneus und Os cuboideum.

An dieser Stelle (Kalkaneusspitze) entspringt das Lig. bifurcatum, das im Rahmen eines Inversionstraumas verletzt werden kann. Mit einem Druck nach proximal (fersenwärts) gelingt der Zugang zum Sinus bzw. Canalis tarsi. Von dieser Kalkaneusspitze aus fällt man eine Linie rechtwinklig zum Fußaußenrand (dabei ist der Fuß in der Nullposition). Diese Linie entspricht der Lage des C-CGelenkspaltes (▶ Abb. 7.43).

Tipp Die Lokalisation bestätigt man durch eine leichte Bewegung. Proximal wird der Kalkaneus mit dem palpierenden Finger stabilisiert. Die distale Hand bringt eine kleine Bewegung in Abduktion mit Pronation ein. Das Os cuboideum schaukelgleitet nach dorsal gegen den spürenden Finger und bestätigt so die korrekte Lage des Gelenkspaltes.

2. Möglichkeit – Aufsuchen des Proc. anterior calcanei Die zweite Möglichkeit ist besonders bei sehr beweglichen Füßen gut einsetzbar und dient letztlich auch zur Bestätigung der Lokalisation des C-C-Gelenkspaltes nach Möglichkeit 1. Das distale Ende des Kalkaneus ist besonders wuchtig, da hier die kurzen Zehenstrecker (Mm. digitorum brevis und hallucis brevis) fleischig inserieren. Dieser Proc. anterior calcanei (Hall u. Shereff 1993) tritt bei beweglichen Füßen und einer ausgiebigen Inversionsposition deutlich hervor. Man kann ihn jetzt sehr einfach als hervorragende Stufe von distal her palpieren und den direkt davor liegenden Gelenkspalt lokalisieren. Der Processus stellt sich hier als prominente und harte Kante dar (▶ Abb. 7.44).

Abb. 7.44 Palpation des distalen Kalkaneus.

Die Bestätigung der richtigen Lokalisation erhält man, wenn der Fuß zurück in Nullposition oder weiter in Eversion (Extension mit Abduktion und Pronation) gebracht wird. Hier reduziert sich oder verschwindet die erspürte Stufe, da sich das Kuboid nach dorsal schiebt.

7

Gelenkspalte Metatarsale IV/V zum Os cuboideum Die Gelenke zu den Basen der IV. bzw. V. Metatarsalia gehören zur Lisfranc'schen Linie. Alle Gelenke dieser Gelenklinie haben allgemein nur sehr wenig Mobilität. Die stabilsten Verbindungen sind zentral auf dem Fußrücken zu finden: ● Os cuneiforme intermedium – Basis MT II ● Os cuneiforme laterale – Basis MT III Die beweglicheren sind randständig.

Technik Der Ausgangspunkt zur Lokalisation der gesuchten Gelenke ist die Basis der MT V, die man von proximal her anhakt (▶ Abb. 7.45). Von hier aus zieht man eine Linie nach medial zur Basis MT I. Die Lokalisation ist unter der Überschrift „Spezielle Palpation medial“ beschrieben. Es ergibt sich eine Orientierung, die im Allgemeinen die Lage der Lisfranc’schen Linie widerspiegelt. Entlang dieser Linie befinden sich grob die Gelenke zwischen dem Kuboid und den Basen der IV. und V. Metatarsale.

209

Fuß

Os cuboideum Abb. 7.46 Projektion der Lage des Os cuboideum.

Abb. 7.45 Palpation der Basis ossis metatarsale V.

Dimensionen des Os cuboideum Das Kuboid artikuliert mit folgenden Knochen: ● Kalkaneus – nach proximal. Dieses Gelenk wurde bereits lokalisiert. ● Metatarsalia IV und V – nach distal. Diese Gelenke sind Teil der Lisfranc’schen Linie und auch bereits bekannt. ● Os naviculare und Os cuneiforme laterale – nach medial. Zum Os naviculare und Os cuneiforme laterale gibt es ein echtes und planes Gelenk. Funktionell stellt es einen wichtigen Teil der transversalen Tarsalgelenke dar und spielt im kinematischen Komplex dieser Region eine wichtige Rolle. Auf der Suche nach einer sehr lokalen Bewegungseinschränkung sollte es nicht vergessen und ebenfalls mit Gelenkspieltests untersucht werden. Zur Darstellung dieses Gelenkspaltes benötigt man eine Hilfslinie, da man den Gelenkspalt palpierend nicht eindeutig darstellen kann. Hilfestellung kommt aus der topografischen Anatomie, die besagt, dass diese Gelenklinie recht genau in Verlängerung des Raumes zwischen Metatarsale III und IV liegt. Rutscht man in diesem Zwischenraum nach proximal auf den Fußrücken und folgt den Metatarsalia (und nicht den Extensorensehnen), so zeigt diese Verlängerungslinie die Lage des Gelenkspaltes an. Plantar ist es übrigens der Zwischenraum zwischen dem II. und III. Mittelfußknochen, der hierzu maßgeblich ist. Der Gelenkspalt zwischen dem Kuboid und seinen medial gelegenen Gelenkpartnern verläuft daher von plantar-medial nach dorsal-lateral. Anders formuliert: Er verläuft rechtwinklig zur Ebene des Fußrückens. So ergeben sich nach Palpation und Nutzen von Hilfslinien einige Erkenntnisse über das Os cuboideum (▶ Abb. 7.46): ● Es hat sicher keine „Würfelform“. ● Der Gelenkspalt des C-C-Gelenkes ist nahezu so breit wie die Gelenkspalte zu MT IV und V.

210

Lig. talofibulare post. Lig. calcaneofibulare Lig. talofibulare ant.

Abb. 7.47 Lateraler Bandapparat.

● ●

Lateral ist das Kuboid sehr schmal, ca. 1 Finger breit. Auf dem Kuboid liegen die Muskelbäuche der kurzen Zehenextensoren. Am mageren Fuß fallen diese inspektorisch als eine Art „Schwellung“ auf. Die Ursprünge liegen noch auf dem Kalkaneus (Proc. anterior calcanei). Die Muskelbäuche lassen sich durch kräftige Zehenextension darstellen.

Lage der lateralen Bandstrukturen Die Bänder der Außenseite der Sprunggelenke ähneln in Lage und Verlauf prinzipiell denjenigen der medialen Seite (▶ Abb. 7.47). Es gibt natürlich einige Unterschiede: ● Der Bandapparat ist lateral weniger stark ausgeprägt. ● Im Unterschied zur medialen Seite gibt es kein Ligament, das vom lateralen Malleolus aus die Chopart’sche Linie überquert. ● Nur wenige Bandanteile sind sehr gut zu erreichen.

7.3 Palpation des lateralen Fußrandes

Abb. 7.48 Lage der Ligg. talofibulare anterius und calcaneofibulare.

Die Ligg. talofibularia anterius und posterius gehören zum Steuerungs- und Sicherungsmechanismus des oberen Sprunggelenkes. Das posteriore Band kann man nicht erreichen, da die Peroneussehnen mit ihren Retinacula darüber liegen. Zudem ist die Talusinsertion, das Tuberculum laterale des hinteren Talusfortsatzes, palpatorisch unerreichbar in der Tiefe gelegen. Hingegen sind die fibulare und die talare Insertion sowie der Verlauf des Lig. talofibulare anterius gut erreichbar (▶ Abb. 7.48). Da dies wohl die meist traumatisierte Struktur des menschlichen Bewegungsaparates sein dürfte, sind viele Ärzte und Therapeuten an der exakten Lokalisation interessiert. Es erstreckt sich zwischen der vorderen Spitze des Außenknöchels und dem Talushals. Die Länge des Bandes wird in der Anatomie mit 12–25 mm angegeben (Matsui et al. 2017). Die Breite beträgt zwischen 5 und 11 mm (Matsui et al. 2017). Es entspringt 10–13 mm von der plantaren Spitze an der anterioren Kante des fibularen Malleolus. Bei einer 90°-Abwinkelung des Fußaußenrandes zum Unterschenkel liegt es parallel zum lateralen Fußrand. Das dritte Band, das Lig. calcaneofibulare, ersteckt sich zwischen der distalen Fibulaspitze und der lateralen Seite des Kalkaneus, und zwar um ca. 30° nach posterior-plantar absteigend. Es überquert den Gelenkspalt der hinteren Kammer des unteren Sprunggelenkes rechtwinklig. Zum Lig. talofibulare anterius bildet es einen etwa 120° großen Winkel. Nach Matsui beträgt die Länge zwischen 18 und 35 mm und die Breite zwischen 4 und 8 mm (Matsui et al. 2017). Dieses Band ist in seinem Verlauf schwer erreichbar, da die darüber kreuzenden Peroneussehnen den direkten Zugang behindern. Lediglich die fibulare Fixation ist in einer passiven Flexionsstellung des Fußes erreichbar, da in dieser Fußposition die Peroneussehnen die

Abb. 7.49 ASTE der Palpation des Lig. talofibulare anterius.

7

Abb. 7.50 Querfriktion der malleolaren Insertion des Lig. talofibulare anterius.

Insertionsstelle freigeben. Man erreicht das Ligament in dieser Position an der distalen Fibulaspitze, direkt dorsal der Peroneussehnen.

Lig. talofibulare anterius Das Band lässt sich an 3 verschiedenen Stellen erreichen: ● Insertion an der anterioren Malleolusspitze ● Insertion am Talushals ● Verlauf zwischen beiden Fixpunkten Für alle 3 Lokalisierungen wird die von proximal kommende Hand benutzt. Der Unterarm lehnt sich dabei am Unterschenkel des Patienten an. Die distale Hand positioniert den Fuß (▶ Abb. 7.49).

211

Fuß

Technik

Querfriktion am Lig. talofibulare anterius

Malleolusinsertion

Die Anwendung therapeutisch orientierter Querfriktionen wird wie die oben beschriebene Palpation ausgeführt und muss nicht weiter erläutert werden. Lediglich Intensität und Dauer werden mit therapeutischer Zielsetzung angepasst.

Da eine knöcherne Insertion gesucht wird, soll das Band entspannt werden, damit der Zugang zum Malleolus nicht behindert wird. Dies gelingt durch eine Einstellung des Fußes in einer leichten Eversionsposition. Die palpierende Fingerbeere wird mit dem Mittelfinger beschwert und direkt gegen den Malleolus gestellt. Dabei wird der Unterarm deutlich proniert (▶ Abb. 7.50). Die palpierende Bewegung erfolgt mit Druck von plantar nach dorsal und mit reduziertem Druck zurück.

Mittlerer Verlauf Die Technik entspricht der vorangegangenen Beschreibung mit einigen Modifikationen: ● Der Unterarm wird weniger proniert. ● Die Fingerbeere wird zwischen beiden knöchernen Fixpunkten platziert. ● Die distale Hand führt den Fuß in eine Inversionsposition. Dies strafft das Band und stabilisiert es unter dem palpierenden Finger. Bei Patienten nach einem VarusInversions-Trauma und Verletzung der Struktur ist darauf zu achten, dass die Einstellung des Fußes schmerzfrei geschieht.

Talusinsertion Die Ausführung zeichnet sich aus durch: ● Fußposition in leichter Eversion, um das Band zu entspannen ● Einstellung des Armes in leichter Supination ● Kontakt der Zeigefingerbeere mit dem Talushals (Collum tali) Zum sicheren Lokalisieren der Insertion am Talushals versucht man zunächst in leichter Flexion des OSG direkt medial des Malleolus einen deutlich hervorstehenden und spitzen Knochenpunkt zu palpieren, der in Extension verschwindet. Hier handelt es sich um die anterior-laterale Begrenzung der Trochlea tali. Direkt distal davon formt der Talushals eine konkave Fläche. Hier inseriert das Ligament.

7.3.3 Therapeutische Hinweise Auch am lateralen Fußrand gibt es einige Anwendungsbeispiele für die genaue Anatomie in vivo. Hierunter befinden sich Behandlungstechniken für Bandstrukturen, Sehnenscheiden, Insertionen und gelenkspezifische Techniken der Manuellen Therapie.

212

Querfriktion der Sehne mit Sehnenscheide des M. peroneus brevis Die Technik ähnelt der Lokalisierung der Sehne zwischen Trochlea peronaealis und der Insertion (▶ Abb. 7.40). Die Sehne sollte zur Stabilisation etwas vorgespannt werden. Daher wird der Fuß in Adduktion mit Supination und ggf. etwas Extension vorpositioniert (▶ Abb. 7.51). Mit dem beschwerten oder unbeschwerten Zeigefinger wird die Struktur quer palpiert und behandelt, wobei der therapeutisch wirksame Druck bei der Bewegung von plantar nach dorsal eingebracht wird. Die Sehnenscheide erreicht man mit dieser Technik zwischen der Trochlea peronealis und dem Malleolus lateralis, die Sehne zwischen der Trochlea und der Insertion.

Querfriktion der Insertion des M. peroneus brevis Nun kommt es darauf an, dass die Brevissehne entspannt ist und den vollen Zugang zur Basis MT V nicht stört. Die proximale Hand führt den Fuß daher in eine Position mit Abduktion und Pronation. Der palpierende Finger kommt nun von der distalen Hand. Der Daumen hakt sich medial an und stabilisiert diesen Griff (▶ Abb. 7.52). Die genaue Lage der Brevisinsertion ist nicht seitlich an der Basis, sondern an ihrem proximalen Ende. Die distale Hand wird daher proniert eingestellt, damit die beschwerte Zeigefingerbeere direkt von proximal gegen die Insertion platziert wird. Die therapeutisch wirkungsvolle Bewegung wird mit Druck von plantar nach dorsal geführt (▶ Abb. 7.53).

Tipp Sollte während der Palpation entlang Sehnenscheide, Sehne oder Insertion der Peroneussehnen eine dünne Struktur unter dem palpierenden Finger rollen, handelt es sich um den N. cutaneus dorsalis lateralis, einen Ast des N. peroneus superficialis. Direkt auf der dorsalen Seite der Basis metatarsale V lässt er sich sicher aufsuchen. Eine dauerhafte Querfriktion sollte seine Lage respektieren und eine Irritation vermeiden.

7.3 Palpation des lateralen Fußrandes

Abb. 7.51 Querfriktion des M. peroneus brevis – Technik an der Sehne.

Abb. 7.53 Technik an der Insertion – alternative Ansicht.

7

Abb. 7.52 Querfriktion des M. peroneus brevis – Technik an der Insertion.

Gelenkspieltests der transversalen Tarsalgelenke Medial gehört das talonavikulare Gelenk zu diesem Gelenkkomplex, dorsal die Gelenke des Os cuboideum zum Kalkaneus bzw. zum Os naviculare und Os cuneiforme laterale und mediale das Gelenk zwischen Kalkaneus und Os cuboideum. Es ist entscheidend zu wissen, dass ein bewegtes Os cuboideum sich immer in beiden Gelenken gleichzeitig bewegt und nur der fixierte Gelenkpartner entscheidet, welches Gelenk geprüft wird und welches sich mitbewegen darf. Die Voraussetzungen für eine gelungene Durchführung von gelenkspezifischen Techniken innerhalb des Tarsus sind daher: ● genaue Kenntnisse über die Lage der jeweiligen Fußwurzelknochen

Abb. 7.54 Gelenkspieltest Art. calcaneocuboidea (C-C-Gelenk).





genaue Kenntnisse über die Lage und Ausrichtung der Gelenkspalte Erfahrung und Information über auszuübende Intensität und Geschwindigkeit

Art. calcaneocuboidea Mit der von medial kommenden Hand werden die Ferse mit etwas Valgus in ihrer Position und der Fuß insgesamt in einer neutralen Haltung stabilisiert. Die von lateral kommende Hand umgreift das Kuboid plantar und dorsal sehr lokal (▶ Abb. 7.54). Dabei sei in Erinnerung gerufen, dass das Os cuboideum dorsal bis einschließlich der IV. und plantar bis einschließlich der III. Metatarsale nach medial reicht. Die laterale Hand bewegt das Kuboid parallel der Gelenkspalte nach dorsolateral bzw. plantarmedial.

213

Fuß

Os cuboideum gegenüber Ossa naviculare und cuneiforme laterale („Zwischengelenk“) Die Position der Finger auf dem Os cuboideum bleibt exakt die gleiche. Die fixierende Hand wechselt nun vom Kalkaneus zum Os naviculare und dem lateralen Keilbein, die sich medial auf gleicher Höhe mit dem Os cuboideum befinden (▶ Abb. 7.55). Wieder wird das Os cuboideum in oben beschriebener Weise bewegt. Der Kalkaneus darf jetzt etwas den Bewegungen folgen.

7.4 Palpation des Fußrückens Abb. 7.55 Gelenkspieltest im „Zwischengelenk“.

7.4.1 Kurzfassung des Palpationsganges Die Lokalisation des Talus, als Gelenkpartner sowohl des oberen Sprunggelenkes als auch innerhalb der transversalen Tarsalgelenke, ist ein zentrales Anliegen der dorsalen Palpation. Am Fußrücken findet man auch Zugang zu vaskulären und neuralen Strukturen, die innerhalb der Befundung und Therapie eine Rolle spielen können.

ASTE Es kann eine Ausgangsstellung gewählt werden, wie sie zur Palpation am medialen bzw. lateralen Fußrand beschrieben wurde. Wichtig sind der ungehinderte Zugang zum Fußrücken und eine freie Bewegungsmöglichkeit des Fußes.

Abb. 7.56 Zugang zum Gelenkspalt OSG – in vivo.

7.4.2 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen ● ● ● ●

Gelenkspalt oberes Sprunggelenk Collum und Caput tali Gefäße am Fußrücken Nervenstrukturen dorsal

Gelenkspalt oberes Sprunggelenk (OSG) Bereits bei der Umrandung der Malleoli von medial (▶ Abb. 7.11) und lateral (▶ Abb. 7.35) ist der Zugang zum Gelenkspalt gelungen. Die genaue Lokalisierung wird durch die kräftigen Extensorensehnen deutlich erschwert. Für gelenkspezifische Techniken des OSG ist die genaue Lokalisation des Gelenkspaltes allerdings sehr wichtig.

Abb. 7.57 Zugang zum Gelenkspalt OSG.

214

Fuß

Os cuboideum gegenüber Ossa naviculare und cuneiforme laterale („Zwischengelenk“) Die Position der Finger auf dem Os cuboideum bleibt exakt die gleiche. Die fixierende Hand wechselt nun vom Kalkaneus zum Os naviculare und dem lateralen Keilbein, die sich medial auf gleicher Höhe mit dem Os cuboideum befinden (▶ Abb. 7.55). Wieder wird das Os cuboideum in oben beschriebener Weise bewegt. Der Kalkaneus darf jetzt etwas den Bewegungen folgen.

7.4 Palpation des Fußrückens Abb. 7.55 Gelenkspieltest im „Zwischengelenk“.

7.4.1 Kurzfassung des Palpationsganges Die Lokalisation des Talus, als Gelenkpartner sowohl des oberen Sprunggelenkes als auch innerhalb der transversalen Tarsalgelenke, ist ein zentrales Anliegen der dorsalen Palpation. Am Fußrücken findet man auch Zugang zu vaskulären und neuralen Strukturen, die innerhalb der Befundung und Therapie eine Rolle spielen können.

ASTE Es kann eine Ausgangsstellung gewählt werden, wie sie zur Palpation am medialen bzw. lateralen Fußrand beschrieben wurde. Wichtig sind der ungehinderte Zugang zum Fußrücken und eine freie Bewegungsmöglichkeit des Fußes.

Abb. 7.56 Zugang zum Gelenkspalt OSG – in vivo.

7.4.2 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen ● ● ● ●

Gelenkspalt oberes Sprunggelenk Collum und Caput tali Gefäße am Fußrücken Nervenstrukturen dorsal

Gelenkspalt oberes Sprunggelenk (OSG) Bereits bei der Umrandung der Malleoli von medial (▶ Abb. 7.11) und lateral (▶ Abb. 7.35) ist der Zugang zum Gelenkspalt gelungen. Die genaue Lokalisierung wird durch die kräftigen Extensorensehnen deutlich erschwert. Für gelenkspezifische Techniken des OSG ist die genaue Lokalisation des Gelenkspaltes allerdings sehr wichtig.

Abb. 7.57 Zugang zum Gelenkspalt OSG.

214

7.4 Palpation des Fußrückens

Technik Ähnlich dem Vorgehen beim radiokarpalen Gelenk wird der Gelenkspalt durch Entspannung der darüber liegenden Weichteile zugänglich. Dies wird durch eine leichte, passiv eingestellte Extension des Fußes erreicht. Der palpierende Zeigefinger kann den Einstieg vom medialen oder lateralen Malleolus aus wählen, um die vordere Tibiakante in voller Ausdehnung darzustellen. Das zu erwartende Ergebnis der Palpation mit rechtwinkliger Technik ist eine quere knöcherne Kante, die man von distal anhaken kann. Direkt distal davon befindet sich der Talus (▶ Abb. 7.56 und ▶ Abb. 7.57). Um zwischen die Sehnen zu gelangen, muss man ggf. verschieden Stellen ausprobieren und etwas druckvoller palpieren.

Collum und Caput tali

Abb. 7.58 Anhaken des Talus von lateral.

Technik Aufsuchen von lateral Im Abschnitt der Palpation der lateralen Fußseite wurde bereits beschrieben, wie man über das Ertasten der Kalkaneuskante direkt von lateral gegen den Talus anstößt (▶ Abb. 7.58). Durch die Lokalisation dieser Stelle ist die Ausdehnung des Talus nach lateral verdeutlicht. An dieser Stelle befindet sich auch der Sinus tarsi, Eingang zum Canalis tarsi.

7

Aufsuchen von medial Der Talus ist medial in einem Bereich erreichbar, der durch folgende Referenzpunkte abgegrenzt wird: ● Tuberculum mediale des Proc. posterior tali ● zwischen Malleolus medialis und Sustentaculum tali ● zwischen Malleolus medialis und Tuberositas ossis navicularis ● zwischen Sustentaculum tali und Tuberositas ossis navicularis

Abb. 7.59 Darstellung der ganzen Talusbreite – in vivo.

Das Finden dieser knöchernen Referenzpunkte wurde bereits im Kap. 7.2 ausführlich beschrieben.

Talus dorsal Um sich die Ausdehnung auf der dorsalen Seite zu verdeutlichen, sollten 2 wichtige Stellen miteinander verbunden werden: Das Erreichen des Talus von lateral und medial, zwischen Malleolus und Tuberositas ossis navicularis. Beide Stellen kann man mit Daumen und Zeigefinger anhaken (▶ Abb. 7.59 und ▶ Abb. 7.60). Die dazwischen liegende Strecke verdeutlicht die Breite des Talus (Collum und Caput tali). Abb. 7.60 Darstellung der ganzen Talusbreite – Zeichnung.

215

Fuß Jetzt kann man den zuvor angebrachten Merksatz überprüfen: Alle Streckersehnen des Fuß- und Zehenskeletts liegen über dem Talus, während sie das obere Sprunggelenk überqueren. Keine Sehne liegt dorsal des Kalkaneus, sodass die Breite des Talus anhand der gut sichtbaren Sehnen erkennbar ist. Das Os naviculare ist genauso breit wie der Talus und liegt direkt distal davon.

Gefäße am Fußrücken Technik Arteria tibialis anterior Der Einstieg zur Lokalisierung gelingt im Bereich des oberen Sprunggelenkes recht sicher. Die A. tibialis anterior liegt nach Netter (1992) und von Lanz und Wachsmuth (2003) direkt lateral der Sehne des M. extensor hallucis longus. Winkel (2004) gibt ihre Lage als sehr variabel an und empfiehlt etwas Geduld und ein eher geringes Maß an Druck, um das Gefäß zu lokalisieren. Daher wird zunächst die Sehne M. extensor hallucis longus mit isometrischer Aktivität dargestellt. Eine Fingerbeere wird daraufhin flächig mit geringem Druck einmal ● lateral zwischen die Sehnen des M. extensor hallucis longus und des M. extensor digitorum longus bzw. ● medial zwischen die Sehnen des M. extensor hallucis longus und des M. tibialis anterior aufgelegt, bis die Pulsation deutlich wird (▶ Abb. 7.61).

Abb. 7.61 Palpation der Arteria tibialis anterior.

Einmal gefunden, kann man ihre Pulsation ein gutes Stück noch am Unterschenkel nach proximal verfolgen.

Arteria dorsalis pedis Nach distal (immer noch parallel der Sehne des M. extensor hallucis longus) ist sie bis in den Mittelfußbereich spürbar. Als A. dorsalis pedis unterquert sie dann die Großzehenstreckersehne und tritt dann distal zwischen den Metatarsalia I und II an die Oberfläche. Sie ist hier wieder mit einer direkten und sehr lokalen und flächigen Palpation zu spüren (▶ Abb. 7.62).

Nervenstrukturen dorsal Das obere Sprunggelenk wird von beiden Ästen des N. peroneus überquert. Sie verlaufen in unterschiedlichen Schichten und haben lediglich sensible Qualitäten.

Technik N. peroneus profundus Die A. tibialis anterior wird in ihrem gesamten Verlauf vom N. peroneus profundus begleitet. Dieser taucht am distalen Unterschenkel aus der Streckerloge auf. Proximal ist der Nerv mit einiger Mühe etwas oberhalb des Gelenkspaltes des oberen Sprunggelenkes zu erreichen. Er stellt sich unter der spitzen Palpation direkt lateral der A. tibia-

216

Abb. 7.62 Palpation der Arteria dorsalis pedis.

7.4 Palpation des Fußrückens

N. peroneus profundus

Abb. 7.64 Palpation der Äste des N. peroneus superficialis.

Abb. 7.63 Lokalisation des N. peroneus profundus.

lis anterior in der Tiefe als rollende Struktur dar, welche nicht pulsiert und keine Regung bei Muskelaktivität zeigt (von Lanz u. Wachsmuth 2003). Der Nerv taucht dann wieder unter die Faszie des Fußrückens ab und ist der exakten Lokalisation unter den verschiedenen Sehnen nicht zugänglich. Deutlicher palpabel wird er dann wieder am distalen Metatarsus neben der A. dorsalis pedis (▶ Abb. 7.63).

N. peroneus superficialis Am Dorsum des Fußes sind 2 periphere Nervenäste zu lokalisieren, welche oberflächlich liegen und nicht von den Retinakula überspannt werden. Sie sind daher leichter zu finden und teils als feine, weißlich erscheinende Striche unter der Haut sichtbar (▶ Abb. 7.61). Beide treten etwa eine Handbreit proximal des OSG durch die Unterschenkelfaszie an die Oberfläche und gehören zum N. peroneus superficialis: ● N. cutaneus dorsalis medialis ● N. cutaneus dorsalis intermedius Unter Umständen kann man am distalen Unterschenkel die Aufspaltung des N. peroneus superficialis in seine beide Äste durch Palpation lokalisieren. Wird der Fuß passiv in eine ausgiebige Inversion gebracht, werden diese Äste in ihrer vollen Länge dem Auge und der Palpation zugänglich. Man kann den N. cutaneus dorsalis intermedius häufig bis zum Caput MT IV verfolgen. Die adäquate Technik ist eine spitze und quere Palpation, wobei man erneut versucht, diese Strukturen wie eine „Gitarrensaite anzuhaken“ (▶ Abb. 7.64). Der Verlauf führt diesen Hautnerven sehr häufig über das Lig. talo-

fibulare anterius. Dies bedeutet zum einen, dass man seinen Verlauf bei der therapeutischen Durchführung von Querfriktionen respektieren muss. Zum anderen ist es möglich, dass der Nerv infolge Operationen gedehnt bzw. Vernarbungen komprimiert werden kann. Brennende Schmerzen und Parästhesien auf dem lateralen Fußrücken sind mögliche Folgen.

7

7.4.3 Therapeutische Hinweise Gelenkspezifische Techniken am oberen Sprunggelenk Verschiedene Techniken der Manuellen Therapie greifen auf die Kenntnisse der lokalen Anatomie zurück. Hier geht es weniger darum, Tibia und Fibula fassen zu können, sondern um die Kunst, den Talus gelenknah zu erreichen. Häufig ist zu beobachten, dass der Fußrücken zu weit distal umfasst wird. Das hat zur Folge, dass mehr Gelenke in die Bewegung einbezogen werden und die Technik nicht ausschließlich das obere Sprunggelenk erreicht.

Beispiele Gleittechnik „Talus posterior“ Diese Technik ist geeignet, um die Extensionsfähigkeit des oberen Sprunggelenkes zu verbessern. Die genaue Platzierung der mobilisierenden Hand auf dem Talus garantiert den Behandlungserfolg (▶ Abb. 7.65). Die Schubrichtung des Talus ist direkt vertikal.

Gleittechnik „Tibia posterior“ Diese Technik, zum Test oder zur Verbesserung der Flexionsfähigkeit im oberen Sprunggelenk, steht und fällt mit der genauen Stabilisation des Talus, während der Unterschenkel bewegt wird. Ein häufiger Fehler in der Durchführung ist die Platzierung der fixierenden Hand weit weg vom Talus (▶ Abb. 7.66).

217

Fuß

Abb. 7.65 Rollschieben des Talus nach posterior.

Abb. 7.67 Test der Mobilität im unteren Sprunggelenk (USG).

ausgerichtet ist. Um diese Orientierung für den Mobilitätstest zu nutzen, projiziert man die Lage des Canalis tarsi auf die Fußsohle. Hierzu sucht man: ● die Lage der Kalkaneusspitze lateral auf und markiert deren Lage auf den Fußaußenrand (▶ Abb. 7.41). ● den proximalen Aspekt des Sustentaculum tali am medialen Fußrand auf und markiert deren Lage auf den medialen Fußrand (▶ Abb. 7.12)

Test der arteriellen Durchblutung

Abb. 7.66 Schaukelgleiten der Tibia und Fibula nach posterior.

Mobilitätstest im unteren Sprunggelenk Eine weitere Möglichkeit, die Anwendbarkeit lokaler topografischer Kenntnisse zu verdeutlichen, bietet der Test auf Beweglichkeit des unteren Sprunggelenkes (USG). Das untere Sprunggelenk ist bekanntermaßen äußerst komplex gebaut und zudem wichtig innerhalb der funktionellen Abläufe der belasteten Fußbewegungen. Die Überprüfung der Bewegungsfähigkeit in Richtung ● Varus – Kippen des Fersenbeines nach medial und roximal ● Valgus – Kippen des Fersenbeines nach lateral und distal ist recht schwierig und erfordert sehr viel Tastempfinden seitens des Untersuchers (▶ Abb. 7.67). Als Orientierung für die Bewegungsebene dient die Ausrichtung des Canalis tarsi, der rechtwinklig zur Umdrehungsachse des USG

218

Die Palpation der Arterien am Sprunggelenk und Fußrücken dienen der direkten Beurteilung der arteriellen Versorgung des Fußes. Das Aufsuchen der Fußpulse gehört daher zum technischen Rüstzeug von Ärzten und Therapeuten.

Querfriktionen ohne Irritation neuraler Strukturen Am Fußrücken gibt es Behandlungssituationen, die zur unabsichtlichen Irritation einer neuralen Struktur führen können. Der N. peroneus superficialis kann mit einem seiner Äste (N. cutaneus doralis intermedius) direkt über dem Lig. talofibulare anterius verlaufen (▶ Abb. 7.68). Dieses Band gehört zu den am häufigsten verletzten des Bewegungsapparates und muss daher recht oft operativ versorgt oder mit lokalen Friktionen behandelt werden. Im Rahmen der Behandlung des Bandes mit lokalen Querfriktionen kann der Therapeut diese neurale Struktur irritieren. In beiden Fällen zeigt sich eine Irritation mit Missempfindungen, Schmerzen und ggf. auch mit Parästhesien.

7.5 Palpation des distalen posterioren Unterschenkels

7.5 Palpation des distalen posterioren Unterschenkels 7.5.1 Kurzfassung des Palpationsganges Die rückwärtige Palpation dient ausschließlich der genauen Darstellung der Achillessehne und ihrer Insertion (▶ Abb. 7.68). Palpationstechniken und therapeutische Umsetzung gehen hier ineinander über und werden gemeinsam besprochen.

ASTE Als geeignete Lagerung des Patienten empfiehlt sich die Bauchlage, wobei der Fuß im Überhang liegt. So hat man einen guten Zugang zur Achillessehne und der Fuß ist frei beweglich. Der Therapeut sitzt im Allgemeinen in Verlängerung des Beines (▶ Abb. 7.69).

7.5.2 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen ● ● ●

Begrenzungen der Achillessehne Insertion des M. triceps surae Palpation auf der Sehne

7.5.3 Begrenzungen der Achillessehne Die kollagenen Anteile des M. triceps surae bündeln sich in der Achillessehne, der Tendo calcaneus. Die Köpfe des M. gastrocnemius bilden zunächst eine Sehnenplatte, in welche der M. soleus von anterior einstrahlt. Weiter kaudal verjüngen sich die Fasern zu einer frei laufenden Sehne, die durchschnittlich 15 cm lang am Tuber calcanei inseriert. Die knöcherne Anheftung ist aber keineswegs punktuell. Die Sehne verbreitert sich delta- bis halbmondförmig auf die gesamte Breite des Fersenbeins (Doral et al. 2010) und ist am Präparat auch an den seitlichen Flächen bis zur plantaren Seite des Kalkaneus erkennbar. Der klinisch wichtigste Abschnitt der Sehne liegt zwischen der Sehnenplatte und der proximalen Grenze des Kalkaneus, etwa 2–6 cm proximal der kalkanearen Insertion. In dieser Zone liegen 80 % aller Achillessehnenrupturen (Hess 2010). Abb. 7.68 M. triceps surae und Achillessehne.

7

Technik Seitliche Begrenzungen Vom Tuber calcanei ausgehend, palpiert man nach proximal und versucht, die seitlichen Grenzen der Sehne zu markieren. Diese Grenzen verfolgt man mit rechtwinkliger Palpation nach proximal, bis die sich verbreiternde Sehne keinen deutlichen Rand mehr bietet. Hier beginnt der Sehnenspiegel mit dem darunter liegenden M. soleus (▶ Abb. 7.70).

Abb. 7.69 ASTE der Palpation der Achillessehne.

219

Fuß

Abb. 7.70 Palpation der Ränder der Achillessehne.

Abb. 7.71 Palpation der Insertion der Achillessehne.

7.5.4 Insertion des M. triceps surae Die Achillessehne inseriert am proximalen Aspekt des Tuber calcanei und hiervon vor allem an den plantaren zwei Dritteln dieser Fläche. Am dorsalseitigen Drittel liegt die Bursa subcutanea calcanea.

Technik Der Fuß wird passiv in eine deutliche Flexionsposition eingestellt. Durch die Annäherung des Triceps surae lässt die Spannung der Achillessehne nach. In mehreren Palpationsschritten von proximal nach distal wird die Sehne mit einer flachen Fingerbeere nach anterior weggedrückt. Der Übergang von Sehne zum Tuber stellt sich durch einen plötzlichen Wechsel zwischen fest-elastischem zu deutlich hartem Widerstand dar (▶ Abb. 7.71). Hier beginnt das Insertionsfeld der Sehne. An dieser Stelle befindet sich sowohl subkutan als auch unterhalb der Sehne eine Bursa (Bursa subcutanea calcanea und Bursa tendinis calcanei). Bei entzündlichem Zustand lassen sich durch diesen lokalen Druck Schmerzen provozieren und ggf. eine Schwellung durch Fluktuation unter dem palpierenden Finger ertasten.

Tipp Auch in gespanntem Zustand der Wadenmuskulatur lässt sich der Übergang zwischen Sehne und Fersenbein feststellen. Der Druck, der vom palpierenden Finger erbracht werden muss, ist aber deutlich größer (▶ Abb. 7.72).

220

Abb. 7.72 Palpation der Insertion – Detailansicht der Technik.

7.5.5 Palpation auf der Sehne Nach Eingrenzung des klinisch wichtigen Feldes, in welchem sich Tendopathien, Bursitiden und Insertionstendopathien finden lassen, wird die Sehne selbst palpiert. Ziel der folgenden Palpation ist die Lokalisierung schmerzhafter Stellen innerhalb der Sehne. Um diese Stellen zu finden, benutzt man die Technik der provokativen Querfriktion in unterschiedlichen Varianten.

7.6 Literatur

Abb. 7.74 Querfriktion posterior – Detailansicht.

2. Möglichkeit

Abb. 7.73 Bilaterale Querfriktion.

Technik 1. Möglichkeit Diese Palpationstechnik benutzt den Pinzettengriff, den gleichzeitigen Einsatz von Daumen- und Zeigefingerbeere (▶ Abb. 7.73). Sie eignet sich besonders zur Lokalisierung und Behandlung randständiger Affektionen der Sehne. ▶ Ablauf der Technik ● Durch eine passive Extension des Fußes wird die Sehne vorgespannt. ● Die Finger werden drucklos nach anterior (räumlich gesehen nach unten) geführt. ● Daumen und Zeigefinger kneifen zu. ● Mit diesem Druck werden sie nach posterior gezogen. Dies ist die diagnostisch (provokative) bzw. therapeutisch wirksame Komponente der Technik.

Tipp In keiner Phase der Technik darf über die Haut gerieben werden. Reibungen der Haut haben mit großer Wahrscheinlichkeit Hautverletzungen zur Folge. Wird diese Technik diagnostisch benutzt, um die meist betroffene Stelle herauszufinden, wird die Sehne zentimeterweise abpalpiert.

Hier wird nur der Zeigefinger zur Durchführung eingesetzt. Erneut sitzt hierzu der Therapeut in Verlängerung des Unterschenkels. Die Sehne wird erneut durch Einstellung des Fußes in einer maximalen Extension vorgespannt und in dieser Position fixiert. Diese Vorspannung ist wichtig, damit die Technik auf einer stabilen Sehne ausgeführt werden kann. Bei entspannter Sehne rutscht der palpierende Finger ständig herunter. Die palpierende Hand wird von der Seite an die Sehne herangeführt. Der beschwerte Zeigefinger wird auf die Sehne gelegt, der Daumen stützt sich seitlich auf dem Malleolus ab und stabilisiert somit den Griff. Bei dem abgebildeten Beispiel wird der Zeigefinger ohne Druck, aber mit Hautkontakt nach medial und mit Druck gegen die Sehne nach lateral geführt (▶ Abb. 7.74). Analog zur 1. Technik wird diese Methode sowohl zu diagnostischen als auch zu therapeutischen Zwecken eingesetzt. Mit dieser Technik kann die gesamte Sehne auf die schmerzhafteste Stelle hin palpiert werden. Erfahrungsgemäß ist dies ca. 2 cm proximal der Kante des Tuber calcanei.

7

7.6 Literatur Abouelela AA, Zohiery AK. The triple compression stress test for diagnosis of tarsal tunnel syndrome. Foot (Edinb) 2012; 22: 146–9 Akiyama K, Takakura Y, Tomita Y et al. Neurohistology of the sinus tarsi and sinus tarsi syndrome. J Orthop Sci 1999; 4: 299–303 Athavale SA, Swathi, Vangara SV. Anatomy of the superior peroneal tunnel. J Bone Joint Surg Am 2011; 93: 564–571 Bachmann LM, Kolb E, Koller MT et al. Accuracy of Ottawa ankle rules to exclude fractures of the ankle and mid-foot: systematic review. BMJ 2003; 326: 417 Blair JM, Botte MJ. Surgical anatomy of the superficial peroneal nerve in the ankle and foot. Clin Orthop Relat Res 1994; (305): 229–238

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7.6 Literatur

Abb. 7.74 Querfriktion posterior – Detailansicht.

2. Möglichkeit

Abb. 7.73 Bilaterale Querfriktion.

Technik 1. Möglichkeit Diese Palpationstechnik benutzt den Pinzettengriff, den gleichzeitigen Einsatz von Daumen- und Zeigefingerbeere (▶ Abb. 7.73). Sie eignet sich besonders zur Lokalisierung und Behandlung randständiger Affektionen der Sehne. ▶ Ablauf der Technik ● Durch eine passive Extension des Fußes wird die Sehne vorgespannt. ● Die Finger werden drucklos nach anterior (räumlich gesehen nach unten) geführt. ● Daumen und Zeigefinger kneifen zu. ● Mit diesem Druck werden sie nach posterior gezogen. Dies ist die diagnostisch (provokative) bzw. therapeutisch wirksame Komponente der Technik.

Tipp In keiner Phase der Technik darf über die Haut gerieben werden. Reibungen der Haut haben mit großer Wahrscheinlichkeit Hautverletzungen zur Folge. Wird diese Technik diagnostisch benutzt, um die meist betroffene Stelle herauszufinden, wird die Sehne zentimeterweise abpalpiert.

Hier wird nur der Zeigefinger zur Durchführung eingesetzt. Erneut sitzt hierzu der Therapeut in Verlängerung des Unterschenkels. Die Sehne wird erneut durch Einstellung des Fußes in einer maximalen Extension vorgespannt und in dieser Position fixiert. Diese Vorspannung ist wichtig, damit die Technik auf einer stabilen Sehne ausgeführt werden kann. Bei entspannter Sehne rutscht der palpierende Finger ständig herunter. Die palpierende Hand wird von der Seite an die Sehne herangeführt. Der beschwerte Zeigefinger wird auf die Sehne gelegt, der Daumen stützt sich seitlich auf dem Malleolus ab und stabilisiert somit den Griff. Bei dem abgebildeten Beispiel wird der Zeigefinger ohne Druck, aber mit Hautkontakt nach medial und mit Druck gegen die Sehne nach lateral geführt (▶ Abb. 7.74). Analog zur 1. Technik wird diese Methode sowohl zu diagnostischen als auch zu therapeutischen Zwecken eingesetzt. Mit dieser Technik kann die gesamte Sehne auf die schmerzhafteste Stelle hin palpiert werden. Erfahrungsgemäß ist dies ca. 2 cm proximal der Kante des Tuber calcanei.

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7.6 Literatur Abouelela AA, Zohiery AK. The triple compression stress test for diagnosis of tarsal tunnel syndrome. Foot (Edinb) 2012; 22: 146–9 Akiyama K, Takakura Y, Tomita Y et al. Neurohistology of the sinus tarsi and sinus tarsi syndrome. J Orthop Sci 1999; 4: 299–303 Athavale SA, Swathi, Vangara SV. Anatomy of the superior peroneal tunnel. J Bone Joint Surg Am 2011; 93: 564–571 Bachmann LM, Kolb E, Koller MT et al. Accuracy of Ottawa ankle rules to exclude fractures of the ankle and mid-foot: systematic review. BMJ 2003; 326: 417 Blair JM, Botte MJ. Surgical anatomy of the superficial peroneal nerve in the ankle and foot. Clin Orthop Relat Res 1994; (305): 229–238

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Dorsale Weichteile am Rumpf

8 Dorsale Weichteile am Rumpf 8.1 Bedeutung der Gewebe Haut und Muskulatur stellen eigenständige sensorische Inputorgane für reflektorische (Bindegewebsmassage), energetische (Akupunktur) und lokal applizierte Therapiemethoden (z. B. Massagetherapie) dar. Die systematische Palpation in diesen Geweben wird schon seit Langem diskutiert. In der Bindegewebsmassage werden z. B. Veränderungen der Hautkonsistenz bestimmten Störungen der inneren Organe oder der Wirbelsäule zugeordnet. Die klassische Massagetherapie orientiert sich vor allem am pathologischen Muskeltonus. Die Palpation dient bei diesen Therapieformen der Befunderhebung und auch zur Verlaufskontrolle. Selten wird die Massagetherapie eingesetzt, ohne dass zuvor lokale bzw. allgemeine Verhärtungen der Muskulatur ertastet worden sind. Man muss manuell durch Haut und Muskulatur hindurch, wenn man tiefer liegende Strukturen erreichen will. Beispielsweise gelingen bestimmte segmentale Testund Behandlungsverfahren nicht ohne mäßigen Druck in die Tiefe. Wie leicht wird die Schmerzangabe eines Patienten auf reinen Druck fehlgedeutet, wenn man nicht in der Lage ist, die übereinander liegenden Gewebeschichten in ihrer Empfindlichkeit zu beurteilen. Als Therapeut sollte man nicht nur Informationen über oberflächliche Gewebe erheben können, wenn man z. B. anschließend in diesen Geweben arbeiten will (Massagetherapie, Bindegewebsmassage). Die Empfindlichkeit der oberflächlichen Gewebe muss man auch dann überprüfen, wenn man sie therapeutisch mit Druck durchdringen muss, um in tieferen Gewebeschichten zu arbeiten (Manuelle Therapie). Gerade Patienten mit chronischen Rückenbeschwerden können infolge einer zentralen Sensibilisierung eine Allodynie entwickeln. Mechanische, normal nicht schmerzhafte Reize werden bei einer Allodynie als schmerzhaft wahrgenommen. Die Palpation tiefer gelegener Strukturen in einem Gebiet durch Allodynie veränderte Wahrnehmung hindurch durchzuführen wird immer schmerzhaft wahrgenommen. Erkennt man eine Allodynie nicht, ist man je nach fachlicher Prägung geneigt, die Beschwerden auf Verdacht eher der Haut, den Faszien, der Muskulatur oder den knöchernen Anteilen zuzuordnen.

224

Abb. 8.1 Lumbale Weichteiltechnik.

8.2 Häufige therapeutische Anwendungen in dieser Region Haut und Muskulatur sind häufig Zielgewebe für: ● reflektorische Therapieformen: Bindegewebsmassage, Reflexzonentherapie nach Gläser/Dalichow usw. ● regional oder lokal applizierte Techniken: Massagetherapie, thermische Verfahren (z. B. heiße Rolle), Weichteiltechniken in der Manuellen Therapie (▶ Abb. 8.1) und mehr.

8.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse Um entsprechende Vorkenntnisse zu erwerben, benötigt selbst der Berufsanfänger nur kurze Zeit. Eine allgemeine knöcherne (▶ Abb. 8.2) und muskuläre Orientierung (▶ Abb. 8.3) im Bereich von Nacken, Rücken und Becken reicht zunächst aus. Die Techniken zur Lokalisation dieser Strukturen sind in den nachfolgenden Kapiteln beschrieben. Es gilt, 2 Voraussetzungen zu schaffen: ● einen orientierten und systematischen Palpationsgang durchzuführen sowie ● die Lage von Befunden gut beschreiben und ggf. dokumentieren zu können.

8.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen

8.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen

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8.4.1 Umfang der Palpation Vom Glutealbereich bis zum Hinterhaupt wird die Haut in ihrer gesamten Ausdehnung mitsamt den darunter liegenden Muskeln systematisch palpiert. Dies sind vor allem: Mm. glutei, M. erector spinae, M. latissmus dorsi, M. trapezius, Mm. rhomboidei, Mm. infra- und supraspinatus, M. deltoideus.

6

8.4.2 Kriterien der Palpation Was wird geprüft? ● Hautoberfläche ● Konsistenzen der Gewebe ● Sensibilität ● Schmerzempfindlichkeit auf Druck

5

2

Hautoberfläche

1 3 4

Abb. 8.2 Knöcherne Orientierung. 1 = Rand des Os sacrum, 2 = Crista iliaca, 3 = Trochanter major, 4 = Tuber ischiadicum, 5 = alle erreichbaren Procc. spinosi und Rippen, 6 = Ränder, Winkel und Fortsätze der Skapula, 7 = das Hinterhaupt bis zum Proc. mastoideus

Folgende Eigenschaften sind zu überprüfen: Glätte/Rauigkeit, Trockenheit/Feuchtigkeit, Wärme/Kälte, Behaarung, Erhebungen. Überprüfen Sie auch, ob es sich bei festgestellten Veränderungen um allgemeine oder nur lokale Erscheinungen handelt (Seitenvergleich!).

8

Tipp Versuchen Sie, zur Übung eine Sammlung von Adjektiven zusammenzustellen, die die Eigenschaften der Hautoberfläche charakterisieren, z. B. weich, derb, elastisch, gespannt, dick, pergamentartig, rissig usw.

Konsistenzen der Gewebe

4

3

Der Begriff der Konsistenz hat viele verschiedene Bedeutungen. Hier wird er als Maßstab benutzt, um die Nachgiebigkeit des Gewebes auf verschiebende oder drückende Einflüsse zu messen. In diesem Sinne prüft man eher die viskoelastischen Eigenschaften der Gewebe.

2

Merke

1

Abb. 8.3 Muskuläre Orientierung. 1 = Mm. glutei; 2 = M. erector spinae, besonders lumbale Mm. multifidi, thorakaler M. spinalis, zervikaler M. semispinalis; 3 = M. latissimus dorsi; 4 = M. trapezius, Pars descendens

Haut und Muskulatur haben eigene Begriffe für die Konsistenz. Bei der Haut spricht man von Turgor und bei der Muskulatur von Tonus. Letztlich bedeuten beide Begriffe für die Palpation das Maß an Spannung, das dem drückenden/schiebenden Finger einen bestimmten Widerstand entgegensetzt.

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8.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen

8.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen

7

8.4.1 Umfang der Palpation Vom Glutealbereich bis zum Hinterhaupt wird die Haut in ihrer gesamten Ausdehnung mitsamt den darunter liegenden Muskeln systematisch palpiert. Dies sind vor allem: Mm. glutei, M. erector spinae, M. latissmus dorsi, M. trapezius, Mm. rhomboidei, Mm. infra- und supraspinatus, M. deltoideus.

6

8.4.2 Kriterien der Palpation Was wird geprüft? ● Hautoberfläche ● Konsistenzen der Gewebe ● Sensibilität ● Schmerzempfindlichkeit auf Druck

5

2

Hautoberfläche

1 3 4

Abb. 8.2 Knöcherne Orientierung. 1 = Rand des Os sacrum, 2 = Crista iliaca, 3 = Trochanter major, 4 = Tuber ischiadicum, 5 = alle erreichbaren Procc. spinosi und Rippen, 6 = Ränder, Winkel und Fortsätze der Skapula, 7 = das Hinterhaupt bis zum Proc. mastoideus

Folgende Eigenschaften sind zu überprüfen: Glätte/Rauigkeit, Trockenheit/Feuchtigkeit, Wärme/Kälte, Behaarung, Erhebungen. Überprüfen Sie auch, ob es sich bei festgestellten Veränderungen um allgemeine oder nur lokale Erscheinungen handelt (Seitenvergleich!).

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Tipp Versuchen Sie, zur Übung eine Sammlung von Adjektiven zusammenzustellen, die die Eigenschaften der Hautoberfläche charakterisieren, z. B. weich, derb, elastisch, gespannt, dick, pergamentartig, rissig usw.

Konsistenzen der Gewebe

4

3

Der Begriff der Konsistenz hat viele verschiedene Bedeutungen. Hier wird er als Maßstab benutzt, um die Nachgiebigkeit des Gewebes auf verschiebende oder drückende Einflüsse zu messen. In diesem Sinne prüft man eher die viskoelastischen Eigenschaften der Gewebe.

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Merke

1

Abb. 8.3 Muskuläre Orientierung. 1 = Mm. glutei; 2 = M. erector spinae, besonders lumbale Mm. multifidi, thorakaler M. spinalis, zervikaler M. semispinalis; 3 = M. latissimus dorsi; 4 = M. trapezius, Pars descendens

Haut und Muskulatur haben eigene Begriffe für die Konsistenz. Bei der Haut spricht man von Turgor und bei der Muskulatur von Tonus. Letztlich bedeuten beide Begriffe für die Palpation das Maß an Spannung, das dem drückenden/schiebenden Finger einen bestimmten Widerstand entgegensetzt.

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Dorsale Weichteile am Rumpf

Sensibilität Die Kontrolle der Empfindungsfähigkeit der Haut erfolgt beiläufig während der Überprüfung der Hautoberfläche und -konsistenz. Praktisch muss das kein eigenständiger Punkt der Untersuchung sein. Entweder erhält man während der Anamnese bereits entsprechende Hinweise, die eine Abklärung während der Palpation erfordern, oder der Patient meldet sich während der Palpation von selbst.

Worauf soll geachtet werden? Sensible Ausfälle am Rumpf sind sehr selten. An den Extremitäten kann es infolge von Nervenwurzelkompressionen oder peripheren Nervenläsionen dazu schon eher kommen. Eine Hyp- oder Anästhesie am Rücken ist als bedrohlich einzustufen! Stößt man auf eines dieser Symptome, muss geklärt werden, ob sie bekannt sind oder noch weiter neurologisch untersucht werden müssen.

Vorsicht Keine Behandlung des Rückens bei nicht abgeklärten Sensibilitätsausfällen!

Sensible Ausfälle behindern die Durchführung einer Massage und anderer Maßnahmen (z. B. Elektrotherapie), da das wichtige Feedback des Patienten zur adäquaten Dosierung fehlt. Entsprechend vorsichtig müssen Sie eine solche Behandlung durchführen. Ebenso wichtig bei der Frage, ob und in welcher Dosierung behandelt werden soll, sind mögliche Überempfindlichkeiten auf Berührung. Eine Überempfindlichkeit des Gewebes auf Druck ist eine normale Erscheinung im Rahmen einer Wundheilung in der akuten, exsudativen Phase und das Ergebnis einer peripheren Sensibilisierung. Bei chronischen Schmerzpatienten ist eine Allodynie das Ergebnis der zentralen Sensibilisierung im Hinterhorn des Rückenmarks. Überempfindliche Körperpartien vermitteln bei derber Berührung Schmerzen und können daher nur mit leichten oder sehr flächigen Techniken (z. B. Streichungen aus der klassischen Massagetherapie) bzw. gar nicht manuell behandelt werden. (Zum weiteren Verständnis der Physiologie bei chronischen Schmerzen lesen Sie bitte z. B.: van den Berg F. Angewandte Physiologie, Bd. 4 – Schmerzen verstehen und beeinflussen. Stuttgart: Thieme; 2003).

selbst die Schmerzen hervorbringt. Günstigerweise wird man also mit den später beschriebenen Techniken den Schmerz des Patienten im Muskelgewebe provozieren. Sollte das nicht gelingen oder sind Haut oder Skelett die Quelle der Beschwerden, wird eine Weichteilbehandlung keine oder keine anhaltende schmerzlindernde Wirkung haben.

8.5 Kurzfassung des Palpationsganges Um den Palpationsgang zeitlich kompakt und umfassend zu gestalten, bietet sich eine gewisse Methodik an. Hierbei handelt es sich um eine Abfolge von Techniken mit zunehmender Beanspruchung der Gewebe: ● Haut ○ Bestreichen zur Überprüfung der Hautbeschaffenheit ○ Bestreichen zur Überprüfung der Hauttemperatur ○ Konsistenzprüfung der Haut mit Verschieblichkeitstests ○ Konsistenzprüfung der Haut mit Abhebeproben ○ Konsistenzprüfung der Haut mit Kiblerfalten ● Muskulatur ○ Konsistenzprüfung der Muskulatur mit queren Fingerfriktionen In ▶ Abb. 8.4 ist die entsprechende Systematik zur Konsistenzprüfung der Haut (linke Seite) und der Muskulatur (rechte Seite) dargestellt. Zur Durchführung der jeweiligen Technik benutzt man unterschiedliche Bereiche der Hand. Diese Bereiche sind, durch eine unterschiedlich dichte Verteilung von besonderen Rezeptoren, für das Erspüren bestimmter Qualitäten geeignet. Das Erfassen der Hauttemperatur beispielsweise gelingt am besten mit dem Handrücken oder den Rückseiten der Finger. Hier sind besonders viele

Verschiebbarkeit Abhebeprobe

Muskeltonusprüfung

Schmerzempfindlichkeit auf Druck Größe des Behandlungsareals, Auswahl, Geschwindigkeit und Intensitäten von Behandlungstechniken orientieren sich unter anderem an der Schmerzhaftigkeit der Gewebe. Den erwarteten Erfolg einer Behandlung der Muskulatur können Sie auch daran abschätzen, ob die Muskulatur

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Abb. 8.4 Systematik der Haut- und Muskelpalpation.

Dorsale Weichteile am Rumpf

Sensibilität Die Kontrolle der Empfindungsfähigkeit der Haut erfolgt beiläufig während der Überprüfung der Hautoberfläche und -konsistenz. Praktisch muss das kein eigenständiger Punkt der Untersuchung sein. Entweder erhält man während der Anamnese bereits entsprechende Hinweise, die eine Abklärung während der Palpation erfordern, oder der Patient meldet sich während der Palpation von selbst.

Worauf soll geachtet werden? Sensible Ausfälle am Rumpf sind sehr selten. An den Extremitäten kann es infolge von Nervenwurzelkompressionen oder peripheren Nervenläsionen dazu schon eher kommen. Eine Hyp- oder Anästhesie am Rücken ist als bedrohlich einzustufen! Stößt man auf eines dieser Symptome, muss geklärt werden, ob sie bekannt sind oder noch weiter neurologisch untersucht werden müssen.

Vorsicht Keine Behandlung des Rückens bei nicht abgeklärten Sensibilitätsausfällen!

Sensible Ausfälle behindern die Durchführung einer Massage und anderer Maßnahmen (z. B. Elektrotherapie), da das wichtige Feedback des Patienten zur adäquaten Dosierung fehlt. Entsprechend vorsichtig müssen Sie eine solche Behandlung durchführen. Ebenso wichtig bei der Frage, ob und in welcher Dosierung behandelt werden soll, sind mögliche Überempfindlichkeiten auf Berührung. Eine Überempfindlichkeit des Gewebes auf Druck ist eine normale Erscheinung im Rahmen einer Wundheilung in der akuten, exsudativen Phase und das Ergebnis einer peripheren Sensibilisierung. Bei chronischen Schmerzpatienten ist eine Allodynie das Ergebnis der zentralen Sensibilisierung im Hinterhorn des Rückenmarks. Überempfindliche Körperpartien vermitteln bei derber Berührung Schmerzen und können daher nur mit leichten oder sehr flächigen Techniken (z. B. Streichungen aus der klassischen Massagetherapie) bzw. gar nicht manuell behandelt werden. (Zum weiteren Verständnis der Physiologie bei chronischen Schmerzen lesen Sie bitte z. B.: van den Berg F. Angewandte Physiologie, Bd. 4 – Schmerzen verstehen und beeinflussen. Stuttgart: Thieme; 2003).

selbst die Schmerzen hervorbringt. Günstigerweise wird man also mit den später beschriebenen Techniken den Schmerz des Patienten im Muskelgewebe provozieren. Sollte das nicht gelingen oder sind Haut oder Skelett die Quelle der Beschwerden, wird eine Weichteilbehandlung keine oder keine anhaltende schmerzlindernde Wirkung haben.

8.5 Kurzfassung des Palpationsganges Um den Palpationsgang zeitlich kompakt und umfassend zu gestalten, bietet sich eine gewisse Methodik an. Hierbei handelt es sich um eine Abfolge von Techniken mit zunehmender Beanspruchung der Gewebe: ● Haut ○ Bestreichen zur Überprüfung der Hautbeschaffenheit ○ Bestreichen zur Überprüfung der Hauttemperatur ○ Konsistenzprüfung der Haut mit Verschieblichkeitstests ○ Konsistenzprüfung der Haut mit Abhebeproben ○ Konsistenzprüfung der Haut mit Kiblerfalten ● Muskulatur ○ Konsistenzprüfung der Muskulatur mit queren Fingerfriktionen In ▶ Abb. 8.4 ist die entsprechende Systematik zur Konsistenzprüfung der Haut (linke Seite) und der Muskulatur (rechte Seite) dargestellt. Zur Durchführung der jeweiligen Technik benutzt man unterschiedliche Bereiche der Hand. Diese Bereiche sind, durch eine unterschiedlich dichte Verteilung von besonderen Rezeptoren, für das Erspüren bestimmter Qualitäten geeignet. Das Erfassen der Hauttemperatur beispielsweise gelingt am besten mit dem Handrücken oder den Rückseiten der Finger. Hier sind besonders viele

Verschiebbarkeit Abhebeprobe

Muskeltonusprüfung

Schmerzempfindlichkeit auf Druck Größe des Behandlungsareals, Auswahl, Geschwindigkeit und Intensitäten von Behandlungstechniken orientieren sich unter anderem an der Schmerzhaftigkeit der Gewebe. Den erwarteten Erfolg einer Behandlung der Muskulatur können Sie auch daran abschätzen, ob die Muskulatur

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Abb. 8.4 Systematik der Haut- und Muskelpalpation.

8.6 Ausgangsstellung Thermorezeptoren angelegt. Mit den Fingerbeeren kann man sehr feine Kontur- und Konsistenzunterschiede der Gewebe feststellen. Die hohe Dichte an Mechanorezeptoren macht sie hierfür sehr geeignet.

8.6 Ausgangsstellung Zur Überprüfung der dorsalen Weichteile des Rumpfes ist eine neutrale und entspannte Bauchlage die geeignete Lagerung. Für vergleichbare Befundungstechniken sollte sie standardisiert sein. Eine Veränderung dieser neutralen ASTE ist natürlich möglich, wenn bestimmte Behandlungstechniken es erfordern oder wenn es dem beschwerdefreien Liegen des Patienten dient. So unterlegt man z. B. bei Arthritis eines Hüftgelenkes Becken und LWS. Die nachfolgende Beschreibung schildert diesen Idealfall und gilt als ASTE für große Teile der Kap. 9–Kap. 12. Durch eine allgemeine Inspektion des liegenden Probanden (▶ Abb. 8.5) stellt man fest, ob sich die Körperabschnitte Kopf, BWS mit Thorax und LWS mit Becken in einer Linie, also ohne seitliche Shift und Rotation, befinden. ● Der Kopf ist möglichst rotationsneutral gelagert. Die Nase wird dabei in einen entsprechend angelegten Nasenschlitz der Bank geführt. ● Die Arme liegen dem Körper an, die Finger können dabei etwas unter das Becken gesteckt werden. Alternativ können die Arme auch seitlich über die Bankränder abgelegt werden. Die Arme sollen in jedem Fall nicht auf Kopfhöhe gebracht werden, weil dadurch die Fascia thoracolumbalis gespannt und somit die Palpation verschiedener Strukturen des lumbosakralen Übergangs erschwert wird. Außerdem rotiert dadurch die Skapula und verändert die Länge verschiedener Muskeln des Schultergürtels. ● Die distalen Unterschenkel werden auf einer Fußrolle gelagert, um die Unter- und Oberschenkelmuskulatur zu entspannen. Hierauf kann auch verzichtet werden, solange sich durch Rotation der Beine die glutealen Spannungsverhältnisse nicht verändern.

Häufig wird die Frage gestellt, ob man nicht grundsätzlich Becken und LWS unterlagert und das Kopfteil der Bank absenkt. Wie viel Lordose oder Kyphose sollte man zulassen oder unterstützen? Was ist neben dem Patientengefühl die hierfür maßgebliche Orientierung? Die Antwort liefert die Inspektion der Patientenhaltung im Stand. Generell gilt: Diejenigen Kurvaturen der Wirbelsäule, die der Patient im Stand anbietet, werden auch in Bauchlage zugelassen bzw. durch Anpassen der Bank oder durch Lagerungsmaterial unterstützt. Der Therapeut steht seitlich zur Therapiebank und gegenüber der zu palpierenden Seite. Es versteht sich von selbst, dass der Therapeut auf eine ausreichend erhöhte Therapiebank mit ergonomischem Stand achtet.

8.6.1 Schwierige und alternative Ausgangsstellungen Die Ergebnisse aus Sicht- und Tastbefund weichen in aufrechter Körperhaltung (z. B. Sitz) bzw. in Seitenlage deutlich von denen in Bauchlage ab. Das liegt mit daran, dass die Haut durch den Einfluss der Schwerkraft in seitlich liegender bzw. aufrechter Körperposition am Bewegungsapparat herabhängt und daher etwas vorgespannt ist. Im freien Sitz haben die Rücken- und Nackenmuskeln aufgrund ihrer Haltearbeit einen erhöhten Tonus. Veränderungen der Muskelkonsistenz (z. B. Verspannungen) lassen sich somit sehr schlecht wahrnehmen. Möchte man die Haltearbeit der Rumpf- und Nackenmuskeln reduzieren, muss man dafür Sorge tragen, dass die Gewichte des Kopfes, der Arme und ggf. des Oberkörpers auf einer Auflage abgelegt werden können. Ein Sitz seitlich am Bankrand mit entsprechendem Lagerungsmaterial kann das ermöglichen. Wenn der aktive Tonus der Rücken- und Nackenmuskeln abgesenkt wird, neigt sich der Körper nach vorn und die Hüftflexion übersteigt 90° (Vorsicht bei frischen Endoprothesen des Hüftgelenkes). Das Resultat ist eine flektierte Position der LWS, die sich mehr oder weniger in den BWS-Bereich fortsetzt. Dadurch erhöht sich die passive Spannung aller dorsalen Faszien und der Rumpfmuskeln. Dies erhöht erneut den Widerstand, gegen den Ihre tastenden Finger arbeiten müssen.

8

Neutrale ASTE: Sitz

Abb. 8.5 Lagerung in Bauchlage.

Der neutrale Sitz vollzieht so gut wie möglich die Kurvaturen der Wirbelsäulenabschnitte nach, die der Patient im aufrechten Stand zeigt. Die beste Lagerung, um das zu erreichen, ist der freie Sitz an der Ecke einer Therapiebank. Im Allgemeinen ist diese ASTE nicht sehr stabil, daher wird eine solidere ASTE im Sitz beschrieben. Hierzu setzt sich der Patient so weit nach hinten auf die Bank, bis die Oberschenkel ganz aufliegen. Lediglich für kreislaufschwache und instabile Patienten wird empfohlen, einen Fußsohlenkontakt herzustellen. Die Knie

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8.6 Ausgangsstellung Thermorezeptoren angelegt. Mit den Fingerbeeren kann man sehr feine Kontur- und Konsistenzunterschiede der Gewebe feststellen. Die hohe Dichte an Mechanorezeptoren macht sie hierfür sehr geeignet.

8.6 Ausgangsstellung Zur Überprüfung der dorsalen Weichteile des Rumpfes ist eine neutrale und entspannte Bauchlage die geeignete Lagerung. Für vergleichbare Befundungstechniken sollte sie standardisiert sein. Eine Veränderung dieser neutralen ASTE ist natürlich möglich, wenn bestimmte Behandlungstechniken es erfordern oder wenn es dem beschwerdefreien Liegen des Patienten dient. So unterlegt man z. B. bei Arthritis eines Hüftgelenkes Becken und LWS. Die nachfolgende Beschreibung schildert diesen Idealfall und gilt als ASTE für große Teile der Kap. 9–Kap. 12. Durch eine allgemeine Inspektion des liegenden Probanden (▶ Abb. 8.5) stellt man fest, ob sich die Körperabschnitte Kopf, BWS mit Thorax und LWS mit Becken in einer Linie, also ohne seitliche Shift und Rotation, befinden. ● Der Kopf ist möglichst rotationsneutral gelagert. Die Nase wird dabei in einen entsprechend angelegten Nasenschlitz der Bank geführt. ● Die Arme liegen dem Körper an, die Finger können dabei etwas unter das Becken gesteckt werden. Alternativ können die Arme auch seitlich über die Bankränder abgelegt werden. Die Arme sollen in jedem Fall nicht auf Kopfhöhe gebracht werden, weil dadurch die Fascia thoracolumbalis gespannt und somit die Palpation verschiedener Strukturen des lumbosakralen Übergangs erschwert wird. Außerdem rotiert dadurch die Skapula und verändert die Länge verschiedener Muskeln des Schultergürtels. ● Die distalen Unterschenkel werden auf einer Fußrolle gelagert, um die Unter- und Oberschenkelmuskulatur zu entspannen. Hierauf kann auch verzichtet werden, solange sich durch Rotation der Beine die glutealen Spannungsverhältnisse nicht verändern.

Häufig wird die Frage gestellt, ob man nicht grundsätzlich Becken und LWS unterlagert und das Kopfteil der Bank absenkt. Wie viel Lordose oder Kyphose sollte man zulassen oder unterstützen? Was ist neben dem Patientengefühl die hierfür maßgebliche Orientierung? Die Antwort liefert die Inspektion der Patientenhaltung im Stand. Generell gilt: Diejenigen Kurvaturen der Wirbelsäule, die der Patient im Stand anbietet, werden auch in Bauchlage zugelassen bzw. durch Anpassen der Bank oder durch Lagerungsmaterial unterstützt. Der Therapeut steht seitlich zur Therapiebank und gegenüber der zu palpierenden Seite. Es versteht sich von selbst, dass der Therapeut auf eine ausreichend erhöhte Therapiebank mit ergonomischem Stand achtet.

8.6.1 Schwierige und alternative Ausgangsstellungen Die Ergebnisse aus Sicht- und Tastbefund weichen in aufrechter Körperhaltung (z. B. Sitz) bzw. in Seitenlage deutlich von denen in Bauchlage ab. Das liegt mit daran, dass die Haut durch den Einfluss der Schwerkraft in seitlich liegender bzw. aufrechter Körperposition am Bewegungsapparat herabhängt und daher etwas vorgespannt ist. Im freien Sitz haben die Rücken- und Nackenmuskeln aufgrund ihrer Haltearbeit einen erhöhten Tonus. Veränderungen der Muskelkonsistenz (z. B. Verspannungen) lassen sich somit sehr schlecht wahrnehmen. Möchte man die Haltearbeit der Rumpf- und Nackenmuskeln reduzieren, muss man dafür Sorge tragen, dass die Gewichte des Kopfes, der Arme und ggf. des Oberkörpers auf einer Auflage abgelegt werden können. Ein Sitz seitlich am Bankrand mit entsprechendem Lagerungsmaterial kann das ermöglichen. Wenn der aktive Tonus der Rücken- und Nackenmuskeln abgesenkt wird, neigt sich der Körper nach vorn und die Hüftflexion übersteigt 90° (Vorsicht bei frischen Endoprothesen des Hüftgelenkes). Das Resultat ist eine flektierte Position der LWS, die sich mehr oder weniger in den BWS-Bereich fortsetzt. Dadurch erhöht sich die passive Spannung aller dorsalen Faszien und der Rumpfmuskeln. Dies erhöht erneut den Widerstand, gegen den Ihre tastenden Finger arbeiten müssen.

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Neutrale ASTE: Sitz

Abb. 8.5 Lagerung in Bauchlage.

Der neutrale Sitz vollzieht so gut wie möglich die Kurvaturen der Wirbelsäulenabschnitte nach, die der Patient im aufrechten Stand zeigt. Die beste Lagerung, um das zu erreichen, ist der freie Sitz an der Ecke einer Therapiebank. Im Allgemeinen ist diese ASTE nicht sehr stabil, daher wird eine solidere ASTE im Sitz beschrieben. Hierzu setzt sich der Patient so weit nach hinten auf die Bank, bis die Oberschenkel ganz aufliegen. Lediglich für kreislaufschwache und instabile Patienten wird empfohlen, einen Fußsohlenkontakt herzustellen. Die Knie

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Dorsale Weichteile am Rumpf sind mehr als hüftbreit geöffnet, wodurch die Beckenkippung erleichtert wird. Dies ermöglicht das Einstellen einer lumbalen Lordose. BWS- und HWS-Krümmungen werden der Situation im Stand entsprechend eingestellt oder ggf. korrigiert. Die Arme des Patienten hängen locker am Körper herab, die Unterarme oder Hände liegen auf den Oberschenkeln. Der Therapeut steht seitlich zum Patienten und gegenüber der zur palpierenden Seite. Auf eine ausreichend erhöhte Therapiebank mit ergonomischem Stand wird wie immer geachtet.

Neutrale ASTE: Seitenlage Auch diese ASTE versucht, die für den Patienten natürlichen Schwingungen der Wirbelsäule nachzuvollziehen (▶ Abb. 8.6). Falls der Patient nur unter Schmerzen diese Position einnehmen kann, wird diese Lagerung natürlich so angepasst, dass ein Verweilen in Seitenlage möglich wird.

8.7 Palpationstechniken 8.7.1 Palpation der Hautoberfläche In der Systematik bezieht man alle dorsal erreichbaren Hautanteile ein. Man beginnt im Bereich des Beckens, hier vor allem am Os sacrum und an der Crista iliaca und palpiert bis zum Hinterhaupt. Man achtet dabei auf die Beschaffenheit und die Temperaturverteilung der Haut (s. auch Kap. 1.4.1).

Technik – Hautoberfläche Durch systematisches und ruhiges Bestreichen der Haut mit der flachen Hand werden die Beschaffenheit der Hautoberfläche, ihre Rauigkeit usw. geprüft ▶ Abb. 8.7).

Merke

Technik – Hauttemperatur

Ansonsten gilt folgende Kurzformel: neutral für Seitneigung, neutral für Rotation ohne forcierte Kyphosen oder Lordosen.

Mit dem Handrücken bzw. der Rückseite der Finger nimmt man die Temperatur der Haut wahr (▶ Abb. 8.8). Dabei achtet man auf eventuelle Unterschiede im Links-

Dies erreicht man, indem der Patient möglichst gut erreichbar auf die Seite gelagert wird und zunächst so viel Lagerungsmaterial unter LWS und HWS platziert wird, bis diese Wirbelsäulenabschnitte keine Seitneigung mehr zeigen. Dies ist interindividuell mit sehr unterschiedlichem Aufwand verbunden. Hierauf stellen Sie den Oberkörper und das Becken rotationsneutral ein: Beide Beckenhälften und beide Schultern liegen übereinander. Beide Beine sollten möglichst übereinander liegen. Die Hüftgelenke sind dabei nicht mehr als 70° gebeugt, um die LWS nicht aus einer lordotischen Einstellung zu bringen. Die Kniegelenke haben eine deutliche Flexion. Kontrollieren Sie zuletzt die Kopfposition noch einmal. Auch die Schulter sollte neu-

Abb. 8.6 Lagerung in Seitenlage.

228

tral eingestellt sein. Stehen Sie auf der Rückenseite des Patienten und achten Sie erneut auf eine ausreichend erhöhte Therapiebank mit ergonomischem Stand.

Abb. 8.7 Palpation der Hautbeschaffenheit.

Abb. 8.8 Palpation der Hauttemperatur.

Dorsale Weichteile am Rumpf sind mehr als hüftbreit geöffnet, wodurch die Beckenkippung erleichtert wird. Dies ermöglicht das Einstellen einer lumbalen Lordose. BWS- und HWS-Krümmungen werden der Situation im Stand entsprechend eingestellt oder ggf. korrigiert. Die Arme des Patienten hängen locker am Körper herab, die Unterarme oder Hände liegen auf den Oberschenkeln. Der Therapeut steht seitlich zum Patienten und gegenüber der zur palpierenden Seite. Auf eine ausreichend erhöhte Therapiebank mit ergonomischem Stand wird wie immer geachtet.

Neutrale ASTE: Seitenlage Auch diese ASTE versucht, die für den Patienten natürlichen Schwingungen der Wirbelsäule nachzuvollziehen (▶ Abb. 8.6). Falls der Patient nur unter Schmerzen diese Position einnehmen kann, wird diese Lagerung natürlich so angepasst, dass ein Verweilen in Seitenlage möglich wird.

8.7 Palpationstechniken 8.7.1 Palpation der Hautoberfläche In der Systematik bezieht man alle dorsal erreichbaren Hautanteile ein. Man beginnt im Bereich des Beckens, hier vor allem am Os sacrum und an der Crista iliaca und palpiert bis zum Hinterhaupt. Man achtet dabei auf die Beschaffenheit und die Temperaturverteilung der Haut (s. auch Kap. 1.4.1).

Technik – Hautoberfläche Durch systematisches und ruhiges Bestreichen der Haut mit der flachen Hand werden die Beschaffenheit der Hautoberfläche, ihre Rauigkeit usw. geprüft ▶ Abb. 8.7).

Merke

Technik – Hauttemperatur

Ansonsten gilt folgende Kurzformel: neutral für Seitneigung, neutral für Rotation ohne forcierte Kyphosen oder Lordosen.

Mit dem Handrücken bzw. der Rückseite der Finger nimmt man die Temperatur der Haut wahr (▶ Abb. 8.8). Dabei achtet man auf eventuelle Unterschiede im Links-

Dies erreicht man, indem der Patient möglichst gut erreichbar auf die Seite gelagert wird und zunächst so viel Lagerungsmaterial unter LWS und HWS platziert wird, bis diese Wirbelsäulenabschnitte keine Seitneigung mehr zeigen. Dies ist interindividuell mit sehr unterschiedlichem Aufwand verbunden. Hierauf stellen Sie den Oberkörper und das Becken rotationsneutral ein: Beide Beckenhälften und beide Schultern liegen übereinander. Beide Beine sollten möglichst übereinander liegen. Die Hüftgelenke sind dabei nicht mehr als 70° gebeugt, um die LWS nicht aus einer lordotischen Einstellung zu bringen. Die Kniegelenke haben eine deutliche Flexion. Kontrollieren Sie zuletzt die Kopfposition noch einmal. Auch die Schulter sollte neu-

Abb. 8.6 Lagerung in Seitenlage.

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tral eingestellt sein. Stehen Sie auf der Rückenseite des Patienten und achten Sie erneut auf eine ausreichend erhöhte Therapiebank mit ergonomischem Stand.

Abb. 8.7 Palpation der Hautbeschaffenheit.

Abb. 8.8 Palpation der Hauttemperatur.

8.7 Palpationstechniken rechts-Vergleich bzw. zu benachbarten kranialen oder kaudalen Regionen. Häufig wird beobachtet, dass der Bereich des Beckens oder der LWS kühler ist, ohne dass dies einen Krankheitswert haben muss.

8.7.2 Palpation der Hautkonsistenz (Turgor) Der Flüssigkeitshaushalt der Haut bestimmt deren Konsistenz, die wir anhand von Elastizitätsproben feststellen können. Das Ziel ist es herauszufinden, wie elastisch die Haut insgesamt ist und ob es unterschiedlich elastische Bereiche gibt, die womöglich Auskunft über eine reflektorische Antwort der Haut auf pathologische Reize, z. B. innerer Organe, gibt.

Merke Bei den Tests, die einen direkten Seitenvergleich ermöglichen, ist darauf zu achten, dass die Prüfung der Konsistenz im selben Abstand zur Wirbelsäule erfolgt. Unterschiedliche Abstände haben auch unterschiedliche Palpationsergebnisse zur Folge. Eine Bewertung ist dann nicht mehr zuverlässig.

Kriterien Bei allen Tests verformt man die Haut zunächst mit wenig Kraft und strafft sie, bis die Bewegung gestoppt wird. Dabei bewertet man das Ausmaß der Verformung, das man bis dahin erreicht hat und spürt, wie schnell die Spannung zustande kam. Anschließend übt man rhythmisch kleine dehnende Reize aus und spürt erneut die Elastizität, mit der die Haut hier noch antwortet. Prinzipiell unterscheiden sich dieses Vorgehen und die dabei angelegten Kriterien nicht von einer passiven Bewegungsprüfung oder einem Gelenkspieltest. Das Ausmaß der Gewebeverformung gelingt nur mit gut dosierter Intensität, was besonders dem Berufsein-

Abb. 8.9 Verschieblichkeitstest.

steiger bei der Palpation eine erhebliche Konzentration abverlangt.

Technik – Verschieblichkeitstest Das ist der einfachste und am wenigsten provozierende Test. Die flachen Hände werden mit wenig Druck auf die Hautoberfläche gelegt und sanft nach kranial geschoben, bis die zunehmende Spannung der Haut die Bewegung bremst (▶ Abb. 8.9). Man führt den Test langsam rhythmisch durch und achtet dabei vor allem auf den Widerstand, den das Gewebe der Bewegung entgegenbringt und den Weg, den beide Hände dabei auf der Körperoberfläche zurücklegen. Der zu prüfende Bereich umfasst das Areal vom Os sacrum über die Beckenkämme nach lateral, paravertebral bis zum zervikothorakalen Übergang und beide Skapulae (s. auch ▶ Abb. 8.4). Bei sehr empfindlicher Haut ist dies der einzige Test, um eine Aussage über die Hautkonsistenz zu erhalten. Die beiden folgenden sind aggressiver.

Technik – Abhebeprobe Der nächst intensivere Test verformt die Haut rechtwinklig zur Oberfläche. Auch dieser Test kann zu beiden Seiten gleichzeitig durchgeführt werden. Mit Daumen und wenigen Fingerbeeren wird eine Hautpartie ergriffen. Die sich bildende Falte wird von der Oberfläche weggezogen (▶ Abb. 8.10). Hier gelten die gleichen Kriterien: Widerstand des Gewebes und zurückgelegter Weg. Bei adipösen Menschen und Menschen mit einem hohen Turgor ist das kaum möglich. Häufig wird auch beobachtet, dass dies im lumbalen Bereich nicht gelingt, was jedoch nicht mehr als eine Normvariante ist. Diese Abhebeproben erfolgen mit mehrfacher Wiederholung üblicherweise paravertebral etwa von S 3–Th 1. An den Extremitäten wird dieser Test unter der Bezeichnung „Hautfaltentest“ geführt.

8

Abb. 8.10 Abhebeprobe.

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Dorsale Weichteile am Rumpf

Abb. 8.11 Kiblerfalte.

Technik – Kiblerfalte Diese Technik verbindet die rechtwinklige Abhebeprobe mit der parallelen Verschiebung. Sie hat eine sehr hohe Aussagekraft, ist allerdings recht aggressiv, technisch anspruchsvoller und kann nur einseitig durchgeführt werden. Es wird dabei wie bei der Abhebeprobe mit beiden Händen auf einer Seite eine Hautfalte genommen. Diese Hautfalte wird nun zügig paravertebral vom lumbosakralen Gebiet nach kranial durchgezogen (▶ Abb. 8.11). Dabei versucht man, das Abheben der Falte immer maximal zu halten und die Falte während der Bewegung nicht zu verlieren. Die Fingerbeeren ziehen immer neue Haut heran und die Daumen geben den Schub nach kranial. Alle 3 vorgestellten Tests sollten bezüglich der Elastizität und Empfindlichkeit zum gleichen Ergebnis führen. Ist dies nicht der Fall, müssen die Techniken überprüft werden oder der Patient wird erneut befragt. Die Tests dehnen die Haut unterschiedlich stark. Ein empfindliches oder deutlich geschwollenes Areal lässt sich mit dem Verschiebetest sicher befunden, kleine Konsistenzunterschiede sind besonders gut mit der intensiv dehnenden Kiblerfalte festzustellen. Bei der Arbeit am Patienten reicht dem erfahrenen Therapeuten die Durchführung von lediglich einem der geeigneten Tests.

8.7.3 Palpation der Muskelkonsistenz (Tonusprüfung) Die meisten Weichteiltechniken am Rumpf dienen der Beeinflussung einer pathologisch veränderten Muskelkonsistenz (Muskeltonus). Nur ein Befund bei der Muskeltonusprüfung rechtfertigt den Einsatz von Weichteiltechniken (z. B. Massagetherapie). Daher muss die systematische Erfassung des Muskelzustands zum Beginn einer Behandlungsserie und auch zu Beginn jeder Sitzung einbezogen werden. Die Aussagen des Patienten über die Entwicklung seiner Beschwerden reichen zur sicheren Beobachtung des Therapieverlaufs nicht aus.

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Das Erspüren des Gewebewiderstandes der Muskulatur benötigt eine bestimmte Intensität, eine geeignete Technik und eine sichere Systematik (s. auch ▶ Abb. 8.4). Die Tonuspalpation beginnt, nachdem man die Haut gegen die Körperfaszie gedrückt hat. Somit kann sie keine weiteren Infos mehr geben. Weiterhin hängt der eingesetzte Druck von der Größe bzw. Dicke des palpierten Muskels ab. Die eingesetzte Technik ist daher die quere Fingerfriktion. Im glutäalen und lumbalen Bereich sollte sie immer mit einer beschwerten Hand erfolgen, damit auch tiefer liegende Muskelpartien, z. B. der M. piriformis, erreicht werden können. Im thorakalen, zervikalen Bereich und an der Skapula sollte das mit beiden Händen erfolgen, um Zeit zu sparen. Zunächst wird die Muskulatur mit großen Bewegungen der palpierenden Hand im Muskelgewebe „gescannt“. Hierbei versucht man, sich einen schnellen Überblick über den Zustand der Konsistenz zu verschaffen. Erst wenn Abweichungen festzustellen sind, spürt man sehr lokal mit kleineren Bewegungen in der Muskulatur den genauen Zustand und Umfang der Veränderung. Dieses Vorgehen spart Zeit und ist effektiv. Sollten dabei Schmerzen zu provozieren sein, muss dieser Verhärtung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden (s. Kap. 8.8.4). Prinzipiell sind globale oder lokale Verhärtungen von Muskelpartien durch eine intensive quere Palpation gut zu finden. Während der beruflichen Ausbildung wird die Palpation noch eigenständig vorgestellt und trainiert, während sie später meist zusammen mit der Inspektion durchgeführt wird. Jedem Berufseinsteiger ist es jedoch zu empfehlen, Sicht- und Tastbefund voneinander zu trennen, um die jeweiligen Sinne zu trainieren.

Techniken ●









Man beginnt zunächst mit einer einhändig beschwerten Fingerfriktion gluteal am Rand des Os sacrum. Weiter quer auf dem M. gluteus maximus und dem darunter liegenden M. piriformis. Nach lateral zu den kleinen Glutei (▶ Abb. 8.12,▶ Abb. 8.12a) in einem Raum zwischen Crista iliaca und Trochanter major. Paravertebral am lumbalen M. erector spinae (▶ Abb. 8.12, ▶ Abb. 8.12b). Bei einem sehr muskulösen Rückenstrecker muss man die Palpation aufteilen und zum einen mehr medial und zum anderen mehr lateral tasten. Paravertebral am thorakalen M. erector spinae bis etwa auf Höhe von Th 1. In den meisten Fällen kann man ab hier beide Hände gleichzeitig zur Palpation benutzen. Das Beschweren der Palpationshand, um genügend Druck in die Tiefe zu bringen, ist nicht mehr notwendig.

8.7 Palpationstechniken

a

b

c

d

8

Abb. 8.12 Muskeltonusprüfung. a Muskeltonusprüfung gluteal. b Muskeltonusprüfung lumbal. c Muskeltonusprüfung entlang der Skapula. d Muskeltonusprüfung zervikal.











Entlang der Margo medialis scapulae im Bereich des M. rhomboideus und M. trapezius, Pars transversa und ascendens (▶ Abb. 8.12, ▶ Abb. 8.12c). Auf der Skapula von medial nach lateral zur Überprüfung der Mm. infra- und supraspinatus. Auf dem Bauch des M. trapezius, Pars descendens, nach medial zurück. Paravertebral und subokzipital an den Nackenmuskeln (▶ Abb. 8.12, ▶ Abb. 8.12d). Bei Patienten mit beanspruchten oder schmerzhaften Schultergelenken kann man einen erhöhten Muskeltonus der Adduktoren erwarten. Dann palpiert man lateral an der Skapula zum Ertasten der Konsistenz der Mm. latissimus dorsi, teres major und teres minor. Eine weitere Palpation im Deltamuskel ist dann auch sinnvoll, da man hier eher einen Tonusverlust infolge einer Inaktivität vermuten kann.

Tipp Die osteofibröse Ummantelung durch Fortsätze der Wirbel und die Fascia thoracolumbalis formen den lumbalen Rückenstrecker zu einem einheitlichen Muskelpaket. Verschiedene Grifftechniken der klassischen Massagetherapie bzw. Funktionsmassagen machen es sich zunutze, dass man die Muskulatur komplett von der Dornfortsatzreihe nach lateral wegschieben kann. Thorakal ist der Rückenstrecker kein einheitliches Paket mehr: ● die Muskelmasse nimmt ab ● die Fascia thoracolumbalis endet etwa in Höhe von Th 7–8 ● direkt neben den Procc. spinosus liegt der M. spinalis

Die palpierenden Finger müssen, um die Muskelschichten zu erreichen, nicht nur durch die Haut, sondern auch durch die Körperfaszie. Diese ist nicht an jeder Stelle des Rückens gleich stark gebaut (s. auch Kap. 1.4.4). Wenn man weiß, wie die Faszien beschaffen sind, kann man mit der richtigen Erwartung an die Konsistenz des Muskelgewebes herangehen.

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Dorsale Weichteile am Rumpf

8.8 Hinweise zur Behandlung Zunächst wird die Palpation der dorsalen Weichteile interpretiert. Dabei soll überlegt werden, wie man bei einer Schmerzangabe des Patienten so systematisch vorgehen kann, dass sich das Gewebe, das die Quelle der Schmerzen ist, klar abgrenzen lässt. Danach werden mögliche Ergebnisse aus den einzelnen Tastbefunden besprochen. Es schließen sich Beispiele mit therapeutischem Bezug zum Schwerpunkt Muskelbehandlung an.

8.8.1 Differenzierung zwischen den Geweben Wie kann man herausfinden, welches Gewebe betroffen ist? Der Druck einer Palpation bei hyperästhetischer oder hyperalgetischer Haut wird als unangenehm empfunden. Zudem ist es jedem klar, dass sich ein gewisser Palpationsdruck, z. B. im Rückenstrecker, auch als kleine Bewegung in den Wirbelsegmenten fortsetzt. Wie bestimmt man also sicher das betroffene Gewebe, wenn der Druck Schmerzen verursacht? Wir wollen dies anhand einer paravertebralen Palpation in Höhe der mittleren BWS erörtern. Stellen Sie sich bitte die Situation am Patienten vor. Sie führen die Palpation des Rückenstreckers mit querer Friktion systematisch von kaudal nach kranial durch. Etwa in Höhe der Skapula meldet sich der Patient, weil er Ihren Druck als sehr unangenehm empfindet. Die Frage ist nun: Ist mit Sicherheit eine Muskelverhärtung die Ursache der angegeben Schmerzen? Um dies zu beantworten, müssen Sie jetzt differenzieren. Ist die Haut druckempfindlich? Eigentlich müssten wir hierzu schon eine Aussage aus der Prüfung der Hautkonsistenz haben. Eventuell wurde etwas übersehen und man wiederholt den Hautkonsistenztest, der die Haut am meisten stresst: die Kiblerfalte. Also ziehen Sie jetzt die Kiblerfalte großzügig und im Seitenvergleich über das betroffene Gebiet. Äußert der Patient die gleichen Beschwerden wie beim lokalen Druck, ist die Haut die Quelle des Druckschmerzes. Eine genaue Aussage über den Zustand der tiefer liegenden Strukturen ist durch eine Palpation nicht möglich. Wenn eine Muskelbehandlung (z. B. Weichteiltechnik oder Massagetherapie) trotz empfindlicher Haut angewandt wird, muss diese sehr vorsichtig und flächig erfolgen. Ist die Wirbelsäule die Ursache der Beschwerden? Platzieren Sie die flache Hand direkt auf der Wirbelsäule und geben Sie einen an- und abschwellenden Druck mit allmählich zunehmender Intensität (▶ Abb. 8.13). Sollte das nicht deutlich genug sein, können Sie im schmerzhaften Gebiet mit der ulnaren Handkante auf Dorn- und Querfortsätzen die gleiche Technik ausüben. Äußert der Patient die gleichen Beschwerden wie bei der Palpation zuvor, ist die Wirbelsäule zumindest teilweise die Quelle der Beschwerden.

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Abb. 8.13 Vorsichtige Provokation der BWS.

Abb. 8.14 Vorsichtige Provokation der Rippengelenke.

Sind die Rippen-Wirbelgelenke druckempfindlich? Bei mageren Patienten ist es manchmal schwierig, eine Myogelose von einem empfindlichen Rippengelenk zu unterscheiden. Beides ist sehr lokal und sehr fest. Eine lokale Muskelverhärtung (Begriffe wie Myogelose oder Triggerpunkt werden hier synonym verstanden) lässt sich allerdings meistens etwas zur Seite verschieben, was man von einer Rippe nicht erwartet. Zur Sicherheit platzieren Sie die ulnare Handkante oder einen beschwerten Daumen im Verlauf der Rippe und üben wieder einen langsam wippenden Druck mit ansteigender Intensität senkrecht auf die Rippe aus (▶ Abb. 8.14) (s. auch Kap. 12.7). Ist dies der schmerzhafteste Test, so ist die Ursache bei einem gereizten oder blockierten Rippen-Wirbelgelenk zu suchen. Eine alleinige Muskelbehandlung wird hier vermutlich keine endgültige Abhilfe verschaffen. Sollte die Provokation von Haut, Wirbelsäule oder Rippen-Wirbelgelenken nicht deutlich sein, können Sie sicher sein, dass es nur die Muskulatur ist, die empfindlich und die Ursache für die Beschwerden des Patienten ist. Erinnern Sie sich vor allem dann an diese Differenzierung, wenn Sie der Meinung sind, dass die bisher ein-

8.8 Hinweise zur Behandlung gesetzten Weichteilbehandlungen dauerhaft nicht zum Ziel führen.

Tipp ●

Beachten Sie mögliche Kontraindikationen, bevor Sie Druck auf Wirbelsäule oder Rippen ausüben!

8.8.2 Interpretation der Palpation der Hautoberfläche Die wichtigsten Fragen, die sich hier anschließend stellen, sind: ● Bietet die Haut Anlässe, Tests tieferer Strukturen oder Behandlungen nicht durchzuführen? Anlässe hierzu können Erkrankungen oder Verletzungen der Haut sein. Sie kann aber auch spröde, rissig, pergamentartig sein, sodass sich eine starke Verformung, z. B. durch eine Massagetherapie, verbietet. Akne, Narben und Lipome grenzen die zu behandelnde Fläche ebenfalls ein. Chronifizierungen von Schmerzen und Störungen des peripheren Nervensystems können zur Hyperalgesie oder Hyperästhesie führen. Der Druck der Therapeutenhand würde dann unter Umständen als sehr unangenehm empfunden werden. Auch hier ist eine Behandlung fragwürdig. ● Mit welcher Intensität kann vermutlich gearbeitet werden, wenn eine manuelle Technik möglich ist? ● Falls klassische Massagetherapie eingesetzt wird: Wie viel Massagemittel soll benutzt werden?

8.8.3 Interpretation der Palpation der Hautkonsistenz (Turgor) Alle 3 vorgestellten Tests sollten zu dem gleichen Ergebnis führen. Die festgestellte Elastizität und Empfindlichkeit sollten gleich sein. Ist dies nicht der Fall, müssen die Techniken überprüft oder der Patient erneut befragt werden. Diese Tests beanspruchen die Haut unterschiedlich hoch auf Dehnung (s. auch Kap. 1.4.1). Der Flüssigkeitshaushalt wird vom Sympathikus geregelt. Über- oder unterschwellige nozizeptive Afferenzen aus den Anteilen eines neurologischen Segmentes (Enterotom, Sklerotom, Myotom) machen sich reflektorisch durch veränderte Flüssigkeitsansammlungen deutlich. Sie können im Rahmen der Inspektion als Einziehungen oder Aufquellungen zu erkennen sein. Zur weiteren Erklärung lesen Sie bitte einschlägige Literatur zum Thema Reflexzonentherapie. Bestimmte Konsistenzveränderungen, insbesondere Einziehungen oder Verhaftungen der Haut, können durch manuelle Techniken (Hautrollungen, Hänge-Packe-Griffe usw.) positiv beeinflusst werden. Die Hautpalpation bei Patienten mit Erkrankungen der Lunge und Bronchien (Asthma bronchiale, Z. n. Pneumonie) zeigt solche Befunde.

8.8.4 Interpretation der Palpation der Muskelkonsistenz (Tonus) Entscheidend für die Interpretation der Muskelkonsistenz ist die Erwartung, die man mit einem „normal gespannten“ Gewebe und den damit verbundenen zu erspürenden Widerständen verbindet. Man kann davon ausgehen, dass ein Muskelgewebe auf einen senkrecht ausgeübten Druck sehr nachgiebig ist und sich weich und sehr elastisch anfühlt. Die Palpation bei Patienten zeigt häufig ganz andere Ergebnisse.

Merke Die Konsistenz des Muskelgewebes kann sich in beide Richtungen aus physiologischen und pathologischen Gründen verändern. Sie kann weicher oder fester als erwartet sein.

Weichere Konsistenzen findet man im Rahmen einer Atrophie nach Immobilität oder Verletzungen sowie Erkrankungen des Nervensystems, die mit schlaffen Lähmungen einhergehen. Festere Konsistenzen werden als Muskelhartspann interpretiert, wenn der ganze Muskel oder große Anteile betroffen sind. Kleinere Areale werden als lokale Muskelverhärtung (Myogelose oder Triggerpunkt) bezeichnet (s. auch Kap. 1.4.4). Neben diesen, als pathologisch zu wertenden festeren Konsistenzen kann es auch ganz normal Abweichungen von der Erwartung an eine normale Konsistenz geben.

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Was bedeutet es, wenn man eine Muskelverhärtung gefunden hat? Nicht jede Muskelverhärtung muss behandelt werden. Interessant sind diejenigen Verhärtungen, die schmerzhaft sind und zu dem vom Patienten als schmerzhaft angegebenen Gebiet passen. Weiterhin interessieren natürlich diejenigen Muskelverhärtungen, die ein sicheres Erreichen tiefer liegender Strukturen (z. B. Facettengelenke) erschweren. Sie finden während der Palpation eine ungewöhnliche Verhärtung in der untersuchten Muskulatur. Um den pathologischen Wert zu ermitteln und herauszufinden, wie wichtig diese Verhärtung für den Patienten ist, empfiehlt sich eine bestimmte Frageroutine: ● Frage 1: Spüren Sie diese Verhärtung? ○ Falls das mit „nein“ beantwortet wird, messen Sie Ihrem Befund keinen Wert zu. ○ Falls das mit „ja“ beantwortet wird, fragen Sie weiter. ● Frage 2: Ist mein Druck auf die Verhärtung unangenehm? ○ Falls das mit „nein“ beantwortet wird, messen Sie Ihrem Befund keinen Wert zu.

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Dorsale Weichteile am Rumpf Falls das mit „ja“ beantwortet wird, fragen Sie weiter. Frage 3: Gehört diese Verhärtung zu dem Gebiet, das Ihnen Ihre Beschwerden bereitet? ○ Falls das mit „nein“ beantwortet wird, messen Sie Ihrem Befund weniger Wert zu. ○ Falls das mit „ja“ beantwortet wird, merken Sie sich Ihren Befund als besonders wichtig und tragen Sie ihn ggf. in eine Bodychart ein. ○ ●

Mit dieser Frageroutine können Sie Ihren Behandlungsaufbau mit Weichteiltechniken oder Massagetherapie beschwerdeorientiert und individuell gestalten. Sie vermeiden es somit auch, zu viel Zeit in weniger wichtige Muskelareale zu investieren. Berücksichtigen Sie in Ihrer Therapieplanung vor allem diejenigen Verhärtungen, die ● mit der 3. Frage auffällig wurden, ● einen Zugang zu tiefer liegenden Strukturen verwehren, ● zur Eingewöhnung und Vorbehandlung von manualtherapeutischen Techniken wichtig sind.

8.9 Behandlungsbeispiele Merke Ausführliche Anleitungen zu einer Reihe von mehreren Behandlungsbeispielen werden im Fachbuch Massagetherapie beschrieben (Reichert 2015). Daher werden hier nur 2 Beispiele aufgeführt.

8.9.1 Funktionsmassage der LWS mit Bewegung in Seitneigung Diese Funktionsmassage erfordert eine schmerzfreie lumbale Seitneigung. Daher ist sie nur nach vorheriger Funktionsprüfung und nach Abklärung der Kontraindikationen einzusetzen. Der tonussenkende und mobilisierende Effekt ist allerdings besonders groß und rechtfertigt diese Vorüberlegungen. Die Kontraindikationen sind: ● alle akut schmerzhaften lumbalen Beschwerden ● ausgeprägte lumbale Instabilitäten ● Arthritiden und starke Bewegungseinschränkungen eines Hüftgelenkes ● Hüft-TEP ● alle weiteren Kontraindikationen zur Physiotherapie

ASTE Der Patient befindet sich in neutraler Seitenlage. Die zu behandelnde Seite liegt oben. Beide Hände des Therapeuten fassen paravertebral den oben liegenden Rückenstrecker. Der kraniale Unterarm des Therapeuten stützt sich etwas gegen den Thorax ab, der kaudale Unterarm liegt auf dem Becken zwischen Trochanter major und der Crista iliaca (▶ Abb. 8.15).

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Abb. 8.15 Lumbale Funktionsmassage mit Seitneigung, ASTE.

Technik ▶ Phase 1. Der umfasste Rückenstrecker wird seitwärts (räumlich nach oben hin) verformt. Dabei ziehen die Fingerkuppen und die Daumen öffnen sich etwas. ▶ Phase 2. Um die Technik zu intensivieren, üben beide Unterarme einen Schub gegen ihre Stützpunkte aus, wobei der kaudale Arm 80 % schiebt (▶ Abb. 8.16). Die Aufgabe des kranialen Unterarmes ist es, die Mitbewegung des Thorax zu behindern, nicht die Seitneigung zu forcieren! Das Resultat sollte eine Seitneigung der LWS sein (in diesem Beispiel nach rechts). Hierdurch wird die Querdehnung der Phase 1 mit einer Längsdehnung des Rückenstreckers kombiniert. ▶ Phase 3. Bei eher jungen Patienten und schmerzfreier Seitneigungsbewegung kann man die Unterschenkel des Patienten als Hebel zur Vergrößerung der Seitneigung einsetzen. Dabei lässt man die Unterschenkel des Patienten über die Bankkante hinaushängen (Phase 3a, ▶ Abb. 8.17). Bei Schub des Unterarmes gegen das Becken (Phase 3b, ▶ Abb. 8.18) senkt der Patient die Unterschenkel ab → die Seitneigung wird enorm verstärkt. Diese enorme Beanspruchung der LWS kann man nicht jedem Patienten zumuten. Daher sind zu dieser Technik ein paar Kontraindikationen zu beachten.

Tipp Um die Muskulatur im lumbosakralen Übergang zu erreichen, kann jede Ausführungsvariante dieser Technik mit einer veränderten Grifftechnik durchgeführt werden (▶ Abb. 8.19). Dabei hakt nur die kraniale Hand des Therapeuten den Rückenstrecker von medial an. Die kaudale Hand liegt auf dem Becken und unterstützt nur die Seitneigung. Sie hat dabei keinen Kontakt mehr zur Rückenmuskulatur.

Dorsale Weichteile am Rumpf Falls das mit „ja“ beantwortet wird, fragen Sie weiter. Frage 3: Gehört diese Verhärtung zu dem Gebiet, das Ihnen Ihre Beschwerden bereitet? ○ Falls das mit „nein“ beantwortet wird, messen Sie Ihrem Befund weniger Wert zu. ○ Falls das mit „ja“ beantwortet wird, merken Sie sich Ihren Befund als besonders wichtig und tragen Sie ihn ggf. in eine Bodychart ein. ○ ●

Mit dieser Frageroutine können Sie Ihren Behandlungsaufbau mit Weichteiltechniken oder Massagetherapie beschwerdeorientiert und individuell gestalten. Sie vermeiden es somit auch, zu viel Zeit in weniger wichtige Muskelareale zu investieren. Berücksichtigen Sie in Ihrer Therapieplanung vor allem diejenigen Verhärtungen, die ● mit der 3. Frage auffällig wurden, ● einen Zugang zu tiefer liegenden Strukturen verwehren, ● zur Eingewöhnung und Vorbehandlung von manualtherapeutischen Techniken wichtig sind.

8.9 Behandlungsbeispiele Merke Ausführliche Anleitungen zu einer Reihe von mehreren Behandlungsbeispielen werden im Fachbuch Massagetherapie beschrieben (Reichert 2015). Daher werden hier nur 2 Beispiele aufgeführt.

8.9.1 Funktionsmassage der LWS mit Bewegung in Seitneigung Diese Funktionsmassage erfordert eine schmerzfreie lumbale Seitneigung. Daher ist sie nur nach vorheriger Funktionsprüfung und nach Abklärung der Kontraindikationen einzusetzen. Der tonussenkende und mobilisierende Effekt ist allerdings besonders groß und rechtfertigt diese Vorüberlegungen. Die Kontraindikationen sind: ● alle akut schmerzhaften lumbalen Beschwerden ● ausgeprägte lumbale Instabilitäten ● Arthritiden und starke Bewegungseinschränkungen eines Hüftgelenkes ● Hüft-TEP ● alle weiteren Kontraindikationen zur Physiotherapie

ASTE Der Patient befindet sich in neutraler Seitenlage. Die zu behandelnde Seite liegt oben. Beide Hände des Therapeuten fassen paravertebral den oben liegenden Rückenstrecker. Der kraniale Unterarm des Therapeuten stützt sich etwas gegen den Thorax ab, der kaudale Unterarm liegt auf dem Becken zwischen Trochanter major und der Crista iliaca (▶ Abb. 8.15).

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Abb. 8.15 Lumbale Funktionsmassage mit Seitneigung, ASTE.

Technik ▶ Phase 1. Der umfasste Rückenstrecker wird seitwärts (räumlich nach oben hin) verformt. Dabei ziehen die Fingerkuppen und die Daumen öffnen sich etwas. ▶ Phase 2. Um die Technik zu intensivieren, üben beide Unterarme einen Schub gegen ihre Stützpunkte aus, wobei der kaudale Arm 80 % schiebt (▶ Abb. 8.16). Die Aufgabe des kranialen Unterarmes ist es, die Mitbewegung des Thorax zu behindern, nicht die Seitneigung zu forcieren! Das Resultat sollte eine Seitneigung der LWS sein (in diesem Beispiel nach rechts). Hierdurch wird die Querdehnung der Phase 1 mit einer Längsdehnung des Rückenstreckers kombiniert. ▶ Phase 3. Bei eher jungen Patienten und schmerzfreier Seitneigungsbewegung kann man die Unterschenkel des Patienten als Hebel zur Vergrößerung der Seitneigung einsetzen. Dabei lässt man die Unterschenkel des Patienten über die Bankkante hinaushängen (Phase 3a, ▶ Abb. 8.17). Bei Schub des Unterarmes gegen das Becken (Phase 3b, ▶ Abb. 8.18) senkt der Patient die Unterschenkel ab → die Seitneigung wird enorm verstärkt. Diese enorme Beanspruchung der LWS kann man nicht jedem Patienten zumuten. Daher sind zu dieser Technik ein paar Kontraindikationen zu beachten.

Tipp Um die Muskulatur im lumbosakralen Übergang zu erreichen, kann jede Ausführungsvariante dieser Technik mit einer veränderten Grifftechnik durchgeführt werden (▶ Abb. 8.19). Dabei hakt nur die kraniale Hand des Therapeuten den Rückenstrecker von medial an. Die kaudale Hand liegt auf dem Becken und unterstützt nur die Seitneigung. Sie hat dabei keinen Kontakt mehr zur Rückenmuskulatur.

8.9 Behandlungsbeispiele

Abb. 8.16 Lumbale Funktionsmassage mit Seitneigung, Technik – Phase 2.

Abb. 8.19 Lumbosakrale Grifftechnik.

Reziproke Hemmung für Phase 2 Ziel ist es, eine Hemmung des zu behandelnden oben liegenden Rückenstreckers durch Aktivität der Muskulatur auf der unten liegenden Seite zu erzielen. Hierzu muss man den Patienten anleiten, das oben liegende Becken nach kaudal zu schieben. Er kann diese Bewegung nur durch Aktivität der unten liegenden (und damit Hemmung der oben liegenden) lumbalen Muskulatur erreichen. Diese Bewegung setzt der Patient genau in dem Augenblick ein, in dem beide Arme des Therapeuten die Seitneigung forcieren.

Abb. 8.17 Lumbale Funktionsmassage mit Seitneigung, Technik – Phase 3a.

Abb. 8.18 Lumbale Funktionsmassage mit Seitneigung, Technik – Phase 3b.

Um einen noch intensiveren Effekt zu erzielen, kann man die Bewegungen des Beckens und der Beine (in Phase 3) und damit der LWS mit neurophysiologischen Tricks verstärken: ● reziproke Hemmung ● postisometrische Relaxation

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Postisometrische Relaxation für Phase 3 Der entspannende Effekt nach einer isometrischen Anspannung wird in der Fachliteratur diskutiert. Ein neurophysiologischer Beweis lässt sich derzeit nicht beschreiben. Da dieses Prinzip in der Praxis funktioniert, ist es wichtig, den Patienten vermehrt in die Durchführung einzubeziehen, ihn auf das Wahrnehmen von Anspannung und Entspannung zu fokussieren und auch Zeit für die Entspannung zu geben. In Durchführung von Phase 3 hebt der Patient beide Unterschenkel auf Bankhöhe, hält sie für wenige Sekunden, nimmt die Anspannung an LWS und Becken wahr, lässt die Unterschenkel sinken und spürt die Entspannung. Dann erst forciert der Therapeut die Seitneigung manuell und verformt den M. erector spinae.

8.9.2 Funktionsmassage des M. trapezius in Seitenlage Eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten, tonussenkend auf den so häufig schmerzhaften und verspannten absteigenden Teil des M. trapezius einzuwirken, ist die Funktionsmassage in Seitenlage. Die Technik verbindet eine Längsdehnung (Schultergürtelbewegung) mit einer manuellen Querdehnung. Da Patienten häufig ihre Schultergürtelmuskulatur nicht gut entspannen können, emp-

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Dorsale Weichteile am Rumpf fiehlt es sich, zuvor einige passive Bewegungen in Protraktion, Retraktion, Elevation und Depression sowie in den diagonalen Richtungen einzubringen. Zugleich kann man überprüfen, ob die benötigten Bewegungen von den Schultergürtelgelenken schmerzfrei zugelassen werden. Die Techniken selbst starten aus einer leichten Annäherung des M. trapezius und gehen mit diagonalen Bewegungen der Schulter einher. Die verformende Hand am M. trapezius übt einen gegenläufigen Schub oder Druck am Muskelbauch aus.

ASTE Der Patient liegt in neutraler Seitenlage und rutscht so weit wie möglich zur Seite des Therapeuten an die Bankkante. Hier steht der Therapeut und gibt dem Patienten mit seinem Körper halt. Eine Hand liegt oben auf dem Schultergelenk und führt den Schultergürtel. Die zweite Hand packt mit einem „Pfötchengriff“ den absteigenden M. trapezius.

Durchführung der Funktionsmassage Der Muskel wird durch eine leichte Elevation mit Protraktion (Skapula nach vorne oben) etwas angenähert. Mit dem Daumenballen wird der Muskel nach vorne geschoben, ohne dass die Hand auf der Haut rutscht → Querdehnung. Der Schultergürtel wird in eine ausgiebige Depression mit Retraktion (Skapula nach hinten unten) geführt (▶ Abb. 8.20) → Längsdehnung. Sollte der Muskelbauch unter der Hand rutschen, beendet man die Dehnung.

Tipp Falls bei der zuvor beschriebenen Technik der Handballen ständig über den Angulus superior reibt, kann man diesen durch eine ausgiebige Außenrotation der Skapula nach kaudal wegdrehen, wodurch die verformende Hand am M. trapezius mehr Platz erhält (Variante nach Matthias Grötzinger, ohne Abbildung). Dies erfolgt durch eine ausgiebige passive Armhebung (Flexion im Schultergelenk von mindestens 90°), die ständig gehalten werden muss.

Tipp Die Effektivität der Technik wird noch gesteigert, indem man durch eine Seitneigung weg von der behandelten Seite (Absenken des Kopfteiles oder Verzicht auf das Kopfkissen) eine größere Vordehnung des erreicht. Der dehnende Effekt wird dadurch erheblich größer (ohne Abbildung). Achtung: Die Seitneigung muss für den Patienten schmerzfrei möglich sein. Daher wird diese Bewegung vor der Technik überprüft. Als eine weitere Variante lässt sich die Querverformung des Trapezius mit Depression und Protraktion mit simultanem Zug des Muskels nach dorsal durchführen. Im Kap. 13.8 wird eine weitere zervikale Funktionsmassage vorgestellt.

8.10 Literatur Abb. 8.20 Funktionsmassage des M. trapezius in Seitenlage.

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Reichert B. Massage-Therapie. Stuttgart: Thieme; 2015 Van den Berg F (Hrsg.). Angewandte Physiologie, Band 4: Schmerzen verstehen und beeinflussen. Stuttgart: Thieme; 2003

Dorsale Weichteile am Rumpf fiehlt es sich, zuvor einige passive Bewegungen in Protraktion, Retraktion, Elevation und Depression sowie in den diagonalen Richtungen einzubringen. Zugleich kann man überprüfen, ob die benötigten Bewegungen von den Schultergürtelgelenken schmerzfrei zugelassen werden. Die Techniken selbst starten aus einer leichten Annäherung des M. trapezius und gehen mit diagonalen Bewegungen der Schulter einher. Die verformende Hand am M. trapezius übt einen gegenläufigen Schub oder Druck am Muskelbauch aus.

ASTE Der Patient liegt in neutraler Seitenlage und rutscht so weit wie möglich zur Seite des Therapeuten an die Bankkante. Hier steht der Therapeut und gibt dem Patienten mit seinem Körper halt. Eine Hand liegt oben auf dem Schultergelenk und führt den Schultergürtel. Die zweite Hand packt mit einem „Pfötchengriff“ den absteigenden M. trapezius.

Durchführung der Funktionsmassage Der Muskel wird durch eine leichte Elevation mit Protraktion (Skapula nach vorne oben) etwas angenähert. Mit dem Daumenballen wird der Muskel nach vorne geschoben, ohne dass die Hand auf der Haut rutscht → Querdehnung. Der Schultergürtel wird in eine ausgiebige Depression mit Retraktion (Skapula nach hinten unten) geführt (▶ Abb. 8.20) → Längsdehnung. Sollte der Muskelbauch unter der Hand rutschen, beendet man die Dehnung.

Tipp Falls bei der zuvor beschriebenen Technik der Handballen ständig über den Angulus superior reibt, kann man diesen durch eine ausgiebige Außenrotation der Skapula nach kaudal wegdrehen, wodurch die verformende Hand am M. trapezius mehr Platz erhält (Variante nach Matthias Grötzinger, ohne Abbildung). Dies erfolgt durch eine ausgiebige passive Armhebung (Flexion im Schultergelenk von mindestens 90°), die ständig gehalten werden muss.

Tipp Die Effektivität der Technik wird noch gesteigert, indem man durch eine Seitneigung weg von der behandelten Seite (Absenken des Kopfteiles oder Verzicht auf das Kopfkissen) eine größere Vordehnung des erreicht. Der dehnende Effekt wird dadurch erheblich größer (ohne Abbildung). Achtung: Die Seitneigung muss für den Patienten schmerzfrei möglich sein. Daher wird diese Bewegung vor der Technik überprüft. Als eine weitere Variante lässt sich die Querverformung des Trapezius mit Depression und Protraktion mit simultanem Zug des Muskels nach dorsal durchführen. Im Kap. 13.8 wird eine weitere zervikale Funktionsmassage vorgestellt.

8.10 Literatur Abb. 8.20 Funktionsmassage des M. trapezius in Seitenlage.

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Reichert B. Massage-Therapie. Stuttgart: Thieme; 2015 Van den Berg F (Hrsg.). Angewandte Physiologie, Band 4: Schmerzen verstehen und beeinflussen. Stuttgart: Thieme; 2003

Dorsales Becken

9 Dorsales Becken 9.1 Bedeutung der Beckenregion Das Becken ist das kinetische und kinematische Zentrum des Bewegungsapparates. Es ist der Mittelpunkt der funktionellen Einheit „Lenden-Becken-Hüft-Region“ (LBHRegion). Hier treffen sich die kinematischen Ketten der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten. Als solches muss das Becken den unterschiedlichsten biomechanischen Anforderungen, vor allem in aufrechten Körperpositionen, standhalten. Vleeming meint dazu (persönliche Mitteilung):

Merke „Die Kernstabilität des Körpers beginnt im Becken, damit die 3 Hebel – Beine und Wirbelsäule – sicher bewegt werden können!“

An diese Anforderungen hat sich das Becken im Laufe der stammesgeschichtlichen Evolution angepasst (▶ Abb. 9.1): Mit der großen und ausladenden Darmbeinschaufel garantiert es eine große Ursprungsfläche und somit muskuläre Voraussetzungen für den aufrechten Stand: Glutealmuskulatur, Rücken- und Bauchmuskeln. Mit diesen ausragenden Flächen umgeben die Ossa ilii schützend einige Organe. Das Sakroiliakalgelenk (SIG) hat sich enorm vergrößert, der ligamentäre Apparat erheblich verstärkt. Die lastübertragende Strecken zwischen SIG und der Hüftgelenkspfanne bzw. den Tubera ischiadica reduzierten und verstärkten sich. Die Position des Os sacrum bleibt in der Sagittalebene in den Bauchraum hinein geneigt. Dies ermöglicht die lumbale Lordose, fördert die Stoßdämpfung und wird aufwendig ligamentär gesichert.

Abb. 9.1 Phylogenese des Beckens.

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Die sakroiliakale Mobilität ist an das Lebensalter und an das Geschlecht gebunden. Das Ausmaß wird bei Frauen unter anderem hormonell gesteuert und ermöglicht während der Entbindung eine dynamische Anpassung des Geburtskanals durch Bewegungen des Beckens. Die Zunahme an Mobilität im Hüftgelenk, vor allem in Extension, ist ebenfalls eine Folge der stammesgeschichtlichen Entwicklung. Der Hüftkopf ordnet sich in das Körperlot ein. Beim Gehen wird der Trochanterpunkt in der mittleren Standbeinphase nach vorne transportiert. Die Beckenmuskulatur nimmt an Kraft und Ausdauer zu und ermöglicht die ökonomische Aufrechterhaltung gegen die Schwerkraft sowie einen sicheren Stand auf einem Fuß. Das Becken dämpft Impulse aus den Beinen und vergrößert den Bewegungsspielraum des Hüftgelenkes durch recht schnell weiterlaufende Bewegungen auf die lumbale Wirbelsäule. Insgesamt sind die phylogenetischen Anpassungen ein gut sichtbares Beispiel für die morphologischen und funktionellen Anpassungen des gesamten Bewegungsapparates, die durch 3 Aspekte maßgeblich geprägt wurden: ● bipede Fortbewegung ● Greiffunktion der Hände ● räumliche Einstellung des Kopfes

9.2 Häufige therapeutische Anwendungen Durch diese intensive Beanspruchung des Beckens für unterschiedliche Aufgaben steht es auch häufig im Mittelpunkt des therapeutischen Interesses bei Beschwerden der LBH-Region (LWS, Becken, Hüfte). In der Befunderhebung steht jeder Therapeut vor einer besonderen Aufgabe, den Grund für Schmerzen in Gesäß oder Leiste herausfinden zu wollen. Als Schmerzgeneratoren (Gewebe, die einen Schmerz verursachen) kommen infrage: ● lumbale, ggf. auch tiefthorakale Strukturen ● die Sakroiliakalgelenke und deren Ligamente ● Strukturen des Hüftgelenkes ● Nerven der Glutealregion ● muskuläre Anteile Letztere können als primäre oder sekundäre Schmerzquelle hyperton und druckdolent in Erscheinung treten. In der Haut der Glutealregion sind zudem verschiedene innere Organe in den Head-Zonen repräsentiert. So ist der Beckengürtel Ort bestimmter befundtechnischer und therapeutischer Maßnahmen. International ist eine Vielzahl an Provokations- und Mobilitätstests der Sakroiliakalgelenke beschrieben worden (Vleeming et al. 2006). Jede Lehrgruppe mit manualtherapeutischen Lehrinhalten benutzt ihre eigenen. Eine internationale Stan-

9.2 Häufige therapeutische Anwendungen

M. piriformis

N. ischiadicus

Abb. 9.4 Variationsanatomie des N. ischiadicus.

Abb. 9.2 Sakroiliakale Mobilisation.

M. piriformis

N. ischiadicus

Abb. 9.3 Lage und Verlauf des N. ischiadicus.

dardisierung ist noch nicht absehbar. Sakrum und Ilium werden sowohl zum Befund als auch zur Behandlung häufig gegeneinander bewegt (▶ Abb. 9.2). Ein gut platzierter und sicherer Griff ist hier sehr wichtig. Bei der lokalen palpatorischen Orientierung ist es unbedingt erforderlich, bestimmte ossäre Referenzpunkte (Crista iliaca, anteriore und posteriore Spinae) sicher zu erreichen. Bestimmte periphere Nerven, die die Glutealregion auf dem Weg zu ihrem Erfolgsorgan passieren, können lokal irritiert werden. Dies ist beim N. ischiadicus an 2 Stellen möglich (▶ Abb. 9.3): ● Kompressionsneuropathie durch einen sehr kontrakten M. piriformis (Piriformis-Syndrom) ● Friktion direkt am Tuber ischiadicum und an der Ursprungssehne der ischiokruralen Muskeln (HamstringSyndrom; Puranen u. Orava 1988).

Eine sichere und detaillierte Palpation mit Druck kann die vorhergehende funktionelle Untersuchung bestätigen. Das Piriformis-Syndrom tritt aufgrund einer Kompression nur dann auf, wenn mindestens ein Teil des N. ischiadicus durch den Muskelbauch des M. piriformis hindurch tritt. Nach Vleeming (persönl. Mitteilung) verläuft der fibulare Anteil lediglich bei 4–10 % der Menschen durch den Muskelbauch des M. piriformis (▶ Abb. 9.4). Eine Kompression des Nervs nur durch eine (anhaltende) Muskelkontraktion ist nicht zu erwarten, da der Muskel auf der dem Nerv zugewandten Seite glatt und fibrös ist. Zudem kann sein 4 cm langer Muskelbauch bei der Kontraktion nicht so verdicken, dass der Nerv hierdurch komprimiert oder gedehnt werden könnte. Mit der Suche nach lokalen muskulären Verhärtungen, die als eigenständiger Schmerzgenerator fungieren können, beschäftigt sich die Triggerpunktbehandlung nach Travell und Simons (1998). Auch Dvořák beschäftigt sich innerhalb der manuellen Diagnostik mit muskulären Maximalpunkten, die Hinweise zur Höhenlokalisation von sakroiliakalen und lumbalen Beschwerdeursachen liefern können (Dvořák 1998). Er bezeichnet die druckdolenten Stellen als Tendinosen und Irritationszonen. Hierbei dient die lokale Anatomie in vivo dazu, die jeweiligen muskulären Strukturen aufzusuchen oder die aufgefundene druckdolente Stelle dem jeweiligen betroffenen Muskel zuzuordnen. Die therapeutische Beeinflussung muskulärer Pathologien erfolgt durch klassische Massagetechniken, wie z. B. Knetungen (▶ Abb. 9.5) oder lokale Friktionen (▶ Abb. 9.6) bzw. verschiedene Sondertechniken. Die Ausführung erfolgt viel genauer, wenn man den hierzu zur Verfügung stehenden Raum gut kennt und in der Lage ist, eine gesuchte muskuläre Struktur sicher wahrzunehmen.

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Dorsales Becken

Abb. 9.5 Knetung gluteal.

Abb. 9.8 Palpation der Beckenbodenaktivität.

9.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Abb. 9.6 Lokale Friktion gluteal.

Abb. 9.7 Palpation auf Bursitis.

Eine weitere Aufgabe der gezielten Palpation ist die Bestätigung von Bursitiden mit lokalem und direktem Druck (▶ Abb. 9.7) (z. B. bei einer Form der schnappenden Hüfte) bzw. das Wahrnehmen muskulärer Aktivität des Beckenbodens direkt medial des Tuber ischiadicum (▶ Abb. 9.8).

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Das Becken (Pelvis) ist das anatomische und funktionelle Zentrum der „Lenden-Becken-Region“. Am Os sacrum treffen sich 2 Bewegungskomplexe: Wirbelsäule und Becken. Dies bedeutet, dass sich Bewegungen der Wirbelsäule direkt auf das Becken übertragen und umgekehrt. Am Becken sind einige Stellen von statischer und dynamischer Bedeutung: Basis ossis sacri, Crista iliaca, SIG, Symphysis pubica, Tuber ischiadicum. Hier werden unterschiedliche Kräfte, z. B. durch Lastübertragung im Sitz oder Stand, verarbeitet. Wichtige Bandstrukturen bzw. Muskeln inserieren dort. Über die knöcherne Zusammensetzung des Beckens ist sich die anatomische Literatur erstaunlicherweise nicht einig. F. H. Netter (2004) zählt nur die beiden Hüftbeine hinzu. Insgesamt soll hier das Becken als knöcherner Ring mit 3 großen Anteilen verstanden werden: 2 Ossa coxae (bestehend aus Os ilium, Os ischium und Os pubis) und Os sacrum (▶ Abb. 9.9). Die jeweiligen Anteile sind durch bewegliche und unbewegliche Knochenverbindungen zusammengefügt: ● bewegliche: 2 SIG und die Symphysis pubica ● unbewegliche: y-förmige Synostose am Azetabulum sowie Synostose zwischen Ramus ischiadicum und Ramus inferior ossis pubis, knöcherne Verbindung der ursprünglich eigenständigen sakralen Wirbel an den Lineae transversae. Die beweglichen Verbindungen ermöglichen eine gewisse Flexibilität des Beckens, das dynamische Impulse aus kranialer bzw. kaudaler Richtung auffängt. Stoßdämpfung ist ein wichtiges Prinzip der unteren Extremität, das sich am Becken fortsetzt. Diese Flexibilität schafft zudem einen allmählichen Übergang zwischen den eher rigiden Strukturen des Beckens und den mobilen lumbalen Segmenten.

Dorsales Becken

Abb. 9.5 Knetung gluteal.

Abb. 9.8 Palpation der Beckenbodenaktivität.

9.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Abb. 9.6 Lokale Friktion gluteal.

Abb. 9.7 Palpation auf Bursitis.

Eine weitere Aufgabe der gezielten Palpation ist die Bestätigung von Bursitiden mit lokalem und direktem Druck (▶ Abb. 9.7) (z. B. bei einer Form der schnappenden Hüfte) bzw. das Wahrnehmen muskulärer Aktivität des Beckenbodens direkt medial des Tuber ischiadicum (▶ Abb. 9.8).

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Das Becken (Pelvis) ist das anatomische und funktionelle Zentrum der „Lenden-Becken-Region“. Am Os sacrum treffen sich 2 Bewegungskomplexe: Wirbelsäule und Becken. Dies bedeutet, dass sich Bewegungen der Wirbelsäule direkt auf das Becken übertragen und umgekehrt. Am Becken sind einige Stellen von statischer und dynamischer Bedeutung: Basis ossis sacri, Crista iliaca, SIG, Symphysis pubica, Tuber ischiadicum. Hier werden unterschiedliche Kräfte, z. B. durch Lastübertragung im Sitz oder Stand, verarbeitet. Wichtige Bandstrukturen bzw. Muskeln inserieren dort. Über die knöcherne Zusammensetzung des Beckens ist sich die anatomische Literatur erstaunlicherweise nicht einig. F. H. Netter (2004) zählt nur die beiden Hüftbeine hinzu. Insgesamt soll hier das Becken als knöcherner Ring mit 3 großen Anteilen verstanden werden: 2 Ossa coxae (bestehend aus Os ilium, Os ischium und Os pubis) und Os sacrum (▶ Abb. 9.9). Die jeweiligen Anteile sind durch bewegliche und unbewegliche Knochenverbindungen zusammengefügt: ● bewegliche: 2 SIG und die Symphysis pubica ● unbewegliche: y-förmige Synostose am Azetabulum sowie Synostose zwischen Ramus ischiadicum und Ramus inferior ossis pubis, knöcherne Verbindung der ursprünglich eigenständigen sakralen Wirbel an den Lineae transversae. Die beweglichen Verbindungen ermöglichen eine gewisse Flexibilität des Beckens, das dynamische Impulse aus kranialer bzw. kaudaler Richtung auffängt. Stoßdämpfung ist ein wichtiges Prinzip der unteren Extremität, das sich am Becken fortsetzt. Diese Flexibilität schafft zudem einen allmählichen Übergang zwischen den eher rigiden Strukturen des Beckens und den mobilen lumbalen Segmenten.

9.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Os coxae

Crista iliaca

Os sacrum

männliches Becken

Spina iliaca ant. sup.

Art. sacroiliaca

Symphysis pubica Angulus pubis

Abb. 9.9 Anteile des knöchernen Beckens. weibliches Becken

Linea arcuata

9.3.1 Geschlechtsabhängige Unterschiede In nahezu jedem Anatomiebuch werden die geschlechtsspezifischen Besonderheiten des knöchernen Beckens dargestellt. Zusammengefasst liegen die Besonderheiten in den unterschiedlichen Ausprägungen, die sich an der Darmbeinschaufel und den Sitzbeinhöckern am deutlichsten zeigen. Das männliche Becken wird insgesamt als hoch und schmal, das weibliche als breiter und gedrungener beschrieben. Die Dimensionen des weiblichen Beckens sind daher als phylogenetische Anpassung an die Erfordernisse des Geburtskanals während der Entbindung anzusehen.

Tuber ischiadicum

9

Abb. 9.10 Geschlechtsabhängige Unterschiede und knöcherne Referenzpunkte.

▶ Die Unterschiede im Einzelnen: ● Die Darmbeinschaufeln sind beim männlichen Becken höher und schmaler. ● Der innere Ring des Beckens oder auch die Beckeneingangsebene bzw. Linea arcuata ist beim männlichen Becken eher rund, beim weiblichen Becken eher queroval. ● Das Zusammentreffen der beiden unteren Schambeinäste erzeugt beim weiblichen Becken einen Bogen (Arcus pubis), beim männlichen wird es eher als Winkel (Angulus pubis) beschrieben. Diese unterschiedlichen Ausprägungen der knöchernen Anatomie des Beckens haben natürlich auch eine Bedeutung für die lokale Anatomie in vivo. Sie bestimmen die jeweiligen topografischen Erwartungen an die gesuchte Struktur (▶ Abb. 9.10): ● Die Cristae werden gerne zur schnellen Orientierung im lumbalen Bereich genutzt. Der meist kraniale Anteil der Crista iliaca liegt bei Männern höher als bei Frauen. ○ Die Verbindungslinie der meist kranialen Aspekte der Cristae (Jacoby-Linie) liegt nach McGaugh et al. (2007) – bei Männern zu 59 % in Höhe des Proc. spinosus von L 4, zu 22 % in Höhe des Interspinalraumes L 4/L 5 und zu 14 % in Höhe des Proc. spinosus von L 5.

Arcus pubis



– bei Frauen zu 46 % in Höhe des Proc. spinosus von L 4, zu 28 % in Höhe des Interspinalraumes L 4/L 5 und zu 26 % in Höhe des Proc. spinosus von L 5. Allerdings benötigt es eine sehr saubere Palpation der knöchernen Kante, um das Level L 4 zu identifizieren. Chakraverty (2007) und Pysyk et al. (2010) geben zu bedenken, dass eine manuelle Palpation tendenziell höhere Level (L 3 bzw. L 3/L 4) erreicht. ○ Die Spina iliaca anterior superior (SIAS) wird, wie auch die Crista iliaca, bevorzugt zur Höhendiagnostik innerhalb des Beckens aufgesucht. Beim weiblichen Becken kann man davon ausgehen, dass diese Spinae einen deutlichen größeren Abstand haben als beim männlichen und daher weiter lateral gesucht werden müssen. Die unteren Schambeinäste treffen beim männlichen Becken in einem wesentlich spitzeren Winkel aufeinander. Daher sind auch die Tubera ischiadica bei der Palpation deutlich weiter medial zu erwarten als beim weiblichen Becken.

241

Dorsales Becken

9.3.2 Os coxae Das Os coxae ist, nach Abschluss des Skelettwachstums, das größte zusammenhängende Knochengebilde des Bewegungsapparates. Von einer zentralen Ansammlung an Knochenmasse im Bereich des Azetabulums gehen 2 große Flächen nach kranial und kaudal ab: ● kraniale Fläche = Ala ossis ilii. Sie ist komplett knöchern und an den Rändern mit kräftigen Kanten und Vorsprüngen verstärkt (Crista iliaca und diverse Spinae). Mittelständig ist die Darmbeinschaufel zwar knöchern, aber eher dünn und ggf. sogar perforiert. ● kaudale Fläche = Rami des Sitz- und Schambeines mit einer zentralen kollagenen Platte (Membrana obturatoria). Legt man jeweils eine Ebene tangential auf diese Flächen, so erkennt man, dass diese in einem Winkel von 90° zueinander stehen (▶ Abb. 9.11). Beide Flächen des Hüftbeines dienen an ihren hervorstehenden Kanten und Fortsätzen sowie an ihren planen Anteilen Muskeln und Ligamenten als Ursprungs- und Ansatzmöglichkeiten. Im anatomischen Präparat erkennt man, dass die Darmbeinschaufel nahezu komplett zwischen den kleinen Glutei und dem M. iliacus eingepackt ist. Ähnlich stellt sich die Membrana obturatoria zwischen den Mm. obturatorii externus und internus dar. Eine Reihe von aktiven dynamischen Einflüssen wirkt demnach auf das Hüftbein ein. Neben den erwähnten knöchernen Verstärkungen an den Rändern beider Flächen des Os coxae sowie der zentralen Knochenmasse erkennt man weitere Anteile mit erheblichen spongiösen Verdickungen (▶ Abb. 9.12): ● Entlang der Linea arcuata, die das große von dem kleinen Becken abteilt, wird die Körperlast im Stand vom SIG zum Azetabulum und auch in umgekehrter Richtung übertragen (1). ● Bei Sitzpositionen erfolgt die Lastübertragung zwischen SIG und Tuber ischiadicum (2). ● Druck- und Zugbelastungen werden über den oberen Schambeinast von dem Hüftbein auf die Symphyse weitergeleitet (3). Die Übertragung der Körperlast von der Wirbelsäule auf das Becken wird am SIG bewerkstelligt. Dies sind immerhin ca. 60 % des Gesamtkörpergewichtes in aufrechter Körperhaltung.

242

kraniale Fläche

läche ale F kaud

Abb. 9.11 Flächendarstellung am Os coxae.

1

3

2

Abb. 9.12 Spongiöse Verstärkungen im Os coxae.

9.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

9.3.3 Os sacrum Der dritte und zentrale Anteil des knöchernen Beckens ist das Os sacrum. Es ist bekanntlich ein Zusammenschluss von meistens 5 ursprünglich eigenständigen Wirbeln. Die endgültige Ossifikation zu einem einheitlichen Knochen erfolgt erst in der 5. Lebensdekade. Vorher sind noch Reste knorpeliger Zwischenscheiben vorhanden.

Lage und Position Im Medianschnitt des Beckens erkennt man Lage und Stellung dieses kyphotischen Wirbelsäulenabschnitts im Becken. Die erkennbare Neigung des Sakrums in den Beckenraum hinein kann durch einen Winkel zwischen der Transversalebene und einer Tangente auf der Deckplatte von S 1 errechnet werden (Kapandji 2006). Im Allgemeinen beträgt dieser ca. 30° (▶ Abb. 9.13).







Die Position des Os sacrum hat einige Folgen: Sie ist die Basis für die lumbale Lordose und somit der Doppel-S-Form der Wirbelsäule. Die sakrale Spitze wird nach dorsal herausgestellt und vergrößert den unteren Anteil des Geburtsweges (Beckenausgangsebene). Vertikale Belastungen werden in aufrechter Haltung weniger in translatorische, sondern mehr in rotatorische Bewegungen umgewandelt (Tendenz zur Nutation), die von der SIG-Konstruktion und dem starken ligamentären Apparat aufgefangen werden.

In der dorsalen Aufsicht wird die markante Form des Os sacrum (▶ Abb. 9.14) deutlich. Sie wird von verschiedenen Strukturen geprägt: ● Deckplatte von S 1 (Basis ossis sacri) ● Sakrumseiten: ○ S 1–S 3 = Facies auricularis und Tuberositas sacralis (beide nicht palpabel) ○ S 3–S 5 = Sakrumrand (palpabel) ● Verbindung der inferior-lateralen Pole Nun wird deutlich, dass die Form des Os sacrum nicht dreieckig, sondern eher trapezförmig ist.

Detailanatomie 30°

Abb. 9.13 Stellung des Os sacrum.

Die dorsale Aufsicht zeigt weitere interessante Details (▶ Abb. 9.15): ● S 1 hat nicht nur die Deckplatte des Wirbelkörpers erhalten, sondern auch die oberen Gelenkfortsätze, die mit den unteren von L 5 die kaudalsten Wirbelgelenke bilden. ● An meistens 4 Stellen auf jeder Seite kann man durch das knöcherne Modell praktisch hindurch schauen. Die sakralen Foramina liegen dorsal wie ventral auf einer Höhe und geben dem Ramus ventralis bzw. Ramus dorsalis der Spinalnerven den Weg aus dem Wirbelkanal in die Peripherie frei.

9

Crista sacralis mediana

Basis ossis sacri

Tuberositas sacralis Facies auricularis sacralis Sakrumrand

inferolateraler Pol

Abb. 9.14 Die allgemeine sakrale Form.

Apex sacri

Abb. 9.15 Os sacrum, dorsale Ansicht.

243

Dorsales Becken ●

Die gesamte weitere Rückfläche hat längliche Leisten, die durch das Zusammenwachsen der Rudimente der sakralen Wirbel entstehen. Von diesen Leisten ist die Crista sacralis mediana für die Palpation die wichtigste. Sie zeigt in unregelmäßigen Erhebungen die Rudimente der sakralen Dornfortsätze, wodurch sie gut palpabel ist. Alle anderen Cristae sowie die dorsalen Foraminae sind unter kräftigen Faszien und den Mm. multifidi versteckt.

Hiatus sacralis

Cornu sacralis

Articulatio oder Syndesmosis sacrococcygea

Cornu coccygeum

Apex sacri und Os coccygis Die kaudale Begrenzung des Sakrums ist die Apex sacri. Sie liegt mittelständig, etwas kaudal der Verbindung beider inferior-lateralen Pole. Hier befindet sich die bewegliche Verbindung zum Steißbein, die in der Literatur wechselweise als Articulatio oder Synchondrose (mit Discus intervertebralis) bezeichnet wird (▶ Abb. 9.16, Rauber u. Leonhardt 1987, S. 203). Der kaudale sakrale Bereich ist äußerst variantenreich ausgebildet. Die Crista sacralis mediana reicht meist bis auf die Höhe von S 4. Regelmäßig befindet sich in Höhe von S 5 kein Dornfortsatzrudiment, sondern eine knöcherne Spalte: der Hiatus sacralis. Nach Lanz und Wachsmuth (2004) befindet sich diese dorsale Spalte lediglich bei ca. 46 % nur in Höhe von S 5, bei 33,5 % reicht sie bis in Höhe S 4 bzw. S 3. Dies erschwert die sichere palpatorische Orientierung am kaudalen Sakrum erheblich. Der unvollständige Bogenschluss von S 5, der zum Hiatus führt, wird von einer Membran abgedeckt (▶ Abb. 9.17) und seitlich von kleinen knöchernen Hörnchen begrenzt (Cornua sacralia). Diese Hörnchen sind meist deutlich palpabel, aber dennoch sehr unterschiedlich groß ausgebildet und unregelmäßig geformt. Sie stehen 2 kleinen knöchernen Erhebungen des Os coccygeus gegenüber, den Cornua coccygeae, die ebenfalls palpabel sind. Die abdeckende Membran in Höhe von S 5 ist eine Fortführung des Lig. supraspinale und läuft als Lig. sacrococcygeum posterius superficiale auf dem Steißbein weiter (▶ Abb. 9.18). Die Membran deckt den kaudal auslaufenden Wirbelkanal ab und ist als feste und elastische Struktur palpatorisch deutlich von den knöchernen Begrenzungen zu unterscheiden. Weitere ligamentäre Verbindungen zwischen Sakrum und Os coccygeum sind (▶ Abb. 9.18): ● Lig. sacrococcygeum posterius profundum, die Fortführung des Lig. longitudinale posterius ● Lig. sacrococcygeum laterale (interkornuale und laterale Portionen), vermutlich Fortführungen früherer Ligg. flava und intertransversaria Diese Bandstrukturen werden bei Sturzverletzungen auf das Gesäß und insbesondere das Steißbein traumatisch überdehnt. Bei gezielter Palpation sind diese druckdolent und schmerzlindernd mit Querfriktionen erfolgreich zu behandeln.

244

Abb. 9.16 Sakrokokzygealer Übergang.

Lig. sacrococcygeum posterius superficiale

Abb. 9.17 Hiatus und membranartige Abdeckung.

Lig. sacrococcygeum posterius profundum

Ligg. sacrococcygea laterales

Abb. 9.18 Ligamentäre Verbindungen zwischen den Ossa sacrum und coccygeus.

9.3.4 Bandapparat des Beckens Der ligamentäre Apparat am Becken lässt sich nach Lage und funktioneller Aufgabe einteilen. So kennen wir Bänder, die: ● der Aufrechterhaltung des sakroiliakalen Gelenkflächenkontaktes dienen: ○ Ligg. sacroiliaca interossea, direkt dorsal der SI-Gelenke gelegen ● als Nutationsbremser die Position des Sakrums sichern: ○ Ligg. sacroiliaca ventralia (Kapselverstärkungen) ○ Ligg. sacroiliaca dorsalia

9.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Lage der Achse

Lig. sacrotuberale

Lig. sacroiliacale dorsale longum

Lig. sacrospinale

Abb. 9.19 Funktion der Nutationsbremser.

Lig. sacrotuberale Lig. sacrospinale eine Gegennutation begrenzen können: ○ Lig. sacroiliaca dorsale longum ○ ○



Die ventralen Kapselanteile (Ligg. sacroiliacale ventralia) sind sehr dünn (≤ 1 mm) und haben kaum mechanische Bedeutung (persönliche Mitteilung der IAOM-Lehrgruppe). Sie perforieren leicht bei Drückerhöhung im Gelenk (Arthritis). Sie werden nicht durch den „Kreuzgriff“ (SIGTest) gespannt, da die gesamte ligamentäre Kontrolle dorsal des Gelenkes liegt. Die interossalen Bänder sind sehr kurze, nozizeptiv versorgte Ligamente, die bei sakroiliakalen Pathologien (z. B. Instabilität oder Blockierung) der Schmerzgenerator sind (persönliche Mitteilung der IAOM-Lehrgruppe). Ihre Aufgabe ist es, den Kraftschluss für das jeweilige Sakroiliakalgelenk zu gewährleisten. Die Funktion der Nutationsbremser lässt sich am einfachsten an der Spannung des sakrospinalen und sakrotuberalen Bandes in vertikaler Körperposition verstehen (▶ Abb. 9.19). Etwa 60 % des Körpergewichtes lasten auf der Deckplatte S 1. Diese liegt deutlich ventral der Nutations-/Gegennutationsachse, was die Sakrumbasis tendenziell noch weiter in den Beckenraum „nicken“ lässt. Dieser Tendenz wirken sehr gelenknah die dorsalen und ventralen Ligamente entgegen. Der unweigerlichen Tendenz der Sakrumspitze, nach dorsal und kranial wegzuhebeln, widersetzen sich die sakrospinalen und sakrotuberalen Bänder. Das Lig. sacroiliacale dorsale longum (▶ Abb. 9.20) verbindet beide Spinae iliacae posteriores superiores (SIPS) mit dem jeweiligen Sakrumrand. Es ist etwa 3–4 cm lang, 1–2 cm breit und strahlt kaudal in das Lig. sacrotuberale ein. Es ist das einzige Band, das die Gegennutation

Abb. 9.20 Lig. sacroiliacale dorsale longum.

bremst. Es wurde von Vleeming et al. (1996) beschrieben und bereits mehrfach veröffentlicht. Auch bei Dvořák (1998) wird es erwähnt. Von medial inserieren anteilig die Fasern der Mm. multifidi, nach lateral entspringt ein Teil des M. gluteus maximus.

9.3.5 Sakroiliakalgelenk Die Bedeutung des Beckens als zentrales Element des Bewegungsapparates wurde bereits beschrieben. Um die herausragende Bedeutung der Sakroiliakalgelenke (SIG) zu verstehen, sollte uns der funktionelle Zusammenhang der verschiedenen kinematischen Ketten deutlich werden.

9

Erste kinematische Kette: das Sakrum als Teil der Wirbelsäule L 5, Sakrum und Ilium bilden eine kinematische Kette. Kein Knochen bewegt sich ohne die anderen. Pathologie und Wirkung von Behandlungen lassen sich kaum eindeutig den Niveaus zuordnen. Die Ligg. iliolumbalia (vor allem die inferioren kurzen, steifen Anteile) sind wichtig für die Kopplung innerhalb dieser Kette.

Zweite kinematische Kette: das Sakrum als Teil der unteren Extremität Die größten SIG-Bewegungen entstehen, wenn die Hüftgelenke symmetrisch und unbelastet einbezogen werden, z. B. bei Flexion beider Hüften in Rückenlage.

245

Dorsales Becken

Dritte kinematische Kette: das Sakrum als Teil des Beckenrings Die Biomechanik der SIG wird von der Symphyse kontrolliert. Ausgiebige gegensinnige Bewegungen der Ossa ilii kommen primär in der Symphyse an. SIG-Instabilitäten können sich auch auf die Symphyse auswirken. Daher unterscheidet man hier zwischen Formen ohne und mit Symphysenlockerung. Selten wird ein Gelenk des Bewegungsapparates so unterschiedlich betrachtet und kontrovers diskutiert wie das Sakroiliakalgelenk. Zwischen den einzelnen Lehrgruppen der Manuellen Therapie im deutschsprachigen Raum sowie zwischen Manualtherapeuten und Osteopathen gibt es unterschiedliche Betrachtungen und Einschätzungen des SIG. Die Bedeutung, die dem SIG zugemessen wird, hängt somit von den persönlichen Kriterien und den eigenen Standpunkten des jeweiligen Therapeuten ab.

Gründe für die unterschiedlichen Ansichten zum Sakroiliakalgelenk Besondere anatomische Gegebenheiten Dieses Gelenk ist in seiner Konstruktion mit keinem „herkömmlichen“ Gelenk zu vergleichen (▶ Abb. 9.21; Vleeming et al. 2012): ● Ventral ist es ein straffes Gelenk (Amphiarthrose), dorsal eine ligamentäre Knochenverbindung (Syndesmose). ● Die Gelenkflächen sind in allen Ebenen gewölbt und haben Leisten und Rillen. ● Die sakrale Gelenkfläche ist sehr dick, die iliakale sehr rau.

Komplexes Bewegungsverhalten ●







Die Bewegungen von Sakrum und Ilium gegeneinander sind immer dreidimensional. Es ist höchst kompliziert, eine Lage der Achsen für diese Bewegungen zu beschreiben. Die Mobilität erfolgt hauptsächlich um eine frontotransversale (transversale) Achse und ist sehr gering (nach Vleeming maximal ca. 2°). Die Bewegungen werden als Nutation und Gegennutation bezeichnet (▶ Abb. 9.22). Das Bewegungsausmaß unterliegt vor allem bei Frauen hormonellen Einflüssen (Brooke 1924, Sashin 1930). Bei Erkrankungen des Gelenkes, wie z. B. einer Arthritis, nimmt die Mobilität ebenfalls zu. Bei Männern beginnt das SIG etwa ab dem 50. Lebensjahr durch Ausbildung knöcherner Brücken unbeweglich zu werden (Brooke 1924, Stewart 1984).

Die Komplexität des Gelenkes macht es auch verständlich, dass es bislang nur vergleichsweise wenig veröffentlichte gute Studien über standardisierte Untersuchungsmethoden und Behandlungstechniken gibt.

Merke Aus diesen Gründen bleibt das SI-Gelenk schwer begreiflich und undurchsichtig – eine mystische Struktur, Plattform für Empirie und Spekulation.

Gegennutation

Abb. 9.21 Sakroiliakale Gelenkflächen (nach Kapandji).

246

Nutation

Abb. 9.22 Sakroiliakale Bewegungen (nach Kapandji).

9.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

9.3.6 Sakroiliakale Biomechanik Mit 17,5 cm2 permanter kontaktierender Gelenkfläche ist es das größte Gelenk des menschlichen Körpers (Rana et al. 2015). Der Zusammenhalt der sakroiliakalen Gelenkflächen erfolgt durch eine Mischung aus Formverschluss und Kraftverschluss. Dies lässt sich anhand der allgemeinen Ausrichtung der Gelenkflächen in der Frontalebene erkennen. Nach Winkel 1992 stehen sie um ca. 25° aus der Vertikalen geneigt (▶ Abb. 9.23). Durch die Keilform des Sakrums kann sich die Facies auricularis gegen die gleichförmige iliakale Gelenkfläche abstützen (Formschluss). Gelenkkonstruktion plus Reibungskoeffizient der uneben geformten und aufgerauten Flächen reichen allerdings nicht aus, um die Position des Sakrums zu sichern. Somit wird deutlich, dass zusätzliche seitliche Kräfte für den Zusammenhalt der Gelenkflächen notwendig sind (Kraftschluss). Dies wird vor allem von den Ligg. sacroiliaca interossea gewährleistet, die direkt dorsal der Gelenkflächen sitzen und aus kurzen, sehr starken und nozizeptiv innervierten Kollagenfasern bestehen. Die sakroiliakale Form mit mehr Formschluss findet man eher bei Männern, mehr Kraftschluss eher bei Frauen. Andere Bandstrukturen, die im Allgemeinen als Nutationsbremser arbeiten, sowie muskuläre Strukturen unterstützen die interossären Ligamente und gelten somit als weitere Stabilisatoren der SIG: ● Die ventralen Bauchmuskeln (insbesondere die schrägen und transversalen Anteile) verspannen die Ossa ilii ventral und bringen die interossalen Bänder auf Spannung (▶ Abb. 9.24). ● Die komplexe Fascia thoracolumbalis gilt als wichtiger Stabilisator der lumbosakralen Region (Vleeming u. Dorman 1995).













Die Mm. multifidi wirken als hydrodynamischer Verstärker. Durch seine Verdickung während der Kontraktion strafft er die Fascia thoracolumbalis. Der M. gluteus maximus hat seinen Ursprung an der Rückseite des Sakrums. Er überquert das SIG mit oberflächigen Fasern und strahlt ebenfalls in die Fascia thoracolumbalis ein. Der M. piriformis hat seinen Ursprung an der Vorderseite des Sakrums. Er überquert das SIG. Muskeln des Beckenbodens, z. B. der M. coccygeus und der M. levator ani. Ligg. sacroiliaca dorsalia und ventralia; zusammen mit den sakrospinalen und sakrotuberalen Ligamenten bremsen sie vordringlich die Nutationsbewegung des Sakrums. Ihre unter Belastung zunehmende Straffung erhöht ebenfalls die sakroiliakale Kompression. Die Ligg. iliolumbalia überqueren mit einigen Anteilen die sakroiliakalen Gelenke mittelbar, eine lumbale Lordose erhöht die sakroiliakale Kompression der Gelenkflächen (▶ Abb. 9.25).

9

Abb. 9.24 Ventrale Verspannung der Darmbeine.

F

S

K 25°

Abb. 9.23 Sakroiliakale Gelenkflächenausrichtungaus: Winkel 1992.

Abb. 9.25 Iliolumbale Ligamente (nach Kapandji).

247

Dorsales Becken Pool-Goudzwaard (2001) hat in einer Studie die stabilisierende Rolle der iliolumbalen Ligamente auf das SIG beschrieben. Eine schrittweise Durchtrennung der Bänder führte zu einer erheblichen Zunahme der sakroiliakalen Beweglichkeit in der sagittalen Ebene. Insofern macht es Sinn, diese Ligamente zunächst durch ipsilaterale lumbale Seitneigung anzunähern, bevor eine Mobilisation eines SI-Gelenkes angestrebt wird. Die Bänder tragen weiterhin dazu bei, dass sich sakroiliakale Bewegungen unmittelbar auf die tiefen lumbalen Segmente und umgekehrt übertragen. Bewegungen innerhalb des Beckenringes und die Bewegungen in L 4–S 1 sind unbedingt als kinematische Kette zu betrachten.

Sakrum wird durch die Aktivität des M. biceps femoris an einer vollen Nutation gehindert und das SIG somit direkt vor der Landungsphase stabilisiert.

Fascia thoracolumbalis Die Fascia thoracolumbalis besteht aus 3 Schichten (▶ Abb. 9.27): ● oberflächliche Schicht – Lamina dorsalis oder superficialis ● mittlere Schicht – Lamina profunda. Sie inseriert an den lumbalen Procc. transversi ● tiefe Schicht – Lamina ventralis. Sie liegt ventral der Mm. quadratus lumborum und iliopsoas.

Merke Noch vor einigen Jahren herrschte die Auffassung, dass das SIG als klassische Amphiarthrose keine eigene Muskelversorgung hat, so stimmt diese Annahme nur hinsichtlich der bewegenden Funktion. Zur Aufrechterhaltung des Kraftschlusses kann man festhalten, dass zahlreiche dynamisierte Ligamente und Muskeln stabilisierenden Einfluss auf die sakroiliakalen Gelenke haben. Lig. sacrotuberale

9.3.7 Dynamisierte Ligamente des Sakroiliakalgelenkes Das Zusammenspiel von Muskeln und Ligamenten in Gelenknähe ist schon länger geläufig. Das Kniegelenk ist ein Paradebeispiel dafür. Einstrahlungen von Muskeln in Kapsel-Band-Strukturen nennt man Dynamisierung der Ligamente. An 2 Beispielen der Beckenbänder soll aufgezeigt werden, wie intensiv der Kontakt zwischen Muskeln und dem funktionellem Kollagen in dieser Region ist.

Lig. sacrotuberale

M. biceps femoris

Abb. 9.26 Dynamisierung des Lig. sacrotuberale.

Das Lig. sacrotuberale ist verbunden mit: ● von dorsal: M. gluteus maximus ● von kaudal: M. biceps femoris ● von ventral: M. piriformis ● von medial: M. coccygeus Die funktionelle Bedeutung des, durch den M. biceps femoris dynamisierten, sakrotuberalen Bandes für das sakroiliakale Gelenk erklärt Vleeming folgendermaßen (Vleeming u. Dorman 1995): Es ist bekannt, dass die ischiokrurale Muskulatur am Ende der Schwungphase des Gangzyklusses die größte Aktivität hat. Ein paar Millisekunden vor dem Fersenkontakt bremsen sie somit den Schwung der Tibia nach vorne, die Extension des Knies wird gebremst. Der lange Kopf des gespannten M. biceps femoris geht häufig mit großen kollagenen Bündeln direkt in das sakrotuberale Ligament über (auch ohne Kontakt mit dem Tuber ischiadicum) und dynamisiert es (▶ Abb. 9.26). Das

248

Abb. 9.27 Kollagene Faserausrichtungen in der Fascia thoracolumbalis.

9.5 Palpationstechnik zur schnellen knöchernen Orientierung Die dorsale, oberflächige Schicht enthält kollagene Einstrahlungen von mehreren Muskeln, die diese Aponeurose straffen können: ● M. latissimus dorsi ● M. erector spinae ● M. gluteus maximus Jede dieser muskulären Strukturen ist in der Lage, die Faszie zu dynamisieren. Sie bildet eine diagonale Schlinge zwischen dem M. latissimus dorsi und dem M. gluteus maximus der Gegenseite (▶ Abb. 9.27). Bei kräftiger Rotation stabilisiert diese Schlinge das SIG und die tiefe LWS durch rechtwinklig gerichtete Kräfte gegen die Gelenkflächen. Somit gehören die beteiligten Muskeln bzw. die Faszie zu den primären Stabilisatoren des SIG. Diese Schlinge lässt sich besonders durch Widerstände gegen Rumpfrotation trainieren. Diese Faszienschicht hat auch Verbindungen zu den Ligg. supraspinalia und interspinalia bis hinab zu den Ligg. flava. Vleeming (persönliche Mitteilung) sagt dazu: „Das ganze System ist dynamisch stabilisiert“. Auch die mittlere und die tiefe Schicht werden durch Muskeln dynamisiert. Gut bekannt ist die Spannung der mittleren Schicht durch den M. transversus abdominis (S. 280) und ▶ Abb. 10.22). Die erforderlichen Hintergrundinformationen zur Beckenmuskulatur werden im Kap. 9.6 gegeben.

9.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen

9.5 Palpationstechnik zur schnellen knöchernen Orientierung Um uns schnell und zielführend in der Region des knöchernen Beckens zu orientieren, suchen wir zunächst die großen Strukturen der Region auf (▶ Abb. 9.28). ● Crista iliaca ● Trochanter major ● Os sacrum ● Tuber ischiadicum Ihre Lage und Ausdehnung sollte der Therapeut aus verschiedenen Gründen kennen. In der Behandlung der glutealen Muskulatur stellen sie die Begrenzungen des Arbeitsareales dar. Der eigentliche Raum zur Behandlung dieser Muskeln, z. B. durch Techniken der klassischen Massagetherapie oder Funktionsmassagen, wird durch die genaue Orientierung doch wesentlich kleiner als vielleicht ursprünglich angenommen. Werden doch von dem weniger orientierten Therapeuten Friktionen und Walkungen gelegentlich auf dem Os sacrum durchgeführt, kann die schnelle Orientierung das Arbeitsareal klar auf die glutealen Muskeln und deren Insertionen begrenzen.

Merke Für die spätere genaue lokale Palpation sind diese großen ossären Strukturen wichtige Anhaltspunkte.

Im Folgenden werden 2 verschiedene Herangehensweisen zur Palpation der dorsalen Beckenregion erläutert: ● schnelle Orientierungen ● lokale Palpationen Mit den einleitenden schnellen Orientierungen erhält man zunächst einen groben Eindruck über Lage und Gestalt markanter Knochenpunkte, die das Arbeitsfeld für diagnostische und therapeutische Techniken in der Region abgrenzen. Große Muskeln werden in Lage und Verlauf verdeutlicht und voneinander abgegrenzt. Lokale Palpationen haben die Aufgabe, auf alle wichtigen knöchernen Referenzpunkte (Landmarks) hinzuführen, Formen und Gewebe sehr genau voneinander zu unterscheiden und den Verlauf peripherer Nerven aufzuzeigen. Dazu werden palpatorische Techniken beschrieben, wobei auch Hilfslinien auf die Haut gebracht werden, die die Lage schwer erreichbarer und schlecht differenzierbarer Strukturen veranschaulichen.

9

Crista iliaca

Os sacrum

Trochanter major

Tuber ischiadicum

Abb. 9.28 Knöcherne Referenzpunkte.

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9.5 Palpationstechnik zur schnellen knöchernen Orientierung Die dorsale, oberflächige Schicht enthält kollagene Einstrahlungen von mehreren Muskeln, die diese Aponeurose straffen können: ● M. latissimus dorsi ● M. erector spinae ● M. gluteus maximus Jede dieser muskulären Strukturen ist in der Lage, die Faszie zu dynamisieren. Sie bildet eine diagonale Schlinge zwischen dem M. latissimus dorsi und dem M. gluteus maximus der Gegenseite (▶ Abb. 9.27). Bei kräftiger Rotation stabilisiert diese Schlinge das SIG und die tiefe LWS durch rechtwinklig gerichtete Kräfte gegen die Gelenkflächen. Somit gehören die beteiligten Muskeln bzw. die Faszie zu den primären Stabilisatoren des SIG. Diese Schlinge lässt sich besonders durch Widerstände gegen Rumpfrotation trainieren. Diese Faszienschicht hat auch Verbindungen zu den Ligg. supraspinalia und interspinalia bis hinab zu den Ligg. flava. Vleeming (persönliche Mitteilung) sagt dazu: „Das ganze System ist dynamisch stabilisiert“. Auch die mittlere und die tiefe Schicht werden durch Muskeln dynamisiert. Gut bekannt ist die Spannung der mittleren Schicht durch den M. transversus abdominis (S. 280) und ▶ Abb. 10.22). Die erforderlichen Hintergrundinformationen zur Beckenmuskulatur werden im Kap. 9.6 gegeben.

9.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen

9.5 Palpationstechnik zur schnellen knöchernen Orientierung Um uns schnell und zielführend in der Region des knöchernen Beckens zu orientieren, suchen wir zunächst die großen Strukturen der Region auf (▶ Abb. 9.28). ● Crista iliaca ● Trochanter major ● Os sacrum ● Tuber ischiadicum Ihre Lage und Ausdehnung sollte der Therapeut aus verschiedenen Gründen kennen. In der Behandlung der glutealen Muskulatur stellen sie die Begrenzungen des Arbeitsareales dar. Der eigentliche Raum zur Behandlung dieser Muskeln, z. B. durch Techniken der klassischen Massagetherapie oder Funktionsmassagen, wird durch die genaue Orientierung doch wesentlich kleiner als vielleicht ursprünglich angenommen. Werden doch von dem weniger orientierten Therapeuten Friktionen und Walkungen gelegentlich auf dem Os sacrum durchgeführt, kann die schnelle Orientierung das Arbeitsareal klar auf die glutealen Muskeln und deren Insertionen begrenzen.

Merke Für die spätere genaue lokale Palpation sind diese großen ossären Strukturen wichtige Anhaltspunkte.

Im Folgenden werden 2 verschiedene Herangehensweisen zur Palpation der dorsalen Beckenregion erläutert: ● schnelle Orientierungen ● lokale Palpationen Mit den einleitenden schnellen Orientierungen erhält man zunächst einen groben Eindruck über Lage und Gestalt markanter Knochenpunkte, die das Arbeitsfeld für diagnostische und therapeutische Techniken in der Region abgrenzen. Große Muskeln werden in Lage und Verlauf verdeutlicht und voneinander abgegrenzt. Lokale Palpationen haben die Aufgabe, auf alle wichtigen knöchernen Referenzpunkte (Landmarks) hinzuführen, Formen und Gewebe sehr genau voneinander zu unterscheiden und den Verlauf peripherer Nerven aufzuzeigen. Dazu werden palpatorische Techniken beschrieben, wobei auch Hilfslinien auf die Haut gebracht werden, die die Lage schwer erreichbarer und schlecht differenzierbarer Strukturen veranschaulichen.

9

Crista iliaca

Os sacrum

Trochanter major

Tuber ischiadicum

Abb. 9.28 Knöcherne Referenzpunkte.

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Dorsales Becken

9.5.1 ASTE Der Proband liegt in der neutralen Bauchlage auf der Therapiebank. Seine Körperabschnitte sind ohne seitlichen Shift und Rotation eingestellt. Die Arme sind dem Körper angelegt. Das Elevieren der Arme in Kopfhöhe ist zu vermeiden, da dies die Fascia thoracolumbalis auf Spannung bringt und somit die Palpation verschiedener Strukturen des lumbosakralen Überganges erschwert. Der Kopf ist möglichst rotationsneutral gelagert und die Nase dabei in einen entsprechend angelegten Nasenschlitz der Bank platziert. Der Therapeut steht seitlich zur Therapiebank und gegenüber der zur palpierenden Seite. Weitere Details lesen Sie bitte in Kap. 2.6 nach.

Crista iliaca Das Aufsuchen des Darmbeinkammes ist der schnellste und beliebteste orientierende Zugang zur LBH-Region. Von hier aus kann man sich lumbal grob orientieren, findet die unterste Rippe und die kraniale Begrenzung des Beckens.

Technik Diese Schnellorientierung kann zugleich auf beiden Körperseiten des Probanden ausgeführt werden. Beide Hände bilden eine feste Fläche, der Daumen ist abgespreizt. Sie werden gleichzeitig mit der radialen Seite voran in Taillenhöhe mit mäßigem Druck von lateral nach medial geführt. Die Technik wird so lange weitergeführt, bis der Widerstand des Gewebes deutlich zunimmt und letztlich die Bewegung stoppt (▶ Abb. 9.29). Von hier aus drückt man mit der Hand in verschiedene Richtungen: ● Druck nach medial → Widerstand ist weichelastisch: Man drückt gegen die Ränder der Mm. latissimus dorsi, quadratus lumborum und erector spinae. Man befindet sich lumbal etwa in der Höhe des Proc. spinosus von L 4 (McGaugh et al. 2007). ● Druck nach kranial → Widerstand wird deutlich fester: Man erreicht von kaudal die 12. bzw. 11. Rippe. ● Druck nach kaudal → Widerstand wird deutlich härter: Man drückt von kranial gegen den Darmbeinkamm = kraniale Begrenzung des Beckens.

Abb. 9.29 Schnellorientierung: Crista iliaca.

250

Wenn man den Abstand zwischen den untersten Rippen und der Crista iliaca realisiert, wird man feststellen, dass er im Allgemeinen etwa 2 Finger breit ist und somit deutlich schmaler als an üblichen Skelettmodellen. Dieser geringe Abstand macht uns auch die Notwenigkeit der Flexibilität der Rippen 11 und 12 deutlich. Bei ausgiebigen Seitneigungsbewegungen nähern sich die untersten Rippen dem Beckenkamm und müssen ihm ggf. elastisch ausweichen.

Tipp Sollten die Weichteile der Taille eine palpatorische Abgrenzung zwischen Darmbeinkamm und letzter Rippe nicht zulassen, beginnt man ventral mit der Palpation. Auch in Bauchlage ist eine Lokalisation der Spina iliaca anterior superior recht genau möglich. Von hier aus lässt sich die obere Kante des Beckenkamms bis zur Rückseite des Rumpfes verfolgen.

Trochanter major Als einziger direkt erreichbarer Teil des proximalen Femurs ist der Trochanter major ein wichtiger Orientierungspunkt an der seitlichen Hüftregion. Als Ansatzbereich vieler kleiner Muskeln, die vom Becken herkommen, verlängert er den Kraftarm für die Mm. glutei minimi. Für den Therapeuten bietet er zudem die Möglichkeit, Rückschlüsse auf die Geometrie des Femurs zu ziehen.

Technik Eine gute topografische Vorstellung dieser Region ist sehr hilfreich. Bei ungenauer Vorstellung von der Lage des Trochanter major gibt es 2 weitere hinführende Orientierungshilfen: ● Der Trochanter major ist etwa in Höhe der Sakrumspitze zu finden. Diese liegt annähernd in Höhe des Beginns der Analfalte bei S 5 (▶ Abb. 9.30). ● In Bezug zum Darmbeinkamm (Crista iliaca) liegt der Trochanter etwa eine Handbreit kaudal.

Abb. 9.30 Aufsuchen des Trochanter major.

9.5 Palpationstechnik zur schnellen knöchernen Orientierung Der Therapeut legt eine Hand flächig seitlich auf den Beckenbereich und erwartet auf direkten Druck eine große rundliche Struktur, die ein knöchern-hartes Gefühl vermittelt (▶ Abb. 9.31).

Tipp Da diese Region bei manchen Patienten adipös ist, kann das Auffinden des Trochanters schwierig sein, sodass eine weitere Hilfe zur Bestätigung der Lokalisation nötig ist. Hierzu kann der Therapeut das Kniegelenk auf der entsprechenden Seite flektieren und so über den Hebel des Unterschenkels abwechselnd etwas Innen- und Außenrotation des Hüftgelenkes einbringen. Dabei rollt der Trochanter unter den palpierenden Fingern hin und her, sodass sowohl die seitliche Fläche als auch der kraniale Aspekt gut zu ertasten sind (▶ Abb. 9.32).

Die kraniale Spitze des Trochanter major dient unter anderem dem häufig hyperton imponierenden M. piriformis als Insertion (s. auch Kap. 9.8.3). Die seitliche Fläche ist ein guter Anhaltspunkt bei der manuellen Bestimmung des Antetorsionswinkels (S. 136).

Os sacrum Die kaudale Spitze des Os sacrum liegt zu Beginn der Analfalte und erstreckt sich etwa eine Handbreit nach kranial. Das Os sacrum ist, wie oben erwähnt, wesentlich breiter als die übliche Vorstellung oder Darstellung an Modellen.

Technik Mehrere Fingerspitzen einer oder beider Hände werden quer zur Körperlängsachse auf den Bereich gelegt, in dem sicher das Os sacrum erwartet wird. Dies ist einige Fingerbreiten kranial der Analfalte. Unter querer Palpation stellt sich das Sakrum als flache, unregelmäßig geformte Struktur dar, die unter der Prüfung der Konsistenz mit direktem Druck immer hart antwortet. Eine genauere Differenzierung der Strukturen auf dem Sakrum wird in einem späteren Kapitel beschrieben (Kap. 9.7.4). Mit dieser queren Palpation orientiert man sich nach lateral, bis die Fingerkuppen nach ventral abrutschen (▶ Abb. 9.33). Die Konsistenzprüfung zeigt jetzt weich-elastischen Widerstand. Das Abrutschen kennzeichnet den Rand des Os sacrum. Dieser Rand wird jetzt in seiner ganzen Aus-

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Abb. 9.31 Palpation des Trochanter major.

Abb. 9.33 Palpation des Sakrumrandes.

Abb. 9.34 Darstellung der Sakrumgröße. Abb. 9.32 Bestätigung durch Bewegung.

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Dorsales Becken

M. gluteus medius

M. gluteus maximus

Abb. 9.35 Lokalisation des Tuber ischiadicum.

dehnung nach kaudal und kranial verfolgt. Nach kaudal palpierend erreicht man die inferior-lateralen Pole des Sakrums.

Abb. 9.36 Lage der glutealen Muskulatur zwischen den ossären Begrenzungen.

Tipp Ist der Verlauf beider Ränder einmal dargestellt, kann man diese mit den ulnaren Handkanten in ihrer ganzen Ausdehnung aufzeigen. Nun erkennt man die ganze Breite dieser zentralen Struktur des knöchernen Beckens (▶ Abb. 9.34). Wie man bei der später beschriebenen genauen Palpation entdecken wird, ist der palpierte Rand nicht die ganze sakrale Länge (kraniokaudale Ausdehnung). Lediglich der Rand von den unteren Polen bis auf das Niveau von S 3 ist palpabel. Nach kranial schließt sich das SI-Gelenk bzw. die Crista iliaca an.

Tuber ischiadicum Eine weitere große Struktur und wichtige Orientierungsgröße ist das Tuber ischiadicum (Synonym: Tuber ossis ischii). Es ist wichtiger Fixpunkt für kräftige Ligamente (Lig. sacrotuberale) und Muskeln (ischiokrurale Muskelgruppe).

Technik Mit einem Gabelgriff (Daumen medial) verfolgt der Therapeut die quere Gesäßfalte nach medial, bis der Daumen gegen den harten Widerstand des Tubers anstößt (▶ Abb. 9.35). Das Tuber ist eine erstaunlich breite Struktur. Maßgeblich ist zunächst die Spitze des Tubers.

9.6 Palpationsgang zur schnellen muskulären Orientierung Die schnelle ossäre Orientierung hat die Lage der muskulären Weichteile der Glutealregion festgelegt (▶ Abb. 9.36). Sie dehnen sich aus zwischen: ● Os sacrum – medial ● Crista iliaca – kranial ● Tuber ischiadicum – kaudal ● Trochanter major – kaudolateral Da die Gesäßmuskeln in den meisten Fällen nicht durch ihre Ränder bzw. herausragenden Insertionspunkte oder -flächen zu erkennen sind, benötigt man muskuläre Aktivität, um deren Lage bzw. Begrenzungen festzustellen.

9.6.1 ASTE Im Allgemeinen reicht die neutrale Bauchlage, wie sie oben beschrieben wurde, völlig aus, um sich die lateral gelegenen Muskeln besser zugänglich zu machen. Auch die Seitenlage ist als ASTE möglich.

M. gluteus maximus Die wohl prominenteste muskuläre Struktur am dorsalen Becken ist der große Gesäßmuskel. Das Relief des Muskelbauchs lässt sich meistens unter Muskelaktivität ganz gut visuell darstellen. Der Muskelbauch ist nach medial und

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Dorsales Becken

M. gluteus medius

M. gluteus maximus

Abb. 9.35 Lokalisation des Tuber ischiadicum.

dehnung nach kaudal und kranial verfolgt. Nach kaudal palpierend erreicht man die inferior-lateralen Pole des Sakrums.

Abb. 9.36 Lage der glutealen Muskulatur zwischen den ossären Begrenzungen.

Tipp Ist der Verlauf beider Ränder einmal dargestellt, kann man diese mit den ulnaren Handkanten in ihrer ganzen Ausdehnung aufzeigen. Nun erkennt man die ganze Breite dieser zentralen Struktur des knöchernen Beckens (▶ Abb. 9.34). Wie man bei der später beschriebenen genauen Palpation entdecken wird, ist der palpierte Rand nicht die ganze sakrale Länge (kraniokaudale Ausdehnung). Lediglich der Rand von den unteren Polen bis auf das Niveau von S 3 ist palpabel. Nach kranial schließt sich das SI-Gelenk bzw. die Crista iliaca an.

Tuber ischiadicum Eine weitere große Struktur und wichtige Orientierungsgröße ist das Tuber ischiadicum (Synonym: Tuber ossis ischii). Es ist wichtiger Fixpunkt für kräftige Ligamente (Lig. sacrotuberale) und Muskeln (ischiokrurale Muskelgruppe).

Technik Mit einem Gabelgriff (Daumen medial) verfolgt der Therapeut die quere Gesäßfalte nach medial, bis der Daumen gegen den harten Widerstand des Tubers anstößt (▶ Abb. 9.35). Das Tuber ist eine erstaunlich breite Struktur. Maßgeblich ist zunächst die Spitze des Tubers.

9.6 Palpationsgang zur schnellen muskulären Orientierung Die schnelle ossäre Orientierung hat die Lage der muskulären Weichteile der Glutealregion festgelegt (▶ Abb. 9.36). Sie dehnen sich aus zwischen: ● Os sacrum – medial ● Crista iliaca – kranial ● Tuber ischiadicum – kaudal ● Trochanter major – kaudolateral Da die Gesäßmuskeln in den meisten Fällen nicht durch ihre Ränder bzw. herausragenden Insertionspunkte oder -flächen zu erkennen sind, benötigt man muskuläre Aktivität, um deren Lage bzw. Begrenzungen festzustellen.

9.6.1 ASTE Im Allgemeinen reicht die neutrale Bauchlage, wie sie oben beschrieben wurde, völlig aus, um sich die lateral gelegenen Muskeln besser zugänglich zu machen. Auch die Seitenlage ist als ASTE möglich.

M. gluteus maximus Die wohl prominenteste muskuläre Struktur am dorsalen Becken ist der große Gesäßmuskel. Das Relief des Muskelbauchs lässt sich meistens unter Muskelaktivität ganz gut visuell darstellen. Der Muskelbauch ist nach medial und

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9.6 Palpationsgang zur schnellen muskulären Orientierung kaudal recht gut abgrenzbar, da er an der Ausprägung der Analfalte und der queren Gesäßfalte maßgeblich beteiligt ist. Nach kranial und lateral ist diese Abgrenzung erheblich schwieriger.

Technik – Mitte Muskelbauch Zur Darstellung des Muskelreliefs fordert man den Probanden zum Abheben des Beines von der Unterlage auf. Reicht diese Aktivität nicht aus, um den Muskel in seiner Lage zu erfassen, kann man mit der zweiten Hand einen Widerstand gegen die aktive Extension des Hüftgelenkes geben (▶ Abb. 9.37). Falls das nicht ausreicht, um den Muskel darzustellen, legt man zur Palpation die flache Hand auf die Gesäßmitte und wiederholt die Aktivierung des Muskels mit Extension in der Hüfte.

Tipp Sollte die aktive Extension ggf. gegen Widerstand nicht ausreichen, um das Relief des Muskelbauchs hinreichend darzustellen, kann man die weiteren Funktionen des M. gluteus maximus nutzen, um durch vermehrte Annäherung die Ausprägungen und Konturen deutlicher hervorzuheben.

Der M. gluteus maximus ist ein kräftiger Außenrotator des Hüftgelenkes. In der Literatur wird allerdings seine Funktion auf die sagittotransversale (sagittale) Achse diskutiert. Hier ist man sich nicht einig, ob der Muskel nur adduzieren oder auch ggf. abduzieren kann, da die kranialen Muskelanteile oberhalb der Adduktions-Abduktions-Achse liegen. Um eine bessere Abgrenzung zu den kleinen Glutealmuskeln zu ermöglichen, wird die Adduktion im Hüftgelenk empfohlen. Auf folgende Weise erhöht man die Aktivität des Muskels: ● Vor oder während des Anhebens des Beines lässt man den Probanden die Fußspitze nach außen bzw. die Ferse nach innen drehen. ● Unter dieser Aktivität in Extension und Außenrotation gibt man noch einen zusätzlichen Widerstand von medial und stimuliert die Adduktion (▶ Abb. 9.38). Die Konturen des Muskels treten somit maximal hervor. Von der Mitte des Muskelbauchs können die Begrenzungen des Muskels gezielt erreicht werden.

Abb. 9.37 Aktivität des M. gluteus maximus.

9

Technik – Ursprungsbereich Der sogenannte Ursprung (proximaler Insertionsbereich) wird nach kraniomedial durch Palpation unter Muskelaktivität aufgesucht. Der Muskelbauch führt die Palpation hauptsächlich auf das Os sacrum. Dabei fällt auf, dass man nahezu auf die Mitte des Sakrums stößt und nicht, wie vielleicht erwartet, an den Rand des Knochens, wie in der Literatur häufig als Ursprungsbereich angegeben. Anatomisch lässt sich das mit den oberflächigen Anteilen des Muskels begründen, die eben keine knöcherne Insertion aufweisen, sondern in die Fascia thoracolumbalis einstrahlen.

Tipp

Abb. 9.38 Verstärkte Aktivität des M. gluteus maximus.

Die Ausdehnung des Muskels auf die Sakrumfläche lässt sich palpatorisch noch genauer unter abwechselndem Entspannen (▶ Abb. 9.39) und Anspannen (▶ Abb. 9.40) feststellen.

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Dorsales Becken

Abb. 9.41 Palpation des M. gluteus maximus – Ansatzbereich bei Aktivität.

Technik – Ansatzbereich

Abb. 9.39 Palpation des M. gluteus maximus – Ursprungsbereich bei Entspannung.

Der Ansatz des M gluteus maximus (distaler Insertionsbereich) wird durch Palpation von der Mitte des Muskelbauchs nach kaudolateral aufgesucht. Er liegt immer kaudal des Trochanter major. Auch hier ist es nicht möglich, seine Anheftungsstelle palpatorisch auf eine knöcherne Region, die Tuberositas glutea, zu begrenzen. Folgt man dem Muskel ggf. unter langsamer rhythmischer Aktivität (▶ Abb. 9.41), wird die Palpation sehr weit nach lateral auf den Oberschenkel geführt. Auch hier sind es die oberflächigen Anteile des Muskels, die keine knöcherne Anheftung aufweisen, sondern weiterlaufend in Weichteile einstrahlen. In diesem Fall ist es der Tractus iliotibialis. Dvořák (1998) bezeichnet diese Anteile als Pars tibialis. Palpatorisch lässt sich dieser Muskel kaudolateral also nicht klar begrenzen.

Technik – medialer Rand Die Abgrenzung nach medial ist, gegenüber den zuvor beschriebenen Techniken, visuell und palpatorisch recht einfach. Der Muskel formt hier die Analfalte. In Streckstellung der Hüfte überdeckt er den Tuber ischiadicum.

Technik – lateraler Rand

Abb. 9.40 Palpation des M. gluteus maximus – Ursprungsbereich bei Anspannung.

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Die Differenzierung des M. gluteus maximus nach kraniolateral gegenüber den kleinen Glutei ist allerdings recht schwierig. Entspannt bietet die Glutealregion über alle Mm. glutei ein eher einheitliches Relief. Auch unter Anspannung des M. gluteus maximus ist sein Muskelrand nicht klar erkennbar. Er überdeckt teilweise die dorsalen Anteile des M. gluteus medius. Die Differenzierung durch muskuläre Anspannung alleine mit Extension bzw. Außenrotation gelingt nicht, da die hinteren Anteile der kleinen Glutealmuskeln diese Funktion ebenfalls beinhalten. So bleibt lediglich der Versuch, durch Adduktion (M. gluteus maximus) bzw. Abduktion (Mm. gluteus medius und minimus) zu betonen.

9.6 Palpationsgang zur schnellen muskulären Orientierung

Abb. 9.42 Palpation des M. gluteus maximus – lateraler Rand.

Abb. 9.44 Palpation des M. gluteus medius.

M. gluteus medius Der Muskelbauch schließt sich direkt an den kraniolateralen Rand des Muskelbauchs des M. gluteus maximus an. Ein Versuch, beide Muskeln durch Aktivität voneinander zu unterscheiden, wurde bereits zuvor beschrieben. Der M. gluteus minimus wird vom M. gluteus medius komplett überdeckt und ist palpatorisch somit nicht zu unterscheiden.

Technik

Abb. 9.43 Grafische Darstellung des kraniolateralen Randes des M. gluteus maximus.

Unter Aktivität in Extension und Außenrotation folgt man den Konturen des Muskelbauchs des M. gluteus maximus nach kraniolateral, bis man zu einer Region kommt, in der die Begrenzung des Muskels vermutet wird (▶ Abb. 9.42). Nun wird zusätzlich eine Adduktion des Muskels stimuliert, um den Muskelbauch des M. gluteus maximus hervorzuheben. Hiernach wird zusätzlich eine Abduktion eingefordert, um die Mm. glutei minimi zu betonen.

Tipp Sollte jeder Versuch scheitern, den kraniolateralen Rand des Muskels zu identifizieren, folgt man der Empfehlung von Winkel (2004). Nach seiner Erfahrung liegt dieser Rand auf der Höhe einer Verbindungslinie SIPS – Trochanterspitze (▶ Abb. 9.43).

Die palpierende Hand (ggf. mit der zweiten Hand beschwert) wird seitlich auf das Becken gelegt und befindet sich zwischen Crista iliaca und der Trochanterspitze. Mit etwas Druck in die Tiefe nehmen die Fingerbeeren die erwartet weiche Konsistenz des Gewebes wahr (▶ Abb. 9.44). Die Lage des M. gluteus medius wird durch eine Aktivität in Abduktion erst deutlich. Dazu muss der Proband keine enormen Anstrengungen leisten. Kleinere Aktivitäten reichen üblicherweise aus. Mit dieser Technik lässt sich die gesamte Ausdehnung des Muskels zwischen Ursprung (Crista iliaca) und Ansatz (Trochanter major) einfach erspüren. Lediglich die palpatorische Abgrenzung ventrolateral zum M. tensor fasciae latae und medial zum M. gluteus maximus ist in dieser ASTE erschwert.

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Tipp Zur Abgrenzung zum M. gluteus maximus kann man versuchen, diesen reziprok zu hemmen. Man lässt den Probanden das Knie in die Unterlage drücken (Flexion der Hüfte) oder die Ferse nach außen fallen (Innenrotation). Mit der anschließenden Aufforderung der Abduktion stellt sich der M. gluteus medius recht selektiv dar.

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Dorsales Becken

Tractus iliotibialis

Tipp

Diese lange und sehr kollagene Verstärkung der Oberschenkelfaszie hat einen interessanten Verlauf (▶ Abb. 9.45): ● proximaler Anheftungspunkt an der meist kranialen Stelle der Crista iliaca ● verläuft seitlich am Becken über die kleinen Glutealmuskeln ● über den Trochanter major, seitlich am Oberschenkel entlang ● lateral über den Kniegelenkspalt, hauptsächlich zur Tuberositas von Gerdy (oder Tuberculum laterale tibiae) Der Traktus wird gespannt durch: ● Einstrahlungen der oberflächigen Schicht des M. gluteus maximus ● Einstrahlung des M. tensor fasciae latae ● Vorwölben des Muskelbauchs des M. gluteus medius bei Aktivität ● Vorwölben des Muskelbauchs des Vastus lateralis bei Aktivität (effektivste Spannung nach persönlicher Mitteilung von Vleeming)

Technik Bei der Muskelbauchpalpation des M. gluteus medius (wie in ▶ Abb. 9.44) von medial nach lateral mit querer Friktionstechnik stößt die untersuchende Hand auf einen Bereich festerer Konsistenz. Vor allem bei Sportlern ist ein deutlicher Unterschied zu finden. Ertastet man die Ausdehnung dieser Konsistenz, so wird man eine Struktur ertasten, die 2–3 Fingerbreit zwischen Trochanter und Beckenkamm verläuft.

M. gluteus maximus

M. tensor fasciae latae

Tractus iliotibialis

Abb. 9.45 Lage des Tractus iliotibialis.

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Eine Differenzierung mit muskulärer Aktivität kann nicht gelingen, da der Unterschied zwischen weicher und fester Konsistenz die Lage des Tractus verdeutlicht. Muskelaktivität nimmt die weiche Konsistenz aus der Palpation heraus.

9.7 Lokale Palpationstechniken 9.7.1 Kurzbeschreibung des Palpationsganges Die Crista iliaca ist eine übliche Orientierungsgröße bei der Beckenpalpation. Von hier aus hat man eine Form der Höhenorientierung lumbal und startet das Aufsuchen der SIPS. Die SIPS gehören zu den am häufigsten lokalisierten Strukturen des Beckens. Ihre exakte palpatorische Darstellung ist allerdings die Grundvoraussetzung, um die damit verbundenen Informationen sicher zu gewinnen. Die Palpation wird in aufrechter Körperhaltung zur Höhendiagnostik benutzt. Von den SIPS aus beginnt auch die weitere exakte Palpation am Os sacrum. Die diagnostische Nutzbarkeit der Palpation der SIPS zur Beweglichkeitsprüfung oder zur Feststellung einer sakroliliakalen Asymmetrie oder Dysfunktion ist begrenzt. Verschiedene Autoren haben die diagnostische Zuverlässigkeit dieser Tests infrage gestellt (Laslett 2008). In Anbetracht des sakroiliakalen Bewegungsausmaßes von 2–4° um die X-Achse repäsentieren die SIPS lediglich mit wenigen Millimetern Bewegung dieses Bewegungsaumaß. Die Palpation der SIPS im Stand ist aufgrund der hohen Weichteilspannung schon eine palpatorische Herausforderung. Die sichere Interpretation der SIPS-Bewegungen, z. B. bei lumbaler Flexion (Vorlaufphänomen), ist insofern noch schwieriger. Die Validität und Reliabilität von Schmerzprovokationstest sind demgegenüber eher zufriedenstellnd (Laslett 2008). Der Einstieg, der eine zuverlässige Differenzierung zwischen den sakralen und lumbalen Procc. spinosi ermöglicht, erfolgt über die Lokalisation beider SIPS. Im späteren Verlauf des Palpationsganges werden alle weiteren erreichbaren Anteile des Os sacrum ertastet. Die Aktivität der Mm. multifidi sowie das Lokalisieren wichtiger Ligamente am Becken folgen. Schließlich werden einige Hilfslinien auf das Becken gezeichnet, welche die Lage von weiteren muskulären und neuralen Strukturen verdeutlichen.

Dorsales Becken

Tractus iliotibialis

Tipp

Diese lange und sehr kollagene Verstärkung der Oberschenkelfaszie hat einen interessanten Verlauf (▶ Abb. 9.45): ● proximaler Anheftungspunkt an der meist kranialen Stelle der Crista iliaca ● verläuft seitlich am Becken über die kleinen Glutealmuskeln ● über den Trochanter major, seitlich am Oberschenkel entlang ● lateral über den Kniegelenkspalt, hauptsächlich zur Tuberositas von Gerdy (oder Tuberculum laterale tibiae) Der Traktus wird gespannt durch: ● Einstrahlungen der oberflächigen Schicht des M. gluteus maximus ● Einstrahlung des M. tensor fasciae latae ● Vorwölben des Muskelbauchs des M. gluteus medius bei Aktivität ● Vorwölben des Muskelbauchs des Vastus lateralis bei Aktivität (effektivste Spannung nach persönlicher Mitteilung von Vleeming)

Technik Bei der Muskelbauchpalpation des M. gluteus medius (wie in ▶ Abb. 9.44) von medial nach lateral mit querer Friktionstechnik stößt die untersuchende Hand auf einen Bereich festerer Konsistenz. Vor allem bei Sportlern ist ein deutlicher Unterschied zu finden. Ertastet man die Ausdehnung dieser Konsistenz, so wird man eine Struktur ertasten, die 2–3 Fingerbreit zwischen Trochanter und Beckenkamm verläuft.

M. gluteus maximus

M. tensor fasciae latae

Tractus iliotibialis

Abb. 9.45 Lage des Tractus iliotibialis.

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Eine Differenzierung mit muskulärer Aktivität kann nicht gelingen, da der Unterschied zwischen weicher und fester Konsistenz die Lage des Tractus verdeutlicht. Muskelaktivität nimmt die weiche Konsistenz aus der Palpation heraus.

9.7 Lokale Palpationstechniken 9.7.1 Kurzbeschreibung des Palpationsganges Die Crista iliaca ist eine übliche Orientierungsgröße bei der Beckenpalpation. Von hier aus hat man eine Form der Höhenorientierung lumbal und startet das Aufsuchen der SIPS. Die SIPS gehören zu den am häufigsten lokalisierten Strukturen des Beckens. Ihre exakte palpatorische Darstellung ist allerdings die Grundvoraussetzung, um die damit verbundenen Informationen sicher zu gewinnen. Die Palpation wird in aufrechter Körperhaltung zur Höhendiagnostik benutzt. Von den SIPS aus beginnt auch die weitere exakte Palpation am Os sacrum. Die diagnostische Nutzbarkeit der Palpation der SIPS zur Beweglichkeitsprüfung oder zur Feststellung einer sakroliliakalen Asymmetrie oder Dysfunktion ist begrenzt. Verschiedene Autoren haben die diagnostische Zuverlässigkeit dieser Tests infrage gestellt (Laslett 2008). In Anbetracht des sakroiliakalen Bewegungsausmaßes von 2–4° um die X-Achse repäsentieren die SIPS lediglich mit wenigen Millimetern Bewegung dieses Bewegungsaumaß. Die Palpation der SIPS im Stand ist aufgrund der hohen Weichteilspannung schon eine palpatorische Herausforderung. Die sichere Interpretation der SIPS-Bewegungen, z. B. bei lumbaler Flexion (Vorlaufphänomen), ist insofern noch schwieriger. Die Validität und Reliabilität von Schmerzprovokationstest sind demgegenüber eher zufriedenstellnd (Laslett 2008). Der Einstieg, der eine zuverlässige Differenzierung zwischen den sakralen und lumbalen Procc. spinosi ermöglicht, erfolgt über die Lokalisation beider SIPS. Im späteren Verlauf des Palpationsganges werden alle weiteren erreichbaren Anteile des Os sacrum ertastet. Die Aktivität der Mm. multifidi sowie das Lokalisieren wichtiger Ligamente am Becken folgen. Schließlich werden einige Hilfslinien auf das Becken gezeichnet, welche die Lage von weiteren muskulären und neuralen Strukturen verdeutlichen.

9.7 Lokale Palpationstechniken

ASTE Der Proband liegt in der neutralen Bauchlage auf der Therapiebank mit Nasenschlitz. Seine Körperabschnitte sind ohne seitlichen Shift und Rotation eingestellt. Die Arme sind dem Körper angelegt. Das Elevieren der Arme in Kopfhöhe ist zu vermeiden, da dies die Fascia thoracolumbalis auf Spannung bringt und somit die Palpation verschiedener Strukturen des lumbosakralen Überganges erschwert. Der Kopf ist möglichst rotationsneutral gelagert. Der Therapeut steht seitlich zur Therapiebank und gegenüber der zu palpierenden Seite. Weitere Details lesen Sie bitte in Kap. 8.6 nach.

9.7.2 Os ilium – Crista iliaca Der Darmbeinkamm wurde mit der schnellen Orientierung bereits aufgefunden. Nun gilt es seine kraniale Begrenzung genau zu ertasten.

Technik Wenn man den Beckenkamm gefunden hat, wechselt man zur rechtwinkligen Palpation. Mit den von kranial kommenden Fingerkuppen stößt man rechtwinklig gegen die Crista iliaca (▶ Abb. 9.46).

fig werden die SIPS mit der Lokalisation der „Grübchen“, Hautvertiefungen über dem dorsalen Becken, in Zusammenhang gebracht. Dies ist sicher nicht der Fall. Die SIPS liegen nicht in Höhe dieser Grübchen, sondern durchschnittlich etwa 2 cm weiter kaudal und lateral von diesen Vertiefungen. Die viel zitierten „Grübchen“ sind Verbindungen der glutealen und lumbalen Faszien mit tieferen Schichten.

Technik – 1. Variante Die rechtwinklige Technik zum Aufsuchen des Beckenkammes (wie oben beschrieben) wird weiter benutzt. Man palpiert den Beckenkamm zentimeterweise nach medial weiter (▶ Abb. 9.47). Die Palpation wird zunehmend nach kaudal gelenkt, um die am weitesten kaudal gelegene Stelle der SIPS zu erreichen und ggf. zu markieren (▶ Abb. 9.48).

Tipp Diese Technik ist sehr genau, lässt sich allerdings nur bei eher mageren Personen durchführen.

Tipp Zur Erinnerung: Die meist kraniale Begrenzung des Beckenkammes entspricht lumbal etwa der Höhe des Proc. spinosus von L 4 (McGaugh et al. 2007).

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9.7.3 Os ilium – Spina iliaca posterior superior Die Bedeutung der Spina iliaca posterior superior (SIPS) wurde in der Kurzfassung des Palpationsganges bereits hervorgehoben. Ihre exakte Darstellung ist über 2 verschiedene Techniken zu ermitteln. Zuvor muss noch eine weit verbreitete Ungenauigkeit besprochen werden. Häu-

Abb. 9.46 Lokale Palpation der Crista iliaca.

Abb. 9.47 Aufsuchen der SIPS – 1. Technikvariante: Startposition.

Abb. 9.48 Aufsuchen der SIPS – 1. Technikvariante: Endposition.

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Dorsales Becken

Technik – 2. Variante Hier führt man die quere Palpation des Beckenkammes aus. Der Daumen wird mit einer ausladenden, druckarmen und queren Bewegung von kaudal nach kranial über die Krista geführt (▶ Abb. 9.49 und ▶ Abb. 9.50). Dabei erwartet man als Ergebnis das Gefühl einer runden Struktur. Diese Technik wird allmählich nach medial und kaudal durchgeführt (▶ Abb. 9.51 und ▶ Abb. 9.52). Letztlich wird darauf geachtet, ab wann diese Technik nicht mehr die rundliche, sondern eine flache und schräge Palpation ergibt (▶ Abb. 9.53 und ▶ Abb. 9.54). Hat sich dieses Gefühl eingestellt, befindet man sich nicht mehr auf der Crista iliaca, sondern bereits auf dem seitlichem Rand des Os sacrum. Man verdeutliche sich hier noch einmal den Übergang zwischen Krista und Sakrum: ● etwas weiter nach kranial: rundliche Palpation der Krista ● etwas weiter kaudal: flache Schräge des Sakrumrandes

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Jetzt hakt man, auf dem Sakrumrand liegend von kaudal, gegen die Crista iliaca an. Hiermit hat man die kaudale Kante der SIPS markiert (▶ Abb. 9.55).

Tipp Bei dieser Technik ist es besonders wichtig, eine recht große Bewegung des Daumens mit wenig Druck einzubringen. Die Crista ist eine sehr breite Struktur und erfordert daher eine weit ausladenende Bewegung, um ihre rundliche Kontur spüren zu lassen.

Merke Die sichere Lokalisation der SIPS ist die alles entscheidende palpatorische Technik am dorsalen Becken. Findet man sie nicht sicher, sind alle weiteren Versuche, Strukturen eindeutig zu bestimmen, zum Scheitern verurteilt.

Abb. 9.49 Aufsuchen der SIPS – 2. Technikvariante: Startposition.

Abb. 9.51 Aufsuchen der SIPS – 2. Technikvariante: Startposition; weiter medial und kaudal.

Abb. 9.50 Aufsuchen der SIPS – 2. Technikvariante: Endposition.

Abb. 9.52 Aufsuchen der SIPS – 2. Technikvariante: Endposition; weiter medial und kaudal.

9.7 Lokale Palpationstechniken

Hinweis zur Pathologie Die genaue Lokalisation der SIPS kann dem Patienten u. U. Schmerzen bereiten, besonders bei der Bestimmung des kaudalen Aspektes der SIPS. Hier handelt es sich wahrscheinlich um ein druckdolentes Lig. sacroiliacale dorsale longum, das (nach Vlemming et al. 2002) Hinweise auf eine sakroiliakale Pathologie geben kann.

Technik – Palpation im Stand

Abb. 9.53 Aufsuchen der SIPS – 2. Technikvariante: Startposition; Sakrumrand.

Die Lokalisation der SIPS im Stand ist ungleich schwieriger als in Bauchlage. Die vermehrte Spannung der Mm. glutei und der Mm. multifidi machen das eindeutige Ertasten mühsam. Der palpierende Daumen muss mit vermehrtem Druck arbeiten, um die knöchernen Formen zu spüren und Konsistenzunterschiede zwischen gespannten Weichteilen und Knochen festzustellen (▶ Abb. 9.56).

9 Abb. 9.54 Aufsuchen der SIPS – 2. Technikvariante: Endposition; Sakrumrand.

Abb. 9.55 Aufsuchen der SIPS – 2. Technikvariante: Unterkante der SIPS.

Abb. 9.56 Palpation der SIPS im Stand.

259

Dorsales Becken

Technik

Tipp In schwierigen Fällen kann man auch zunächst eine Seite mit der 2. Technikvariante und viel Druck palpieren. Dazu steht der Therapeut eher seitlich und stabilisiert den Patienten am Becken von ventral. In anderen Fällen sind das Vorbeugen der Wirbelsäule und die Mitnahme der Ossa ilii (wie bei einem Vorlauftest) eine Hilfe. Hierdurch werden die Spinae manchmal deutlicher.

9.7.4 Os sacrum – Proc. spinosus S 2 Die Verbindungslinie zwischen beiden SIPS ermöglicht die sichere Lokalisation des Proc. spinosus S 2 (▶ Abb. 9.57). Von hier aus kann man den lumbosakralen Übergang sowie die weiteren sakralen Procc. spinosi sicher erreichen. McGaugh konnte darstellen, dass die Höhenzuordnung der Verbindungslinie zum Proc. spinosus von S 2 in 81 % zutreffend ist (McGaugh et al. 2007). Insofern ist dieser Zugang zu Dornfortsatzreihe sicherer als die Jacoby-Linie, die der hohen Variationsanatomie der Darmbeine unterworfen ist.

Spina iliaca post. sup.

Zur exakten Darstellung lokalisiert man zunächst beide SIPS mit den Daumen. Die Mitte dieser Linie liegt über dem Proc. spinosus von S 2. Er ist recht groß und meist eindeutig als Rauigkeit auf dem Sakrum zu ertasten (▶ Abb. 9.58.

9.7.5 Os sacrum – Crista mediana sacralis Das Os sacrum hat auf seiner dorsalen Seite 3 verschiedene Leisten, Rudimente der sakralen Procc. spinosi und articulares. Ein Großteil der Rückfläche des Os sacrum ist allerdings derart stark mit ligamentären Strukturen bedeckt, dass lediglich die Crista sacralis mediana sicher palpabel ist. Allerdings ergeben sich auch hier erhebliche Varianten in der Ausprägung des auf das Niveau eines Tuberkulums reduzierten Proc. spinosus. ● Der Proc. spinosus S 1 ist völlig interindividuell ausgeprägt. Er kann als deutliche oder schwache Erhebung kranial von S 2 erspürt werden, er kann auch komplett fehlen. In der späteren Palpation wird der Proc. spinosus S 1 noch eine wichtige Rolle spielen. Zum einen ist das SIG in Höhe S 1 nach kranial begrenzt, zum anderen beginnt hier der Einstieg in die lumbale Palpation. ● Der Proc. spinosus S 5 fehlt konstant. Die Laminae des ursprünglichen Wirbels von S 5 sind nicht geschlossen und vereinigen sich daher dorsal auch zu keiner dem Proc. spinosus ähnlichen Struktur.

Technik Proc. spinosus S2

Abb. 9.57 Höhenzuordnung: beide SIPS – Proc. spinosus S 2.

Abb. 9.58 Aufsuchen von S 2.

260

Durch die Verbindung beider SIPS ermittelt man sicher den Proc. spinosus von S 2 (Kap. 9.7.4). Die weitere Palpation erfolgt durch kleine runde Bewegungen, bevorzugt mit der Zeigefinger- oder Mittelfingerbeere, direkt kranial bzw. kaudal von S 2. ● S 1: Der palpierende Finger wird nach kranial ausgerichtet (▶ Abb. 9.59). Ist der Proc. spinosus von S 1 palpabel, handelt es sich bei der nächsten nach kranial folgenden Struktur um den Proc. spinosus von L 5 (Kap. 10.7.2). ● S 3, S 4: Der palpierende Finger wird nach kaudal ausgerichtet (▶ Abb. 9.60). Auch diese Erhebungen der Crista sacralis mediana sind interindividuell unterschiedlich ausgeprägt. Als Variante bilden sie beispielsweise lediglich eine größere Struktur. Das Niveau von S 5 ist dann wieder sicher zu lokalisieren.

9.7 Lokale Palpationstechniken

Abb. 9.59 Aufsuchen von S 1.

Abb. 9.61 Palpation der Mm. multifidi unter Aktivität.

Abb. 9.60 Aufsuchen von S 3.

Abb. 9.62 Palpation des Hiatus sacralis.

9.7.6 Os sacrum – Insertionen der Mm. multifidi Fasern der lumbalen Mm. multifidi inserieren auf der Rückfläche des Os sacrum direkt neben der Mittellinie. Ihre kollagenen Fasern gehen in die rückwärtigen Ligamente ein, z. B. in das Lig. sacroiliacale dorsale longum. Die Mm. multifidi wirken wie ein hydrodynamischer Verstärker der Fascia thoracolumbalis. Durch die Verdickung während der Kontraktion straffen sie die Faszie von innen heraus, gerade so als pumpe man einen Fahrradschlauch auf und spanne dadurch den Mantel (persönliche Mitteilungen A. Vleeming).

9

9.7.7 Os sacrum – Hiatus sacralis Der palpierende Finger sucht die verschiedenen Erhebungen der Crista sacralis mediana auf. In Höhe von S 5 verändert sich das zu erwartende Gefühl der Palpation der unregelmäßigen Erhöhungen. Man spürt eine kleine Fläche.

Technik Hier benutzt man vorzugsweise die Mittelfingerbeere. Sie rutscht von S 4 nach kaudal ausgerichtet auf ein kleines flaches Plateau (▶ Abb. 9.62). Hier handelt es sich um den mit einer Membran verschlossenen Hiatus sacralis. Er repräsentiert das Niveau von S 5.

Technik Man legt mehrere palpierende Fingerbeeren direkt neben die Mittellinie auf die Sakrumfläche und lässt den Patienten eine kleine verstärkte Lordose ausüben (▶ Abb. 9.61). Unter Aktivität wird die Konsistenz des palpierten Gewebes deutlich fester.

261

Dorsales Becken

Tipp Zur Bestätigung der richtigen Lokalisation gibt es 2 verschiedene Möglichkeiten: ● Mit etwas Druck nach ventral spürt man keinen harten knöchernen Widerstand, sondern ein elastisches Nachgeben der abdeckenden Membran (▶ Abb. 9.63). ● Wenn die Fingerbeere zu beiden Seiten geführt wird, stößt sie gegen knöcherne Erhebungen, die sich in der weiteren – und jetzt eher runden – Palpation als deutliche knöcherne Fortsätze darstellen (▶ Abb. 9.64). Dies sind die Cornua sacralia, die Rudimente der Laminae des Arcus vertebrae von S 5. Form und Größe variieren interindividuell. Auch bei dem gleichen Probanden können sie im Links-rechts-Vergleich unterschiedlich ausgeprägt sein. Eine genaue Abgrenzung des Sakrums nach kaudal lässt sich hier nicht ermitteln, da den sakralen Kornua auch Erhebungen des Os coccygeus gegenüberstehen. Die Kornua werden im weiteren Verlauf der gezielten Beckenpalpation noch einmal aufgesucht.

262

9.7.8 Os sacrum – Übergang zum Os coccygeum Im direkten Anschluss an den Hiatus nach kaudal befindet sich die Apex ossis sacri mit dem beweglichen Übergang zum Os coccygeus.

Technik Direkt kaudal des Hiatus sacralis rutscht die steil gestellte Fingerbeere in eine quere Rinne, die die Lage der Verbindung zum Os coccygeus darstellt. Die weitere Differenzierung zwischen dem Kreuz- und Steißbein erfolgt über die Konsistenzprüfung. Durch direkten Druck auf das Os sacrum (am sichersten in Höhe von S 4) erhält man einen recht harten Widerstand (▶ Abb. 9.65). Kaudal des Gelenkes antwortet das Steißbein mit mehr Elastizität (▶ Abb. 9.66).

Abb. 9.63 Druck auf die Membran.

Abb. 9.65 Konsistenzprüfung auf S 4.

Abb. 9.64 Aufsuchen eines Cornu sacrale.

Abb. 9.66 Konsistenzprüfung des Os coccygeus.

9.7 Lokale Palpationstechniken

Hinweis zur Pathologie Bei Personen, die infolge eines Sturzes eine Stauchung des Os coccygeus erlitten haben, können hier unter lokaler Palpation noch Schmerzen vorhanden sein. Dabei handelt es sich um eine Überdehnung der ligamentären Verbindungen, welche das Gelenk stabilisieren. Diese Ligamente (Ligg. sacrococcygeum lateralia) entspringen an den kaudalen Aspekten der Kornua und können dort mit lokalen Querfriktionen schmerzlindernd behandelt werden.

9.7.9 Os sacrum – Sakrumpole In Höhe der Cornua sacralia liegen die Anguli inferiorlaterales des Sakrums, auch „Sakrumpole“ genannt. Der Abstand zwischen beiden zeigt die Breite des Sakrums im kaudalen Bereich an. Daher ist das Sakrum nicht dreieckig, sondern ähnelt eher der Form eines Trapezes. Die Sakrumpole lassen sich über 3 verschiedene Techniken erreichen.

Abb. 9.67 Aufsuchen der Sakrumpole – 1. Technikvariante.

Technik – 1. Variante Die Beere des Mittelfingers ertastet erneut die Membran des Hiatus sacralis. Ring- und Zeigefinger werden leicht abgespreizt auf der Oberfläche gelegt. Unter diesen Fingerbeeren liegen die Sakrumpole (▶ Abb. 9.67). Diese Variante dient vor allem der schnellen Orientierung.

Technik – 2. Variante Von der Apex sacri ausgehend wird der untere Rand des Sakrums nach lateral verfolgt. Die Pole befinden sich an der Stelle, an der die Palpation einen Richtungswechsel nach kranial und lateral beschreibt (▶ Abb. 9.68).

9

Abb. 9.68 Aufsuchen der Sakrumpole – 2. Technikvariante.

Technik – 3. Variante Man benutzt die Technik zur Schnellorientierung am Os sacrum, um die Sakrumränder zu ermitteln. Diese Technik, mit Fingerbeeren oder ulnarer Handkante ausgeführt, wird nach kaudal fortgesetzt, bis der Sakrumrand eine deutliche Richtungsänderung nach medial beschreibt (▶ Abb. 9.69).

Tipp Die genaue palpatorische Lokalisation der inferior-lateralen Pole, wie in der Beschreibung der 2. bzw. 3. Technikvariante aufgeführt, wird durch das Vorhandensein starker kollagener Strukturen ernorm erschwert. Daher müssen die jeweiligen Sakrumränder mit recht viel Druck palpatorisch verfolgt werden. Das Prüfen der Konsistenz der ertasteten Strukturen ist ebenfalls sehr wichtig. Die benachbarten Ligamente sind auf direkten Druck sehr fest, aber dennoch etwas elastisch.

Abb. 9.69 Aufsuchen der Sakrumpole – 3. Technikvariante.

263

Dorsales Becken

9.7.10 Lig. sacrotuberale Eine der kräftigsten kollagenen Strukturen des Bewegungsapparates verbindet jeweils einen Sakrumrand – vor allem in Höhe des Sakrumpols – mit dem Tuber ischiadicum: das Lig. sacrotuberale.

Technik Beide maßgeblichen knöchernen Strukturen, Sakrumpol und Tuber ischiadicum, wurden bereits lokalisiert (▶ Abb. 9.70). Das Ligament erscheint zwischen beiden knöchernen Referenzpunkten in der queren Palpation mit Daumen oder beschwertem Zeigefinger als nahezu daumendicke Struktur. Auf direkten Druck antwortet sie mit einem sehr festen, aber noch elastischen Widerstand (▶ Abb. 9.71). Da das Ligament zu den wichtigsten Nutationsbremsen gehört, ist es in Bauchlage nicht völlig unter Spannung und gibt daher auch bei direktem Druck noch etwas elastisch nach.

Abb. 9.70 Lig. sacrotuberale – Lokalisieren der Fixpunkte.

9.7.11 Lig. sacroiliacale dorsale longum Ein weiteres Ligament des sakroiliakalen Bandapparates lässt sich direkt erreichen und zu diagnostischen Zwecken heranziehen. Das Lig. sacroiliacale dorsale longum verbindet die SIPS mit dem jeweiligen Sakrumrand. Es ist etwa 3 cm lang, nahezu fingerbreit und strahlt in das Lig. sacrotuberale ein. Es ist das einzige Band, das die Gegennutation bremst. Aus den vorangehenden Anmerkungen wurde deutlich, dass es zum Insertionsbereich der Mm. multifidi zählt. Das Band lässt sich direkt kaudal der SIPS mit einer queren Palpation erreichen und wird als rundliche Struktur spürbar (▶ Abb. 9.72 und ▶ Abb. 9.73). Im weiteren Verlauf (nach ca. 2 cm) zum Sakrumrand ist die Struktur nur noch undeutlich palpabel.

Abb. 9.72 Lig. sacroiliacale dorsale longum, ASTE.

Abb. 9.71 Lig. sacrotuberale – direkte Palpation.

Abb. 9.73 Lig. sacroiliacale dorsale longum, Endstellung.

264

9.8 Orientierende Projektionen Ist die quere Palpation des Ligaments direkt kaudal der SIPS schmerzhaft, so ist dies nach Vleeming et al. (2002) ein palpatorischer Befund, der eine bestehende sakroiliakale Pathologie anzeigt.

Tipp Da die Palpation mit recht hohem Druck durchgeführt werden muss, kann diese Technik für den Probanden etwas unangenehm sein. Dies wird aber meist ohne Weiteres toleriert, da man keine wirklich empfindlichen Strukturen, wie z. B. Gefäße oder Nerven, gefährden kann.

9.8 Orientierende Projektionen Einige Strukturen des dorsalen Beckens lassen sich nicht oder nur mit weiteren Hilfestellungen ertasten. Daher benötigt man Projektionen und Hilfslinien, die man zur weiteren Orientierung auf die Oberfläche der Haut einzeichnet. Zunächst wird eine Orientierungslinie zwischen einer SIPS und einer Cornu sacralis eingezeichnet. Sie ist die Basis für alle weiteren Projektionen und Palpationen.

9.8.1 Spina iliaca posterior inferior Die Verbindungslinie wird halbiert. Hierzu wird eine 2 cm lange Linie rechtwinklig eingezeichnet. Das Ende dieser zweiten Linie ist der Startpunkt einer lokalen Palpation der Spina iliaca posterior inferior (SIPI).

9.8.2 Projektion des Sakroiliakalgelenkes Nun kann man eine Darstellung der genauen Lage des Gelenkes auf der Oberfläche vornehmen, um sich seine räumliche Ausdehnung und Größe besser vorstellen zu können. In der Projektion von dorsal liegt der Gelenkspalt ca. 2 cm lateral und parallel zur Verbindungslinie SIPS – Cornu sacrale (▶ Abb. 9.75).

Technik – Projektion Technik Ein (möglicherweise auch beschwerter) Daumen wird an diesem Punkt mit reichlich Druck nach ventral aufgesetzt. Anschließend versucht man, den Daumen in kranialer Richtung zu führen und spürt direkt einen harten knöchernen Widerstand. An dieser Stelle hakt man die SIPI von kaudal an (▶ Abb. 9.74). Diese Spina befindet sich konstant in der Höhe des Proc. spinosus von S 3 und stellt die kaudale Begrenzung des sakroiliakalen Gelenkes dar. Am Präparat lässt sich nachvollziehen, dass die Gelenkfläche tatsächlich an dieser Stelle nur ca. 1 cm von der Palpation entfernt ist, während nach Rana und Kollegen (2015) die Entfernung von der SIPS zum SI-Gelenk schon ca. 4,4 cm beträgt.











Falls erforderlich, wird zunächst wieder eine Verbindungslinie eingezeichnet. Die SIPI wird aufgesucht und der Proc. spinosus S 3 in der sakralen Mittellinie lokalisiert. Der Proc. spinosus S 1 wird palpatorisch ermittelt. Falls notwendig, kann die Höhe des Proc. spinosus S 2 durch die Verbindung beider SIPS bestätigt werden. Eine Linie wird parallel zur Verbindungslinie mit einem Abstand von ca. 2 cm nach lateral aufgezeichnet. Die Niveaus von S 3 und S 1 werden auf diese Parallele übertragen.

9

Processus spinosus S 1

Projektion des SIG

Processus spinosus S 3

Abb. 9.74 Palpation der Spina iliaca posterior inferior (SIPI).

Abb. 9.75 Lage des Sakroiliakalgelenkes (SIG) in der dorsalen Ansicht.

265

9.8 Orientierende Projektionen Ist die quere Palpation des Ligaments direkt kaudal der SIPS schmerzhaft, so ist dies nach Vleeming et al. (2002) ein palpatorischer Befund, der eine bestehende sakroiliakale Pathologie anzeigt.

Tipp Da die Palpation mit recht hohem Druck durchgeführt werden muss, kann diese Technik für den Probanden etwas unangenehm sein. Dies wird aber meist ohne Weiteres toleriert, da man keine wirklich empfindlichen Strukturen, wie z. B. Gefäße oder Nerven, gefährden kann.

9.8 Orientierende Projektionen Einige Strukturen des dorsalen Beckens lassen sich nicht oder nur mit weiteren Hilfestellungen ertasten. Daher benötigt man Projektionen und Hilfslinien, die man zur weiteren Orientierung auf die Oberfläche der Haut einzeichnet. Zunächst wird eine Orientierungslinie zwischen einer SIPS und einer Cornu sacralis eingezeichnet. Sie ist die Basis für alle weiteren Projektionen und Palpationen.

9.8.1 Spina iliaca posterior inferior Die Verbindungslinie wird halbiert. Hierzu wird eine 2 cm lange Linie rechtwinklig eingezeichnet. Das Ende dieser zweiten Linie ist der Startpunkt einer lokalen Palpation der Spina iliaca posterior inferior (SIPI).

9.8.2 Projektion des Sakroiliakalgelenkes Nun kann man eine Darstellung der genauen Lage des Gelenkes auf der Oberfläche vornehmen, um sich seine räumliche Ausdehnung und Größe besser vorstellen zu können. In der Projektion von dorsal liegt der Gelenkspalt ca. 2 cm lateral und parallel zur Verbindungslinie SIPS – Cornu sacrale (▶ Abb. 9.75).

Technik – Projektion Technik Ein (möglicherweise auch beschwerter) Daumen wird an diesem Punkt mit reichlich Druck nach ventral aufgesetzt. Anschließend versucht man, den Daumen in kranialer Richtung zu führen und spürt direkt einen harten knöchernen Widerstand. An dieser Stelle hakt man die SIPI von kaudal an (▶ Abb. 9.74). Diese Spina befindet sich konstant in der Höhe des Proc. spinosus von S 3 und stellt die kaudale Begrenzung des sakroiliakalen Gelenkes dar. Am Präparat lässt sich nachvollziehen, dass die Gelenkfläche tatsächlich an dieser Stelle nur ca. 1 cm von der Palpation entfernt ist, während nach Rana und Kollegen (2015) die Entfernung von der SIPS zum SI-Gelenk schon ca. 4,4 cm beträgt.











Falls erforderlich, wird zunächst wieder eine Verbindungslinie eingezeichnet. Die SIPI wird aufgesucht und der Proc. spinosus S 3 in der sakralen Mittellinie lokalisiert. Der Proc. spinosus S 1 wird palpatorisch ermittelt. Falls notwendig, kann die Höhe des Proc. spinosus S 2 durch die Verbindung beider SIPS bestätigt werden. Eine Linie wird parallel zur Verbindungslinie mit einem Abstand von ca. 2 cm nach lateral aufgezeichnet. Die Niveaus von S 3 und S 1 werden auf diese Parallele übertragen.

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Processus spinosus S 1

Projektion des SIG

Processus spinosus S 3

Abb. 9.74 Palpation der Spina iliaca posterior inferior (SIPI).

Abb. 9.75 Lage des Sakroiliakalgelenkes (SIG) in der dorsalen Ansicht.

265

Dorsales Becken

1/3 1/3 1/3

M. piriformis

N. ischiadicus

Abb. 9.76 Projektion des SIG auf der Haut.

Abb. 9.77 Lage des M. piriformis.

Somit ergibt sich Lage, Ausrichtung und Höhenzuordnung des SI-Gelenkes in der Projektion von dorsal (▶ Abb. 9.76). Jetzt wird auch deutlich, dass der Rand des Os sacrum lediglich zwischen den inferior-lateralen Polen in Höhe S 5 bis zur SIPI (Höhe S 3) zu tasten ist. Kranial davon befindet sich das SIG, das einer direkten Palpation nicht zugänglich ist.

9.8.3 M. piriformis Diesem Muskel wird eine erhebliche Bedeutung im Rahmen verschiedener Pathologien nachgesagt. Die Prüfung seiner Konsistenz hat eine Art Monitorfunktion. Seine Lokalisation könnte also in der Befundung bzw. Behandlung von Beschwerdebildern der LBH-Region von Bedeutung sein. Der Muskel wird in 2 Schritten aufgesucht. Zunächst wird seine Lage auf die Oberfläche projiziert, später erfolgt dann eine palpatorische Prüfung der Konsistenz (▶ Abb. 9.77).

Technik – Projektion ●









266

Verdeutlichung des Verlaufs des Muskels beginnt an der Verbindungslinie SIPS – Cornu sacralis. Diese Linie wird nun gedrittelt. Als weiteren knöchernen Referenzpunkt wird die kraniale Spitze des Trochanter major benötigt. Diese Lokalisation wurde bereits zuvor beschrieben (Kap. Trochanter major). Von dem kaudalen Aspekt der SIPS wird eine Linie zur Trochanterspitze gezogen. Diese Linie stellt die kraniale Begrenzung im Verlauf des M. piriformis dar. Der Übergang – mittleres Drittel zum kaudalen Drittel der unterteilten Verbindungslinie – wird ebenfalls mit der Trochanterspitze verbunden. Diese Linie zeigt die kaudale Begrenzung im Verlauf des gesuchten Muskels. Als Ergebnis erhält man ein schlankes Dreieck mit medialer Basis und lateraler Spitze (▶ Abb. 9.78).

Abb. 9.78 Projektion des M. piriformis – Muskelbauch.

Technik – Palpation Nach dieser Projektion kann der Muskelbauch auch direkt palpiert werden. Auf die Mitte des Dreiecks werden 2–3 beschwerte Finger aufgelegt. Mit den Fingerbeeren voran wird mit einem deutlichen Druck eine rundliche Struktur gesucht, deren Konsistenz etwas fester als die direkte Umgebung ist.

Tipp Etwa 2–3 cm lateral der Verbindungslinie SIPS – Cornu liegt der Rand des Sakrums. Direkt lateral hiervon muss der noch ca. 4 cm lange Muskelbauch gesucht werden. Das entspricht meistens der Mitte des Dreiecks. Weiter nach lateral geht der Muskel in eine Insertionssehne über, die sich leider nicht palpieren lässt.

9.8 Orientierende Projektionen

Hinweis zur Pathologie

Projektion – Austritt aus dem Becken

Nicht selten zeigt dieser Muskel bei lumbalen, sakroiliakalen bzw. koxofemoralen Beschwerden eine pathologisch erhöhte Konsistenz und Druckdolenz. Von einem Piriformis-Syndrom spricht man, wenn durch einen dauerhaften Hypertonus der N. ischiadicus irritiert wird. Diese Diagnose stützt sich scheinbar auf die Entdeckung von Triggerpunkten in diesem Muskel. Mercer et al. (2004) haben in einer Literaturübersicht sehr viele verschiedene Empfehlungen zur Palpation dieser empfindlichen Muskelpunkte ermittelt und in einer Studie Lokalisation und Form des M. piriformis an 10 Leichen untersucht. Die in der Literatur empfohlenen Vorgehensweisen der Palpation wurden benutzt, um den M. piriformis zu lokalisieren. Nur 2 Methoden waren zuverlässig. Sie setzten den Unterrand des Muskelbauchs in Relation zur Spitze des Os coccygeus und stellten fest, dass diese Distanz um bis zu 2 cm variierte.

Die Stelle, an welcher der N. ischiadicus unter dem M. piriformis, den er über einige Zentimeter begleitet, hervortritt, lässt sich anhand der bestehenden Linien sehr gut beschreiben. Die Verbindungslinie, welche die kaudale Begrenzung im Verlauf des M. piriformis zeigt, wird gedrittelt. Am Übergang zwischen medialem und mittlerem Drittel tritt der Nerv unter dem Muskel hervor und damit auch aus dem Becken nach dorsal heraus (▶ Abb. 9.80).

9.8.4 Nn. ischiadicus und glutei Lage und weiterer Verlauf des wohl dicksten peripheren Nervs (N. ischiadicus; ▶ Abb. 9.79) lassen sich ebenfalls recht sicher auf die Oberfläche projizieren. Eine direkte Palpation führt die palpierenden Finger auch auf den Nerv, den man als solchen nicht spürt. Da er in Bauchlage zu sehr entspannt ist und leicht gewellt im Gewebe liegt, gibt er unter der direkten Palpation etwas nach und ist als eigenständige Struktur nicht zu identifizieren. Üblicherweise kann er einen direkten und recht festen Druck gut vertragen. Nur bei echter Neuritis ist die Palpation schmerzhaft.

Technik – Palpation Die genaue Lokalisation lässt sich palpatorisch sicher bestätigen. Hierzu bringt man den beschwerten Daumen oder einen anderen beschwerten Finger mit mäßigem Druck nach ventral in das Gewebe ein. Die richtige Stelle ist gefunden, wenn man während dieser Technik zusätzlich nach kranial drückt und von einer fest-elastischen Struktur gebremst wird. Dies ist der Bauch des M. piriformis. Wird unter ventralem Druck zusätzlich eine Bewegung nach medial eingebracht, stößt der palpierende Finger gegen den harten Rand des Os sacrum (▶ Abb. 9.81). Die so gesicherte Palpation markiert das Foramen infrapiriforme. An dieser Stelle tritt auch der N. gluteus

9

Abb. 9.80 Projektion des Austritts des N. ischiadicus. N. gluteus superior 1/3 1/3 1/3

1/3 1/3 1/3

M. piriformis

N. gluteus inferior N. ischiadicus

Abb. 9.79 Lage wichtiger peripherer Nerven im Glutealbereich.

Abb. 9.81 Palpation des Austritts des N. ischiadicus.

267

Dorsales Becken inferior – motorischer Versorger des M. gluteus maximus – an die Oberfläche. Als weitere neurale Struktur verläuft hier ebenfalls der N. cutaneus femoris posterior, dessen Rami teilweise dorsal, teilweise inferior des Tuber ischiadicum nach medial ziehen.

Projektion – weiterer Verlauf am Becken Der weitere Verlauf des N. ischiadicus am dorsalen Becken lässt sich mittels zweier weiterer knöcherner Referenzpunkte ermitteln (▶ Abb. 9.82). Mit einer lokalen Palpation wird die orientierende Projektion des Verlaufs bestätigt. Die benötigten Referenzpunke wurden bereits aufgesucht: ● Tuber ischiadicum ● Trochanter major Eine weitere Verbindungslinie zwischen der Spitze des Tuber ischiadicum und der Spitze des Trochanter major wird erstellt und halbiert. Die so hergestellte Mitte dieser Linie wird mit der bereits vorher gefundenen Austrittsstelle des N. ischiadicus unter dem M. piriformis verbunden. So lässt sich der Verlauf dieser ca. daumenbreiten neuralen Struktur auf die Haut projizieren (▶ Abb. 9.83).

1/3 1/2

N. ischiadicus

Projektion – weiterer Verlauf am Oberschenkel Den weiteren Verlauf des Nervs stellt man sich von der Mitte der Linie Tuber–Trochanter am posterioren Oberschenkel zur Mitte der Kniekehle absteigend vor. Auf der Hälfte der Linie kann man einen Finger mit recht kräftigem Druck in die Tiefe eindringen lassen. Man drückt direkt auf den Nerven. Von hier aus schiebt man den Finger nach medial und erhält eine direkte knöcherne Rückantwort vom Tuber ischiadicum (▶ Abb. 9.84). An anatomischen Präparaten sieht man den Verlauf des N. ischiadicus direkt lateral am Tuber. Mit zunehmendem Alter formt der Nerv sogar eine Rinne in die seitliche Fläche des Tubers. Bekannterweise teilt er sich etwa eine Handbreit proximal der Kniekehle in seine 2 Bestandteile auf. In der Fossa poplitea lassen sich der N. tibialis und der N. peroneus communis genau ertasten (Kap. 6.7.2). Die recht enge Passage des Nervs zwischen Tuber und Trochanter wurde zuvor genauer beschrieben (Kap. 9.2).

Projektion – N. gluteus superior Die Innervation der kleinen Glutealmuskulatur erfolgt über den superioren Glutealnerven. Dieser tritt an vergleichbarer Stelle wie die vorangegangenen neuralen Strukturen aus dem Becken nach dorsal hervor und lässt sich auch in der richtigen Lokalisation in gleicher Weise palpatorisch bestätigen (▶ Abb. 9.85). Hierzu wird die obere Linie, die den M. piriformis nach kranial abschließt, gedrittelt. Ebenfalls im Übergang vom medialen zum mittleren Drittel befindet sich die gesuchte Austrittsstelle. Mit Druck nach ventral und einer Bewegung nach kaudal gegen den Bauch des M. piriformis sowie einer Bewegung nach medial gegen den harten Sakrumrand lässt sich diese Stelle verifizieren. Sie markiert das Foramen suprapiriforme.

Abb. 9.82 Verlauf des N. ischiadicus am Becken.

Abb. 9.83 Projektion des Verlaufs des N. ischiadicus.

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Abb. 9.84 Palpation des N. ischiadicus am Tuber ischiadicum.

9.10 Literatur

N. gluteus superior 1/3 1/3 1/3

1/3 1/3 1/3

M. piriformis

N. gluteus inferior N. ischiadicus

Abb. 9.85 Austrittstelle des N. gluteus superior am Becken.

9.9 Hinweise zur Behandlung Die sakroiliakale Mobilisation benötigt große manuelle Kraft und damit möglichst große knöcherne Hebel am Becken. Bereits über die schnelle knöcherne Orientierung können die nötigen Referenzstrukturen sicher erkannt werden, z. B. die Crista iliaca, das Tuber ischiadicum und der Sakrumrand. Einige Bandstrukturen können auch bei Reizung Schmerzen am Os sacrum verursachen. Das Lig. sacroiliacale dorsale longum zeigt funktionelle Störungen eines sakroiliakalen Gelenkes an. Nach einem Sturz auf das Gesäß sind die überdehnten ligamentären Verbindungen zum Os coccygeus eine häufige Schmerzquelle. Lokale Weichteilschmerzen sind schwer zu diagnostizieren. Zunächst muss erkannt werden, dass es sich nicht um in die Beckenregion fortgeleiteten oder projizierten Schmerz handelt. Hierauf folgt der Versuch der Lokalisation und Identifikation des betroffenen Gewebes. Bursitiden, peritrochantäre Insertionsbeschwerden, Verhärtungen des M. piriformis oder gar ein Piriformis-Syndrom können als Beispiele für lokale Schmerzgeneratoren genannt werden. Eine sichere Tasttechnik identifiziert recht gut die betroffene Struktur und ergänzt somit sinnvoll die Ergebnisse der Funktionsprüfung.

Tipp Im Buch Massage-Therapie (Reichert 2015) werden Funktionsmassagen des M. piriformis ausführlich beschrieben und bebildert.

9.10 Literatur Brooke R. The sacro-iliac joint. J Anat Physiol 1924; 58: 299–305 Chakraverty R, Pynsent P, Isaacs K. Which spinal levels are identified by palpation of the iliac crests and the posterior superior iliac spines? J Anat 2007; 210: 232–236 Dvořák J. Manuelle Medizin. Bd. 1, Diagnostik. Berlin: Springer; 1998 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie, Rücken. Berlin: Springer; 2004 Laslett M. Evidence-based diagnosis and treatment of the painful sacroiliac joint. J Man Manip Ther 2008; 16: 142–152 McGaugh JM, Brismée JM, Dedrick GS et al. Comparing the anatomical consistency of the posterior superior iliac spine to the iliac crest as reference landmarks for the lumbopelvic spine: a retrospective radiological study. Clin Anat 2007; 20: 819–825 Mercer SR, Cullen B, Lau P et al. Anatomy in Practice: Palpation of Piriformis. Abstract Booklet. Australian Association of Anatomy and Clinical Anatomy. Department of Anatomy and Cell Biology. University of Melbourne; 2004 Netter FH. Atlas of Human Anatomy; 3rd Ed. Teterboro, New Jersey: Icon Learning Systems; 2004 Pool-Goudzwaard AL, Kleinrensink GJ, Snijders CJ et al. The sacroiliac part of the iliolumbar ligament. J Anat 2001; 199: 457–463 Puranen J, Orava S. The hamstring syndrome. A new diagnosis of gluteal sciatic pain. Am J Sports Med 1988; 16: 517–21 Pysyk CL, Persaud D, Bryson GL, Lui A. Ultrasound assessment of the vertebral level of the palpated intercristal (Tuffier’s) line. Can J Anaesth 2010; 57: 46e9 Rana SH, Farjoodi P, Haloman S et al. Anatomic Evaluation of the Sacroiliac Joint: A Radiographic Study with Implications for Procedures. Pain Physician 2015; 18: 583–592 Rauber A., Kopsch F. Anatomie des Menschen. Bd. I: Bewegungsapparat. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2003 Reichert B. Massage-Therapie. Stuttgart: Thieme; 2015 Sashin D. A critical analysis of the anatomy and the pathological changes of the sacroiliac joints. J Bone Joint Surg Am 1930; 12: 891–910 Stewart TD. Pathologic changes in aging sacroiliac joints. A study of dissection room skeletons. Clin Orthop Rel Res 1984; 183: 188–196 Travell JG, Simons DG. Handbuch der Muskel-Triggerpunkte. Obere Extremität, Kopf und Thorax. Stuttgart: Fischer; 1998 Vleeming A, Dorman TA. Self-Locking of the Sacroiliac Articulation. Spine 1995; 9: 407–318 Vleeming A. The Function of the Long Dorsal Sacroiliac Ligament: Its Implication for Understanding Low Back Pain. Spine 1996; 21: 556–562 Vleeming A, de Vries HJ, Mens JM et al. Possible role of the long dorsal sacroiliac ligament in women with peripartum pelvic pain. Acta Obstet Gynecol Scand 2002; 81: 430–436 Vleeming A, Albert HB, Östgaard HC et al. Evidenz für die Diagnose und Therapie von Beckengürtelschmerz – Europäische Leitlinien. physioscience 2006; 2: 48–58 Vleeming A, Schuenke MD, Masi AT et al. The sacroiliac joint: an overview of its anatomy, function and potential clinical implications. J Anat 2012; 221: 537–567 Winkel D et al. Das Sakroiliacalgelenk. Stuttgart: Fischer; 1992 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in Vivo. 3. Aufl. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2004

9

Beckenbodenübungen basieren vielfach auf Wahrnehmung. Ein taktiles Feedback am Beckenboden direkt medial der Tubera ischiadica hilft dem Patienten dabei, schneller ein Empfinden für Willküraktivität zu entwickeln.

269

9.10 Literatur

N. gluteus superior 1/3 1/3 1/3

1/3 1/3 1/3

M. piriformis

N. gluteus inferior N. ischiadicus

Abb. 9.85 Austrittstelle des N. gluteus superior am Becken.

9.9 Hinweise zur Behandlung Die sakroiliakale Mobilisation benötigt große manuelle Kraft und damit möglichst große knöcherne Hebel am Becken. Bereits über die schnelle knöcherne Orientierung können die nötigen Referenzstrukturen sicher erkannt werden, z. B. die Crista iliaca, das Tuber ischiadicum und der Sakrumrand. Einige Bandstrukturen können auch bei Reizung Schmerzen am Os sacrum verursachen. Das Lig. sacroiliacale dorsale longum zeigt funktionelle Störungen eines sakroiliakalen Gelenkes an. Nach einem Sturz auf das Gesäß sind die überdehnten ligamentären Verbindungen zum Os coccygeus eine häufige Schmerzquelle. Lokale Weichteilschmerzen sind schwer zu diagnostizieren. Zunächst muss erkannt werden, dass es sich nicht um in die Beckenregion fortgeleiteten oder projizierten Schmerz handelt. Hierauf folgt der Versuch der Lokalisation und Identifikation des betroffenen Gewebes. Bursitiden, peritrochantäre Insertionsbeschwerden, Verhärtungen des M. piriformis oder gar ein Piriformis-Syndrom können als Beispiele für lokale Schmerzgeneratoren genannt werden. Eine sichere Tasttechnik identifiziert recht gut die betroffene Struktur und ergänzt somit sinnvoll die Ergebnisse der Funktionsprüfung.

Tipp Im Buch Massage-Therapie (Reichert 2015) werden Funktionsmassagen des M. piriformis ausführlich beschrieben und bebildert.

9.10 Literatur Brooke R. The sacro-iliac joint. J Anat Physiol 1924; 58: 299–305 Chakraverty R, Pynsent P, Isaacs K. Which spinal levels are identified by palpation of the iliac crests and the posterior superior iliac spines? J Anat 2007; 210: 232–236 Dvořák J. Manuelle Medizin. Bd. 1, Diagnostik. Berlin: Springer; 1998 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie, Rücken. Berlin: Springer; 2004 Laslett M. Evidence-based diagnosis and treatment of the painful sacroiliac joint. J Man Manip Ther 2008; 16: 142–152 McGaugh JM, Brismée JM, Dedrick GS et al. Comparing the anatomical consistency of the posterior superior iliac spine to the iliac crest as reference landmarks for the lumbopelvic spine: a retrospective radiological study. Clin Anat 2007; 20: 819–825 Mercer SR, Cullen B, Lau P et al. Anatomy in Practice: Palpation of Piriformis. Abstract Booklet. Australian Association of Anatomy and Clinical Anatomy. Department of Anatomy and Cell Biology. University of Melbourne; 2004 Netter FH. Atlas of Human Anatomy; 3rd Ed. Teterboro, New Jersey: Icon Learning Systems; 2004 Pool-Goudzwaard AL, Kleinrensink GJ, Snijders CJ et al. The sacroiliac part of the iliolumbar ligament. J Anat 2001; 199: 457–463 Puranen J, Orava S. The hamstring syndrome. A new diagnosis of gluteal sciatic pain. Am J Sports Med 1988; 16: 517–21 Pysyk CL, Persaud D, Bryson GL, Lui A. Ultrasound assessment of the vertebral level of the palpated intercristal (Tuffier’s) line. Can J Anaesth 2010; 57: 46e9 Rana SH, Farjoodi P, Haloman S et al. Anatomic Evaluation of the Sacroiliac Joint: A Radiographic Study with Implications for Procedures. Pain Physician 2015; 18: 583–592 Rauber A., Kopsch F. Anatomie des Menschen. Bd. I: Bewegungsapparat. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2003 Reichert B. Massage-Therapie. Stuttgart: Thieme; 2015 Sashin D. A critical analysis of the anatomy and the pathological changes of the sacroiliac joints. J Bone Joint Surg Am 1930; 12: 891–910 Stewart TD. Pathologic changes in aging sacroiliac joints. A study of dissection room skeletons. Clin Orthop Rel Res 1984; 183: 188–196 Travell JG, Simons DG. Handbuch der Muskel-Triggerpunkte. Obere Extremität, Kopf und Thorax. Stuttgart: Fischer; 1998 Vleeming A, Dorman TA. Self-Locking of the Sacroiliac Articulation. Spine 1995; 9: 407–318 Vleeming A. The Function of the Long Dorsal Sacroiliac Ligament: Its Implication for Understanding Low Back Pain. Spine 1996; 21: 556–562 Vleeming A, de Vries HJ, Mens JM et al. Possible role of the long dorsal sacroiliac ligament in women with peripartum pelvic pain. Acta Obstet Gynecol Scand 2002; 81: 430–436 Vleeming A, Albert HB, Östgaard HC et al. Evidenz für die Diagnose und Therapie von Beckengürtelschmerz – Europäische Leitlinien. physioscience 2006; 2: 48–58 Vleeming A, Schuenke MD, Masi AT et al. The sacroiliac joint: an overview of its anatomy, function and potential clinical implications. J Anat 2012; 221: 537–567 Winkel D et al. Das Sakroiliacalgelenk. Stuttgart: Fischer; 1992 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in Vivo. 3. Aufl. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2004

9

Beckenbodenübungen basieren vielfach auf Wahrnehmung. Ein taktiles Feedback am Beckenboden direkt medial der Tubera ischiadica hilft dem Patienten dabei, schneller ein Empfinden für Willküraktivität zu entwickeln.

269

10.1 Bedeutung und Aufgaben der Lendenwirbelsäule

10 Lendenwirbelsäule 10.1 Bedeutung und Aufgaben der Lendenwirbelsäule Die Lendenwirbelsäule (LWS) gehört zu den 2 Wirbelsäulenabschnitten, die ihre embryologisch angelegten Kurvaturen mit der frühkindlichen Entwicklung verändert haben. Es sind wohl die mobilen Abschnitte der Wirbelsäule (HWS und LWS), die eine Lordose entwickeln können. Die BWS und das Os sacrum behalten ihre ursprüngliche Kyphose. HWS und LWS sind auch diejenigen Abschnitte, die über eine tiefe prävertebrale Muskulatur verfügen (M. psoas major, M. longus colli und M. longus capitis).

10.1.1 Tragen der Körperlast Kinetisch betrachtet trägt die LWS die Last des Oberkörpers, des Kopfes und der Arme. Wie bereits beschrieben, werden ca. 60 % des Körpergewichts in aufrechter Körperhaltung von der LWS auf die Deckplatte von S 1 übertragen. Dieser Beanspruchung passt sich die LWS mit verbreitertem und massivem Material an Knochen, Kollagen und Faserknorpel an.

10.1.2 Räumliche Ausrichtung des Oberkörpers

Mitteilung). Bei einem plurisegmentalen System wie der Wirbelsäule wird zum Erhalt der Stabilität zunächst das Ausmaß an individuellem (segmentalem) Mobilitätspotenzial reduziert, damit sich das System harmonisch bewegen kann. Bei der Beugung des Oberkörpers nach vorne wird der Rückenstrecker bei etwa 60° Flexion inaktiv, weil dann ligamentäre Strukturen die abbremsende Arbeit übernehmen. Die wichtigste ligamentäre Struktur ist die Fascia thoracolumbalis (▶ Abb. 10.32).

10.1.4 Bewegen des Oberkörpers Die LWS bevorzugt Bewegungen in der Sagittalebene. Genauso natürlich wie die Entstehung einer lordotischen Form im Stand, ist das Verlassen dieser Form, um den Oberkörper nach hinten zu neigen bzw. nach vorne zu beugen. Die LWS ist anatomisch für Flexionsbewegungen ausgelegt und gerüstet. Ob sie dabei nun wirklich „flektiert“ oder nur „entlordosiert“, ist zunächst unerheblich. Die anatomischen Hilfestellungen für die sagittalen Bewegungen erhält die LWS durch: ● die Ausrichtung der lumbalen Wirbelgelenke oberhalb von L 5, die eine ausgiebige sagittale Bewegung ermöglichen (▶ Abb. 10.1) ● dicke Bandscheiben, die ausgiebige Kippbewegungen der lumbalen Segmente ermöglichen

Die lordotischen Abschnitte sind zur räumlichen Orientierung der von ihnen getragenen Körperteile bestimmt. Der Oberkörper wird von der LWS getragen, aufgerichtet und gewendet. Die HWS trägt und richtet den Kopf in Bezug zur Umgebung aus.

10

10.1.3 Bedeutung der Stabilität für das Stehen und Heben Die Stabilität der Wirbelsäule wird vor allem durch Bandscheiben sowie Ligamente und Muskeln im Sinne von Kompression und Zuggurtung gewährleistet. Der M. erector spinae ist im aufrechten Stand wenig aktiv, erhöht aber die Stabilität, wenn der Körperschwerpunkt nach vorne verlagert wird, z. B. durch: ● Vorneigen des Oberkörpers ● Flexion der HWS ● Anheben eines Armes Hier kommt es darauf an, der beweglichen Gliederkette durch vermehrten Kraftschluss mehr Stabilität zu geben, damit eine kontrollierte Bewegung möglich ist. Daher heißt es in der Bewegungswissenschaft: „Stiffness is a preconditon for movement“ (Vleeming 2006, persönliche

Abb. 10.1 Schematische Darstellung der Ausrichtung der lumbalen Zygapophysealgelenke (ZAG); vgl. dazu auch ▶ Abb. 10.9.

271

Lendenwirbelsäule ●



bremsende und energieaufnehmende Strukturen: Anulus fibrosus, Ligg. flava, Ligg. interspinalia, Fascia thoracolumbalis außerordentlich kräftige autochthone Muskeln des lateralen Trakts (M. iliocostalis, M. longissimus)

10.1.5 Energieentwicklung für das Laufen Nach Serge Gracovetsky (1989) kommt der Impuls zum Gehen aus der LWS, basierend auf den kinematischen Eigenschaften der LWS sowie der Aktivität der rotatorisch wirkenden Muskeln (Mm. multifidi und obliquii abdominis). Die Beine folgen nur als Verstärker. Beispiele aus der Evolution (Fisch, Amphibie) zeigen, wie wichtig die Seitneigung für die Fortbewegung ist. Beim Menschen überträgt die LWS mit Seitneigung und gekoppelter Rotation den Auslöser für Lokomotion auf Becken und Beine. Wichtig hierfür sind die lordotische Einstellung der LWS und eine gewisse Schrittgeschwindigkeit. Beim langsamen Laufen kommen Impuls und Energie nur aus den Beinen und kosten sehr viel Kraft.

10.1.6 Übergang zwischen rigider und beweglicher Wirbelsäule Der lumbosakrale Übergang ist ein anatomisch und pathologisch eher „unruhiger“ Bereich. Anatomische Varianten der Wirbelzahl (z. B. Hemisakralisation) sowie eine Vielzahl an Pathologien sind hier häufig. Vermutlich ist diese Besonderheit neben der typischen biomechanischen Beanspruchung auch auf den Umstand zurückzuführen, dass die LWS den Übergang von der frei beweglichen Wirbelsäule zum stabilen und recht rigiden Becken dabei vorrangig mit dem Kreuzbein gestalten muss. Anatomisch wird sie hier von verschiedenen Strukturen unterstützt: ● Stellung der Wirbelgelenke L 5–S 1 ● besonders verstärkte oder zusätzlich eingerichtete Ligamente (vorderes Längsband, iliolumbale Bänder) ● Fascia thoracolumbalis mit ihren verschiedenen kollagenen Schichten und muskulären Dynamisierungen

Bandscheibenmaterial (▶ Abb. 10.2), die im Allgemeinen ein recht großes Selbstheilungspotenzial besitzen. Das physiotherapeutische Management eines akuten Rückenschmerzes ist zunächst auf die Kontrolle der im Vordergrund stehenden Schmerzsituation sowie auf die Entlastung von beteiligten neuralen Strukturen ausgerichtet, um die Selbstheilung zu unterstützen. Nach dieser ersten Entzündungsphase von wenigen Tagen kann Einfluss auf übersteigerten Muskeltonus, Schonhaltung, Immobilisation, herabgesetzte Propriozeption sowie ggf. auch auf die Verlagerung von Bandscheibenmaterial selbst genommen werden. Die therapeutischen Behandlungsansätze richten sich immer an den gesamten Abschnitt der LWS. Gezielte Palpationstechniken kommen hierbei nur begrenzt zum Einsatz. Beispielsweise ist es allgemein nicht notwendig, durch palpatorische Provokation das betroffene Segment zu bestimmen oder die lokale Beweglichkeit zu überprüfen. In der Behandlung subakuter bandscheibenbedingter Beschwerden ist die Befundung des Spannungszustandes der paravertebralen Muskulatur hinsichtlich eines übertriebenen Muskelhartspannes von Bedeutung. Hieraus lassen sich ggf. sinnvolle Behandlungsansätze ableiten. Daher werden bei diesen Beschwerdebildern eine systematische muskuläre Palpation und Kenntnisse der Anatomie in vivo vom Therapeuten gefordert (Kap. 8.7.3). Ganz anders verhält es sich bei den sogenannten sekundär bandscheibenbedingten Pathologien. Hier wird häufig die Anatomie in vivo benötigt. Infolge degenerativer Veränderungen der lumbalen Disci entwickelt sich eine er-

Rückenmark

Nervenwurzel

Nucleus pulposus

Anulus fibrosus

10.2 Häufige therapeutische Anwendungen in dieser Region Die meisten lumbalen Beschwerden stehen in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Bandscheiben. Dabei sind bekanntermaßen sowohl die primären als auch die häufigsten sekundären bandscheibenbedingten Pathologien bevorzugt in den tieflumbalen Segmenten L 4–L 5 und L 5–S 1 beheimatet. Diese sogenannten primär bandscheibenbedingten Beschwerden reichen von internen Rupturen bis zu verschiedenen Formen der Vorwölbungen und Vorfällen von

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Wirbelkörper L1

Abb. 10.2 Diskusprolaps.

Lendenwirbelsäule ●



bremsende und energieaufnehmende Strukturen: Anulus fibrosus, Ligg. flava, Ligg. interspinalia, Fascia thoracolumbalis außerordentlich kräftige autochthone Muskeln des lateralen Trakts (M. iliocostalis, M. longissimus)

10.1.5 Energieentwicklung für das Laufen Nach Serge Gracovetsky (1989) kommt der Impuls zum Gehen aus der LWS, basierend auf den kinematischen Eigenschaften der LWS sowie der Aktivität der rotatorisch wirkenden Muskeln (Mm. multifidi und obliquii abdominis). Die Beine folgen nur als Verstärker. Beispiele aus der Evolution (Fisch, Amphibie) zeigen, wie wichtig die Seitneigung für die Fortbewegung ist. Beim Menschen überträgt die LWS mit Seitneigung und gekoppelter Rotation den Auslöser für Lokomotion auf Becken und Beine. Wichtig hierfür sind die lordotische Einstellung der LWS und eine gewisse Schrittgeschwindigkeit. Beim langsamen Laufen kommen Impuls und Energie nur aus den Beinen und kosten sehr viel Kraft.

10.1.6 Übergang zwischen rigider und beweglicher Wirbelsäule Der lumbosakrale Übergang ist ein anatomisch und pathologisch eher „unruhiger“ Bereich. Anatomische Varianten der Wirbelzahl (z. B. Hemisakralisation) sowie eine Vielzahl an Pathologien sind hier häufig. Vermutlich ist diese Besonderheit neben der typischen biomechanischen Beanspruchung auch auf den Umstand zurückzuführen, dass die LWS den Übergang von der frei beweglichen Wirbelsäule zum stabilen und recht rigiden Becken dabei vorrangig mit dem Kreuzbein gestalten muss. Anatomisch wird sie hier von verschiedenen Strukturen unterstützt: ● Stellung der Wirbelgelenke L 5–S 1 ● besonders verstärkte oder zusätzlich eingerichtete Ligamente (vorderes Längsband, iliolumbale Bänder) ● Fascia thoracolumbalis mit ihren verschiedenen kollagenen Schichten und muskulären Dynamisierungen

Bandscheibenmaterial (▶ Abb. 10.2), die im Allgemeinen ein recht großes Selbstheilungspotenzial besitzen. Das physiotherapeutische Management eines akuten Rückenschmerzes ist zunächst auf die Kontrolle der im Vordergrund stehenden Schmerzsituation sowie auf die Entlastung von beteiligten neuralen Strukturen ausgerichtet, um die Selbstheilung zu unterstützen. Nach dieser ersten Entzündungsphase von wenigen Tagen kann Einfluss auf übersteigerten Muskeltonus, Schonhaltung, Immobilisation, herabgesetzte Propriozeption sowie ggf. auch auf die Verlagerung von Bandscheibenmaterial selbst genommen werden. Die therapeutischen Behandlungsansätze richten sich immer an den gesamten Abschnitt der LWS. Gezielte Palpationstechniken kommen hierbei nur begrenzt zum Einsatz. Beispielsweise ist es allgemein nicht notwendig, durch palpatorische Provokation das betroffene Segment zu bestimmen oder die lokale Beweglichkeit zu überprüfen. In der Behandlung subakuter bandscheibenbedingter Beschwerden ist die Befundung des Spannungszustandes der paravertebralen Muskulatur hinsichtlich eines übertriebenen Muskelhartspannes von Bedeutung. Hieraus lassen sich ggf. sinnvolle Behandlungsansätze ableiten. Daher werden bei diesen Beschwerdebildern eine systematische muskuläre Palpation und Kenntnisse der Anatomie in vivo vom Therapeuten gefordert (Kap. 8.7.3). Ganz anders verhält es sich bei den sogenannten sekundär bandscheibenbedingten Pathologien. Hier wird häufig die Anatomie in vivo benötigt. Infolge degenerativer Veränderungen der lumbalen Disci entwickelt sich eine er-

Rückenmark

Nervenwurzel

Nucleus pulposus

Anulus fibrosus

10.2 Häufige therapeutische Anwendungen in dieser Region Die meisten lumbalen Beschwerden stehen in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Bandscheiben. Dabei sind bekanntermaßen sowohl die primären als auch die häufigsten sekundären bandscheibenbedingten Pathologien bevorzugt in den tieflumbalen Segmenten L 4–L 5 und L 5–S 1 beheimatet. Diese sogenannten primär bandscheibenbedingten Beschwerden reichen von internen Rupturen bis zu verschiedenen Formen der Vorwölbungen und Vorfällen von

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Wirbelkörper L1

Abb. 10.2 Diskusprolaps.

10.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Wirbelsäulenabschnitte

Halswirbelsäule

Übergangsregionen

zervikookzipital zervikothorakal

Abb. 10.3 Pathologievarianten nach Bandscheibendegeneration.

staunliche Bandbreite an Beschwerden, wobei die Disci selbst die Quelle der Schmerzen sein können oder verantwortlich für die Mitbeteiligung empfindlicher ligamentärer oder neuraler Strukturen sind (▶ Abb. 10.3). Bei diesen Pathologieformen handelt es sich vor allem um lokal-segmentale Instabilitäten, chronische Bandscheibenirritationen, Störungen und Erkrankungen der Wirbelgelenke sowie um verschiedene Ausprägungen von Stenosen. Kombinationen dieser Pathologieformen sind natürlich möglich, denkt man an die regelmäßig vorkommende Nachbarschaft von hyper- und hypomobilen Segmenten. Das therapeutische Management hat hier mehrere unterschiedliche Ansätze, die vor allem aus Schmerzlinderung und Stabilisation bestehen. Sowohl zur segmentalen Befundung als auch zur Absicherung lokal segmentaler Techniken wird die detaillierte anatomische Orientierung zu einer wichtigen Grundlage. Die Rolle der Anatomie in vivo ist hier: ● Lokalisation von betroffenen Segmenten durch Provokation ● Bestimmung des betroffenen Segmentes durch Abgrenzung zu benachbarten Strukturen (Höhenlokalisation) ● Bestimmung von segmentaler Stabilität und Mobilität mit angulären oder translatorischen Tests Die palpatorische Kompetenz aus konsequenter Anatomie in vivo versetzt den Therapeuten in die Lage, genaue Auskunft über funktionelle Eigenschaften der LWS geben zu können und sichert sowohl Therapieplanung als auch gezielten Einsatz an schmerzlindernden bzw. mobilisierenden Techniken.

10.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse Die nachfolgenden Hinweise sind nur eine Auswahl an Informationen zur lokalen Anatomie und Biomechanik. Um das Thema der Anatomie in vivo nicht zu verlassen, werden einige Bereiche, wie etwa der Aufbau und die

Brustwirbelsäule

thorakolumbal Lendenwirbelsäule lumbosakral

Abb. 10.4 Anatomische Wirbelsäulenabschnitte.

Funktion der Bandscheiben bzw. die Neuroanatomie, nicht besprochen. Dieses Kapitel diskutiert vorrangig die für die Palpation notwendigen anatomischen Details. Basale Kenntnisse über das Bewegungssegment nach Junghanns sind von Vorteil.

10

10.3.1 Anatomische Definition Als kaudaler Anteil der freien Wirbelsäule besteht die LWS anatomisch meist aus 5 frei beweglichen Wirbeln. Dies ist aber nicht bei jedem Individuum der Fall. Wie bereits oben beschrieben, ist der lumbosakrale Übergang recht variabel und anatomisch „unruhig“. Betrachtet man die Variationsanatomie insgesamt hinsichtlich der anatomischen Abgrenzungen aller Wirbelsäulenabschnitte (▶ Abb. 10.4), sagt Töndury (1968, in Lanz u. Wachsmuth 2004) hierzu: „Nur etwa 40 % aller Menschen haben ihre Grenzen am normalen Ort.“ Hier interessieren uns die Abgrenzungen von BWS zur LWS sowie der lumbosakrale Übergang. Die Abtrennung von S 1 aus dem Sakrum und Angleichung an einen lumbalen Wirbel bezeichnet die Anatomie als Lumbalisation. Somit erhält die LWS 6 Wirbel. Als Kranialvariation oder Sakralisation bezeichnet der

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10.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Wirbelsäulenabschnitte

Halswirbelsäule

Übergangsregionen

zervikookzipital zervikothorakal

Abb. 10.3 Pathologievarianten nach Bandscheibendegeneration.

staunliche Bandbreite an Beschwerden, wobei die Disci selbst die Quelle der Schmerzen sein können oder verantwortlich für die Mitbeteiligung empfindlicher ligamentärer oder neuraler Strukturen sind (▶ Abb. 10.3). Bei diesen Pathologieformen handelt es sich vor allem um lokal-segmentale Instabilitäten, chronische Bandscheibenirritationen, Störungen und Erkrankungen der Wirbelgelenke sowie um verschiedene Ausprägungen von Stenosen. Kombinationen dieser Pathologieformen sind natürlich möglich, denkt man an die regelmäßig vorkommende Nachbarschaft von hyper- und hypomobilen Segmenten. Das therapeutische Management hat hier mehrere unterschiedliche Ansätze, die vor allem aus Schmerzlinderung und Stabilisation bestehen. Sowohl zur segmentalen Befundung als auch zur Absicherung lokal segmentaler Techniken wird die detaillierte anatomische Orientierung zu einer wichtigen Grundlage. Die Rolle der Anatomie in vivo ist hier: ● Lokalisation von betroffenen Segmenten durch Provokation ● Bestimmung des betroffenen Segmentes durch Abgrenzung zu benachbarten Strukturen (Höhenlokalisation) ● Bestimmung von segmentaler Stabilität und Mobilität mit angulären oder translatorischen Tests Die palpatorische Kompetenz aus konsequenter Anatomie in vivo versetzt den Therapeuten in die Lage, genaue Auskunft über funktionelle Eigenschaften der LWS geben zu können und sichert sowohl Therapieplanung als auch gezielten Einsatz an schmerzlindernden bzw. mobilisierenden Techniken.

10.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse Die nachfolgenden Hinweise sind nur eine Auswahl an Informationen zur lokalen Anatomie und Biomechanik. Um das Thema der Anatomie in vivo nicht zu verlassen, werden einige Bereiche, wie etwa der Aufbau und die

Brustwirbelsäule

thorakolumbal Lendenwirbelsäule lumbosakral

Abb. 10.4 Anatomische Wirbelsäulenabschnitte.

Funktion der Bandscheiben bzw. die Neuroanatomie, nicht besprochen. Dieses Kapitel diskutiert vorrangig die für die Palpation notwendigen anatomischen Details. Basale Kenntnisse über das Bewegungssegment nach Junghanns sind von Vorteil.

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10.3.1 Anatomische Definition Als kaudaler Anteil der freien Wirbelsäule besteht die LWS anatomisch meist aus 5 frei beweglichen Wirbeln. Dies ist aber nicht bei jedem Individuum der Fall. Wie bereits oben beschrieben, ist der lumbosakrale Übergang recht variabel und anatomisch „unruhig“. Betrachtet man die Variationsanatomie insgesamt hinsichtlich der anatomischen Abgrenzungen aller Wirbelsäulenabschnitte (▶ Abb. 10.4), sagt Töndury (1968, in Lanz u. Wachsmuth 2004) hierzu: „Nur etwa 40 % aller Menschen haben ihre Grenzen am normalen Ort.“ Hier interessieren uns die Abgrenzungen von BWS zur LWS sowie der lumbosakrale Übergang. Die Abtrennung von S 1 aus dem Sakrum und Angleichung an einen lumbalen Wirbel bezeichnet die Anatomie als Lumbalisation. Somit erhält die LWS 6 Wirbel. Als Kranialvariation oder Sakralisation bezeichnet der

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Lendenwirbelsäule

Abb. 10.6 Ventraler Druck verschiebt den kaudalen Wirbel. Abb. 10.5 Hemisakralisation.

Anatom den Einbezug von L 5 in den Verband des Os sacrum. Dies kann teilweise oder beidseitig vorliegen (▶ Abb. 10.5). Es existieren dann nur 4 frei bewegliche lumbale Wirbel. Verwirrend wird es aber erst, wenn man bedenkt, dass die Bandbreite der Zahl der Sakralwirbel noch stärker variiert. Daher orientiert sich die Bezeichnung der möglichen Variationen (Lumbalisation oder Sakralisation) an den freien lumbalen Wirbeln (Lanz u. Wachsmuth 2004): ● 5 lumbale Wirbel → übliche Anzahl der LWS ● 4 lumbale Wirbel → Hemi-/Sakralisation in 3–12 % ● 6 lumbale Wirbel → Hemi-/Lumbalisation in 2–8 %

Bedeutung für die Palpation Ein Schwerpunkt der Anatomie in vivo an der Wirbelsäule ist die Niveaubestimmung, das genaue Festlegen der Lokalisation einer bestimmten Struktur. Der Vorgang der Palpation überträgt die Normerwartung des topografischen Wissens auf die Situation am lebenden Körper. Was bedeutet es, wenn sich die Sicherheit der topografischen Orientierung – unser anatomisches Schulwissen – in Variationen verliert? Die Variationsanatomie der LWS führt etwa zu Schwierigkeiten, den Proc. spinosus von L 5 einfach zu bestimmen. Findet man im lumbosakralen Übergang 3 ausgeprägte und spitze Procc. spinosi, ist es schwierig, allein aufgrund der Form den Unterschied zwischen L 5 und S 1 auszumachen. Welche Möglichkeit der Bestätigung hat man noch, wenn man feststellt, dass sich z. B. aufgrund einer Bewegungseinschränkung oder Hemisakralisation der L 5 gegenüber S 1 nicht spürbar bewegt? Wo bleibt die Sicherheit in der Palpation, wenn sich der vermutete Proc. spinosus von S 1 gegenüber S 2 bewegt? Ist die Lokalisation falsch oder liegt eine Lumbalisation vor?

274

Glücklicherweise gibt es aber auch anatomische Konstanten. Bestimmte Strukturen haben wiederkehrende Formen und Reaktionen auf Druck und zeigen ein typisches Verhalten bei Bewegung (Veränderungen durch Pathologie sind hierbei nicht berücksichtigt): ● Der Proc. spinosus von L 5 ist konstant kleiner als der Proc. spinosus von L 4. ● Der Proc. spinosus von Th 12 ist konstant kleiner als der Proc. spinosus von L 1. ● Ventraler Druck auf einen Proc. spinosus verschiebt den unten liegenden Wirbel eines Segmentes ein kleines Stück nach ventral (▶ Abb. 10.6). ● Die Rotation (im gekoppelten Muster) in einem Segment führt zur palpatorisch bestimmbaren Stufenbildung zwischen 2 benachbarten Procc. spinosi.

10.3.2 Form der tieflumbalen Wirbel und Bandscheiben Anatomisch wird die lumbale Lordose durch den keilförmigen Aufbau des Wirbelkörpers, insbesondere von L 5 und vor allem der Bandscheibe L 5–S 1, unterstützt (Bogduk 2000) (▶ Abb. 10.7). Die übliche Einstellung der LWS für die lumbale Palpation ist die physiologische Lordose. Dies ist zunächst unabhängig davon, in welcher ASTE (Bauchlage, Seitenlage) sich der Patient befindet. Sie ist die natürlichste, aber für den Tastvorgang nicht die einfachste Einstellung. Man kann in lumbaler Lordose bestimmte Bedingungen für die Palpation erwarten: ● Der kraniale Anteil des Sakrums zeigt in der Palpation wirklich eine Neigung nach ventral und lässt sich als schräge Fläche tastend nachvollziehen. ● Alle Procc. spinosi sind bei ausgeprägtem M. erector spinae nur an der Spitze und etwas seitlich zu erreichen.

10.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

ca. 15°

L5 Länge ca. 30 mm, Höhe ca. 27 mm

Abb. 10.8 Länge und Form eines lumbalen Dornfortsatzes.

Abb. 10.7 Keilform von Wirbel und Bandscheiben.





Der Proc. spinosus von L 5 liegt meist tief und in sehr enger Nachbarschaft zu L 4 und S 1. Die Fascia thoracolumbalis sowie der Rückenstrecker sind relativ entspannt.

In den weiteren Kapiteln wird zu klären sein, welche Einstellung der LWS vor einer gezielten Palpation günstig bzw. eher ungünstig ist.

10.3.3 Ossäre Detailanatomie Die kräftigen Wirbelkörper (WK) sind in der Aufsicht im Allgemeinen bohnen- bis nierenförmig. Jeder WK ist ein Rohr aus Kortikalis mit einer Füllung aus Substantia spongiosa. Nach kranial und kaudal werden sie von einer hyalinen Deckplatte abgeschlossen, die heute funktionell mit zur Bandscheibe gerechnet wird (Bogduk 2000). Der Arcus vertebrae fußt direkt von dorsal an den Wirbelkörper. Er trägt alle Fortsätze des Wirbels: ● Proc. spinosus ● Procc. articulationes superiores et inferiores ● Procc. costaria (oder auch Procc. costales)

Dornfortsätze Diese sind direkt nach dorsal ausgerichtet und kräftig entwickelt (▶ Abb. 10.8). Sie sind für den palpierenden Finger die einzigen sicher erreichbaren ossären Strukturen des Lendenwirbels. Die Form der lumbalen Procc. spinosi ist typisch und palpatorisch von denjenigen der benachbarten Abschnitte recht gut zu unterscheiden. Aylott und Kollegen (2012) konnten aufzeigen, dass die Procc. spinosi mit zunehmendem Alter an Länge und Breite (jeweils ca. 0,5 mm/10 Jahren) zunehmen. Durchschnittlich maß Aylott eine Höhe (kraniokaudale Ausdehnung) von 27 mm bei den Procc. spinosi L 1–L 4 bei Männern. L 5 war lediglich 17 mm hoch. Alle Maße fielen bei Frauen etwa 3 mm geringer aus. Die Studie von Shaw et al. (2015) an ca. 3 000 Präparaten ergänzt die Länge der

Procc. spinosi (vom Rand des Foramen vertebrae bis zur seiner Spitze) von L 1–L 4 von ca. 30 mm, L 5 = 25 mm. Die Anwinkelung der Procc. spinosi gegenüber der Ebene der Deckplatte (Slope) beträgt für L 1–L 4 ca. 15° und bei L 5 ca. 24° (▶ Abb. 10.8). Schlussfolgernd kann man für den Proc. spinosus L 5 zusammenfassen: kürzer, weniger hoch und steiler angewinkelt als die anderen lumbalen Spinosi (Shaw et al. 2015). Palpiert hat man den Eindruck, er liefe nahezu „spitz“ nach dorsal zu. Im Allgemeinen ist er gut lokalisierbar. Wenn der ebenso spitz geformte Proc. spinosus von S 1 deutlich ausgebildet ist, können Verwechselungen mit benachbarten Procc. spinosi und dadurch Unsicherheiten in der segmentalen Höhenlokalisation entstehen.

Form und Ausrichtung der lumbalen Procc. spinosi Größe und Morphologie der lumbalen Procc. spinosi sind für Ungeübte zunächst überraschend. Die Procc. spinosi L 1–L 4 sind dorsal außerordentlich unregelmäßig und wellig geformt (▶ Abb. 10.9). Häufig werden die Procc. spinosi zu klein erwartet. Zwischen den benachbarten lumbalen und auch thorakalen Procc. spinosi finden sich regelmäßig Bursen. Wie auch bei anderen WS-Abschnitten, so ist auch hier nicht zu erwarten, dass die lumbalen Procc. spinosi unbedingt in einer Linie stehen. Das seitliche Herausragen aus der Mittellinie kann lumbal bei einigen Millimetern und thorakal bei bis zu 1 Zentimeter noch als normale anatomische Variation betrachtet werden. Die palpatorische Unterscheidung innerhalb der Procc. spinosi durch Aufsuchen der interspinalen Räume wird durch die Wellenform erheblich erschwert. Hier müssen zur sicheren Zuordnung weitere Tricks und Hilfen benutzt werden. Bei nicht zu schwierigen geweblichen Bedingungen bei Proband und Patient sind diese langen Procc. spinosi mit etwas Übung sicher gegenüber dem spitzen Proc. spinosus L 5 sowie Th 12 abzugrenzen. Letzterer ist ebenfalls wieder sehr schlank. Sehr häufig wird durch Therapeuten und Ärzte eine direkte Korrelation zwischen der Position der Procc. spi-

10

275

Lendenwirbelsäule

M. quadratus lumborum (oberflächliche, dorsale Schicht) M. quadratus lumborum (tiefe, ventrale Schicht) M. psoas major

M. longissimus thoracis M. semispinalis lumborum M. multifidus Mm. rotatores (Ursprung) M. longissimus lumborum (mediale Insertionsreihe) M. spinalis M. interspinalis lumborum

M. multifidus M. rotator (Ansatz)

M. latissimus dorsi M. serratus posterior inferior M. longissimus thoracis

Abb. 10.10 Muskuläre Anheftungen (aus Dvořák 1998). Abb. 10.9 Unregelmäßige Dornfortsatzreihe.

nosi und einer lokalen Pathologie hergestellt. Eine von der Mittellinie abweichende Ausrichtung eines Proc. spinosus wird meist als rotatorische Fehlstellung des jeweiligen Wirbels gedeutet. Dies ist aufgrund der variantenreichen Anatomie nicht zulässig. Ein palpatorisches Ergebnis muss immer durch lokale Mobilitäts- und Provokationstest untermauert werden, um eine Aussage über eine segmentale Pathologie zuzulassen.

Lumbale Querfortsätze Hierbei handelt es sich um Reste früherer Rippen aus Zeiten der metameren Anordnung, wie sie thorakal noch zu erkennen ist. Daher wird der Querfortsatz als Proc. costarius oder costalis bezeichnet. Alle Querfortsätze sind kräftig entwickelt und ragen direkt seitlich vom Wirbelbogen weg. Der Proc. costarius von L 3 ist nach Lanz und Wachsmuth der längste (Lanz u. Wachsmuth 2004). In seltenen Fällen (4–8 %) kann L 1 einen übergroßen Processus aufweisen, der in der Literatur als Lendenrippe geführt wird (Lanz u. Wachsmuth 2004). Sie erschwert die palpatorische Abgrenzung zum Thorax. Da die Querfortsätze Anheftungspunkte zahlreicher Muskeln sind (Dvořák 1998), stellen sie, wie auch die Dornfortsätze, perfekte Hebel für einwirkende Kräfte dar, die einen lumbalen Wirbel in Richtung Seitneigung und Rotation beeinflussen können (▶ Abb. 10.10). Topografisch trennen die Querfortsätze die autochthone Rückenmuskulatur dorsal von der tiefen Bauchmuskulatur ventral (z. B. M. psoas major). Muskuläre oder dynamisierte bindegewebige Strukturen, welchen man derzeit einen sehr wichtigen funk-

276

tionellen Stellenwert in der stabilisierenden Behandlung der LWS zurechnet, inserieren an den Procc. costaria: ● M. transversus abdominis über die mittlere Schicht der Fascia thoracolumbalis ● M. quadratus lumborum ● Mm. multifidi ● M. longissimus Der Versuch, die Querfortsätze palpatorisch zu erreichen, gelingt nur bei schlanken Personen wirklich eindeutig. Mehrere Zentimeter von der Oberfläche des Rückens nach ventral gelegen, werden sie von der stark ausgeprägten Rückenstreckermuskulatur komplett abgedeckt. Lediglich die Spitzen der Querfortsätze von L 3 und ggf. L 4 sind erreichbar, wenn man lateral des Rückenstreckers und kranial der Crista iliaca einen deutlichen Druck nach ventral aufbaut und anschließend nach medial palpiert, in der Hoffnung, auf einen harten Widerstand zu gelangen. Neben der technischen Schwierigkeit der Durchführung ist noch die Sinnhaftigkeit dieses Manövers zu diskutieren. Zur Stellungsdiagnostik und selektiven Schmerzprovokation eignet sich diese Technik jedenfalls nicht. Daher wird sie auch später nicht erörtert.

Zygapophyseale Gelenke (ZAG) Sie gehören zu den funktionell wichtigen Anteilen eines Wirbels. Bei ihnen findet man auch die größte Bandbreite an unterschiedlichen Bezeichnungen (z. B. Facettengelenke, Wirbelgelenke). Prinzipiell bestimmen sie, wie das durch Dicke und Aufbau des Diskus ermöglichte Bewegungspotenzial des Segmentes genutzt wird. Ihre Aus-

10.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Abb. 10.11 Zygapophysealgelenk (ZAG).

Abb. 10.13 Facettentropismus.

45°

90°

Abb. 10.12 Ausrichtung der lumbalen ZAGs.

richtung gibt die Richtung und zum Teil auch das Ausmaß der segmentalen Bewegungen vor. Bekanntermaßen bilden jeweils ein Proc. articularis superior des kaudal liegenden Wirbels (eher konkav) und ein Proc. articularis inferior des kranial liegenden Wirbels (eher konvex) ein ZAG (▶ Abb. 10.11). Die Stellung der lumbalen Gelenkfacetten der Segmente Th 12–L 1 bis L 4–L 5 wird in der manualtherapeutischen Literatur einheitlich beschrieben (Dvořák 1998): In Bezug zum Wirbelkörper sind die superioren Gelenkflächen aufrecht angeordnet, und konvergieren in einem Winkel von durchschnittlich 45° von dorsolateral nach ventromedial (▶ Abb. 10.12). Kranialwärts nimmt der Winkel allmählich ab (Bogduk 2000). Daraus resultieren die Affinität der LWS zu Bewegungen in der Sagittalebene, die Ermöglichung von Seitneigung und die Verhinderung axialer Rotation. Letzteres ist insbesondere dann vorstellbar, wenn die Achsen der

lumbalen Bewegungen im Diskus angeordnet sind (vgl. Kap. 10.3.6). Die Gelenkfacetten L 5–S 1 orientieren sich wieder mehr in die Frontalebene, was eine etwas größere axiale Rotationsfähigkeit dieses Segmentes ermöglicht. Das Prinzip der Variationsanatomie wird auch bei den lumbalen ZAG konsequent fortgeführt. Die Gelenkflächen können auf einem Niveau Unterschiede in Form und räumlicher Ausrichtung aufweisen, ohne dass dies gleich pathologisch sein muss (▶ Abb. 10.13). Die individuell seitendifferente Ausprägung der ZAGs wird als „Facettentropismus“ bezeichnet (Jerosch u. Steinleitner 2005). Dies bedeutet, dass die oben beschriebene räumliche Ausrichtung der Gelenkflächen wirklich nur als Durchschnittswert zu verstehen ist und in jedem Segment zwischen links und rechts Unterschiede aufweist. Neben der Niveaubestimmung einzelner Strukturen wird die palpatorische Fähigkeit an der Wirbelsäule vor allem zur segmentalen Beweglichkeitsprüfung genutzt. Hierzu muss man sich zunächst über das Bewegungspotenzial des Wirbelsäulenabschnittes im Klaren sein. Der Einfluss der unterschiedlich ausgebildeten Gelenkfacetten auf die jeweilige Bewegungspalpation muss später noch geklärt werden. Es ist davon auszugehen, dass Facettentropismus keinen Einfluss auf das Ausmaß der symmetrischen Bewegungen der LWS (Flexion und Extension) hat. Sollten die Wirbel bei Flexion links/rechts unterschiedlich nach ventral kippen, ist dies nicht spürbar, da sagittale Bewegungen lediglich an dem Klaffen bzw. Schließen der Procc. spinosi wahrgenommen werden (▶ Abb. 10.14). Ein seitendifferentes Bewegungsverhalten mit ungleicher Führung des bewegten Wirbels wird das spürbare Bewegungsausmaß nicht verändern. Anders verhält es sich bei asymmetrischen Bewegungen in Seitneigung bzw. Rotation. Hier ist der Einfluss

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277

Lendenwirbelsäule

ZAG M. multifidus

Abb. 10.14 Palpation Flexion und Extension.

Abb. 10.16 Lage der ZAGs unter der Muskulatur.

10.3.4 Ligamentäre Detailanatomie Abb. 10.15 Palpation Seitneigung und Rotation.

unterschiedlich ausgeprägter Gelenkstellungen und -formen maßgeblich. Die Mobilität in segmentaler Seitneigung und Rotation kann daher auch beim „gesunden Segment“ im direkten Rechts-Links-Vergleich unterschiedlich sein. Daher vergleicht man in der lokalen Mobilitätsprüfung das Ausmaß dieser Bewegung nicht nur im Seitenvergleich, sondern vor allem mit Blick auf die benachbarten Segmente (▶ Abb. 10.15). Die ZAGs mit ihren Kapseln imponieren am Präparat als erstaunlich große kugelige Gestalt. Ihre Lage ist etwa in Höhe der kaudalen Kante eines Proc. spinosus zu veranschlagen. Um die ZAGs palpieren zu können, müsste man durch die mehrere Zentimeter dicke Schicht (25– 35 mm) der Fascia thoracolumbalis und der Mm. multifidi (Bjordal et al. 2003) (▶ Abb. 10.16). Eine Lokalisation des Gelenkes durch Erspüren der Konturen, durch Wahrnehmen unterschiedlicher Gewebekonsistenzen oder womöglich durch Bewegungspalpation gelingt m. E. nicht. Möglicherweise kann eine Provokation auf Druckdolenz durch die Weichteile gelingen, wobei ein Druckschmerz nicht sicher auf eine Beteiligung des ZAGs zurückzuführen wäre.

278

Man kann lumbal 4 Bandsysteme unterscheiden: ● Wirbelkörperbänder ● segmentale Bandzüge ● lumbale Extraligamente ● Fascia thoracolumbalis

Wirbelkörperbänder Beide längs verlaufenden Bandzüge begleiten die Wirbelsäule auf ihrer gesamten Länge: Ligg. longitudinale anterius und posterius. Sie gehören auch zur ligamentären Grundausrüstung eines Segmentes (▶ Abb. 10.17). Das Lig. longitudinale anterius (LLA) verläuft ventral vom Foramen occipitale magnum bis zum Sakrum und ist dort untrennbar mit dem Periost verbunden. Nach kaudal verbreitert es sich zunehmend. Oberflächige Schichten überspringen 4–5 Wirbel. Tiefe Schichten verbinden 2 benachbarte Wirbel (Bogduk 2000). Alle Anteile des Bandes sind an der Mitte der Wirbelkörper angeheftet und gehen mit dem Anulus des Diskus keine starke Verbindung ein. Es hilft, die Extension der LWS sowie die Zunahme der Lordose zu begrenzen. Das Lig. longitudinale posterius (LLP) besteht ebenfalls aus 2 Schichten. Der oberflächliche Anteil verläuft longitudinal und ist dünn. Der tiefe Anteil verläuft transversal und ist breiter. Er verbindet sich mit dem Anulus und bil-

10.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Lig. flavum

Gelenkkapsel

Lig. flavum

Lig. interspinalia

Lig. supraspinale Lig. longitudinale posterius

Abb. 10.18 Lig. flavum und Ligg. supraspinale und interspinalia.

Lig. longitudinale anterius

Abb. 10.17 Wirbelkörperbänder.

det eine echte Verstärkung. Wie das vordere Längsband verläuft es vom Hinterhaupt zum Os coccygeum und hat hochzervikal und im Übergang zum Steißbein spezielle Bezeichnungen. Im Gegensatz zum LLA ist dieses Band reich an Nozisensoren und fungiert wie eine „Alarmglocke“ bei bestimmten Bandscheibenpathologien.

Segmentale Bandzüge Zwischen Wirbelbögen und den abgehenden Fortsätzen befindet sich eine Reihe kurzer Ligamente, die jeweils 2 Wirbel miteinander verbinden. Das Lig. flavum (▶ Abb. 10.18) besteht bei jungen Menschen zum großen Teil aus elastischen Fasern. Es erstreckt sich jeweils zwischen den Laminae des Arcus vertebrae und kleidet den Wirbelkanal dorsal aus. Selbst bei aufrechter Haltung stehen diese Bänder unter Vorspannung. Bei Flexion des Rumpfes werden sie zunehmend gespannt, speichern Energie und helfen mit, die Wirbelsäule wieder aufzurichten und dabei Muskelkraft zu sparen. Die Gelenkkapseln der Zygapophysealgelenke werden an ihrem ventralen Anteil von den Ligg. flava gebildet. Die lumbal recht dünnen und membranartigen Ligg. intertransversaria verbinden die Querfortsätze, hier die Procc. costaria und geraten bei kontralateraler Seitneigung sowie bei Rotation unter Spannung.

Die Ligg. interspinalia (▶ Abb. 10.18) verspannen sich zwischen den Dornfortsätzen zweier benachbarter Wirbel. Die Ausrichtung der Fasern wird in der Literatur höchst unterschiedlich angegeben. Die variierenden Angaben mit vertikaler Anordnung, über ventrokranialen Faserverlauf (Netter 2004) bis dorsokranialer Faserausrichtung (Bogduk 2000), zeigen hier noch einen Klärungsbedarf seitens der beschreibenden Anatomie. Alle Autoren sind sich einig, dass diese Ligamente einer Flexion und Rotation entgegenwirken. Das Lig. supraspinale (▶ Abb. 10.18) liegt den Dornfortsätzen auf und ist lumbal im Grunde das einzige palpable Band. Diese Struktur sollte eigentlich nicht als Ligament verstanden werden, sondern eher als Dopplung der Fascia thoracolumbalis. Vleeming meinte hierzu (persönliche Mitteilung 2006): „Das supraspinale Band ist eigentlich ein Präparationsartefakt.“ Folgender Zusammenhang wird derzeit diskutiert: ● Die oberflächigen Blätter dieser Faszien treffen sich an der Mittellinie. ● Die Verbindungslinie ist bandartig verstärkt. ● Ein Teil verbindet sich mit dem Periost der Dornfortsätze. ● Der andere Teil stülpt sich in den interspinalen Raum, bildet die interspinalen Bänder und reicht sogar zu den Ligg. flava tief in das Bewegungssegment hinein.

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Wie bereits beschrieben, ist die Palpation auf der dorsalen Seite der Procc. spinosi durch die unebene Kontur und Wellenform sehr schwierig. Einen interspinalen Raum zu spüren, um so eine palpatorische Abgrenzung von benachbarten Wirbel zu treffen, wird durch das Vorhandensein des Lig. supraspinale noch zusätzlich schwieriger. Das Lig. supraspinale fehlt zwischen L 5 und S 1 (Heylings 1978, in Bogduk 2000). Das mag dazu beitragen, dass die Unterkante von L 5 im Allgemeinen gut zu spüren ist (Kap. 10.7.2).

279

Lendenwirbelsäule

Lumbale Extraligamente Die bedeutendsten Bandzüge, die Kontakt mit der LWS haben, sind die Ligg. iliolumbalia (▶ Abb. 10.19). Sie verlaufen von verschiedenen Stellen der Proc. costaria des 4. und 5. Lendenwirbels zur Vorderseite der Crista iliaca und der Darmbeinschaufel. Die einzelnen Anteile sind variabel angelegt und verbinden sich mit lumbalen segmentalen sowie mit den sakroiliakalen Bändern (PoolGoudzwaard et al. 2001). Die iliolumbalen Bänder werden in der anatomischen Literatur (Lanz u. Wachsmuth 2004) auch als Fortführung der intertransversalen Ligamente, teilweise als Verstärkung der Fascia thoracolumbalis (mittleres Blatt) sowie als fibrosierte Anteile des M. quadratus lumborum beschrieben. Die Lage dieser Strukturen wird erst deutlich, wenn man sie am anatomischen Präparat wiedererkennt. Sie sind unter einer mehrere Zentimeter dicken Schicht der autochthonen Rückenmuskulatur verborgen und liegen in einem engen Winkel zwischen Querfortsätzen und Becken. Die einzelnen Faserzügel verlaufen zum einen in der Frontalebene und begrenzen die Seitneigung und Rotation von L 4–S 1. Zum anderen liegen sie auch in der Sagittalebene unterschiedlich angeordnet (▶ Abb. 10.19 und ▶ Abb. 10.20), behindern Flexion und Extension

Ligg. iliolumbalia

Abb. 10.19 Ligg. iliolumbalia (vereinfachte Darstellung).

Abb. 10.20 Ligg. iliolumbalia (vereinfachte Darstellung).

280

(Yamamoto et al. 1990) und unterstützen die Absicherung der untersten freien Wirbel gegen ein ventrales Abgleiten (Bogduk 2000). Vermutlich kann Muskelaktivität über eine Spannung dieser Ligamente einen erheblichen Beitrag zur tiefen lumbalen Stabilität beitragen. Die iliolumbalen Ligamente tragen zur Steuerung von Seitneigung und Rotation insbesondere von L 5–S 1 bei. Daher muss man diesen Einfluss bei der Bewegungspalpation berücksichtigen. Einige Lehrbücher (Chaitow 2001) empfehlen eine diagnostische Palpation dieser Ligamente. Der Leser soll sich selbst ein Urteil darüber bilden, ob eine aussagekräftige Palpation durch die Fascia thoracolumbalis und durch den M. erector spinae hindurch in einer Tiefe von bis zu 5–7 cm möglich ist.

Fascia thoracolumbalis Die thorakolumbale Faszie ist eine gürtelnde Struktur, mehrere aponeurotischen und fasziale Schichten beinhaltend, welche die paraspinale Muskeln von den Muskeln der posterioren abdominalen Wand trennt (Willard et al. 2012). Die mittlere und posteriore Schicht spannen die bindegewebige Hülle der paraspinalen Muskeln. Die kollagenen Fasern der Fascia thoracolumbalis bestimmen das Bild bei der Aufsicht auf ein anatomisches Präparat dieser Region. Im Kapitel „Becken dorsal“ wurde die Bedeutung für das SIG bereits beschrieben. Dabei wurde erwähnt, dass die oberflächigen Anteile des M. gluteus maximus in die Fascia einstrahlen. Die kollagenen Fasern des M. latissimus dorsi und des M. gluteus maximus überkreuzen dabei die Mittellinie und verbinden sich diagonal miteinander (Kap. 9.3.7). Im lumbalen Bereich kommen nun weitere dynamisierende Strukturen hinzu: ● oberflächige Schicht: M. serratus posterior inferior ● mittlere Schicht: ○ M. transversus abdominis ○ M. obliquus internus abdominis ○ M. quadratus lumborum ○ M. erector spinae Die oberflächige Schicht der Fascia, der aponeurotische Ursprungsbereich des M. latissimus dorsi, erstreckt sich vom thorakolumbalen Übergang und überdeckt den ganzen lumbalen und sakralen Wirbelsäulenbereich bis zur Crista iliaca. Die Aponeurose des M. latissimus entwickelt sich zur derben Sehnenplatte (▶ Abb. 10.21). Nach Vleeming (persönliche Mitteilung) kann die Zugbelastbarkeit bis zu 500 kg und die Dicke bis zu 1 cm betragen. Die Fasern innerhalb der Faszie sind maschenartig angelegt und entsprechen nicht alleine der von kraniolateral kommenden, nach kaudomedial ausgerichteten Fortführung der Fasern des M. latissimus. Die Faszie ist mit etwa 12 cm am breitesten in Höhe von L 3. Die schmalste Stelle liegt in Höhe von Th 12.

10.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

M. trapezius

M. transversus abdominis

M. erector spinae

M. latissimus dorsi

Fascia thoracolumbalis

Fascia thoracolumbalis

Abb. 10.23 M. transversus abdominis.

Abb. 10.21 Aufsicht auf die Faszie mit M. latissimus dorsi. M. transversus abdominis Rippe 12 Procc. costaria Fascia thoracolumbalis (mittleres Blatt) M. transversus abdominis Crista iliaca

Abb. 10.22 Mittleres Blatt der Fascia thoracolumbalis, mit M. transversus abdominis.

Ab dem 12. Brustwirbel absteigend strahlen die Fasern in die Faszie der Gegenseite ein. Sie laufen auf dem Sakrum als dorsale sakroiliakale Ligamente weiter. Die mittlere Schicht der Faszie ist ebenfalls eine derbe Aponeurose, die sich zwischen den untersten Rippen, den Procc. costaria (L 1–L 4) und der Crista iliaca aufspannt (▶ Abb. 10.22). Sie trennt den Rückenstrecker vom M. quadratus lumborum. Im Gegensatz zur oberflächigen scheint die mittlere Schicht auch Ursprungsbereich für Muskeln des lateralen Traktes sowie für den M. quadratus lumborum zu sein. Grundlage dieser kräftigen Sehnenplatte ist die Ursprungsaponeurose des M. transversus abdominis (Lanz u. Wachsmuth 2004). Hier strahlen vor allem Faserzüge des M. obliquus internus abdominis ein. Barker et al. haben in einer Studie festgestellt, dass Spannung der mittleren Faszienschicht die segmentale Steifigkeit und den Widerstand gegen Flexionsbewegun-

M. psoas major tiefe Schicht mittlere Schicht Raphae lateralis M. erector spinae oberflächige Schicht

Abb. 10.24 Die 3 Schichten der Fascia thoracolumbalis.

10

gen deutlich erhöht (Barker et al. 2006). Nach ihrer Schlussfolgerung liefert eine Spannung der Faszie einen erheblichen Beitrag zur segmentalen Stabilität. Auch nach Richardson et al. (1999) sorgen die Mm. multifidi und der M. transversus abdominis für die basale Stabilität der LWS (▶ Abb. 10.23). Richardson et al. haben die Relation zwischen verzögerter Innervation des M. transversus abdominis und lumbalen Beschwerden beschrieben. Die normale Innervation des Muskels erfolgt etwa 4 ms vor der Rumpf- oder Extremitätenbewegung. Erst wird die zentrale Stabilität aufgebaut, bevor eine weitere Aktion erfolgt. Bei Rückenpatienten ist die Antizipation mangelhaft, die Innervation erfolgt zu spät. Hieraus hat die Gruppe um Richardson ein Übungskonzept aufgebaut, dass derzeit aktuell diskutiert und zu therapeutischen Ansätzen genutzt wird. Die Verbindung beider Schichten der Fascia thoracolumbalis erfolgt direkt lateral des Rückenstreckers an der Raphae lateralis (▶ Abb. 10.24). Beide Schichten der Faszie und der M. serratus posterior inferior bilden mit den Wir-

281

Lendenwirbelsäule belbögen und Fortsätzen einen osteofibrösen Kanal. Dieser Kanal ist eine Führungshülse für den M. erector spinae. Dies ist anatomisch daran zu erkennen, dass kranial des Sakrums lockeres Bindegewebe zwischen dem Rückenstrecker und der Faszie eingelagert ist. Die osteofibröse Führungshülse bündelt den Rückenstrecker und hält ihn bei Aktivität an der Wirbelsäule. Durch die Vorwölbung des Rückenstreckers über das Niveau der Procc. spinosi und die straffe Ummantelung durch die Faszien beider Seiten wird ein Art Rinne über der Dornfortsatzreihe gebildet, die je nach Ausprägung der lumbalen Lordose und der Masse des Rückenstreckers unterschiedlich tief sein kann. Die Procc. spinosi lassen sich hierdurch recht einfach erreichen. Die osteofibröse Ummantelung formt den Rückenstrecker zu einem einheitlichen Muskelpaket, dass im medialen Bereich komplett von der Dornfortsatzreihe weggeschoben werden und nach lateral ausgelenkt werden kann. Diese Eigenschaft macht man sich in den verschiedenen Grifftechniken der Klassischen Massagetherapie bzw. bei den Funktionsmassagen (▶ Abb. 10.25) zunutze. Eine bis zu 1 cm starke derbe fibröse Schicht wirft natürlich die Frage nach der direkten Erreichbarkeit von muskulären Strukturen auf. Wenn man die Muskelkonsistenz palpatorisch befunden will, lässt diese derbe Faszie die Muskeln nicht direkt erspüren. Eine derbe oberflächige Faszie mit einer Reihe von direkten und indirekten muskulären Einstrahlungen muss Auswirkungen auf die Lagerung eines Probanden in Diagnostik und Therapie haben. Je nach Ziel sollte man den Patienten eine ASTE einnehmen lassen, um die Strukturen maximal zu entspannen oder vorzuspannen. Das Minimum zur Entspannung der lumbalen Region sind die physiologische Lordose und das Vermeiden der vollen Armhebung in Bauch- oder Seitenlage.

Abb. 10.25 Lumbale Funktionsmassage.

282

10.3.5 Muskuläre Detailanatomie Im Folgenden sollen nur die relevanten Muskeln beschrieben werden, die für eine Palpation der lumbalen Region wichtig sind. ● M. latissimus dorsi ● autochthone Rückenmuskeln – medialer Trakt ● autochthone Rückenmuskeln – lateraler Trakt ● Funktionen der lumbalen Muskeln Typisch für diese autochthone Muskelgruppe ist die Innervation durch den lateralen Ast des R. dorsalis des zum Segment gehörigen Spinalnervs. Alle oberflächigen Rückenmuskeln gehören funktionell zur oberen Extremtität und werden grundsätzlich von einem Ramus ventralis (zum Plexus brachialis) eines Spinalnervs innerviert.

M. latissimus dorsi Ontogenetisch als Kiemenmuskel angelegt wurde sein Ursprungsbereich weit nach kaudal verlegt. Seine Innervation durch den N. thoracodorsalis (C 6–C 8) hat er dabei mitgenommen. Die Namensgebung seiner Ursprungsbereiche unterteilt ihn in einen thorakalen, lumbalen, iliakalen, kostalen und skapularen Bereich. Seine Ursprungsaponeurose ist mit der oberflächigen Schicht der Fascia thoracolumbalis identisch (▶ Abb. 10.26). Die Höhe der thorakalen Ur-

Abb. 10.26 M. latissimus dorsi bei einem Sportler.

10.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse sprünge wird allgemein bei Th 7–Th 8 angegeben, kann aber erheblich variieren. Der iliakale Ursprung ist ebenfalls sehr variabel. Allgemein ist der seitliche Rand des Ursprungs in Höhe der höchsten Erhebung des Darmbeinkammes zu suchen (Lanz u. Wachsmuth 2004). Er kann aber auch weiter medial bzw. lateral liegen. Die 3–4 cm breite und ca. 8–10 cm lange Ansatzsehne läuft mit derjenigen des M. teres major zusammen zur Crista tuberculi minoris humeri. Seine Funktion ist nicht auf die offene Kette beschränkt. In der geschlossenen Kette kann er als kräftiger Adduktor den Körper gegen ein Punktum fixum bewegen, z. B. Stütz im Barren usw. Mit den Teresmuskeln zusammen bremst er beim Laufen den Schwung des Armes nach vorne. Seine Aktivität dynamisiert das oberflächige Blatt der Fascia thoracolumbalis und nimmt so Einfluss auf die lumbale Stabilität. Abgesehen von sehr trainierten und sehr mageren Personen (▶ Abb. 10.26), haben die meisten Personen lediglich einen dünnen M. latissimus dorsi. Dies bedeutet, dass der Muskelbauch sich selten mit einer klar abgrenzbaren Kontur darstellt. Lediglich der laterale Rand ist vor allem in thorakaler Höhe unter Aktivität palpabel.

Autochthone Rückenmuskeln – medialer Trakt Der mediale Trakt besteht aus uni- und plurisegmentalen Anteilen und liegt in der dreieckigen Rinne zwischen Dorn- und Querfortsätzen, eng der Wirbelsäule angelegt (▶ Abb. 10.27). Ihre Ursprünge und Ansätze orientieren sich an den Fortsätzen der lumbalen Wirbel. Lediglich die Rückseite des Sakrums bildet hier die Ausnahme. Die Muskeln des medialen Trakts werden meistens von voluminösen Bäuchen und Ursprungsaponeurosen der Muskeln des lateralen Traktes (M. longissimus) überdeckt. Typisch für die Muskelgruppe des medialen Traktes ist die Innervation durch den medialen Ast des R. dorsalis des zum Segment gehörigen Spinalnervs.

Die kurzen, meist unisegmentalen Muskeln, können die lumbalen Wirbel in ihrer Position fein einstellen und beteiligen sich am Aufbau der notwendigen axialen Kompression für den Kraftschluss der Wirbelsäule. Funktionell scheint das transversospinale dem geraden System den Rang abzulaufen. Lanz und Wachsmuth (2004, S. 86) meinen dazu: „Die transversospinalen Muskelstränge stellen das wohl wichtigste Verspannungssystem der Wirbelsäule dar“. Lumbal sind die Muskelanteile dieses Systems, die 3–6 Segmente überragen, am deutlichsten ausgebildet. Sie werden als Mm. multifidi lumbales bezeichnet (▶ Abb. 10.28). Der Ursprung lässt sich bis zum 3. Sakralwirbel in einem Raum zwischen den Cristae mediana und intermediana sacralis verfolgen. Wie im Kapitel Kap. 9.7.6 beschrieben, lässt sich seine Aktivität auch dort palpatorisch nachvollziehen. In Lanz und Wachsmuth (2004, S. 89) heißt es weiter: „Seine Fleischmasse stellt eine sagittal ausgerichtete Platte dar. Deren Seitenfläche ist abgerundet und tritt als vorquellender Wulst in Erscheinung, sobald man die Ursprungsaponeurose des M. longissimus von den Dornfortsätzen abtrennt“. Die Anteile des M. longissimus sind tief lumbal und sakral recht dünn und sehnig, sodass die Mm. multifidi direkt paravertebral (ca. 1,5 cm neben den Procc. spinosi) vom Sakrum bis in Höhe L 3 manchmal sichtbar (▶ Abb. 10.29) und sehr gut palpatorisch erreichbar ist. Kranial davon wird es schwieriger, da hier die Muskelabdeckung dicker wird. Der Vorteil in der palpatorischen Auffindbarkeit des Muskels zeigt sich beim Training der Muskeln mit stabilisierenden Möglichkeiten. Unter palpatorischem Feedback kann der Patient versuchen, die Mm. multifidi möglichst selektiv zu innervieren. Hochschild (2001, S. 37) bezeichnet ihn als „Schlüsselmuskel für die segmentale Stabilisation der LWS“.

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Mm. interspinales lumborum Mm. transversarii mediales

M. multifidus

Abb. 10.27 Medialer Trakt. Abb. 10.28 Mm. multifidi lumbales.

283

Lendenwirbelsäule

M. longissimus thoracis

M. iliocostalis lumborum

Abb. 10.30 Lateraler Trakt der autochthonen Muskeln.

Abb. 10.29 Aktivität der Mm. multifidi.

Autochthone Rückenmuskeln – lateraler Trakt Der laterale Trakt des Rückenstreckers besteht lumbal aus 2 kräftigen Muskelindividuen, die den größten Anteil der paravertebral zu spürenden Muskulatur darstellen (▶ Abb. 10.30): ● M. longissimus (lumbalis, thoracis, cervicalis, capitis) ● M. iliocostalis (lumbalis, thoracis, cervicalis) Beide Muskeln des lateralen Trakts werden durch ihre Anordnung in den einzelnen Wirbelsäulenabschnitten mehrfach unterteilt (z. B. Pars lumbalis), wobei nur der M. longissimus mit einem Anteil bis zum Schädel reicht (M. longissimus capitis). Der M. longissimus liegt mehr medial und hat lediglich Ansatzzacken, die an den Rippen inserieren. Er überlagert medial die Mm. multifidi. Tief lumbal stellen sie sich mit einer dünnen Sehnenplatte dar, sodass die Aktivität der Mm. multifidi direkt paravertebral zu spüren ist. Ihr Ursprungsbereich erstreckt sich auf die Rückfläche des Os sacrum zwischen den Cristae intermediana und lateralis sacralis. Wiederum lateral und oberflächiger liegt der M. iliocostalis (▶ Abb. 10.31). Sein Ursprungsbereich reicht vom lateralen Aspekt des Sakrums bis zur Crista iliaca. Dabei

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M. iliocostalis lumborum

Abb. 10.31 M. iliocostalis.

überdeckt er den medialen Anteil des M. quadratus lumborum. Die weiteren Ursprünge und Ansätze greifen nur an den Rippen bzw. Rippenrudimenten an. Lateral des Muskelbauchs treffen beide Blätter der Fascia thoracolumbalis zusammen.

10.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Funktionen der lumbalen Muskeln Eine beidseitige Aktivität des Rückenstreckers kontrolliert und bewegt den Rumpf in der Sagittalebene. Wird der Oberkörper nach vorne verlagert, spannt sich der Rückenstrecker beidseitig schnell an und arbeitet bis etwa 60° Flexion exzentrisch (▶ Abb. 10.32). Der M. gluteus maximus hilft dabei, das Vorneigen des Rumpfes zu kontrollieren. Schon bei ca. 60° Flexion hat der Rückenstrecker keine aktive Funktion mehr. Sein passiver Dehnungswiderstand, die Fascia thoracolumbalis und die dorsal der Achse liegenden Ligamente übernehmen jetzt haltende Funktionen. Aktivität, vor allem durch den medialen Trakt und durch Spannung der passiven Strukturen, baut eine axiale Kompression auf, die als Kraftschluss der Wirbelsäule zu betrachten ist. Somit erhält die Wirbelsäule, die eigentlich eine bewegliche Kette ist, zunehmende Stabilität. Ventral gelingt dies dem M. psoas bei der Rückneigung des Oberkörpers, insbesondere im oberen lumbalen Abschnitt. Eine der wichtigsten Aufgaben der autochthonen Rückenmuskeln ist es, die Fascia thoracolumbalis von innen heraus zu straffen (persönliche Mitteilung Vleeming).

Man kann dies mit dem Aufpumpen eines Fahrradschlauches vergleichen (▶ Abb. 10.33). Dies gelingt durch Verdickung der Muskelbäuche während der Kontraktion. Hier ist vermutlich der therapeutische Nutzwert einer Hypertrophie des Rückenstreckers zu sehen. In bipodal gleichmäßig belastetem, aufrechtem Stand hat die autochthone Muskulatur lumbal eher wenig Aktivität. Lediglich im thorakalen Bereich wird ständige fallverhindernde Aktivität verlangt, da das Gewicht des Thorax immer eine flektorische Wirkung auf die Wirbelsäule ausübt (Klein-Vogelbach 2000). Bei Verlagerung des Körpergewichtes vom bipodalen zum unipodalen Stand, z. B. nach links, kommt es zur einseitigen Innervation einer ganzen Synergie der rechten Seite (▶ Abb. 10.34): ● autochthone Rückenmuskulatur ● M. quadratus lumborum aus der Gruppe der tiefen Bauchmuskeln ● Mm. obliquus internus und externus abdominis der seitlichen Rumpfwandmuskulatur Ziel dieser Aktivität ist es, ein Herabsinken des Beckens der rechten Seite zu vermeiden. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit den Mm. glutei minimi der Standbeinseite (hier links). Während des Gehens hat die Rücken- und seitliche Rumpfwandmuskulatur gleich mehrere Aufgaben: ● Impulsgebung für das Gehen (nach Gracovetsky 1989) mit Rotation und Seitneigung. Vor allem die Seitneigung wird durch abwechselnde konzentrische (Beginn der Schwungbeinphase) und exzentrische Aktivität (Ende der Schwungbeinphase) bewerkstelligt.

10

Abb. 10.32 Vorneigen des Oberkörpers/Muskelschlingen bei Rumpfflexion. Bei der rechten Figur übernehmen die Fascia thoracolumbalis und dorsale Bänder Haltefunktion.

M. quadratus lumborum M. gluteus medius

M. erector spinae

M. gluteus minimus

Abb. 10.33 Aufpumpen der Fascia thoracolumbalis.

Abb. 10.34 Synergismus Rückenstrecker – Mm. glutei minimi. Der Rumpf ist nach links verlagert, die rechte Rumpfmuskulatur und die Mm. glutei links arbeiten synergistisch.

285

Lendenwirbelsäule ●

Antagonismus zu den Bauchmuskeln. Der Armpendel, der während des Gehens eingesetzt wird, bringt einen rotatorischen Impuls auf den Oberkörper. Dieser muss durch Aktivität der Bauchmuskeln gebremst werden. Der flektorischen Tendenz der Bauchmuskeln wird durch die extensorische Kraft der Rückenmuskeln entgegengewirkt.

Insgesamt ist die Aktivität im Stand und während des Gehens von ständig wechselnden konzentrischen und exzentrischen Aktivitäten geprägt. Die sollte mit in das therapeutische Konzept einer stabilisierenden Behandlung einfließen: vertikale Positionen und wechselnde Aktivitäten mit rotatorischen und lateralflexorischen Impulsen.

10.3.6 Biomechanische Grundlagen Das lumbale Segment ist eine kinematische Kette aus 3 Gliedern – 1 Bandscheibe und 2 Wirbelgelenken. Alle 3 beeinflussen sich gegenseitig. Bei einem gesunden Segment liegen die Achsen der Bewegungen im Diskus (▶ Abb. 10.35). Dadurch entsteht wenig Translation und

L

L

R

▶ Symmetrische Bewegungen. Bei Extension (Retroflexion, Lordose) gleiten die Gelenkflächen tief ineinander (Konvergenzbewegung), bei Flexion (Anteflexion, Entlordosierung) auseinander (Divergenzbewegung, ▶ Abb. 10.36). ▶ Nicht symmetrische Bewegungen. Bei Seitneigung erfolgt bei allen Wirbelsäulenabschnitten eine zwangsläufige Rotation und ebenso erfolgt bei Rotation gleichzeitig eine Seitneigung. Dies wird als gekoppelte Bewegung bezeichnet. Die Richtungen der Begleitbewegungen sind in der LWS unterschiedlich, je nachdem, ob die Wirbelsäule in Flexion oder in Extension eingestellt ist. ▶ Gekoppelte und kombinierte Bewegungen. Bei Flexion im funktionellen Abschnitt Th 10/11–LS/S 1 wird die Seitneigung immer von einer automatischen gleichsinnigen axialen Rotation begleitet. ● Flexion und Seitneigung rechts mit Rotation rechts (▶ Abb. 10.37) ● Flexion und Seitneigung links und Rotation links

Flexion/Extension

Seitneigung R

viel Kippung. Bei Höhenverlust der Bandscheibe verlagern sich die Achsen und mehr Scherkräfte entstehen (White u. Panjabi 1990).

E

F

F

E

Abb. 10.35 Lage der Bewegungsachsen.

Abb. 10.36 Divergenz und Konvergenz.

286

Abb. 10.37 Gekoppelte Position in Flexion.

10.5 Kurzfassung des Palpationsganges

10.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen Orientierende Projektionen durch Höhenzuordnungen und Verbindungslinien in ASTE Bauchlage: ● Verbindung der Cristae iliaca (Jacoby-Linie) und SIPS ● lumbosakrales Kreuz Lokale knöcherne Palpation zur Lokalisation der lumbalen Dornfortsätze: ● kaudaler Zugang über Proc. spinosus S 2 zu L 5 ● Lokalisation weiterer lumbaler Procc. spinosi ● kranialer Zugang über Proc. spinosus Th 11

10.5 Kurzfassung des Palpationsganges

Abb. 10.38 Gekoppelte Position in Extension.

In Extensionsposition (z. B. physiologische Lordose) wird die Seitneigung immer von einer automatischen gegensinnigen axialen Rotation begleitet. Dies gilt für alle Segmente. ● Extension und Seitneigung rechts mit Rotation links (▶ Abb. 10.38) ● Extension und Seitneigung links mit Rotation rechts Bei älteren Personen erfolgt eine Kopplung von Seitneigung und Rotation immer in die gleiche Richtung. Diese Bewegungskopplungen entstehen automatisch bei aktiven und passiven Bewegungen, es sei denn, man entschließt sich dazu, die LWS bewusst anders einzustellen. Jede andere Zusammenstellung von Rotation und Seitneigung wird dann als „kombiniert“ oder „nicht gekoppelt“ bezeichnet. Kombinierte Einstellungen der WS benutzt man in der Manuellen Therapie zur Herstellung einer möglichst festen Verriegelung, um nicht gewollte Bewegungen zu verhindern. Sowohl die symmetrischen als auch die gekoppelten Bewegungen können zur Beurteilung des segmentalen Bewegungsverhaltens und zur Feststellung einer Bewegungseinschränkung genutzt werden (Kap. 10.8.6).

Für einige Tests und Behandlungstechniken bleibt die genaue Höhenbestimmung eines betroffenen Segmentes unerlässlich. Die Orientierung erfolgt lumbal lediglich anhand der sicheren Palpation der Procc. spinosi. Dies ist und bleibt, auch nach etwas Übung, keine einfache Aufgabe. Daher sollte der Therapeut wissen, wie er an das Ertasten der lumbalen Procc. spinosi herangeht. Die Vorstellung, was an Formen und Konsistenzen erwartet werden kann, sowie ein paar Tricks zur Bestätigung einer Lokalisation werden dabei sicher helfen. Um sicher und gezielt die lumbalen Strukturen aufzusuchen, sind einige Techniken notwendig, die im Kap. 9 beschrieben sind: ● Aufsuchen der Crista iliaca, Abschnitt „schnelle knöcherne Orientierung“ bzw. Abschnitt „lokale knöcherne Palpation“ ● Lokalisation der SIPS, Abschnitt „lokale knöcherne Palpation“

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Um sich an der LWS palpatorisch zu orientieren, gibt es ungenaue, aber auch recht präzise Möglichkeiten. Je nach Zielsetzung und zeitlicher Möglichkeit setzt man die jeweilige Technik ein. In dem folgenden Palpationsgang befassen wir uns zunächst mit den schnellen Orientierungsmöglichkeiten für den Versuch, die Höhe von L 4, S 1 bzw. S 2 zu ermitteln. Der einzige wirklich direkt erreichbare Anteil des lumbalen Wirbels ist nun mal der Proc. spinosus. Alles andere bleibt palpatorische Spekulation. Wirbelgelenk und Querfortsatz liegen unter zentimeterdicken Muskeln und lassen sich nur mittelbar erreichen und ggf. per Druck auf Schmerzen provozieren. So bleibt also der Proc. spinosus der einzige zuverlässige Anhaltspunkt für Höhenlokalisation, Schmerzprovokation und segmentale Bewegungsprüfung. Es gilt also ihn exakt zu identifizieren und zu benennen.

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10.5 Kurzfassung des Palpationsganges

10.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen Orientierende Projektionen durch Höhenzuordnungen und Verbindungslinien in ASTE Bauchlage: ● Verbindung der Cristae iliaca (Jacoby-Linie) und SIPS ● lumbosakrales Kreuz Lokale knöcherne Palpation zur Lokalisation der lumbalen Dornfortsätze: ● kaudaler Zugang über Proc. spinosus S 2 zu L 5 ● Lokalisation weiterer lumbaler Procc. spinosi ● kranialer Zugang über Proc. spinosus Th 11

10.5 Kurzfassung des Palpationsganges

Abb. 10.38 Gekoppelte Position in Extension.

In Extensionsposition (z. B. physiologische Lordose) wird die Seitneigung immer von einer automatischen gegensinnigen axialen Rotation begleitet. Dies gilt für alle Segmente. ● Extension und Seitneigung rechts mit Rotation links (▶ Abb. 10.38) ● Extension und Seitneigung links mit Rotation rechts Bei älteren Personen erfolgt eine Kopplung von Seitneigung und Rotation immer in die gleiche Richtung. Diese Bewegungskopplungen entstehen automatisch bei aktiven und passiven Bewegungen, es sei denn, man entschließt sich dazu, die LWS bewusst anders einzustellen. Jede andere Zusammenstellung von Rotation und Seitneigung wird dann als „kombiniert“ oder „nicht gekoppelt“ bezeichnet. Kombinierte Einstellungen der WS benutzt man in der Manuellen Therapie zur Herstellung einer möglichst festen Verriegelung, um nicht gewollte Bewegungen zu verhindern. Sowohl die symmetrischen als auch die gekoppelten Bewegungen können zur Beurteilung des segmentalen Bewegungsverhaltens und zur Feststellung einer Bewegungseinschränkung genutzt werden (Kap. 10.8.6).

Für einige Tests und Behandlungstechniken bleibt die genaue Höhenbestimmung eines betroffenen Segmentes unerlässlich. Die Orientierung erfolgt lumbal lediglich anhand der sicheren Palpation der Procc. spinosi. Dies ist und bleibt, auch nach etwas Übung, keine einfache Aufgabe. Daher sollte der Therapeut wissen, wie er an das Ertasten der lumbalen Procc. spinosi herangeht. Die Vorstellung, was an Formen und Konsistenzen erwartet werden kann, sowie ein paar Tricks zur Bestätigung einer Lokalisation werden dabei sicher helfen. Um sicher und gezielt die lumbalen Strukturen aufzusuchen, sind einige Techniken notwendig, die im Kap. 9 beschrieben sind: ● Aufsuchen der Crista iliaca, Abschnitt „schnelle knöcherne Orientierung“ bzw. Abschnitt „lokale knöcherne Palpation“ ● Lokalisation der SIPS, Abschnitt „lokale knöcherne Palpation“

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Um sich an der LWS palpatorisch zu orientieren, gibt es ungenaue, aber auch recht präzise Möglichkeiten. Je nach Zielsetzung und zeitlicher Möglichkeit setzt man die jeweilige Technik ein. In dem folgenden Palpationsgang befassen wir uns zunächst mit den schnellen Orientierungsmöglichkeiten für den Versuch, die Höhe von L 4, S 1 bzw. S 2 zu ermitteln. Der einzige wirklich direkt erreichbare Anteil des lumbalen Wirbels ist nun mal der Proc. spinosus. Alles andere bleibt palpatorische Spekulation. Wirbelgelenk und Querfortsatz liegen unter zentimeterdicken Muskeln und lassen sich nur mittelbar erreichen und ggf. per Druck auf Schmerzen provozieren. So bleibt also der Proc. spinosus der einzige zuverlässige Anhaltspunkt für Höhenlokalisation, Schmerzprovokation und segmentale Bewegungsprüfung. Es gilt also ihn exakt zu identifizieren und zu benennen.

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Lendenwirbelsäule

10.6 Ausgangsstellung Bevorzugt wird die Bauchlage des Probanden mit individueller physiologischer Lordose. Als „individuell physiologisch“ kann man die Kurvatur ansehen, die ein Proband im Stand einnimmt. Meist wird das durch eine flache Bauchlage erreicht. Dadurch entsteht eine Mittelstellung zwischen Extension und Flexion, die sich zur Beurteilung von segmentalem Bewegungsverhalten eignet. Eine Unterlagerung von Bauch und Becken bewirkt eine Einstellung der LWS in Flexion, wodurch sich die Procc. spinosi voneinander entfernen. Hierdurch klafft der interspinale Raum und dorsale Weichteile (supraspinales Band und Mm. multifidi) werden mehr gespannt. Je nach Ausmaß der Unterlagerung wird die Palpation dadurch eher erschwert. Eine Einstellung der LWS in einer stark lordosierten Position, z. B. durch Unterarmstütz, nähert die Procc. spinosi derart stark an, dass eine Differenzierung der einzelnen lumbalen Procc. spinosi zur Höhenlokalisation kaum noch möglich ist.

Tipp In Bauchlage ist das Unterlegen eines Bauchkissens vor der Palpation nicht generell empfehlenswert. Eine Erleichterung der Lokalisation der Procc. spinosi ist nicht immer zu erwarten. Die interspinalen Räume sind sehr eng und recht schwer voneinander zu differenzieren. Ihre Verkleinerung vor Beginn der Palpation durch eine zusätzliche Lordosierung ist daher ebenso zu vermeiden. Jede andere Lagerung des Patienten verändert auch das typische Bewegungsverhalten bei segmentalen Tests.

der Bank aufliegen oder zumindest den gleichen Abstand zur Bank haben. Eine Drehung des Beckens kann ggf. korrigiert werden. Weitere Anmerkungen sowie Abbildungen zur Bauchlage finden Sie im Kap. 8.6.

10.6.1 Schwierige und alternative Ausgangsstellung ▶ Neutrale Seitenlage. In Diagnostik und Therapie liegt die stärker schmerzhafte Seite meistens oben. Es ist darauf zu achten, dass die Wirbelsäule insgesamt nach ihren natürlichen bzw. individuell vorgegebenen Schwingungen gelagert wird. Das Auftreten einer Seitneigung sollte durch Unterlagerung korrigiert werden. ▶ Vertikale Körperpositionen. Die ASTE Sitz oder Stand hat immer zur Folge, dass eine Muskelaktivität die Palpation der Procc. spinosi oder tiefer liegender Strukturen erheblich erschwert. Der Vorteil dieser ASTEn liegt im größeren Ausmaß der Bewegungskopplungen im Vergleich zur Bauchlage. Wenn eine Palpation der Procc. spinosi im Sitz gut möglich ist, kann eine sichere Aussage über segmentale Beweglichkeit getroffen werden.

10.7 Palpationstechniken 10.7.1 Orientierende Projektionen Zur schnellen Orientierung im lumbosakralen Übergang kann man anhand weniger Referenzpunkte einige relativ genaue Höhenlokalisationen durchführen.

Verbindung von Crista iliaca und SIPS ▶ Einstellung in der Frontalebene. Es sollte darauf geachtet werden, dass der Patient möglichst ohne Verschiebung des Beckens zu einer Seite auf dem Bauch liegt. Ein Beckenshift entspricht einer von kaudal eingebrachten Seitneigung, besonders der tiefen lumbalen Segmente.

Tipp Zur reinen Lokalisierung und Differenzierung der Procc. spinosi in Bauchlage ist die neutrale Einstellung in dieser Ebene nicht so entscheidend. Wird die Palpation mit einer segmentalen Bewegungsprüfung verbunden, verändert eine nicht neutrale Position auch hier das Bewegungsverhalten.

▶ Einstellung in der Transversalebene. Ebenso ist darauf zu achten, dass die Wirbelsäule vor der Palpation nicht rotatorisch eingestellt wird. Nach der Einnahme der Bauchlage wird kontrolliert, ob beide anterioren Spinae

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Mit einer der beiden beschriebenen Techniken (Kap. Crista iliaca oder Kap. 9.7.2) wird die Crista iliaca zunächst auf einer Seite aufgesucht. Empfehlenswert ist die Technikvariante mit der rechtwinkligen Palpation von kranial. Zur Sicherung des Palpationsergebnisses wird an der am weitesten kranial gelegenen Stelle der Crista iliaca eine Markierung auf die Haut gezeichnet. Diesen Schritt wiederholt man auf der Gegenseite. Nun werden beide Markierungen verbunden (JacobyLinie, ▶ Abb. 10.39). Die Angaben bzgl. des aufzufindenden Proc. spinosus werden in der Literatur sehr unterschiedlich angegeben. Kapandji (2006) beispielsweise gibt an, dass im Röntgenbild die Verbindung beider Darmbeinkämme zwischen L 4 und L 5 landet. In etwa 60 % aller Fälle traf die JacobyLinie den Proc. spinosus von L 4.

10.7 Palpationstechniken

Vorsicht Die große Varianz der ermittelten Höhen der Cristae lässt sich durch individuelle und geschlechtsspezifische Unterschiede in der Höhe der Beckenanatomie erklären. Männer haben allgemein ein höheres und schmaleres Becken. Bei der Palpation dieses männlichen Beckens wurde außergewöhnlicher Weise die Unterkante des Proc. spinosus von L 3 getroffen.

Lumbosakrales Kreuz Die Markierung der rechten Crista wird mit der linken SIPS und die der linken Crista mit der rechten SIPS jeweils durch eine Linie verbunden (▶ Abb. 10.40). Der Kreuzungspunkt zeigt meistens die Position des Proc. spinosus von L 5. Diese schnelle Orientierung ist im Ergebnis zuverlässiger als die Höhenlokalisation durch die Verbindung beider Cristae und weniger zuverlässig als die Verbindung der Unterkanten beider SIPS.

10.7.2 Lokale knöcherne Palpation Im nächsten Schritt werden die SIPS aufgesucht und die am weitesten kaudal gelegene Begrenzung (Unterkante) angezeichnet. Die Techniken hierzu wurden im Kap. 9.7.3 beschrieben. Die Unterkanten beider SIPS werden mit einer Linie verbunden. Diese verläuft konstant (zu 81 %, McGaugh 2007) über den Proc. spinosus von S 2 (▶ Abb. 10.39).

Das Ziel ist die sichere Lokalisation der lumbalen Dornfortsätze. Dies gelingt durch folgende Schritte: ● kaudaler Zugang über Proc. spinosus von S 2 ● Lokalisation weiterer lumbaler Procc. spinosi ● kranialer Zugang über Proc. spinosus von Th 11 Aufgesucht werden alle Procc. spinosi des funktionellen Abschnittes der LWS. Dieser reicht von Th 10/11 bis L 5–S 1.

Kaudaler Zugang über den Proc. spinosus von S 2 Der kaudale Einstieg zur Lokalisation der lumbalen Dornfortsätze ist der gebräuchlichste und zuverlässigste. Die Sicherheit der palpatorischen Darstellung, vor allem von L 5 und L 4, hängt von dem genauen Auffinden der SIPS und dem Proc. spinosus S 2 ab. Dies ist ausführlich im Kap. 9.7.4 behandelt. Die Palpation wird jetzt lediglich nach kranial fortgesetzt.

Abb. 10.39 Verbindung der Cristae und SIPS.

Abb. 10.40 Lumbosakrales Kreuz.

▶ Schritt 1. Die Unterkanten beider SIPS werden aufgesucht. Die Verbindungslinie markiert die Lage von S 2 (▶ Abb. 10.41). Dieses Rudiment eines Proc. spinosus wird während des Tastvorganges in aller Regel als deutliche Erhebung wahrgenommen. Hierzu benutzt man die Technik mit einer leicht kreisenden rundlichen Palpation mit der Fingerbeere.

10

Abb. 10.41 Lokalisation des Proc. spinosus von S 2.

289

Lendenwirbelsäule ▶ Schritt 2. Die Fingerbeere rutscht etwa 1 Zentimeter weiter nach kranial und sucht wiederum eine kleine rundliche Erhebung, die den Rest des Proc. spinosus von S 1 darstellt (▶ Abb. 10.42). Dabei beschreibt der Finger eine schräg abschüssige Bewegung nach ventral. Die Varianten bei S 1 sind sehr groß. Von einer Größe wie bei S 2 über eine minimal spürbare Erhebung bis zum völligen Fehlen ist alles möglich. ▶ Schritt 3. Etwa 1 Fingerbreit (des Patienten) weiter kranial liegt der Proc. spinosus von L 5. Seine Unterkante erreicht man, indem die Fingerbeere auf dem schrägen Sakrum nach kranial rutscht und die Fingerspitze einen deutlichen harten Widerstand erhält (▶ Abb. 10.43). Meist ist die Unterkante als Stufe nach dem interspinalen Raum L 5–S 1 zu spüren. Die Erwartung dieser harten Kante wird durch das Fehlen des Lig. suprapsinale an diesem Interspinalraum ermöglicht.

Tipp Dieser palpatorische Schritt ist so eminent wichtig, dass er mit weiteren Informationen und palpatorischen Tricks abgesichert werden muss.

Anmerkung zur Pathologie Bei bestehender ausgeprägter Spondylolisthesis im Segment L 5–S 1 kann man bei schlanken Patienten eine lokale Zunahme der Lordose mit Stufenbildung im Übergang von S 1 zu L 5 palpieren (Sprungschanzenphänomen, Wittenberg et al. 1998). Dieses Palpationsergebnis kann man in ASTE Bauchlage oder Stand erzielen. Achtung: Der Umkehrschluss ist nicht zulässig! Nicht jede palpierte Stufenbildung muss zwingend auf eine bestehende Spondylolisthesis hinweisen.

Bestätigung der Palpation über Form und Größe Die normale Erwartung über Form und Größe des Proc. spinosus L 5 aus der beschreibenden Anatomie lässt erwarten, dass er eher klein und rund, nahezu „spitz“ nach dorsal zulaufend ist. Die Procc. spinosi L 1–L 4 sind sehr lang (kraniokaudale Ausdehnung). Trotz dieses anatomischen Vorwissens können Verwechslungen und Schwierigkeiten in der Höhenlokalisation von L 5 insbesondere dann entstehen, wenn der Processus von S 1 deutlich ausgebildet ist. Er ähnelt dann in Form und Größe dem von L 5.

Bestätigung über Endgefühlprüfung

Abb. 10.42 Lokalisation des Proc. spinosus von S 1.

Abb. 10.43 Kaudale Kante des Proc. spinosus L 5.

290

Eine Differenzierung zwischen L 5 und S 1 durch ventral gerichteten Druck ist meist sehr aussagekräftig. Hierzu setzt man die beschwerte ulnare Handkante auf die Stelle, an der S 1 vermutet wird (▶ Abb. 10.44). Zunächst führt man eine ventral gerichtete, langsam wippende Bewegung durch und gibt schließlich (falls vorher keine Schmerzen verursacht wurden) einmal am Ende einer Schubbewegung einen deutlichen ventralen Überdruck. Das gleiche Manöver führt man auf der vermuteten Stelle von L 5 durch. Hierzu platziert man allerdings zunächst einen Daumen, um den spitzen Proc. spinosus zu betonen (▶ Abb. 10.45). Dann wird der Daumen mit der ulnaren Handkante oder dem Daumenballen beschwert (▶ Abb. 10.46). Erneut bringt man einen rhythmischen

Abb. 10.44 Ventraler Schub auf S 1.

10.7 Palpationstechniken nosus. Zu erwarten ist, dass der kraniale unter dem Druck etwas nach ventral wegtaucht und der kaudale stehen bleibt. Dieser Differenzierungsversuch hat zwischen der vermuteten Lokalisation von S 1–S 2 keine Bewegung zur Folge. Diese Technik wird auch zur Differenzierung der weiteren lumbalen Procc. spinosi benutzt und ist auch da bebildert.

Tipp

Abb. 10.45 Endgefühlprüfung L 5 – Phase 1.

Die letzten beiden Bestätigungstests basieren auf der Annahme, dass sich L 5 unter ventralem Schub bewegt und S 1 nicht. So hilfreich und aussagekräftig beide Tests sind, eine Restungenauigkeit besteht noch. Im Falle anatomischer Variationen im Sinne einer Hemisakralisation oder einer segmentalen Bewegungseinschränkung L 5–S 1 helfen sie nicht. Bleibt nur noch die Bestätigung von L 5 durch den Größenunterschied zu L 4 und L 3. Regelmäßig sind diese Procc. spinosi deutlich länger als L 5.

Zusammenfassung ● ● ● ●

Abb. 10.46 Endgefühlprüfung L 5 – Phase 2.





ventralen Schub ein und prüft anschließend mit einem deutlichen Überdruck das Endgefühl. Nun vergleicht man die Ergebnisse beider ventraler Schubbewegungen. Zu erwarten ist, dass S 1 unter dem Druck nur minimal nachgibt und mit einem fast harten Widerstand den Endgefühltest beantwortet. L 5 gibt meist deutlicher nach und zeigt ein fest-elastisches Endgefühl.

Tipp Es versteht sich von selbst, dass diese Differenzierungstechnik nicht durchgeführt werden sollte, wenn vermutet wird, damit bei Proband oder Patient einen deutlichen Schmerz hervorzurufen.

Bestätigung über Bewegung Eine weitere Möglichkeit ist das Erspüren des Bewegungsverhaltens von L 5 beim ventralen Schub. Zunächst sucht man den vermuteten Interspinalraum L 5–S 1 mit einer Fingerspitze auf. Beide benachbarten Procc. spinosi sollten gespürt werden. Nun gibt man mit Daumen oder Kleinfingerballen einen Schub auf den kranialen Proc. spi-

Aufsuchen der SIPS und des Proc. spinosus von S 2 Palpation von S 2 nach kranial zu S 1 Palpation der Unterkante des Proc. spinosus von L 5 Bestätigung über ventralem Schub mit Endgefühlprüfung Bestätigung über Bewegungspalpation bei ventralem Schub ggf. Bestätigung durch Lokalisation des ersten langen Proc. spinosus (L 4)

10 Lokalisation weiterer lumbaler Procc. spinosi Nachdem der Proc. spinosus von L 5 nahezu sicher bestimmt wurde, können die weiteren lumbalen Processus ausfindig gemacht werden. Die Sicherheit über die Lage des jeweiligen Processus erhält man über: ● Form und Größe ● Bestätigung durch Bewegung Wie bereits erwähnt, sind die Procc. spinosi von L 4–L 1 sehr lang und sehr wellig geformt. Die Wellen des Proc. spinosus sind an den Seiten und der Rückseite zu finden und täuschen zuweilen das Vorhandensein eines Interspinalraumes vor. Zur genaueren Lokalisation des Interspinalraumes palpiert man an den Seiten der Processi entlang, bis eine Lücke deutlich wird. Die Palpation auf der dorsalen Seite ist weniger zuverlässig, da das Lig. supraspinale derb fibrös und gespannt sein kann und somit den Zugang zur erwarteten Lücke nicht freigibt.

291

Lendenwirbelsäule

Abb. 10.47 Palpation L 4–L 5.

Abb. 10.48 Palpation L 3–L 4.

▶ Schritt 1. Von der Unterkante L 5, die mit einem kleinen Strich markiert wird, palpiert man seitlich nach kranial und spürt den Raum zwischen den Procc. spinosi L 4–L 5 nach wenigen Millimetern (▶ Abb. 10.47). Zur Sicherheit lässt man vorerst den Finger an der Unterkante von L 5. Sollte man die Unterkante von L 4 nicht gleich finden, kann man von L 5 erneut starten. Die vermutete Unterkante von L 4 wird markiert. ▶ Schritt 2. Mit der gleichen Technik wird der Proc. spinosus von L 3 lokalisiert: den Finger bei L 4–L 5 lassen und den nächsthöheren Interspinalraum suchen (▶ Abb. 10.48). Alle weiteren Procc. spinosi lassen sich somit ermitteln.

Tipp Lassen Sie sich nicht durch die Länge der Procc. spinosi von L 4–L 1 verunsichern und vertrauen Sie Ihrer Wahrnehmung.

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Abb. 10.49 Bestätigung durch Bewegung.

▶ Schritt 3 – Bestätigung durch Bewegung. Zur Absicherung der richtigen Lokalisation eines Interspinalraumes bringt man in dem aufgesuchten Segment eine Bewegung hinein, die durch einen palpierenden Finger wahrgenommen wird. Ein Interspinalraum ist dann sicher gefunden, wenn sich der kraniale Proc. spinosus bewegt und der kaudale stehen bleibt. Hierzu wird ein Finger mit der Beere von dorsal auf den Interspinalraum gelegt. In ▶ Abb. 10.49 geht es um die Bestätigung des Interspinalraumes L 3–L 4. Kranial des vermuteten Interspinalraumes wird mit dem Daumenballen ein ventraler rhythmischer Schub auf den Proc. spinosus L 4 eingebracht. Die palpierende Fingerbeere spürt im Interspinalraum das Abtauchen und Rückbewegen des kranialen Proc. spinosus.

Tipp Der ventrale Schub muss nicht besonders stark sein. Nicht das Wegtauchen, sondern der Rückweg ist am besten zu spüren. Daher sollte das Wegnehmen des ventralen Schubes sehr schnell ausgeführt werden, um eine noch deutlichere Information an der Spitze des palpierenden Fingers zu bekommen. Bei schwierigen anatomischen Voraussetzungen muss man zuweilen die Palpation der Interspinalräume immer wieder mit dieser Technik bestätigen. Damit man stets von einer gesicherten Stelle aus vorgehen kann, ist es günstig, die bereits festgestellten Unter-/Oberkanten der Procc. spinosi zeichnerisch zu markieren. Prinzipiell lassen sich alle Dornfortsätze des funktionellen Abschnittes LWS auf diese Weise feststellen und zeichnerisch markieren. Der thorakolumbale Übergang ist dann erreicht, wenn sich die Größe der Procc. spinosi abrupt ändert. Ab Th 12 sind die Processi wieder sehr spitz.

10.7 Palpationstechniken

Kranialer Zugang über den Proc. spinosus von Th 11 Zur schnellen Orientierung im thorakolumbalen Bereich eignet sich das Aufsuchen des Proc. spinosus von Th 11 über die Lokalisation der 12. Rippe, deren Spitze frei in der dorsolateralen Rumpfwand hängt. ▶ Schritt 1. Zum Aufsuchen der 12. Rippe orientiert man sich vom lumbalen Rückenstrecker nach lateral in den Raum zwischen Crista iliaca und dem unteren Rippenbogen. Dieser Raum ist für gewöhnlich etwa nur 2 Finger breit (▶ Abb. 10.50). ▶ Schritt 2. Von hier aus wird mit einer rechtwinkligen Technik zunächst die Crista iliaca in ihrer Lage bestätigt (▶ Abb. 10.51). Dann wendet man die palpierenden Finger nach kranial, versucht die Unterkante der 12. Rippe zu finden (▶ Abb. 10.52) und stößt recht bald auf einen sehr festen Widerstand.

Tipp Wichtig ist, dass sehr weit medial und nahe am Rückenstrecker palpiert wird. Zu weit lateral ist bereits die 11. Rippe erreichbar. Die Konsistenz bei Druck auf die 12. Rippe ist hier nicht typisch ossär hart, da die Rippe, wie erwähnt, recht beweglich in der Rumpfwand hängt und somit mobiler ist als die Rippen mit direktem oder mittelbarem Sternumkontakt (Rippen 1–10). Bei einer ausgeprägten Seitneigung muss die 12. Rippe der Crista iliaca ausweichen können.

▶ Schritt 3. Hier wird bestätigt, dass man auch die 12. Rippe gefunden hat. Die Unterkante der ertasteten Rippe wird nach lateral verfolgt, bis das Ende der Rippe spürbar wird (▶ Abb. 10.53). Die nächst höhere Rippe sollte dann auch ein tastbares Ende etwas weiter ventral in der Rumpfwand haben.

10 Abb. 10.50 Crista iliaca und 12. Rippe.

Abb. 10.52 Aufsuchen der 12. Rippe.

Abb. 10.51 Bestätigung der Crista iliaca.

Abb. 10.53 Spitze der 12. Rippe.

293

Lendenwirbelsäule ▶ Schritt 5. Von hier aus kann man sich weiter kaudal in die lumbale Region oder weiter kranialwärts in die thorakale Wirbelsäule orientieren (▶ Abb. 10.56).

Tipp Die Sicherheit der Höhenlokalisation hängt stark davon ab, ob die 12. Rippe auch wirklich weit genug nach medial verfolgt wird. Geschieht das nicht konsequent genug, gelangt man ein Niveau zu tief. Wenn die Bestimmung des Proc. spinosus von Th 11 richtig ist, dann ist der nächst kaudale Processus (Th 12) spitz und kurz, der von L 1 wiederum sehr lang. Abb. 10.54 Palpation nach medial.

10.8 Hinweise zur Behandlung 10.8.1 Wissenschaftliche Güte lumbaler Palpation

Abb. 10.55 Höhenlokalisation Proc. spinosus von Th 11.

Abb. 10.56 Weitere Palpation thorakolumbal.

▶ Schritt 4. Die palpierenden Finger rutschen auf die Rippe 12, die nach medial verfolgt wird, bis sie durch das Muskelpaket der M. erector trunci nicht mehr direkt erreicht werden kann (▶ Abb. 10.54). An dieser Stelle liegt in gleicher Höhe der Querfortsatz von Th 12. Der Proc. spinosus von Th 11 gilt dann als sicher lokalisiert, wenn von der Höhe der Rippe 12 und Querfortsatz von Th 12 der nächst höhere Processus aufgefunden wird (▶ Abb. 10.55).

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Die Palpation lumbaler Procc. spinosi ist bei medizinischen sowie therapeutischen Berufen ein Standardverfahren (Nyberg u. Russel Smith 2014). Für die Diagnose und Behandlung scheint es eine unverzichtbare Fähigkeit zu sein (Kilby et al. 2012, Merz et al. 2013). 99 % aller durch Carlesso et al. (2013) befragten kanadischen Manualtherapeuten benutzen diese Palpation. Die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Palpation lumbaler Procc. spinosi werden in der Literatur kontrovers diskutiert. Downey et al. (1999) geben sich sehr optimisitisch. Nach seinen Erkenntnissen haben Physiotherapeuten eine 92 %ige Übereinstimmung in dem palpatorischen Aufsuchen zufällig benannter lumbaler Procc. spinosi. Dabei lagen die Probanden entspannt in Bauchlage und wurden von trainierten Manualtherapeuten palpiert. In der Arbeit von Kilby verglichen die Autoren die Übereinstimmung manueller Palpation durch erfahrene Manualtherapeuten verschiedener knöcherner lumbosakraler Referenzpunkte mit der Identifizierung durch Ultraschall (Kilby et al. 2012). Ein Übereinstimmungskoeffizient (ICC) von 0,81 für alle Strukturen und 0,83 für das Aufsuchen des Proc. spinosus L 4 veranlassen die Autoren, der manuellen Lokalisation eine ermutigende Gültigkeit zuzusprechen. Merz hat in seiner Validitätsstudie die Palpation von L 5 in der ASTE Sitz mit 3 verschiedenen Techniken durch einen erfahrenen Physiotherapeuten im Vergleich zur Lokalisation mit Röntgenaufnahmen überprüft (Merz et al. 2013). Die Techniken waren das Aufsuchen von L 5: ● über die Jacoby-Linie ● über die Verbindungsline der SIPS ● durch Bewegungspalpation Die Autoren kamen zum Schluss, dass jede einzelne Technik eine Akkuratheit von 45–61 % und in Kombination aller 3 Techniken eine Akkuratheit von 69–83 % hatte.

Lendenwirbelsäule ▶ Schritt 5. Von hier aus kann man sich weiter kaudal in die lumbale Region oder weiter kranialwärts in die thorakale Wirbelsäule orientieren (▶ Abb. 10.56).

Tipp Die Sicherheit der Höhenlokalisation hängt stark davon ab, ob die 12. Rippe auch wirklich weit genug nach medial verfolgt wird. Geschieht das nicht konsequent genug, gelangt man ein Niveau zu tief. Wenn die Bestimmung des Proc. spinosus von Th 11 richtig ist, dann ist der nächst kaudale Processus (Th 12) spitz und kurz, der von L 1 wiederum sehr lang. Abb. 10.54 Palpation nach medial.

10.8 Hinweise zur Behandlung 10.8.1 Wissenschaftliche Güte lumbaler Palpation

Abb. 10.55 Höhenlokalisation Proc. spinosus von Th 11.

Abb. 10.56 Weitere Palpation thorakolumbal.

▶ Schritt 4. Die palpierenden Finger rutschen auf die Rippe 12, die nach medial verfolgt wird, bis sie durch das Muskelpaket der M. erector trunci nicht mehr direkt erreicht werden kann (▶ Abb. 10.54). An dieser Stelle liegt in gleicher Höhe der Querfortsatz von Th 12. Der Proc. spinosus von Th 11 gilt dann als sicher lokalisiert, wenn von der Höhe der Rippe 12 und Querfortsatz von Th 12 der nächst höhere Processus aufgefunden wird (▶ Abb. 10.55).

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Die Palpation lumbaler Procc. spinosi ist bei medizinischen sowie therapeutischen Berufen ein Standardverfahren (Nyberg u. Russel Smith 2014). Für die Diagnose und Behandlung scheint es eine unverzichtbare Fähigkeit zu sein (Kilby et al. 2012, Merz et al. 2013). 99 % aller durch Carlesso et al. (2013) befragten kanadischen Manualtherapeuten benutzen diese Palpation. Die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Palpation lumbaler Procc. spinosi werden in der Literatur kontrovers diskutiert. Downey et al. (1999) geben sich sehr optimisitisch. Nach seinen Erkenntnissen haben Physiotherapeuten eine 92 %ige Übereinstimmung in dem palpatorischen Aufsuchen zufällig benannter lumbaler Procc. spinosi. Dabei lagen die Probanden entspannt in Bauchlage und wurden von trainierten Manualtherapeuten palpiert. In der Arbeit von Kilby verglichen die Autoren die Übereinstimmung manueller Palpation durch erfahrene Manualtherapeuten verschiedener knöcherner lumbosakraler Referenzpunkte mit der Identifizierung durch Ultraschall (Kilby et al. 2012). Ein Übereinstimmungskoeffizient (ICC) von 0,81 für alle Strukturen und 0,83 für das Aufsuchen des Proc. spinosus L 4 veranlassen die Autoren, der manuellen Lokalisation eine ermutigende Gültigkeit zuzusprechen. Merz hat in seiner Validitätsstudie die Palpation von L 5 in der ASTE Sitz mit 3 verschiedenen Techniken durch einen erfahrenen Physiotherapeuten im Vergleich zur Lokalisation mit Röntgenaufnahmen überprüft (Merz et al. 2013). Die Techniken waren das Aufsuchen von L 5: ● über die Jacoby-Linie ● über die Verbindungsline der SIPS ● durch Bewegungspalpation Die Autoren kamen zum Schluss, dass jede einzelne Technik eine Akkuratheit von 45–61 % und in Kombination aller 3 Techniken eine Akkuratheit von 69–83 % hatte.

10.8 Hinweise zur Behandlung Im Vergleich zu diagnostischen Ultraschall zur Lokalisation lumbaler Procc. spinosi unterliegt die Palpation dem Ultraschall, so ein Ergebnis der Arbeit von Mieritz und Kawchuk (2016), wobei die Autoren einräumen, dass der Aufwand und der zeitliche Umfang des diagnostischen Ultraschalls deutlich höher waren als eine manuelle Lokalisation. Hinsichtlich der Zuverlässigkeit, über eine lumbale Bewegungspalpation eine Bewegungseinschränkung festzustellen, leisten Schneider et al. (2008) einen Beitrag. Die Interrater-Reliabilität zweier erfahrener Chiropraktoren war 0,17. Mit der Zielsetzung der Schmerzprovokation kann die Palpation mit mäßiger bis guter Übereinstimmung eingesetzt werden (Kappa bis zu 0,73). In der Arbeit von Brismée et al. (2005) wurde die Intertester-Übereinstimmung der Bewegungspalpation von 3 erfahrenen Manualtherapeuten am Segment von L 4– L 5 von jungen Probanden in der Seitenlage überprüft (▶ Abb. 10.62). Dabei wurde die segmentale Rotation in einem gekoppelten Bewegungsmuster ermittelt. Die Aufgabe an die Tester war, anzugeben, ob ein größeres Bewegungsausmaß bei gleich- oder gegensinniger Kopplung von Rotation und Seitneigung zu erzielen ist. Bei dieser speziellen Aufgabenstellung, zwischen 2 segmentalen Bewegungen die größere zu bestimmen, betrug die Übereinstimmung lediglich maximal 4 %. Insofern ist manuelle Bewegungspalpation für diese Aufgabenstellung nicht empfehlenswert.

Fazit In der Summe können diese Ergebnisse Folgendes beitragen: ● die Absicherung der vermuteten Lokalisation eines Proc. spinosus ist ein wichtiger Beitrag zur Sicherheit ● Training und Erfahrung erhöhen die Sicherheit der korrekten Lokalisation ● Bewegunspalpation hat eine geringere Zuverlässigkeit als eine palpatorische Lokalisation lumbaler Procc. spinosi vor einem Provokationstest

10.8.2 Rotationstest Der lumbale Rotationstest (auch Rosette-Test genannt) dient bei der lokal-segmentalen Untersuchung der Überprüfung der Mobilität, besonders im Hinblick auf eine Hypermobilität in axialer Rotationsrichtung.

Technik Der kaudale Proc. spinosus wird von der Seite mit einer Daumenbeere stabilisiert, der kraniale wird in die Gegenrichtung geschoben (▶ Abb. 10.57). Hierdurch entsteht eine Rotation. Der Test schließt mit einer Endgefühlprüfung. Alle Procc. spinosi auf einer Seite werden getestet, dann wird die Seite gewechselt. Dieser Test gilt als der wichtigste Test auf segmentale Hypermobilität, da die axiale Instabilität auch die erste Form der segmentalen Instabilitäten ist.

Kriterien ●



Gelingt es, den kranialen Proc. spinosus zu bewegen? Welches Endgefühl entsteht dabei? Treten bei dem Test Schmerzen auf und lässt sich dadurch das schmerzhafte Segment lokalisieren?

Interpretation ▶ Th 10–Th 12. Es wird erwartet, dass etwas Rotation möglich ist. Das Endgefühl ist fest-elastisch. Das Fehlen dieser Mobilität ist als Bewegungseinschränkung zu bewerten. ▶ Th 12–L 5. Hier sollte keine Rotation möglich sein. Ein hart-elastisches Endgefühl ist als normal zu werten. Das Entstehen einer Rotation wird als Hypermobilität interpretiert.

10

Zum diagnostischen Rüstzeug von Therapeut und Arzt in der klinischen Beurteilung der LWS gehören die Schmerzprovokation sowie die Prüfung von Stabilität und Beweglichkeit. Dabei haben sich einige zuverlässige lokal-segmentale Tests herauskristallisiert, die nachfolgend mit Technik, Kriterien und Interpretation beschrieben werden.

Abb. 10.57 Segmentaler Rotationstest.

295

Lendenwirbelsäule ▶ L 5–S 1. Durch die anders stehenden Gelenkfacetten ist in diesem Segment wieder etwas Rotation möglich, das Endgefühl ist fest-elastisch. Bei Verlust dieser Mobilität liegt eine Hypomobilität des Segmentes vor.

10.8.3 Dorsoventrales Segmentspiel Der ventrale Schub auf einen Wirbel ist eines der häufigsten manualtherapeutischen Manöver. Er kann wahlweise auf dem Proc. spinosus oder über die Procc. transversi ausgeübt werden. Schiebt man einen Wirbel nach ventral, so entstehen immer Bewegungen in zwei Segmenten (▶ Abb. 10.58). Durch den Druck auf den Proc. spinosus entstehen kranial davon ein Klaffen in den ZAG sowie eine Kapselspannung, kaudal davon kommt es zur Kompression der ZAG-Flächen.

Ziel Überprüfen der segmentalen Mobilität, vor allem auf Hypermobilität und Schmerzprovokation.

Kriterien Beachtet werden das Ausmaß der Bewegung, die Qualität des Endgefühls sowie das Auftreten von Schmerz.

Ausführung Führt man den Schub auf die Procc. spinosi aus, wird üblicherweise die ulnare Handkante rechtwinklig zur Lordose aufgesetzt (▶ Abb. 10.59). Den Proc. spinosus von L 5 kann man lokaler mit einem Daumen erreichen (▶ Abb. 10.45).

Interpretation Man erwartet, dass der Wirbel unter dem ventralen Schub eine gewisse Strecke zurücklegt. Gesunde Segmente reagieren auf Schub und Endgefühl nicht empfindlich. Es braucht etwas Erfahrung, um in neutraler Bauchlage das Nachgeben des Wirbels einer Pathologie zuzuordnen. Stützt sich der Proband auf die Unterarme und nimmt so eine endgradige lumbale Extension ein, wird ein hartelastisches Endgefühl als normal eingestuft.

10.8.4 Bewegungspalpation der Flexion und Extension

Abb. 10.58 Wirkung des ventralen Schubes auf den Proc. spinosus.

Mit diesem Test wenden wir uns einer Reihe von Palpationsmöglichkeiten in Seitenlage zu. Zur Vorbereitung dieses Tests wird der Proband in eine neutrale Seitenlage gebracht. Dabei muss die LWS meistens etwas unterlagert werden. Es ist günstig, wenn Becken und Beine auf einer rutschigen Unterlage liegen.

Ziel Palpation des segmentalen Bewegungsverhaltens bei Flexion und Extension in beiden Hüftgelenken.

Kriterien Beobachtet werden das Öffnen und Schließen der Interspinalräume.

Abb. 10.59 Dorsoventrales Segmentspiel.

296

10.8 Hinweise zur Behandlung

Abb. 10.60 Öffnen und Schließen der Interspinalräume.

Abb. 10.61 Ventrodorsales Segmentspiel.

Ausführung

Ausführung

Zunächst ermittelt man in Seitenlage über den kaudalen Zugang, wie zuvor beschrieben, den Proc. spinosus von L 5. Je eine Fingerbeere wird in die Interspinalräume L 5– S 1 und L 4–L 5 platziert. Es ist möglich, die Fingerbeeren direkt auf oder neben den Interspinalraum zu legen. Ausgehend von einer mäßigen Hüftflexion wird allmählich mehr oder weniger Hüftflexion eingebracht. Dabei palpieren beide Fingerbeeren die Bewegungen der Procc. spinosi (▶ Abb. 10.60).

Das zu testende Segment wird aufgesucht und durch die zuvor beschriebene Technik in der Ruheposition eingestellt. Die beiden benachbarten Procc. spinosi werden mit den Fingerbeeren beider Hände direkt von dorsal aufgesucht und mit leicht ventralen Schub stabilisiert. Die Fingerspitze auf dem kaudalen Proc. spinosus überragt den Interspinalraum (▶ Abb. 10.61). Die Unterarme stabilisieren Oberkörper und Becken. Die Hüfte des Therapeuten nimmt mit den Kniegelenken des Probanden Kontakt auf. Nun wird eine geradlinige Bewegung abwechselnd durch Schub über die Beine nach dorsal und Zug am unterliegenden Proc. spinosus und am Becken nach ventral einige Male eingebracht. Anschließend wird die Position des benachbarten Proc. spinosus am Interspinalraum, sowohl beim Zug als auch beim Schub, palpiert. Findet man eine deutliche Stufe? Die Segmente L 5–S 1, L 4–L 5, L 3–L 4 werden geprüft. Es ist möglich, die Wirbelsäule von kranial über einen Schub an der oben liegen Schulter nach hinten bis direkt kranial des zu prüfenden Segmentes gekoppelt einzustellen, um die translatorischen Bewegungen nur auf ein Segment zu begrenzen.

Interpretation Es wird darauf geachtet, dass sich die Interspinalräume, z. B. bei Hüftflexion, in der Reihenfolge von kaudal nach kranial (also zuerst L 5–S 1 und dann L 4–L 5) öffnen und bei Hüftextension schließen. Es kann als Hypomobilität gewertet werden, wenn sich 2 benachbarte Wirbel gleichzeitig bewegen und kein Öffnen des Interspinalraumes festzustellen ist. Diese Technik lässt sich sehr gut dazu verwenden, eine Ruheposition in einem Segment zu finden. Sie stellt eine Situation dar, in der die Procc. spinosi weder in einem geöffneten noch in einem geschlossenen Interspinalraum eingestellt sind. Für L 5–S 1 ist das häufig eine Position mit ca. 70° Flexion, für L 3–L 4 etwa 90° Flexion.

10.8.5 Ventrodorsales Segmentspiel Ziel Mit diesem Test versucht man, eine translatorische Verschieblichkeit zwischen 2 Wirbeln herzustellen.

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Interpretation Eine normale Translation von maximal dorsaler nach maximal ventraler Bewegung wird bei ca. 1 mm angegeben. Es ist zu erwarten, dass das Segment L 5–S 1 durch Stabilisation mit den iliolumbalen Ligamenten eher noch etwas fester ist.

Kriterien ●



Das Ausmaß an translatorischer Bewegung, insbesondere die plötzliche Zunahme der Bewegung in einem Segment. Der Test stellt vor allem segmentale Hypermobilität fest.

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Lendenwirbelsäule

10.8.6 Lokal segmentale Mobilität mit gekoppelten Bewegungen Die beste Möglichkeit zu testen, ob eine segmentale Hypomobilität besteht, ist die Überprüfung mit einem gekoppelten Bewegungsverhalten. Dabei können alle Segmente des funktionellen LWS-Abschnittes (Th 10/11 bis L 5–S 1) getestet werden.

Ziel Einbringen einer gekoppelten Bewegung in Seitenlage in lordotischer Position durch Zurückschieben der oben liegenden Schulter. Dabei werden die Interspinalräume, beginnend bei Th 10–Th 11, mit einer Fingerspitze palpiert.

Abb. 10.62 Palpation bei gekoppelter Bewegung – Startposition.

Kriterien Bei einer gekoppelten Bewegung entsteht eine Rotation, die eine tastbare Verschiebung der Procc. spinosi zueinander hervorruft. Es wird beobachtet, ob in dem zu prüfenden Segment durch diese Rotation eine Stufe interspinal entsteht oder zunimmt.

Ausführung ●







Der Proband liegt in neutraler Seitenlage mit leichter Lordose. Die LWS wird so weit unterlagert, dass eine leichte Seitneigung entsteht. Eine Hand platziert den Zeige- oder Mittelfinger in einen Interspinalraum, wobei die Fingerspitze den Interspinalraum überragt und die Fingerbeere den kaudalen Proc. spinosus stabilisiert (▶ Abb. 10.62 und ▶ Abb. 10.63). Die zweite Hand schiebt die oben liegende Schulter nach dorsal und bringt die gekoppelte Bewegung ein. Bei dem abgebildeten Beispiel entsteht somit eine Rotation links bei Seitneigung rechts in einer extendierten Position der LWS (▶ Abb. 10.64). Sobald sich der kaudale Proc. spinosus an der Fingerbeere mitbewegen will, stoppt man den Schub an der Schulter und prüft, ob eine Stufe zwischen beiden Procc. spinosi entstanden ist. Danach wird die Schulter wieder nach neutral zurückrotiert, ein Segment weiter kaudal aufgesucht und der Test wiederholt.

Abb. 10.63 Palpation bei gekoppelter Bewegung – Detailansicht.

Interpretation Eine Stufenbildung zwischen 2 benachbarten Procc. spinosi am Ende der Rotation spricht für eine normale Mobilität. Normalerweise dreht sich der kranial liegende Proc. spinosus vor dem kaudal liegenden Processus. Geübte Therapeuten können die Durchführung der segmentalen Beweglichkeitsprüfung in der ASTE Sitz versuchen. In be-

298

Abb. 10.64 Palpation bei gekoppelter Bewegung – Endposition.

10.9 Literatur lasteter Position kommt es zu einer stärkeren Kopplung als in entlasteter ASTE, das Bewegungsverhalten ist aber erheblich schwerer zu spüren. Die paravertebrale Muskelspannung behindert die eindeutige Palpation der interspinalen Räume. Die Überprüfung des Bewegungsverhaltens ist auch mit gekoppelten Bewegungen in Flexion möglich.

10.8.7 Training der lumbalen Mm. multifidi Die Mm. multifidi spielen nach derzeitiger physiotherapeutischer Auffassung im Zusammenspiel mit dem M. transversus abdominis und der Fascia thoracolumbalis eine entscheidende Rolle für die lumbale segmentale sowie sakroiliakale Stabilität. Daher kann es ein therapeutisches Ziel sein, ihn zu rekrutieren und zu trainieren. Es macht dabei Sinn, zunächst nur die lumbalen Mm. multifidi ohne die lateral liegenden großen Anteile des M. erector spinae zu stimulieren. Willentliche Anspannung basiert auf Wahrnehmung der Aktivität. Ein taktiles Feedback über das Ausmaß der Anspannung ist ganz hilfreich.

Abb. 10.65 Palpation der Aktivität der lumbalen Mm. multifidi.

Abb. 10.66 Palpation der Breite des gesamten M. erector spinae.

Ausführung Bei leichter Anspannung mit Verstärkung der lumbalen Lordose ist der Muskelbauch vom Ursprung auf der Rückseite des Sakrums (Kap. 9.7.6) paravertebral bis etwa auf die Höhe von L 3 zu spüren (▶ Abb. 10.65). Dabei hat er je nach Trainingszustand eine Breite von 1–2 Fingern. Bei mageren Personen ist er in seiner Kontur auch von den benachbarten Mm. longissimus und iliocostalis optisch zu unterscheiden. Um die wirklichen Dimensionen der Mm. multifidi zu erfassen, kann im Vergleich der wesentlich größere laterale Trakt der autochthonen Muskulatur (Mm. iliocostalis und longissimus) spürbar gemacht werden. Durch Anheben des Kopfes und, falls nötig, auch ein wenig des Oberkörpers wird die nun derbe Konsistenz des angespannten Rückenstreckers von medial nach lateral palpiert, bis weiches Gewebe neben dem Rückenstrecker ertastet wird. Nimmt man etwa in Höhe L 3 den Muskelbauch des Rückenstreckers zwischen Daumen und Zeigefinger (▶ Abb. 10.66) kann man die tatsächliche Breite wahrnehmen.

10.9 Literatur Aylott CE, Puna R, Robertson PA et al. Spinous process morphology: the effect of ageing through adulthood on spinous process size and relationship to sagittal alignment. Eur Spine J 2012; 21: 1007–1012 Barker PJ, Guggenheimer K, Hodges PW et al. Effects of tensioning the lumbar fasciae on segmental stiffness during flexion and extension. Spine (Phila Pa 1976) 2006; 31: 397–405 Bjordal JM, Couppé C, Chow RTet al. A systematic review of low level laser therapy with location-specific doses for pain from joint disorders. Aust J Physiother 2003; 49: 107–116 Bogduk N. Klinische Anatomie von Lendenwirbelsäule und Sakrum. Berlin: Springer; 2000 Brismée JM, Atwood K, Fain M et al. Interrater reliability of palpation of three-dimensional segmental motion of the lumbar spine. J Man Manip Ther 2005; 13: 216–221 Carlesso LC, Macdermid JC, Santaguida PL et al. Beliefs and practice patterns in spinal manipulation and spinal motion palpation reported by canadian manipulative physiotherapists. Physiother Can 2013; 65: 167–175 Chaitow L. Palpationstechniken und Diagnostik. München: Urban & Fischer; 2001 Downey BJ, Taylor NF, Niere KR. Manipulative physiotherapists can reliably palpate nominated lumbar spinal levels. Man Ther 1999; 4: 151–156 Dvořák J. Manuelle Medizin. Bd. 1, Diagnostik. Berlin: Springer; 1998 Gracovetsky S. The spinal engine. Biomech (Bristol, Avon) 1989; 4: 127 Heylings DJ. Supraspinous and interspinous ligaments of the human lumbar spine. J Anat 1978; 125: 127–131 Hochschild J. Funktionelle Anatomie – Therapierelevante Details. Bd. 2. Stuttgart: Thieme; 2001 Jerosch J, Steinleitner W (Hrsg.). Minimalinvasive Wirbelsäulen-Intervention. Aktuelle und innovative Verfahren für Praxis und Klinik. Köln: Dt. Ärzteverlag; 2005 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Kilby J, Heneghan NR, Maybury M. Manual palpation of lumbo-pelvic landmarks: a validity study. Man Ther 2012; 17: 259–262 Klein-Vogelbach S. Funktionelle Bewegungslehre. Rehabilitation und Prävention. Bd. 1. Berlin: Springer; 2000 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie, Rücken. Berlin: Springer; 2004

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10.9 Literatur lasteter Position kommt es zu einer stärkeren Kopplung als in entlasteter ASTE, das Bewegungsverhalten ist aber erheblich schwerer zu spüren. Die paravertebrale Muskelspannung behindert die eindeutige Palpation der interspinalen Räume. Die Überprüfung des Bewegungsverhaltens ist auch mit gekoppelten Bewegungen in Flexion möglich.

10.8.7 Training der lumbalen Mm. multifidi Die Mm. multifidi spielen nach derzeitiger physiotherapeutischer Auffassung im Zusammenspiel mit dem M. transversus abdominis und der Fascia thoracolumbalis eine entscheidende Rolle für die lumbale segmentale sowie sakroiliakale Stabilität. Daher kann es ein therapeutisches Ziel sein, ihn zu rekrutieren und zu trainieren. Es macht dabei Sinn, zunächst nur die lumbalen Mm. multifidi ohne die lateral liegenden großen Anteile des M. erector spinae zu stimulieren. Willentliche Anspannung basiert auf Wahrnehmung der Aktivität. Ein taktiles Feedback über das Ausmaß der Anspannung ist ganz hilfreich.

Abb. 10.65 Palpation der Aktivität der lumbalen Mm. multifidi.

Abb. 10.66 Palpation der Breite des gesamten M. erector spinae.

Ausführung Bei leichter Anspannung mit Verstärkung der lumbalen Lordose ist der Muskelbauch vom Ursprung auf der Rückseite des Sakrums (Kap. 9.7.6) paravertebral bis etwa auf die Höhe von L 3 zu spüren (▶ Abb. 10.65). Dabei hat er je nach Trainingszustand eine Breite von 1–2 Fingern. Bei mageren Personen ist er in seiner Kontur auch von den benachbarten Mm. longissimus und iliocostalis optisch zu unterscheiden. Um die wirklichen Dimensionen der Mm. multifidi zu erfassen, kann im Vergleich der wesentlich größere laterale Trakt der autochthonen Muskulatur (Mm. iliocostalis und longissimus) spürbar gemacht werden. Durch Anheben des Kopfes und, falls nötig, auch ein wenig des Oberkörpers wird die nun derbe Konsistenz des angespannten Rückenstreckers von medial nach lateral palpiert, bis weiches Gewebe neben dem Rückenstrecker ertastet wird. Nimmt man etwa in Höhe L 3 den Muskelbauch des Rückenstreckers zwischen Daumen und Zeigefinger (▶ Abb. 10.66) kann man die tatsächliche Breite wahrnehmen.

10.9 Literatur Aylott CE, Puna R, Robertson PA et al. Spinous process morphology: the effect of ageing through adulthood on spinous process size and relationship to sagittal alignment. Eur Spine J 2012; 21: 1007–1012 Barker PJ, Guggenheimer K, Hodges PW et al. Effects of tensioning the lumbar fasciae on segmental stiffness during flexion and extension. Spine (Phila Pa 1976) 2006; 31: 397–405 Bjordal JM, Couppé C, Chow RTet al. A systematic review of low level laser therapy with location-specific doses for pain from joint disorders. Aust J Physiother 2003; 49: 107–116 Bogduk N. Klinische Anatomie von Lendenwirbelsäule und Sakrum. Berlin: Springer; 2000 Brismée JM, Atwood K, Fain M et al. Interrater reliability of palpation of three-dimensional segmental motion of the lumbar spine. J Man Manip Ther 2005; 13: 216–221 Carlesso LC, Macdermid JC, Santaguida PL et al. Beliefs and practice patterns in spinal manipulation and spinal motion palpation reported by canadian manipulative physiotherapists. Physiother Can 2013; 65: 167–175 Chaitow L. Palpationstechniken und Diagnostik. München: Urban & Fischer; 2001 Downey BJ, Taylor NF, Niere KR. Manipulative physiotherapists can reliably palpate nominated lumbar spinal levels. Man Ther 1999; 4: 151–156 Dvořák J. Manuelle Medizin. Bd. 1, Diagnostik. Berlin: Springer; 1998 Gracovetsky S. The spinal engine. Biomech (Bristol, Avon) 1989; 4: 127 Heylings DJ. Supraspinous and interspinous ligaments of the human lumbar spine. J Anat 1978; 125: 127–131 Hochschild J. Funktionelle Anatomie – Therapierelevante Details. Bd. 2. Stuttgart: Thieme; 2001 Jerosch J, Steinleitner W (Hrsg.). Minimalinvasive Wirbelsäulen-Intervention. Aktuelle und innovative Verfahren für Praxis und Klinik. Köln: Dt. Ärzteverlag; 2005 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Kilby J, Heneghan NR, Maybury M. Manual palpation of lumbo-pelvic landmarks: a validity study. Man Ther 2012; 17: 259–262 Klein-Vogelbach S. Funktionelle Bewegungslehre. Rehabilitation und Prävention. Bd. 1. Berlin: Springer; 2000 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie, Rücken. Berlin: Springer; 2004

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Lendenwirbelsäule Leonhardt H, Tillmann B, Töndury G, Zilles K (Hrsg.). Rauber/Kopsch: Anatomie des Menschen. Bd. I, Bewegungsapparat. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 1998 Merz O, Wolf U, Robert M et al. Validity of palpation techniques for the identification of the spinous process L 5. Man Ther 2013; 18: 333–338 Mieritz RM, Kawchuk GN. The accuracy of locating lumbar vertebrae when using palpation versus ultrasonography. J Manipulative Physiol Ther 2016; 39: 387–389 Netter FH. Atlas of Human Anatomy; 3rd Ed. Teterboro, New Jersey: Icon Learning Systems; 2004 Nyberg RE, Russell Smith A Jr. The science of spinal motion palpation: a review and update with implications for assessment and intervention. J Man Manip Ther 2013; 21: 160–167. Pool-Goudzwaard AL, Kleinrensink GJ, Snijders CJ et al. The sacroiliac part of the iliolumbar ligament. J Anat 2001; 199: 457–463 Richardson C, Jull G, Hodges PW et al. Therapeutic exercise for spinal segmental Stabilisation in Low Back Pain. Edinburgh: Churchill Livingstone; 1999

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Schneider M, Erhard R, Brach J et al. Spinal palpation for lumbar segmental mobility and pain provocation: an interexaminer reliability study. J Manipulative Physiol Ther 2008; 31: 465–473 Shaw JD, Shaw DL, Cooperman DR et al. Characterization of lumbar spinous process morphology: a cadaveric study of 2,955 human lumbar vertebrae. Spine J 2015; 15: 1645–1652 Vleeming A, Albert HB, Östgaard HC et al. Evidenz für die Diagnose und Therapie von Beckengürtelschmerz – Europäische Leitlinien. physioscience 2006; 2: 48–58 White AA, Panjabi MM. Clinical Biomechanics of the spine. 2nd ed. Philadelphia: Lippincott; 1990 Willard FH, Vleeming A, Schuenke MD et al. The thoracolumbar fascia: anatomy, function and clinical considerations. J Anat 2012; 221: 507–536 Wittenberg RH, Willburger RE, Krämer J. Spondylolyse und Spondylolisthese. Der Orthopä de1998; 27: 51–63 Yamamoto I, Panjabi M, Oxland TR et al. The role of the iliolumbar ligament in the lumbosacral junction. Spine 1990; 15: 1138–1141

Bauchregion

11 Bauchregion 11.1 Bedeutung der Region Die Bauchwand dient der ventralen und lateralen Abdeckung der Viszeralorgane. Der Tonus der Bauchwandmuskeln steht im funktionellen Antagonismus zum Zwerchfell. Bei Inspiration und Kontraktion lässt der Tonus etwas nach und steigt bei Exspiration. Die Bauchwandmuskeln unterstützen die forcierte Ausatmung und bewirken eine Bauchpresse. Aufgrund des größeren Abstandes zu den Rotationsachen der lumbalen und thorakalen Segmente und des sehr guten Hebels, sind die schrägen Bauchmuskeln, im Vergleich zu Anteilen des Rückenstreckers, sehr gute Rumpfrotatoren. Die Aktivität der Bauchwandmuskeln verklammert ventral die Hüftbeine und trägt somit zur Stabilität der sakroiliakalen Gelenke bei. Cowan et al. (2004) zeigten in einer EMG-gestützten Studie die Relation zwischen Leistenschmerzen und verspäteter Ansteuerung der Bauchmuskeln auf. Ein positiver Effekt der Bauchwandmuskeln auf die Stabilität der Symphyse lässt sich hieraus ableiten. Insofern spielt die Aktivität der Bauchwandmuskeln ein Rolle in der Behandlung von Symphyseninstabilitäten, z. B. während und nach einer Schwangerschaft. Die Wichtigkeit der rechtzeitigen Aktivität des M. transversus abdominis hinsichtlich der lumbalen Stabilität wurde bereits im Kapitel Funktionen der lumbalen Muskeln (S. 285) erwähnt.

11.2 Häufige therapeutische Tätigkeiten in dieser Region Massagen der Bauchdecke werden erfolgreich bei Erwachsenen und Kleinkindern zur allgemeinen Entspannung eingesetzt. Die verdauungsfördernde Wirkung der Massage der Bauchdecke ist ebenfalls bekannt. Die Kolonmassage gilt als sehr effektive Methode, die Verdauung bei einem atonischen Darm zu unterstützen (Reichert 2015). Diese Therapieform ist durch das Einsetzen von Medikamenten mit gleicher Zielsetzung in den Hintergrund getreten, ohne an Wertigkeit zu verlieren. Bei Para- und Tretraplegikern infolge einer Querschnittsverletzung des Rückenmarks sind vegetative Funktionen wie Stuhlgang und Harnausscheidung gestört. Das manuelle Triggern der Harnblase gehört zu den Fertigkeiten, die ein Patient mit einem Querschnitt ggf. erlernen muss. Innerhalb der Atemtherapie muss häufig Einfluss auf Atemtiefe und Atemrhythmus genommen werden. Ziel ist es zunächst, den Patienten zu einer ruhigen Bauchatmung anzuleiten, die bei geringer körperlicher Aktivität die normale Atemform darstellt. Die Bauchatmung hat ebenfalls einen beruhigenden Charakter, stellt eine SaugDruck-Pumpe für den venösen Transport im Bauchraum

302

dar und dient der leichten Verschiebung der Bauchorgane als weiterer Anreiz für die Darmperistaltik. Lymphatische Abflussstörungen aus dem Bein- und Leistenbereich können am geeignetsten durch Manuelle Lymphdrainage therapiert werden. Zur besseren Vorbereitung des lymphatischen Abtransports sollte vorab eine Bauchtiefendrainage erfolgen. Der größte Teil der nachfolgenden Beschreibung dient der genauen Orientierung bei Therapiegriffen, die tief in den Bauchraum eindringen, wie es bei der Kolonmassage und Manuellen Lymphdrainage erforderlich ist. Muskelrekrutierung und -kräftigung spielen nicht nur im Management von Patienten mit tiefen Rücken-, Becken- und Leistenbeschwerden, sondern auch in der Rückbildungsgymnastik eine wichtige Rolle. Vor der eigentlichen Kräftigung benötigt der Patient zunächst eine gute Wahrnehmung und ein rechtzeitiges Timing der Aktivität. Diagnostisch interessiert der Bauch den westeuropäischen Masseur oder Physiotherapeuten eher wenig. Therapeutische Diagnostik über funktionelle Störung der inneren Organe spielt sich eher am Rücken in der Betrachtung geweblicher Veränderungen im Sinne der Head'schen Zonen ab. Palpation und Auskultation des Bauch- und Beckenraumes sind eher ein Schwerpunkt des internistisch oder chirurgisch tätigen Arztes. Ganz anders ist es in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Hier ist der Stellenwert der Bauchdeckendiagnose sehr groß (Greten 2017). Dabei kommt es unter anderem auf die Schmerzhaftigkeit und Spannungszustände der Bauchdecke bei der Insepektion und Palpation an: Tonuslagen am Rippenbogen, Oberbauch, im Bereich des Bauchnabels (periumbilikal) und am Unterbauch. Was die Wichtigkeit der Palpation der Leistenregion betrifft, vertritt Winkel (2004) die Auffassung, dass die gezielte Palpation zur Bestätigung eines Leistenbruchs nicht zum direkten Aufgabengebiet von Therapeuten gehört. Eine Leistenhernie sollte aber bei einer Untersuchung der Leistenregion durch den Therapeuten nicht übersehen werden.

11.3 Notwendige Vorkenntnisse (topografisch und morphologisch) Es werden Angaben zur Anatomie der Bauchwand und der inneren Organe nur insoweit dargestellt, wie sie von therapeutischem Interesse und gleichzeitig palpabel sind. Daher wird auf die Beschreibung verschiedener Organe völlig verzichtet. Bei weiterem Wissensdurst kann die weiterführende anatomische Literatur dem anhängenden Verzeichnis entnommen werden. Um die Muskeln und

11.3 Notwendige Vorkenntnisse (topografisch und morphologisch) Organe in ihrer Lage besser beschreiben und auch nachvollziehen zu können, wird zuvor die Rumpfwand mit Linien und Ebenen in Regionen unterteilt. ●

11.3.1 Begrenzungen der Bauchwand ●







kranial: Unterrand des Thorax mit Rippenbögen (Arcus costalis), Schwertfortsatz (Proc. xiphoideus) kaudal: Beckenkamm (Crista iliaca), Leistenbänder (Ligg. inguinalia), Schambeinfuge (Symphysis pubica) lateral: mittlere Axillarlinie (Linea axillaris media)



(▶ Abb. 11.1)

11.3.2 Regionengliederung der Bauchwand ●



Als einfachste Unterteilung kann man eine Links-rechtsAufteilung anhand der Linea alba vornehmen. Sie ist der sehnige, abdominale Abschnitt der vorderen Mittellinie (Linea mediana anterior). Hier treffen sich die Rektusscheiden. Diese Linie pigmentiert bei einigen Frauen

im zweiten Schwangerschaftsdrittel. Diese Dunkelfärbung bildet sich nach der Schwangerschaft deutlich oder vollständig zurück (Schmailzl u. Hackelöer 2002). Zwei Verbindungslinien von knöchernen Strukturen werden herangezogen, um den Bauchraum transversal zu unterteilen. Die Verbindungslinie der Unterränder der 10. Rippen zeigt die Lage der Subkostalebene (Planum subcostalis) auf. Darüber befindet sich der epigastrische Raum (Epigastrium), der das sogenannte Leberfeld und das Magenfeld enthält. Kaudal der Subkostalebene befindet sich der mittlere Bauchraum (Regio abdominalis media) mit der Nabelregion (Regio umbilicalis) und den seitlichen Bauchwandregionen (Regiones abdominalis laterales). Diese Unterteilung erfolgt durch die Medioklavikularlinie (Linea medioclavicularis). Hier in etwa liegen die Seitenränder der Mm. recti abdominis. Bei der zweiten transversalen Unterteilung des Bauchraumes ist sich die anatomische Literatur nicht einig. Einige Autoren, wie z. B. Rauber und Leonhardt (1987), verbinden die höchsten Punkte der Darmbeinkämme. Hier wird die Interspinalebene (Planum interspinale), die Verbindungslinie beider SIAS vorgestellt. Kaudal dieser Ebene liegen seitlich die Leistenregionen (Regiones inguinales) und mittelständig die Regio pubica.

▶ Abb. 11.2 zeigt die Untergliederung der Regionen der Bauchwand.

2

6

1

11

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4

5

Abb. 11.1 Begrenzungen der Bauchwand: 1 = Arcus costae, 2 = Proc. xiphoideus, 3 = Crista iliaca, 4 = Lig inguinale, 5 = Symphysis pubica 6 = Linea axillaris media.

Abb. 11.2 Regionengliederung der Bauchwand: 1 = Medioklavikularlinie, 2 = Planum subcostalis, 3 = Epigastrium, 4 = Regio umbilicalis, 5 = Regio abdominalis lateralis, 6 = Planum interspinale, 7 = Regio pubica, 8 = Regio inguinalis.

303

Bauchregion

11.3.3 Tiefe und oberflächige Bauchmuskeln Unter tiefer Bauchmuskulatur versteht man diejenigen Muskeln, die den Bauchraum nach dorsal abgrenzen (▶ Abb. 11.3): ● Mm. psoas major und minor ● M. quadratus lumborum

Mm. psoas major und minor Die Psoasmuskulatur ist vor allem als Agonist der Hüftflexion bekannt. In der geschlossenen Kette wirkt der M. psoas major in Zusammenarbeit mit den Bauchwandmuskeln als Rumpfaufrichter aus der Rückenlage. Bei dieser Aktivität übt er einen enormen lordotischen Zug an seinen Ursprungsstellen, den Wirbelkörpern, Querfortsätze und Bandscheiben L 1–L 4 aus. Mit der zudem entstehenden komprimierenden Kraftkomponente ist er zu Unrecht als „böser Muskel“ mit grundsätzlich negativer Wirkung auf die LWS in der Physiotherapie bekannt. Einseitig innerviert trägt er zur aktiven Seitneigung der LWS bei.

M. quadratus lumborum Dieser mehrschichtige Muskel verspannt sich zwischen Rippe 12, den lumbalen Querfortsätze und der Crista iliaca. Er vereint mehrere Funktionen. Er gilt als Unterstützer forcierter Exspiration und Synergist der Seit-

5. Rippe

Proc. xiphoideus Linea alba M. quadratus lumborum

Intersectiones tendineae

M. psoas major

Fossa iliaca

Crista iliaca

M. rectus abdominis

M. iliacus

Lig. inguinale

M. iliopsoas

Trochanter minor

Tuberculum pubicum

Symphysis pubica

M. pyramidalis

Abb. 11.3 Tiefe Bauchmuskeln und M. rectus abdominis.

304

neigung (jeweils durch Senkung der 12. Rippe). Während des Gehens kontrolliert er die Beckenstellung in der Frontalebene und arbeitet hierbei mit den kontralateralen Mm. gluetei minimi zusammen. Sein stabilisierender Einfluss auf die LWS und die Schichten der Fascia thoracolumbalis wurde eine Zeit lang diskutiert, aber nie konsequent und konzeptionell umgesetzt. Ploumis et al. (2011) beschrieben den Zusammenhang zwischen Muskelatrophie der Rückenstreckermuskulatur und der tiefen Bauchmuskeln bei Patienten mit chronischen tiefen Rückenschmerzen. Die oberflächigen Bauchmuskeln begrenzen den Bauchraum seitlich und ventral. Auf jeder Seite befinden sich drei platte und ein unterteilter Muskel. Aufgelistet von oberflächig nach tief liegend: ● M. rectus abdominis (▶ Abb. 11.3) ● M. obliquus externus abdominis (▶ Abb. 11.4) ● M. obliquus internus abdominis (▶ Abb. 11.5) ● M. transversus abdominis (▶ Abb. 11.6) Insgesamt haben diese Muskeln die Aufgaben, im Zusammenspiel mit Beckenboden und Zwerchfell den adäquaten Druck auf die inneren Organe auszuüben und deren Zusammenhalt zu gewährleisten. Beim Anheben schwerer Gegenstände wird der Bauchraum mittels Pressatmung zu einer fest ummantelten stabilen Weichteilblase geformt. Mittels Bauchpresse wird aktiv Druck auf die Eingeweide ausgeübt (Schünke 2005). Dies unterstützt beispielsweise die Entleerung des Enddarms (Defäkation), der Blase (Miktion) und des Magens (Erbrechen). Während der Austreibungsphase der Entbindung unterstützt die Bauchpresse die Kontraktionen der Gebärmutter („Presswehen"). Sie kontrollieren die Haltung des aufgerichteten Oberkörpers. Während des forcierten Gehens begrenzen sie, zusammen mit den schräg verlaufenden Rückenmuskeln, die Rotationsbewegungen des Oberkörpers. Die Mm. transversus und obliqui abdomini verspannen die Darmbeine ventral und tragen somit zur Stabilität der sakroiliakalen Gelenke bei (Kap. 9.3.6). Der Einfluss der transversalen Bauchmuskeln auf die Lamina profunda der Fascia thoracolumbalis und somit auf die lumbale Stabilität wurde bereits mehrfach erwähnt (S. 280).

Mm. recti abdominis Beide geraden Bauchmuskeln verlaufen von Höhe der 5.– 7. Rippe zum Tuberculum pubicum neben der Symphyse (▶ Abb. 11.3). Sie liegen in einer bindegewebigen Hülle, die von den Aponeurosen der platten Bauchwandmuskeln gebildet werden. Diese Aponeurosen treffen sich an der Linea alba, die beide Recti voneinander abteilt. Die queren Intersektionen erinnern an die frühere Anlage von Rippen und erlauben eine separate Innervation der einzelnen Muskelbäuche. So können die Recti wahlweise den Brustkorb nach kaudal ziehen und/oder das Becken aufrichten.

11.3 Notwendige Vorkenntnisse (topografisch und morphologisch)

M. obliquus externus abdominis

M. transversus abdominis

Diese Muskelplatte entwickelte sich aus den äußeren Interkostalmuskeln (▶ Abb. 11.4), nachdem sich die Rippen entwicklungsgeschichtlich aus dem Bauchraum zurückgezogen haben. Seine generellen Faserverläufe beschreiben Rauber und Leonhardt (1987, S. 326) von kraniolateral nach kaudomedial, wie die Richtung einer Hand, die in eine Hosentasche gleitet. Mit muskulären Ursprungszacken entspringt er von den Rippen 5–12 (Schünke 2005). Dabei wechseln sich die Ursprungszacken mit jenen des M. serratus anterior an der sogenannten GerdyLinie ab (Schünke 2005). Sie werden besonders deutlich, wenn der Muskel gegen Widerstand eine Flexion und heterolaterale Rumpfrotation ausüben soll.

Bereits im Kapitel zur Fascia thoracolumbalis (S. 280) wurde eingehend auf seine Lage und lumbale Wirkung eingegangen. Die Besonderheit dieser stabilisierenden Wirkung durch rechtzeitige Rekrutierung erhält der Muskel durch die Verbindung der Linea alba via Fascia thoracolumbalis mit den lumbalen Querfortsätzen (▶ Abb. 11.6). Hat der Muskel ventral eine stabile Basis, kann er Punctum fixmum und mobile umkehren und nicht auf den Bauch, sondern auf die LWS einwirken. Direkt medial der SIAS kann man recht ungehindert mit palpierenden Fingern auf seine Aponeurose gelangen. Dies nutzt man in der Arbeit am Patienten aus, wenn man die willentliche Rekrutierung des Muskels übt. Hierbei reicht schon das Kommando „Bauchnabel einziehen“, um seine Aktivität zu spüren. Alle platten Bauchmuskeln haben die Lage der Muskelbäuche an der seitlichen Rumpfwand gemeinsam. Nach ventral und medial gehen sie jeweils in eine Aponeurose über, die die Linea alba und/oder die Crista iliaca als Ansatz finden. Zwischen der medialen Begrenzung ihrer Muskelbäuche und dem Außenrand des Rektus auf einer Seite gibt es eine Muskellücke, die etwa in Höhe der Medioklavikularlinie liegt (▶ Abb. 11.2). Hier lassen sich tiefer liegenden Organe, insbesondere die Anteile des Dickdarms ohne den Widerstand der Muskelbäuche erreichen.

M. obliquus internus abdominis Seine Muskelfasern verkörpern die Fortsetzung der inneren interkostalen Muskeln und haben auch deren grundsätzlichen Verlauf von kaudolateral nach kraniomedial (▶ Abb. 11.5). Der Muskelbauch der M. obliquus internus abdominis wird allgemein von dem M. obliquus externus abdominis verdeckt und ist daher eigentlich nicht direkt palpabel. Mit dem M. obliquus externus abdominis der Gegenseite komplettiert er eine ventrale diagonale Muskelschlinge.

5. Rippe

Proc. xiphoideus Linea alba

Anulus umbilicalis

Proc. xiphoideus

M. obliquus externus abdominis

Linea alba

Aponeurose des M. obliquus externus abdominis

11

Aponeurose des M. obliquus int. abdominis M. obliquus int. abdominis Crista iliaca, Linea intermed.

Crista iliaca, Labium externum Spina iliaca anterior superior

10. Rippe

Spina iliaca anterior superior Symphysis pubica

Lig. inguinale

Lig. inguinale Anulus inguinalis superficialis

Abb. 11.4 M. obliquus externus abdominis.

Abb. 11.5 M. obliquus internus abdominis.

305

Bauchregion

Corpus sterni

Proc. xiphoideus Linea alba Aponeurose des M. transversus abdominis (= Rektusscheide, Lamina posterior)

M. transversus abdominis

Linea arcuata

Crista iliaca, Labium int.

Rektusscheide, Lamina anterior

Spina iliaca anterior superior

Linea semilunaris

Symphysis pubica

Abb. 11.6 M. transversus abdominis.

Die Mm. obliquii spannen sich bei gleichseitiger Seitneigung gegen Widerstand an (Rauber u. Leonhardt 1987). Mit der Richtung der Rumpfrotation kann man zwischen beiden Mm. obliquii unterscheiden: ● Rumpfrotation zur Gegenseite = M. obliquus externus abdominis ● Rumpfrotation zur gleichen Seite = M. obliquus internus abdominis

11.3.4 Organe des Bauchund Beckenraumes Bauchraum (Cavitas abdominalis) Der Bauchraum wird von Brustkorb, Zwerchfell, Bauchwandmuskeln, Wirbelsäule sowie den Darmbeinen begrenzt (Frick et al. 1992). Nach kaudal setzt er sich als Beckenraum fort, der schließlich vom Beckenboden abgeschlossen wird. In der Bauchhöhle befinden sich die Organe des Verdauungsapparates sowie die großen Drüsen Leber und Bauchspeicheldrüse. Wie das Mediastinum im Brustraum hat auch der Bauchraum ein Bindegewebslager für große Leitungsbahnen (z. B. Aorta) hinter der Bauchhöhle. Das Bauchfell (Peritoneum) umhüllt gänzlich die in der Bauchhöhle liegenden Organe, sodass Wand und Inhalt lediglich einen spaltbreiten Abstand haben. Die Innenseite des Peritoneums produziert eine seröse Flüssigkeit,

306

die das Verschieben der Organe gegeneinander und der Wand erleichtert. Wenige Milliliter Flüssigkeit reichen dazu aus. Da insgesamt Gase nur mit geringem Volumen in den Organen des Bauchraumes vorkommen, sind diese nicht komprimierbar, aber in großem Maße verformbar. Jede Gestaltänderung eines Organs zieht eine Form- und Lageveränderung des Nachbarorgans mit sich. Verschiebungen ergeben sich z. B. durch Bauchatmung und Veränderung der Körperlage oder -haltung. Der Tonus der Bauchwand- und Beckenbodenmuskeln ist so dosiert, dass das Bauchfell die Organe optimal umschließen kann, ohne sie zu komprimieren. Bei Volumenänderungen des Bauchraumes durch Füllung von Magen und Darm bzw. durch Atmung passt sich der Tonus der Bauchwandmuskeln an. Die Trennung von Oberbauch und Unterbauch legen die Lehrbücher der Anatomie der inneren Organe etwa in Höhe L 2 fest (Rauber u. Leonhardt 1987, Frick et al. 1992). Das entspricht in etwa der Lage des Unterrandes des querverlaufenden Dickdarmteils. Der Oberbauch reicht durch die Wölbung des Zwerchfells (Diaphragma) von der Höhe Th 9 zur Höhe L 2 und ist weitgehend vom Thorax umschlossen. Hierin befinden sich: Leber, Gallenblase, Milz, größter Teil der Bauchspeicheldrüse, Magen, oberer Teil des Zwölffingerdarms (Duodenum). Der Unterbauch reicht von der Höhe L 2 bis zur Beckeneingangsebene (S 1 – Symphyse): unterer Teil des Duodenums, Kopf der Bauchspeicheldrüse, Dick- und Dünndarm.

Oberbauch Die Lage der Organe im Oberbauch (▶ Abb. 11.7) ist abhängig von Atmung und Körperhaltung. Bei Elastizitätsverlust der Lunge im Alter senken sich die Organe. Eine exakte Lagebestimmung der Organe gelingt nur mit bildgebenden Verfahren (Rauber u. Leonhardt 1987).

Magen (Gaster) Hier beginnt der enzymatische Abbau der Nahrung durch den Magensaft, Resorption spielt eine untergeordnete Rolle. Die Magensalzsäure vernichtet Bakterien in der Nahrung und hat dadurch eine wichtige Schutzfunktion. Form und Lage des Magens sind sehr variabel. Rauber und Leonhardt (1987) beschreiben seine Lage als asymmetrisch im Oberbauch von links oben nach rechts unten verlaufend. Insgesamt liegt der Magen hauptsächlich links von der Medianebene. Der Magenmund (Cardia) liegt etwa in Höhe Th 11. Die Anatomie beschreibt von der Form her drei verschiedene Haupttypen. In der unteren Hälfte der Regio epigastrica ist der Magen, links von der Medianebene, im sogenannten Magenfeld palpatorisch erreichbar.

11.3 Notwendige Vorkenntnisse (topografisch und morphologisch)

Leber (Hepar)

A. hepatica propria, R. sinister V. cava inferior

Aorta abdominalis

Gallenblase (Vesica biliaris)

Magen (Gaster) Milz (Splen)

V. portae hepatis

Ductus choledochus

Flexura coli dextra

Zwölffingerdarm (Duodenum)

A. gastroomentalis dextra Bauchspeicheldrüse (Pancreas)

A. gastroomentalis sinistra Omentum majus

11 Abb. 11.7 Organe des Oberbauchs.

Milz (Splen) Die Milz ist ein lymphatisches Organ, das in mehrfacher Weise die Blutzusammensetzung beeinflussen kann. ● Als wichtiges Immunorgan ist es mit Zellen der spezifischen Abwehr angefüllt. ● Es entfernt überalterte Erythrozyten („Lymphknoten der Blutbahn“) und dient als Thrombozytenspeicher. Das etwa faustgroße Organ gleicht in der Gestalt einer Kaffeebohne. Es ist 10–12 cm lang, 6–8 cm breit und 150– 200 g schwer. Eine feste Kapselumhüllung (Tunica fibrosa) grenzt das sonst weiche Gewebe von der Umgebung ab. Die Milz befindet sich in einer Nische hinter dem Magen und liegt direkt ventral der 9–11. Rippe sowie direkt unterhalb des Diaphragmas. Die Längsachse senkt sich

dem Verlauf der 10. Rippe absteigend zur Seite. Es hat 2 Flächen, die dem Zwerchfell und den Eingeweiden zugewandt sind. Der vordere Pol ragt normalerweise nicht unter den Rippen hervor. Bei Vergrößerung der Milz ist diese nur mit Mühe und bei tiefer Inspiration (Rauber u. Leonhardt 1987, S. 312) in der linken Halbseitenlage erreichbar (▶ Abb. 11.36).

Leber (Hepar) Als Multifunktionsorgan ist die Leber mit einem Gewicht von etwa 2000 g die größte Drüse des Körpers sowie ein wichtiges Speicher- und Ausscheidungsorgan. Die wichtigsten Funktionen sind:

307

Bauchregion ●







Produktion der Gallenflüssigkeit als exokrines Produkt zur Emulgierung der Fette im Duodenum Synthese körpereigener Stoffe aus niedermolekularen Bausteinen Speicherung von bis zu 1 l Blut sowie 400 g Glykogen. Das entspricht einem Brennwert von ca. 1600 kcal. „Entgiftung“ des Blutes, z. B. Umwandlung von Ammoniak in Harnstoff

Die Leber nimmt den größten Raum im Oberbauch ein. Die hauptsächliche Lage ist rechts der Medianebene hinter den Rippen. Durch eine derbe bindegewebige Kapsel umhüllt, erhält sie eine glatte Außenfläche. Die Form wird vorwiegend durch die Nachbarorgane bestimmt. Rauber und Leonhardt (1987) geben an, dass die typische dreieckige Form nur bei 65 % aller Personen besteht. Die kranialen Flächen schmiegen sich der Innenseite des Thorax und dem Zwerchfell (Facies diaphragmatica) an. Die dritte Seite (Facies visceralis) ist den Baucheingeweiden zugewandt. Der Unterrand (Margo inferior) beginnt seitlich rechts im Lot der mittleren Axillarlinie und steigt parallel zum Rippenbogen nach links medial aufwärts. Direkt kaudal des Proc. xiphoideus im oberen Epigastrium (Leberfeld) liegt sie direkt der Bauchwand auf und ist da mit Druck zu erreichen. Die Bewegungen der Leber sind vor allem atemabhängig. So wie Lunge mit dem Zwerchfell (Diaphragma) und der Thoraxwand verbunden sind, hat auch die Leber durch eine Adhäsionskraft eine stabile Anheftung am Zwerchfell. Dadurch „trägt“ das Zwerchfell das ganze Lebergewicht und entlastet somit die weiteren Eingeweide und den Beckenboden. Infolge der Anheftung an das Zwerchfell folgt die Leber dessen Bewegungen bei der Atmung. In Rauber und Leonhardt (1987) wird der Bewegungsmechanismus folgendermaßen beschrieben: Bei der Exspiration werden Zwerchfell und Leber durch die Kontraktion der Bauchwandmuskeln in den Brustkorb hineingedrückt und gleichzeitig durch den „Lungenzug“ in den Brustkorb hineingesogen. Das Ausmaß dieser Bewegung ist abhängig von der Atemtiefe und kann zwischen 1,5 und 7 cm betragen. Die kraniale Grenze liegt bei Exspiration in Höhe des 4. Interkostalraumes.

Unterbauch Dickdarm (Intestinum crassum) Im Dickdarm erfolgen vor allem die Resorption von Wasser und Salzen, sowie das Eindicken und Vergären des Darminhaltes. Dabei wird der Darminhalt mit langsamer Peristaltik bewegt, wobei nur wenige Bewegungen effektiv analwärts gerichtet sind. Frick et al. geben an, dass nur 2–3 dieser Bewegungen täglich besonders ausgeprägt sind (Frick et al. 1992). Die Peristaltikwelle im Rhythmus von 3–6 pro Minute spielt neben lokalen Dehnungen und Kontraktionen eine wichtige Rolle im Transport des Darminhaltes. Man unterscheidet 3 unterschiedlich lange Anteile des Dickdarms (▶ Abb. 11.8): Caecum (Blinddarm), Colon (Grimmdarm) und Rectum (Mastdarm). Insgesamt ist der Dickdarm ca. 110–165 cm lang und reicht von der Bauhin'schen Klappe1 (Iliozäkalklappe) bis zum Analkanal und After. Um die Unterschiede zwischen Dick- und Dünndarm zu erkennen sind die deutschen Fachbezeichnungen nicht ganz schlüssig. Rauber und Leonhardt (1987) geben zu bedenken, dass ein kontrahierter Dickdarm schmaler sein kann als der Dünndarm. Die baulichen Besonderheiten des Dickdarms sind 3 schmale Längsmuskelstreifen (Taeniae coli), quere Einschnürungen und Wandausbuchtungen (Haustra coli). Das Caecum ist ca. 6–8 cm lang und hat eine sehr variable Lage. Allgemein wird die Lage medial und kranial der SIAS beschrieben. Es liegt direkt unter der Bauchwand, mit dem es verwachsen ist und dem M. iliacus auf. Die Iliozäkalklappe (Valva ilealis oder Valva iliocaecalis) mün-

Gallenblase (Vesica felleae) Sie ist ein 8–12 cm und 4–5 cm breiter Sack, sammelt und gibt Gallenflüssigkeit bei Bedarf ab. Der Anteil, der der Bauchwand am nächsten kommt, ist der Gallenblasenboden (Fundus) am Unterrand der Leber. Er liegt im Winkel zwischen Außenrand des rechten M. rectus abdominis und dem rechten Rippenbogen und somit dem Dickdarm an der rechten Kolonbiegung auf.

Flexura coli sinistra

Colon transversum

Colon descendens

Colon ascendens

Colon sigmoideum Caecum

Rectum

Abb. 11.8 Dickdarm.

1

308

Flexura coli dextra

nach Caspar Bauhin, 1560–1624, Professor für Medizin und Anatomie in Basel, Rauber/Kopsch, S. 554.

11.3 Notwendige Vorkenntnisse (topografisch und morphologisch) det am Übergang vom terminalen Ileum zum Colon ascendens. Der Appendix vermiformis (Wurmfortsatz) ist etwa fingerlang und bleistiftdick und geht medial am unteren Ende ab. Auch seine Lage wird sehr variabel beschrieben. Häufig auch liegt er an der Rückseite des Caecums. Die Appendix ist als Ort akuter oder chronischer Entzündungen bekannt. Seine allgemeine Lage hat Charles McBurney, Chirurg in New York 1845–1914, beschrieben. Der sogenannte McBurney-Punkt befindet sich auf einer Linie SIAS – Nabel und hier auf der lateralen Drittelgrenze (McBurney 1889). Die Unterteilung des Kolons ist allgemein bekannt: Colon ascendens (aufsteigender Anteil), Colon transversum (querverlaufender Anteil), Colon descendens (absteigender Anteil) und Colon sigmoideum (S-förmiger Teil). Das Colon ascendens schließt sich unmittelbar an das Caecum an und zieht bis unter die Leber. Dabei liegt es der rechten hinteren Bauchwand auf und ist an ihr fixiert. Mit der rechtwinkligen rechten Kolonflexur (Flexura coli dexter) geht es in den queren Anteil des Colons über. Die Kolonflexur wird von der Leber überdeckt und liegt nach Rauber und Leonhardt (1987) variabel zwischen Th 3 und L 4. Das Colon transversum weicht in seinem Verlauf der darüberliegenden Leber und dem Magen aus und liegt somit unterhalb des Leber- und Magenfeldes des Epigastriums. Folglich verläuft es in einem nach kaudal konvexen Bogen, leicht nach links aufsteigend bis unterhalb der Milz, Hier befindet sich die linke Kolonbiegung (Flexura coli sinistra), die recht spitzwinklig ist und einen natürlichen Widerstand für den Transport des Darminhaltes darstellt. Sie ist ligamentär am Zwerchfell befestigt. Die allgemeine Ausdehnung ist zwischen dem Winkel rechter Rektusrand und Rippenbogen bis zum Winkel linker Rektusrand und Rippenbogen zu sehen. Daher ist das Colon transversum lediglich durch die Mm. recti abdominis mittelbar zu erreichen. Die Lage des Colon trans-

versum ist stark abhängig von der Körperlage (im Liegen steht es höher als im Stand), dem Füllungszustand des Bauchraumes (Schwangerschaft) und dem eigenen Füllungsgrad. Die linke Kolonflexur liegt variabel zwischen Th 10 und L 3. Medial der linken Kolonflexur und auf dem queren Kolon liegt der sogenannte Cannon-Böhm-Punkt, an dem das Innervationsgebiert des N. vagus endet. Das Colon descendens steigt retroperitoneal von der linken Kolonbiegung zum Darmbein ab, wo es zwischen der Crista iliaca und der Höhe S 1 in das Colon sigmoideum übergeht. Einige Dünndarmschlingen liegen zwischen diesem Kolonteil und der vorderen Bauchwand. Das Colon sigmoideum ist durchschnittlich 45 cm lang (Rauber u. Leonhardt 1987, S. 348). Auch seine Lage ist füllungsabhängig. Es macht in seinem Verlauf eine ausholende Schleife nach rechts hinten (Kolonschlinge) und dann abwärts in den Beckenraum (Rektumschlinge). In Höhe von S 2–S 3 geht das Sigmoid in das Rektum über. Das ist 12–15 cm lang und zunächst an der Vorderseite des Sakrums angelegt. Entgegen der Bezeichnung (Rektum) ist es dreimal gekrümmt und endet in dem 3–4 cm langen Analkanal.

Beckenraum (Cavitas pelvis) Hier befinden sich Harnblase, Rektum und die inneren Geschlechtsorgane. Er wird nach kaudal von den Muskelund Bindegewebsplatten des Beckenbodens abgeschlossen.

Harnblase (Vesica urinaria) Als einzig erreichbares Organ wird lediglich die Harnblase besprochen. Es liegt unter dem Peritoneum, hinter der Symphyse und auf dem Beckenboden (▶ Abb. 11.9). Im weiblichen Beckenraum liegt die Gebärmutter direkt dahinter, beim Mann ist es das Rektum. Kranial liegt das Colon sigmoideum auf.

11 Os sacrum

Abb. 11.9 Lage der Blase im Medianschnitt.

Sigmoid Uterus Rektum Os coccygis

Blase Vagina oberflächliche Beckenbodenmuskulatur M. levator ani (Beckenbodenmuskulator)

309

Bauchregion Die Größe der Harnblase ist natürlich füllungsabhängig. Willentlich können bis zu 700 ml zurückgehalten werden, ab 350 ml besteht Harndrang. Bei zunehmender Füllung steigt der Blasenscheitel bis oberhalb der Symphyse auf. Bei schwachem Muskeltonus besteht die Gefahr der unvollständigen Blasenentleerung, eine mögliche Ursache der Restharnbildung.

Aorta (Pars abdominalis aortae) Die Bauchaorta liegt im Retroperitonealraum. Sie durchtritt das Zwerchfell durch den Hiatus aorticus in Höhe von Th 12. Weiter absteigend verläuft sie vor den lumbalen Wirbelkörpern etwas links der Medianebene. Sie gibt im Bauchraum eine Reihe paariger und unpaariger Äste ab. In Höhe L 4 teilt sie sich in 2 Beckenarterien (Aa. iliacae communes) auf. Diese ziehen an den medialen Rändern der Mm. psoas majores. Letztlich gehen diese in die Beinarterien (Aa. femorales) über, die mittelständig unter das Leistenband in den vorderen Oberschenkelbereich ziehen. Die Nähe zu den lumbalen Wirbeln lässt die Pulsation der Aorta in Bauchlage dorsal an den Procc. spinosi spüren. Falls in Rückenlage während der Palpation der Bauchdecke (links neben der Mittelline) eine sehr deutliche Pulsation der Aorta zu ertasten ist, sollte die Aorta diagnostisch abgeklärt werden, da hier möglicherweise ein Aneurysma vorliegt (Ferguson 1990).

M. obliquus externus abdominis

11.3.5 Anatomie der Leistenregion Der Bereich der Leistenregion umfasst den Übergang von der Bauchregion zum proximalen Oberschenkel. Tief in der Leiste gehen große Muskeln und wichtige Gefäße aus dem Bauchraum in den Oberschenkel ein (▶ Abb. 11.10). Hierzu ist der Raum unterhalb des Leistenbandes in separate Abteilungen für M. iliopsoas und N. femoralis bzw. A. und V. femoralis gliedert (Kap. 5). An der Oberfläche wird der Übergang an dem Leistenband (Lig. inguinale) deutlich (▶ Abb. 11.10). Hier sind die Faszien der Bauchwandmuskeln mit der Oberschenkelfaszie (Fascia latae) verwoben (▶ Abb. 11.11). Mittelständig liegen einige Leistenlymphknoten, die oberflächige V. saphena magna tritt in die tief liegende Beinvene (V. femoralis) ein. Medial treten die Strukturen des Leistenkanals (Canalis inguinalis) an die Oberfläche. Der Canalis inguinalis verläuft oberhalb der medialen Hälfte des Leistenbandes (▶ Abb. 11.12). Er beginnt tief lateral mit seinem inneren Leistenring (Anulus inguinalis profundus) als Durchtritt durch die Faszie des M. transversus abdominis. Das ist etwa 1 cm oberhalb des mittleren Inguinalpunktes (Hälfte der Strecke SIAS – Tuberculum pubicum). Hier bündeln sich die zum Hoden ziehenden Leitungsbahnen zu einem kleinfingerdicken Kabel. In dem Verlauf nach medial durchbohrt der Kanal die Faszien der Mm. obliquus abdominis internus und externus. Mit Letzterem bildet er den äußeren Leistenring

Linea arcuata M. rectus abdominis

M. obliquus internus abdominis

Linea alba

M. transversus abdominis Lig. inguinale M. iliopsoas

Fascia abdominis superficialis

Arcus iliopectineus N. femoralis

Aponeurose des M. obliquus externus abdominis N. ilioinguinalis N. genitofemoralis, R. genitalis

A. u. V. femoralis Funiculus spermaticus

Tuberculum pubicum M. cremaster M. pectineus

Abb. 11.10 Anatomie der tiefen Leistenregion.

310

Fascia cremasterica

11.5 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen

Spina iliaca anterior superior

M. obliquus internus

M. obliquus externus

Leistenband

Leistenband

Ductus deferens

Rosenmüller Lymphknoten

Funiculus spermaticus A. femoralis

Lymphknoten

V. femoralis

V. saphena magna

Abb. 11.11 Anatomie der oberflächigen Leistenregion.

Die Strukturen des weiblichen Leistenkanals sind vor allem: N. ilioinguinalis, Lig. teres uteri sowie die oben aufgeführten Gefäße und Faszien. Sie ziehen zu den großen Schamlippen (Labia majora).

M. obliquus internus abdominis

11.4 Kurzfassung des Palpationsganges

Funiculus spermaticus mit M. cremaster

Abb. 11.12 Leistenkanal.

(Anulus inguinalis superficialis), ca. 1 cm oberhalb des Tuberculum pubicum. Nach kaudal begrenzt das Leistenband den Kanal, die Rückwand ist der M. transversus abdominis, die Vorderwand wird von den Mm. obliquui abdominis gebildet (Winkel 2004, S. 327). Der Inhalt des Leistenkanals wird in der Literatur beim Mann (Frick et al. 1992, Schünke et al. 2005) wie folgt beschrieben: ● N. ilioinguinalis, N. genitofemoralis (Ast) ● Funiculus spermaticus. Der mit verschiedenen Faszien verstärkte derbe Samenstrang beinhaltet: ○ M. cremaster ○ Ductus deferens (Samenleiter) ○ verschiedene Blutgefäße (Vasa testicularia) ○ verschiedene Faszien

Nachfolgend wird zunächst Wert auf die Orientierung an der Bauchwand gelegt. Später wendet man sich der tieferen Palpation am Bauch und der Leistenregion zu. Die knöchernen Landmarks, welche die Bauchregion einrahmen, werden sicher aufgesucht. Damit ist die Grundlage zur Einteilung der Bauchdecke in verschiedenen Regionen durch orientierende Projektionen gegeben. Die effektivsten Stellen zur Palpation von Aktivität der Muskulatur der Bauchdecke werden nachfolgend diskutiert. Die tiefen Palpationen des Bauches sollen vor allem Sicherheit in der Durchführung einer tiefen Bauchmassage geben und von möglicher Pathologie abgrenzen. Eine sichere Palpation des Leistenkanals ergänzt die Beschreibungen der Palpation der Leiste im Kapitel des ventralen Oberschenkels.

11

11.5 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen 11.5.1 Knöcherne Strukturen ● ●

● ●

Sternumspitze (Proc. xiphoideus) Rippenbogen (Arcus costalis) und Spitzen der Rippen 11 und 12 Spina iliaca anterior superior (SIAS) und Lig. inguinale Symphysis pubica

311

11.5 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen

Spina iliaca anterior superior

M. obliquus internus

M. obliquus externus

Leistenband

Leistenband

Ductus deferens

Rosenmüller Lymphknoten

Funiculus spermaticus A. femoralis

Lymphknoten

V. femoralis

V. saphena magna

Abb. 11.11 Anatomie der oberflächigen Leistenregion.

Die Strukturen des weiblichen Leistenkanals sind vor allem: N. ilioinguinalis, Lig. teres uteri sowie die oben aufgeführten Gefäße und Faszien. Sie ziehen zu den großen Schamlippen (Labia majora).

M. obliquus internus abdominis

11.4 Kurzfassung des Palpationsganges

Funiculus spermaticus mit M. cremaster

Abb. 11.12 Leistenkanal.

(Anulus inguinalis superficialis), ca. 1 cm oberhalb des Tuberculum pubicum. Nach kaudal begrenzt das Leistenband den Kanal, die Rückwand ist der M. transversus abdominis, die Vorderwand wird von den Mm. obliquui abdominis gebildet (Winkel 2004, S. 327). Der Inhalt des Leistenkanals wird in der Literatur beim Mann (Frick et al. 1992, Schünke et al. 2005) wie folgt beschrieben: ● N. ilioinguinalis, N. genitofemoralis (Ast) ● Funiculus spermaticus. Der mit verschiedenen Faszien verstärkte derbe Samenstrang beinhaltet: ○ M. cremaster ○ Ductus deferens (Samenleiter) ○ verschiedene Blutgefäße (Vasa testicularia) ○ verschiedene Faszien

Nachfolgend wird zunächst Wert auf die Orientierung an der Bauchwand gelegt. Später wendet man sich der tieferen Palpation am Bauch und der Leistenregion zu. Die knöchernen Landmarks, welche die Bauchregion einrahmen, werden sicher aufgesucht. Damit ist die Grundlage zur Einteilung der Bauchdecke in verschiedenen Regionen durch orientierende Projektionen gegeben. Die effektivsten Stellen zur Palpation von Aktivität der Muskulatur der Bauchdecke werden nachfolgend diskutiert. Die tiefen Palpationen des Bauches sollen vor allem Sicherheit in der Durchführung einer tiefen Bauchmassage geben und von möglicher Pathologie abgrenzen. Eine sichere Palpation des Leistenkanals ergänzt die Beschreibungen der Palpation der Leiste im Kapitel des ventralen Oberschenkels.

11

11.5 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen 11.5.1 Knöcherne Strukturen ● ●

● ●

Sternumspitze (Proc. xiphoideus) Rippenbogen (Arcus costalis) und Spitzen der Rippen 11 und 12 Spina iliaca anterior superior (SIAS) und Lig. inguinale Symphysis pubica

311

Bauchregion

11.5.2 Orientierende Projektionen ● ● ● ● ● ● ●

vordere Axillarlinie Medioklavikularlinie (Mamillarlinie) Apertura thoracis inferior Epigastrium (Dreieck) Lig. inguinale Planum spinale und Promontorium Linea alba

11.5.3 Muskulatur ● ● ● ● ● ● ● ●

M. rectus abdominis Linea semilunaris (Muskellücke) regionale Unterteilung des Mittelbauches M. transversus abdominis M. obliquus abdominis externus M. obliquus abdominis internus Aorta abdominalis Wirbelkörper L 3 und M. psoas major

11.5.4 Palpation des Kolons ●

● ●

Kolonpunkte nach Vogler mit Differenzierung zur Pathologie Unterrand der Leber Unterrand der Milz

11.5.5 Palpation der Leistenregion ● ●

gut erreichen. Eine notwendige Muskelaktivität, um die Lage von Muskelbäuchen zu bestätigen, kann der Proband mühelos erbringen. Die Bauchdecke ist entspannt genug, um knöcherne Strukturen und Organe zu erreichen. Grundsätzlich zeichnet die neutrale Rückenlage eine eher flache Lage des Oberkörpers aus. Der Kopf wird dezent am Hinterhaupt unterlagert. Die Arme liegen entspannt neben dem Körper. Eine schmale Knierolle gewährleistet die leichte lumbale Lordose. Falls der Patient allerdings eine erhöhte Kopflage und eine stärkere Unterlagerung der Knie wünscht, ist dem grundsätzlich zuzustimmen. Auf ein starkes Anheben des Kopfteiles der Bank mit deutlicher Flexion der BWS sollte man allerdings verzichten, da sich die Proportionen besonders des oberem Bauchraumes und die Thoraxgrenzen erheblich verschieben und ggf. nicht mehr alle tiefer liegenden Strukturen erreichbar sind. Ebenso sollte ein umfangreiches Unterlagern der Beine keine erhebliche Beckenaufrichtung bewirken.

11.6.1 Schwierige und ergänzende ASTEn Als weitere ASTEn zur Palpation im Bauch- und Leistenbereich sind der gleichmäßig belastete bipodale Stand sowie die Halbseitenlage möglich (▶ Abb. 11.14 und ▶ Abb. 11.15). Der Stand erlaubt die Palpation der knöchernen Referenzpunkte des Beckens (SIAS und Cristae iliaca) in belasteter Situation. Viele Ärzte und Therapeu-

Äußerer Leistenring Palpation von Leistenhernien

11.6 Ausgangsstellung In Ergänzung zu den Beschreibungen der Ausgangsstellungen für Palpationen am Rumpf wird die neutrale ASTE Rückenlage beschrieben (▶ Abb. 11.13). Sie eignet sich besonders gut für die Palpation am Thorax (Kap. 12.8.2) und am Bauchraum. Alle Strukturen lassen sich

Abb. 11.13 ASTE Rückenlage.

312

Abb. 11.14 ASTE Stand.

Bauchregion

11.5.2 Orientierende Projektionen ● ● ● ● ● ● ●

vordere Axillarlinie Medioklavikularlinie (Mamillarlinie) Apertura thoracis inferior Epigastrium (Dreieck) Lig. inguinale Planum spinale und Promontorium Linea alba

11.5.3 Muskulatur ● ● ● ● ● ● ● ●

M. rectus abdominis Linea semilunaris (Muskellücke) regionale Unterteilung des Mittelbauches M. transversus abdominis M. obliquus abdominis externus M. obliquus abdominis internus Aorta abdominalis Wirbelkörper L 3 und M. psoas major

11.5.4 Palpation des Kolons ●

● ●

Kolonpunkte nach Vogler mit Differenzierung zur Pathologie Unterrand der Leber Unterrand der Milz

11.5.5 Palpation der Leistenregion ● ●

gut erreichen. Eine notwendige Muskelaktivität, um die Lage von Muskelbäuchen zu bestätigen, kann der Proband mühelos erbringen. Die Bauchdecke ist entspannt genug, um knöcherne Strukturen und Organe zu erreichen. Grundsätzlich zeichnet die neutrale Rückenlage eine eher flache Lage des Oberkörpers aus. Der Kopf wird dezent am Hinterhaupt unterlagert. Die Arme liegen entspannt neben dem Körper. Eine schmale Knierolle gewährleistet die leichte lumbale Lordose. Falls der Patient allerdings eine erhöhte Kopflage und eine stärkere Unterlagerung der Knie wünscht, ist dem grundsätzlich zuzustimmen. Auf ein starkes Anheben des Kopfteiles der Bank mit deutlicher Flexion der BWS sollte man allerdings verzichten, da sich die Proportionen besonders des oberem Bauchraumes und die Thoraxgrenzen erheblich verschieben und ggf. nicht mehr alle tiefer liegenden Strukturen erreichbar sind. Ebenso sollte ein umfangreiches Unterlagern der Beine keine erhebliche Beckenaufrichtung bewirken.

11.6.1 Schwierige und ergänzende ASTEn Als weitere ASTEn zur Palpation im Bauch- und Leistenbereich sind der gleichmäßig belastete bipodale Stand sowie die Halbseitenlage möglich (▶ Abb. 11.14 und ▶ Abb. 11.15). Der Stand erlaubt die Palpation der knöchernen Referenzpunkte des Beckens (SIAS und Cristae iliaca) in belasteter Situation. Viele Ärzte und Therapeu-

Äußerer Leistenring Palpation von Leistenhernien

11.6 Ausgangsstellung In Ergänzung zu den Beschreibungen der Ausgangsstellungen für Palpationen am Rumpf wird die neutrale ASTE Rückenlage beschrieben (▶ Abb. 11.13). Sie eignet sich besonders gut für die Palpation am Thorax (Kap. 12.8.2) und am Bauchraum. Alle Strukturen lassen sich

Abb. 11.13 ASTE Rückenlage.

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Abb. 11.14 ASTE Stand.

11.7 Palpation der knöchernen Strukturen

Abb. 11.15 ASTE Halbseitenlage. Abb. 11.16 Proc. xhiphoideus.

ten messen der Lagebestimmung dieser Knochenpunkte einen diagnostischen Wert zu. Die Halbseitenlage zur linken Seite wird in den nachfolgend beschriebenen Palpationsgängen nur zu dem Zweck der Provokation einer schmerzhaft vergrößerten Milz (S. 320) benötigt. Sie zeichnet sich durch ausreichende Unterlagerung von Oberkörper, Becken und Beine aus. Stabilität und gleichzeitige Entspannung der Rumpfmuskulatur sind die wichtigen Ziele.

11.7 Palpation der knöchernen Strukturen 11.7.1 Vorbereitung Um in die Tiefe des Bauches einzudringen, bedarf es die anamnestische Abklärung von möglichen Kontraindikationen und einen sanften palpatorischen Zugang mittels einer flächigen Palpation mit der ganzen Hand am Oberbauch und Unterbauch.

Vorsicht Es ist darauf zu achten, dass die palpierenden Hände warm sind. Kalte Hände führen häufig zu Abwehrreaktionen.

zungen. Eine weitere Möglichkeit, eine Kontraindikation für tiefe Palpation zu erkennen, wird später beim Aufsuchen der Punkte der Kolonmassage beschrieben. Jede tiefe Palpation sollte zeitgleich mit einer Expiration beginnen.

11.7.2 Sternumspitze (Proc. xiphoideus) Beschrieben wird der Beginn der Palpation median mit weiterer Orientierung nach lateral und kaudal (▶ Abb. 11.16). Der sichere Start für die komplette Palpation des Rippenbogens gelingt durch das kontinuierliche Verfolgen des Sternums mit direktem Druck nach dorsal von kranial nach kaudal, bis der palpierende Finger von knöchernen Strukturen abrutscht und der vorsichtig eingebrachte Druck mit weichem Gegendruck beantwortet wird. Hakt man dann nach kranial an, befindet man sich kaudal der Sternumspitze. Jetzt befindet sich der palpierende Finger im epigastrischen Raum, der links das Leber- und rechts das Magenfeld enthält. Insofern sind diese Organe hier mittelbar gut erreichbar. Eine sichere Palpation gelingt auch mit umgekehrtem Palpationsgang.

11

11.7.3 Rippenbogen (Arcus costalis) Durch einen moderaten Druck mit der flachen Hand an verschiedenen Stellen nimmt man die Spannung der Bauchdecke wahr. In Erwartung eines Normalzustands sind keine Spannungsunterschiede zu spüren. Mit dem Handrücken erspürt man die Temperatur der Bauchdecke. Eine gleiche Körperwärme beider Bauchregionen ist normal. Sollte bereits die flächige Palpation Schmerz und Abwehrspannung auslösen oder Unterschiede in Spannung oder Temperatur festzustellen sein, dann ist eine weitere ärztliche Abklärung erforderlich. Ein großer Fettanteil der Unterhaut verringert die Zuverlässigkeit dieser Einschät-

Die weitere Palpation nach lateral und kaudal, rechtwinklig gegen feste Strukturen, verfolgt jetzt den Arcus costae, bestehend aus den Rippenknorpeln (Cartilagines costae) 10–8. Als Pathologie präsentieren sich hier bei Leistungssportlern gelegentlich Insertionsbeschwerden der Bauchwandmuskeln oder Frakturen der interchondralen Verbindungen der einzelnen Rippenknorpel zueinander. Letztes führt zur einer Hypermobilität des betroffenen Rippenknorpels und ist in der Literatur als Slipping Rip Syndrome bekannt (Udermann et al. 2005, Kumar et al. 2013).

313

11.7 Palpation der knöchernen Strukturen

Abb. 11.15 ASTE Halbseitenlage. Abb. 11.16 Proc. xhiphoideus.

ten messen der Lagebestimmung dieser Knochenpunkte einen diagnostischen Wert zu. Die Halbseitenlage zur linken Seite wird in den nachfolgend beschriebenen Palpationsgängen nur zu dem Zweck der Provokation einer schmerzhaft vergrößerten Milz (S. 320) benötigt. Sie zeichnet sich durch ausreichende Unterlagerung von Oberkörper, Becken und Beine aus. Stabilität und gleichzeitige Entspannung der Rumpfmuskulatur sind die wichtigen Ziele.

11.7 Palpation der knöchernen Strukturen 11.7.1 Vorbereitung Um in die Tiefe des Bauches einzudringen, bedarf es die anamnestische Abklärung von möglichen Kontraindikationen und einen sanften palpatorischen Zugang mittels einer flächigen Palpation mit der ganzen Hand am Oberbauch und Unterbauch.

Vorsicht Es ist darauf zu achten, dass die palpierenden Hände warm sind. Kalte Hände führen häufig zu Abwehrreaktionen.

zungen. Eine weitere Möglichkeit, eine Kontraindikation für tiefe Palpation zu erkennen, wird später beim Aufsuchen der Punkte der Kolonmassage beschrieben. Jede tiefe Palpation sollte zeitgleich mit einer Expiration beginnen.

11.7.2 Sternumspitze (Proc. xiphoideus) Beschrieben wird der Beginn der Palpation median mit weiterer Orientierung nach lateral und kaudal (▶ Abb. 11.16). Der sichere Start für die komplette Palpation des Rippenbogens gelingt durch das kontinuierliche Verfolgen des Sternums mit direktem Druck nach dorsal von kranial nach kaudal, bis der palpierende Finger von knöchernen Strukturen abrutscht und der vorsichtig eingebrachte Druck mit weichem Gegendruck beantwortet wird. Hakt man dann nach kranial an, befindet man sich kaudal der Sternumspitze. Jetzt befindet sich der palpierende Finger im epigastrischen Raum, der links das Leber- und rechts das Magenfeld enthält. Insofern sind diese Organe hier mittelbar gut erreichbar. Eine sichere Palpation gelingt auch mit umgekehrtem Palpationsgang.

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11.7.3 Rippenbogen (Arcus costalis) Durch einen moderaten Druck mit der flachen Hand an verschiedenen Stellen nimmt man die Spannung der Bauchdecke wahr. In Erwartung eines Normalzustands sind keine Spannungsunterschiede zu spüren. Mit dem Handrücken erspürt man die Temperatur der Bauchdecke. Eine gleiche Körperwärme beider Bauchregionen ist normal. Sollte bereits die flächige Palpation Schmerz und Abwehrspannung auslösen oder Unterschiede in Spannung oder Temperatur festzustellen sein, dann ist eine weitere ärztliche Abklärung erforderlich. Ein großer Fettanteil der Unterhaut verringert die Zuverlässigkeit dieser Einschät-

Die weitere Palpation nach lateral und kaudal, rechtwinklig gegen feste Strukturen, verfolgt jetzt den Arcus costae, bestehend aus den Rippenknorpeln (Cartilagines costae) 10–8. Als Pathologie präsentieren sich hier bei Leistungssportlern gelegentlich Insertionsbeschwerden der Bauchwandmuskeln oder Frakturen der interchondralen Verbindungen der einzelnen Rippenknorpel zueinander. Letztes führt zur einer Hypermobilität des betroffenen Rippenknorpels und ist in der Literatur als Slipping Rip Syndrome bekannt (Udermann et al. 2005, Kumar et al. 2013).

313

Bauchregion

Abb. 11.17 Arcus costalis.

Abb. 11.19 Spina iliaca anterior superior (SIAS).

Abb. 11.18 Spitze der 11. Rippe.

Abb. 11.20 Lig. inguinale.

Den Rippenbogen konsequent nach lateral verfolgend, stößt der palpierende Finger gegen die knorpelige Spitze der 11. Rippe. Hakt er deren Unterkante an und palpiert weiter nach kaudal und lateral wird die Spitze der 12. Rippe erreicht (▶ Abb. 11.17 und ▶ Abb. 11.18). Würde man diese weiter verfolgen, endet die Palpation zwischen Crista iliaca und dem Unterrand der Rippe 12 (Kap. 10).

11.7.4 Spina iliaca anterior superior (SIAS) und Lig. inguinale Die dominierende ossäre Orientierung der kaudalen Bauchdecke ist die Spina iliaca anterior superior. Zwischen den Spinae beider Seiten erstreckt sich die Regio pubica und jeweils von einer SIAS zur Symphyse ziehend die Regio inguinalis (▶ Abb. 11.19). Analog zum Palpationsgang der posterioren superioren Spina (Kap. 10) verfolgt man zunächst die rundlichen Konturen der Crista iliaca mit querer und ausgiebiger Palpation über die Crista hinweg. Das Ende der Crista, somit

314

die SIAS und der Beginn des Lig. inguinale, ist erreicht, wenn sich die runde Bewegung des palpierenden Fingers drastisch in eine flache Palpation ändert (▶ Abb. 11.20). Im Kapitel der Hüft- und Leistenregion (Kap. 5) wird das Aufsuchen weiterer Strukturen der Leisten- und Oberschenkelregion beschrieben.

11.7.5 Symphysis pubica Die ventrale Beckenringverbindung ist ca. 40 mm lang und trägt eine ovale Gelenkfläche mit einer Länge von 30–35 mm, die knöchern 10–12 mm voneinander klaffen (Becker et al. 2010). Die Symphyse ist um ca. 30–40°gegenüber der Körperlängsachse von kranial-ventral nach kaudal-dorsal geneigt. Sie begrenzt den Bauchraum mit ihrem kranio-ventralen Ende (▶ Abb. 11.21). Erreichbar ist sie, wenn die Verbindung beider SIAS (Planum interspinale) in der Mitte (Linea alba) aufgesucht wird. Mit moderatem Druck nach kaudal und in die Tiefe kann sie durch den knöchernen Gegendruck identifiziert

11.8 Orientierende Projektionen

Abb. 11.22 Apertura thoracis inferior. 1 = Linea medioclavicularis, 2 = Proc. xiphoideus, 3 = Planum subcistale.

Abb. 11.21 Symphysis pubica.

werden. Mit kleinen Links-rechts-Bewegungen des palpierenden Fingers kann der schmale Raum zwischen den Schambeinästen auch durch die verstärkenden Ligamente hindurch als kleine Lücke erspürt werden.

11.8 Orientierende Projektionen

11

Nachfolgend die orientierenden Projektionen, die aufgrund der knöchernen Palpation möglich sind. Vor der muskulären Palpation wird der Bauch mittels Linien und Ebenen in Regionen unterteilt.

11.8.1 Oberbauch ●





Vordere Axillarlinie (Linea axillaris anterior). In Höhe der vorderen Achselfalte. Sie wird durch den M. pectoralis major begrenzt (ohne Abbildung). Linea medioclavicularis. Sie verläuft beim Mann häufig durch die Mamillae und wird dann Mamillarlinie oder Linea mamillaris genannt. Apertura thoracis inferior. Sie wird durch das Planum subcostale, einer Verbindungslinie der unteren Rippenbogenbegrenzungen, dargestellt. Diese sind an der Unterkante des 10. Rippenknorpels zu finden. Man erreicht diese Unterkanten, wenn die Medioklavikular-

Abb. 11.23 Epigastrisches Dreieck.



linien die Rippenbögen treffen (Schünke et al. 2005, ▶ Abb. 11.22). Epigastrium (epigastrisches Dreieck). Von den Endpunkten des Planum subcostale bis zum Proc. xiphoideus werden Linien gezogen. Die von diesen 3 Linien umrandete Fläche ist das epigastrisches Dreieck (▶ Abb. 11.23).

315

11.8 Orientierende Projektionen

Abb. 11.22 Apertura thoracis inferior. 1 = Linea medioclavicularis, 2 = Proc. xiphoideus, 3 = Planum subcistale.

Abb. 11.21 Symphysis pubica.

werden. Mit kleinen Links-rechts-Bewegungen des palpierenden Fingers kann der schmale Raum zwischen den Schambeinästen auch durch die verstärkenden Ligamente hindurch als kleine Lücke erspürt werden.

11.8 Orientierende Projektionen

11

Nachfolgend die orientierenden Projektionen, die aufgrund der knöchernen Palpation möglich sind. Vor der muskulären Palpation wird der Bauch mittels Linien und Ebenen in Regionen unterteilt.

11.8.1 Oberbauch ●





Vordere Axillarlinie (Linea axillaris anterior). In Höhe der vorderen Achselfalte. Sie wird durch den M. pectoralis major begrenzt (ohne Abbildung). Linea medioclavicularis. Sie verläuft beim Mann häufig durch die Mamillae und wird dann Mamillarlinie oder Linea mamillaris genannt. Apertura thoracis inferior. Sie wird durch das Planum subcostale, einer Verbindungslinie der unteren Rippenbogenbegrenzungen, dargestellt. Diese sind an der Unterkante des 10. Rippenknorpels zu finden. Man erreicht diese Unterkanten, wenn die Medioklavikular-

Abb. 11.23 Epigastrisches Dreieck.



linien die Rippenbögen treffen (Schünke et al. 2005, ▶ Abb. 11.22). Epigastrium (epigastrisches Dreieck). Von den Endpunkten des Planum subcostale bis zum Proc. xiphoideus werden Linien gezogen. Die von diesen 3 Linien umrandete Fläche ist das epigastrisches Dreieck (▶ Abb. 11.23).

315

Bauchregion

Abb. 11.24 Lig. inguinale. 1 = Spina iliaca anterio inferior, Lig. inguinale, 3 = Symphysis pubica..

Abb. 11.26 Linea alba.

Beckens in Rückenlage liegt. Es kann auch ein Hinweis auf einen Beckenschiefstand oder eine Skoliose sein (▶ Abb. 11.25).

11.8.3 Ventrale Medianlinie Die Linea alba verläuft mittelständig, zwischen beiden Bäuchen des Rektus und dem Nabel, und unterteilt den Bauch in eine linke und rechte Hälfte. Pathologisch zeigen sich Rektusdiastasen und Hernien an dieser Linie (▶ Abb. 11.26).

Abb. 11.25 Verbindung beider SIAS. 1 = Planum interspinale.

11.9 Muskulatur 11.9.1 M. rectus abdominis

11.8.2 Unterbauch ●



316

Lig. inguinale. Zur Abgrenzung des Unterbauches zum Oberschenkel dient das Lig. inguinale als gute Orientierung. Da es kein eigentliches Band im üblichen Sinn ist, sondern die Verbindungslinie der Faszien der platten Bauchwandmuskeln, ist es als eigenständige Struktur nicht klar bestimmbar. Daher müssen die knöchernen Fixpunkte (SIAS und Tuberculum pubicum) durch eine Linie miteinander verbunden werden (▶ Abb. 11.24). Die Verbindung beider SIAS, in der Anatomie als Planum interspinale beschrieben (Schünke 2005), verdeutlicht die Lage des Promontoriums, der Vorderkante der sakralen Basis. Die Verbindungen von den SIAS zum Bauchnabel sind wichtige Orientierungshilfen zum Aufsuchen der Kolonpunkte 2 und 4. Beide Linien sollten gleich lang sein. Ansonsten ist zu vermuten, dass der Proband mit einem seitlichen Shift des

Durch die Rektusscheide erhalten beide Muskelindividuen eine bindegewebige Einfassung, sodass die medialen und lateralen Konturen der Muskelbäuche entweder sichtbar oder bei Muskelaktivität spürbar sind. Die querverlaufenden Zwischensehnen (Intersectiones tendineae) palpiert man am besten bei leichter Muskelaktivität. Diese liegen im Allgemeinen in Höhe des Bauchnabels, in Höhe des Proc. xiphoideus und in der Mitte dieses Abstandes (Williams 2009, S. 1052). Selten liegen sie linksrechts-symmetrisch auf gleicher Höhe. Eine zuverlässige Ableitung der Muskelaktivität mit EMG und daher auch die sicherste Stelle für Palpation gelingt 1 cm lateral und 2 cm kaudal des Bauchnabels (Yang et al. 2017).

Bauchregion

Abb. 11.24 Lig. inguinale. 1 = Spina iliaca anterio inferior, Lig. inguinale, 3 = Symphysis pubica..

Abb. 11.26 Linea alba.

Beckens in Rückenlage liegt. Es kann auch ein Hinweis auf einen Beckenschiefstand oder eine Skoliose sein (▶ Abb. 11.25).

11.8.3 Ventrale Medianlinie Die Linea alba verläuft mittelständig, zwischen beiden Bäuchen des Rektus und dem Nabel, und unterteilt den Bauch in eine linke und rechte Hälfte. Pathologisch zeigen sich Rektusdiastasen und Hernien an dieser Linie (▶ Abb. 11.26).

Abb. 11.25 Verbindung beider SIAS. 1 = Planum interspinale.

11.9 Muskulatur 11.9.1 M. rectus abdominis

11.8.2 Unterbauch ●



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Lig. inguinale. Zur Abgrenzung des Unterbauches zum Oberschenkel dient das Lig. inguinale als gute Orientierung. Da es kein eigentliches Band im üblichen Sinn ist, sondern die Verbindungslinie der Faszien der platten Bauchwandmuskeln, ist es als eigenständige Struktur nicht klar bestimmbar. Daher müssen die knöchernen Fixpunkte (SIAS und Tuberculum pubicum) durch eine Linie miteinander verbunden werden (▶ Abb. 11.24). Die Verbindung beider SIAS, in der Anatomie als Planum interspinale beschrieben (Schünke 2005), verdeutlicht die Lage des Promontoriums, der Vorderkante der sakralen Basis. Die Verbindungen von den SIAS zum Bauchnabel sind wichtige Orientierungshilfen zum Aufsuchen der Kolonpunkte 2 und 4. Beide Linien sollten gleich lang sein. Ansonsten ist zu vermuten, dass der Proband mit einem seitlichen Shift des

Durch die Rektusscheide erhalten beide Muskelindividuen eine bindegewebige Einfassung, sodass die medialen und lateralen Konturen der Muskelbäuche entweder sichtbar oder bei Muskelaktivität spürbar sind. Die querverlaufenden Zwischensehnen (Intersectiones tendineae) palpiert man am besten bei leichter Muskelaktivität. Diese liegen im Allgemeinen in Höhe des Bauchnabels, in Höhe des Proc. xiphoideus und in der Mitte dieses Abstandes (Williams 2009, S. 1052). Selten liegen sie linksrechts-symmetrisch auf gleicher Höhe. Eine zuverlässige Ableitung der Muskelaktivität mit EMG und daher auch die sicherste Stelle für Palpation gelingt 1 cm lateral und 2 cm kaudal des Bauchnabels (Yang et al. 2017).

11.9 Muskulatur

Regio abdomin. lateralis

Abb. 11.27 Linien der Muskellücken.

11.9.2 Linea semilunaris („Muskellücke“) Zwischen Rectus und den Muskelbäuchen der Obliquii markiert eine Linie, an der die Muskelbäuche der platten Bauchwandmuskeln (Transversus und Obliquii) aufhören und nur noch als Faszie in Richtung Linea alba weiterlaufen und zudem die Rectusscheide bilden. Diese, als Linea semilunaris (Williams 2009, S. 1052) beschriebene Linie, liegt etwas medial der Medioklavikularlinie. An dieser Linie (im Folgenden als „Muskellücke“ bezeichnet) besteht nur eine Faszienabdeckung des Bauches und der Zugang zu tiefer liegenden Strukturen ist einfacher (▶ Abb. 11.27).

11.9.3 Regionale Unterteilung des Mittelbauches Die letzte orientierende Projektion der Bauchwand beschreibt die Region des Bauchnabels. Die Muskellücken zwischen den platten Bauchmuskeln und den Bäuchen der Recti sowie die Planum subcostale und interspinale umranden eine mittlere Bauchregion um den Nabel herum: Regio umbilicalis. Jeweils lateral der Muskellücke spricht man von der Regio abdominalis lateralis (▶ Abb. 11.28).

M. transversus abdominis Therapeuten nutzen die sichere Palpation als Feedbackmethode der Muskelaktivität bei Abdominal Drawing in Manövern. Die Überdeckung des M. transversus abdominis mit anderen Muskeln ist ca. 2 cm medial der SIAS auf

Regio umbilicalis

Abb. 11.28 Regionale Unterteilung des mittleren Bauches. 1 = Planum subcostale, 2 = Planum interspinale.

dem Planum interspinale am geringsten. Mit mäßigem Druck in die Tiefe lässt sich die Muskelkontraktion bei dem Kommando „Bauchnabel einziehen“ deutlich wahrnehmen.

M. obliquus externus abdominis Auf der mittleren Höhe zwischen Crist iliaca und der 12. Rippe und direkt lateral der Muskellücke (14 cm lateral der Linea alba) ist die Aktivität dieses kräftigen Rumpfrotators bei Rumpfrotation zur Gegenseite am besten wahrzunehmen (Yang et al. 2017, Boccia u. Rainoldi 2014).

M. obliquus internus abdominis

11

Die zuverlässigste Möglichkeit, isolierte Aktivität zu spüren, beschreiben Boccia und Rainoldi (2014). Die Palpation sollte die Muskelaktivität genau 2 cm kaudal der medialen Spitze der SIAS, direkt kranial und medial des Lig. inguinale wahrnehmen können.

Aorta abdominalis Die Lage der Bauchaorta links der Wirbelsäule gibt vor, sich mit der Palpation von der linken Muskellücke aus in Höhe des Bauchnabels zu nähern, nachdem alle denkbaren Kontraindikationen abgeklärt wurden. Der Bauchnabel korrespondiert beim Erwachsenen etwa mit der Lage des Bandscheibe L 3–L 4 und damit kranialer als die Aortengabelung in die gemeinsamen iliakalen Arterien in Höhe L 4. Diese ist recht genau 2 cm kaudal und links vom Bauchnabel (Williams 2009, S. 1052). Mit modera-

317

Bauchregion tem Druck nach dorsal und deutlich medial sollte die direkte Pulsation bei schlanken Personen einfach zu spüren sein. Ist diese Palpation bei beleibten Personen einfach zu spüren, deutet dies auf eine mögliche Aortendillatation oder gar -aneurysma hin (Williams 2009, S. 1052). Die Palpation der Pulsation an der Bauchdecke wird in der Notfallmedizin auch zur Diagnostik eines Aneurysmarisses der Aorta benutzt.

M. psoas major Die Palpation beginnt erneut in der Muskellücke, diesmal von der rechten Seite aus, erneut in Höhe des Bauchnabels oder etwas kranial davon. Mit einem langsam zunehmenden und dennoch beherzten Druck nach dorsal und medial sollte zunächst der knöcherne Gegendruck des 3. Lendenwirbelkörpers (LWK) erspürt werden. Man kann davon ausgehen, dass die Vena cava inferior der allmählichen Druckzunahme ausweicht. Lateral von LWK 3 ist dann der Muskelbauch des M. psoas major spürbar, der auf den direkten Druck sehr fest, aber dennoch elastisch reagiert. Der M. iliacus lässt sich vom 1. und 4. Palpationspunkt des Kolons aus erreichen, wie es später beschrieben wird.

11.10 Palpation des Kolons Zur Regulation der Darmmotorik sind manuelle Behandlungen sehr hilfreich. Neben der Massage der Bauchdecke ist es vor allem die Kolonmassage nach Vogler die bei Defäkationsstörungen infolge Atonie oder Spasmus der Darmmuskulatur eingesetzt wird (Reichert 2015, dort Kap. 8.6.4). Vogler beschrieb die Behandlung an 5 festgelegten Stellen (▶ Abb. 11.29). Hier ist das Kolon sicher zu erreichen und mit der Ausnahme der letzten Stelle müssen keine weiteren Organe dazu komprimiert werden (Kraus 1986).

Aszendenspunkt

lienaler Punkt

Zäkalpunkt

Deszendenspunkt

Sigmapunkt

1. 2. 3. 4. 5.

Zäkalpunkt Aszendenspunkt linearer Punkt (linke Kolonflexur) Deszendenzpunkt Sigmapunkt

Die Palpation des Kolons an den ersten 4 Stellen kann auch diagnostisch eingesetzt werden. Die flächige Palpation entlang des Kolons ergibt im Normalfall gleichmäßige elastische Widerstände. Lokal erhöhte Widerstände sind Anzeichen auf vermehrte Füllung oder Spasmus des Dickdarms. Die Differenzierung zu Entzündungen im Bereich des Druckpunktes wird nachfolgend beschrieben.

11.10.1 Aufsuchen des Zäkalpunktes Er markiert den Übergang zwischen Zäkum und Colon ascendens. Auf einer Linie zwischen rechter SIAS und Nabel wird ein Punkt zwei Querfingerbreit kraniomedial der SIAS gesucht. Er liegt auf der Muskellücke lateral des Rectusrandes (▶ Abb. 11.30). Man erreicht das Kolon, wenn man mit 2–3 Fingerbeeren nach dorsal drückt, bis man einen etwas festeren Widerstand spürt. Bei entspannter Bauchdecke wird dieser Druck vielleicht ungewohnt, aber nicht wirklich unangenehm wahrgenommen. Orientiert sich der palpierende Finger in der Tiefe nach kaudolateral, so wird ein Teil des M. iliacus erreicht. ▶ Differenzierung zur Pathologie. Sollte die Palpation einen Druckschmerz auslösen, muss abgeklärt werden, ob es sich lediglich um ein spastisches Kolon oder eine Appendizitis (Blinddarmentzündung), eine Kontraindikation für manuelle Behandlung des Kolons, handelt (▶ Abb. 11.31).

Abb. 11.29 Kolonpunkte nach Vogler. Abb. 11.30 Erster Kolonpunkt.

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Bauchregion tem Druck nach dorsal und deutlich medial sollte die direkte Pulsation bei schlanken Personen einfach zu spüren sein. Ist diese Palpation bei beleibten Personen einfach zu spüren, deutet dies auf eine mögliche Aortendillatation oder gar -aneurysma hin (Williams 2009, S. 1052). Die Palpation der Pulsation an der Bauchdecke wird in der Notfallmedizin auch zur Diagnostik eines Aneurysmarisses der Aorta benutzt.

M. psoas major Die Palpation beginnt erneut in der Muskellücke, diesmal von der rechten Seite aus, erneut in Höhe des Bauchnabels oder etwas kranial davon. Mit einem langsam zunehmenden und dennoch beherzten Druck nach dorsal und medial sollte zunächst der knöcherne Gegendruck des 3. Lendenwirbelkörpers (LWK) erspürt werden. Man kann davon ausgehen, dass die Vena cava inferior der allmählichen Druckzunahme ausweicht. Lateral von LWK 3 ist dann der Muskelbauch des M. psoas major spürbar, der auf den direkten Druck sehr fest, aber dennoch elastisch reagiert. Der M. iliacus lässt sich vom 1. und 4. Palpationspunkt des Kolons aus erreichen, wie es später beschrieben wird.

11.10 Palpation des Kolons Zur Regulation der Darmmotorik sind manuelle Behandlungen sehr hilfreich. Neben der Massage der Bauchdecke ist es vor allem die Kolonmassage nach Vogler die bei Defäkationsstörungen infolge Atonie oder Spasmus der Darmmuskulatur eingesetzt wird (Reichert 2015, dort Kap. 8.6.4). Vogler beschrieb die Behandlung an 5 festgelegten Stellen (▶ Abb. 11.29). Hier ist das Kolon sicher zu erreichen und mit der Ausnahme der letzten Stelle müssen keine weiteren Organe dazu komprimiert werden (Kraus 1986).

Aszendenspunkt

lienaler Punkt

Zäkalpunkt

Deszendenspunkt

Sigmapunkt

1. 2. 3. 4. 5.

Zäkalpunkt Aszendenspunkt linearer Punkt (linke Kolonflexur) Deszendenzpunkt Sigmapunkt

Die Palpation des Kolons an den ersten 4 Stellen kann auch diagnostisch eingesetzt werden. Die flächige Palpation entlang des Kolons ergibt im Normalfall gleichmäßige elastische Widerstände. Lokal erhöhte Widerstände sind Anzeichen auf vermehrte Füllung oder Spasmus des Dickdarms. Die Differenzierung zu Entzündungen im Bereich des Druckpunktes wird nachfolgend beschrieben.

11.10.1 Aufsuchen des Zäkalpunktes Er markiert den Übergang zwischen Zäkum und Colon ascendens. Auf einer Linie zwischen rechter SIAS und Nabel wird ein Punkt zwei Querfingerbreit kraniomedial der SIAS gesucht. Er liegt auf der Muskellücke lateral des Rectusrandes (▶ Abb. 11.30). Man erreicht das Kolon, wenn man mit 2–3 Fingerbeeren nach dorsal drückt, bis man einen etwas festeren Widerstand spürt. Bei entspannter Bauchdecke wird dieser Druck vielleicht ungewohnt, aber nicht wirklich unangenehm wahrgenommen. Orientiert sich der palpierende Finger in der Tiefe nach kaudolateral, so wird ein Teil des M. iliacus erreicht. ▶ Differenzierung zur Pathologie. Sollte die Palpation einen Druckschmerz auslösen, muss abgeklärt werden, ob es sich lediglich um ein spastisches Kolon oder eine Appendizitis (Blinddarmentzündung), eine Kontraindikation für manuelle Behandlung des Kolons, handelt (▶ Abb. 11.31).

Abb. 11.29 Kolonpunkte nach Vogler. Abb. 11.30 Erster Kolonpunkt.

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11.10 Palpation des Kolons

Abb. 11.31 Palpation am Zäkalpunkt.

Bei einer Entzündung würde der Patient bereits jetzt einen Schmerz angeben und eine Abwehrspannung aufbieten. Bei plötzlichem Zurückschnellen der Finger würde der Schmerz deutlich zunehmen. Weitere ärztliche Untersuchungen sind dann nötig. Die von Charles Heber McBurney 1891 beschriebene Stelle wird heute noch diagnostisch zur Erkennung einer Appendizitis sowie als Zugang für eine Laparoskopie eingesetzt (Grover et al. 2012).

11.10.2 Aufsuchen des Aszendenspunktes Der zweite Punkt befindet sich wiederum auf der Muskellücke ca. 2 Querfingerbreiten unterhalb des Rippenbogens und spiegelt die Lage der rechten Kolonflexur wider (▶ Abb. 11.32). Bei flächigen Druck mit 2–3 Fingerbeeren nach dorsal hat man die gleiche Erwartung an die Konsistenz wie bei Punkt eins: wenig Widerstand und sehr elastisch. ▶ Differenzierung bei Druckschmerz und erhöhter Konsistenz. Es besteht die Frage, ob es sich hier lediglich um ein enorm gefülltes, gegebenenfalls spastisches Kolon handelt oder Affektionen von Leber bzw. Gallenblase vorliegen. Hierzu versucht man, den unteren Leberrand zu lokalisieren. Dazu dringt man mit einem flächigen Einsatz von 3–4 Fingerbeeren auf dem 2. Kolonpunkt nach dorsal und anschließend nach kranial, bis die Fingerkuppen einen erhöhten Widerstand wahrnehmen (sehr fest und ein wenig elastisch). Dieser Rand ist in der Regel gut zu erkennen, da das Lebergewebe die höchste Konsistenz in der Palpation des Bauches aufweist. Der Rand ist normalerweise glatt, rund, aber nicht scharf begrenzt. Die Ausdehnung des unteren Leberrandes ist sehr variabel. Gilbert (1994) beschreibt, dass dieser bis zu 1 cm kaudal des unteren Rippenbogens he-

Abb. 11.32 Lage des zweiten Kolonpunktes.

rausragt. Ab einer Größe von 2 cm unterhalb des Rippenbogens betrachtet es Gilbert als abnormal (▶ Abb. 11.33). Da die Leber unter dem Diaphragma „hängt“, folgt sie dessen Ausdehnung bei der Atmung. Dieser Mechanismus wird genutzt, um die Lage des unteren Leberrandes zu bestätigen. Unter fortwährender Palpation des vermuteten Randes, zunächst bei ruhiger Atmung, lässt man den Patienten tief ausatmen und folgt der Leber mit den Fingerkuppen nach kranial. Bei Einatmung stößt der Leberrand gegen die Fingerkuppen und verdeutlicht somit die richtige Lokalisation (▶ Abb. 11.34). Lassen sich durch diese Manöver keine Beschwerden hervorrufen, so sind Spasmus oder Füllungszustand des Kolons an der rechten Kolonflexur für das unangenehme Druckgefühl bei Palpation dieses Punktes verantwortlich. Erzeugt der Druck der Leber gegen die palpierenden Finger bei tiefer Inspiration einen Schmerz, so kann dies auf Pathologie hindeuten (z. B. Entzündung der Leber oder Gallensteine). Daher wird dann dieser Punkt während einer Kolonmassage ausgelassen und die ärztliche Untersuchung angeraten.

11

▶ Hinweise zur Pathologie. Erfahrene Ärzte können so einen Rückschluss auf die Größe und Konsistenz der Leber ziehen. Bei einer stark vergrößerten Leber muss mit der Palpation ausreichend kaudal begonnen werden. Bei tiefer Inspiration kann ein, medial der Medioklavikularlinie, ausgelöster Druckschmerz auch von einer pathologisch veränderten Gallenblase herrühren (Murphy-Zeichen). Dieses klinische Zeichen hat mit einer Spezifität von 93,6 % eine recht hohe wissenschaftliche diagnostische Güte und auch eine recht zuverlässige Vorhersagekraft auf Pathologie, wenn es festgestellt wird (Trowbridge et al. 2003). Die Leber kann bei einer pathologisch bedingten Vergrößerung sehr weit in den rechten Bauchraum nach unten ragen. Gründe für eine vergrößerte Leber sind beispielsweise in einem venösen Rückstau oder einer Leberzirrhose zu suchen.

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Bauchregion

Abb. 11.33 Palpation des Leberrandes 01.

Abb. 11.34 Palpation des Leberrandes 02.

Sollte die Palpation Druckschmerzen auslösen, muss man eher an eine Affektion der Gallenblase denken. Bei auftretendem Druckschmerz ist eine ärztliche Untersuchung dringend anzuraten. Bei der manuellen Behandlung des Kolons muss die Lage des Leberrandes immer überprüft werden, um Sicherheit über die richtige Lokalisation der Kolonflexur zu erhalten.

11.10.3 Aufsuchen des Linearpunktes Dieser Punkt repräsentiert die Lage der linken Kolonflexur und befindet sich nahezu spiegelverkehrt zum Aszendenspunkt auf der linke Seite. Palpatorisch lässt er sich in der kranialen Fortsetzung der Muskellücke zum Arcus costalis aufsuchen. Im Gegensatz zum Aszendenspunkt ist der Abstand zum Rippenbogen nicht nötig (▶ Abb. 11.35).

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Abb. 11.35 Dritter Kolonpunkt.

▶ Differenzierung zu Vergrößerungen der Milz bei Druckschmerz und erhöhter Konsistenz. Es besteht die Frage, ob es sich hier lediglich um ein enorm gefülltes, ggf. spastisches Kolon oder um Affektionen der Milz handelt. Hierzu versucht man, den unteren Milzrand zu lokalisieren. Das bohnenförmige lymphatische Organ liegt intraperitoneal dorsolateral und hat eine Ausdehnung von ca. 11 × 7 × 3 cm. Die Längsachse senkt sich parallel der Ausrichtung der 9. und 11. Rippe (Rauber u. Leonhardt 1987, S. 119). Da die Milz mit dem Diaphragma verbunden ist, folgt sie ebenso dem Heben und Senken bei Expiration und Inspiration. In einer Halbseitenlage entspannt die Bauchwand noch mehr. Die Fingerkuppen einer Hand drängen sich mit moderatem Druck unter den linken Rippenbogen. Bei tiefer Inspiration bewegt sich die Milz von dorsolateral nach ventromedial, sodass sich der untere Milzrand gegen die Fingerkuppen bewegt. Das erkennt der Palpierende durch eine deutliche Druckzunahme an den Fingerkuppen (▶ Abb. 11.36 und ▶ Abb. 11.37). Im gesunden Zustand lässt sich die Milz nicht ertasten. Erst bei pathologischer Vergrößerung ist sie unter dem linken Rippenbogen erreichbar. Lassen sich durch dieses Manöver keine Beschwerden hervorrufen, so sind Spasmus oder Füllungszustand des Kolons an der linken Kolonflexur für ein unangenehmes Druckgefühl bei Palpation des 3. Punktes verantwortlich.

11.10.4 Aufsuchen des Deszendenzpunktes Analog zur Lage des Zäkalpunktes befindet sich dieser Punkt ebenso ca. 2 Querfingerbreit auf einer Linie der linken SIAS zum Bauchnabel. Auch dieser Palpationspunkt befindet sich lateral des Rektusrandes, sodass wenig Weichteilabdeckung zwischen Haut und Kolon die Palpation behindern wird (▶ Abb. 11.38).

11.11 Palpation der Leistenregion

Abb. 11.36 Palpation der Milz 01.

Abb. 11.38 Vierter Kolonpunkt.

Abb. 11.37 Palpation der Milz 02.

Abb. 11.39 Fünfter Kolonpunkt.

11.10.5 Aufsuchen des Sigmapunktes Direkt kranial der Symphyse wird dieser Punkt aufgesucht (▶ Abb. 11.39). Die Unterschiede zur Palpation der bisherigen Stellen werden schnell deutlich. Der Druck in die Tiefe ● findet auf der Linea alba, direkt kranial der Symphyse, statt. ● erreicht, je nach Füllungszustand, die Blase und bei Frauen ggf. auch den Uterus. Daher ist ein sanft zunehmender Druck anzuraten.

11.11 Palpation der Leistenregion

11

Von der Art her ist der Leistenkanal ein Hiatus, virtueller Raum zwischen verschiedenen Faszien- und Aponeurosenschichten (Williams 2009, S. 1064). Er ist die Verbindung zweier Leistenringe: ● Der tiefe Leistenring (Anulus inguinalis profundus) ist eine Faszienöffnung des M. transversus abdominis. Seine Lage ist 1–1,5 cm kranial der Mitte des Lig. Inguinalis. ● Der oberflächige Leistenring (Anulus inguinalis superficialis) entsteht durch eine Öffnung der Aponeurose des M. obliqus externus abdominis (Winkel 2004, S. 324). Seine Lage ist kranial des Übergangs des medialen zum mittlerem Drittel des Lig. Inguinale zu suchen. Der superfiziale Ring ist der schwächste von beiden. Sein lateraler Rand ist stärker als der mediale.

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Bauchregion Vom profunden Leistenring verläuft der Kanal nach medial. Fasern der Faszien des Mm. transversus abdominis und obliqus internus abdominis begleiten die empfindlichen Strukturen durch den Kanal. Größe und Form variieren mit dem Alter: Beim Neugeborenen liegen die Ringe nahezu übereinander und der Kanal ist sehr kurz. Beim Erwachsenen ist er 3–5 cm lang. Bei Männern ist der Kanal in der Länge und Größe des Außenringes stärker ausgebildet (Williams 2009, S. 1064).

11.11.1 Technik und Erwartungen In Rückenlage wird der Unterbauch freigemacht, sodass auch die Symphyse kranial erreichbar wird. Die ossären Referenzpunkte SIAS und Tuberculum pubicum werden aufgesucht. Somit wird der Verlauf des Lig. inguinale dargestellt. Die Palpation beginnt am Tuberculum pubicum und orientiert sich am inguinalen Band bis zum Übergang des medialen zum mittleren Drittel (▶ Abb. 11.40 und ▶ Abb. 11.41).

Abb. 11.40 Lokalisation Leistenkanal.

Abb. 11.41 Palpation Leistenkanal.

322

Mit einem direkten Druck nach dorsal und kranial sucht die palpierende Fingerspitze ihren Weg durch die Subkutis bis zur Bauchwand, die durch leichte Muskelaktivität (Kommando „Bauchnabel einziehen“) deutlich wird. Der äußere Leistenring ist erreicht, wenn eine rundliche nachgiebige Stelle der Bauchwand ertastet wird. Bei erweitertem äußerem Leistenring hat man das Gefühl, in den Bauchraum eindringen zu können. Im Falle einer Leistenhernie erreicht man eine Vorwölbung. Schiebler et al. (1999) empfehlen, beim Mann den Funiculus spermaticus aufzusuchen und ihn nach kranial zur Bauchwand zu verfolgen. Mit dem Kleinfinger müsse man dann den Anulus direkt lateral davon ertasten können. Die richtige Lage der Palpation kann dadurch bestätigt werden, dass der palpierende Finger nach lateral gegen die festere Begrenzung des Rings anstößt, während die mediale deutlich weicher ist.

11.11.2 Palpation von Leistenhernien Die Palpation der Leistenregion zur Bestätigung oder zum Ausschluss von inguinalen Hernien (Leistenbruch) gehört zum direkten Aufgabengebiet von Therapeuten. Eine Hernie sollte bei einer Untersuchung der Leistenregion nicht übersehen werden. ● Eine laterale, indirekte Leistenhernie ist das Hervortreten des Bauchinhaltes durch den Anulus inguinalis profundus. Der Bruchsack verläuft vom inneren Leistenring und durch den Leistenkanal zum äußeren Leistenring. Er wird häufiger bei jüngeren Personen angetroffen. ● Die mediale, direkte Leistenhernie beschreibt das Hervortreten des Bauchinhaltes durch den Anulus inguinalis superficialis. Der Bruchsack durchsetzt die Bauchdecke auf direktem Weg zum äußeren Leistenring. Er ist eher bei älteren Personen anzutreffen und hat beim Mann keine Beziehung zum Samenstrang. ● In 15 % entstehen kombinierte Leistenhernien, die sowohl einen laterale als auch einen medialen Bruchsack aufweisen Beschwerden beim Husten, Heben und Pressen sowie Obstipation und Stuhlverhalt, aber auch Probleme beim Wasserlassen werden anamnestisch beschrieben. Diese Zeichen können von vegetativen Symptomen und Fieber begleitet werden. Inspektorisch kann eine Vorwölbung erkannt werden. Die Palpation der Hernien begrenzt sich auf den äußeren Leistenring. Bei positiver Palpation einer Hernie sollte sich die Palpation auf Skrotum oder Labia majores ausdehnen (Winkel 2004, S. 324). Die Reponierbarkeit der Hernie entscheidet häufig über die Notwendigkeit einer Operation. Mittels Bildgebung (z. B. Sonografie) gelingen eine Abgrenzung zu Leistenlymphknoten und die Bestimmung der Art des Gewebes.

11.12 Literatur

11.12 Literatur Becker I, Woodley SJ, Stringer MD. The adult human pubic symphysis: a systematic review. J Anat 2010; 217: 475–487 Boccia G, Rainoldi A. Innervation zones location and optimal electrodes position of obliquus internus and obliquus externus abdominis muscles. J Electromyogr Kinesiol 2014; 24: 25–30 Cowan S, Schache A, Brukner P et al. Delayed onset of transversus abdominis in long-standing groin pain. Med Sci Sports Exerc 2004; 36: 2040– 2045 Ferguson CM. Inspection, Auscultation, Palpation, and Percussion of the Abdomen. In: Walker HK, Hall WD, Hurst JW. Clinical Methods: The History, Physical, and Laboratory Examinations. 3rd ed. Chapter 93. Oxford: Butterworth-Heinemann; 1990 Frick H, Leonhardt H, Starck D. Taschenbuch der gesamten Anatomie. Spezielle Anatomie II. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 1992 Füeßel H, Middeke M et al. Duale Reihe Anamnese und klinische Untersuchung. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2018 Gilbert VE. Detection of the liver below the costal margin: comparative value of palpation, light percussion, and auscultatory percussion. South Med J 1994; 87: 182–186 Greten J. Kursbuch traditionelle chinesische Medizin: TCM verstehen und richtig anwenden. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2017 Grover CA, Sternbach G, McBurney C. McBurney's point. J Emerg Med 2012; 42: 578–581 Krauß H. Periostbehandlung, Kolonbehandlung: zwei reflextherapeutische Methoden (nach Vogler), 6. Aufl. Stuttgart: Enke; 1986

Kumar R, Ganghi R, Rana V et al. The painful rib syndrome. Indian J Anaesth 2013; 57: 311–313 McBurney C. Experience with early operative interference in cases of disease of the vermiform appendix. New York Medical Journal 1889, 50: 676–684 Ploumis A, Michailidis N, Christodoulou P et al. Ipsilateral atrophy of paraspinal and psoas muscle in unilateral back pain patients with monosegmental degenerative disc disease. Br J Radiol 2011; 84: 709–713 Rauber A, Leonhardt H (Hrsg.). Anatomie des Menschen: Lehrbuch und Atlas. Band 1 – Bewegungsapparat. Stuttgart: Thieme; 1987 Reichert B. Massage-Therapie. Stuttgart: Thieme; 2015 Schiebler TH, Schmidt W, Zilles K. Anatomie: Histologie, Entwicklungsgeschichte, makroskopische und mikroskopische Anatomie, Topographie. 8. Aufl. Heidelberg: Springer; 1999 Schmailzl KJG, Hackelöer BJ. Schwangerschaft und Krankheit: Wechselwirkung, Therapie, Prognose. Stuttgart: Thieme; 2002 Schünke M et al. Prometheus, LernAtlas der Anatomie, Allgemeine Anatomie. Stuttgart: Thieme; 2005 Trowbridge RL, Rutkowski NK, Shojania KG. Does this patient have acute cholecystitis? JAMA 2003;289:80–86. Review. Erratum in: JAMA 2009; 302: 739 Udermann BE, Cavanaugh DG, Gibson MH et al. Slipping Rib Syndrome in a Collegiate Swimmer: A Case Report. J Athl Train 2005; 40: 120–122 Williams PL. Gray's anatomy. 40th ed. Edinburgh: Churchill Livingstone; 2009 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in Vivo, 3. Aufl. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2004 Yang Y, Du ML, Fu YS et al. Fine dissection of the tarsal tunnel in 60 cases. Sci Rep 2017; 7: 46351

11

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12.1 Bedeutung der thorakalen Region

12 Brustwirbelsäule und Brustkorb 12.1 Bedeutung der thorakalen Region Der thorakale Abschnitt gehört zu den stabilen und vergleichsweise rigiden Wirbelsäulenanteilen. Zunächst mag das eher nachteilig anmuten. Steifigkeit stellt sich hinsichtlich der zu erfüllenden Aufgaben bei näherer Betrachtung als Vorteil heraus. Die Aufgaben der BWS und des Thorax sind: ● Schutzfunktion ● Stützfunktion ● Übergang zwischen HWS und LWS herstellen ● Atmung

12.1.1 Schutzfunktion Mit dem Rippenkorb und dem Sternum zusammen bietet die BWS einen stabilen knöchernen Käfig zum Schutz von Herz, Lunge und anderen wichtigen Organen. Kleinere und größere mechanische Einwirkungen können von dieser stabilen und dennoch elastischen Konstruktion absorbiert werden. Der sehr enge und nahezu komplett knöchern verschlossene Wirbelkanal beherbergt große Anteile des Rückenmarkes.

12.1.2 Stützfunktion Neben der Wahrung unserer aufrechten Haltung muss dieser Körperabschnitt so viel Stabilität mitbringen, um alle Impulse, die über die Arme auf den Rumpf auftreffen, auffangen zu können. Große Druck- und Zugbelastungen übertragen große Muskeln, wie z. B. die Mm. latissimus dorsi und pectoralis major sowie die Muskeln des skapulothorakalen Gleitlagers. Ohne diese zentrale Stabilität könnten wir das Gewicht des Armes oder zusätzliche Belastungen nicht tragen. Dabei verlieren die lumbal sehr kräftigen Muskeln im lateralen Trakt der autochthonen Rückenmuskulatur nach kranial zunehmend ihre Wirkung. Andere kräftige Muskeln, wie z. B. der M. spinalis, übernehmen die Kraft für eine thorakale Extension.

12.1.3 Übergang zwischen HWS und LWS Ausgiebige Armexkursionen werden durch die thorakale Beweglichkeit unterstützt. Dies gelingt sicher nicht in dem Umfang, wie die LWS Beinbewegungen optimieren kann. Dennoch ist eine volle Armelevation ohne thorakale Streckfähigkeit nur bis etwa 150° möglich, bei eigentlich zu erwartenden 180°. Armelevationen lassen sich vom zervikothorakalen Übergang bis etwa Th 6–Th 7 verfolgen: ● als Extension (bei beidseitiger Armelevation) bzw. ● als Extension mit Rotation (bei einseitiger Armelevation)

Dieses Wissen ist in der Höhenlokalisation von thorakalen Beschwerden hilfreich. Lassen sich thorakale Beschwerden auch durch große Armelevationen provozieren? Ausgiebige einarmige Außen- und Innenrotationen gehen rotatorisch auf die BWS über. Beidarmige Rotationen rufen eine Flexion (bei Innenrotation) bzw. Extension (bei Außenrotation) hervor. Biomechanisch muss die BWS es schaffen, eine Verbindung zwischen dem Bewegungsverhalten der HWS und dem der LWS zu vermitteln: ● Rotation ist in der HWS die funktionell vorherrschende Bewegung. ● Flexion und Extension sind die dominanten Bewegungen der LWS. HWS und LWS haben ihre spezifischen Kopplungszusammenhänge zwischen Seitneigung und Rotation. Die beweglichen Abschnitte der Wirbelsäule lassen sich anatomisch gut abgrenzen. So wird die BWS als derjenige Abschnitt auffällig, der die Rippen trägt. Funktionell sind die Grenzen zwischen den Abschnitten fließend. Beide lordotischen Abschnitte laufen funktionell auf dem thorakalen WS-Anteil weiter. So sind ausgiebige HWS-Bewegungen bis etwa Th 4–Th 5 zu erwarten, die auch palpatorisch wahrzunehmen sind. Das lumbale Bewegungsverhalten setzt sich bis etwa Th 10–Th 11 fort. Dazwischen (im mittleren thorakalen Abschnitt) befindet sich die eigentliche BWS.

12.1.4 Atmung Eine ruhige Atmung wird bei gesunden Personen komplett über die Zwerchfellaktivität geregelt. Eine forcierte Atmung wird durch Thoraxbewegungen unterstützt. Die Atembewegungen sind das Produkt aus: ● Elastizität im Brustkorb ● Mobilität in den Rippen-Wirbelgelenken ● Unterstützung durch BWS-Bewegungen ● Aktivität verschiedener intrinsischer Muskeln und der Atemhilfsmuskeln

12

Die große Mitbewegung der Rippengelenke bei forcierter Atmung ist in der Diagnostik sehr wichtig. Lassen sich Rücken- oder Thoraxschmerzen durch tiefe Inspiration oder Expiration provozieren?

12.1.5 Bedeutung für die Palpation Die Mitbewegungen der oberen thorakalen Segmente bei ausgiebigen Armelevationen lassen sich palpatorisch gut nachvollziehen. Legt man einige Fingerbeeren in den zervikothorakalen Übergang und schiebt sie beispielsweise von links gegen die Procc. spinosi, kann man deren Drehung nach links spüren, wenn der Arm rechts eine endgradige Armhebung vollzieht.

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Brustwirbelsäule und Brustkorb Atemexkursionen lassen sich ebenfalls spürbar nachempfinden. Das Erweitern und Schließen der Interkostalräume gibt Auskunft über die Beweglichkeit der Rippen in ihren gelenkigen Verbindungen zu der Wirbelsäule bzw. über die Elastizität der interkostalen Muskeln. Eine Bewegungspalpation der thorakalen Segmente zur Feststellung von Bewegungseinschränkungen ist mit verschiedenen Manövern durchführbar. Während es für die WS-Abschnitte LWS und HWS klare Regeln für den Zusammenhang zwischen Seitneigung und Rotation gibt, kann man für den mittleren BWS-Bereich keine feste Regel aufstellen. Interindividuelle Varianten sind hier so groß, dass man diese funktionellen Zusammenhänge jedes Mal aufs Neue herausfinden muss.

12.2 Häufige therapeutische Anwendungen in dieser Region BWS und Thorax sind die „Heimat des Symphatikus“. Bekanntlich hat der Sympathikus seine Kerngebiete in den Seitenhörnern des thorakalen Rückenmarks. Diagnostisch lässt sich die enge Beziehung zwischen Entero- und Dermatomen anhand der Repräsentanz wichtiger thorakal gelegener Organe in großen Head-Zonen ausnutzen. Therapeutisch kann man reflektorisch nicht nur auf diese Organe, sondern auch auf die neurovegetative Ansteuerung von Kopf und Armen einwirken. Von den oberen thorakalen Segmenten (C 8–Th 8) ziehen präganglionäre Fasern zu den zervikalen Grenzstrangganglien und weiter zu den Plexus cervicalis und brachialis. BWS und Thorax sind daher ein geeigneter Angriffsort für mechanische (Massagetherapie, Bindegewebemassage, Manuelle Therapie), thermische oder elektrotherapeutische Reize, um die Aktivität des Sympathikus zu beeinflussen. Diese Einflussnahme erfährt in der aktuellen Diskussion über die Behandlung chronischer Schmerzzustände am Bewegungsapparat eine Wiederbelebung. BWS und Thorax werden häufig auch direkt in Mitleidenschaft gezogen, wenn man sich die nahezu kraftvollen Interventionen der offenen Thoraxchirurgie vor Augen führt. Thorakale Segmente und Rippengelenke, die bei dem älteren Patienten durch Anpassungsvorgänge schon auf dem Weg der friedvollen Versteifung waren, werden durch die OP zunächst in extreme Positionen und anschließend zu wochenlanger Untätigkeit gezwungen. Es bedeutet sehr viel Mühe, einem solchen Thorax den Vorgang der Atmung wieder nahezubringen. Diagnostisch werden hier verschiedene Atemparameter erhoben: Atemfrequenz, -rhythmus und -richtung sowie Ausmaß der Thoraxexkursion zwischen maximaler Ex- und Inspiration. Die Kompressionen des Thorax und die Mobilisation der Weichteile sind in der Atemtherapie wichtige manuelle Techniken, die eine palpatorische Grundgeschicklichkeit erfordern.

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Abb. 12.1 Lokale Beweglichkeitsprüfung.

Schmerzen und Bewegungseinschränkungen der Rippen- und Wirbelgelenke führen nicht nur zur Restriktion der Atmung, sondern können die Erfüllung tagtäglicher Aufgaben stark beeinträchtigen, wobei Hypomobilität im Zusammenhang mit Schmerzen tatsächlich eine wichtige Rolle spielt. An keinem anderen Wirbelsäulenabschnitt sind segmentale Untersuchungen der Beweglichkeit sowie eine sehr lokale Mobilisation so wichtig wie an der BWS (▶ Abb. 12.1). Drei große Gruppen von Schmerzursachen werden beobachtet: ● akute und chronische interne Bandscheibenrupturen ● schmerzhafte Hypomobilitäten der Wirbelgelenke (ZAGs) ● schmerzhafte Hypomobilitäten der Rippen-Wirbelgelenke (Rippengelenke) Selten werden Beschwerden aufgrund von Hypermobilitäten beobachtet. Dies betrifft vor allem den zervikothorakalen Übergang infolge direkter Traumata. Sie sind radiologisch schwer zu erfassen und gehen häufig mit schweren klinischen Problemen einher (Sapkas et al. 1999). Lange Zeit wurden bandscheibenbedingte Beschwerden nicht als Ursache für thorakale Beschwerden in Erwägung gezogen, bis deutlich wurde, dass nicht nur Protrusionen und Prolaps, sondern auch akute und chronische interne Rupturen des Anulus fibrosus als Ursache

Brustwirbelsäule und Brustkorb Atemexkursionen lassen sich ebenfalls spürbar nachempfinden. Das Erweitern und Schließen der Interkostalräume gibt Auskunft über die Beweglichkeit der Rippen in ihren gelenkigen Verbindungen zu der Wirbelsäule bzw. über die Elastizität der interkostalen Muskeln. Eine Bewegungspalpation der thorakalen Segmente zur Feststellung von Bewegungseinschränkungen ist mit verschiedenen Manövern durchführbar. Während es für die WS-Abschnitte LWS und HWS klare Regeln für den Zusammenhang zwischen Seitneigung und Rotation gibt, kann man für den mittleren BWS-Bereich keine feste Regel aufstellen. Interindividuelle Varianten sind hier so groß, dass man diese funktionellen Zusammenhänge jedes Mal aufs Neue herausfinden muss.

12.2 Häufige therapeutische Anwendungen in dieser Region BWS und Thorax sind die „Heimat des Symphatikus“. Bekanntlich hat der Sympathikus seine Kerngebiete in den Seitenhörnern des thorakalen Rückenmarks. Diagnostisch lässt sich die enge Beziehung zwischen Entero- und Dermatomen anhand der Repräsentanz wichtiger thorakal gelegener Organe in großen Head-Zonen ausnutzen. Therapeutisch kann man reflektorisch nicht nur auf diese Organe, sondern auch auf die neurovegetative Ansteuerung von Kopf und Armen einwirken. Von den oberen thorakalen Segmenten (C 8–Th 8) ziehen präganglionäre Fasern zu den zervikalen Grenzstrangganglien und weiter zu den Plexus cervicalis und brachialis. BWS und Thorax sind daher ein geeigneter Angriffsort für mechanische (Massagetherapie, Bindegewebemassage, Manuelle Therapie), thermische oder elektrotherapeutische Reize, um die Aktivität des Sympathikus zu beeinflussen. Diese Einflussnahme erfährt in der aktuellen Diskussion über die Behandlung chronischer Schmerzzustände am Bewegungsapparat eine Wiederbelebung. BWS und Thorax werden häufig auch direkt in Mitleidenschaft gezogen, wenn man sich die nahezu kraftvollen Interventionen der offenen Thoraxchirurgie vor Augen führt. Thorakale Segmente und Rippengelenke, die bei dem älteren Patienten durch Anpassungsvorgänge schon auf dem Weg der friedvollen Versteifung waren, werden durch die OP zunächst in extreme Positionen und anschließend zu wochenlanger Untätigkeit gezwungen. Es bedeutet sehr viel Mühe, einem solchen Thorax den Vorgang der Atmung wieder nahezubringen. Diagnostisch werden hier verschiedene Atemparameter erhoben: Atemfrequenz, -rhythmus und -richtung sowie Ausmaß der Thoraxexkursion zwischen maximaler Ex- und Inspiration. Die Kompressionen des Thorax und die Mobilisation der Weichteile sind in der Atemtherapie wichtige manuelle Techniken, die eine palpatorische Grundgeschicklichkeit erfordern.

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Abb. 12.1 Lokale Beweglichkeitsprüfung.

Schmerzen und Bewegungseinschränkungen der Rippen- und Wirbelgelenke führen nicht nur zur Restriktion der Atmung, sondern können die Erfüllung tagtäglicher Aufgaben stark beeinträchtigen, wobei Hypomobilität im Zusammenhang mit Schmerzen tatsächlich eine wichtige Rolle spielt. An keinem anderen Wirbelsäulenabschnitt sind segmentale Untersuchungen der Beweglichkeit sowie eine sehr lokale Mobilisation so wichtig wie an der BWS (▶ Abb. 12.1). Drei große Gruppen von Schmerzursachen werden beobachtet: ● akute und chronische interne Bandscheibenrupturen ● schmerzhafte Hypomobilitäten der Wirbelgelenke (ZAGs) ● schmerzhafte Hypomobilitäten der Rippen-Wirbelgelenke (Rippengelenke) Selten werden Beschwerden aufgrund von Hypermobilitäten beobachtet. Dies betrifft vor allem den zervikothorakalen Übergang infolge direkter Traumata. Sie sind radiologisch schwer zu erfassen und gehen häufig mit schweren klinischen Problemen einher (Sapkas et al. 1999). Lange Zeit wurden bandscheibenbedingte Beschwerden nicht als Ursache für thorakale Beschwerden in Erwägung gezogen, bis deutlich wurde, dass nicht nur Protrusionen und Prolaps, sondern auch akute und chronische interne Rupturen des Anulus fibrosus als Ursache

12.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Abb. 12.2 Axiale Separation.

möglich sind. Es ist empfehlenswert, einen plötzlich auftretenden thorakalen Schmerz zunächst wie ein bandscheibenbedingtes Problem zu behandeln. Hier werden erfolgreich axial entlastende Techniken eingesetzt (▶ Abb. 12.2). Bestimmte Regionen zeigen eine erhöhte Häufigkeit für bestimmte Pathologien (persönliche Mitteilungen der IAOM-Lehrgruppe). ● Th 1–Th 4: Rippengelenke > akute Bandscheibenprobleme > ZAG-Pathologie ● Th 5–Th 8: akute Bandscheibenprobleme > ZAG-Pathologie > Rippengelenke ● Th 9–Th 12: akute Bandscheibenprobleme > Rippengelenke > ZAG-Pathologie Die ersten 4 Rippengelenke sind sehr starr und neigen zur Hypomobilität. Der Zusammenhang mit anstrengender Armaktivität oder einmaliger großer Krafteinwirkung, z. B. Tragen sehr schwerer Gewichte oder plötzliche Atemnot, werden hier häufig als Ursache beobachtet. Die Rolle der Palpation ist die sichere Niveaubestimmung zur Provokation der Rippengelenke und zur Positionsbestimmung in In- oder Exspirationsstellung (▶ Abb. 12.3). Beschwerden durch die Rippengelenke werden nicht nur häufig „zwischen den Schulterblättern“, sondern auch „oben auf der Schulter“ gespürt. Vermutlich ist ein großer Anteil der Schmerzen am M. trapezius auf eine in

Abb. 12.3 Positionsdiagnostik der Rippen.

Inspirationsstellung blockierte 1. Rippe zurückzuführen oder er ist Wahrnehmungsort für fortgeleitete Beschwerden aus der HWS.

12.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

12

12.3.1 Funktionelle Einteilung der BWS Durch die Verbindungen zu den Rippen 1–12 auf jeder Seite unterscheidet sich die BWS anatomisch von den anderen WS-Abschnitten. Funktionell ist die BWS keine Einheit. ● Die obere BWS gehört zur HWS. Ausgiebige zervikale Bewegungen setzen sich bis Th 4/Th 5 fort. ● Die untere BWS gehört zur LWS. Lumbale Bewegungen setzen sich bis Th 10/Th 11 fort. Flexion und Extension sind in diesem Abschnitt besonders gut möglich. ● Die „echte“ BWS liegt demnach lediglich zwischen Th 5 und Th 10.

327

12.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Abb. 12.2 Axiale Separation.

möglich sind. Es ist empfehlenswert, einen plötzlich auftretenden thorakalen Schmerz zunächst wie ein bandscheibenbedingtes Problem zu behandeln. Hier werden erfolgreich axial entlastende Techniken eingesetzt (▶ Abb. 12.2). Bestimmte Regionen zeigen eine erhöhte Häufigkeit für bestimmte Pathologien (persönliche Mitteilungen der IAOM-Lehrgruppe). ● Th 1–Th 4: Rippengelenke > akute Bandscheibenprobleme > ZAG-Pathologie ● Th 5–Th 8: akute Bandscheibenprobleme > ZAG-Pathologie > Rippengelenke ● Th 9–Th 12: akute Bandscheibenprobleme > Rippengelenke > ZAG-Pathologie Die ersten 4 Rippengelenke sind sehr starr und neigen zur Hypomobilität. Der Zusammenhang mit anstrengender Armaktivität oder einmaliger großer Krafteinwirkung, z. B. Tragen sehr schwerer Gewichte oder plötzliche Atemnot, werden hier häufig als Ursache beobachtet. Die Rolle der Palpation ist die sichere Niveaubestimmung zur Provokation der Rippengelenke und zur Positionsbestimmung in In- oder Exspirationsstellung (▶ Abb. 12.3). Beschwerden durch die Rippengelenke werden nicht nur häufig „zwischen den Schulterblättern“, sondern auch „oben auf der Schulter“ gespürt. Vermutlich ist ein großer Anteil der Schmerzen am M. trapezius auf eine in

Abb. 12.3 Positionsdiagnostik der Rippen.

Inspirationsstellung blockierte 1. Rippe zurückzuführen oder er ist Wahrnehmungsort für fortgeleitete Beschwerden aus der HWS.

12.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

12

12.3.1 Funktionelle Einteilung der BWS Durch die Verbindungen zu den Rippen 1–12 auf jeder Seite unterscheidet sich die BWS anatomisch von den anderen WS-Abschnitten. Funktionell ist die BWS keine Einheit. ● Die obere BWS gehört zur HWS. Ausgiebige zervikale Bewegungen setzen sich bis Th 4/Th 5 fort. ● Die untere BWS gehört zur LWS. Lumbale Bewegungen setzen sich bis Th 10/Th 11 fort. Flexion und Extension sind in diesem Abschnitt besonders gut möglich. ● Die „echte“ BWS liegt demnach lediglich zwischen Th 5 und Th 10.

327

Brustwirbelsäule und Brustkorb

Abb. 12.4 Ansicht der BWS.

1. Brustwirbelkörper (Th I)

Proc. spinosus Proc. articularis inferior Proc. articularis superior Proc. transversus

Fovea costalis inferior

Fovea costalis proc. transversi

Fovea costalis superior

Art. zygapophysialis

Corpus vertebrae

Foramen intervertebrale

Incisura vertebralis inferior Incisura vertebralis superior

12. Brustwirbelkörper (Th XII) a

Facies articularis inf.

Fovea costalis b

Morphologisch sind diese Abschnitte bei genauerer Betrachtung ebenfalls voneinander zu unterscheiden (▶ Abb. 12.4). Die Form der beiden oberen thorakalen Wirbel gleicht eher der eines zervikalen Wirbels, während sich die unteren Brustwirbel allmählich der Form eines lumbalen Wirbels annähern. Lediglich der mittlere BWS-Abschnitt hat die typische enorme Schrägstellung der Procc. spinosi.

12.3.2 Anatomische Besonderheiten der BWS Nachfolgend sollen nur die typischen morphologischen Eigenheiten des thorakalen Wirbels besprochen werden.

Thorakaler Wirbelkörper Die thorakale Kyphose ist nicht nur die Folge einer Haltung, sondern auch anatomisch begründet. Das anatomische Korrelat für die lumbale Lordose sind die keilförmigen Konstruktionen der Bandscheiben L 4–L 5 und L 5–S 1 sowie des Wirbelkörpers L 5. Thorakal ist es die Keilform der Wirbelkörper, die in der Summe die kyphotische Form ausmacht (▶ Abb. 12.5). Deck- und Grundplatten der Wirbel sind in einem Segment immer parallel

328

Abb. 12.5 Keilform des Wirbelkörpers.

zueinander. In der Aufsicht entdeckt man, dass der Corpus vertebrae eher „herzförmig“ ausgebildet ist. Vermutlich eine Anpassung an den sehr weit ventral liegenden Körperteilschwerpunkt. Die meisten Brustwirbel haben auf jeder Seite 2 Gelenkflächen, die mit dem Diskus die Pfannen der Rippenköpfchengelenke bilden (Art. capitis costae oder Kostovertebralgelenk).

12.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Thorakale Bandscheibe Die thorakalen Bandscheiben sind recht dünn und passen sich somit den vergleichsweise geringen segmentalen Bewegungsausmaßen an. An den Seiten wird der Diskus von den Rippenköpfchen stabilisiert. Die posterior-laterale Richtung für einen (eher unwahrscheinlichen) thorakalen Prolaps ist somit knöchern verlegt, eine Nervwurzelkompression durch Bandscheibenmaterial sehr unwahrscheinlich. Die intervertebralen Foramina mit den austretenden Spinalnerven liegen deutlich über dem Niveau einer Bandscheibe. Die Spinalnerven werden auch aus diesem Grund äußerst selten direkt von einem thorakalen Prolaps getroffen.

Proc. transversus

Proc. articularis superior

Fovea costalis transversalis

Fovea costalis superior

Foramen vertebrae Das Wirbelloch ist rund und im Vergleich zu anderen WS-Abschnitten recht eng (▶ Abb. 12.6). Da die Laminae des thorakalen Wirbelbogens sehr hoch sind, ist das Foramen nahezu von allen Seiten knöchern abgeschlossen. Das Rückenmark nutzt fast den gesamten Durchmesser des Foramens und kann bei einer Raumforderung (z. B. Fraktur, Blutung oder Bandscheibenprolaps) nicht ausweichen. Dura mater und Rückenmark haben thorakal eine besonders hohe Chance, bei diesen Pathologieformen komprimiert zu werden.

Proc. spinosus Der thorakale Proc. spinosus ist bekanntlich sehr lang und schräg nach kaudal absteigend (▶ Abb. 12.7). Seine Form ist das typische Erkennungsmerkmal eines thorakalen Wirbels. Die Ausmaße an Länge und Schrägstellung variieren allerdings hoch-, mittel- und tiefthorakal. Die Abschrägung bewirkt einen deutlichen Höhenunterschied zwischen der Spitze des Proc. spinosus gegenüber den zugehörigen Procc. transversi. Der Unterschied wird in einer „Fingerregel“ zusammengefasst, um palpatorisch die erreichbaren Strukturen des gleichen Wirbels zu lokalisieren. Besonders in der BWS-Mitte führt die Überlagerung der Procc. spinosi zu einer schnellen Berührung mit zunehmender Kompression, wenn die BWS in Extension gebracht wird. Kleine Bursen zwischen den Procc. spinosi nehmen die Reibung auf, während sich die Procc. spinosi etwas übereinander schieben und die Extension begrenzen. In dieser Position ist die BWS verriegelt.

Bedeutung für die Palpation Die sehr langen Procc. spinosi sind in neutralen ASTEn recht gut palpabel. Sie sind gut voneinander zu unterscheiden, die Spitzen recht einfach zeichnerisch zu markieren. Lediglich im Sitzen kann die aktiv gespannte Muskulatur den Zugang erschweren. Weiterhin sollte man vorab wissen, dass es keinen Zwischenraum gibt, der 2 benachbarte Procc. spinosi voneinander trennt. Die

Abb. 12.6 Aufsicht auf einen thorakalen Wirbel.

Fovea costalis superior

Proc. articularis superior

Fovea costalis transversalis

Fovea costalis inferior Proc. articularis inferior

Proc. transversus

Proc. spinosus

Abb. 12.7 Brustwirbel (Ansicht von lateral).

Spitze des kranialen Proc. spinosus liegt auf der Rückseite des kaudalen. Die Verriegelung der BWS durch Überlagerung der Procc. spinosi bei Extension ist keine geeignete ASTE, um die segmentale Beweglichkeit zu erspüren. In leichter Flexion, der Ruheposition der BWS, sind die Segmente bewegungsbereiter. Daher ist in allen ASTEn auf das Einnehmen einer leichten Kyphose zu achten. Der „Springingtest“, der dorsoventrale Schub über die Procc. spinosi, eignet sich thorakal nicht als Bewegungstest. Ein Druck auf diesen langen Hebel verursacht keine translatorische Bewegung, sondern ein Rückwärtskippen des Wirbels.

12

Procc. transversi In der anatomischen Studie von Ciu et al. (2015) wird deutlich, dass die Länge der Procc. transversi (gemessen von Basis bis Spitze) mit ca. 17 mm bei allen thorakalen Wirbel (Th 1–Th 10) nahzu konstant bleibt. Die Procc. transversi von Th 1 und Th 10 haben sogar die geringste

329

Brustwirbelsäule und Brustkorb Länge. Die Procc. transversi erscheinen allerdings von kranial nach kaudal immer kürzer, da sie zunehmend nach dorsal ausgerichtet sind. Diese dorsale Anwinkelung beträgt bei Th 1 ca. 24° und nimmt bis Th 10 etwa kontinuierlich bis ca. 64° zu. Die Länge des Proc. transversus von Th 1 ist besonders interessant, wenn die Unterscheidung zwischen der 1. Rippe und dem Proc. transversus Th 1 gesucht wird. Jeder Proc. transversus trägt eine kleine Gelenkfacette an der Vorderseite, um das Kostotransversalgelenk mit einer Rippe zu bilden. Die räumliche Ausrichtung des Proc. transversus bestimmt die Lage der gemeinsamen Achse beider Rippengelenke (s. auch Mechanik der Rippengelenke im Kap. 12.3.3).

Bedeutung für die Palpation Im Vergleich zur LWS wird der direkte paravertebrale Bereich thorakal durch weniger Muskelmasse überdeckt. Dadurch erhält der Therapeut einen recht sicheren Zugang zum Proc. transversus. Man gewinnt einen weiteren Hebel, um Einfluss auf die segmentale Beweglichkeit zu nehmen. Nun stellt sich die Frage, wie man den Proc. transversus eines bestimmten Wirbels findet. Dies gelingt auf 2 verschiedene Weisen: ● Jeder Proc. transversus liegt in Höhe des erreichbaren medialen Endes einer Rippe. Zählt man die Rippen von der 12. Rippe beispielsweise bis zur 8. Rippe hoch und verfolgt diese Rippe konsequent nach medial und kranial, dann gelangt man zur Höhe des Proc. transversus von Th 8. ● Lokalisation eines Proc. spinosus und Überwindung eines Höhenunterschiedes. Der Unterschied in der Lage zwischen Proc. spinosus und Proc. transversus wird in einer „Fingerregel“ festgehalten, die eine Palpation von der lokalisierten Spitze eines Proc. spinosus sicher auf die Höhe des zugehörigen Proc. transversus führt.

Tipp Fingerregel Typisch für den Bau thorakaler Wirbel ist die Höhendifferenz zwischen Proc. spinosus und Proc. transversus, deren Ausmaß fast von Segment zu Segment wechselt. Bei der Palpation versucht man, die Höhendifferenz in Fingerbreiten des Patientenzeigefingers anzugeben (▶ Abb. 12.8). Will man den zugehörigen Proc. transversus eines Brustwirbels erreichen, so geht man um eine bestimmte Anzahl an Fingerbreiten von der Unterkante des Proc. spinosus nach kranial: ● Procc. spinosi Th 1, Th 2 plus 1 Fingerbreite ● Procc. spinosi Th 3, Th 4 plus 2 Fingerbreiten ● Procc. spinosi Th 5–Th 8 plus 3 Fingerbreiten ● Procc. spinosi Th 9, Th 10: plus 2 Fingerbreiten ● Procc. spinosi Th 11, Th 12: plus 1 Fingerbreite

330

Abb. 12.8 Höhendifferenz zwischen Proc. spinosus und Proc. transversus.

20°

70°

20°

Abb. 12.9 Ausrichtung der thorakalen ZAG.

Facettengelenke Die Ausrichtung der zygapophysialen Gelenke (ZAG) unterscheidet sich erheblich von der lumbalen Situation. Gegenüber der Deckplatte sind die oberen Gelenkfortsätze um durchschnittlich 70° aufgerichtet und seitlich um 20° nach vorne abgewinkelt (▶ Abb. 12.9). Sie liegen damit perfekt auf einem Kreisbogen um die Rotationsachse, die im Diskus beheimatet ist. Die Rotation wird somit weder von den ZAG noch von den Rippen erheblich behindert. Daher ist die Rotation auf alle Segmente (ausgenommen im thorakolumbalen Übergang) gleichmäßig verteilt (White u. Panjabi 1990).

Bedeutung für die Palpation Segmentale Rotation ist eine geeignete Bewegung, um in der Befunderhebung eine Aussage über die segmentale Beweglichkeit zu erhalten und diese auch durch geeignete Techniken wieder herzustellen.

12.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

12.3.3 Thorax Zwölf Rippenpaare und das Sternum bilden den knöchernen Thorax. Mit den Verbindungen der Rippen zu den Wirbeln treffen 2 Bewegungsketten aufeinander (▶ Abb. 12.10): ● vertikale Bewegungskette = BWS ● horizontale Bewegungskette = Rippengelenke Beide Bewegungskomplexe beeinflussen sich gegenseitig in Mobilität und Stabilität. Die Einflüsse des Thorax auf die BWS bewirken eine Erhöhung der Steifigkeit und Re-

duzierung der Beweglichkeit, z. B. in Seitneigung (White u. Panjabi 1990). Dies ist als Vorteil zu bewerten, wenn man die BWS hinsichtlich ihrer Schutz- und Stützfunktion betrachtet.

Aufbau einer Rippe Eine Rippe ist ein gebogener Röhrenknochen, der in einer Schraubentour von dorsal nach ventral absteigend den Kontakt mit dem Sternum sucht. Sie besteht aus verschiedenen Teilen (▶ Abb. 12.11).

Collum costae

Tuberculum costae Angulus costae (Rippenbogen)

Caput costae (Rippenköpfchen) Facies articularis tuberculi costae (Kostotransversalgelenk) Sulcus für Interkostalnerv und Arterien

Corpus costae

Abb. 12.11 Aufbau einer Rippe.

Abb. 12.10 Kinematische Ketten: BWS und Thorax.

Rippen 1–7 (echte Rippen)

obere Brustkorböffnung (Apertura thoracis superior)

Abb. 12.12 Einteilung der Rippen.

Gelenkfläche für das linke Schlüsselbein

12 Brustbein (Sternum) Rippenknorpel

Rippen 8, 9 und 10

11. und 12. Rippe

12. Brustwirbelkörper

untere Brustkorböffnung (Apertura thoracis inferior)

331

Brustwirbelsäule und Brustkorb

Bedeutung für die Palpation ●





Das Tuberculum costae kann man gelegentlich spüren. Es liegt direkt neben der Spitze des Querfortsatzes. Der Angulus costae ist die große Krümmung der Rippe, die am weitesten nach dorsal herausragt. Wirbelsäulennah lässt sich eine Rippe am Angulus am einfachsten finden. Der obere Rand des Corpus costae ist rundlich, der untere eher scharfkantig. Mit diesem Wissen kann man (in Verbindung mit einem positiven Provokationstest) bei der Thoraxpalpation Rippenfehlstellungen in fixierter In- oder Exspiration feststellen.

Die obersten 4 Rippen haben sehr feste Rippen-Wirbelverbindungen und neigen zu Hypomobilitäten. Insbesondere diejenigen der 1. Rippe fallen klinisch häufig auf.

Mechanik der Rippengelenke Die Bewegungsachse koppelt beide Gelenke funktionell und verläuft durch das Collum costae. Der Proc. transversus ist in der oberen, mittleren und unteren BWS unterschiedlich lang und räumlich ausgerichtet. Er bestimmt somit, wie weit dorsal und lateral das kostotransversale Gelenk liegt. Letztlich bestimmt er die Lage der Umdrehungsachse für die Rippenbewegungen bei Inspiration und Exspiration (▶ Abb. 12.14).

Rippen-Sternum-Verbindungen Die unterschiedliche Art des sternalen Kontaktes führt zur Einteilung der Rippen in 3 Gruppen (▶ Abb. 12.12): ● direkter Sternumkontakt: Costae verae („echte“ Rippen) R1–R7 ● indirekter Sternumkontakt: Costae spuriae („falsche“ Rippen) R8–R10 ● kein Sternumkontakt: Costae fluctuantes („bewegliche“ Rippen) R11, 12 Rippen 11 und 12 liegen demnach frei endend in der Rumpfwand und antworten auf direkten Druck mit einer fest-elastischen Konsistenz. Ihre Länge variiert sehr stark. Die Verbindungen der Rippenknorpel von R8–10 bilden den Rippenbogen (Arcus costalis). Beide Rippenbögen treffen sich im epigastrischen Winkel am Proc. xiphoideus des Sternums. Die Distanz zwischen den Rippenknorpel beider 10. Rippen beschreibt die Größe der unteren Thoraxöffnung. Die Verbindung des Rippenknorpels mit dem nächsthöheren ist nicht besonders stabil. Durch Traumen kann es zu Luxationen kommen („Slipping rib tip“, Migliore et al. 2014). Die kostosternalen Übergänge der echten Rippen sind meistens kleine echte Gelenke, sehr fest und belastbar. Regelmäßig ist die 2. Rippe am Angulus sterni (Übergang zwischen Manubrium und Corpus sterni) befestigt. Hier gibt es kaum Varianten.

Articulatio costotransversaria

Articulatio capitis costae

Abb. 12.13 Rippen-Wirbelgelenke.

untere BWS

Rippen-Wirbel-Verbindungen Man unterscheidet je nach den artikulierenden Anteilen von Rippe bzw. Wirbel (▶ Abb. 12.13): ● kostovertebrale Gelenke (Art. capitis costae): das Rippenköpfchen artikuliert mit 2 Wirbelkörpern und dem Diskus. Ausgenommen sind die Rippen 1, 11 und 12. Hier ist es lediglich ein Wirbelkörper. ● kostotransversale Gelenke (Art. costotransversaria): Jedes Rippenhöckerchen bildet mit dem Proc. transversus des zugehörigen Wirbels ein Gelenk. Ausgenommen sind die Rippen 11 und 12. Hier fehlen diese Gelenke.

332

Abb. 12.14 Rippengelenkmechanik.

obere BWS

12.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse Eine forcierte Inspiration (▶ Abb. 12.15) hat in jedem Thoraxabschnitt eine Vergrößerung der Interkostalräume zufolge. Bei Exspiration schließen sich die Interkostalräume (▶ Abb. 12.16). Dieses Bewegungsverhalten lässt eine Diagnostik mit Bewegungspalpation zu. Ähnliche Wirkung auf die Interkostalräume haben Armbewegungen: ● Armelevation über Flexion, Heben des oberen Thorax eher in ventraler Richtung mit Öffnung der oberen Interkostalräume. ● Armelevation über Abduktion, Heben des unteren Thorax eher in seitlicher Richtung mit Öffnung der unteren Interkostalräume. Die Drehung der Rippen bei tiefer In- bzw. Exspiration um die jeweilige Längsachse durch das Kollum hat zufolge, dass mehr die unteren bzw. oberen Kanten der Rippen nach außen zeigen.

Bedeutung für die Palpation Abb. 12.15 Thorax in Inspirationsstellung.

In den Endstellungen der forcierten In- und Exspiration sind die Kanten auch als solche spürbar. Bei ruhiger Atmung sind die Kanten nicht tastbar. Interessant wird der Zusammenhang mit einer pathologischen Stellung der Rippen, wenn sie in einer In- oder Exspirationsstellung fixiert sind. Hierbei fällt in der Positionsdiagnostik auf, dass die blockierte Rippe gegenüber der beweglichen Nachbarrippe eine andere Form aufweist s. Untersuchung der Rippen-Wirbelgelenke (S. 351).

Bewegungszusammenhang zwischen Rippengelenken und den thorakalen Segmenten

Abb. 12.16 Thorax in Exspirationsstellung (Quelle: Kapandji 2006).

Die Ausrichtung der Procc. transversi in der oberen BWS (Th 1–7) verursacht eine eher frontale Ausrichtung der Umdrehungsachse, wodurch die Rippenmechanik eine Anhebung und Erweiterung des oberen Thorax in sagittaler Ebene bewirkt. Die eher sagittale Ausrichtung der Achse in mittlerer und unterer BWS ermöglicht eine Erweiterung des unteren Thorax in seitlicher Richtung.

Wie zuvor beschrieben, treffen 2 kinematischen Ketten aufeinander: die vertikale Kette von thorakalen Bewegungssegmenten und die horizontalen Ketten der Rippenringsegmente. Vertikale und horizontale Ketten, das bedeutet, thorakale Bewegungen und Rippenbewegungen, bedingen sich gegenseitig. Wenn die BWS aus der Neutralposition (leichte Kyphose) in eine bestimmte Richtung bewegt, bleibt der Brustkorb für einen Moment in seiner Ruheposition, bevor er sich mitbewegt. Bei einer thorakalen Extension entsteht somit zunächst eine relative Exspirationsposition der Rippengelenke. Praktische Überprüfung: Vergleichen Sie die Thoraxbewegungen in tiefer Ein- und Ausatmung im Sitz a) in der Neutralposition und b) in einer extendierten BWS-Stellung. In Extension reduziert sich die Exspiration (da der Thorax schon in relativer Exspiration steht) und verstärkt sich das Ausmaß der Inspiration (da der Thorax aus einer relativen Exspiration startet). Viele Patienten mit erhöhter Atemerfordernis stützen sich in thorakaler Extension, um diesen Mechanismus für eine vertiefte Inspiration auszunutzen.

12

333

Brustwirbelsäule und Brustkorb Bei einer thorakalen Flexion entsteht somit zunächst eine relative Inspirationsposition der Rippengelenke. Praktische Überprüfung: Vergleichen Sie die Thoraxbewegungen in tiefer Ein- und Ausatmung im Sitz a) in der Neutralposition und b) in einer flektierten BWS-Stellung. In Flexion reduziert sich die Inspiration (da der Thorax schon in relativer Inspiration steht) und müsste sich das Ausmaß der Exspiration verstärken (da der Thorax aus einer relativen Inspiration startet), wenn nicht der Bauchinhalt einen natürlichen Widerstand gegen die Thoraxbewegung leisten würde. Bei einer thorakalen Seitneigung, z. B. nach rechts, gelangen die Rippengelenke auf der konkaven Seite (hier rechts) in eine relative Inspirationsposition und auf der konvexen Seite (hier links) in eine relative Exspirationsposition.

Praktischer Nutzen Diese Zusammenhänge sind in der Untersuchung bei thorakalen Rückenschmerzen gut zu nutzen, um zwischen den thorakalen Schmerzgeneratoren und Beschwerden von den Rippengelenken unterscheiden zu wollen. Lokal segmentale Mobilisationen sollten (nach IAOM-Lehrmeinung) nicht ohne die Mobilisation des zugehörigen Rippenringsegmentes in Exspiration einhergehen und umgekehrt. In der Atemtherapie können die entsprechenden Positionen, z. B. Kutschersitz oder C-Lagerung, eingenommen werden, um bestimmten Atemvolumina oder Atemlenkungen die kinematischen Voraussetzungen zu ermöglichen.

Ventrale knöcherne Detailanatomie ▶ Abb. 12.17 wird in vielen Anatomiebüchern benutzt und zeigt die anatomische Situation des Manubrium sterni als kranialen Anteil des Brustbeins mit seinen gelenkigen Kontakten. Der Rand des Manubriums ist mit vielen

Clavicula

Einbuchtungen versehen. Die am weitesten kranial gelegene Einbuchtung ist die Incisura jugularis. Jeweils lateral davon bildet das mediale Ende einer Klavikula das Sternoklavikulargelenk (SCG). Der Knorpel der 1. Rippe hat direkt kaudal davon einen gelenkigen Kontakt zum Manubrium. In Höhe des Kontaktes der 2. Rippe liegt der Angulus sterni, der in der anatomischen Literatur teilweise als Artikulation bzw. als Synchondrose beschrieben wird. Bei Atemexkursionen des Thorax bewegt sich hier das Manubrium gegenüber dem Corpus sterni.

Bedeutung für die Palpation Die Incisura jugularis ist eine gute Orientierung, um einen sicheren Zugang zum Manubrium von kranial zu finden. Zum anderen entspricht die Höhe der Inzisur der Höhe von Th 2 (vgl. ventrale Palpation der HWS). Von hier aus ist auch das SCG einfach zu erreichen (S. 272). Das mediale Ende der 1. Rippe liegt direkt kaudal der Klavikula und verläuft von hier aus in einem engen Bogen nach dorsal. Sie ist nur sehr schwer palpatorisch erreichbar. Der Angulus sterni ist wiederum eine leicht erreichbare und sicher zu markierende Struktur. In seiner Höhe liegt mit Sicherheit die 2. Rippe. Von hier aus kann man die ersten 5 Interkostalräume sicher erreichen.

Ventrale muskuläre Detailanatomie Der ventrale Thorax wird muskulär vom M. pectoralis major dominiert (▶ Abb. 12.18). Er unterteilt sich funktionell bekannterweise in 3 Anteile auf, die sich anatomisch schwer unterscheiden lassen. Die Bezeichnung der jeweiligen Anteile orientiert sich an der Ursprungsfläche: ● mediale Hälfte der Klavikula: Pars clavicularis ● Manubrium und Corpus sterni, Rippenknorpel 1–6: Pars sternocostalis ● ventrale Rektusscheide: Pars abdominalis

Incisura jugularis

SCG

Rippe 1

Manubrium sterni Angulus sterni

334

Gelenk zur Rippe 1

Gelenk zur Rippe 2

Abb. 12.17 Manubrium sterni.

12.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Pars clavicularis

Atlas Axis Proc. spinosus C VII, Vertebra prominens

Pars sternocostalis M. spinalis thoracis

Pars abdominalis

Abb. 12.18 M. pectoralis major.

Os sacrum

Bedeutung für die Palpation Alle Ränder des Muskels sind gut zu spüren und bei Muskelaktivität ggf. auch zu sehen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Anteilen sind nicht eindeutig zu erkennen. Die groben Muskelbündel, die man palpieren kann, entsprechen in der Regel nicht der funktionellen Unterteilung.

12.3.4 Thorakale Rückenmuskeln Autochthone Rückenmuskulatur Innerhalb dieser Gruppe gibt es 2 Muskelsysteme aus dem medialen Trakt der autochthonen Rückenmuskeln, die für diese Region besonders sind: ● M. spinalis thoracis: als Vertreter des geraden, spinalen Systems ● Mm. rotatores thoracis: aus dem schrägen, transversospinalen System Der M. spinalis thoracis (▶ Abb. 12.19) ist eine übersegmentale Vereinigung der Mm. interspinales und nur im thorakalen WS-Abschnitt zu finden. Er reicht von L 1–L 3 bis C 7–Th 1 und liegt direkt neben der Dornfortsatzreihe. Der nahezu nahtlose Übergang in den M. semispinalis cervicis, der im Nackenbereich den paravertebralen Muskelwulst bildet, ist hier bewusst vernachlässigt. Er übernimmt vom lateralen Trakt, der hier zunehmend an Muskelquerschnitt verliert, die Aufgabe, das Rumpfgewicht gegenüber der Schwerkraft zu halten. Zudem scheint er derjenige Muskel zu sein, der wirklich in der Lage ist, Kraft für die BWS-Extension aufzubringen. Will man demnach haltungskorrigierend auf eine zu starke thorakale Kyphose einwirken, ist es der M. spinalis, der die wichtigste Rolle im Konzert der Extensoren übernimmt.

Abb. 12.19 M. spinalis thoracis.

Bedeutung für die Palpation Lumbal ertastet man direkt neben der Dornfortsatzreihe eine Rinne, bevor man sich palpatorisch von medial gegen das Paket des M. erector spinae lehnt. Thorakal ist dies so nicht möglich. Wenn man von der Spitze der Procc. spinosi aus nach lateral palpiert, trifft man direkt auf den etwa fingerdicken M. spinalis. Nicht selten findet man hier enorme Tonuserhöhungen, die auf direkten Druck oft als unangenehm empfunden werden. Die Mm. rotatores thoracis (▶ Abb. 12.20) sind kurze, sehr tief liegende Muskeln, die engen Kontakt mit den Wirbelgelenken haben (von Lanz u. Wachsmuth 2004). Ihre Länge ist ausschlaggebend für die genauere Bezeichnung der Muskeln: ● 1 Segment überragend: Mm. rotatores breves ● 2 Segmente überragend: Mm. rotatores longi

12

Ihr ausgeprägtes Vorkommen passt gut zur nahezu gleichmäßigen Verteilung der rotatorischen Fähigkeit aller thorakalen Segmente. Eine sehr differenzierte Feineinstellung der Position und die lokale Stabilität der thorakalen Bewegungssegmente gehören zu ihren Aufgaben. Einige Autoren versehen die Mm. rotatores mit dem Titel „Monitormuskel“. Das bedeutet, dass diese Muskeln bei einer segmentalen Bewegungsstörung in einen hypertonen Zustand geraten und somit bei der Palpation auf diese Pathologie hinweisen können (Dvořák 1998). Vom Autor wird allerdings bezweifelt, ob man palpatorisch tatsächlich in der Lage ist, die Mm. rotatores selektiv zu

335

Brustwirbelsäule und Brustkorb

M. levator scapulae Mm. rhomboidei

M. trapezius. Pars descendens M. trapezius. Pars transversa

Mm. rotatores thoracis

M. trapezius, Pars ascendens

M. latissimus dorsi

Abb. 12.20 Mm. rotatores thoracis.

erreichen und deren Hypertonus eindeutig wahrzunehmen. Wenn man ihre Lage am Präparat betrachtet, erkennt man, wie tief und verborgen sie unter verschiedenen anderen Muskeln liegen.

Heterochthone Rückenmuskulatur Der thorakale Rücken wird an der Oberfläche zum einen noch vom M. latissimus dorsi und zum anderen von wichtigen Vertretern der trunkoskapularen Gruppe beherrscht. Letztere ziehen vom Rumpf (respektive von der Dornfortsatzreihe) zur Skapula und gehören funktionell ebenfalls zur oberen Extremität. Dies sind vor allem: ● M. trapezius, Pars ascendens und Pars transversa ● Mm. rhomboidei ▶ M. latissimus dorsi. Bis zur Höhe von Th 7–8 reichen die Ursprungsfasern des M. latissimus dorsi (▶ Abb. 12.21) und damit auch die Fascia thoracolumbalis, die hier zusätzliche Einstrahlungen vom M. serratus posterior inferior erhält. Die Fasern des Muskels kreuzen thorakal nicht mehr die Mittellinie, wie die lumbalen. Zu allen weiteren Informationen zu diesem Muskel siehe (S. 282).

Abb. 12.21 Heterochthone Rückenmuskeln.

Bedeutung für die Palpation Nur bei sehr muskulösen und sehr schlanken Personen sind die kranialen Anteile des Muskels zu erkennen. Eine sichere palpatorische Herausdifferenzierung ist sehr unwahrscheinlich. Der laterale Rand lässt sich bei trainierten Personen mit Aktivität des Armes in Extension meist gut darstellen und palpieren. ▶ M. trapezius. Die für diesen Abschnitt wichtigen Anteile des M. trapezius (▶ Abb. 12.21) haben folgende anatomische Orientierung (von Lanz u. Wachsmuth 2004): ● Pars ascendens: Die Fasern konvergieren vom Ursprung an den Procc. spinosi Th 4–Th 11/12 zum medialen Ende der Spina scapulae, wo sie von kaudal her inserieren. Sie treffen dort die hinteren Fasern vom M. deltoideus, Pars spinalis. ● Pars transversa: Sie verläuft im Allgemeinen von den Procc. spinosi C 7–Th 3 zum Oberrand der Spina scapulae (laterale Hälfte). Dieser Trapeziusteil ist der dickste. Bei Adduktion der Skapula zur Wirbelsäule tritt er wulstförmig hervor. Insgesamt kann man festhalten, dass die Ursprünge dieses sehr oberflächig liegenden Muskels nicht immer von beiden Seiten an den Procc. spinosi festgemacht sein müssen. Die Fasern beider Seiten können auch ohne knöchernen Kontakt direkt ineinander übergehen. Vor allem

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12.7 Dorsale Palpationstechniken im zervikothorakalen Übergang bilden die Fasern beider Seiten gelegentlich eine Aponeurose, die frei über den Procc. spinosi gleitet. Regelmäßig werden hier am Präparat Bursen zur Reduzierung der Reibung gefunden. An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob hier nicht auch Bursitiden als mögliche Ursachen für allmählich entstehende lokale Beschwerden vorliegen könnten. Der Übergang zwischen beiden Muskelteilen kann am Präparat selten als Spalt erkannt werden und ist daher auch für die Palpation uninteressant. Der Unterrand der Pars ascendens kann bei Muskelaktivität ertastet werden. Seine von medial nach lateral schräg aufsteigenden Fasern werden deutlich, wenn dieser Trapeziusteil die Skapula gegen Widerstand nach dorsal und kaudal zieht. Der Muskelrand ist dann von kaudal mit einer rechtwinkligen Palpation anzuhaken.

12.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen Das Ziel des Palpationsganges ist es, alle relevanten knöchernen Strukturen und einige wichtige Muskeln sicher auffinden zu können. Das schließt ein: ● alle Procc. spinosi ● alle Procc. transversi ● alle Rippen dorsal, soweit erreichbar ● Anteile des Sternums ● Rippen 1 und 2 ventral ● Interkostalräume Dabei wird in verschiedenen ASTEn palpiert. Die therapeutischen Beispiele sollen aufzeigen, wie sinnvoll die Fähigkeit zur exakten Anatomie in vivo genutzt werden kann, und den Bezug zur täglichen Praxis herstellen.

12.5 Kurzfassung des Palpationsganges Zunächst wird der zervikothorakale Übergang in der ASTE Sitz und später in Bauchlage des Patienten aufgesucht. Alle weiteren erreichbaren Anteile der thorakalen Segmente und die Rippen werden nachfolgend dargestellt. Ventral sind die Anteile des Sternums und erneut die Rippen Gegenstand lokaler Palpationstechnik. Hierdurch wird die räumliche Ausrichtung einiger Rippen erst deutlich. Diese Fertigkeiten, insbesondere die interkostalen Palpationen, sind die Basis zur Beurteilung des Bewegungsverhaltens des Thorax bei Atmung. Die Palpation der Skapula mit ihren einzelnen Anteilen wird hier nicht besprochen (Kap. 2.3.3). Der Zugang zum mittleren Bereich der BWS und des dorsalen Thorax erfolgt über sichere Palpation der zervikothorakalen Region. Er könnte auch von kaudal über die Lokalisation der 12. Rippe bzw. lumbaler Procc. spinosi erfolgen. Dies wurde bereits im Kap. 10.7.2 beschrieben.

12.6 Ausgangsstellung Alle hier benutzten ASTEn wurden in den Kapiteln Kap. 8.6 und Kap. 8.7 ausführlich beschrieben. In der Beschreibung der ASTE Sitz kommt der Therapeut als Element neu hinzu. Er steht seitlich zum Patienten, meist auf der gegenüberliegenden Seite der Palpation. Wenn Kopfbewegungen notwendig sind, um die richtige Lokalisation einer Struktur zu bestätigen, führt er mit einer Hand den Kopf, die zweite palpiert.

12.6.1 Schwierige und alternative Ausgangsstellung Ausgangsstellungen sind immer dann als schwierig einzustufen, wenn der Zugang zu den gesuchten Strukturen behindert ist, starke Muskelaktivität ein genaues Erkennen knöcherner Punkte verhindert oder zu wenig Unterstützungsfläche für eine stabile Position des Patienten vorhanden ist. Dennoch können sie in der praktischen Arbeit am Patienten vorkommen. Beispiele: ● Palpation des zervikothorakalen Übergangs in Rückenoder Seitenlage ● Bewegungspalpation der segmentalen thorakalen Mobilität im Sitz

12.7 Dorsale Palpationstechniken Die genaue Palpation im zervikothorakalen Übergang ist genauso entscheidend wie das sichere Aufsuchen der SIPS am Becken oder Proc. spinosus C 2 hochzervikal. Er ermöglicht einen sicheren Einstieg der Palpation thorakaler Strukturen von kranial und der unteren HWS von kaudal. Das Ziel ist die genaue Darstellung der Procc. spinosi C 6– Th 1 sowie die Lage der 1. Rippe von dorsal. Danach erfolgen die Lokalisationen aller thorakalen Procc. spinosi und deren Relationen zu ihren Procc. transversi und den zugehörigen Rippen. Anschließend erläutern einige Beispiele zur Untersuchung und Behandlung der BWS und Rippen den Nutzwert einer genauen Anatomie in vivo.

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12.7.1 Zervikothorakaler Übergang in Ausgangsstellung Sitz Aufgabe der nachfolgenden Techniken ist es, die thorakale von der zervikalen Wirbelsäule zu differenzieren. Dies ist grundsätzlich nicht über die Lokalisation des längsten Proc. spinosus möglich. Die Annahme, dass der Prominenz der längste Proc. spinosus sei, ist irreführend. Häufig ist der Proc. spinosus von Th 1 der längere von beiden. Einige der folgenden Techniken benötigen eine ausgiebige HWS-Bewegung. Nicht bei jedem Patienten ist dies

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12.7 Dorsale Palpationstechniken im zervikothorakalen Übergang bilden die Fasern beider Seiten gelegentlich eine Aponeurose, die frei über den Procc. spinosi gleitet. Regelmäßig werden hier am Präparat Bursen zur Reduzierung der Reibung gefunden. An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob hier nicht auch Bursitiden als mögliche Ursachen für allmählich entstehende lokale Beschwerden vorliegen könnten. Der Übergang zwischen beiden Muskelteilen kann am Präparat selten als Spalt erkannt werden und ist daher auch für die Palpation uninteressant. Der Unterrand der Pars ascendens kann bei Muskelaktivität ertastet werden. Seine von medial nach lateral schräg aufsteigenden Fasern werden deutlich, wenn dieser Trapeziusteil die Skapula gegen Widerstand nach dorsal und kaudal zieht. Der Muskelrand ist dann von kaudal mit einer rechtwinkligen Palpation anzuhaken.

12.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen Das Ziel des Palpationsganges ist es, alle relevanten knöchernen Strukturen und einige wichtige Muskeln sicher auffinden zu können. Das schließt ein: ● alle Procc. spinosi ● alle Procc. transversi ● alle Rippen dorsal, soweit erreichbar ● Anteile des Sternums ● Rippen 1 und 2 ventral ● Interkostalräume Dabei wird in verschiedenen ASTEn palpiert. Die therapeutischen Beispiele sollen aufzeigen, wie sinnvoll die Fähigkeit zur exakten Anatomie in vivo genutzt werden kann, und den Bezug zur täglichen Praxis herstellen.

12.5 Kurzfassung des Palpationsganges Zunächst wird der zervikothorakale Übergang in der ASTE Sitz und später in Bauchlage des Patienten aufgesucht. Alle weiteren erreichbaren Anteile der thorakalen Segmente und die Rippen werden nachfolgend dargestellt. Ventral sind die Anteile des Sternums und erneut die Rippen Gegenstand lokaler Palpationstechnik. Hierdurch wird die räumliche Ausrichtung einiger Rippen erst deutlich. Diese Fertigkeiten, insbesondere die interkostalen Palpationen, sind die Basis zur Beurteilung des Bewegungsverhaltens des Thorax bei Atmung. Die Palpation der Skapula mit ihren einzelnen Anteilen wird hier nicht besprochen (Kap. 2.3.3). Der Zugang zum mittleren Bereich der BWS und des dorsalen Thorax erfolgt über sichere Palpation der zervikothorakalen Region. Er könnte auch von kaudal über die Lokalisation der 12. Rippe bzw. lumbaler Procc. spinosi erfolgen. Dies wurde bereits im Kap. 10.7.2 beschrieben.

12.6 Ausgangsstellung Alle hier benutzten ASTEn wurden in den Kapiteln Kap. 8.6 und Kap. 8.7 ausführlich beschrieben. In der Beschreibung der ASTE Sitz kommt der Therapeut als Element neu hinzu. Er steht seitlich zum Patienten, meist auf der gegenüberliegenden Seite der Palpation. Wenn Kopfbewegungen notwendig sind, um die richtige Lokalisation einer Struktur zu bestätigen, führt er mit einer Hand den Kopf, die zweite palpiert.

12.6.1 Schwierige und alternative Ausgangsstellung Ausgangsstellungen sind immer dann als schwierig einzustufen, wenn der Zugang zu den gesuchten Strukturen behindert ist, starke Muskelaktivität ein genaues Erkennen knöcherner Punkte verhindert oder zu wenig Unterstützungsfläche für eine stabile Position des Patienten vorhanden ist. Dennoch können sie in der praktischen Arbeit am Patienten vorkommen. Beispiele: ● Palpation des zervikothorakalen Übergangs in Rückenoder Seitenlage ● Bewegungspalpation der segmentalen thorakalen Mobilität im Sitz

12.7 Dorsale Palpationstechniken Die genaue Palpation im zervikothorakalen Übergang ist genauso entscheidend wie das sichere Aufsuchen der SIPS am Becken oder Proc. spinosus C 2 hochzervikal. Er ermöglicht einen sicheren Einstieg der Palpation thorakaler Strukturen von kranial und der unteren HWS von kaudal. Das Ziel ist die genaue Darstellung der Procc. spinosi C 6– Th 1 sowie die Lage der 1. Rippe von dorsal. Danach erfolgen die Lokalisationen aller thorakalen Procc. spinosi und deren Relationen zu ihren Procc. transversi und den zugehörigen Rippen. Anschließend erläutern einige Beispiele zur Untersuchung und Behandlung der BWS und Rippen den Nutzwert einer genauen Anatomie in vivo.

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12.7.1 Zervikothorakaler Übergang in Ausgangsstellung Sitz Aufgabe der nachfolgenden Techniken ist es, die thorakale von der zervikalen Wirbelsäule zu differenzieren. Dies ist grundsätzlich nicht über die Lokalisation des längsten Proc. spinosus möglich. Die Annahme, dass der Prominenz der längste Proc. spinosus sei, ist irreführend. Häufig ist der Proc. spinosus von Th 1 der längere von beiden. Einige der folgenden Techniken benötigen eine ausgiebige HWS-Bewegung. Nicht bei jedem Patienten ist dies

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Brustwirbelsäule und Brustkorb aufgrund schmerzhafter zervikaler Bewegungen möglich. Diese Techniken sind auch nur dann hilfreich, wenn zervikothorakal noch etwas Bewegung möglich ist. Gibt es enorme Bewegungseinschränkungen in diesem Bereich, ist eine Differenzierung auch mit diesen Techniken kaum möglich. Letztlich bleibt dann nur die Unterscheidung durch die Palpation unterschiedlicher Konturen der Procc. spinosi (z. B. C 5 und C 6) oder der Weg über die Lokalisation der 1. Rippe, die zum Proc. transversus und letztlich zum Proc. spinosus Th 1 führt (Loyd et al. 2014). Insgesamt gibt es verschiedene Möglichkeiten, den Proc. spinosus Th 1 sicher zu markieren: ● Lokalisation der Procc. spinosi bei zervikaler Lordose ● Lokalisation der Procc. spinosi bei zervikaler Rotation ● dorsaler Shift ● Lokalisation der 1. Rippe

Lokalisation der Procc. spinosi bei zervikaler Lordose Eine oder zwei Fingerbeeren der von dorsal kommenden Hand werden mittelständig auf die untere HWS platziert. Die ventrale Hand kontrolliert die Kopfposition (▶ Abb. 12.22).

Abb. 12.22 ASTE Palpation zervikothorakal im Sitz.

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Sehr häufig ist die Lage des Proc. spinosus von C 6 allein durch Erspüren seiner Form zu erkennen. Wenn man die zervikale Mittellinie mit mäßigem Druck von kranial nach kaudal abtastet, spürt man sehr oft, wie die Fingerbeere von kranial auf einer Art Podest landet. Man trifft mit der Seite des Fingers von kranial auf den Proc. spinosus von C 6. Die Beere liegt dann auf dem Proc. spinosus von C 5. Da diese Bestimmungsmethode nicht zuverlässig genug ist, benötigt man einen weiteren Trick, um mehr Sicherheit zu erlangen.

Bestätigung durch Bewegung Die ventrale Hand befindet sich am Kopf des Probanden und bringt eine Lordosierung der HWS über die Rückneigung des Kopfes ein. Die Procc. spinosi von C 5 und C 6 zeigen dabei ein typisches Verhalten. Bei zervikaler Lordose bewegen sich die oberen Halswirbel nach dorsal. Der 5. und der 6. Halswirbel vollziehen offensichtlich eine Verschiebebewegung nach ventral (▶ Abb. 12.23). C 5 bewegt sich bereits nach geringer Lordose, C 6 erst am Ende der Lordose. Diese Bewegungen sind deutlich als Wegtauchen eines Proc. spinosus unter einer palpierenden Fingerbeere wahrzunehmen. Die Zeigefingerbeere bleibt auf dem vermuteten Proc. spinosus von C 5 (▶ Abb. 12.24) und nimmt das Wegtauchen bei geringer Lordose wahr (▶ Abb. 12.25). Die Mittelfingerbeere ertastet den nächst tieferen Proc. spinosus, vermutlich von C 6. Die zervikale Lordose wird wiederholt und ausgiebig durchgeführt (▶ Abb. 12.26). Erst am Ende der möglichen Lordose bewegt sich dieser Proc. spinosus unter der Mittelfingerbeere nach ventral (▶ Abb. 12.27). So wird die Lage des Proc. spinosus von C 6 genau bestimmt.

Abb. 12.23 Anteriore Translation von C 5 und C 6.

12.7 Dorsale Palpationstechniken

Abb. 12.24 Palpation des Proc. spinosus C 5 – Phase 1.

Abb. 12.26 Palpation des Proc. spinosus C 6 – Phase 1.

12

Abb. 12.25 Palpation des Proc. spinosus C 5 – Phase 2.

Abb. 12.27 Palpation des Proc. spinosus C 6 – Phase 2.

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Brustwirbelsäule und Brustkorb Der Proc. spinosus von C 7 wird aufgesucht. Sein Verhalten bei Lordose zeigt eine abrupte Abnahme der Bewegung. Im Vergleich zu C 5 und C 6 bleibt der Proc. spinosus von C 7 eher stehen. Der nächste kaudale Proc. spinosus gehört demnach zum Niveau Th 1. Somit ist die Lokalisation von C 5, C 6, C 7, Th 1 möglich. Voraussetzung hierfür ist allerdings eine schmerzfreie ausgiebige Lordose des Probanden.

Lokalisation der Procc. spinosi bei zervikaler Rotation Das Bewegungsverhalten der unteren HWS besteht immer aus einer automatischen Verbindung von Seitneigung und Rotation zur gleichen Seite. Diese Kopplung ist sehr stark und entsteht unabhängig davon, ob man zunächst eine Rotation oder Seitneigung einbringt. Ferner laufen diese Bewegungen auf die obere BWS bis etwa Th 4–Th 5 weiter. Man kann also ausgiebige Rotationen und/oder Seitneigungen der HWS benutzen, um Bewegungen im zervikothorakalen Übergang zu spüren. Bei einer endgradigen Rotation und/oder Seitneigung der HWS nach rechts drehen sich alle Proc. spinosi bis einschließlich Th 4 nach links. Dies aber in unterschiedlichem Ausmaß. Da Th 1 und die kaudal folgenden Wirbel infolge der Fixation durch die Rippen im möglichen Bewegungsverhalten reduziert sind, ist zu erwarten, dass

Abb. 12.28 Palpation der Procc. spinosi C 7 und Th 1 bei zervikaler Rotation und/oder Seitneigung.

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die Drehung lediglich bis zum Proc. spinosus C 7 gut zu spüren ist. Der Therapeut befindet sich neben dem Patienten. Bringt er eine zervikale Rechtsrotation bzw. Seitneigung nach rechts ein, müssen 2 palpierende Finger links paravertebral im zervikothorakalen Bereich eingesetzt werden. Sie werden von links gegen die vermuteten Procc. spinosi von C 7 und Th 1 gelegt. Wird eine Rotation und/oder Seitneigung eingebracht, ist eine deutlich größere Bewegung von C 7 gegen den eher träge reagierenden Proc. spinosus von Th 1 zu erwarten (▶ Abb. 12.28).

Lokalisation von Th 1 mit dorsalem Shift Bei den bisherigen Techniken zeichnete sich Th 1 als ein rigider und wenig bewegungsfreudiger Wirbel aus. Bei der folgenden Differenzierungsmethode wird der intensive Kontakt von Th 1 mit dem ersten Rippenringsegment ausgenutzt. Eine ventral eingebrachte translatorische Bewegung der 1. Rippe wird dorsal am Proc. spinosus spürbar (▶ Abb. 12.29). Dorsal werden 2 Fingerbeeren in die interspinalen Zwischenräume von C 7 zu Th 1 und Th 1 zu Th 2 platziert. Über den Thenar der ventralen Hand bringt man einen Schub auf das Manubrium sterni nach dorsokranial ein. Dieser Schub wird über die 1. Rippe auf Th 1 vermittelt.

Abb. 12.29 Palpation von Th 1 mit dorsalem Shift.

12.7 Dorsale Palpationstechniken Die Rückbewegung des Proc. spinosus von Th 1 ist somit spürbar. Der Proc. spinosus von C 7 bleibt hier eher stehen. Bei mobilen Probanden bewegen sich bis zu 3 Procc. spinosi, wobei der von Th 1 sich als erstes bewegt. Diese Variante eignet sich besonders in entlasteter Position, z. B. Bauchlage (▶ Abb. 12.36).

Projektion des Proc. transversus von Th 1 Der Proc. spinosus von Th 1 wird durch die zuvor beschriebenen Differenzierungsmöglichkeiten aufgesucht und seine Unterkante markiert. Nun misst man von der Unterkante des Processus eine Zeigefingerbreite des Patienten nach kranial und etwa eine Länge des Patienten nach lateral ab, die nicht länger ist, als der Abstand der Spitze des Proc. transversus C 1 von der Mittellinie (▶ Abb. 12.30). In der Regel entspricht dies der Länge des Proc. transversus von Th 1 (Loyd et al. 2014). Die Länge beider Procc. transversi von Th 1 ist vergleichbar mit dem Abstand zwischen beiden Spitzen der Procc. transversi von C 1 (Kap. 13.9.2).

Tipp Das Ende des Proc. transversus liegt immer in einer Muskellücke zwischen dem absteigenden und quer verlaufenden Anteil des M. trapezius. Der direkte Kontakt mit dem Proc. transversus und der Rippe wird aber dennoch durch die Muskulatur behindert (z. B. M. levator scapulae). In jedem Fall sollte man durch leichte Elevation der Skapula herausfinden, ob man nicht versehentlich auf dem Angulus superior scapulae gelandet ist (Kap. Margo medialis scapulae).

Lokalisation der 1. Rippe von dorsal Das Tuberculum costae der 1. Rippe ist dorsal ausschließlich direkt neben dem vermuteten Ende des Proc. transversus von Th 1 zu finden. Anschließend ändert sie ihre Verlaufsrichtung nach ventral und ist dorsal nicht mehr palpabel. Palpatorisch erreicht man sie nur durch eine muskuläre Schicht hindurch, wenn man einen Daumen direkt neben die Spitze des Proc. transversus von Th 1 legt.

Bestätigung über Konsistenzprüfung und Bewegung ▶ Ziel. Eine korrekte Ermittlung des Überganges zwischen dem Ende des Proc. transversus und der 1. Rippe lässt sich nur durch eine Endgefühlprüfung auf beiden Strukturen erreichen. ▶ Kriterium. Bei ventral und leicht medial gerichtetem Druck mit dem Daumen vermittelt die 1. Rippe einen weniger festen Widerstand als der Querfortsatz von Th 1. Weiterhin bewegt sich der Proc. spinosus bei Druck auf den Proc. transversus naturgemäß deutlicher mit als bei Druck auf die 1. Rippe. Hier geht doch etwas Energie in den Rippen-Wirbelgelenken verloren.

Tipp

12

Beginnen Sie zunächst mit vorsichtigem Druck. Eine blockierte 1. Rippe kann auf direktem Druck sehr empfindlich sein!

Abb. 12.30 Projektion des Proc. transversus Th 1.

▶ Ausführung. Ein Daumen wird auf den lokalisierten Proc. transversus von Th 1 (hier rechts) platziert. Der andere Daumen stemmt sich von links gegen den Proc. spinosus von Th 1 (▶ Abb. 12.31). Bei Druck auf den Proc. transversus dreht sich Th 1 nach links und der Proc. spinosus nach rechts, was als Druckverminderung am Proc. spinosus deutlich zu spüren ist.

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Brustwirbelsäule und Brustkorb

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3

4

Abb. 12.32 Vertikale Projektionen nach Loyd et al. (2014) am Modell. 1 = Verbindungslinie beider Proc. mastoidei, 2 = Verbindungslinie der Spitzen der Proc. transversi von C 1, 3 = Verbindungslinie der Spitzen der Proc. transversi von T 1, 4 = vertikale Falllinie vom Proc. mastoideus (Ohrläppchen) trifft die Rippe 1.

Lokalisation der 1. Rippe über Projektionen

Abb. 12.31 Bestätigung der Lage des Proc. transversus von Th 1.

Platziert man den drückenden Daumen neben der Spitze des Proc. transversus auf die 1. Rippe und übt erneut einen ventralen Schub aus, so spürt man ein etwas leichteres Nachgeben und einen weniger festen Widerstand im Vergleich zum Druck auf den Proc. transversus. Weiterhin bewegt sich der Proc. spinosus von Th 1 geringer mit.

Tipp Wenn man diese Differenzierungstechnik durchführt, muss man einen deutlichen Druck aufwenden und auf eine Muskelschicht drücken, die häufig druckempfindlich ist. Diese Schwierigkeit wird nur gering durch die Tatsache gelindert, dass der Druck in der Trapeziuslücke stattfindet und die Muskelschicht nicht besonders stark ist. Diese Differenzierungstechnik benötigt ein Mindestmaß an Mobilität im Kostotransversalgelenk der 1. Rippe und von Th 1 gegenüber den benachbarten Wirbeln.

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Loyd und Kollegen beschrieben anhand ihrer Präparatestudie einen recht exakten Weg die 1. Rippe und damit auch, die Procc. transversus und spinosus von Th 1 zu lokalisieren (Loyd et al. 2014). Er beschreibt die identische Spannweite (Distanz zwischen den Spitzen der Procc. transversi) von C 1 und Th 1. Zudem trifft die vertikale Falllinie vom Proc. mastoideus auf das Tuberculum costae der 1. Rippe. Der Abstand zwischen dem Ende des Proc. transversus von Th 1 und der 1. Rippe beträgt ca. 1,5 cm (▶ Abb. 12.32). Insofern empfiehlt die IAOM-Lehrgruppe diese stabilen anatomischen Zusammenhänge als zuverlässigste Technik, um die Processus von Th 1 zu bestimmen. ● In der vertikalen Falllinie eines Ohrläppchens ist der Korpus der 1. Rippe in der Fossa supraclavicularis direkt palpatorisch erreichbar. ● Diese wird palpatorisch mit einem vertikalen Druck eines Daumens sagittal nach dorsal (bis hinter den Muskelbauch des absteigenden Trapeziusmuskels) verfolgt. Diese Stelle entspricht dem Übergang zwischen dem mittleren zum dorsalen Drittel einer sagittalen Linie, die von der Klavikula bis auf die Höhe des Angulus superior scapulae reicht. Diese befindet sich auch in der vertikalen Falllinie unter dem Ohrläppchen. ● In dem Moment, in dem die Rippe nicht mehr von oben spürbar ist und der palpierende Finger nach kaudal abrutscht, kann man eine Höhenzuordnung zum Proc. transversus von Th 1 machen. Dieser Punkt sollte mit der vertikalen Falllinie des Proc. mastoideus übereinstimmen. Bei schlanken Personen kann man mit deutlichem Druck in die Tiefe sogar gegen die Spitze des Proc. transversus andrücken.

12.7 Dorsale Palpationstechniken

1 2

3

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Abb. 12.33 Vertikale Projektionen nach Loyd et al. (2014) am Probanden. 1 = Verbindungslinie beider Proc. mastoidei, 2 = Verbindungslinie der Spitzen der Proc. transversi von C 1, 3 = Verbindungslinie der Spitzen der Proc. transversi von T 1, 4 = vertikale Falllinie vom Proc. mastoideus (Ohrläppchen) trifft die Rippe 1.







Die Spitze des Proc. transversus sollte mit der vertikalen Falllinie der Spitze des Proc. transversus von C 1 übereinstimmen. Eine Fingerbreite des Probanden weiter kaudal befindet sich der Proc spinosus von Th 1 (▶ Abb. 12.33). Von hier aus lassen sich alle weiteren thorakalen Procc. spinosi in der ASTE Sitz zuverlässig erreichen.

Hinweise zur Behandlung Blockierungen der 1. Rippe – Untersuchung Eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Gelenke zwischen Th 1 und 1. Rippe hat auch einen Einfluss auf das zu erwartende Endgefühl. Es wird härter und meist auch schmerzhaft erfahren. Blockierungen der Gelenke zur 1. Rippe sind eine sehr häufige Ursache für hartnäckige „Trapeziusverspannungen“. Der der sogenannte Federtest ist ein etablierter Test, der in mehreren Varianten durchführbar ist und eine Blockierung in Inspiration bestätigen kann: (▶ Abb. 12.34). ▶ Ziel. Der Federtest prüft das Bewegungsverhalten der 1. Rippe in der Fossa supraclavicularis, hier in der ASTE Sitz. ▶ Ausführung. Hierzu steht der Therapeut hinter dem sitzenden Patienten. Ein Ellenbogen kontrolliert den Oberkörper. Mit der Hand wird der Kopf eingestellt. Zunächst wird die Pars descendens des M. trapezius durch eine kleine ipsilaterale Seitneigung entspannt, um den Zugang zur Rippe zu vereinfachen. Die palpierende Hand wird mit dem Zeigefingergrundgelenk an der seitlichen

Abb. 12.34 Federtest.

Halsregion nach kaudal geführt. Der Unterarm ist dabei stark proniert. Wenn der Zeigefinger einen deutlichen Gegendruck erhält, ist die 1. Rippe erreicht. ▶ Kriterium. Durch wiederholten Druck kann man spüren, wie weit nach kaudal und mit welchem Widerstand die Rippe „federt“. Zu erwarten ist ein fest-elastisches Verhalten. Bei einer Blockierung in Inspiration federt die Rippe wenig oder gar nicht, das entgegengebrachte Gefühl ist sehr fest. In den meisten Fällen schildert der Patient dabei auch seine Beschwerden.

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Blockierungen der 1. Rippe – Behandlung ▶ Ziele. Schmerzlinderung oder Mobilisation der RippenWirbelgelenke zwischen Th 1 und 1. Rippe in neutraler Rückenlage. ▶ Ausführung. Der stark gebeugte Zeigefinger wird mit dem Mittelgelenk von dorsal gegen die erste Rippe platziert. Die anderen Finger sind ebenfalls gebeugt und unterstützen den Zeigefinger. Der Daumen darf dabei ventral Kontakt aufnehmen, ohne viel Druck zu geben. Das Mittelgelenk des Zeigefingers liegt jetzt in der Trapeziuslücke, in den meisten Fällen oberhalb des Angulus superior scapulae. Um den Angulus nicht versehentlich zu

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Brustwirbelsäule und Brustkorb

Abb. 12.35 Behandlung der 1. Rippe.

treffen, überprüft man die Lokalisation mit Bewegung der Skapula in Elevation und Depression (▶ Abb. 12.35). Dabei erwartet man, dass es keine Bewegung unter dem Zeigefingergelenk gibt. Im anderen Fall muss die Lokalisation erneut überprüft werden. Die behandelnde Hand übt jetzt Druck mit dem Zeigefingergelenk in Richtung kaudomedial und etwas ventral aus. Die Kraft kommt dabei aus einer radialen Abduktionsbewegung der Hand. Bei einigen Patienten spürt der Therapeut dabei ventral an der 1. Rippe eine leichte Bewegung. Hierzu platziert er die Finger der zweiten Hand ventral auf der 1. Rippe. Kraft und Geschwindigkeit der Bewegung richten sich nach der Zielsetzung der Behandlung: ● Schmerzlinderung: Oszillierende Ausführung mit schnellen und sehr leichten Schubbewegungen, die den Schmerz des Patienten nicht provozieren soll. ● Mobilisation: Der Schub wird durchgeführt, bis das Gewebe gestrafft ist. Mit kleinen intensiven Bewegungen wird im Sekundenrhythmus über mehrere Minuten die Schubbewegung wiederholt.

Tipp Die Mobilisation lässt sich noch optimieren und ergänzen: ● Mit einer kontralateren zervikalen Rotation (hier nach links) und der damit verbundenen gekoppelten Seitneigung (hier nach links) lässt sich Th 1 bei kaudalem Druck auf die 1. Rippe weniger mitbewegen und mehr Energie der Mobilisation würde die Gelenke zur 1. Rippe erreichen. ● Sollte eine Blockierung der 1. Rippe in Inspiration die Ursache für eine Dehnung der unteren Anteile des Plexus brachialis sein, so lassen sich unter der kaudalen Mobilisation der 1. Rippe zusätzlich neurale Bewegungen über Armaktivitäten einbringen.

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Abb. 12.36 Bestimmung des Proc. spinosus von Th 1 in Bauchlage.

12.7.2 Zervikothorakaler Übergang in Ausgangsstellung Bauchlage Falls eine genauere Untersuchung oder Behandlung in Bauchlage erfolgen soll, ist die Differenzierung der Wirbel im zervikothorakalen Übergang auch in dieser ASTE sinnvoll. Es ist nicht zweckmäßig, die Markierungen der Procc. spinosi nach Palpation in der ASTE Sitz in die Bauchlage mitzunehmen. Im Sitz hängt die Haut unter der Einwirkung der Schwerkraft am Körper. Das ist in Bauchlage natürlich anders. Übernimmt man diese Markierungen aus dem Sitz in die Bauchlage, sind sie etwa 1 Segment zu hoch!

Lokalisation des Proc. spinosus von Th 1 mit dorsalem Shift Die zuvor beschriebenen Lokalisationstechniken mit zervikaler Lordose und Rotation bzw. Seitneigung sind in Bauchlage nur schwer durchzuführen. Die Technik der Wahl ist hier der dorsale Schub über das Manubrium sterni. Grundsätzlich entsprechen Ausführung und Kriterien des Tests der Beschreibung im Sitz. Unter Abnahme des Kopfgewichtes bewirkt der eingebrachte Schub hier eine größere und deutlich spürbare Bewegung des Proc. spinosus von Th 1 nach dorsal (▶ Abb. 12.36). Somit ist diese Technik eine empfehlenswerte Lokalisationsmethode für diese ASTE. Nur in Fällen erheblicher segmentaler Bewegungseinschränkungen in dieser Region wird man mit dieser Lokalisationsmethode keinen Erfolg haben. Sollte man im Sitz oder in Bauchlage das „Podest“ von C 6 spüren (Kap. 13.7.4), kann man die Unterkanten der Procc. spinosi von C 6 bis Th 1 abzählen.

12.7 Dorsale Palpationstechniken

Tipp Der sehr lokale Druck gegen das Manubrium kann nur mit wenigen Fingerbeeren erfolgen. Achten Sie darauf, dass Sie nicht gegen den Hals des Patienten drücken. Patienten halten häufig Sternum und Schultern nach hinten, auch wenn die schiebenden Finger bereits platziert wurden. Ggf. müssen Sie den Patienten zusätzlich auffordern, die Schultern und den Oberkörper nochmals zu lösen und auf die Unterlage zu legen. Die Technik gelingt nur, wenn der Proband das Gewicht von Schultern und Oberkörper auf die Unterlage ablegen kann.

Projektion des Proc. transversus von Th 1 in Bauchlage

Abb. 12.37 Lokalisation der 1. Rippe.

Der Querfortsatz von Th 1 liegt wiederum eine Zeigefingerbreite höher als der Proc. spinosus. Hierzu lokalisiert man zunächst die Unterkante des Proc. spinosus von Th 1 und misst von der Spitze des Processus die Fingerbreite nach kranial ab. Die Länge des Proc. transversus entspricht wieder etwa der vertikalen Falllinie der Sitze des Proc. transversus von C 1.

Lokalisation der 1. Rippe von dorsal Das Ende des Proc. transversus von Th 1 wird markiert. Direkt lateral davon liegt der erreichbare Teil der 1. Rippe (▶ Abb. 12.37). Da auch in der ASTE Sitz der Übergang zwischen dem Proc. transversus und der Rippe nur bei sehr schlanken Personen zu palpieren ist, überprüft man den Unterschied erneut mit den vertikalen Projektion nach Loyd et al. (2014). Zudem können auch hier der entgegengebrachte Widerstand auf direkten Druck und die Mitbewegung des Proc. spinosus von Th 1 eine Rolle spielen. Drückt man abwechselnd mit dem Daumen direkt auf die vermutete 1. Rippe bzw. auf den Proc. transversus von Th 1 (▶ Abb. 12.38), erfährt man erneut, dass der Proc. transversus erheblich mehr Gegendruck bietet als die 1. Rippe. Wird der Daumen der zweiten Hand von der gegenüberliegenden Seite gegen den Proc. spinosus von Th 1 platziert, spürt er bei Druck auf den Proc. transversus ein deutlicheres Entfernen des Proc. spinosus von der Daumenspitze als bei Druck gegen die Rippe.

Tipp Üblicherweise liegt der kostotransversale Übergang kranialer als der Angulus superior scapulae. Dennoch empfiehlt es sich, durch leichte passive Schulterbewegungen sicherzustellen, dass man nicht versehentlich auf den Skapulawinkel drückt.

Abb. 12.38 Bestätigung durch Konsistenzprüfung.

Lokalisation der weiteren thorakalen Procc. spinosi Prinzipiell gibt es 3 Methoden zur Bestimmung der thorakalen Procc. spinosi: ● Höhenzuordnung durch Orientierung an Strukturen der Skapula ● kaudaler Einstieg über die sichere Lokalisation der lumbalen Procc. spinosi bzw. Th 11 über die 12. Rippe (Kap. 10.7.2) ● kranialer Einstieg über die Bestimmung der Procc. spinosi des zervikothorakalen Übergangs (Kap. 12.7.2)

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Die Bestimmung der Procc. spinosi anhand der Orientierung skapularer Knochenpunkte ist sehr unsicher, da Größe und Lage der Skapula interindividuell variieren. Dennoch eignet sie sich für eine grobe Orientierung (▶ Abb. 12.39). Folgende Zuordnungen werden von Hoppenfeld (1992), Kapandji (2006) und Winkel (2004) empfohlen:

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Brustwirbelsäule und Brustkorb

Abb. 12.40 Palpatorische Höhenlokalisation von kranial.

stark unter Spannung geraten und das Aufsuchen erschweren. Eine Vorpositionierung mit wenig Kyphose nähert die Procc. spinosi an und wirkt ebenfalls hinderlich.

Abb. 12.39 Höhenlokalisation zu skapulären Strukturen in der ASTE Sitz.







In Höhe des Angulus superior scapulae liegt der Proc. spinosus von Th 1 bzw. die 2. Rippe. Die Basis der Spina scapulae liegt in Höhe des Proc. spinosus von Th 3. Der Angulus inferior scapulae liegt in Höhe des Proc. spinosus von Th 7.

Diese Zuordnungen gelten nur für eine vertikale Körperhaltung. In liegender Position haben sie keine Gültigkeit mehr. Als kranialen Einstieg bezeichnet man das palpatorische Vorgehen nach Lokalisation von Th 1. Von hier aus lassen sich alle weiteren thorakalen Procc. spinosi aufsuchen. Hierbei werden die einzelnen Procc. spinosi nacheinander nach kaudal verfolgt. Will man sie sicher markieren, sollte jeweils die Unterkante gekennzeichnet werden. ▶ ASTE. Die Palpation ist im Sitz, in Bauch- und Seitenlage möglich. In den ASTEn Bauchlage und Seitenlage ist die Palpation einfacher als im Sitz. Die Spannung der nah an der Mittellinie befindlichen autochthonen Muskeln (vor allem der M. spinalis) erschwert in der ASTE Sitz den Zugang zu dem knöchernen Umriss eines Proc. spinosus. Eine besonders ausgeprägte Absenkung des Kopfteils zur Lagerung des Probanden in Bauchlage ist zu vermeiden, da die supra- und interspinalen Bänder dabei zu

346

▶ Technik. Man benutzt eine rechtwinklige Palpation mit einer Fingerspitze gegen die Unterkante des Proc. spinosus. Erneut ist das Aufsuchen über das Spüren des Interspinalraumes ratsam. Interspinalräume lassen sich am geschicktesten nicht direkt von dorsal, sondern etwa seitlich ertasten (▶ Abb. 12.40). Häufig erschwert das gespannte Lig. supraspinale, das den Interspinalraum überdeckt, die Palpation der Konturen der Procc. spinosi. Vom erspürten Interspinalraum aus lässt sich die Unterkante des oben liegenden Proc. spinosus sicher markieren. Mit dieser Methode können alle Procc. spinosi markiert werden. Die Sicherheit im thorakolumbalen Übergang kann man über den kaudalen Einstieg erlangen (Kap. 10.7.2). Weiterhin ist das Wissen über die zu erwartende Änderung der Form der Procc. spinosi hilfreich. Wenn man L 1 erreicht, ändert sich die spitze und rundliche Form von Th 11 und 12 in eine längliche mit größerer Ausdehnung.

Tipp Benötigt man mehr Sicherheit, kann man von beiden Seiten aus den Interspinalraum ertasten. Die sicherste Methode ist das abwechselnde Aufsuchen der Interspinalräume von beiden Seiten (▶ Abb. 12.41). Dabei behält der palpierende Finger einer Hand immer den Kontakt mit einem sicher aufgesuchten Interspinalraum, bis der nächst tiefere lokalisiert wurde.

12.7 Dorsale Palpationstechniken

Abb. 12.41 Abwechselnde Palpation von beiden Seiten.

Abb. 12.43 Lokalisation des Proc. spinosus von Th 8.

Abb. 12.44 Aufsuchen des zugehörigen Proc. transversus. Abb. 12.42 Anwendung der Fingerregel.

Höhenunterschied zwischen Proc. spinosus und Proc. transversus eines Wirbels Ziel ist die Lokalisation eines Proc. spinosus der mittleren BWS und des zugehörigen Proc. transversus. Mit nachfolgender Übung soll Sicherheit bei der genauen Lokalisation in jeder thorakalen Höhe erreicht werden. Typisch für den Bau thorakaler Wirbel ist die Höhendifferenz zwischen Proc. spinosus und Proc. transversus, deren Ausmaß fast von Segment zu Segment wechselt. In der Palpation versucht man, die Höhendifferenz durch Fingerbreiten des Zeigefingers des Patienten anzugeben. Will man den zugehörigen Proc. transversus eines Brustwirbels erreichen, so geht man um eine bestimmte Anzahl an Fingerbreiten vom Proc. spinosus nach kranial (▶ Abb. 12.42). Der Proc. transversus und die zugehörige Rippe liegen auf gleicher Höhe. Somit kann der unten beschriebene Ablauf auch zur sicheren Bestimmung der Rippen genutzt werden.

▶ Fingerregel: Proc. spinosus Th 1, Th 2: plus 1 Fingerbreite nach kranial ● Proc. spinosus Th 3, Th 4: plus 2 Fingerbreiten nach kranial ● Proc. spinosus Th 5 → Th 8: plus 3 Fingerbreiten nach kranial ● Proc. spinosus Th 9, Th 10: plus 2 Fingerbreiten nach kranial ● Proc. spinosus Th 11, Th 12: plus 1 Fingerbreite nach kranial ●

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▶ ASTE. Die Palpation erfolgt in Bauchlage, ist aber auch im Sitz und in Seitenlage möglich. ▶ Technik. Aufsuchen eines Proc. spinosus, hier von Th 8, durch Markierung seiner Unterkante (▶ Abb. 12.43). Drei Finger werden vom Proc. spinosus ab nach kranial quer zur Wirbelsäule aufgelegt. In Höhe des 3. Fingers sollten sich der zugehörige Proc. transversus und die 8. Rippe befinden (▶ Abb. 12.44).

347

Brustwirbelsäule und Brustkorb

Abb. 12.45 Palpation der Transversusspitze.

Abb. 12.46 Bestätigung über Bewegung.

Tipp Die Breite der eingesetzten Finger sollte den Fingern des Patienten entsprechen. Sicherheitshalber muss man zunächst Maß nehmen. Eine Bestätigung der richtigen Lokalisation erfolgt über die zugehörige Rippe, die in gleicher Höhe sitzt und palpabel ist. Nach Anwenden der Fingerregel wird also zunächst etwas weiter lateral die Rippe mit queren Palpationstechnik aufgesucht. In Höhe des meist medial spürbaren Aspektes (Angulus costae) liegt der Proc. transversus. Bei rechtwinkliger Palpation mit einer Fingerspitze und deutlichem Druck kann man häufig eine Stufe zwischen der Rippe und der Spitze des Proc. transversus ertasten (▶ Abb. 12.45).

348

Abb. 12.47 Palpation der Rippen von kaudal.

Bestätigung über Konsistenzprüfung und Bewegung

Bestätigung über Palpation der Rippen von kaudal

Die Zusammengehörigkeit von Proc. spinosus und Proc. transversus kann man über segmentale Bewegung erreichen. Hierzu übt man einen Druck auf den Proc. transversus aus und palpiert dabei den zugehörigen Proc. spinosus von der Gegenseite. Wahlweise kann der palpierende Finger auch in einem Interspinalraum platziert werden. Ein Druck, etwa mit der ulnaren Handkante auf den Proc. transversus in ventraler Richtung ausgeübt, lässt den Wirbel rotieren (▶ Abb. 12.46). Der zugehörige Proc. spinosus dreht dann zur der Seite, an welcher der Druck ausgeübt wird, und entfernt sich vom spürenden Finger. Empfehlenswert ist das schnelle Loslassen nach dem Druck, da die Rückbewegung häufig deutlicher spürbar ist als der Hinweg in die rotierte Stellung. Die Unterscheidung zwischen Proc. transversus und der Rippe kann mit der gleichen Technik erfolgen. Hierzu setzt man die ulnare Handkante etwas weiter nach lateral auf die Rippe und wiederholt den ventralen Schub. Die Rippe antwortet mit einem elastischeren Widerstand, die Bewegung des Proc. spinosus erfolgt etwas verzögert und in geringerem Ausmaß als zuvor.

Letztlich kann auch der umgekehrte Weg (von der Rippe über den Proc. transversus zur Bestimmung eines Proc. spinosus) zum Erfolg führen. Man palpiert die Rippen von der 12. Rippe an nach kranial (▶ Abb. 12.47), sucht sich die Höhe des zugehörigen Proc. transversus auf und benutzt die Fingerregel abwärts, um den entsprechenden Proc. spinosus zu finden. Diese Methode empfiehlt sich für den Bereich von etwa Th 7 bis Th 12. Weiter kranial werden die Rippen von der Skapula weitgehend überdeckt.

12.7.3 Hinweise zur Behandlung Es gibt eine Vielzahl an Behandlungsmöglichkeiten der BWS, wobei die taktile Wahrnehmung bzw. eine sehr genaue anatomische Orientierung von großem Nutzen sind. Nachfolgend werden einige Beispiele zur Untersuchung und Behandlung der BWS und der Rippengelenke beschrieben, die in der alltäglichen Praxis häufig vorkommen. Diese Darstellung ist sicher nicht vollständig.

12.7 Dorsale Palpationstechniken

Segmentale Untersuchung der BWS Ein Beispiel für eine lokal segmentale Untersuchung ist die Mobilitätsprüfung in einem gekoppelten Bewegungsmuster. Hier wird die Kopplung als eine Zusammensetzung von gegensinniger Rotation (links) und Seitneigung (rechts) im Zusammenhang mit Extension angenommen.

Technik in ASTE Seitenlage Der Patient liegt in neutraler Seitenlage (hier rechts) nah an der Seite des Therapeuten. Eine Hand nimmt Kontakt mit dem oben liegenden Thoraxbereich auf. Die zweite Hand wird zur Palpation an der BWS benutzt (▶ Abb. 12.48). Dabei legt man die beschwerte Mittelfingerbeere von unten in einen Interspinalraum ein (▶ Abb. 12.49). Getestet wird der originäre funktionelle Abschnitt der BWS (Th 4/5–Th 9/10). ▶ Ziel. Der Therapeut versucht, bei Rotation des Oberkörpers die segmentale Mobilität anhand der Bewegungen der Procc. spinosi zu bewerten.

▶ Kriterien. Dabei sollte er lediglich feststellen, ob eine Bewegung zustande kommt oder nicht. Das Ausmaß selbst wird nicht bewertet. ▶ Ausführung. In neutraler Position der Wirbelsäule spürt man zunächst interspinal von unten, wie Form und Stellung der Procc. spinosi zueinander sind. Wir erinnern uns daran, dass eine Abweichung von Procc. spinosi aus der Mittellinie bis zu einem halben Zentimeter durch eine „normale“ Formvariante entstehen kann. Die Stellung der Procc. spinosi sollte daher zunächst nur gespürt und nicht weiter bewertet werden. Der Therapeut bringt von kranial eine Rotation des Oberkörpers ein, bis die Bewegung am palpierenden Finger ankommt (▶ Abb. 12.50). Danach spürt er sofort noch einmal die Stellung der Procc. spinosi in diesem Segment. Der Oberkörper wird wieder zur neutralen Position zurückgeführt. Der palpierende Finger sucht sich das nächst kaudale Segment. Der Test wird wiederholt. ▶ Interpretation. Als normale segmentale Mobilität interpretiert man diesen Test, wenn sich der kraniale Proc. spinosus in diesem Segment zuerst (räumlich nach unten) bewegt und der kaudale zunächst stehen bleibt. Der palpierende Finger nimmt dabei eine deutliche Stufe zwischen beiden Procc. spinosi wahr. Bei mangelnder segmentaler Mobilität entsteht keine Stufe und beide Procc. spinosi bewegen sich zur gleichen Zeit.

Technik in ASTE Sitz

Abb. 12.48 Segmentaler Mobilitätstest, thorakal – ASTE Seitenlage.

Dieser Mobilitätstest kann auch in einer belasteten Position, also im Sitz durchgeführt werden. Diese ASTE hat im Vergleich zur Ausführung in Seitenlage Vor- und Nachteile. Als Vorteil ist festzuhalten, dass die segmentale Beweglichkeit unter Last deutlicher in Erscheinung tritt. Nachteilig ist, dass der Patient nicht entspannt ist und daher die paravertebrale Muskulatur permanent unter leichter Aktivität ist. Da die autochthonen Muskeln thorakal teilweise unmittelbar neben der Dornfortsatzreihe lie-

12

Abb. 12.49 Position des palpierenden Fingers.

Abb. 12.50 Segmentaler Mobilitätstest, thorakal – Endstellung.

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Brustwirbelsäule und Brustkorb

Abb. 12.51 Segmentaler Mobilitätstest, thorakal – ASTE Sitz.

gen (M. spinalis), gelingt der palpatorische Zugang zum Interspinalraum häufig nur mit viel Druck (▶ Abb. 12.51). Darunter leidet die Genauigkeit der Palpation. Fazit: fachlich wertvoller, palpatorisch erheblich schwerer. Ziel, Kriterien, Ausführung und Interpretation sind die gleichen wie zuvor beschrieben. Bei der hier dargestellten Ausführung wird ebenfalls ein gegensinniger Zusammenhang von Seitneigung (hier links) und Rotation (hier rechts) in extendierter Position angenommen. Der palpierende Daumen wird auf der Seite des Therapeuten interspinal platziert (hier links). Zu dieser Seite drehen die Procc. spinosi. Die andere Hand führt den Oberkörper aus dem neutralen und aufrechten Sitz in Rotation und Seitneigung (▶ Abb. 12.52).

Tipp Zur Fazilitation der thorakalen Extension kann zusätzlich unter die verschränkten Arme gegriffen werden. Die während der Bewegung des Oberkörpers zusätzlich entstehende Armelevation unterstützt die Einnahme der BWS-Extension.

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Abb. 12.52 Segmentaler Mobilitätstest, thorakal – Endstellung gekoppelt in Extension.

Brismée et al. (2005) überprüften die Intertester-Zuverlässigkeit der Palpation intervertebraler Bewegungen in der mittleren BWS in einer sitzenden Position. In einer passiven Extensionsposition mit einer Seitneigung und einer gegensinnigen Rotation wurde die Veränderung der Position der Procc. spinosi manuell geprüft. Das Ausmaß dieser segmentalen Bewegung wurde mit dem Ausmaß verglichen, dass man mit der zweiten Seitneigung erhielt. Die durchschnittliche Übereinstimmung zwischen den 3 erfahrenen Testern ergab einen Kappa von 0,41 und zeigt eine somit moderate Reliabilität. Dieses Verfahren scheint demnach geeignet, eine Kopplung der mittleren BWS in Extension zu ermitteln.

Behandlung der BWS Bei der Behandlung thorakaler Beschwerden mit Techniken, die direkt an der BWS eingesetzt werden, bedient sich die Physiotherapie verschiedener Varianten. Mit sogenannten Totaltechniken wird der gesamte thorakale Abschnitt einbezogen. Lokal segmentale Techniken wirken betont auf ein Segment. Alle Varianten basieren auf der genauen Lokalisation des betroffenen Segmentes als Verursacher von Schmerzen oder „Inhaber“ eine Bewegungseinschränkung.

12.7 Dorsale Palpationstechniken

Abb. 12.54 Segmentale Traktion.

Schub in ventrokaudaler Richtung eingesetzt. Als Folge entfernen sich die Gelenkflächen des kaudalen Wirbels von den kranialen und eine kleine Separation entsteht.

Untersuchung der Rippen-Wirbelgelenke

Abb. 12.53 Mitnahmetechnik.

Eine Form der Totaltechniken ist die Mitnahmetechnik (▶ Abb. 12.53). Sie beruht darauf, dass die WS oberhalb des betroffenen Segmentes durch eine kraniale Zugbewegung des Therapeuten „mitgenommen“ wird. ▶ Ausführung. Das Sternum des Therapeuten nimmt direkt oder unter Zuhilfenahme eines gefalteten Handtuches Kontakt mit dem Wirbel auf, der das betroffene Segment kranial begrenzt. Beide Arme pressen den Thorax gegen den Therapeuten. Eine Streckung beider Beine bewirkt die Wegnahme des Körpergewichtes und eine Entlastung des betroffenen Segmentes. Diese Technik wird bei Beschwerden, die direkt von der Bandscheibe herrühren (z. B. akute interne Bandscheibenrupturen) erfolgreich eingesetzt. Lokal segmentale Behandlungstechniken der Manuellen Therapie kommen mit den Zielen der Schmerzlinderung und Verbesserung der Beweglichkeit vor allem an den Wirbelgelenken zum Einsatz. Die Variationsbreite der Techniken ist enorm. Als Beispiel hierzu wird eine Traktionstechnik vorgestellt (▶ Abb. 12.54). ▶ Ausführung. In der ASTE Bauchlage unter Berücksichtigung der Kyphose des Patienten werden die Procc. transversi des Wirbels aufgesucht, der das betroffene Segment kaudal begrenzt. Die ulnaren Handkanten, mit dem Os pisiforme voraus, stützen sich auf den Procc. transversi ab. Zur Schmerzlinderung wird ein seichter rhythmischer

Die genaue Bestimmung der Lage jeder Rippen ermöglicht es, eine Untersuchung der Rippengelenke hinsichtlich Beweglichkeit und Schmerzhaftigkeit vorzunehmen. Die Beschwerden, die ein Patient üblicherweise beklagt, basieren auf einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung, einem „Verhaken“ in einer neutralen oder einer Exspirations- bzw. Inspirationsposition. Zweck der Untersuchung ist es festzustellen, ob die Beschwerden auch tatsächlich von einem Rippen-Wirbelgelenk verursacht werden, die Mobilität verändert ist und ggf. eine Fixation in einer Endposition der Thoraxbewegung vorliegt.

Stellungsdiagnostik der Rippen ▶ Ziel. Feststellen, ob eine Rippe in Inspirations- bzw. Exspirationsstellung fixiert ist. ▶ Ausführung. Die Wirbelsäule wird komplett in eine Endposition in Flexion mit Rotation und Seitneigung weg von der palpierten Seite eingestellt. Der Schultergürtel der palpierten Seite ist in Protraktion (▶ Abb. 12.55). Somit werden die Rippen auf einer Seite gut zugänglich und eine Mitbewegung der Wirbelsäule auf ein Minimum reduziert. Mit der flachen Hand palpiert man sanft den Thorax von Höhe der 2.–10. Rippe und versucht, die Konturen der Rippen zu spüren. Der Patient bringt durch forcierte Inspiration und Exspiration den Thorax in eine bestimmte Endposition. Alle Rippen sollen dabei die gleiche Bewegung vollziehen. In den Endstellungen forcierter Atmung palpiert man die Thoraxseite von kranial nach kaudal und zurück.

12

▶ Kriterien. Von normalen Rippenstellungen kann gesprochen werden, wenn ein regelmäßiger Abstand zwischen Rippen und Interkostalräumen gespürt wird und

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Brustwirbelsäule und Brustkorb xierter 8. Rippe in Exspiration verringert sich der Abstand zur 9. Rippe und der Raum zur 7. Rippe erweitert sich. Mit etwas Übung ist das deutlich palpabel. Eine Rippe ist in Inspirationsstellung fixiert, wenn man bei forcierter Exspiration palpierend gegen eine Kante stößt. Hier ist die Rippe in einer Inspirationsstellung fixiert, kann die Exspirationsbewegung nicht mitmachen und ist daher mit einer Kante deutlich zu spüren. Die Interkostalräume sind auch in typischer Weise verändert. Ist die 8. Rippe in Inspiration verhakt, verringert sich der Interkostalraum zur 7. Rippe, während er sich zur 9. Rippe erweitert.

Tipp Auch in der Ausformung der Rippen gibt es individuelle Varianten. So kann das Bestreichen des Thorax mit der flachen Hand eine nahezu merkwürdig nach dorsal hervorragende Rippe auf einer oder beiden Seiten zeigen. Dieses Palpationsergebnis sollte man erst dann als pathologisch bewerten, wenn zudem ein direkter Druck auf diese Rippe schmerzhaft ist siehe Springing-Test einer einzelnen Rippe (S. 352) und ggf. veränderte Interkostalräume zu spüren sind.

Springing-Test aller Rippen Abb. 12.55 Stellungsdiagnostik der Rippen.

jede Rippe nahezu die gleiche Kontur hat. Winkel (2004, S. 52) beschreibt das hier zu erwartende Gefühl als „regelmäßiges wellenförmiges Muster“. ▶ Interpretation. Zunächst kann man ein Gefühl dafür entwickeln, ob die Interkostalräume allgemein sehr eng oder sehr weit zueinander stehen. Eine allgemeine Engstellung spricht für einen Thorax in Exspirationsstellung und ein regelmäßig vergrößerter Abstand deutet auf eine Gesamteinstellung des Thorax in Inspiration. Diese Interpretation basiert allerdings auf viel Erfahrung, da es hierfür keine „harten“ Kriterien in Zentimeterangaben oder Ähnliches gibt. Man muss zudem bedenken, dass die Interkostalräume auf der zu palpierenden Seite bereits durch die Einstellung des Oberkörpers in Flexion mit Seitneigung und Rotation zur Gegenseite allgemein erweitert sind. Weiterhin kann man sehr konkrete Aussagen über die Position einzelner Rippen treffen. Dautzenroth (2002) spricht hier von einer „Stellungsdiagnose“. Eine Rippe ist in Exspirationsstellung fixiert, wenn man bei forcierter Inspiration palpierend gegen eine Kante stößt. Hier ist die Rippe in einer Exspirationsstellung fixiert, kann die Inspirationsbewegung nicht mitmachen und ist daher mit einem Rand deutlich zu spüren. Als weitere Indizien für diese fixierte Position sind die Veränderungen der benachbarten Interkostalräume. Bei fi-

352

▶ Ziel. Schmerzprovokation und Mobilitätstest. ▶ Ausführung. In gleicher ASTE des Patienten und gleicher Handhaltung des Therapeuten (▶ Abb. 12.55) wird jetzt nicht flächig gespürt, sondern ein deutlicher Druck mit dem Thenar oder Hypothenar gegen die Rippen gesetzt. Dabei wird die Hand auf einer Linie von kraniomedial nach kaudolateral entlang der Anguli costae geführt. ▶ Kriterien. Ist der Druck schmerzhaft? Tauchen die Rippen unter dem Druck etwas nach ventral ab? ▶ Interpretation. Als normal kann erwartet werden, dass die Rippen unter dem Druck der Hand etwas nach ventral ausweichen und dabei nicht druckdolent sind. Bei einer blockierten Rippe bleibt das Ausweichen aus, der Druck ist möglicherweise schmerzhaft.

Springing-Test einer Rippe Da die Hand beim ersten Springing-Test eher global über den Thorax fährt, gelingt es hiermit nicht immer eindeutig, die betroffene Rippe zu identifizieren. Daher wird noch eine Testvariante benötigt, um die betroffene Rippe genau zu finden. Für die Dokumentation ist es wiederum wichtig, durch genaue Höhenlokalisation bestimmen zu können, ob es sich beispielsweise um die 9. Rippe handelt.

12.7 Dorsale Palpationstechniken

Abb. 12.57 Traktion im Kostotransversalgelenk.

Tipp Wird die empfohlene ASTE (▶ Abb. 12.55) mit einer gegensinnigen Seitneigung (hier rechts) variiert, erhält man eine verriegelte Position der Wirbelsäule. Wird ein Schmerz durch einen Springing-Test verursacht, lässt sich so eine Beteiligung der thorakalen Segmente besser ausschließen.

Abb. 12.56 Springing-Test einer einzelnen Rippe.

▶ Ziel. Genaue Höhenlokalisation der Rippe und Bestätigung mit lokalem Druck auf einer Rippe mit der ulnaren Handkante. ▶ Ausführung. In gleicher ASTE des Patienten wird nun mit der ulnaren Handkante eine Rippe mit Druck betont (▶ Abb. 12.56). Sie wird mit deutlichem Druck und rhythmischem Schub in ventrolateraler Richtung belastet. Zuletzt führt man eine Endgefühlprüfung durch. ▶ Kriterien. Schmerzprovokation und Endgefühl. ▶ Interpretation. Normalerweise taucht auch hier die Rippe unter dem lokalem Druck etwas nach ventral ab. Eine blockierte Rippe kann das nicht. Diese antwortet auf eine Endgefühlprüfung auch mit einer harten Konsistenz. Üblicherweise spürt man hier ein fest-elastisches Widerlager.

Behandlung der Rippen-Wirbelgelenke Als ein Beispiel von vielen Behandlungstechniken der Rippen-Wirbelgelenke wird hier die Traktion im Kostovertebralgelenk beschrieben. Sie wird sowohl als Gelenkspieltest als auch zur Schmerzlinderung oder Bewegungsverbesserung genutzt. ▶ Ausführung. In der neutralen ASTE Bauchlage wird eine ulnare Handkante auf die betroffene Rippe platziert. Die zweite Hand stabilisiert die Wirbelsäule auf der Gegenseite in Höhe des Proc. transversus (▶ Abb. 12.57). Der Schub der ulnaren Handkante erfolgt immer rechtwinklig zur Konvexität der BWS. Dies bedeutet im Allgemeinen eine ventrolaterale Richtung der 2.–6. Rippe und zusätzlich eine leicht kraniale Richtung bei der 7.–10. Rippe. Die Rippen 11 und 12 haben kein Kostotransversalgelenk und müssen daher auch nicht behandelt werden. Diese Technik kann als Traktionstest mit den gleichen Kriterien wie der Springing-Test einer Rippe in ASTE Sitz eingesetzt werden. Sie ist zur Schmerzlinderung mit oszillierenden Bewegungen sowie als forcierte Ausführung auch zur Beweglichkeitsverbesserung anwendbar.

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Brustwirbelsäule und Brustkorb

Tipp Zur Mobilisation bietet es sich an, die Wirbelsäule so einzustellen, dass sie sich möglichst wenig mitbewegt und die Energie der Mobilisation im Kostotransversalgelenk bleibt. Eine gute Form der Verriegelung erreicht man, indem eine gleichseitge Seitneigung (hier rechts), z. B. über den Oberkörper, eingebracht wird. Dies positioniert die zugehörigen thorakalen Segemente in einer Rotation (hier rechts) vor, die der Bewegungstendenz bei Druck auf die Rippe entgegengesetzt ist.

12.8 Ventrale Palpationstechniken Das Ziel dieses Palpationsganges ist die systematische Suche nach den wichtigsten erreichbaren knöchernen „Landmarks“. Die Lage dieser Strukturen soll verdeutlicht werden, um dadurch die technische Grundlage für die Beurteilung des Bewegungsverhaltens des Thorax bzw. jeder einzelnen Rippe bei Atmung und Armbewegungen zu schaffen. Abschließend sollen einige therapeutische Beispiele den Bezug zur thorakalen Palpation herstellen. Der Palpationsgang kann natürlich auch in Rückenlage des Patienten durchgeführt werden. Abb. 12.58 Incisura jugularis.

12.8.1 Ventrale Palpation in Ausgangsstellung Sitz Incisura jugularis Diese seichte Vertiefung ist die kraniale Begrenzung des Sternums. Sie wird von beiden Sehnen der sternalen Anteile des Mm. sternocleidomastoideus beidseits und von beiden Sternoklavikulargelenken (SCG) eingerahmt. Die Sehnen kann man durch ausgiebige HWS-Rotationen auf Spannung bringen lassen. Direkt lateral der Sehnen erreicht man das mediale Ende der Klavikulae und die Gelenkspalte der SCG (Kap. 2.6.2). Die Incisura jugularis erreicht man palpatorisch auf zweierlei Weisen (▶ Abb. 12.58): Zum einen kann man mit 1 Fingerbeere flach von der Mitte des Sternums nach kranial rutschen, bis man über einen runden Rand in eine Vertiefung gelangt. Zum anderen rutscht man mit der Fingerbeere bei sehr wenig Druck vom Kehlkopf aus nach kaudal, bis man von oben auf den sehr deutlich spürbaren Rand des Manubrium sterni stößt.

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Tipp Viele Menschen sind am Halsbereich auf Berührung sehr empfindlich und manche zeigen heftige sympathikotone Reaktionen (z. B. Schweißausbruch, schneller Puls). Daher sollte man sich diesem Bereich vorsichtig und nach Information des Patienten nähern. Die Incisura jugularis liegt bei Männern regelmäßig auf dem Niveau des Proc. spinosus von Th 2 und bei Frauen eher auf dem Niveau von Th 3.

Angulus sterni Von der Incisura jugularis palpiert man flächig mit 1 oder 2 Fingerbeeren auf der Fläche des Manubrium sterni nach kaudal. Nach 3 (2–4) Fingerbreiten spürt man einen queren Wulst, den Angulus sterni, der das Manubrium mit dem Corpus sterni verbindet. Um die gesamte Größe des Angulus zu erfassen, wird der Wulst mit kleinen Bewegungen der Finger in kranialer und kaudaler Richtung quer palpiert (▶ Abb. 12.59). Der Angulus ist die sicherste Orientierung zum Einstieg in die ventrale Palpation der Rippen und Interkostalräume (ICR).

Brustwirbelsäule und Brustkorb

Tipp Zur Mobilisation bietet es sich an, die Wirbelsäule so einzustellen, dass sie sich möglichst wenig mitbewegt und die Energie der Mobilisation im Kostotransversalgelenk bleibt. Eine gute Form der Verriegelung erreicht man, indem eine gleichseitge Seitneigung (hier rechts), z. B. über den Oberkörper, eingebracht wird. Dies positioniert die zugehörigen thorakalen Segemente in einer Rotation (hier rechts) vor, die der Bewegungstendenz bei Druck auf die Rippe entgegengesetzt ist.

12.8 Ventrale Palpationstechniken Das Ziel dieses Palpationsganges ist die systematische Suche nach den wichtigsten erreichbaren knöchernen „Landmarks“. Die Lage dieser Strukturen soll verdeutlicht werden, um dadurch die technische Grundlage für die Beurteilung des Bewegungsverhaltens des Thorax bzw. jeder einzelnen Rippe bei Atmung und Armbewegungen zu schaffen. Abschließend sollen einige therapeutische Beispiele den Bezug zur thorakalen Palpation herstellen. Der Palpationsgang kann natürlich auch in Rückenlage des Patienten durchgeführt werden. Abb. 12.58 Incisura jugularis.

12.8.1 Ventrale Palpation in Ausgangsstellung Sitz Incisura jugularis Diese seichte Vertiefung ist die kraniale Begrenzung des Sternums. Sie wird von beiden Sehnen der sternalen Anteile des Mm. sternocleidomastoideus beidseits und von beiden Sternoklavikulargelenken (SCG) eingerahmt. Die Sehnen kann man durch ausgiebige HWS-Rotationen auf Spannung bringen lassen. Direkt lateral der Sehnen erreicht man das mediale Ende der Klavikulae und die Gelenkspalte der SCG (Kap. 2.6.2). Die Incisura jugularis erreicht man palpatorisch auf zweierlei Weisen (▶ Abb. 12.58): Zum einen kann man mit 1 Fingerbeere flach von der Mitte des Sternums nach kranial rutschen, bis man über einen runden Rand in eine Vertiefung gelangt. Zum anderen rutscht man mit der Fingerbeere bei sehr wenig Druck vom Kehlkopf aus nach kaudal, bis man von oben auf den sehr deutlich spürbaren Rand des Manubrium sterni stößt.

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Tipp Viele Menschen sind am Halsbereich auf Berührung sehr empfindlich und manche zeigen heftige sympathikotone Reaktionen (z. B. Schweißausbruch, schneller Puls). Daher sollte man sich diesem Bereich vorsichtig und nach Information des Patienten nähern. Die Incisura jugularis liegt bei Männern regelmäßig auf dem Niveau des Proc. spinosus von Th 2 und bei Frauen eher auf dem Niveau von Th 3.

Angulus sterni Von der Incisura jugularis palpiert man flächig mit 1 oder 2 Fingerbeeren auf der Fläche des Manubrium sterni nach kaudal. Nach 3 (2–4) Fingerbreiten spürt man einen queren Wulst, den Angulus sterni, der das Manubrium mit dem Corpus sterni verbindet. Um die gesamte Größe des Angulus zu erfassen, wird der Wulst mit kleinen Bewegungen der Finger in kranialer und kaudaler Richtung quer palpiert (▶ Abb. 12.59). Der Angulus ist die sicherste Orientierung zum Einstieg in die ventrale Palpation der Rippen und Interkostalräume (ICR).

12.8 Ventrale Palpationstechniken

Abb. 12.59 Angulus sterni.

Tipp Entzündungen am Angulus sterni, die durch erkennbare Schwellung gekennzeichnet sind, werden immer wieder im Zusammenhang mit rheumatischen Erkrankungen, z. B. Morbus Bechterew, gesehen (Winkel 1992).

Lokalisation der 2. Rippe Der Rippenknorpel der 2. Rippe ist konstant im Übergang zwischen Manubrium und Corpus am Sternum fixiert. Die Palpation erfolgt mit 2 steil gestellten Fingern (z. B. Zeige- und Mittelfingerbeere) vom Angulus sterni aus nach lateral zum Ober- bzw. Unterrand des Rippenknorpels (▶ Abb. 12.60). Der Zeigefinger ist somit im ersten ICR platziert, der Mittelfinger im zweiten. Wenn man die 2. Rippe zum ersten Mal aufsucht, ist man meistens darüber erstaunt, wie weit kaudal sie liegt. Der gesamte Verlauf der 2. Rippe wird nun vorstellbar. Sie reicht dorsal von dem Angulus superior scapulae bis zur Höhe des Angulus sterni. Mit der sicheren Lokalisation der ersten beiden ICR gelingt es auch, alle weiteren kaudal gelegenen ICR aufzusuchen, die ventral erreichbar sind. Dies müsste etwa bis zum 6. ICR gelingen. Dabei orientiert man sich palpa-

Abb. 12.60 Rippe 2.

torisch in jedem Fall direkt neben dem Sternum. Hier sind die Rippen und deren Zwischenräume am deutlichsten zu spüren.

Tipp Schwellungen der kostosternalen Gelenke, insbesondere der 2. oder 3. Rippe, können auf ein Tietze-Syndrom hinweisen. Diethelm (2005) beschreibt das Tietze-Syndrom in seiner Übersichtsarbeit über den Brustschmerz: „Es handelt sich um ein schlecht definiertes Krankheitsbild ungeklärter Ätiologie mit benignem, selbstlimitierendem Verlauf, dessen Beschwerden meist innerhalb eines Jahres wieder verschwunden sind.“ Patienten mit einer Kostochondritis, einer alternativen Bezeichnung des Tietze-Syndroms, klagen häufig unter einem akuten Brustschmerz (Freeston et al. 2004). Das Beschwerdebild kommt häufig vor (Disla et al. 1994, Wise et al. 1992) und ist bei nicht traumatischen Patienten neben einer koronaren Erkrankung und Brustkrebs eine der wichtigsten Differenzialdiagnosen ärztlicher Untersuchung. Die Diagnostik stützt sich vor allem auf eine direkte provokative Palpation, die den typischen Schmerz produziert.

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Brustwirbelsäule und Brustkorb

Lokalisation der 1. Rippe Der einzig ventral erreichbare Anteil der 1. Rippe liegt im Dreieck Klavikula und Manubrium sterni. Die Lokalisation ist meist nicht eindeutig möglich, da die Rippe nach kurzer Strecke unter der Klavikula direkt nach dorsal abtaucht Zunächst werden die 2. Rippe und der direkt darüber liegende 1. ICR aufgesucht. Die palpierende Fingerspitze wird leicht nach kranial gerichtet und gegen die Rippe gestellt.

Tipp Durch passive Elevation des Schultergürtels vergrößert man die palpable Strecke der Rippe (▶ Abb. 12.61).

In Verbindung mit der Lokalisation der 1. Rippe dorsal und den Erkenntnissen des Federtests kann man die gesamte Ausdehnung der 1. Rippe mit großer Sicherheit darstellen.

12.8.2 Ventrale Palpation in Ausgangsstellung Rückenlage Interkostale Palpation während der Atmung Das Auffinden der ICR nutzt man diagnostisch, um deren gleichmäßiges Öffnen und Schließen während Thoraxbewegungen bei forcierter Atmung und großen Armbewegungen zu überprüfen. Da die Bewegungen des oberen Thorax bei Inspiration als Anheben nach ventral erfolgen, werden interkostale Bewegungen auch ventral verfolgt. Diese Palpation ist auch in einer aufrechten Körperposition durchzuführen. Ausgiebige Atemexkursionen mit Thoraxbewegungen sind allerdings in Rückenlage leichter auszuführen, da hier der hemmende Einfluss der Schwerkraft geringer ist. Die Palpation erfolgt mit 2 oder mehr Fingerbeeren, die zuvor parasternal in die ICR platziert werden. Zur sicheren Orientierung sucht man zuvor die 2. Rippe und somit die obersten beiden ICR auf (▶ Abb. 12.62). Die parasternale Platzierung der Fingerbeeren kann etwa bis zum 6. ICR erfolgen (▶ Abb. 12.63). Die Öffnung der unteren ICR erfolgt am unteren Thorax eher in seitlicher Richtung. Daher ist es sinnvoll, die spürenden Fingerbeeren auch von der Seite an den Brustkorb anzulegen (▶ Abb. 12.64).

Abb. 12.62 Palpation der Rippe 2.

Abb. 12.61 Rippe 1.

Abb. 12.63 Palpation des 3.–4. Interkostalraumes.

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12.8 Ventrale Palpationstechniken Der Patient wird nun aufgefordert, etwa 5- bis 6-mal kräftig nach ventral in den Thorax einzuatmen, bevor er wieder eine Pause mit normaler Atemtiefe macht. Erwartet werden gleichmäßige Öffnungs- und Schließbewegungen der ICR. Dies gilt sowohl im Seitenvergleich linksrechts als auch im Vergleich mit den benachbarten Räumen auf einer Seite. Die Mobilität einer oder mehrerer Rippen ist herabgesetzt, wenn diese Öffnungs- und Schließbewegungen nicht oder nur in geringem Ausmaß spürbar sind.

Tipp In dieser ASTE kann mit der Technik der queren Fingerfriktion der Tonus aller 3 Anteile des M. pectoralis major festgestellt werden. Globale Tonuserhöhungen mehrerer Faserbündel sind eine Indikation für manuelle Behandlungen unter anderem mit Funktionsmassagen (Kap. 12.8.4).

Interkostale Palpation mit Armelevation Ziel ist es jetzt, ausgiebige Armelevationen zu nutzen, um deren Fortleitung auf den Thorax und damit die Beweglichkeit der Rippengelenke palpatorisch zu überprüfen. Die oberen ICR überprüft man über Armelevation mit Flexion in Rückenlage. Dabei platziert man erneut mit zwei Fingern interkostal, um die Öffnungsbewegungen bei ausgiebiger passiver Armhebung und die Schließbewegung bei Rückführung wahrzunehmen (▶ Abb. 12.65 und ▶ Abb. 12.66). Alle ventral erreichbaren ICR werden so überprüft.

Abb. 12.64 Palpation der unteren Interkostalräume.

12

Abb. 12.65 Bewegungspalpation der Rippen ventral – Startposition.

Abb. 12.66 Bewegungspalpation der Rippen ventral – Endposition.

357

Brustwirbelsäule und Brustkorb

12.8.3 Thorakale Palpation in Ausgangsstellung Seitenlage Um eine Erweiterung des unteren Thorax zu erhalten, ist eine Armelevation über Flexion nicht zweckmäßig. Viel günstiger ist der Einsatz einer ausgiebigen Elevation des Armes über die Seite (Abduktion). Um alle ICR gut erreichen zu können, ist es ratsam, den Patienten in eine neutrale Seitenlage zu bringen. Eine Hand des Therapeuten führt den Arm des Patienten, die andere Hand platziert mehrere Fingerbeeren in die ICR. Aus mäßiger Abduktion (▶ Abb. 12.67) wird der Arm in eine ausgiebige Armelevation geführt, bis die Bewegung bei den Rippen ankommt (▶ Abb. 12.68). Erwartet wird eine gleichmäßige Öffnung der ICR bei zunehmender Elevation und Schließung bei Rückführung in die ASTE. Zur Interpretation gilt wie zuvor beschrieben: Die Mobilität einer oder mehrerer Rippen ist herabgesetzt, wenn diese Öffnungs- und Schließbewegungen nicht oder nur in geringem Ausmaß spürbar sind.

Tipp Die notwendige Beweglichkeit bei der Armelevation muss natürlich schmerzfrei von der Bewegungskette der „Hals-Schulter-Arm-Region“ ermöglicht werden. Daher ist eine vorherige Funktionsprüfung sehr wichtig. Erfahrungsgemäß ist die Bewegung recht schnell beendet, wenn man den Arm genau in der Frontalebene des Patienten führt. Das Ausmaß ist größer, wenn der Arm während der Elevation leicht nach vorne geführt wird.

12.8.4 Hinweise zur Behandlung Manuelle Techniken in der Atemtherapie Die Atemtherapie unterteilt sich nach Art der Einwirkung auf den Patienten in Übungen mit verbaler Anleitung, das Einnehmen günstiger Körperpositionen und das Einsetzen manueller Techniken mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Nachfolgend wird eine Übersicht gegeben, wodurch hervorgehoben werden soll, wie wichtig eine gute manuelle Orientierung am Thorax, das Beurteilen von Widerständen und Konsistenzen sowie die Bewertung von Stellungen der Rippen sind.

Gewebelösende Maßnahmen

Abb. 12.67 Bewegungspalpation der Rippen lateral – Startposition.

Abb. 12.68 Bewegungspalpation der Rippen lateral – Endposition.

358

Alle manuellen Maßnahmen zur Senkung der Gewebswiderstände von Haut und Muskulatur fallen in diese Gruppe. Allerdings sind die „autochthonen“ Thoraxwandmuskeln hiermit gemeint. Adhäsionen oder ein zu hoher muskulärer Tonus der heterochthonen, großen Muskeln, die hauptsächlich zum Bewegungskomplex der Schulter gehören, werden eher mit anderen manuellen Techniken, wie klassischer Massage oder Funktionsmassage gelöst. Die Hautpartien mit zu hohem Turgor werden gedehnt, Adhäsionen mit der Körperfaszie durch abhebende, rollende, verschiebende und zirkelnde Bewegungen der Therapeutenhand gelöst (Ehrenberg 1998). Durch diese Techniken erreicht man eine Senkung der elastischen Atemwiderstände, und die Patienten erfahren nach diesen Anwendungen eine deutlich erleichterte Inspiration. Diese Techniken werden sowohl bei Patienten mit restriktiven Atemwegserkrankungen als auch bei Patienten, die infolge erschwerter Atemarbeit einen hohen Tonus in der Atemmuskulatur entwickelt haben, angewandt. Letztere bauen eine hohe Spannung in der Haut und Muskulatur auf bzw. entwickeln reflektorisch bedingte Hautzonen von niedriger Elastizität. ▶ Hautrollungen. Diese dynamische Techniken (▶ Abb. 12.69) sind in der Ausführung identisch mit den Kiblerfalten (S. 230) zur Turgorüberprüfung aus dem Tastbefund der Klassischen Massagetherapie.

12.8 Ventrale Palpationstechniken

Abb. 12.69 Hautrollung.

Abb. 12.71 Hängegriff.

Abb. 12.70 ICR-Streichung.

Abb. 12.72 Vibrationen mit dem Rautengriff.

Beispielsweise wird in der ASTE Rückenlage eine Hautfalte in Höhe der vorderen Axillarlinie ergriffen und diese etwa im Verlauf der Rippen in Richtung Sternum durchgezogen. ▶ Interkostalstreichungen. Sie können auf verschiedene Weisen durchgeführt werden, je nach Beschaffenheit des Patienten und der Indikation. Sie sind einerseits als Streichung aus der klassischen Massagetherapie im Verlaufe der ICR bekannt (▶ Abb. 12.70). Andererseits empfiehlt die Literatur ihre Durchführung als lokale intensive Zugbewegung eher im Sinne einer Strichführung aus der Bindegewebemassage (BGM) (Ehrenberg 1998). Dabei wird mit 1 oder 2 Fingern im ICR ein intensiver Zug durchgeführt. Dies ist die einzige wirklich intensive manuelle Technik, um die interkostale Muskulatur zu erreichen. Sollten insbesondere Adhäsionen der Haut beeinflusst oder eine besonders deutliche reflektorische Wirkung im Sinne der BGM erzielt werden, muss die zweite Hand die Haut auf Spannung halten.

▶ Hänge-Packe-Griffe. Diese gehaltenen Techniken (▶ Abb. 12.71) ähneln in der Ausführung der Abhebeprobe (S. 229) zur Überprüfung der Hautkonsistenz aus dem Tastbefund der klassischen Massagetherapie. Nach dem bimanuellen Abheben von Hautpartien werden diese für die Dauer einiger Atemzüge unter verstärktem Zug vom Thorax weggehalten. Für die ASTE ist es wichtig, dass die rigiden Hautpartien gut erreichbar sind. Liegende und auch sitzende Positionen sind gut möglich.

12

Sekretlösende Maßnahmen ▶ Vibrationen. Sie dienen zur Sekretmobilisation und zum Transport, aber auch zur Beeinflussung eines reflektorischen Hypertonus sowie spastischer Zustände glatter Muskulatur. Darunter fallen z. B. obstruktive Bronchialerkrankungen. Sie werden einige Minuten an verschiedenen Stellen des Thorax eingesetzt: ● oberer Thorax = subklavikular, sternal zwischen den Skapulae ● unterer Thorax = lateral, dorsal (▶ Abb. 12.72).

359

Brustwirbelsäule und Brustkorb

Abb. 12.73 Hohlhandklopfungen.

Die optimale Frequenz wird in der Literatur mit 8–12 Hz angegeben (Edel 1999). Häufig werden die Vibrationen mit Drainagelagerungen wie z. B. einer Kopftieflage verbunden (Dautzenroth 2002).

Abb. 12.74 Kostosternale Kontaktatmung.

● ● ●



▶ Klopfungen mit Faust oder Hohlhand. Zur Sekretmobilisation und -lösung können Techniken aus der Gruppe der Tapotements (Erschütterungen) benutzt werden. Hierbei treffen die zur lockeren Faust oder festen Hohlhand geformten Hände mit einer Abwärtsbewegung aus dem Handgelenk auf den Thorax (▶ Abb. 12.73). Der Einsatz dieser Techniken muss zuvor palpatorisch abgeklärt werden. Es gilt festzustellen, wo der Einsatzbereich liegt und wo sicher nicht geklopft werden darf. Daher müssen folgende Strukturen ertastet werden: Procc. spinosi, Skapularänder, unterer Rippenbogen, Proc. xhiphoideus. Auf den Procc. spinosi, im Bereich der Nieren (im Winkel zwischen Rippe 12 und der autochthonen Rückenmuskulatur) sowie auf dem Oberbauch sollten diese Techniken jedenfalls nicht zum Einsatz kommen.

Kontaktatmung Sie dient der Lenkung des Einatmungsverlaufs und der Verbesserung des Verhältnisses von Belüftung zur Durchblutung. In der Atemtherapie werden manuelle Kontakte zur Wahrnehmungsschulung eingesetzt, um die Atemrichtung in Gebiete geringer Belüftung zu lenken, z. B. nach operativen Eingriffen am Thorax. Nach Einübung der abdominalen Atmung werden Atembewegungen mit thorakalen Bewegungen geschult, um bislang wenig genutzte Atemräume einzubeziehen und die Belüftung aller Lungenanteile gleichmäßig zu gewährleisten. Die Hand des Therapeuten wird flächig und mit geringem Druck aufgelegt. Während der Inspiration wird der Druck etwas verstärkt, sodass der Patient ihn als Richtungswiderstand wahrnimmt. Der Patient versucht, seine Atemexkursion in Richtung der aufliegenden Hand zu vergrößern. Die Kontaktstellen sind:

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Sternum → kostosternale Atemrichtung (▶ Abb. 12.74) epigastischer Winkel → kostoabdominale Atemrichtung ventrolateral am unteren Thorax → kostolaterale Atemrichtung dorsolateral am unteren Thorax → kostodorsale Atemrichtung

Besonders effektiv sind diese Kontaktatmungen, wenn man den Patienten dabei auffordert, verschiedene Ausgangsstellungen im Sinne der Umlagerung und zur Atelektasenprophylaxe einzunehmen.

Thoraxmobilisationen Erst ein mobiler Thorax garantiert ein ausreichendes Atemminutenvolumen mit vertieften Atemzügen. Autogene Drainage und unterstützende sekretlösende Maßnahmen gelingen erst gut, wenn der Thorax beweglich genug ist. Neben mobilitätsverbessernden Übungen, z. B. Dehnlagerungen, die über die Voreinstellung der BWS und Dehnungen von großen Muskeln der Rumpfwand auf die Dehnfähigkeit der Interkostalräume einwirken, können manuelle Techniken viel differenzierter eingesetzt werden, um betroffene Bereiche selektiv zu behandeln. Die manuelle Leistung im Sinne der Palpation ist es, die bewegungsgestörten Bereiche des Thorax zu erspüren und die Mobilität durch gezielte Techniken wiederherzustellen. ▶ Thoraxkompressionen. Diese bimanuelle Technik (▶ Abb. 12.75) benutzt die gleichen Auflagebereiche wie die Kontaktatmung. Allerdings wird jetzt während der Exspiration der Druck deutlich erhöht („exspiratorische Thoraxkompression“ nach Ehrenberg, 1998). Diese Technik unterstützt den Sekrettransport und mobilisiert den Thorax, z. B. bei Störung der Atemmuskelfunktion oder entzündlicher Pleuritis. Thoraxkompressionen wirken regional auf die Rippen-Wirbelgelenke und die Verbindungen zum Sternum. Sie haben keinen mobilisierenden Effekt auf die ICR.

12.9 Literatur

12.9 Literatur

Abb. 12.75 Thoraxkompression.

▶ Mobilisation der kostovertebralen Gelenke. Der Einwirkungsbereich dieser Techniken, die im (Kap. 12.8.4) bereits beschrieben wurden, sind die Rippen-Wirbelgelenke. Die Kostotransversalgelenke sind dabei am einfachsten zu beeinflussen. Sicher haben die Techniken auch einen Effekt auf die Rippenköpfchengelenke. Der Vorteil dieser manualtherapeutischen Methode ist die sehr selektive Behandlung einzeln gestörter Rippenbewegungen. Nachteilig ist, dass eine Bewegungserweiterung des gesamten Thorax enorm viel Zeit in Anspruch nehmen würde.

Brismée JM, Atwood K, Fain M et al. Interrater Reliability of Palpation of Three-Dimensional Segmental Motion of the Lumbar Spine. J Man Manip Ther 2005; 13: 216–221 Cui XG, Cai JF, Sun JM et al. Morphology study of thoracic transverse processes and its significance in pedicle-rib unit screw fixation. J Spinal Disord Tech 2015; 28 (2): E74–77 Dautzenroth A. Cystische Fibrose. Stuttgart: Thieme; 2002 Diethelm M. Brustschmerz – nicht vom Herz. Schweiz Med Forum 2005; 5: 51–58 Disla E, Rhim HR, Reddy A et al. Costochondritis. A prospective analysis in an emergency department setting. Arch Intern Med 1994; 154: 2466–2469 Dvořák J. Manuelle Medizin. Bd. 1, Diagnostik. Berlin: Springer; 1998 Edel H. Atemtherapie. 6. Aufl. München: Urban & Fischer; 1999 Ehrenberg H. Atemtherapie in der Physiotherapie/Krankengymnastik. München: Pflaum; 1998 Freeston J, Zunaid K, Lindsay K et al. Can early diagnosis and management of costochondritis reduce acute chest pain admissions? J Rheumatol 2004; 11: 2269–2271 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Hoppenfeld S. Klinische Untersuchung der Wirbelsäule und Extremitäten. 2. Aufl. Stuttgart: Fischer; 1992 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie, Rücken. Berlin: Springer; 2004 Loyd BJ, Gilbert KK, Sizer PS et al. The relationship between various anatomical landmarks used for localizing the first rib during surface palpation. J Man Manip Ther 2014; 22: 129–133 Migliore M, Signorelli M, Caltabiano R et al. Flank pain caused by slipping rib syndrome. Lancet 2014; 383: 844 Sapkas G, Papadakis S, Katonis P et al. Operative treatment of unstable injuries of the cervicothoracic junction. Eur Spine J 1999; 8: 279–283 White AA, Panjabi MM. Clinical Biomechanics of the spine. 2nd ed. Philadelphia: Lippincott; 1990 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie, Teil 4/2. Stuttgart: Fischer; 1993 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in Vivo. 3. Aufl. Urban & Fischer bei Elsevier; 2004 Wise CM, Semble EL, Dalton CB. Musculoskeletal chest wall syndromes in patients with noncardiac chest pain: a study of 100 patients. Arch Phys Med Rehabil 1992; 73: 147–149

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12.9 Literatur

12.9 Literatur

Abb. 12.75 Thoraxkompression.

▶ Mobilisation der kostovertebralen Gelenke. Der Einwirkungsbereich dieser Techniken, die im (Kap. 12.8.4) bereits beschrieben wurden, sind die Rippen-Wirbelgelenke. Die Kostotransversalgelenke sind dabei am einfachsten zu beeinflussen. Sicher haben die Techniken auch einen Effekt auf die Rippenköpfchengelenke. Der Vorteil dieser manualtherapeutischen Methode ist die sehr selektive Behandlung einzeln gestörter Rippenbewegungen. Nachteilig ist, dass eine Bewegungserweiterung des gesamten Thorax enorm viel Zeit in Anspruch nehmen würde.

Brismée JM, Atwood K, Fain M et al. Interrater Reliability of Palpation of Three-Dimensional Segmental Motion of the Lumbar Spine. J Man Manip Ther 2005; 13: 216–221 Cui XG, Cai JF, Sun JM et al. Morphology study of thoracic transverse processes and its significance in pedicle-rib unit screw fixation. J Spinal Disord Tech 2015; 28 (2): E74–77 Dautzenroth A. Cystische Fibrose. Stuttgart: Thieme; 2002 Diethelm M. Brustschmerz – nicht vom Herz. Schweiz Med Forum 2005; 5: 51–58 Disla E, Rhim HR, Reddy A et al. Costochondritis. A prospective analysis in an emergency department setting. Arch Intern Med 1994; 154: 2466–2469 Dvořák J. Manuelle Medizin. Bd. 1, Diagnostik. Berlin: Springer; 1998 Edel H. Atemtherapie. 6. Aufl. München: Urban & Fischer; 1999 Ehrenberg H. Atemtherapie in der Physiotherapie/Krankengymnastik. München: Pflaum; 1998 Freeston J, Zunaid K, Lindsay K et al. Can early diagnosis and management of costochondritis reduce acute chest pain admissions? J Rheumatol 2004; 11: 2269–2271 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Hoppenfeld S. Klinische Untersuchung der Wirbelsäule und Extremitäten. 2. Aufl. Stuttgart: Fischer; 1992 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie, Rücken. Berlin: Springer; 2004 Loyd BJ, Gilbert KK, Sizer PS et al. The relationship between various anatomical landmarks used for localizing the first rib during surface palpation. J Man Manip Ther 2014; 22: 129–133 Migliore M, Signorelli M, Caltabiano R et al. Flank pain caused by slipping rib syndrome. Lancet 2014; 383: 844 Sapkas G, Papadakis S, Katonis P et al. Operative treatment of unstable injuries of the cervicothoracic junction. Eur Spine J 1999; 8: 279–283 White AA, Panjabi MM. Clinical Biomechanics of the spine. 2nd ed. Philadelphia: Lippincott; 1990 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie, Teil 4/2. Stuttgart: Fischer; 1993 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in Vivo. 3. Aufl. Urban & Fischer bei Elsevier; 2004 Wise CM, Semble EL, Dalton CB. Musculoskeletal chest wall syndromes in patients with noncardiac chest pain: a study of 100 patients. Arch Phys Med Rehabil 1992; 73: 147–149

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13.2 Häufige therapeutische Anwendungen in dieser Region

13 Halswirbelsäule 13.1 Bedeutung der Halswirbelsäule

13.2 Häufige therapeutische Anwendungen in dieser Region

Die HWS trägt den Kopf (ca. 10 % des Körpergewichtes). Der Teilschwerpunkt des Kopfes liegt in Höhe der Sella turcica (▶ Abb. 13.1) und somit leicht ventral der Kopfgelenke. Er verursacht in aufrechter Position eine leichte, permanente Aktivität der Nackenmuskeln (Kapandji 2006). Sie dient den Sinnesorganen (Augen, Ohren, Nase) durch Einstellung des Kopfes im Raum, wobei die Verbindungslinie der Augen immer horizontal bleiben soll. Penning (2000, S. 83) meint dazu: „Im Wachzustand ist der Kopf in Bezug auf den Rumpf fortdauernd in Bewegung, um die Umgebung mit den Sinnesorganen Augen, Ohren, Nase und Haut wahrzunehmen“. Die HWS ist vor allem ein Rotationsorgan. Da sich die HWS entwicklungsgeschichtlich vertikalisiert hat, ist beim Menschen die Rotation und nicht, wie etwa beim Vierfüßler, die Seitneigung die wichtigste Bewegung mit dem größten Bewegungsausmaß. Der Kopf muss sehr präzise und häufig auch sehr schnell gedreht werden. Dies erfordert sowohl eine feine Koordination als auch Kraft zur Beschleunigung und Abbremsung von Bewegungen. Neben diesen sehr mechanischen Aufgaben hat die zervikale Region weitere Funktionen. Der obere Wirbelkanal schützt lebenswichtige Zentren im verlängerten Rückenmark. Ventral der HWS liegen Leitungsorgane (Rachen, Kehlkopf, Luft- und Speiseröhre), die zum Verdauungsapparat und zu den oberen Luftwegen gehören. Nach Hoppenfeld (1992) gehört auch der Schutz der Aa. vertebrales zur Aufgabe der HWS.

Neben der Lendenwirbelsäule ist die Halswirbelsäule die Region mit den häufigsten Beschwerdebildern in der physiotherapeutischen Praxis. Neben Beschwerden direkt an der HWS werden durch zervikale Strukturen Schmerzen und neurologische Zeichen unterschiedlicher Ausprägung in der Peripherie verursacht (Schulter und Arm). Ähnliches haben wir bereits an BWS und LWS beobachtet. Neu hinzu kommt eine Reihe von Beschwerdebildern, die nur im Zusammenhang mit diesem Abschnitt der Wirbelsäule gesehen werden können und unter dem Oberbegriff „zervikozephale Beschwerden“ zusammengefasst werden: ● Schmerzen am Kopf ● tinnitusartige Erscheinungen ● Schluckbeschwerden ● vegetative Störungen im Bereich des Gesichtes ● Übelkeit und Schwindelerscheinungen

Teilschwerpunkt des Kopfes Kopfgelenke

Ansatzbereich der Nackenmuskeln

Muskelzug

Abb. 13.1 Schwerpunkt des Kopfes.

Der neuroanatomische Zusammenhang mit den Kerngebieten verschiedener Hirnnerven und die enorme propriozeptive Innervation der hochzervikalen Muskeln und Gelenke stellen einen wesentlichen Aspekt für den Zusammenhang zwischen HWS und Beschwerden in der Kopfregion dar. Für den Therapeuten sind die Beschwerdebilder, die mit der HWS in Verbindung gebracht werden können, eine besondere Herausforderung sowohl bei der Untersuchung, als auch bei der Behandlungsplanung. Will man hier seriös und effektiv arbeiten, muss man sich anatomisch und biomechanisch sehr gut auskennen. In der manualtherapeutischen Untersuchung und Behandlung dieser Region unterscheidet man globale und lokale Techniken, wie an anderen WS-Abschnitten auch. Lokale Untersuchungstechniken hinsichtlich Schmerzprovokation und Mobilität gewinnen an der HWS eine große Bedeutung, da Bewegungsdefizite, beispielsweise der Rotation, nicht so einfach einer betroffenen Etage zugeordnet werden können. Eine länger andauernde Reizung eines Facettengelenkes verursacht fortgeleitete Schmerzen (Referred Pain), deren Ausstrahlungsgebiet keine Höhenbestimmung durch die Schmerzangabe des Patienten erlaubt. Dreyfuss et al. haben bereits 1994 beschrieben, dass ein fortgeleiteter Schmerz aus dem Segment C 0–C 1 bis weit auf das Hinterhaupt hinauf reichen kann (▶ Abb. 13.2). Die Grundlage einer sicheren Grifftechnik bei der lokalen Untersuchung und Behandlung sind ein guter topografischer Hintergrund und eine sichere Palpation. Neben manuellen Techniken an den zervikalen Gelenken gibt es eine Reihe von Anwendungen an den Weichteilen der Region. Die Klassische Massagetherapie und

13

363

Halswirbelsäule Funktionsmassagen (▶ Abb. 13.3) sind wichtige Maßnahmen zur Erlangung einer lokalen und allgemeinen Entspannung. Massagen im Nacken, am Kopf und im Gesicht gehören zu den effektvollsten manuellen Entspannungsmöglichkeiten. Funktionsmassagen sind bei einem schmerzhaften Nacken der erste und häufig auch der zunächst einzige therapeutische Zugang.

Die Vielzahl an Lymphknoten im Bereich des Kopfes und Halses sind das Zielgebiet der Manuellen Lymphdrainage. Sie kann mit der Zielsetzung der allgemeinen Anregung der Lymphangiomotorik oder Entstauung der Hals-, Gesichts- und Kopfregion eingesetzt werden. Wichtige Leitstrukturen sind hier die Mm. sternocleidomastoideus und trapezius, Pars descendens, sowie die Fossa supraclavicularis.

13.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse 13.3.1 Einteilungen der HWS

Abb. 13.2 Referred Pain aus dem Segment C 0–C 1.

Man unterteilt die HWS wegen ihrer Morphologie, Biomechanik und des Vorhandenseins oder Fehlens von Bandscheiben anatomisch und funktionell in (▶ Abb. 13.4): ● obere, hochzervikale HWS: ○ anatomisch: Atlas und Axis ○ funktionell: Segmente C 0–C 1 und C 1–C 2, auch bandscheibenlose Segmente genannt ● untere HWS: ○ anatomisch: C 3–C 7 ○ funktionell: Segmente C 2–C 3 bis Th 3–Th 4, auch Bandscheibensegmente genannt

13.3.2 Anatomie der unteren HWS Die physiologische Krümmung der HWS ist eine Lordose, wobei das Segment C 3–C 4 in der Regel horizontal steht (White u. Panjabi 1990). Die Grundplatte des Wirbelkörpers ist sehr schmal. Dies begünstigt die Rotation. Das Foramen vertebrale ist durch lange Laminae des Arcus vertebrae sehr groß. Der Durchmesser des sehr großen Foramen vertebrale wird vom Rückenmark nur zu etwa 50 % genutzt. Die großen

obere HWS (C 1 – C 2)

untere HWS (C 3 – C 7) artikuläre Säule

Abb. 13.3 Funktionsmassagean der unteren HWS.

364

Abb. 13.4 Einteilung der HWS.

Halswirbelsäule Funktionsmassagen (▶ Abb. 13.3) sind wichtige Maßnahmen zur Erlangung einer lokalen und allgemeinen Entspannung. Massagen im Nacken, am Kopf und im Gesicht gehören zu den effektvollsten manuellen Entspannungsmöglichkeiten. Funktionsmassagen sind bei einem schmerzhaften Nacken der erste und häufig auch der zunächst einzige therapeutische Zugang.

Die Vielzahl an Lymphknoten im Bereich des Kopfes und Halses sind das Zielgebiet der Manuellen Lymphdrainage. Sie kann mit der Zielsetzung der allgemeinen Anregung der Lymphangiomotorik oder Entstauung der Hals-, Gesichts- und Kopfregion eingesetzt werden. Wichtige Leitstrukturen sind hier die Mm. sternocleidomastoideus und trapezius, Pars descendens, sowie die Fossa supraclavicularis.

13.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse 13.3.1 Einteilungen der HWS

Abb. 13.2 Referred Pain aus dem Segment C 0–C 1.

Man unterteilt die HWS wegen ihrer Morphologie, Biomechanik und des Vorhandenseins oder Fehlens von Bandscheiben anatomisch und funktionell in (▶ Abb. 13.4): ● obere, hochzervikale HWS: ○ anatomisch: Atlas und Axis ○ funktionell: Segmente C 0–C 1 und C 1–C 2, auch bandscheibenlose Segmente genannt ● untere HWS: ○ anatomisch: C 3–C 7 ○ funktionell: Segmente C 2–C 3 bis Th 3–Th 4, auch Bandscheibensegmente genannt

13.3.2 Anatomie der unteren HWS Die physiologische Krümmung der HWS ist eine Lordose, wobei das Segment C 3–C 4 in der Regel horizontal steht (White u. Panjabi 1990). Die Grundplatte des Wirbelkörpers ist sehr schmal. Dies begünstigt die Rotation. Das Foramen vertebrale ist durch lange Laminae des Arcus vertebrae sehr groß. Der Durchmesser des sehr großen Foramen vertebrale wird vom Rückenmark nur zu etwa 50 % genutzt. Die großen

obere HWS (C 1 – C 2)

untere HWS (C 3 – C 7) artikuläre Säule

Abb. 13.3 Funktionsmassagean der unteren HWS.

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Abb. 13.4 Einteilung der HWS.

13.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse Foramina vertebralia geben dem Duralsack bei großen HWS-Bewegungen reichlich Raum für Mitbewegungen (White u. Panjabi 1990). Die breiten Laminae sind sehr ausgeprägt (etwa 1 Zeigefinger breit) und durch die Muskeln tastbar. Sie liegen auf gleicher Höhe wie die Procc. spinosi. Am Ende der Lamina sitzen als Vorwölbung die Gelenkfortsätze. Die zygapophysialen Gelenke (ZAG) bilden die „artikuläre Säule“ (▶ Abb. 13.4). Sie ist fast genauso breit wie die Reihe der Procc. transversi. Die sehr laterale Position der Gelenke erzeugt eine sehr breite Basis des gesamten Wirbels. Die untere HWS eignet sich von daher schlecht für Seitneigungen. Eine schmale Basis (geringer Links-rechtsAbstand der ZAG) wie in der LWS begünstigt eine Seitneigung eher. Die Procc. spinosi sind zwischen C 2 und C 6 gespalten. Bei C 2 ist diese Spaltung sehr groß und extrem asymmetrisch. Bis C 6 werden die Procc. spinosi kleiner. C 7 hat wieder einen großen Proc. spinosus, der nicht gespalten ist. Die asymmetrischen Spaltungen der Procc. spinosi greifen bei Extension ineinander und optimieren so das Bewegungsausmaß für die Lordose.

Der Proc. transversus besteht aus 2 Tuberkula, die lateral miteinander verbunden sind und an einer Stelle eine Loch formen. Dieses Foramen transversarium hat einen Durchmesser von etwa 4,5–5 mm und entspricht daher nahezu dem Durchmesser der A. vertebralis. Das Tuberculum anterius ist ein Rippenrudiment, das Tuberculum posterius der eigentliche Querfortsatz. Beide bilden den Proc. transversus eher zu einer Rinne als einem Fortsatz aus. Die Rinne ist schräg nach ventrolateral ausgerichtet (▶ Abb. 13.5). Der mediale Anteil der Rinne ist vom Durchmesser her am engsten und von allen Seiten her knöchern abgegrenzt. Die ventrale Begrenzung bildet der Proc. uncinatus, die posteriore der Proc. articularis superior des ZAG. An dieser knöchernen Engstelle kreuzen die Arterie und der Ramus ventralis des Spinalnervs ihre Bahnen (▶ Abb. 13.6). Beide Leitungsbahnen können infolge erheblicher degenerativer Veränderungen des Segmentes von osteophytären Ausziehungen beengt und irritiert werden. An keinem anderen Abschnitt der Wirbelsäule hat eine Stenose des Foramens intervertebrale eine so häufige neurale Irritation zur Folge.

Proc. uncinatus

Proc. articularis superior Proc. transversus

Lamina arcus vertebrae

Foramen vertebrale

Proc. spinosus

Abb. 13.5 Typischer Wirbel der unteren HWS.

A. vertebralis

13 Proc. uncinatus

R. ventralis

Abb. 13.6 Neurovaskuläre Kreuzung.

Abb. 13.7 Horizontale Rissbildungen der zervikalen Bandscheibe.

365

Halswirbelsäule Eine besondere Erwähnung gilt den Procc. uncinati (auch Unci corporis genannt), seitlichen Randleisten auf den Deckplatten des Wirbelkörpers. Ihre Ausprägung nimmt von kaudal nach kranial zu. An der Deckplatte von C 3 sind sie am größten. Sie entwickeln sich zwischen dem 2. und 24. Lebensjahr und bilden später mit dem darüber liegenden Wirbelkörper die Unkovertebralgelenke. Im Verlaufe dieser Entwicklung erhalten die Bandscheiben etwa ab dem 10. Lebensjahr außen seitliche Einrisse (▶ Abb. 13.7), die bis zu einer Zweiteilung des Diskus führen (Rauber u. Leonhardt 1987). Dabei tritt weder Nukleusmaterial aus, noch verliert das Segment hierdurch an Höhe. Diese Zweiteilung ist zwischen dem 45. und 50. Lebensjahr abgeschlossen. Hierbei handelt es sich um eine natürliche Anpassung der Bandscheiben auf die große Translation der Wirbel bei der Vor- und Rückneigung des Kopfes. Die Aufgabe der Procc. uncinati ist, diese Translation seitlich zu schienen. Die Zweiteilung der Bandscheibe ist der Grund dafür, weshalb es bei einem Schleudertrauma vor allem im Segment C 2–C 3 in Sekundenbruchteilen zu einer Höhenverlängerung um bis zu 2,5 cm kommen kann (abnorme Separationsfähigkeit).

Bedeutung für die Palpation Vergleichsweise viele knöcherne Strukturen, Gelenke und Muskeln lassen sich an der HWS erreichen und palpatorisch unterscheiden. Wichtige Referenzpunkte sind erreichbare Procc. spinosi (C 2, C 5–C 7) und die Laminae jedes zervikalen Wirbels ab C 2. Für die palpatorische Orientierung sehr angenehm ist die Tatsache, dass Proc. spinosus und Lamina eines Wirbels auf gleichem Niveau liegen. Dies hilft bei der exakten Höhenlokalisation verschiedener Strukturen, z. B. ZAG und Proc. transversus. Die Laminae können zur Fixation eines Wirbels bei bestimmten manualtherapeutischen Techniken genutzt werden. Bei der kraniokaudalen Palpation über alle erreichbaren ZAG (artikuläre Säule) ergeben die vorgewölbten Processus und die eher konkaven Anteile dazwischen eine Wellenform (▶ Abb. 13.8). Die Ausrichtung der zervikalen Procc. transversi ist schräg nach ventrolateral, sodass die Rami ventrales und der Plexus brachialis im Raum zwischen den Mm. sternocleidomastoideus und trapezius, Pars descendens, palpatorisch erreichbar sind Plexus brachialis (S. 378).

366

Abb. 13.8 Palpation eines Zygapophysealgelenkes (ZAG).

13.3.3 Biomechanik der unteren HWS Die große Beweglichkeit der HWS ist von Alter und Geschlecht abhängig (Penning 2000). Junge Frauen sind am beweglichsten. Die Bewegungen mit der größten Reichweite sind Rotationen, gefolgt von Flexion und Extension. Seitneigungen sind am geringsten möglich. Sie sind für die HWS recht kompliziert auszuführen und dienen hauptsächlich als Begleitbewegungen bei der Rotation (Bewegungskopplung). Die Ausrichtung der zygapohysialen Gelenkflächen bestimmt das Bewegungsverhalten für Rotation und Seitneigung maßgeblich. Sie sind groß, flach und durchschnittlich um 45° nach ventral und kranial zur Deckplatte ausgerichtet (▶ Abb. 13.9; Dvořák 1998). Penning (2000, S. 89) berichtet von einer großen Streuung in den Winkelmaßen. Im Zusammenhang mit der zervikalen Lordose kann man festhalten, dass sich die Gelenkflächen im Allgemeinen nach ventral und kranial in Richtung Orbita ausrichten.

13.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

Achse für Rotation und Seitneigung

ventral dorsal

45°

Achse für Flexion und Extension

Abb. 13.11 Lage der Umdrehungsachsen. Abb. 13.9 Ausrichtung der ZAGs in der Sagittalebene.

Divergenz Konvergenz

Ansicht von dorsal

Abb. 13.12 Bewegungsverhalten der Gelenkflächen bei Seitneigung und Rotation nach rechts.

Abb. 13.10 Ausrichtung der ZAGs in der Frontalebene.

In der Frontalebene sind nahezu alle Gelenkspalten der unteren HWS horizontal ausgerichtet. Lediglich im Segment C 2–C 3 gibt es eine Anwinkelung nach kranial (▶ Abb. 13.10). Als Folge der Gelenkflächenausrichtungen ergibt sich eine zwangsläufige Kopplung von Rotation und Seitneigung mit einer schrägen Lage der Umdrehungsachse (▶ Abb. 13.11). Eine Rotation nach rechts wird demnach von einer Seitneigung nach rechts begleitet, unabhängig davon, ob sich die HWS in einer Flexions- oder Extensionsposition befindet. Auch eine Seitneigung nach rechts geht mit einer Rotation nach rechts einher. Das Ausmaß der begleitenden Bewegung ist an der HWS erstaunlich groß. Lysell (1969) gibt an, dass eine Seitneigung im Segment C 2–C 3 von ca. 8° mit einer gekoppelten Rotation von ca. 6° verbunden ist.

Bei einer Seitneigung rechts mit der gleichsinnigen Rotation gleiten die Gelenkflächen auf der rechten Seite ineinander (Konvergenz) wie bei einer Extension. Auf der linken Seite gleiten sie voneinander (Divergenz), ähnlich dem Verhalten bei Flexion (▶ Abb. 13.12).

Bedeutung für die Palpation In der Bewegungspalpation von Facettengelenken der unteren HWS (ab C 2–C 3 nach kaudal) machen wir uns beide zuvor beschriebenen Zusammenhänge zunutze: Ausmaß der Kopplung und Konvergenzbewegung der Gelenkflächen. Bei der Palpation von ZAG-Bewegungen versucht man, das nach hinten und abwärts gerichtete Schwenken des Gelenkfortsatzes zu spüren (Kap. 13.7.5). Daher werden wir eine Seitneigung mit Rotation nach rechts einbringen, wenn wir auf der rechten Seite tasten. Der Gelenkfortsatz kommt somit dem spürenden Finger entgegen. Das Einbringen der Bewegung erfolgt über eine Seitneigung, die ein großes Maß an Rotation in diesem Segment bewirkt.

13

367

Halswirbelsäule

Translation (Gleiten)

Abb. 13.13 Lage der Umdrehungsachse für Flexion und Extension C 2–C 3.

Kippverhalten

Abb. 13.14 Lage der Umdrehungsachse für Flexion und Extension C 6–C 7.

Würde man eine Rotation als erstes einbringen, würde eine lange Zeit vergehen, bis C 1–C 2 zunächst mit der Rotation fertig ist und die Rotation auf die unteren Segmente überträgt. Das Bewegungsverhalten bei Flexion und Extension wird von Penning (2000) sehr gut erklärt. Er beschreibt Untersuchungsergebnisse über die momentanen Rotationsachsen für Flexion und Extension, die je 5° Bewegung röntgenologisch bestimmt werden. Dabei fand man eine Relation der oberen Gelenkfortsätze zur Deckplatte, die wiederum die Lage der Umdrehungsachse bestimmt. In den oberen Bandscheibensegmenten ist die Achse im unteren Wirbel, sodass es bei Flexion und Extension neben dem Kippen auch zu einer großen Translationsbewegung des oben liegenden Wirbels kommt (▶ Abb. 13.13). In den unteren Bandscheibensegmenten liegt die Achse nah an der Bandscheibe, die Kippbewegung ist daher sehr groß und die Translation gering (▶ Abb. 13.14). Die große Translation, vor allem im Segment C 2–C 3, erzeugt große Abscherkräfte auf die Bandscheibe. Dies

368

Abb. 13.15 Unkovertebralgelenke bei Seitneigung.

muss im unmittelbaren Zusammenhang mit der Teilung der Bandscheiben und der Entwicklung der Procc. uncinati gesehen werden. Die Unkovertebralgelenke wiederum kontrollieren die Seitneigung und sorgen dafür, dass das Kopplungsverhalten zwischen Rotation und Seitneigung in dem Segment schnell an das nächst untere Segment weitergegeben wird (▶ Abb. 13.15). Als nachträglich entwickelte Gelenke können auch sie bei Erkrankung lokale Beschwerden bei Seitneigung seitlich an der HWS verursachen.

13.3.4 Anatomie von Hinterhaupt und oberer HWS Die Aufgabe der hochzervikalen Wirbelsäule ist die Unterstützung der Sinnesorgane und des Gleichgewichtsorgans (Herdman 2000), z. B. durch Kopplung von Augenund Kopfbewegungen (zervikookulärer Reflex). Das Ziel dabei ist die Stabilisierung des Blickfeldes. Die obere HWS „beinhaltet die meist komplizierten, einzigartigen und hoch spezialisierten Strukturen“ der Wirbelsäule (White u. Panjabi 1990, S. 82). Der Übergang von Kopf zur HWS ist anatomisch mit einer großen Variationsbreite versehen. Allerdings haben diese Normabweichungen nur in einem begrenzten Maß Auswirkungen auf die Erwartungen an eine lokale Palpation knöcherner Strukturen. Einige Variationen haben eine derart starke und sogar pathologische Auswirkung, dass sie als Fehlbildung beschrieben werden. Nachfolgende Fehlbildungen haben einen direkten Einfluss auf die Palpation: ● Geringe Ausprägungen der Kondylen des Okziput führen zu einer Vorwölbung des Dens axis in das Schädelinnere und werden als „primäre basale Impression“ bezeichnet (Lanz u. Wachsmuth 1979, S. 309), die möglicherweise neurale Ausfälle zur Folge haben kann. Bei flach ausgebildete Kondylen ist der Querfortsatz des Atlas palpatorisch schlecht zu erreichen, da er sich direkt unter dem Okziput befindet.

13.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse ●

Bei Verschmelzungen des Atlas mit dem Okziput fehlen die Bewegungen im Segment C 0–C 1 (Atlasassimilationen; weniger als 1 % aller Individuen).

Os occipitale Das Hinterhauptsbein hat 2 große Bereiche: ● Rückseite: Squama occipitalis ● Unterseite: Partes laterales und Pars basilaris Die Squama occipitalis (▶ Abb. 13.16) ist der rundliche hintere Bereich der Schädelkalotte und über die Sutura lambdoidea mit den Ossa parietale und über kleinere Suturen seitlich mit den Ossa temporale verbunden. Sie teilt sich in 2 flache Bereiche mit unterschiedlichen Funktionen: Planum occipitale und Planum nuchale. Das Planum nuchale ist von Nackenmuskeln bedeckt und gegenüber dem Planum occipitale durch die Linea nuchae superior abgeteilt. Vor allem auf dem Planum nuchale befinden sich quere Linien und Leisten, Erhebungen und Felder, die recht gut palpiert werden können. Die markanteste Stelle ist die Protuberantia occipitalis externa. Sie stellt einerseits das Ende einer Crista dar, die mittelständig vom Hinterhauptsloch nach dorsal und kranial zieht. Anderseits markiert sie die Insertionsstelle des Lig. nuchae. Lanz und Wachsmuth (1979, S. 314 f.) beschreiben diesen Referenzpunkt sehr genau. Die Protuberantia ist individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt und häufig nach unten zugespitzt. Nur bei ca. 11 % der Individuen erscheint sie kräftig entwickelt. Der am meisten hervorspringende Punkt heißt „Inion“. Bei Haustieren (Hund und Katze) ist diese Erhebung viel ausgeprägter als beim Menschen, da hier das Lig. nuchae größere Lasten übernimmt und somit einen größeren Zug an der Insertion ausübt.

Squama occipitalis

In Bezug zur Protuberantia kann die Lage der 3 Querleisten beschrieben werden. ● Linea nuchae suprema: Sie geht direkt von der Protuberantia konvex nach lateral und etwas kranial aufsteigend weg. Sie ist Ursprungslinie flächenhafter Muskeln, die zur mimischen Muskulatur gehören und die Kopfhaut und auch die Ohren etwas bewegen können. Selten ist sie stark ausgeprägt, und sie kann auch ganz fehlen. ● Linea nuchae superior: Etwas unterhalb der Protuberanz geht diese Linie ebenfalls großbogig konvex zur Seite weg. Lanz und Wachsmuth (1979, S. 314) beziffern ihre starke Ausprägung mit ca. 37 %. Direkt unterhalb dieser Linie inserieren die großen autochthonen Muskeln: Mm. semispinales capitis, splenius capitis und trapezius, Pars descendens. ● Linea nuchae inferior: Gut 1 Fingerbreit unterhalb der Protuberanz verläuft diese Linie zunächst quer, knickt dann in ihrem Verlauf nahezu rechtwinklig nach vorne ab. Der quere Anteil trifft seitlich die Linea nuchae superior und kann mit ihr eine palpable Erhebung bilden: Proc. retromastoideus (Lanz u. Wachsmuth 1979, S. 315). Die inferiore Linea nuchae markiert den Insertionsbereich der tiefen Nackenmuskeln (Mm. recti und obliquii capitis). Die Unterseite des Hinterhauptbeins ist zweigeteilt (▶ Abb. 13.17). Für die Partes laterales ist der Bereich um das Foramen magnum kennzeichnend. Es erlaubt den Durchtritt für das Rückenmark und andere Strukturen bei einem Durchmesser von 3-3,5 cm und einem randständigen Wulst. Seitlich befinden sich 2 bikonvexe Kondylen, die sich bei 5 % aller Menschen in zwei Teile teilen (Rauber u. Leonhardt 1987). Die Unterteilung des Gelenkknorpels ist Ausdruck für die unterschiedlichen Belastungen

Linea nuchae suprema

Squama occipitalis Planum nuchale

Linea nuchae superior

Partes laterales

13

Foramen magnum

Linea nuchae inferior

Pars basilaris

Planum nuchale

Abb. 13.16 Os occipitale von dorsal.

Abb. 13.17 Unterseite des Hinterhauptes.

369

Halswirbelsäule der Knorpelflächen bei Flexion und Extension im Segment C 0–C 1. Wie bereits erwähnt, ist die Anatomie auch hier sehr variantenreich. Ihre Ausrichtung konvergiert nach ventral. Die Pars basilaris gleicht einem keilförmigen Knochenstück, dass nach vorne eine Verbindung zum Os sphenoidale eingeht.

Atlas Die besondere Aufgabe des Atlas ist seine Funktion als Adapter oder Zwischenscheibe bei der Vermittlung der vorherrschenden Flexion und Extension im Segment C 0– C 1 einerseits zur Rotation in C 1–C 2 andererseits. Der 1. Halswirbel besteht aus einem Ring mit zierlichem vorderem und hinterem Bogen (▶ Abb. 13.18). Der frühere Wirbelkörper von C 1 ist jetzt der Dens von C 2. Dieser wird am Arcus anterior gelenkig aufgenommen und mit einem kräftigen queren Band an dieser Stelle fixiert. Einen Dornfortsatz hat der Atlas ebenfalls nicht. Am atlantaren Ring besteht lediglich ein Tuberculum anterius und posterius. Seitlich an seinem Ring trägt der Atlas 2 sehr kräftige Knochenblöcke. Diese Massae laterales tragen kaudal und kranial Gelenkflächen. Die superioren Gelenkflächen sind bikonkav und bilden mit den okzipitalen Kondylen die oberen Kopfgelenke (C 0–C 1). Sie haben bei etwa 30 % variabel angelegte Unterbrechungen in ihrem Knorpelbelag. In Segment C 0–C 1 herrscht durch ähnliche Krümmungsradien der Gelenkflächen große Kongruenz und viel Formschluss. Die inferioren Gelenkflächen sind rund und knöchern konkav. Ein besonderes Kennzeichen des Atlas sind seine weit nach außen ragenden Querfortsätze. Somit wird der Atlas zum breitesten aller Halswirbel. Lanz und Wachsmuth (1979) geben den Abstand der Querfortsatzspitzen bei männlichen Mitteleuropäern mit ca. 8,5 cm an. Das entspricht etwa dem gleichen Abstand der Transversispitzen bei Th 1 (Loyd et al. 2004). Die Spitze eines Querfortsatzes ist zwischen dem Proc. mastoideus und dem Unter-

Arcus anterior

Massa lateralis

Proc. transversus Arcus posterior

kieferast zu spüren. Die Varianten in Form und Länge des Querfortsatzes können zu Fehldeutungen führen, wenn man seitendifferente Palpationsergebnisse hat. Dörhage et al. (2004) haben in einer großen Röntgenstudie die hohe Variationsanatomie der hochzervikalen Region erneut bestätigt: „Wir haben 212 GWS (GanzwirbelsäulenRöntgenaufnahmen) mit Beurteilbarkeit der Kopfgelenke und der Halswirbelsäule von subjektiv beschwerdefreien Probanden ausgewertet. Die Variabilität der asymmetrischen Einstellungen der beteiligten Gelenkpartner war groß. Eine Symmetrie in der Stellung von Okziput, Atlas und Axis zueinander konnte nur in 6 % der Fälle gesehen werden.“ Sie stellten auch heraus, dass ein Links-rechtsUnterschied im Ausmaß der Kopfbewegungen „jedoch nicht mit der im Röntgenbild festgestellten anatomischen Stellung der Kopfgelenke korreliert“. Diese Erkenntnisse prägen natürlich auch die Erwartung an die Palpation der Querfortsätze von C 1. Eine seitengleiche Länge ist demnach eher nicht zu erwarten und nicht ohne weitere Bewegungsdiagnostik als unnormal einzustufen.

Axis Der 2. Halswirbel ist ein Übergangswirbel (▶ Abb. 13.19). Nach oben hin ist er ein Wirbel der oberen HWS. Die Unterseite ist wie in der unteren HWS geformt. Der Dens C 2 ist durchschnittlich etwa 1,5 cm lang, endet mit einer abgerundeten Spitze und ist im Bezug zum Wirbelkörper um 11–14° nach hinten geneigt (Lanz u. Wachsmuth 1979). Er ist der sicherste ossäre Orientierungspunkt der oberen HWS im Röntgenbild. Er beherbergt die Achse für die ausgiebigen Rotationen C 1–C 2. Die ventrale Seite des Dens artikuliert mit dem Arcus anterior des Atlas. An der hinteren Seite artikuliert er mit dem Lig. transversum atlantis. Die Gelenkflächen nach superior liegen direkt neben dem Dens. Sie sind bikonvex geformt und bilden mit den inferioren Gelenkflächen des Atlas die lateralen atlantoaxialen Gelenke, die eigentli-

Foramen vertebrale

Proc. transversus Tuberculum posterius

Lamina arcus vertebrae

Abb. 13.19 Axis. Abb. 13.18 Atlas.

370

Dens axis

Proc. spinosus

13.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse chen Facettengelenke in C 1–C 2. Das wichtigste Merkmal des Axis für die Palpation ist sein besonders prominenter und gegabelter Proc. spinosus. Er ist der wichtigste Referenzpunkt in der oberen zervikalen Region. Er liegt mit den Laminae des Wirbelbogens und mit dem Wirbelkörper auf gleicher Höhe. Im Vergleich zum Atlas sind die Querfortsätze deutlich kürzer. Die großen Foramina vertebralia von Atlas und Axis geben dem Duralsack mit Rückenmark viel Platz für Mitbewegungen bei ausgiebigen HWS-Bewegungen. Der Duralsack liegt nahe der Umdrehungsachse für die Rotation C 1–C 2, sodass er bei großen Rotationsbewegungen nur gering verformt und nicht knöchern eingeklemmt wird (White u. Panjabi 1990).

13.3.5 Ligamente der HWS Von den vielen ligamentären Strukturen an der HWS sind in diesem Zusammenhang nur wenige Bänder von entscheidender Bedeutung.

Lig. nuchae Dieses lange Band erstreckt sich vom Proc. spinosus C 7 bis zur okzipitalen Protuberanz und tritt an die Stelle der Ligg. supraspinalia (▶ Abb. 13.20). Es hat einen tiefen laminären und oberflächigen funikulären (ligamentartigen) Anteil und direkte Verbindungen zwischen dem Okziput und den Procc. spinosi von C 5–C 7. Der laminäre Anteil ist eine dünne Trennwand (Septum) aus elastischen Fasern. Der funikuläre, dünne bandförmige Teil an der Oberfläche wird aus aponeurotischen Einstrahlungen folgender Muskeln gebildet: ● M. trapezius ● M. splenius capitis ● M. serratus posterior superior ● M. rhomboideus minor

Protuberantia occipitalis externa

Er ist bei ausgiebigem Vorneigen des Kopfes zu spüren. Das Lig. nuchae hält den Kopf bei maximalem Vorneigen etwas zurück und verhindert so, dass die hochzervikalen Gelenke in die maximale Endposition gehen. Vermutlich trägt dies zum Schutz des Rückenmarks bei. Bei Retraktion des Kopfes spannt es sich auch an und zieht die tieferen Wirbel mit nach hinten, sodass eine echte Extension der HWS entsteht.

Lig. transversum atlantis Dieses Band ist der transversale Teil eines kreuzförmigen Bandes (▶ Abb. 13.21). Es entspringt von der Innenseite der Massae laterales des Atlas und ist 2 cm lang. In der Mitte ist es 2 mm dick und etwa 1 cm hoch. Es besteht aus sehr straffem Bindegewebe und ist sehr fest. Frühe Studien von Anatomen haben bereits ergeben, dass es eine Zugfestigkeit von ca. 130 kg hat (Macalister 1893 in Lanz u. Wachsmuth 1979). An der Vorderseite hat es einen dünnen hyalinen Knorpelbelag und bildet mit dem Dens einen Teil der medianen atlantoaxialen Gelenke. Es verläuft in einer zirkulären Rinne an der Rückseite des Dens unterhalb seiner Spitze (wie an einem „Kollum“). Somit befindet sich der Dens in einem, sich nach unten verjüngenden, osteofibrösen Trichter. Selbst erhebliche Zugkraft (bis zu 40–50 kg) scheint nicht auszureichen, um bei einem gesunden Ligament eine Separation zwischen C 1 und C 2 zu bewirken. Somit gibt es hier keine therapeutische Traktion. Die Hauptaufgabe des Ligaments ist es, den Dens vom Duralsack (mit dem Rückenmark) abzuhalten. In der Physiotherapie kennt man einige Tests, um die Stabilität dieses wichtigen Bandes zu überprüfen. Weiterhin steuert es die Biomechanik während der Flexion und Extension zwischen Atlas und Axis und stabilisiert die atlanto-axialen Gelenke durch Kraftschluss.

Lig. transversum atlantis

funikulärer Anteil (ligamentartig)

Dens axis Massa lateralis

13

laminärer Anteil

Proc. spinosus C 5

Abb. 13.20 Lig. nuchae.

Abb. 13.21 Lig. transversum atlantis.

371

Halswirbelsäule

Okziput

Ligg. alaria

Extension

Atlas

okzipitale Portionen

Axis

atlantare Portionen

Ansicht von dorsal

Abb. 13.22 Ligg. alaria.

Ligg. alaria Die 4 Ligg. alaria sind ebenfalls sehr fest (starr und steif) und bestehen vorwiegend aus Typ-I-Kollagen. Man unterscheidet 2 Gruppen von Bandzügen (▶ Abb. 13.22): ● Ligg. alaria, okzipitale Portionen: Diese Anteile stellen eine Verbindung von der hinteren oberen Seite des Dens direkt zum Okziput her. Sie sind 11–13 mm lang und im Durchmesser ca. 3–6 mm stark (Dvorak u. Panjabi 1987). Sie übertragen eine Seitneigung des Kopfes direkt zu C 2. ● Ligg. alaria, atlantare Portionen: Sie liegen in Höhe des Lig. transversum, verbinden die Seite des Dens mit dem Arcus anterior und sind daher nur ca. 3 mm lang. Nicht bei jeder Person sind diese Ligamente vorhanden (Dvorak u. Panjabi 1987, Osmotherly et al. 2013). Ihre Funktionen sind unter anderem das Mitnehmen des Dens axis bei Vor- und Rückneigung des Kopfes, Begrenzung der atlantoaxialen Rotation und Übertragung der Seitneigung des Kopfes in eine Rotation des Axis. Sie haben somit eine zentrale biomechanische Steuerungsfunktion der hochzervikalen Region.

13.3.6 Biomechanik der oberen HWS Atlantookzipitale Gelenke (obere Kopfgelenke) Die Hauptbewegungen in den oberen Kopfgelenken sind in der Sagittalebene (▶ Abb. 13.23). Flexion und Extension zusammen haben eine Ausmaß von etwa 27° (Panjabi et al. 2001). Wenn man dieses Ausmaß weiter unterteilt, ergeben sich 7,2° Flexion und 20,2° Extension. C 0–C 1 ist als ein „Extensor“ zu betrachten. Rotation und Seitneigung sind zu jeder Seite jeweils um ca. 5° möglich.

372

Abb. 13.23 Bewegungen in den oberen Kopfgelenken.

Abb. 13.24 Laterale untere Kopfgelenke.

Laterale atlantoaxiale Gelenke Die Gelenkflächen der lateralen unteren Kopfgelenke sind in der Sagittalebene knöchern eher flach oder konkav ausgebildet (▶ Abb. 13.24). Der Gelenkknorpel ist mittelständig besonders dick und formt damit 2 Konvexitäten, die aufeinander stehen und nur punktuellen Kontakt haben. Diese instabile Position mit geringer Reibung erlaubt schnelle Bewegungen, erfordert aber viel Kraftschluss für die Wahrung des Gelenkflächenkontaktes. Die Gelenkkapsel ist insgesamt sehr groß, um alle Bewegungen zuzulassen. Die Inkongruenz der Gelenkflächen wird durch meniskoide Einstülpungen der Gelenkkapsel ausgeglichen. Die Hauptbewegung im Segment C 1–C 2 ist bekanntermaßen die axiale Rotation. Hierzu und zur Seitneigung findet man unterschiedliche Angaben in der Literatur. Wird C 2 fixiert, erhält man zu jeder Seite ca. 20° Rotation. Wird C 2 nicht fixiert, ist ein Bewegungsausmaß von ca. 40° möglich.

13.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

M. levator scapulae

M. trapezius

Mm. rhomboidei

Abb. 13.25 Funktion der Ligg. alaria; Ansicht von dorsal.

Flexion und Extension zusammen haben ein Ausmaß von etwa 20°, wobei die Anteile für Flexion bzw. Extension gleichmäßig verteilt sind, sonst hätte man auch unterschiedliche Bewegungsausmaße bei Rotation. Die Angaben über die Seitneigung variieren zwischen 0 und 6,5°.

Bewegungskopplung bei Seitneigung des Kopfes Bei einer Seitneigung nach links spannt sich zunächst der okzipitale Anteil der alaren Bänder auf der rechten Seite an (▶ Abb. 13.25). Die Rückseite des Dens axis wird hierdurch ohne Zeitverzögerung mitgezogen und bewirkt eine sofortige Drehung des Axis im Raume nach links. Diese Bewegungsübertragung ist die stärkste Kopplung am Bewegungsapparat. Man erkennt sie an der Bewegung des Proc. spinosus von C 2 nach rechts. Die Bewegung des Processus wird zur Überprüfung der Stabilität der Ligg. alaria herangezogen (Kap. 13.8.2). Dieser Bewegungszusammenhang zwischen C 0 und C 2 lässt aber keine Rückschlüsse auf die Bewegungskopplungen der einzelnen Segmente zu. Hier können Seitneigung und Rotation ganz individuell koppeln und sind daher bei jedem Menschen separat zu überprüfen. Letztlich wird die anatomisch variable Ausprägung der Gelenkflächen als Ursache hierfür vermutet.

13.3.7 Dorsale Muskulatur An der HWS sind die Muskeln des medialen Traktes der autochthonen Muskeln die wichtigsten Halter und Beweger und quellen aus der Knochenrinne zwischen Querund Dornfortsatz heraus (z. B. Mm. semispinalis cervicis und capitis).

Abb. 13.26 Heterochtone Muskeln des Nackens.

Heterochthone Muskulatur Auch an der HWS versteht man hierunter die Muskeln, die nicht urständig an ihrem jetzigen Ort angelegt wurden und von den Rami ventrales der Spinalnerven versorgt werden. Hier sind bedeutend (▶ Abb. 13.26): ● M. trapezius, Pars descendens: Verlauf von Linea nuchae superior und Lig. nuchae zum lateralen Drittel der Klavikula ● M. levator scapulae: Verlauf von Procc. transversi C 1–C 4 zum Angulus superior scapulae ● Mm. scaleni: Verlauf siehe Kapitel „ventrale Muskeln“ ● M. sternocleidomastoideus: Verlauf vom Proc. mastoideus zum Manubrium sterni und zum medialen Drittel der Klavikula

Autochthone Muskulatur Entwicklungsgeschichtlich betrachtet gibt es auch an der HWS eine Reihe urständiger Muskeln, die jeweils von den Rami dorsales der Spinalnerven innerviert werden. Von den großen autochthonen Muskeln (zervikal bzw. okzipital) sind wichtig: ● Mm. semispinalis cervicis und capitis (▶ Abb. 13.27): Verlauf des Mm. semispinalis capitis: von Proc. transversi C 3–Th 3 zu einem Ansatzfeld zwischen Lineae nuchae superior und inferior, das nach Lanz und Wachsmuth (1979) etwa 3 cm breit und 2 cm hoch ist ● Mm. splenius cervicis und capitis (▶ Abb. 13.27): Verlauf des M. splenius capitis: von Lig. nuchae und Procc. spinosi C 3–Th 3 bis Linea nuchae superior

13

373

Halswirbelsäule

Protuberatia occipitalis externa M. semispinalis capitis

M. splenius capitis

Linea nuchae superior M. splenius capitis

M. sternocleidomastoideus

Abb. 13.27 M. semispinalis capitis und M. splenius capitis.





Mm. longissimus cervicis und capitis: Verlauf des M. longissimus capitis: Querfortsätze der unteren HWS und oberen BWS bis Proc. mastoideus Mm. longus colli und capitis: Verlauf siehe Kap. 13.3.8.

Bedeutung für die Palpation In der palpatorischen Orientierung am Hinterhaupt treffen wir auf eine ganze Ansammlung von Muskeln. Lediglich die oberflächigen Muskeln lassen sich sicher palpieren (▶ Abb. 13.28). Dazu kann man sich direkt neben der Dornfortsatzreihe oder am Hinterhauptsrand orientieren und mit zusätzlichen Aktivitäten die jeweiligen Muskeln anspannen lassen, um ihre Lage zu bestätigen. In direkter Nachbarschaft der Procc. spinosi liegt der Bauch des M. semispinalis. Dieser mehrsegmentale Vertreter des schrägen Systems der autochthonen Muskeln füllt den Raum zwischen der Mittellinie und den Laminae arcus vertebrae. Seine Insertion ist direkt unterhalb der Linea nuchae superior. Hier wird er zur Hälfte in seiner Breite von der okzipitalen Insertion des M. trapezius, Pars descendens überdeckt, bevor dieser an der Linea nuchae superior ansetzt. Palpatorisch kann man das über die Verfolgung des ventralen Muskelrandes vom Ansatz an der Klavikula nach kraniomedial nachvollziehen. Die Insertion des M. semispinalis capitis nimmt etwa ein Drittel einer großbogigen Linie am Hinterhauptsrand zwischen der Mittellinie und der Spitze des Proc. mastoideus in Anspruch. Das mittlere Drittel dieser Strecke füllt die Insertion des M. splenius capitis. Dieser kräftige Rotator und Extensor gehört zum spinotransversalen System. Das laterale Drittel nutzt der M. sternocleidomastoideus, der nicht nur am Mastoid direkt, sondern auch etwas dorsal davon ansetzt. Dies lässt sich in der seitlichen Ansicht dieser Region gut erkennen (▶ Abb. 13.29). Der M. sternocleidomastoideus dient während der Palpation der Querfort-

374

M. trapezius pars descendens

Abb. 13.28 Oberflächige Muskeln des Nackens in der dorsalen Ansicht.

Linea nuchae superior

M. splenius capitis

M. semispinalis capitis M. sternocleidomastoideus

Abb. 13.29 Oberflächige Muskeln des Nackens in der seitlichen Ansicht.

sätze C 1-C 3 als hilfreiche Orientierung. Regelmäßig liegt der Proc. transversus von C 1 vor dem Muskel, der von C 2 direkt hinter dem Muskel und der Proc. transversus von C 3 liegt an seinem Hinterrand. Will man die Querfortsätze sicher aufspüren, dient der Muskel als Leitstruktur, muss aber häufig beiseite geschoben werden, um näher an die Procc. transversi heranzukommen.

13.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

M. rectus capitis posterior minor

Linea nuchae superior

Linea nuchae inferior

M. obliquus capitis superior M. rectus capitis posterior major M. obliquus capitis inferior

Atlas, Proc. transversus Tuberculum posterius Axis, Proc. spinosus

Abb. 13.30 Subokzipitale Muskeln, dorsale Ansicht.

Linea nuchae inferior

Linea nuchae superior

M. obliquus capitis superior

Proc. mastoideus

M. rectus capitis posterior major M. rectus capitis posterior minor Axis, Proc. spinosus

Atlas, Proc. transversus Tuberculum posterius M. obliquus capitis inferior

Abb. 13.31 Subokzipitale Muskeln, seitliche Ansicht.

Hochzervikale Muskulatur

Bedeutung für die Palpation

Von den tiefen, kurzen subokzipitalen Muskeln sind wichtig: ● Mm. rectus capitis posterior major und minor: ○ Verlauf des M. rectus capitis posterior major vom Proc. spinosus C 2 schräg aufsteigend bis zur Linea nuchae inferior ○ Verlauf des M. rectus capitis posterior minor vom Tub. posterior C 1 bis zur Linea nuchae inferior ● Mm. obliquus capitis superior und inferior: ○ Verlauf des M. obliquus capitis inferior vom Proc. spinosus C 2 ventral, stark seitlich aufwärts bis Proc. transversus C 1 ○ Verlauf des M. obliquus capitis superior vom Proc. transversus C 1 nahezu sagittal seitlich zur Linea nuchae inferior (Proc. retromastoideus, Kap. 13.3.4) ● Mm. rectus capitis lateralis und anterior. Verlauf siehe Kap. 13.3.8.

Sie werden komplett von den oberflächigen Muskeln verdeckt, sodass eine sichere palpatorische Lokalisation nur schwer möglich ist. Allerdings sind sie mit tiefen querverformenden Griffen aus der Funktionsmassage (Kap. 13.8.4) gut zu erreichen und zu detonisieren.

Die hochzervikalen Muskeln (▶ Abb. 13.30 und ▶ Abb. 13.31) haben eine sehr hohe propriozeptive Versorgung und sind wichtig für die Feinsteuerung der hochzervikalen Bewegungen. Mit den kurzen ventralen Muskeln stellen sie den muskulären Eigenapparat der oberen HWS dar, der die besonderen anatomischen Gegebenheiten, z. B. die Procc. transversus C 1 und spinosus C 2 als lange Hebel nutzt, die besondere hochzervikale Biomechanik bedient und für den Kraftschluss der Kopfgelenke sorgt. Zusammen mit den Mechanorezeptoren der Gelenkkapseln von C 0–C 1 bis C 2–C 3 formen die Muskelspindeln dieser Muskeln das dritte Gleichgewichtsorgan.

13.3.8 Ventrale und seitliche Muskulatur Die ventrale Muskulatur an der HWS wird nach ihrer Lage in 2 Systeme unterteilt: ● oberflächige prävertebrale Muskulatur mit der Lage vor den Halsorganen ● tiefe prävertebrale Muskulatur mit der Lage direkt vor den Wirbelkörpern Die oberflächigen prävertebralen Muskeln werden topografisch eingeteilt in: ● suprahyale Muskeln oder obere Zungenbeinmuskeln. Sie liegen am Mundboden und verbinden das Zungenbein (Os hyoideum) mit dem Unterkiefer. Sie werden funktionell den Kaumuskeln zugeordnet (Rauber u. Leonhardt 1987, S. 659). ● infrahyale Muskeln oder untere Zungenbeinmuskeln. Sie verbinden das Zungenbein mit dem Kehlkopf (Cartilago thyreoidea) und dem Sternum. Nach Rauber und Leonhardt (1987, S. 659) sind sie an komplexen Funktionen wie „Kaubewegungen, Schluckakt und Phonation“ beteiligt.

13

Mechanisch gesehen bilden sie bei geschlossenem Mund und Aktivität der Kieferschlussmuskeln (Mm. masseter und temporalis) eine Flexorenkette, die bei Flexion der HWS etwas Kraft entwickeln kann.

375

Halswirbelsäule

Bedeutung für die Palpation Die sichere Lokalisation des Zungenbeins und markanter Kehlkopfanteile dient der Absicherung einer Höhenbestimmung von zervikalen Wirbeln. In Rückenlage ist z. B. eine genaue Bestimmung der Lamina von C 4 über ein Ertasten dorsaler Strukturen sehr schwierig. Über die ventralen Strukturen erhält man hier weitere Hilfe. Das Zungenbein selbst befindet sich meistens in der Tiefe des Winkels zwischen Mundboden und vertikaler Halsfläche, etwa auf Höhe des 3. Halswirbels. Seine Lage ist aber sehr variantenreich. Nicht selten liegt es innerhalb des Niveaus des Unterkiefers und ist dann schlecht erreichbar. Lesen Sie dazu auch Kap. 13.10 (Techniken der Palpation ventral). Zu den tiefen prävertebralen Muskeln (▶ Abb. 13.32) zählt man: ● Mm. rectus capitis lateralis und anterior: ○ Verlauf des M. rectus capitis lateralis vom Proc. transversus C 1 aufsteigend zur Pars lateralis des Okziput ○ Verlauf des Mm. rectus capitis anterior von der Vorderseite des Proc. transversus C 1 nach medial aufsteigend zur Pars basilaris des Okziput ● Mm. longus colli und capitis: ○ Verlauf des M. longus colli: Dieser mehrfach unterteilbare Muskel mit vertikalen und schrägen Faserverläufen zieht insgesamt etwa von Th 3 bis zum Atlas und liegt beidseitig direkt den Wirbelkörpern an. ○ Verlauf des M. longus capitis: Von den Proc. transversi C 3–C 6 zieht der Muskel jeweils in den Rinnen zwischen Querfortsätzen und Wirbelkörper zur Pars basilaris des Okziput.

M. rectus capitis lateralis M. rectus capitis anterior M. longus capitis

M. longus colli

Abb. 13.32 Tiefe prävertebrale Muskeln.

376

Proc. mastoideus Atlas, Proc. transversus

Die Mm. recti und longus capitis sorgen mit den kurzen dorsalen Nackenmuskeln zusammen für den Kraftschluss der Kopfgelenke und sollten bei hochzervikaler Instabilität trainiert werden. Klinisch sind die Muskeln der „Longusgruppe“ als Stabilisatoren der HWS bekannt. Vor allem die Rekrutierung des M. longus colli sollte ein physiotherapeutisches Behandlungsziel bei Instabilität, besonders der unteren HWS, sein. Falla et al. (2004) wiesen in einer EMG unterstützten Studie die Wichtigkeit der Mm. longus colli und capitis (tiefe Nackenflexoren) nach. Bei Patienten mit chronischen Nackenbeschwerden zeigten diese Muskeln eine geringere Aktivität bei kraniozervikaler Flexion als beschwerdefreie Personen. Ein Training dieser Muskeln wirkte sich positiv auf die Beschwerden der Patienten aus. Palpabel sind die Vertreter der tiefen prävertebralen Muskeln nicht. Sie finden nur aufgrund ihrer klinisch hohen Bedeutung Platz in diesem Kapitel. ● Mm. scaleni. Nach Rauber und Leonhardt (1987, S. 665) gehören sie zu den seitlichen tiefen Halsmuskeln und verkörpern die Fortsetzung der interkostalen Muskeln im Halsbereich. Daher liegen ihre Ursprünge auch an den Tubercula anteriora der Proc. transversi, den zervikalen Rippenrudimenten. Ihre Muskelbäuche bilden einen Kegelmantel über der Pleurakuppel und lassen dabei 2 Durchtrittspforten (Skalenuslücken) für Nerven und Gefäße (▶ Abb. 13.33). Allein durch Lage und Herkunft ist ihre Eignung als Atemhilfsmuskeln sehr naheliegend.

Atlas M. scalenus anterior

M. scalenus medius 1. Rippe M. scalenus posterior

Abb. 13.33 Mm. scaleni.

13.3 Notwendige anatomische und biomechanische Vorkenntnisse

M. trapezius N. occipitalis major

M. sternocleidomastoideus

N. occipitalis minor

M. scalenus posterior M. scalenus medius

M. semispinalis capitis

M. scalenus anterior

M. sternocleidomastoideus

Plexus brachialis V. subclavia

M. splenius capitis

Abb. 13.35 Nerven und Gefäße am Okziput.

A. subclavia

Abb. 13.34 Skalenuslücken.







Verlauf des M. scalenus anterius: von den Proc. transversi C 3–C 4 nach ventrolateral an die 1. Rippe, ein Stück weit begleitet vom N. phrenicus Verlauf des M. scalenus medius: von den Proc. transversi C 3–C 7 absteigend zur 1. Rippe Verlauf des M. scalenus posterius: von den Proc. transversi C 5–C 7 eher nach posterior zur 2. Rippe absteigend

Die Mm. scaleni sind palpatorisch gut zu erreichen. Sie bekleiden die ventrolaterale Halsregion und sind nur zum Teil vom M. sternocleidomastoideus verdeckt. Der M. scalenus anterior bildet mit dem M. sternocleidomastoideus die vordere Skalenuslücke (▶ Abb. 13.34), durch welche die V. subclavia und der N. phrenicus hindurchziehen. Die hintere Skalenuslücke wird von den Mm. scaleni anterior und medius gebildet. Hierdurch verlaufen die A. subclavia und der Plexus brachialis. Beeinträchtigungen der Durchtritte durch diese Muskellücken sind als „Skalenussyndrom“ oder im Rahmen des „Thoracic-Outlet-Syndrom“ bekannt.

13.3.9 Nerven und Gefäße Vom Oberrand des M. serratus posterior superior zieht die Fascia nuchae nach kranial. Im Unterschied zur Fascia thoracolumbalis ist sie im Allgemeinen schwach. Sie umhüllt die autochthonen Muskeln, liegt somit den Mm. semispinalis capitis und splenius auf und inseriert mit ihnen an der Linea nuchae superior. Medial verschmilzt sie mit dem Lig. nuchae. Ventral verbindet sie sich mit der tiefen Schicht der zervikalen prävertebralen Faszie, die

die Mm. scaleni und longissimus cervicis und capitis umschließt. Eine stabilisierende Aufgabe wie beim Gegenstück in der LWS wird ihr nicht zugeschrieben. Durch die oberflächigen Nackenmuskeln und die dorsalen Faszien (Fascia nuchae und die des M. trapezius) verlaufen verschiedene neurale und vaskuläre Strukturen von dorsal auf den Schädel und versorgen den Hinterkopfbereich (▶ Abb. 13.35). Die Leitstruktur, um den Verlauf der Gefäße und Nerven dieser Region zu verstehen, ist der M. splenius capitis. Aus einem Winkel, der vom lateralen Rand des M. splenius capitis und dem hinteren Rand des M. sternocleidomastoideus aufgespannt wird, tritt der N. occipitalis minor hervor und verläuft zum Hinterkopf. Er ist ein Ast des Plexus cervicalis und daher ventraler Herkunft. In einem Dreieck, das vom medialen Rand des M. splenius capitis, dem lateralen Rand des M. semispinalis und dem Okziput gebildet wird, treten die Vasa occipitales (A. occipitalis und begleitende Venen) sowie der N. occipitalis major durch die Nackenfaszie an die Oberfläche und verlaufen ebenfalls auf das Hinterhaupt. Vorher durchtritt der N. occipitalis major die Muskelbäuche der Mm. semispinalis capitis und trapezius, Pars descendens (Lanz u. Wachsmuth 2004). Die hier beschriebene Lage von Nerven und Gefäßen ist offenbar sehr variabel, da sich in den gängigen Anatomielehrbüchern recht unterschiedliche Angaben bzw. Abbildungen zur Lage und zum Verlauf finden.

13

Bedeutung für die Palpation Die klinische Konsequenz der Durchtritte von neuralen Strukturen durch Faszien und Muskeln ist im Bereich der Extremitäten als Kompressionsneuropathie (Entrapment Neuropathy) bekannt. Auch für den Verlauf des N. occipitalis major sind Pathologien dieser Form beschrieben, die zu Schmerzen und Missempfindungen am Hinterhaupt führen. Eine palpatorische Provokation des Nervs verstärkt die Beschwerden.

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Halswirbelsäule

M. scalenus medius C4 M. scalenus anterior

C5 C6

Plexus brachialis

C7 Th 1

A. axillaris V. axillaris

1. Rippe

Abb. 13.36 Plexus brachialis.

Plexus brachialis Die Innervation der Muskeln der Hals- und Nackenregion ist eine Mischung aus dem Plexus cervicalis und den Hirnnerven. Die Anteile des Plexus brachialis innervieren die Muskulatur des Schultergürtels und des Armes. Die vorderen Äste der Spinalnerven von C 5–Th 1 vereinigen sich im Plexus brachialis über drei Trunci und Fasciculi zu einer Reihe von peripheren Nerven, deren Hauptvertreter der motorischen Innervation des Armes gut bekannt sind: Nn. medianus, ulnaris und radialis. Die räumliche Orientierung der Äste, die in den Plexus brachialis eingehen, erfolgt durch die Ausrichtung der Proc. transversi schräg nach ventral. Sie durchdringen die Mm. scaleni gemeinsam mit der A. subclavia an der hinteren Skalenuslücke und folgen dieser durch den anschließenden kostoklavikulären Engpass (▶ Abb. 13.36). An der Skalenuslücke sind sie durch Spannung über Armbewegungen tastbar (S. 408).

13.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen Das Ziel der Palpationsgänge ist es, die technische Grundlage für die lokale Untersuchung und Behandlung der HWS zu legen. Dabei gehen wir regional an die HWS heran. Benutzt wird eine Einteilung der Anleitungen dorsal, lateral und ventral an der HWS. Die anatomische Unterteilung in obere und untere HWS ist für die Palpationsabläufe nicht praktikabel genug.

378

13.5 Kurzfassung des Palpationsganges Zunächst werden wir 4 Palpationsgänge auf der dorsalen Seite durchführen. Dabei werden zunächst Erhebungen und Konturen des Hinterhauptes bis zum Proc. mastoideus deutlich. Weiterhin werden alle knöchernen und muskulären Strukturen auf einer Linie Hinterhaupt – Proc. spinosus C 7, so weit wie möglich, bestimmt. Im nächsten Palpationsgang erspüren wir die dorsolateral liegenden Laminae sowie die ZAGs (Facettengelenke). Schließlich wenden wir uns wieder dem Hinterhaupt zu und bestimmen erreichbare Muskeln, Nerven und Gefäße. Die Palpation lateral ermöglicht uns, die Querfortsätze von C 1–C 3 zu lokalisieren. Weiterhin werden die Lokalisationen der Weichteile des seitlichen Halsdreiecks bis zu den Strukturen der hinteren Skalenuslücke beschrieben. Die ventral gelegenen Strukturen ermöglichen es uns, eine größere Sicherheit bei der Höhenbestimmung einzelner Wirbel zu erlangen. Daher werden Zungenbein und Kehlkopf mit in die tastende Orientierung einbezogen. Zuvor ist es allerdings erforderlich, über Ausgangsstellungen zu diskutieren, um immer wieder die gleichen Bedingungen für Palpationen zu schaffen.

13.6 Ausgangsstellung Für die Palpation an der HWS wird eine neutrale Einstellung im aufrechten und freien Sitz empfohlen. Der Vorteil dieser ASTE besteht in der einfachen Erreichbarkeit aller Strukturen dorsal, lateral und ventral. Dabei wird der geringe Grundtonus der Nackenmuskulatur gerne in Kauf genommen. Die neutrale Einstellung der HWS ist recht genau beschrieben. Sie sollte nur dann nicht eingenommen werden, wenn es deutliche Bewegungsdefizite oder aktuelle Beschwerden des Patienten nicht zulassen. ● Der Kopf ist gegenüber dem Oberkörper nicht nach vorne (Protraktion) oder hinten (Retraktion) verschoben. Mit anderen Worten, das Okziput (dorsale Begrenzung) sollte in der Ebene der oberen BWS sein. ● Der Kopf wird ebenfalls neutral für Seitneigung bzw. Rotation eingestellt. Kontrollieren Sie hierzu den Abstand der Ohren zu den Schulterhöhen und die Einstellung der Nase in die Sagittalebene. ● Die obere HWS sollte neutral für Flexion und Extension eingestellt sein (▶ Abb. 13.37): ○ 1. Möglichkeit – Frankfurter Horizontale (Synonyme: Deutsche Horizontale, Ohr-Augen-Ebene): Diese Bezugsebene wird bestimmt durch den Oberrand der knöchernen äußeren Gehörgangsöffnung (Porion oder Porus accusticus externus) und den tiefsten Punkt der Augenhöhle (Orbita) (Greiner 2000, Williams 2009, S. 429). Penning (2000, S. 159) spricht

Halswirbelsäule

M. scalenus medius C4 M. scalenus anterior

C5 C6

Plexus brachialis

C7 Th 1

A. axillaris V. axillaris

1. Rippe

Abb. 13.36 Plexus brachialis.

Plexus brachialis Die Innervation der Muskeln der Hals- und Nackenregion ist eine Mischung aus dem Plexus cervicalis und den Hirnnerven. Die Anteile des Plexus brachialis innervieren die Muskulatur des Schultergürtels und des Armes. Die vorderen Äste der Spinalnerven von C 5–Th 1 vereinigen sich im Plexus brachialis über drei Trunci und Fasciculi zu einer Reihe von peripheren Nerven, deren Hauptvertreter der motorischen Innervation des Armes gut bekannt sind: Nn. medianus, ulnaris und radialis. Die räumliche Orientierung der Äste, die in den Plexus brachialis eingehen, erfolgt durch die Ausrichtung der Proc. transversi schräg nach ventral. Sie durchdringen die Mm. scaleni gemeinsam mit der A. subclavia an der hinteren Skalenuslücke und folgen dieser durch den anschließenden kostoklavikulären Engpass (▶ Abb. 13.36). An der Skalenuslücke sind sie durch Spannung über Armbewegungen tastbar (S. 408).

13.4 Übersicht über die zu palpierenden Strukturen Das Ziel der Palpationsgänge ist es, die technische Grundlage für die lokale Untersuchung und Behandlung der HWS zu legen. Dabei gehen wir regional an die HWS heran. Benutzt wird eine Einteilung der Anleitungen dorsal, lateral und ventral an der HWS. Die anatomische Unterteilung in obere und untere HWS ist für die Palpationsabläufe nicht praktikabel genug.

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13.5 Kurzfassung des Palpationsganges Zunächst werden wir 4 Palpationsgänge auf der dorsalen Seite durchführen. Dabei werden zunächst Erhebungen und Konturen des Hinterhauptes bis zum Proc. mastoideus deutlich. Weiterhin werden alle knöchernen und muskulären Strukturen auf einer Linie Hinterhaupt – Proc. spinosus C 7, so weit wie möglich, bestimmt. Im nächsten Palpationsgang erspüren wir die dorsolateral liegenden Laminae sowie die ZAGs (Facettengelenke). Schließlich wenden wir uns wieder dem Hinterhaupt zu und bestimmen erreichbare Muskeln, Nerven und Gefäße. Die Palpation lateral ermöglicht uns, die Querfortsätze von C 1–C 3 zu lokalisieren. Weiterhin werden die Lokalisationen der Weichteile des seitlichen Halsdreiecks bis zu den Strukturen der hinteren Skalenuslücke beschrieben. Die ventral gelegenen Strukturen ermöglichen es uns, eine größere Sicherheit bei der Höhenbestimmung einzelner Wirbel zu erlangen. Daher werden Zungenbein und Kehlkopf mit in die tastende Orientierung einbezogen. Zuvor ist es allerdings erforderlich, über Ausgangsstellungen zu diskutieren, um immer wieder die gleichen Bedingungen für Palpationen zu schaffen.

13.6 Ausgangsstellung Für die Palpation an der HWS wird eine neutrale Einstellung im aufrechten und freien Sitz empfohlen. Der Vorteil dieser ASTE besteht in der einfachen Erreichbarkeit aller Strukturen dorsal, lateral und ventral. Dabei wird der geringe Grundtonus der Nackenmuskulatur gerne in Kauf genommen. Die neutrale Einstellung der HWS ist recht genau beschrieben. Sie sollte nur dann nicht eingenommen werden, wenn es deutliche Bewegungsdefizite oder aktuelle Beschwerden des Patienten nicht zulassen. ● Der Kopf ist gegenüber dem Oberkörper nicht nach vorne (Protraktion) oder hinten (Retraktion) verschoben. Mit anderen Worten, das Okziput (dorsale Begrenzung) sollte in der Ebene der oberen BWS sein. ● Der Kopf wird ebenfalls neutral für Seitneigung bzw. Rotation eingestellt. Kontrollieren Sie hierzu den Abstand der Ohren zu den Schulterhöhen und die Einstellung der Nase in die Sagittalebene. ● Die obere HWS sollte neutral für Flexion und Extension eingestellt sein (▶ Abb. 13.37): ○ 1. Möglichkeit – Frankfurter Horizontale (Synonyme: Deutsche Horizontale, Ohr-Augen-Ebene): Diese Bezugsebene wird bestimmt durch den Oberrand der knöchernen äußeren Gehörgangsöffnung (Porion oder Porus accusticus externus) und den tiefsten Punkt der Augenhöhle (Orbita) (Greiner 2000, Williams 2009, S. 429). Penning (2000, S. 159) spricht

13.6 Ausgangsstellung

Frankfurter Horizontale

Okklusionsebene

Abb. 13.37 Neutrale ASTE im freien Sitz.



hier von der Orbitomeatalebene. Die Einstellung des Kopfes, um die neutrale Stellung zu erhalten, ist für den Therapeuten sehr leicht von außen herzustellen. 2. Möglichkeit – optimale Okklusion: Wenn man aufrecht sitzt und den Kopf mehrfach etwas anhebt und senkt, stellt man fest, dass in einer bestimmten Kopfposition beide Zahnreihen aufeinander stoßen. Dies ist die Situation der Okklusion, der neutralen Einstellung der oberen HWS für Flexion und Extension. Diese Möglichkeit der neutralen Einstellung ist allerdings für den Therapeuten nicht sonderlich praktikabel.

Üblicherweise steht der Therapeut seitlich zum Patienten. Mit der von dorsal kommenden Hand wird palpiert, mit der zweiten Hand kontrolliert er den Kopf des Patienten. Dies kann einmal durch ein flächiges Auflegen der Hand von oben auf den Kopf erfolgen (▶ Abb. 13.38). Mit wenig Kraft lässt sich somit der Kopf in der neutralen Position kontrollieren. Kleine und große Bewegungen können sehr leicht eingebracht werden. Eine weitere Möglichkeit ist der „therapeutische Ring“. Hierbei wird der Kopf des Patienten mit der von ventral kommenden Hand umfasst. Die Kleinfingerkante liegt dabei in Höhe des Okziput, es sei denn, tiefe zervikale Segmente sollen betont werden. Dann liegt die Kleinfingerkante entsprechend tiefer dem Nacken auf (▶ Abb. 13.39). Es ist darauf zu achten, dass der Griff weder zu viel Kompression auf das Ohr noch auf den Unterkiefer des Patienten ausübt. Der Kopf wird gegen das Sternum oder die ipsilaterale Schulter des Therapeuten gestützt. Damit der Therapeut seinen Oberkörper nicht zu weit nach vorne lehnen muss, um den Kopf des Patienten zu erreichen oder die neutrale Einstellung zu gefährden, kann man auch ein gefaltetes Handtuch zwischen Kopf und Sternum bzw. Schulter platzieren. Der Vorteil dieser Grifftechnik besteht in der umfassenden Kontrolle des Kopfes. Minimale Bewegungen lassen sich so genau einbringen. Weiterhin kann man je nach Bedarf Zug oder Kompression entlang der HWS-Längsachse ausüben.

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Abb. 13.38 Position und Grifftechnik des Therapeuten – 1. Variante.

Abb. 13.39 Grifftechnik des Therapeuten – 2. Variante.

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Halswirbelsäule

Tipp So einfach dieser Griff auch erscheint, er verleitet den Therapeuten schnell, die neutral eingestellte Position der HWS zu gefährden, indem er den Kopf des Patienten zu sich holt, anstatt sich ihm zu nähern. Daher ist es für weniger erfahrene Therapeuten hilfreich, diese Technikvariante zunächst vor einem Spiegel zu trainieren.

Für eine ventrale Palpation ist eine andere Position des Therapeuten erforderlich. Diese ASTE wird im entsprechenden Kapitel beschrieben. Für weitere Hinweise zur ASTE im freien Sitz lesen Sie Kap. 8.6.1.

13.6.1 Schwierige und alternative Ausgangsstellungen Einige Behandlungstechniken benötigen eine Rückenoder Bauchlage als ASTE. Techniken an der HWS in Seitenlage sind eher selten. Wenn das Beschwerdebild des Patienten keine andere Lagerung erfordert, so sollte die HWS auch in liegenden ASTEn möglichst neutral eingestellt werden.

Bauchlage Die ASTE Bauchlage wurde bereits im Kap. 8.6 ausführlich beschrieben. Hinsichtlich der Einstellung der HWS ist die Position des Körpers auf der Bank entscheidend für die Einstellung der HWS, wenn der Patient, wie üblich, seine Nase in den dafür vorgesehenen Schlitz der Bank steckt. Der Patient sollte jedenfalls mittig auf der Bank liegen, damit keine Seitneigung der HWS verursacht wird. Durch ein leichtes Abkippen des Kopfteiles trägt man der thorakalen Kyphose Rechnung. Mit einem leichten Rutschen zum Fuß- oder Kopfteil der Bank verändert man das Aus-

Abb. 13.40 Neutrale ASTE Bauchlage.

380

maß der zervikalen Lordose. Wenn eine neutrale Einstellung der HWS, wie oben beschrieben, nicht gelingt, ist zumindest die Position der HWS einzustellen, die in aufrechter Haltung des Patienten beobachtet wurde (▶ Abb. 13.40).

Rückenlage Diese ASTE wurde bislang noch nicht erörtert. Üblicherweise liegt der Patient mit angelegten Armen und in leichter Beugung unterlagerten Kniegelenken auf der Bank. Hinsichtlich der Untersuchung bzw. Behandlung der HWS ist es wichtig, den Patienten möglichst nah an der kopfseitigen Bankkante zu lagern, damit die Entfernung zwischen dem dort stehenden Therapeuten und der HWS nicht zu groß ist. Häufig wird die HWS von vornherein durch deutliche Unterlagerung des Kopfes in zu viel Flexion eingestellt. Hiermit spannt man alle dorsal liegenden Weichteilstrukturen passiv vor und bringt die tief- und hochzervikalen Gelenke in eine Flexionsposition. Dadurch verringert sich das Ausmaß verschiedener Bewegungen, sodass lokale Untersuchungen schon eine andere Aussage bekommen. Daher ist zu empfehlen, die HWS gar nicht oder nur bei zu viel Lordose am Hinterkopf dezent zu unterlagern (▶ Abb. 13.41). Weiterhin ist zu bedenken, das ein Rollen des Kopfes eine Rotation plus Seitneigung verursacht.

Merke Nur den Hinterkopf und nicht die HWS unterlagern!

Bestimmte Pathologieformen, z. B. ein akuter Schiefhals, erzwingen schmerzbedingt eine andere Lagerung. Da haben natürlich die Wahrnehmungen des Patienten Vorrang vor dem Wunsch, die HWS neutral zu lagern.

Abb. 13.41 Neutrale ASTE Rückenlage.

13.7 Techniken der Palpation dorsal

13.7 Techniken der Palpation dorsal 13.7.1 Hinterhaupt Mit leicht kreisender Palpation und flach eingesetzten Fingerbeeren von Zeige- und Mittelfinger wird an der Hinterhauptsschuppe die erhabenste Stelle aufgesucht, die in Größe und Form einem ausgeprägtem Tuberkulum entspricht: die Protuberantia occipitalis externa (▶ Abb. 13.42). Hier hält sich das Lig. nuchae fest.

Tipp Die Protuberantia liegt häufig deutlich höher als vermutet.

Von hier aus kann man die obere der Nackenlinien, die Linea nuchae suprema, darstellen. Hierzu hält man einen Finger quer auf das Hinterhaupt (▶ Abb. 13.43), gleich

oberhalb der Protuberantia. Die Linie läuft von dort in einem großen Bogen nach lateral und ist selten als erhabene Leiste zu spüren. Die eigentliche Palpation der Hinterhauptskante beginnt jetzt. Von der Protuberantia ausgehend wird etwas nach kaudal und lateral gespürt, bis der rundliche Rand des Hinterhaupts deutlich wird. Palpiert wird mit einer rechtwinkligen Technik mit der Zeigefingerbeere von kaudal gegen den Rand. Anatomisch befindet man sich etwa in Höhe der Lineae nuchae superior. Nach Lanz und Wachsmuth (1979, S. 315) ist dieser Bereich mit individuell ausgeprägten Muskelrauigkeiten ausgestattet. Wenn Sportler den Kopf nahezu waagerecht vor dem Körper halten (z. B. Eisschnellläufer, Radfahrer), sind diese Rauigkeiten wulstig erhaben (Torus occipitalis). Medial befindet man sich dabei direkt oberhalb der Insertionen von Mm. semispinalis capitis und trapezius, Pars descendens (▶ Abb. 13.44). Auf dem Weg nach lateral ist die Hinterhauptskante an 2 Stellen deutlicher zu palpieren. Dies sind Lücken zwischen benachbarten Mus-

13

Abb. 13.42 Palpation der Protuberantia occipitalis externa.

Abb. 13.43 Linea nuchae suprema.

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Halswirbelsäule

Abb. 13.44 Linea nuchae superior, medial.

keln, die einen Zugang zu tiefer liegenden Strukturen ermöglichen. Näheres dazu finden Sie im Abschnitt der Palpation der dorsalen Muskeln (Kap. 13.3.7). Weiter lateral kann man eine Stelle leichter, rundlicher Erhebung wahrnehmen (▶ Abb. 13.45). An diesem Proc. retromastoideus treffen die superiore und inferiore Linea nuchae zusammen. Hier setzt der M. obliquus capitis superior an. Letztlich stößt der palpierende Finger auf dem Weg nach lateral von dorsal gegen den Proc. mastoideus (▶ Abb. 13.46). Dieser wird umrandet, um seine räumliche Ausdehnung zu erfassen. Dieser Processus befindet sich nicht mehr auf dem Os occipitale, sondern bereits auf dem Os temporale. Die verbindende Sutur beider Ossa occipitale und temporale verläuft direkt hinter dem Proc. mastoideus.

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Abb. 13.45 Linea nuchae superior, lateral.

13.7.2 Subokzipitale Grube und Lig. nuchae Wir orientieren uns wieder zurück zur Protuberantia occipitalis externa. Palpiert wird mit der flach aufgesetzten Zeige- oder Mittelfingerbeere. Von der Protuberantia aus wird das Okziput nach kaudal palpiert. Dabei wird der palpierende Finger immer wieder gegen den Knochen gedrückt. So kann man Form und Verlauf des Hinterhauptes verfolgen.

Merke Wichtig Hier soll besonders auf die neutrale Einstellung der HWS geachtet werden. Jede noch so kleine Nickbewegung des Kopfes erschwert hier das Ertasten des Knochenrandes.

13.7 Techniken der Palpation dorsal

Abb. 13.46 Linea nuchae superior. Palpation des Proc. mastoideus.

Wenn der letzte knöcherne Kontakt zum Okziput erspürt wird, liegt die palpierende Fingerbeere in einer ca. 1 cm großen Grube (▶ Abb. 13.47), die von verschiedenen Strukturen begrenzt wird (▶ Abb. 13.48): ● nach kranial vom Okziput, wie bereits gespürt ● nach kaudal vom Proc. spinosus C 2 ● seitlich von den kräftigen Muskelbäuchen der Mm. semispinales capitis und trapezius, Pars descendens ● nach ventral vom Lig. nuchae Gibt man mit der Fingerbeere einen Druck nach ventral, so erhält man einen sehr elastischen Gegendruck. Mit einer ausgiebigen Bewegung der HWS in Flexion bzw. Extension gelingt es, die zu- und abnehmende Spannung des Lig. nuchae noch deutlicher wahrzunehmen. Sehr selten ist hier in der Tiefe das Tuberculum posterius des Atlas als harter Widerstand spürbar.

Abb. 13.47 Palpation der subokzipitalen Grube.

Protuberantia occipitalis externa

Rand des Okziput

Proc. spinosus C2

subokzipitale Grube Mm. semispinalis capitis und trapezius pars descendens

Abb. 13.48 Begrenzungen der subokzitpitalen Grube.

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383

Halswirbelsäule

Lig. nuchae

13.7.3 Proc. spinosus C 2

Unter ständiger Palpation der subokzipitalen Grube mit leichtem Druck wird der Kopf insgesamt nach vorne unten in komplette Flexion gebracht (▶ Abb. 13.49) Anschließend wird nur hochzervikal abwechselnd extendiert und flektiert (▶ Abb. 13.50). Dies kann der Patient unterstützen, indem er das Kinn nach vorne schiebt bzw. an den Körper heran zieht.

Der palpierende Finger ruht in der subokzipitalen Grube bei erneut neutral eingestellter HWS und gibt einen Druck nach kaudal, der sofort hart knöchern vom Proc. spinosus beantwortet ist. Auf seiner Rückseite ertastet man mit Daumen und Zeigefinger den asymmetrisch gegabelten Proc. spinosus (▶ Abb. 13.51).

Erwartungen Bei der Kinn-in-Bewegung spannt sich das Ligament komplett und drückt den palpierenden Finger aus der Grube heraus (▶ Abb. 13.50). Während der aktiven Extensionsbewegung kann man zu beiden Seiten der Gruppe die angespannten Muskelbäuche der Mm. semispinales capitis spüren. Mit abwechselnder Spannung und Entspannung des Lig. nuchae kann man dieses nach kranial bis zum Fixpunkt am Schädel verfolgen. Letztlich ist diese Methode eine Absicherung zum genauen Aufsuchen der Protuberantia occipitalis externa.

Abb. 13.49 Palpation des Lig. nuchae – Phase 1.

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Tipp Wenn man in der Palpation der zervikalen Strukturen noch nicht geübt ist, wird man über die Lage des Proc. spinosus von C 2 erstaunt sein. Häufig wird er weiter kranial erwartet.

Für lokale Untersuchungs- und Behandlungstechniken hochzervikal ist es erforderlich, den Proc. spinosus C 2 gut zu erspüren oder gar zu fixieren. Eine Fixation gelingt nur seitlich an der Lamina C 2 (Kap. 13.8.2).

Abb. 13.50 Palpation des Lig. nuchae – Phase 2.

13.7 Techniken der Palpation dorsal

Abb. 13.52 Proc. spinosus C 6 – unsichere Methode.

Unsichere Methode

Abb. 13.51 Palpation des Proc. spinosus C 2.

13.7.4 Procc. spinosi der unteren HWS Das Bestimmen der Procc. spinosi im zervikothorakalen Übergang wurde im Kap. 12.7 ausführlich beschrieben. Daher werden die Methoden hier in Kurzform dargestellt. Eine genaue Bestimmung der Procc. spinosi von C 3 und C 4 ist im Allgemeinen nicht möglich. Bei Patienten mit sehr steil gestellter HWS gelingt es mitunter, diese Dornfortsätze wahrzunehmen. Eine genaue Höhenlokalisation ist aber auch hier nicht möglich. Will man beispielsweise das Segment C 2–C 3 aufsuchen, muss man sich über die Höhenzuordnung der jeweiligen Laminae dorsolateral helfen. Lediglich die Procc. spinosi C 5–C 7 sind wieder recht gut zu spüren und voneinander zu differenzieren.

Sehr häufig ist die Lage des Proc. spinosus C 5 allein durch Spüren der Spinosusform von C 6 zu erkennen. Wenn man die zervikale Mittellinie mit mäßigem Druck von kranial nach kaudal abtastet, spürt man sehr oft, wie die Fingerbeere von kranial auf einer Art Podest landet (▶ Abb. 13.52). Mit der ulnaren Seite des Fingers trifft man von kranial auf den Proc. spinosus C 6. Wenn die Fingerbeere einen leichten Druck nach ventral ausübt, erreicht sie den Proc. spinosus von C 5. Da diese Bestimmungsmethode nicht zuverlässig genug ist, benötigt man einen weiteren Trick, um mehr Sicherheit zu erlangen.

Sichere Methode Die HWS des Patienten wird über Rückneigung des Kopfes in eine Lordose gebracht (▶ Abb. 13.53). Die Procc. spinosi C 5 und C 6 zeigen dabei ein typisches Verhalten, indem Sie eine Verschiebebewegung nach ventral vollziehen. Dieses Phänomen wurde bereits im Kap. 12.7 ausführlich erläutert. Der Proc. spinosus C 5 entfernt sich bereits bei leichter Lordose als erster und deutlich von dem palpierenden Finger nach ventral. Der Proc. spinosus von C 6 wird aufgesucht. Die zervikale Lordose wird wiederholt und ausgiebig durchgeführt. Erst am Ende der möglichen Lordose bewegt sich dieser Spinosus nach ventral. Demgegenüber bleibt der Spinosus von C 7 eher stehen. Voraussetzung hierfür ist allerdings die schmerzfreie und möglichst ausgiebige Lordose des Probanden oder Patienten.

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Halswirbelsäule

Abb. 13.53 Palpation tiefliegender Procc. spinosi.

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Abb. 13.54 Palpation Proc. spinosus C 2.

13.7.5 Facettengelenke

Niveaubestimmung über die Laminae

Die zervikale Wirbelsäule ist der einzige Abschnitt, an dem sich die Artt. zygapophysiales (ZAG), so die genaue anatomische Bezeichnung der Wirbelgelenke, palpatorisch eindeutig bestimmen lassen. Ihr Aufsuchen benutzt man zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken. Das Bewegungsdefizit eines Gelenkes ist spürbar und eine gereizte Kapsel auf palpatorischem Druck sehr empfindlich. Der nachfolgend beschriebene Palpationsgang verdeutlicht das Vorgehen beim Aufsuchen der ZAG zwischen C 2 und C 3 (▶ Abb. 13.54). ● Proc. spinosus C 2 ● Lamina C 2 ● Lamina C 3 ● Proc. articularis superior C 3 ● Tuberculum posterior des Proc. transversus C 3 ● Palpation der Bewegung im ZAG C 2–C 3

Um das ZAG C 2–C 3 zu finden, muss der palpierende Finger zunächst auf die Lamina von C 3 gebracht werden. Zunächst wird der Proc. spinosus C 2 aufgesucht (▶ Abb. 13.55). Dies ist uns in der Palpation vorher schon einmal gelungen. Vom Proc. spinosus aus palpiert man nach ventrolateral um den M. semispinalis capitis herum. Dabei schiebt man den paravertebral liegenden Muskelbauch nach medial und dorsal weg und übt einen Druck nach ventral aus, der sehr fest beantwortet wird. Man befindet sich jetzt auf der Lamina C 2 (▶ Abb. 13.56). Jede weitere Lamina eines zervikalen Wirbels befindet sich etwa 1 Zeigefingerbreite (des Patienten) weiter kaudal.

Tipp Anhand dieser Regel lassen sich alle zervikalen Wirbel in ihrer Höhe sehr zuverlässig bestimmen. Über eine ventrale Niveaubestimmung erhält man noch mehr Sicherheit (Kap. 13.10).

13.7 Techniken der Palpation dorsal

Abb. 13.55 Palpation der Lamina C 2.

Abb. 13.57 Palpation der Lamina C 3.

Aufspüren der artikulären Säule

Phase 3 Phase 2

Phase 1

Die Lamina C 3 wird aufgesucht (▶ Abb. 13.57). Der palpierende Finger erhöht den Druck gegen die Lamina und verfolgt sie weiter nach ventrolateral (▶ Abb. 13.57, Phase 1). Die Fingerbeere bekommt nach kurzer Strecke einen erhöhten Gegendruck, der die Richtung der Palpation nach lateral ändert (▶ Abb. 13.57, Phase 2). An dieser Stelle befindet sich der Proc. articularis superior, der Teil der „artikulären Säule“ auf C 3.

13

Abb. 13.56 Phasen der Palpation ZAG.

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Halswirbelsäule

Abb. 13.58 Palpation des ZAG C 2–C 3.

Bestätigung der richtigen Lokalisation Das richtige Aufsuchen des ZAG C 2–C 3 kann auf dreierlei Weisen bestätigt werden: ● Mit einer weiträumigen Bewegung des palpierenden Fingers nach kranial und kaudal ergibt sich eine „Wellenform“ der artikulären Säule unter dem palpierenden Finger. Das ZAG wölbt sich nach hinten heraus. Die Zwischenbereiche zu den benachbarten ZAGs sind etwas flacher. Gereizte Gelenkkapseln reagieren druckempfindlich, wenn man die Technik als provokative Palpation ausführt. ● Man setzt die Palpation nach lateral fort. Der knöcherne Gegendruck lässt nach und der Finger beschreibt eine abrupte Kurve nach ventral (▶ Abb. 13.56, Phase 3). Nun ist man von der artikulären Säule seitlich heruntergerutscht und befindet sich an der hinteren Begrenzung des Querfortsatzes (Tuberculum posterior).

388

Abb. 13.59 Bestätigung durch Bewegung.



Bestätigung durch Bewegung. Die Position auf der artikulären Säule wird wieder aufgesucht (▶ Abb. 13.58). Die Fingerbeere befindet sich etwas unterhalb des ZAG C 2–C 3. Das Gelenk wird aus dem oberen Gelenkfortsatz C 3 und dem unteren von C 2 gebildet. Durch das Einbringen einer sehr lokalen Bewegung ist es möglich, die „ineinander gleitende“ bzw. „auseinander gleitende“ Bewegung in dem Gelenk zu spüren. ○ Konvergenz – ineinandergleiten (▶ Abb. 13.59): Die bevorzugte Bewegung, die man dabei am Kopf einbringt, ist eine sehr lokale Seitneigung zur palpierten Seite. Man könnte auch eine Rotation einbringen. Hier würde man zunächst etwa 40° im Segment C 1–C 2 rotieren, bis die Bewegung auf das Zielsegment C 2– C 3 weiterläuft. Bringt man eine kleine Seitneigung des Kopfes ein, rotiert C 2 sofort in die Richtung der Seitneigung. Recht bald ist die Bewegung am ZAG C 2–C 3 zu spüren. ○ Divergenz – auseinandergleiten: Bei einer Seitneigung zur Gegenseite, ggf. mit leichter Flexion, entfernt sich C 2 von der Fingerbeere.

13.7 Techniken der Palpation dorsal

Tipp Es ist zu erwarten, dass sich der Druck durch den inferioren Gelenkfortsatz von C 2 gegen die Fingerbeere erhöht. Wenn die erwartete Wahrnehmung nicht gleich eintritt, muss man den Vorgang ein paar Mal wiederholen, bis man die Bewegung gut spürt. Gibt man in der Endstellung des Gelenkes bei eingebrachter Seitneigung und/oder Rotation einen rhythmischen Schub mit der Fingerbeere in Richtung Orbita (parallel zu der Ausrichtung des Gelenkspaltes), so sollte das zu erwartende Gefühl fest-elastisch sein. Dieses Manöver kann auch als „Federtest“ für alle weiteren ZAGs auf einer Seite durchgeführt werden. Bei einer lokalen Bewegungseinschränkung antwortet das Gelenk mit einem fast harten Widerlager.

13.7.6 Muskulatur, subokzipitale Nerven und Gefäße Es gibt 3 Insertionslinien für Muskulatur am Okziput (▶ Abb. 13.60): ● Linea nuchae suprema: von der Protuberantia ausgehend nach kranial und lateral ● Linea nuchae superior: von der Protuberantia ausgehend großbogig nach lateral ● Linea nuchae inferior: schwer erreichbare Insertionslinie für die tiefen Nackenmuskeln

den Muskeln dieser Region sind: M. semispinalis capitis, M. splenius capitis und M. sternocleidomastoideus. Im nachfolgenden Palpationsgang werden die Lage der Muskeln und die dazwischen liegenden Lücken mit dem Durchtritt neuraler und vaskulärer Strukturen deutlich.

Mm. semispinalis capitis und trapezius, Pars descendens Die Palpation startet in der subokzipitalen Grube. Diese wird zu beiden Seiten von den Mm. semispinales capitis und den Mm. trapezii begrenzt. Um die Muskulatur in ihrer Lage und Dimension noch deutlicher zu machen, bedienen wir uns ihrer Aktivität. Zunächst umfasst man das Muskelpaket direkt paravertebral mit Daumen und 2 Fingerbeeren (▶ Abb. 13.61). Hierauf neigt der Patient den Kopf komplett nach vorne. Das ist vor allem eine Flexion in der unteren HWS. Anschließend extendiert er hochzervikal gegen etwas Widerstand durch die Hand des Therapeuten (▶ Abb. 13.62). Der Auftrag „Kinn nach vorne schieben“ ist dabei sehr hilfreich.

Die erreichbaren oberflächig liegenden Muskeln inserieren an der Linea nuchae superior, etwa 2 Fingerbreit kranial des palpierten Hinterhauptrandes. Die vorherrschen-

Linea nuchae suprema

Linea nuchae superior

13 Linea nuchae inferior

Abb. 13.60 Os occipitale von dorsal.

Abb. 13.61 Palpation des M. semispinalis capitis.

389

Halswirbelsäule

a Abb. 13.62 Aktivität M. semispinalis capitis.

Unter der Palpation wird der M. semispinalis capitis jetzt als festes, deutliches Muskelpaket direkt paravertebral spürbar und sichtbar. Unter dieser Aktivität lässt er sich bis zum Insertionsfeld an der Linea nuchae superior verfolgen. Der Vorderrand des M. trapezius, Pars descendens, begrenzt die Grube oberhalb der Klavikula nach dorsal. Seine Lage ist im Allgemeinen bekannt, sein vorderer Rand leicht zu ertasten. Die eingesetzte Technik ist rechtwinklig mit den Fingerspitzen gegen den Rand palpierend (▶ Abb. 13.63, ▶ Abb. 13.63a, Phase 1). Verfolgt man den Muskel konsequent mit etwas Schub gegen seinen Rand nach kraniomedial, so wird der palpierende Finger zur Linea nuchae superior, genau mittelständig auf den Insertionsbereich des M. semispinalis capitis geführt (▶ Abb. 13.63, ▶ Abb. 13.63b, Phase 2).

b Abb. 13.63 Palpation des M. trapezius, Pars descendens. a Phase 1. b Phase 2.

390

13.7 Techniken der Palpation dorsal

M. sternocleidomastoideus Die Lage und die Muskelränder des M. sternocleidomastoideus sind klar zu bestimmen. Sollte er im aufrechten Sitz nicht so einfach zu erkennen sein, benötigt man Muskelaktivität, um ihn deutlich zu machen. Hierzu eignet sich eine isometrische Aktivität in Rotation zur Gegenseite oder die Seitneigung zur palpierten Seite (▶ Abb. 13.64, ▶ Abb. 13.64a, Phase 1) gegen einen Widerstand der am Kopf liegenden Hand. Der hintere Rand wird nach kranial verfolgt, bis die Insertion direkt hinter dem Proc. mastoideus in Höhe der Linea nuchae superior erreicht ist (▶ Abb. 13.64, ▶ Abb. 13.64b, Phase 2). Der Vorderrand des M. sternocleidomastoideus kann mit gleicher Technik in rechtwinkliger Palpation gegen den Muskelrand ertastet werden. Der vordere Rand endet an der Vorderkante des Proc. mastoideus. Nun zeichnet man zur besseren Orientierung für die nächsten Schritte die Ränder der bisher palpierten Muskeln auf die Haut (▶ Abb. 13.65): Mm. semispinalis capitis, trapezius, Pars descendens und sternocleidomastoideus. Weiterhin kann man das topografische Wissen über Nerven und Gefäße dieser Region in diese Zeichnung übertragen (▶ Abb. 13.65). a

13

b Abb. 13.64 Palpation des M. sternocleidomastoideus. a Phase 1. b Phase 2.

Abb. 13.65 Aufmalen der Muskelränder mit Nerven und Gefäßen.

391

Halswirbelsäule

M. splenius capitis

Subokzipitale Nerven und Gefäße

Eine weitere kräftige Muskulatur lässt sich im Nackenbereich lokalisieren: der M. splenius capitis. Er gehört zum spinotransversalen System und steigt von den zervikalen Procc. spinosi zur superioren Linea nuchae auf. Er inseriert direkt lateral des M. semispinalis capitis und direkt medial des Proc. mastoideus bzw. des M. sternocleidomastoideus. Seine genaue Lokalisation ist nicht so einfach wie die vorangegangene. Wir benötigen hier häufig kräftige Muskelaktivität, um seine Lage deutlich zu machen. Sein Muskelbauch wird deutlich bei aktiver ausgiebiger Bewegung der HWS in Extension, Rotation und Seitneigung hin zur palpierten Seite. Zunächst platziert man bei neutral eingestellter HWS eine flach aufgelegte Fingerbeere an den Hinterhauptsrand in den Zwischenraum zwischen den Mm. semispinalis capitis und sternocleidomastoideus (▶ Abb. 13.66, ▶ Abb. 13.66a, Phase 1). Danach führt man die HWS in eine leichte Einstellung mit Extension, Rotation und Seitneigung zur palpierten Seite (▶ Abb. 13.66, ▶ Abb. 13.66b, Phase 2). Hierzu schaut der Patienten über seine Schulter. Gegen den Widerstand der Hand des Therapeuten führt er den Kopf weiter in die Blickrichtung. Die nötige Kraft hierzu bringt vor allem der M. splenius auf, dessen Muskelbauch jetzt deutlich gegen den palpierenden Finger drückt.

Wie bereits im Kapitel Anatomie besprochen, verlaufen 2 Nerven und 1 Arterie über den Rand des Hinterhaupts in Richtung Kopf: A. occipitalis und Nn. occipitalis major und minor. Ihre Lage ist sehr variabel. Die genauesten Auskünfte über ihren Verlauf findet man bei Lanz und Wachsmuth (1979). Die hier beschriebene Lage stellt den angenommenen Durchschnitt dar. Mit der Palpation kann man diese Strukturen mit viel Übung und Erfahrung schon genau bestimmen. Zwei Bereiche am Hinterhaupt, die weniger feste Muskelabdeckungen haben und im folgenden Muskellücken am Hinterhaupt genannt werden, helfen uns dabei, die Nerven und die Arterie zu lokalisieren. Diese Muskellücken sind in der Palpation von medial nach lateral am Hinterhaupt an 2 Stellen deutlicher zu spüren. Sie liegen jeweils zwischen benachbarten Muskeln (▶ Abb. 13.67). ● Mediale Muskellücke: Lateraler Rand des M. semispinalis capitis und medialer Rand des M. splenius capitis. Hier durchstoßen die A. occipitalis und der N. occipitalis major die Faszien und verlaufen subkutan auf das Hinterhaupt. An dieser Stelle kann man mit verstärktem Druck mittelbar den Arcus posterior des Atlas erreichen. Dies ist für einige Mobilitäts- und Stabilitätstests sowie manualtherapeutische Behandlungstechniken am Segment C 0–C 1 von großer Bedeutung.

a Abb. 13.66 Palpation des M. splenius capitis. a Phase 1. b Phase 2.

392

b

13.7 Techniken der Palpation dorsal ●

Laterale Muskellücke zwischen dem lateralen Rand des M. splenius und dem dorsalen (medialen) Rand des M. sternocleidomastoideus. An dieser Stelle passiert der N. occipitalis minor den Rand des Hinterhauptbeines. Er ragt etwa in Höhe C 2 hinter dem M. sternocleidomastoideus hervor und verläuft dann recht geradlinig zum Hinterhaupt empor.

mediale Muskellücke

laterale Muskellücke M. semispinalis capitis

M. splenius capitis

Zum Aufsuchen der A. occipitalis wird eine Fingerbeere flächig und mit sanfter Berührung an den Hinterhauptsrand in Höhe der medialen Muskellücke aufgelegt (▶ Abb. 13.68). Meistens benötigt man etwas Zeit, bis die Pulsation der Arterie spürbar ist. Ist das nicht der Fall, muss etwas weiter medial oder lateral von der vermuteten Lokalisation auf die gleiche Weise getastet werden. Direkt neben der Arterie befindet sich der N. occipitalis major. Zum Auffinden ist eine steile Palpation mit der Fingerspitze die richtige Technik (▶ Abb. 13.69). Mit deutlichem Druck und raschen Hin-und-her-Bewegungen lässt sich ein peripherer Nerv gerade bei so einer harten Unterlage wie eine Gitarrensaite leicht anzupfen. Er rollt dann unter diesen Bewegungen unter der Fingerspitze hindurch. Mit gleicher Technik versucht man in Höhe der lateralen subokzipitalen Muskellücke den N. occipitalis minor zu finden (▶ Abb. 13.70).

M. sternocleidomastoideus

Abb. 13.67 Muskellücken subokzipital.

13

Abb. 13.68 Palpation subokzipitaler Gefäße: A. occipitalis.

Abb. 13.69 Palpation subokzipitaler Nerven: N. occipitalis major.

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Halswirbelsäule Neben den Tests auf Stabilität des Lig. transversus atlantis gehört die Prüfung der alaren Ligamente zu den entscheidenden Fähigkeiten, um eine Aussage über die wichtigen Ligamente dieser Region zu machen (Kap. 13.8.2). In der unteren HWS spielen degenerative Prozesse innerhalb der Segmente mit zunehmendem Alter eine wichtige Rolle. Mit einer einfachen Technik kann man sowohl die entscheidende Provokation als auch die Höhenbestimmung des betroffenen Segmentes durchführen (Kap. 13.8.3). Letztlich wird eine äußerst angenehme, funktionelle und effektive Variante detonisierender Muskeltechniken beschrieben. Diese Funktionsmassagen an der paravertebralen Muskulatur kann jeder Therapeut mit etwas Geschick ausführen. Häufig werden sie gerne als Einstieg in die Behandlung schmerzhafter Beschwerdebilder oder zur Vorbereitung einer lokalen Untersuchung oder Behandlung eingesetzt (Kap. 13.8.4).

13.8.1 Funktionsmassage des M. trapezius in Rückenlage

Abb. 13.70 Palpation N. occipitalis minor.

13.8 Therapeutische Hinweise In diesen ersten Palpationsgängen auf der HWS-Rückseite haben wir palpatorische Möglichkeiten aufgezeigt, die sich in der Arbeit am Patienten gut umsetzen lassen. Jetzt gelingt eine recht sichere Höhenlokalisation. Dorsal gelegene Muskeln und die dorsolateral liegenden ZAGs sind gut zu spüren. Die Basis für lokale Mobilitätstest der ZAG ist gelegt. Das Spüren der Bewegungen an den ZAGs wurde bereits beschrieben (Kap. 13.7.5). Der Federtest ist eine der schnellsten und aussagekräftigsten Möglichkeiten, ein ZAG auf Mobilität hin zu untersuchen. Über die Laminae lassen sich verschiedene manualtherapeutische Techniken mit Einfluss auf die segmentale Mobilität einbringen. Hierzu sei auf die Spezialliteratur verwiesen. Nachfolgend werden ● zunächst Varianten der Funktionsmassage des M. trapezius, Pars descendens, ● und folgend 3 Techniken vorgestellt, die in und außerhalb der Manuellen Therapie einen Stellenwert haben. Sie dienen vor allem der Überprüfung der hochzervikalen Stabilität.

394

Eine weitere Möglichkeit, den absteigenden Anteil des M. trapezius und der paravertebralen Nackenmuskeln zu detonisieren, ist eine Technik in Rückenlage. Die Benutzung der HWS-Rotation sowie einer einfachen Schulterdepression sind die entscheidenden Unterschiede zur Technik in Seitenlage. Das zur Verfügung stehende schmerzfreie Bewegungsausmaß in Rotation der HWS muss daher vorab geprüft werden.

Ausgangsstellung Der Patient liegt neutral in Rückenlage, nahe an der Kante des Kopfteils. Der Hinterkopf sollte sogar etwas über die Kante hinaus ragen. Er wird mit z. B. einem gefaltetem Handtuch leicht unterlagert.

Vorsicht Nicht die HWS unterlagern!

Der Unterarm auf der zu behandelnden Seite wird auf den Bauch gelegt und mit der zweiten Hand gehalten (Variante nach Oliver Oswald). Hierdurch wird die nötige Mitbewegung der Skapula erleichtert. Der Therapeut nimmt mit seinem Körper Kontakt seitlich am Kopf des Patienten auf. Eine Hand führt den Schultergürtel, die andere setzt die verformenden Griffe am M. trapezius. Der Unterarm liegt seitlich am Kopf an.

Halswirbelsäule Neben den Tests auf Stabilität des Lig. transversus atlantis gehört die Prüfung der alaren Ligamente zu den entscheidenden Fähigkeiten, um eine Aussage über die wichtigen Ligamente dieser Region zu machen (Kap. 13.8.2). In der unteren HWS spielen degenerative Prozesse innerhalb der Segmente mit zunehmendem Alter eine wichtige Rolle. Mit einer einfachen Technik kann man sowohl die entscheidende Provokation als auch die Höhenbestimmung des betroffenen Segmentes durchführen (Kap. 13.8.3). Letztlich wird eine äußerst angenehme, funktionelle und effektive Variante detonisierender Muskeltechniken beschrieben. Diese Funktionsmassagen an der paravertebralen Muskulatur kann jeder Therapeut mit etwas Geschick ausführen. Häufig werden sie gerne als Einstieg in die Behandlung schmerzhafter Beschwerdebilder oder zur Vorbereitung einer lokalen Untersuchung oder Behandlung eingesetzt (Kap. 13.8.4).

13.8.1 Funktionsmassage des M. trapezius in Rückenlage

Abb. 13.70 Palpation N. occipitalis minor.

13.8 Therapeutische Hinweise In diesen ersten Palpationsgängen auf der HWS-Rückseite haben wir palpatorische Möglichkeiten aufgezeigt, die sich in der Arbeit am Patienten gut umsetzen lassen. Jetzt gelingt eine recht sichere Höhenlokalisation. Dorsal gelegene Muskeln und die dorsolateral liegenden ZAGs sind gut zu spüren. Die Basis für lokale Mobilitätstest der ZAG ist gelegt. Das Spüren der Bewegungen an den ZAGs wurde bereits beschrieben (Kap. 13.7.5). Der Federtest ist eine der schnellsten und aussagekräftigsten Möglichkeiten, ein ZAG auf Mobilität hin zu untersuchen. Über die Laminae lassen sich verschiedene manualtherapeutische Techniken mit Einfluss auf die segmentale Mobilität einbringen. Hierzu sei auf die Spezialliteratur verwiesen. Nachfolgend werden ● zunächst Varianten der Funktionsmassage des M. trapezius, Pars descendens, ● und folgend 3 Techniken vorgestellt, die in und außerhalb der Manuellen Therapie einen Stellenwert haben. Sie dienen vor allem der Überprüfung der hochzervikalen Stabilität.

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Eine weitere Möglichkeit, den absteigenden Anteil des M. trapezius und der paravertebralen Nackenmuskeln zu detonisieren, ist eine Technik in Rückenlage. Die Benutzung der HWS-Rotation sowie einer einfachen Schulterdepression sind die entscheidenden Unterschiede zur Technik in Seitenlage. Das zur Verfügung stehende schmerzfreie Bewegungsausmaß in Rotation der HWS muss daher vorab geprüft werden.

Ausgangsstellung Der Patient liegt neutral in Rückenlage, nahe an der Kante des Kopfteils. Der Hinterkopf sollte sogar etwas über die Kante hinaus ragen. Er wird mit z. B. einem gefaltetem Handtuch leicht unterlagert.

Vorsicht Nicht die HWS unterlagern!

Der Unterarm auf der zu behandelnden Seite wird auf den Bauch gelegt und mit der zweiten Hand gehalten (Variante nach Oliver Oswald). Hierdurch wird die nötige Mitbewegung der Skapula erleichtert. Der Therapeut nimmt mit seinem Körper Kontakt seitlich am Kopf des Patienten auf. Eine Hand führt den Schultergürtel, die andere setzt die verformenden Griffe am M. trapezius. Der Unterarm liegt seitlich am Kopf an.

13.8 Therapeutische Hinweise

Technik

13.8.2 Test der der Ligg. alaria

Die kopfnahe Hand verformt die Muskulatur (M. trapezius und Nackenmuskeln). Dies erfolgt durch Querdehnung des M. trapezius nach vorne und paravertebral eher zur Seite. Der Unterarm führt den Kopf in Rotation und der Körper des Therapeuten weicht dabei etwas aus. Die zweite Hand führt den Schultergürtel in eine Depression. Die Verformung der Muskulatur und die Depression lassen wieder nach, während der Körper des Therapeuten den Kopf des Patienten wieder nach neutral zurückrotiert. ● Variante 1 (▶ Abb. 13.71: stärkere Betonung des M. trapezius, forcierte Depression des Schultergürtels und weniger zervikale Rotation. Der Griff ist dabei mehr seitlich. ● Variante 2 (▶ Abb. 13.72): stärkere Betonung der paravertebralen Nackenmuskulatur durch geringere Depression und ausgiebige Rotation. Der Griff ist dann auch mehr medial.

Bei einigen lokalen hochzervikalen Untersuchungs- und Behandlungstechniken ist es erforderlich, dass der Proc. spinosus C 2 gut erspürt oder gar fixiert werden muss. Ein Beispiel für die wichtige Rolle lokaler Palpation bei Befunderhebungstechniken ist der Test auf Stabilität der okzipitalen Portionen der Ligg. alaria.

Ziel Überprüfung der Stabilität der Ligg. alaria partes occipitales.

Kriterien Sofortige Mitbewegung von C 2 bei einer kleinen hochzervikalen Seitneigung (Seitnickbewegung) des Kopfes. Hartes Endgefühl bei Dehnungstest der Bänder.

Ausführung Beschrieben wird eine Ausführungsvariante, wie sie die IAOM-Lehrgruppe vermittelt. Der Test wird auf beiden Seiten, für beide okzipitalen alaren Bänder durchgeführt. ▶ Vorbereitung. Zunächst wird der Proc. spinosus C 2 aufgesucht und mit Daumen und Zeigefinger weiträumig umgriffen, um den Kontakt zu den Laminae auf beiden Seiten herzustellen (▶ Abb. 13.73). Hierauf wird der Kopf

Abb. 13.71 Funktionsmassage des M. trapezius in Rückenlage, Variante 1.

13

Abb. 13.72 Funktionsmassage des M. trapezius in Rückenlage, Variante 2.

Abb. 13.73 Test der Ligg. alaria. Aufsuchen der Laminae C 2.

395

Halswirbelsäule

Abb. 13.74 Fixation einer Lamina.

im therapeutischen Ring stabilisiert und der Zeigefinger von einer Lamina (hier rechts) gelöst (▶ Abb. 13.74). Das Ergebnis sollte ein deutlicher Kontakt des Daumens seitlich gegen die Lamina C 2 sein (hier von links). ▶ Phase 1 – Bewegungstest. Unter leichtem axialen Druck wird ein kleines lokales Seitnicken des Kopfes (hier nach rechts) weg vom Therapeuten herbeigeführt (▶ Abb. 13.75). Durch die direkte Bewegungskopplung der Seitneigung mit Rotation entsteht eine sofortige Drehung von C 2 nach rechts und demnach eine Bewegung des Proc. spinosus C 2 nach links. Die leichte axiale Kompression verstärkt das gekoppelte Bewegungsverhalten von C 2. Die Bewegung des Proc. spinosus ist durch eine Druckzunahme am palpierenden Daumen sofort wahrzunehmen. Die gleichen Seitnickbewegungen werden nur auch zur anderen Seite ausgeführt (hier nach links). wobei die Drehung des Proc. spinosus nach rechts von dem Zeigefinger wahrgenommen werden sollte. Es wird hier vor allem getestet, ob C 2 frei auf C 3 bewegen kann; eine unbedingte Voraussetzung für die folgenden Phasen. ▶ Phase 2 – Bewegungstest Gegenprobe. Nun wird versucht, bei fixiertem Proc. spinosus C 2, den Kopf in eine lokale Seitnickbewegung (hier nach rechts) zu führen.

396

Abb. 13.75 Seitneigung weg vom Therapeuten.

Dazu erhöht man den Druck gegen den Proc. spinosus noch einmal, sodass er wirklich gegen eine Bewegung fixiert ist. Unter leichtem axialem Zug an der HWS versucht der Therapeut, mit dem therapeutischen Ring wieder eine Seitnickbewegung zu bewirken. Normalerweise darf keine Bewegung entstehen. ▶ Phase 3 – Endgefühltest. Zum Schluss wird ein kurzer Dehnungstest des Ligaments durchgeführt. Hierzu bringt man unter fortwährendem leichten axialen Zug zunächst eine kleine Seitneigung ein, die von dem Daumen am Proc. spinosus auch zugelassen wird. Daraufhin wird der Kopf in der Seitnickposition gehalten, während der Daumen einen kurzen intensiven Druck auf den gedrehten Proc. spinosus zurück nach medial ausübt. Ein knallhartes Endgefühl beweist ein intaktes Band. Nun ist das okzipitale alare Ligament der rechten Seite auf Stabilität geprüft. Darauf hin wechselt der Therapeut die Seite und wiederholt die Phasen 2 und 3, um das linke okzipitale alare Band zu prüfen.

13.8 Therapeutische Hinweise

Interpretation ▶ Phase 1. Häufigster Fehler bei der Durchführung ist ein zu geringer Kontakt zum Processus, sodass die Bewegung nicht sofort wahrgenommen wird. Eine Einschränkung der Beweglichkeit zwischen C 2 und C 3 wird die Rotation von C 2 behindern. Zur Bestätigung ist es empfehlenswert, das Segment C 2–C 3 mit einem Federtest auf Beweglichkeit zu überprüfen (Kap. 13.7.5). Phase 2: Wenn der Versuch, den Kopf bei fixiertem Proc. spinosus C 2 in eine Seitneigung zu bewegen, erfolgreich ist, liegt die Bestätigung einer Bandlaxität vor. Wichtig in der Ausführung ist, dass nicht eine Bewegung der Hand mit der Gesichtshaut auf dem knöchernen Schädel versehentlich als Seitneigung verkannt wird. Der Griff an der Lamina des Proc. spinosus ist das alles Entscheidende bei diesem Test. Wenn dieser nicht einen unmittelbaren Kontakt gewährleistet, erhält man keine genauen Ergebnisse. ▶ Phase 3. Nur der knallharte Anschlag des alaren Bandes ist der Beweis für seine Unversehrtheit. Der Test gilt als positiv, wenn der Druck mit dem Daumen bereits etwas elastisch beantwortet wird. Erst wenn die Ligg. alaria alle 3 Phasen des Testes auf beiden Seiten ohne Verdacht auf Laxität bestanden haben, kann man behaupten, dass diese Bänder stabil sind. Bei laxen Ligg. alaria werden keine Behandlungstechniken eingesetzt, wobei enorme Kräfte über einen Zug am Kopf auf die HWS übertragen und/oder sehr große rotatorische Bewegungen eingebracht werden.

Abb. 13.76 Niveaubestimmung bei chronischer Bandscheibenirritation.

Ziel Lokalisation des irritierten Segmentes.

13.8.3 Niveaubestimmung bei chronischen Bandscheibenirritationen Als weiteres gutes Beispiel für die Anwendbarkeit der Anatomie in vivo an der dorsalen HWS ist ein sehr einfacher Test, den man durchführt, um bei Patienten mit langwierigen Nackenbeschwerden eine Niveaubestimmung der chronisch irritierten Bandscheiben durchzuführen (▶ Abb. 13.76) Die zervikalen Bandscheiben kontrollieren die translatorische Bewegung des oben liegenden Wirbels bei einer echten Extension (Rückneigung des Kopfes mit einer Kinn-in-Einstellung). Bei einer Bandscheibenirritation ist daher dieses Manöver schmerzhaft. Um das Segment mit der irritierten Bandscheibe lokal zu behandeln, muss man es zunächst lokalisieren. Das Prinzip des Tests besteht darin, dass die Lamina des unten liegenden Wirbels eines Segmentes stabilisiert wird und darüber eine echte Extension ausgeführt wird.

Kriterien Schmerzangabe durch den Patienten.

Ausführung Über den Proc. spinosus C 2 werden die Laminae von C 2 und anschließend von C 3 aufgesucht. Das ist das erste Bandscheibensegment. Die Laminae werden flächig und mit einem deutlichen Druck mit beiden Daumen nach ventral gegengehalten. Der Patient bringt eine echte Extension der unteren HWS ein (Rückneigen des Kopfes mit Kinn-in-Einstellung) und dann eine Lordose hinzu. C 3 wird durch die Fixation mit den Daumen nach ventrokaudal auf C 4 an der Bewegung behindert. Die Extension bleibt auf das Niveau C 2–C 3 reduziert. Falls der Test negativ ist, werden die nächst tieferen Laminae stabilisiert und der Test wiederholt. Bei den tief liegenden Segmenten ist es manchmal lohnend, den Mund öffnen zu lassen, um bei entspannenden oberflächigen Halsmuskeln ein größeres Bewegungsausmaß zu erhalten.

13

397

Halswirbelsäule

Interpretation Der Test ist positiv und das Segment gefunden, wenn der Patient seine typischen Schmerzen angibt. Es ist zu erwarten, dass der Test eher in den unteren Bandscheibensegmenten positiv ist, da hier, analog zu den tief lumbalen Segmenten, die häufigsten Bandscheibendegenerationen zu erwarten sind.

13.8.4 Funktionsmassagen In Ergänzung zu den Funktionsmassagen am Ende des 2. Kapitels werden hier noch einige Varianten in der ASTE Sitz gezeigt. Wichtig für eine erfolgreiche Detonisierung der Nackenmuskeln ist die sichere Aufnahme des Kopfes in den therapeutischen Ring, sodass der Patient sein Kopfgewicht weitestgehend dem Therapeuten übergeben kann. Ziel der Technik ist das quere Verformen der Muskulatur, kombiniert mit einer Längsdehnung durch Bewegung der HWS. Die quere Verformung erfolgt durch die massierende Hand im Nacken, die Bewegung wird über den therapeutischen Ring kontrolliert. Bei dem abgebildeten Bei-

a Abb. 13.77 Funktionsmassage paravertebral. a Startposition. b Endposition.

398

spiel wird die paravertebrale Nackenmuskulatur großflächig, mit einem breiten „V-Griff“, nach hinten verformt, wonach der Kopf nach vorne geneigt wird. Man beginnt in der neutralen ASTE der HWS und umfasst mit der stabilisierenden Hand knapp oberhalb der Region, die behandelt werden soll. Das hat zur Folge, dass die anschließende Flexionsbewegung nicht so ausgiebig sein muss, um eine Längsdehnung zu erzielen (▶ Abb. 13.77, ▶ Abb. 13.77a, Phase 1). Die massierende Hand wird mit weit gespreiztem Daumen von dorsal auf die Nackenmuskulatur gelegt. Sie nimmt Kontakt mit den darunter liegenden Muskeln auf und klemmt sie mit einem Kneifgriff nach medial und dorsal. Unter dieser anhaltenden Querdehnung wird eine zusätzliche Längsdehnung durch eine HWS-Flexion eingebracht (▶ Abb. 13.77, ▶ Abb. 13.77b, Phase 2). Diese Funktionsmassage kann man verschiedentlich variieren: ● langsam rhythmische Wiederholung oder statische Dehnung ● wiederkehrende Verformung an einem Segment oder abgestuftes Durcharbeiten der ganzen Nackenmuskulatur von kaudal nach kranial

b

13.9 Techniken der Palpation lateral

Proc. transversus C1 Proc. transversus C2 Proc. transversus C3

M. sternocleidomastoideus

Abb. 13.78 Funktionsmassage mit breitem V-Griff.



● ●

breiter V-Griff = Mm. semispinalis, trapezius, splenius und longissimus (▶ Abb. 13.78) schmaler V-Griff = Mm. semispinalis und trapezius symmetrische Bewegung der HWS in Flexion und gleichmäßige Verformung auf beiden Seiten oder gekoppelte Bewegung in Flexion plus Seitneigung und Rotation zum Therapeuten und Verformung betont auf der bewegungsabgewandten Seite

Abb. 13.79 Procc. transversi und M. sternocleidomastoideus.



13.9 Techniken der Palpation lateral Die seitliche Halsregion wird vom M. sternocleidomastoideus diagonal durchzogen. Oberhalb des Muskelbauchs ist lediglich die Lokalisation des Proc. transversus C 1 für die Palpation der HWS interessant. Alle weiteren erreichbaren Strukturen liegen unterhalb oder dorsal des Muskels, im seitlichen Halsdreieck und oberhalb der Fossa supraclavicularis. Die sitzende und neutrale ASTE des Probanden ist auch hier die geeignetste Position, um die sichere Lokalisation der beschriebenen Strukturen zu trainieren. Andere ASTEn (z. B. Rückenlage) können später auch gewählt werden. Die Lage der Procc. transversi muss man vor allem in Bezug zum M. sternocleidomastoideus sehen. Der Proc. transversus C 1 liegt vor dem M. sternocleidomastoideus, der von C 2 und C 3 direkt unter und kaudalere Procc. transversi hinter dem Muskelbauch (▶ Abb. 13.79). Darüber hinaus ist es wichtig, welche Form man erwartet: ● Die Spitzen des Proc. transversus C 1 reichen sehr weit nach lateral. Der Proc. transversus selbst ist in seiner Länge und Form sehr variabel. Er kann mitunter eher nach dorsal zeigen oder auch dem Okziput sehr nahe

stehen. Die Varianten in Form und Länge des Querfortsatzes können zu Fehlinterpretationen führen, wenn man seitendifferente Palpationsergebnisse hat. Daher ist die reine Positionsdiagnostik sehr unzuverlässig. Alle weiteren Procc. transversi ab C 2 nach kaudal sind eher kurz. Daher kann man erwarten, dass der palpierende Finger von der Spitze des Proc. transversus C 1 nach kaudal hin in die Tiefe abrutscht, bis er auf den von C 2 trifft. Die Grundlage der gezielten Palpation sind hier wieder die topografische Anatomie und die Erwartung an Konsistenz und Form.

13.9.1 Arcus mandibulae Der Hinterhauptsrand wird nach lateral bis zum Proc. mastoideus verfolgt. Bei einer rechtwinkligen Technik mit 1 oder 2 Fingerspitzen stößt man von dorsal gegen den Unterkiefer (▶ Abb. 13.80, ▶ Abb. 13.80a). Falls man sich nicht sicher ist, kann der Proband den Mund leicht öffnen und schließen. Bei der Mundöffnung bewegt sich der Arcus mandibulae des Unterkiefers gegen den palpierenden Finger. Nun sind die wichtigsten knöchernen Referenzpunkte der Region aufgesucht. Jetzt kann die Suche nach klinisch relevanten Strukturen beginnen. In jedem Fall befinden sich die palpierenden Finger ventral des M. sternocleidomastoideus (▶ Abb. 13.80, ▶ Abb. 13.80b).

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13.9 Techniken der Palpation lateral

Proc. transversus C1 Proc. transversus C2 Proc. transversus C3

M. sternocleidomastoideus

Abb. 13.78 Funktionsmassage mit breitem V-Griff.



● ●

breiter V-Griff = Mm. semispinalis, trapezius, splenius und longissimus (▶ Abb. 13.78) schmaler V-Griff = Mm. semispinalis und trapezius symmetrische Bewegung der HWS in Flexion und gleichmäßige Verformung auf beiden Seiten oder gekoppelte Bewegung in Flexion plus Seitneigung und Rotation zum Therapeuten und Verformung betont auf der bewegungsabgewandten Seite

Abb. 13.79 Procc. transversi und M. sternocleidomastoideus.



13.9 Techniken der Palpation lateral Die seitliche Halsregion wird vom M. sternocleidomastoideus diagonal durchzogen. Oberhalb des Muskelbauchs ist lediglich die Lokalisation des Proc. transversus C 1 für die Palpation der HWS interessant. Alle weiteren erreichbaren Strukturen liegen unterhalb oder dorsal des Muskels, im seitlichen Halsdreieck und oberhalb der Fossa supraclavicularis. Die sitzende und neutrale ASTE des Probanden ist auch hier die geeignetste Position, um die sichere Lokalisation der beschriebenen Strukturen zu trainieren. Andere ASTEn (z. B. Rückenlage) können später auch gewählt werden. Die Lage der Procc. transversi muss man vor allem in Bezug zum M. sternocleidomastoideus sehen. Der Proc. transversus C 1 liegt vor dem M. sternocleidomastoideus, der von C 2 und C 3 direkt unter und kaudalere Procc. transversi hinter dem Muskelbauch (▶ Abb. 13.79). Darüber hinaus ist es wichtig, welche Form man erwartet: ● Die Spitzen des Proc. transversus C 1 reichen sehr weit nach lateral. Der Proc. transversus selbst ist in seiner Länge und Form sehr variabel. Er kann mitunter eher nach dorsal zeigen oder auch dem Okziput sehr nahe

stehen. Die Varianten in Form und Länge des Querfortsatzes können zu Fehlinterpretationen führen, wenn man seitendifferente Palpationsergebnisse hat. Daher ist die reine Positionsdiagnostik sehr unzuverlässig. Alle weiteren Procc. transversi ab C 2 nach kaudal sind eher kurz. Daher kann man erwarten, dass der palpierende Finger von der Spitze des Proc. transversus C 1 nach kaudal hin in die Tiefe abrutscht, bis er auf den von C 2 trifft. Die Grundlage der gezielten Palpation sind hier wieder die topografische Anatomie und die Erwartung an Konsistenz und Form.

13.9.1 Arcus mandibulae Der Hinterhauptsrand wird nach lateral bis zum Proc. mastoideus verfolgt. Bei einer rechtwinkligen Technik mit 1 oder 2 Fingerspitzen stößt man von dorsal gegen den Unterkiefer (▶ Abb. 13.80, ▶ Abb. 13.80a). Falls man sich nicht sicher ist, kann der Proband den Mund leicht öffnen und schließen. Bei der Mundöffnung bewegt sich der Arcus mandibulae des Unterkiefers gegen den palpierenden Finger. Nun sind die wichtigsten knöchernen Referenzpunkte der Region aufgesucht. Jetzt kann die Suche nach klinisch relevanten Strukturen beginnen. In jedem Fall befinden sich die palpierenden Finger ventral des M. sternocleidomastoideus (▶ Abb. 13.80, ▶ Abb. 13.80b).

13

399

Halswirbelsäule

a

b

Abb. 13.80 Arcus mandibulae. a Palpationstechnik. b Alternative Ansicht.

13.9.2 Proc. transversus von C 1 Der Querfortsatz vom Atlas liegt in einem Raum, der von folgenden Strukturen umrahmt wird (▶ Abb. 13.81): ● nach dorsal vom M. sternocleidomastoideus ● nach ventral vom Arcus mandibulae ● nach kranial vom Knorpel der Ohrmuschel; ventral hiervon liegt das Kiefergelenk Die Distanz von der kaudalen Spitze des Proc. mastoideus bis zum Hinterrand des Arcus mandibulae wird dargestellt. Der gesuchte Proc. transversus liegt etwa auf der Hälfte einer leicht abschüssigen Linie zwischen beiden Referenzpunkten, aber sicher ventral des M. sternocleidomastoideus. Er ist individuell unterschiedlich deutlich zu tasten und hat eine rundliche Spitze. Zur Durchführung der Technik erfolgt eine rundliche Palpation mit der Zeigefingerbeere (▶ Abb. 13.82). Zur ruhigen und sicheren Palpation mit der Fingerbeere sollte sich die Hand Stützpunkte an der HWS und/oder am Hinterhaupt suchen. In jedem Fall erwartet man auf direkten Druck in die Tiefe ein hartes Widerlager.

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Kiefergelenk

Arcus mandibulae M. sternocleidomastoideus

Abb. 13.81 Lage des Proc. transversus C 1.

13.9 Techniken der Palpation lateral

Abb. 13.82 Palpation Proc. transversus C 1.

Tipp Im Seitenvergleich sind auch intraindividuelle Unterschiede gut zu erkennen. Sowohl die Länge der Querfortsätze von C 1 als auch die Form der Spitze und die Lage zu den umgebenden knöchernen Strukturen können variieren. Wichtig ist dabei zu wissen, dass Unterschiede im Seitenvergleich zunächst absolut keine Aussage hinsichtlich einer Fehlstellung im Segment zwischen Atlas und Axis zu bedeuten haben.

Abb. 13.83 Palpation des Proc. transversus C 2.

Erneut etwa 1 Fingerbreit nach kaudal ist die Lage der Spitze des Proc. transversus C 3 zu erwarten. Bei einem ausgeprägten M. sternocleidomastoideus kann seine Lage noch etwas verdeckt werden. Der Muskelbauch wird zur Sicherheit etwas nach ventral geschoben, bevor der Druck in die Tiefe erhöht wird (▶ Abb. 13.84). Hier ist wiederum zu erwarten, das dieser Proc. transversus recht kurz ist und der Weg in die Tiefe bis zum knöchernen Gegendruck, je nach Dicke des Gewebes, etwas länger dauert.

Tipp

13.9.3 Procc. transversi von C 2 und C 3 Der Proc. transversus von C 2 ist wesentlich kürzer als der von C 1. Er liegt gut 1 Fingerbreit direkt kaudal von Letzterem in einer Vertiefung. Da er unter dem M. sternocleidomastoideus liegt, ist er direkt schlecht palpabel. Um ihn gut zu erreichen, schiebt man den Muskelbauch zunächst etwas nach dorsal (oder ventral) und erhöht den Druck in die Tiefe (▶ Abb. 13.83). Jetzt ist dieser Querfortsatz deutlich palpabel.

Zur weiteren Orientierung sollte man folgendes berücksichtigen: Alle Nn. spinales der mittleren HWS erreicht man ventral des jeweiligen Proc. transversus und dorsal des M. sternocleidomastoideus. Vom entsprechenden Proc. transversus nach dorsomedial erreicht man die Facettengelenke.

13

401

Halswirbelsäule

a

b

Abb. 13.84 Proc. transversus C 3. a Palpation. b Alternative Ansicht.

13.9.4 Begrenzungen des seitlichen Halsdreiecks Der Bereich der seitlichen Halsregion (Regio colli lateralis) hinter und unterhalb des M. sternocleidomastoideus hat eine grundsätzlich dreieckige Form mit einer kaudalen Basis und wird daher im Folgenden „seitliches Halsdreieck“ genannt (▶ Abb. 13.85). Es wird von folgenden Strukturen begrenzt: ● dorsal: Vorderrand des M. trapezius, Pars descendens ● kaudal: Oberrand der Klavikula ● ventral: Hinterrand des M. sternocleidomastoideus Für die weiteren Beschreibungen erscheint es notwendig, diese Region noch einmal in ein oberes und unteres Halsdreieck zu unterteilen (▶ Abb. 13.94). Im oberen Halsdreieck findet man die Muskelbäuche von: ● M. levator scapulae ● M. scalenus posterius

seitliches Halsdreieck

M. trapezius pars descendens M. sternocleidomastoideus Klavikula

Abb. 13.85 Seitliches Halsdreieck.

402

13.9 Techniken der Palpation lateral Das untere Halsdreieck ist die flächige Vertiefung direkt oberhalb der Klavikula und wird anatomisch als Fossa supraclavicularis bezeichnet. Hier findet man: ● Mm. scalenus anterius und medius ● 1. Rippe ● A. subclavia ● Plexus brachialis

M. sternocleidomastoideus Dieser kräftige Muskel der seitlichen Halsregion lässt sich im Allgemeinen gut auffinden. Der sternale Anteil der rechten Seite wird bei einer ausgiebigen Linksdrehung des Kopfes prominent. Seinen Hinterrand verfolgen wir nach kaudal zu seiner Insertion. Hierzu wird die rechtwinklige Palpationstechnik benutzt, bei der man 2 Fingerkuppen von dorsal gegen den Ansatz am Proc. mastoideus lehnt (▶ Abb. 13.86). Der hintere Muskelrand wird vom Mastoid aus nach kaudal und ventral verfolgt, bis die Fingerspitzen über das Erspüren der Sehne schließlich auf dem Manubrium sterni landen. Der Bezug zum Sternoklavikulargelenk ist in Kap. 2 beschrieben.

Wird die sternale Ansatzsehne dann von kaudal nach kranial palpiert, kann der vordere Rand des Muskelbauchs erspürt werden. Letztlich lassen sich die Muskelränder des sternalen Anteils darstellen, um somit die Breite des Muskels festzustellen (▶ Abb. 13.87).

Tipp Falls man sich bei der Lokalisation nicht ganz sicher ist, fordert man den Patienten zu isometrische Muskelaktivitäten gegen gezielte Widerstände auf (▶ Abb. 13.88). Hierzu platziert man eine Hand an der Stirn der Gegenseite und am seitlichen Schädel der gleichen Seite. Nun kann man den Patienten wahlweise um eine Rotation zur Gegenseite oder eine gleichseitige Seitneigung bitten.

Häufig erst unter isometrischer Muskelaktivität in gleichseitiger Seitneigung stellt sich der Muskelbauch des klavikulären Anteils dar. Er ist deutlich breiter und meist auch schwächer als der sternale Anteil. Mit der gleichen rechtwinkligen Palpationstechnik beginnen wir wieder am Mastoid und verfolgen ihn nach kaudal zum Ansatz am

13

Abb. 13.86 Hinterrand des M. sternocleidomastoideus.

Abb. 13.87 Begrenzen des sternalen Anteils.

403

Halswirbelsäule

Abb. 13.88 Aktivität des M. sternocleidomastoideus.

Abb. 13.89 Hinterrand des klavikulären Anteils.

medialen Drittel der Klavikula (▶ Abb. 13.89). Sein Hinterrand ist die vordere Begrenzung des seitlichen Halsdreiecks. Mit etwas Übung oder bei deutlicher Muskelanspannung ist die Lücke zwischen beiden Muskelteilen im kaudalen Bereich zu erspüren oder gar zu sehen. Dann ist es auch möglich, den Vorderrand des klavikulären Anteils zu ertasten und seine Breite insgesamt darzustellen (▶ Abb. 13.90).

Abb. 13.90 Breite des klavikulären Anteils.

404

13.9 Techniken der Palpation lateral

Klavikula

M. trapezius, Pars descendens

Die Ränder der Klavikula sind am mittleren, nach ventral konvex gebogenen Teil am deutlichsten zu spüren (▶ Abb. 13.91). Neben der klavikulären Form wird dies noch durch die Anwesenheit einer ober- und unterhalb gelegenen Weichteilgrube begünstigt: die Fossae supraund infraclaviculares. Die Fossa supraclavicularis ist der untere Teil des seitlichen Halsdreiecks, die Fossa infraclavicularis wird durch eine Muskellücke zwischen den klavikulären Anteilen der Mm. deltoideus und pectoralis major gebildet. Der Ober- und Unterrand sind von hier aus sehr einfach nach medial und lateral zu verfolgen. Lediglich der Hinterrand ist lateral durch den Muskelbauch des M. trapezius, Pars descendens, nicht einfach zu erspüren. Der Oberrand des mittleren Drittels markiert die breite untere Begrenzung des seitlichen Halsdreiecks und insbesondere der Fossa supraclavicularis.

Zur Abgrenzung des seitlichen Halsdreiecks benötigen wir nur den Vorderrand der Pars descendens. Auch hier wird erneut die rechtwinklige Palpationstechnik mit 2 Fingerkuppen eingesetzt, die von ventral kommend gegen den Rand gestellt werden (▶ Abb. 13.92). Von der klavikulären Insertion verfolgen wir den Rand nach dorsal und kranial, bis wir wieder an der Linea nuchae superior enden. Der Vorderrand des Muskels stellt die letzte und laterale Begrenzung des seitlichen Halsdreiecks dar. Sehr leicht lässt sich dieser Rand an der Fossa supraclavicularis ertasten. Hier ist sein Rand nach medial querverlaufend. Anschließend verändert sich der Verlauf nach kranial und leicht medial.

Tipp Wenn man die äußeren Konturen dieses Röhrenknochens auf die Haut zeichnet, wandelt man die Begrenzungen einer dreidimensionalen Struktur in eine zweidimensionale Zeichnung um. So entstehen häufig Zeichnungen, die merkwürdig groß aussehen, aber fachlich richtig sind.

Tipp Sollte der Muskelrand nicht deutlich zu erspüren sein, kann man die Palpation unter bestehender isometrischer Muskelaktivität durchführen (▶ Abb. 13.93). Hierzu gibt man mit der freien Hand einen Widerstand an der Schulter und fordert den Probanden auf, die Schulter gegen die Hand „hinters Ohr“, in eine posteriore Elevation, zu ziehen.

13

Abb. 13.91 Ränder der Klavikula.

Abb. 13.92 Vorderrand des M. trapezius, Pars descendens.

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Halswirbelsäule

M. trapezius M. semispinalis capitis M. splenius capitis

M. levator scapulae

V. subclavia

A. subclavia

Abb. 13.93 Palpation unter Muskelaktivität.

13.9.5 Oberes seitliches Halsdreieck M. levator scapulae Diesen kräftigen Muskelbauch findet man vor dem M. trapezius, Pars descendens, an der Stelle, an der sich dessen Verlauf von einer medialen zu einer kranialen Richtung verändert (▶ Abb. 13.94). Hierzu benutzt man die Technik zum Aufsuchen des Trapeziusrandes, wobei jetzt die Fingerbeeren in die Tiefe spüren. Zur Bestätigung der richtigen Lokalisation lassen wir den Probanden die Skapula nach vorne elevieren. Jetzt nimmt man die deutliche Anspannung des Muskelbauchs wahr. Er kann unter dieser Anspannung über eine lange Strecke nach kranial und ventral bis zu den Insertionen an den Proc. transversi verfolgt werden. In seinem unteren Verlauf deckt er die Procc. transversi der unteren HWS ab, die man bei seiner Entspannung hier ebenfalls palpieren kann.

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Abb. 13.94 Muskeln des oberen seitlichen Halsdreiecks.

Tipp Die Differenzierung zum M. trapezius, Pars descendens, erfolgt über dessen Anspannung nach kranial und dorsal. Direkt kranial des Muskelbauchs des M. levator scapulae befindet sich der M. splenius capitis, dessen Lage wir im Abschnitt der dorsalen Palpation bereits aufgesucht haben.

13.9 Techniken der Palpation lateral

M. scalenus posterius Direkt kaudal vom Muskelbauch des M. levator scapulae mit nahezu gleicher Verlaufsrichtung liegt der M. scalenus posterius. Die Lokalisation beginnt in dem Dreieck Unterrand M. levator scapulae und Hinterrand M. sternocleidomastoideus. Wird der palpierende Finger hier platziert, liegt er automatisch auf dem etwa fingerdicken M. scalenus posterius (▶ Abb. 13.95). Er wird deutlicher zu ertasten, wenn man auch hier Aktivität erfordert. Dazu dient entweder eine starke Inspiration oder eine Isometrie in gleichseitige zervikale Seitneigung.

Tipp Zur Ausdifferenzierung zu den Mm. levator scapulae und sternocleidomastoideus werden deren Muskelbäuche nochmals unter Aktivität deutlich gemacht: ● M. levator scapulae: Isometrie in Skapula-Elevation nach vorne ● M. sternocleidomastoideus: Isometrie in HWS-Rotation zur Gegenseite Die Differenzierung zum M. scalenus medius ist schwierig, da beide Muskeln sehr eng nebeneinander liegen.

13.9.6 Unteres seitliches Halsdreieck M. scalenus anterius Der Verlauf des M. scalenus anterius wird größtenteils vom M. sternocleidomastoideus abgedeckt. Erst in der Fossa supraclavicularis ist er gut palpabel. Muskelbauch und Insertion an der 1. Rippe sind unmittelbar lateral der klavikulären Insertion des M. sternocleidomastoideus zu ertasten. Zunächst verdeutlicht man sich dessen Insertion und palpiert von hier aus direkt nach lateral, sodass der Finger in einem Winkel liegt, der aus den Rändern der Klavikula und des M. sternocleidomastoideus gebildet wird (▶ Abb. 13.96).

Tipp An dieser Stelle sollte man noch keine deutliche Wahrnehmung einer pulsierenden Arterie haben. Sonst ist man schon zu weit dorsal. Auch dieser fingerdicke Muskelbauch wird unter forcierter Inspiration oder Isometrie in gleichseitiger Seitneigung deutlich. Zwischen M. scalenus anterius und M. sternocleidomastoideus liegt die vordere Skalenuslücke.

13

Abb. 13.95 M. scalenus posterior.

Abb. 13.96 M. scalenus anterius.

407

Halswirbelsäule

1. Rippe

Plexus brachialis

Hat man den Muskelbauch des M. scalenus anterius gefunden, verfolgt man ihn nach kaudal, bis die Palpation einen harten Stopp erfährt. Dies ist die 1. Rippe, kurz bevor sie unter der Klavikula wegtaucht, um anschließend am Manubrium sterni anzusetzen. Die Lage wurde bereits in einem Abschnitt der BWS zur Untersuchung ihrer Flexibilität mit dem Federtest beschrieben (Kap. 12.7). Von der Insertion des M. scalenus anterius lässt sich die Rippe mit direkter Palpation von kranial praktisch im kompletten Verlauf nach dorsal verfolgen. Ihre Lage trennt das untere vom oberen Halsdreieck (▶ Abb. 13.97).

Die Stränge des Plexus brachialis sind im Bereich der Arterie und direkt kranial davon zu spüren. Auch ohne weitere Tricks sind diese dünnen Fasern in querer Palpation zu ertasten. Typisch für die richtige Lokalisation ist das Hin- und Herrollen unter dem palpierenden Finger, was an das Zupfen an einer sehr lockeren Gitarrenseite erinnert. Sollte das Auffinden des Plexus so nicht möglich sein, empfehlen sich folgende Tricks, um ihn so anzuspannen, dass die Fasern deutlich spürbar werden. Eine Hand des Therapeuten palpiert an der hinteren Skalenuslücke, die zweite führt den gleichseitigen Arm des Patienten. Es wird nachfolgend das Einnehmen einer Position von Arm und HWS beschrieben, die den Plexus über Spannung des N. medianus deutlicher hervortreten lässt. Jede der beschriebenen Phasen spannt die Fasern und kann den Plexus gut spürbar werden lassen. Man muss vor der Plexuspalpation und diesen Manövern keine Angst haben, denn normalerweise sind neurale Strukturen der Peripherie gegenüber langsamem und mäßigem direkten Druck unempfindlich. ● Phase 1: Der gleichseitige Arm wird ausgiebig in der Frontalebene abduziert (optimal sind 90°) und gegen den Oberschenkel des Therapeuten abgestützt. Dabei ist der Ellenbogen leicht gebeugt und die Hand nahezu neutral eingestellt. ● Phase 2: Der Ellenbogen und das Handgelenk werden extendiert. Hierdurch gerät der N. medianus unter erhebliche Spannung. Die richtige Lokalisation des Plexus kann unter wechselnder Spannung und Entspannung des Plexus, also mit Zu- und Abnahme der Streckung in Hand- und Ellenbogen bestätigt werden. ● Phase 3: Sollte das nicht ausreichen, um den Plexus zu ertasten, kann als weitere Steigerung der Spannung die HWS zur Gegenseite geneigt werden. Eine weitere Spannung ist nur durch aktive Depression der Skapula zu erlangen.

A. subclavia und M. scalenus medius Wir starten das Aufsuchen der hinteren Skalenuslücke an dem Ansatz des M. scalenus anterius an der 1. Rippe. Von hier aus palpieren wir eine kurze Strecke nach dorsal (ca. 2 cm) und nehmen unter minimalem Druck sehr schnell die Pulsation der A. subclavia als Bestätigung der richtigen Lokalisation der hinteren Skalenuslücke wahr. Die Arterie wird vom Plexus brachialis durch diese Muskellücke begleitet. Direkt dorsal dieser Stelle verläuft der nahezu vertikal angelegte Muskelbauch des M. scalenus medius.

M. sternocleidomastoideus M. scalenus posterior M. scalenus medius M. omohyoideus M. scalenus anterior V. subclavia A. subclavia Plexus brachialis

Abb. 13.97 Lage der 1. Rippe.

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13.10 Techniken der Palpation ventral Die ventral gelegenen Strukturen ermöglichen es uns, mehr Sicherheit bei der Höhenbestimmung einzelner Wirbel zu erlangen. Daher werden Zungenbein und Kehlkopf in die tastende Orientierung mit einbezogen. Ist die Lokalisation der Lamina eines Wirbels nicht einfach und wünscht sich der Therapeut Sicherheit für die Lokalisation, kann er ventral eine Struktur suchen, die auf der gleichen Höhe liegt. Wenn Patienten zur Behandlung auf dem Rücken gelagert werden, sind herkömmliche Tech-

Halswirbelsäule

1. Rippe

Plexus brachialis

Hat man den Muskelbauch des M. scalenus anterius gefunden, verfolgt man ihn nach kaudal, bis die Palpation einen harten Stopp erfährt. Dies ist die 1. Rippe, kurz bevor sie unter der Klavikula wegtaucht, um anschließend am Manubrium sterni anzusetzen. Die Lage wurde bereits in einem Abschnitt der BWS zur Untersuchung ihrer Flexibilität mit dem Federtest beschrieben (Kap. 12.7). Von der Insertion des M. scalenus anterius lässt sich die Rippe mit direkter Palpation von kranial praktisch im kompletten Verlauf nach dorsal verfolgen. Ihre Lage trennt das untere vom oberen Halsdreieck (▶ Abb. 13.97).

Die Stränge des Plexus brachialis sind im Bereich der Arterie und direkt kranial davon zu spüren. Auch ohne weitere Tricks sind diese dünnen Fasern in querer Palpation zu ertasten. Typisch für die richtige Lokalisation ist das Hin- und Herrollen unter dem palpierenden Finger, was an das Zupfen an einer sehr lockeren Gitarrenseite erinnert. Sollte das Auffinden des Plexus so nicht möglich sein, empfehlen sich folgende Tricks, um ihn so anzuspannen, dass die Fasern deutlich spürbar werden. Eine Hand des Therapeuten palpiert an der hinteren Skalenuslücke, die zweite führt den gleichseitigen Arm des Patienten. Es wird nachfolgend das Einnehmen einer Position von Arm und HWS beschrieben, die den Plexus über Spannung des N. medianus deutlicher hervortreten lässt. Jede der beschriebenen Phasen spannt die Fasern und kann den Plexus gut spürbar werden lassen. Man muss vor der Plexuspalpation und diesen Manövern keine Angst haben, denn normalerweise sind neurale Strukturen der Peripherie gegenüber langsamem und mäßigem direkten Druck unempfindlich. ● Phase 1: Der gleichseitige Arm wird ausgiebig in der Frontalebene abduziert (optimal sind 90°) und gegen den Oberschenkel des Therapeuten abgestützt. Dabei ist der Ellenbogen leicht gebeugt und die Hand nahezu neutral eingestellt. ● Phase 2: Der Ellenbogen und das Handgelenk werden extendiert. Hierdurch gerät der N. medianus unter erhebliche Spannung. Die richtige Lokalisation des Plexus kann unter wechselnder Spannung und Entspannung des Plexus, also mit Zu- und Abnahme der Streckung in Hand- und Ellenbogen bestätigt werden. ● Phase 3: Sollte das nicht ausreichen, um den Plexus zu ertasten, kann als weitere Steigerung der Spannung die HWS zur Gegenseite geneigt werden. Eine weitere Spannung ist nur durch aktive Depression der Skapula zu erlangen.

A. subclavia und M. scalenus medius Wir starten das Aufsuchen der hinteren Skalenuslücke an dem Ansatz des M. scalenus anterius an der 1. Rippe. Von hier aus palpieren wir eine kurze Strecke nach dorsal (ca. 2 cm) und nehmen unter minimalem Druck sehr schnell die Pulsation der A. subclavia als Bestätigung der richtigen Lokalisation der hinteren Skalenuslücke wahr. Die Arterie wird vom Plexus brachialis durch diese Muskellücke begleitet. Direkt dorsal dieser Stelle verläuft der nahezu vertikal angelegte Muskelbauch des M. scalenus medius.

M. sternocleidomastoideus M. scalenus posterior M. scalenus medius M. omohyoideus M. scalenus anterior V. subclavia A. subclavia Plexus brachialis

Abb. 13.97 Lage der 1. Rippe.

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13.10 Techniken der Palpation ventral Die ventral gelegenen Strukturen ermöglichen es uns, mehr Sicherheit bei der Höhenbestimmung einzelner Wirbel zu erlangen. Daher werden Zungenbein und Kehlkopf in die tastende Orientierung mit einbezogen. Ist die Lokalisation der Lamina eines Wirbels nicht einfach und wünscht sich der Therapeut Sicherheit für die Lokalisation, kann er ventral eine Struktur suchen, die auf der gleichen Höhe liegt. Wenn Patienten zur Behandlung auf dem Rücken gelagert werden, sind herkömmliche Tech-

13.10 Techniken der Palpation ventral

Os hyoideum

„V“förmige Einkerbung

Cartilago thyroideum

Cartilago cricoidea

A. carotis communis

Trachea

Clavicula

Glandula thyroidea

Incisura jugularis

Abb. 13.99 Ventrale Anatomie.

Abb. 13.98 ASTE von Patient und Therapeut.

● ● ●

niken (in ASTE Sitz) zur Bestimmung eines Wirbelniveaus nicht durchführbar. Jetzt kann die ventrale Palpation die entscheidende Hilfe zum Feststellen der gesuchten Wirbel geben. Die ASTE des Patienten ist hier der aufrechte Sitz mit neutraler Einstellung der HWS (Kap. 13.6). Der Therapeut befindet sich eher seitlich zum Patienten und in Augenhöhe zur vorderen Halspartie (Regio colli anterior). Eine Hand ist mit der lokalen Palpation beschäftigt, die zweite mit der Zuordnung zu den dorsal gelegenen Strukturen (▶ Abb. 13.98). Im Allgemeinen nähert man sich als Therapeut dieser Region eher langsam und mit vorsichtiger Intensität. Viele Patienten äußern ein Unwohlsein beim Ertasten dieser Strukturen. Nicht selten wird der Therapeut deutliche Zeichen erhöhter Sympathikusaktivität bemerken, wie z. B. allgemeine Unruhe, vermehrtes Schlucken, ein schnellerer Puls oder deutliches Schwitzen. Die Palpation wird dann abgebrochen.

13.10.1 Anatomische Situation In Ergänzung zum anatomischen Kapitel der HWS werden die hier notwendigen Strukturen der vorderen Halsregion verdeutlicht (▶ Abb. 13.99). Von kranial nach kaudal liegen einige, gut erreichbare Strukturen:

● ●

Os hyoideum (Zungenbein) Cartilago thyreoidea (Schildknorpel des Kehlkopfs) Cartilago cricoidea (Ringknorpel) Tuberculum caroticum Incisura und Fossa jugularis sterni (Drosselgrube)

In den nachfolgenden Beschreibungen der Palpation wird die Höhenzuordnung dieser Strukturen zu den zervikalen Wirbeln deutlich. Bereits Hoppenfeld (1992) und Winkel (2004) haben diese Zuordnung beschrieben. Mit 2 Ausnahmen (Os hyoideum und Fossa jugularis) liegen diese Strukturen bei jeder Person mit recht großer Konstanz auf gleicher Höhe.

Os hyoideum – Lamina C 3 Daumen und Zeigefinger gleiten weit geöffnet am Mundboden entlang. Im Winkel zwischen Mundboden und Halspartie versuchen beide Finger einen festen Widerstand durch leichtes Kneifen festzuhalten. Die zu erwartende Konsistenz ist fest und elastischer als der übliche Kontakt bei Druck auf einen Knochen. Zur Bestätigung der richtigen Lokalisation versucht man, das Zungenbein mit beiden Fingern vorsichtig etwas nach links und rechts zu verschieben. Das Erspüren der seitlichen festen Ränder ergibt eine leicht nach außen gewölbte Form. Wenn der Patient schluckt, spürt man eine deutliche Auf- und Abbewegung, wie auch bei allen weiteren Strukturen, die wir in diesem Palpationsgang aufsuchen.

13

409

Halswirbelsäule

Abb. 13.100 Palpation des Os hyoideum.

Abb. 13.102 Palpation der Einkerbung.

Abb. 13.101 Höhenzuordnung zu C 3.

Abb. 13.103 Höhenzuordnung zu C 4.

Von der Seite betrachtet wird der Zeigefinger der zweiten Hand mit etwas Druck von dorsolateral gegen die HWS gelehnt (▶ Abb. 13.100). Wenn die Zeigefinger beider Hände auf gleicher Höhe liegen, hat man mit einiger Sicherheit die Höhe der Lamina C 3 gefunden (▶ Abb. 13.101). Im Vergleich zu den anderen ventralen Strukturen hat das Zungenbein eine recht variable Lage. Es kann auch etwas kranialer oder kaudaler des Mundbodens liegen, sodass eine exakte Bestimmung des Niveaus von C 3 nicht ganz sicher ist.

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Cartilago thyreoidea (Einkerbung) – Lamina C 4 Nun palpiert man nur mit einer Fingerbeere weiter. Zunächst wird die vordere, deutlich hervorstehende Kante des Kehlkopfes aufgesucht. An ihr orientiert man sich etwas nach kranial, bis eine deutliche Einkerbung ertastet wird, die sich nach kranial öffnet. Diese Einkerbung liegt direkt oberhalb einer hervorstehenden Spitze, die im Volksmund „Adamsapfel“ genannt wird und bei Män-

13.10 Techniken der Palpation ventral

Abb. 13.104 Palpation des Kehlkopfes.

Abb. 13.106 Palpation des Krikoids.

Abb. 13.105 Höhenzuordnung zu C 5.

Abb. 13.107 Höhenzuordnung zu C 6.

nern besonders deutlich ist. Wenn der von dorsal kommende Zeigefinger in gleicher Höhe liegt, hat man das Niveau der Lamina C 4 markiert (▶ Abb. 13.102 und ▶ Abb. 13.103).

13

Tipp Falls man das Zungenbein mit der zuvor beschriebenen Technik nicht finden konnte, lässt es sich alternativ auch von dieser Einkerbung aus nach kranial palpierend aufsuchen. Zungenbein und Schildknorpel sind lediglich durch eine ringförmige Vertiefung getrennt.

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Halswirbelsäule

Cartilago thyreoidea (seitliche Flächen) – Lamina C 5 Der palpierende Finger rutscht wieder etwas nach kaudal auf die Mitte der vorderen Leiste des Schildknorpels. Von hier aus sind beidseits zwei seitliche Flächen zu spüren. Wenn die Fingerbeere in der Mitte dieser Fläche liegt, entspricht das dem Niveau der Lamina C 5 (▶ Abb. 13.104 und ▶ Abb. 13.105).

Cartilago cricoidea – Lamina C 6 Von der vorderen Leiste des Schildknorpels aus wird nach kaudal palpiert. Die Fingerbeere rutscht in eine Vertiefung, die nach unten das Krikoid (Ringknorpel) begrenzt (▶ Abb. 13.106). Hier befinden wir uns an der obersten Begrenzung der Trachea. Er ist der einzige vollständige Ring der Knorpelspangen an der Luftröhre. Das Kennzeichen für die richtige Lokalisation des Ringknorpels ist die typisch konvexe Form bei der kraniokaudalen Palpation. Er befindet sich in der Höhe der Lamina C 6 (▶ Abb. 13.107). Oberhalb des Krikoids befindet sich die Stelle, die bei der Tracheotomie durchtrennt wird. Gute anatomische Kenntnisse sind für Sie als Ersthelfer am Unfallort sehr nützlich. Beidseits des Krikoids befindet sich die Schilddrüse (Glandula thyreoidea), die mit ihrer sehr weichen Konsistenz selten wirklich als Struktur zu ertasten ist.

Tuberculum caroticum

Abb. 13.108 Palpation des Tuberculum caroticum.

Vom Krikoid aus lässt sich nach lateral recht einfach die A. carotis communis und das Tuberculum anterius des Querfortsatzes von C 6 (Tuberculum caroticum) erreichen. Hierzu palpiert eine Fingerbeere auf der Vorderseite des Krikoids und mit vorsichtigem Druck auf ihm entlang nach dorsal. Verliert die Fingerbeere den Kontakt mit dem Ringknorpel, verstärkt man mit der Fingerspitze voraus den Druck nach dorsal. Hier wird der Vorderrand des M. sternocleidomastoideus erreicht, der bei der Palpation etwas zur Seite ausweichen darf. Bereits hier spürt man die Pulsation der A. carotis communis. Das Tuberculum caroticum liegt etwa 2–3 cm vom Krikoid entfernt und gilt als sicher erreicht, wenn die Fingerspitze ein deutlich hartes Widerlager wahrnimmt (▶ Abb. 13.108 und ▶ Abb. 13.109).

Vorsicht Hier darf nur einseitig palpiert werden, damit nicht beide Karotisarterien abgeklemmt werden! Bei Personen über 60 Jahre mit vermuteter oder bewiesener Arteriosklerose wird die Palpation ebenfalls nicht ausgeführt. Ansonsten besteht die Gefahr, sklerotische Ablagerungen der Arterienwände zu lösen, die eine Hirnembolie auslösen können.

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Abb. 13.109 Höhenzuordnung zum Tuberculum caroticum.

13.11 Literatur

13.11 Literatur

Abb. 13.110 Incisura und Fossa jugularis sterni.

Incisura jugularis sterni – Proc. spinosus Th 2/Th 3 Von der Vorderseite des Krikoids aus nach kaudal trifft der palpierende Finger nach einem Abstand von etwa 2 Fingerbreiten auf die kraniale Kante des Manubrium sterni. Diese Stelle wird beidseits von den Sehnen des M. sternocleidomastoideus und den herausragenden medialen Enden der Schlüsselbeine begrenzt. Die Höhe dieser Grube entspricht bei Männern der Höhe des Proc. spinosus von Th 2 und bei Frauen der Höhe des Proc. spinosus von Th 3. Allerdings ist das auch nicht sehr zuverlässig (Shabshin et al. 2010). Wenn man eine Fingerbeere von kranial auf die Inzisura legt, ragt die Fingerspitze in die oberhalb liegende Weichteilgrube (Fossa jugularis sterni). Mit vorsichtigem Druck in die Tiefe erreichen wir weitere Anteile der Trachea (▶ Abb. 13.110).

Dörhage K, Knopf H, Graumann-Brunt S et al. Asymmetrie der Kopfgelenke – Physiologische Lateralität. Manuelle Medizin 2004; 42: 122–128 Dvorak J, Panjabi MM. Functional anatomy of the alar ligaments. Spine (Phila Pa 1976) 1987; 12: 183–189 Dvořák J. Manuelle Medizin. Bd. 1, Diagnostik. Berlin: Springer; 1998 Falla D, Jull G, Hodges P. Patients with neck pain demonstrate reduced electromyographic activity of the deep cervical flexor muscles during performance of the craniocervical flexion test. Spine 2004; 29: 2108 Greiner P. Die Frankfurter Horizontale. Eine anatomisch-röntgenkephalometrische Untersuchung zur Lageveränderung von Porion und Orbita während des Wachstums [Dissertation]. Marburg: Philipps-Universität Marburg; 2000 Herdman SJ. Vestibular Rehabilitation. 2nd ed. Philadelphia, USA: F.A. Davis; 2000 Hoppenfeld S. Klinische Untersuchung der Wirbelsäule und Extremitäten. 2. Aufl. Stuttgart: Fischer; 1992 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie. Teil 1B, Kopf – Gehirnund Augenschädel. Berlin: Springer; 1979 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie. Teil 1A, Kopf – Übergeordnete Systeme. Berlin: Springer; 2004 Loyd BJ, Gilbert KK, Sizer PS et al. The relationship between various anatomical landmarks used for localizing the first rib during surface palpation. J Man Manip Ther 2014; 22: 129–133 Lysell E. Motion in the cervical spine. An experimental study on autopsy specimens. Acta Orthop Scand 1969; 123: 5–61 Osmotherly PG, Rivett DA, Mercer SR. Revisiting the clinical anatomy of the alar ligaments. Eur Spine J 2013; 22: 60–64 Panjabi MM, Crisco JJ, Vasavada A et al. Mechanical properties of the human cervical spine as shown by three-dimensional load-displacement curves. Spine (Phila Pa 1976) 2001; 26: 2692–2700 Penning L. Hals- und Lendenwirbelsäule. München: Pflaum; 2000 Rauber A, Leonhardt H (Hrsg.). Anatomie des Menschen: Lehrbuch und Atlas. Bd. 1, Bewegungsapparat. Stuttgart: Thieme; 1987 Shabshin N, Schweitzer ME, Carrino JA. Anatomical landmarks and skin markers are not reliable for accurate labeling of thoracic vertebrae on MRI. Acta Radiol 2010; 51: 1038–1042 White AA, Panjabi MM. Clinical Biomechanics of the spine. 2nd ed. Philadelphia: Lippincott; 1990 Williams PL. Gray's anatomy. 40th ed. Edinburgh: Churchill Livingstone; 2009 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in Vivo. 3. Aufl. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2004

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13.11 Literatur

13.11 Literatur

Abb. 13.110 Incisura und Fossa jugularis sterni.

Incisura jugularis sterni – Proc. spinosus Th 2/Th 3 Von der Vorderseite des Krikoids aus nach kaudal trifft der palpierende Finger nach einem Abstand von etwa 2 Fingerbreiten auf die kraniale Kante des Manubrium sterni. Diese Stelle wird beidseits von den Sehnen des M. sternocleidomastoideus und den herausragenden medialen Enden der Schlüsselbeine begrenzt. Die Höhe dieser Grube entspricht bei Männern der Höhe des Proc. spinosus von Th 2 und bei Frauen der Höhe des Proc. spinosus von Th 3. Allerdings ist das auch nicht sehr zuverlässig (Shabshin et al. 2010). Wenn man eine Fingerbeere von kranial auf die Inzisura legt, ragt die Fingerspitze in die oberhalb liegende Weichteilgrube (Fossa jugularis sterni). Mit vorsichtigem Druck in die Tiefe erreichen wir weitere Anteile der Trachea (▶ Abb. 13.110).

Dörhage K, Knopf H, Graumann-Brunt S et al. Asymmetrie der Kopfgelenke – Physiologische Lateralität. Manuelle Medizin 2004; 42: 122–128 Dvorak J, Panjabi MM. Functional anatomy of the alar ligaments. Spine (Phila Pa 1976) 1987; 12: 183–189 Dvořák J. Manuelle Medizin. Bd. 1, Diagnostik. Berlin: Springer; 1998 Falla D, Jull G, Hodges P. Patients with neck pain demonstrate reduced electromyographic activity of the deep cervical flexor muscles during performance of the craniocervical flexion test. Spine 2004; 29: 2108 Greiner P. Die Frankfurter Horizontale. Eine anatomisch-röntgenkephalometrische Untersuchung zur Lageveränderung von Porion und Orbita während des Wachstums [Dissertation]. Marburg: Philipps-Universität Marburg; 2000 Herdman SJ. Vestibular Rehabilitation. 2nd ed. Philadelphia, USA: F.A. Davis; 2000 Hoppenfeld S. Klinische Untersuchung der Wirbelsäule und Extremitäten. 2. Aufl. Stuttgart: Fischer; 1992 Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie. Teil 1B, Kopf – Gehirnund Augenschädel. Berlin: Springer; 1979 Lanz von T, Wachsmuth W. Praktische Anatomie. Teil 1A, Kopf – Übergeordnete Systeme. Berlin: Springer; 2004 Loyd BJ, Gilbert KK, Sizer PS et al. The relationship between various anatomical landmarks used for localizing the first rib during surface palpation. J Man Manip Ther 2014; 22: 129–133 Lysell E. Motion in the cervical spine. An experimental study on autopsy specimens. Acta Orthop Scand 1969; 123: 5–61 Osmotherly PG, Rivett DA, Mercer SR. Revisiting the clinical anatomy of the alar ligaments. Eur Spine J 2013; 22: 60–64 Panjabi MM, Crisco JJ, Vasavada A et al. Mechanical properties of the human cervical spine as shown by three-dimensional load-displacement curves. Spine (Phila Pa 1976) 2001; 26: 2692–2700 Penning L. Hals- und Lendenwirbelsäule. München: Pflaum; 2000 Rauber A, Leonhardt H (Hrsg.). Anatomie des Menschen: Lehrbuch und Atlas. Bd. 1, Bewegungsapparat. Stuttgart: Thieme; 1987 Shabshin N, Schweitzer ME, Carrino JA. Anatomical landmarks and skin markers are not reliable for accurate labeling of thoracic vertebrae on MRI. Acta Radiol 2010; 51: 1038–1042 White AA, Panjabi MM. Clinical Biomechanics of the spine. 2nd ed. Philadelphia: Lippincott; 1990 Williams PL. Gray's anatomy. 40th ed. Edinburgh: Churchill Livingstone; 2009 Winkel D. Nicht operative Orthopädie und Manualtherapie. Anatomie in Vivo. 3. Aufl. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2004

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14.1 Einleitung

14 Kopf und Kiefer Wolfgang Stelzenmüller

14.1 Einleitung



Die von Physiotherapeuten am besten zu behandelnde Struktur im Kopfbereich ist neben dem in Kap. 13.3.6 beschriebenen Atlantookzipitalgelenk das Kiefergelenk (Art. temporomandibularis). Das Besondere hieran ist, dass niemals ein Kiefergelenk alleine bewegt wird, sondern es immer im Zusammenspiel mit dem Gelenk der Gegenseite zu sehen ist. Beschwerden, die in der Kopf-/Kiefer-/Gesichtsregion auftreten, werden heute in dem Oberbegriff „Craniomandibuläre Dysfunktionen“ (CMD) zusammengefasst. Dies beschreibt im eigentlichen Wortsinn eine nicht optimale Funktion der Gelenkpartner Kranium (Kondylenbahn im Schädel) und der Mandibula (dem oder den Köpfchen des Unterkiefers). Der im englischen gebräuchlichere Begriff „TMD“ bedeutet „Temporomandibular dysfunction“ und beschreibt etwas exakter eine nicht optimale Funktion des Unterkieferköpfchens (mit dem dazwischen befindlichen Discus articularis) und dem Os temporale, die anatomisch im Wesentlichen die Gelenkpartner des Kiefergelenkes darstellen. Viele dieser kraniomandibulären Beschwerden können sich u. a. als verschiedene Formen von Kopfschmerzen, aber z. B. auch als Ohren-, Zahn-, Kiefer- oder Gesichtsschmerzen äußern. Oft handelt es sich hierbei um „übertragene Schmerzen“ z. B. aus Muskeltriggerpunkten (Schmerzprojektion aus Muskelanteilen in andere Regionen). Neben der systematischen Anamnese und Befundung ist die zielgerichtete Palpation der Muskulatur und soweit möglich auch der Gelenkstrukturen wichtig. Hiermit kann man mögliche Beschwerden, die z. B. aus übertragenen Schmerzen (aus Triggerpunkten der Muskulatur) resultieren, von denen abgrenzen, die ihre Ursache z. B. in arthrotischen Veränderungen oder Schäden im Gelenk haben.



14.1.1 Funktionelle Bedeutung der Kiefergelenke Nicht nur für die Funktion des Kauens, sondern ebenso z. B. beim Sprechen, Singen, Gähnen, Küssen usw. werden die Kiefergelenke gebraucht, also im Großen und Ganzen bei allen Mundöffnungs- und -schließbewegungen. Die Biomechanik der Kiefergelenke ermöglicht Bewegungen um alle drei Raumachsen (vertikal, transversal, sagittal). Die Bewegungen des Unterkiefers sind nie rein translatorisch, aber auch nie rein rotatorisch. Die Hauptbewegungen des Unterkiefers sind:



Abduktion und Adduktion (Mundöffnung und Mundschluss), Protrusion und Retrusion (translatorisches Vorschieben und Rückführen des Unterkiefers), Laterotrusion und Mediotrusion (Seitwärtsbewegung des Kiefers von der Medianebene weg bzw. zur Medianebene hin).

14.1.2 Pathologien und häufige therapeutische Anwendungen in dieser Region Ebenso wie bei den anderen Gelenken in unserem Körper kommt es auch im Kiefergelenk zu: ● kapsulären oder nicht kapsulären Bewegungseinschränkungen ● Hypermobilität bzw. Instabilität ● Pathologien des Diskus-Kondylus-Komplexes (Zusammenspiel des „Unterkieferköpfchens“ mit dem als Puffer dazwischen liegenden Discus articularis und der Gegengelenkfläche) ● ligamentären Verletzungs- oder Überlastungssyndromen ● muskulären Verletzungs- oder Überlastungssyndromen ● arthrotischen Veränderungen In der zahnmedizinischen Literatur wird folgende klassische Unterteilung der kraniomandibulären Dysfunktionen vorgenommen: ● myogene, also durch die Muskulatur ausgelöste Beschwerden ● arthrogene, direkte Gelenkbeschwerden ● myoarthropathische Beschwerden, eine Kombination von muskulären und Gelenkbeschwerden Eine direkte Abgrenzung der oben genannten Beschwerden erscheint jedoch in der Praxis schwierig, da nach Auftreten einer CMD aufgrund muskulärer Beschwerden meist direkt eine Beteiligung der Gelenkstrukturen folgt.

14.1.3 Notwendige topografische und morphologische Vorkenntnisse

14

Während der physiotherapeutischen Ausbildung fehlt sehr oft die Zeit, sich intensiv mit dem Kopf und insbesondere mit den Kiefergelenken auseinanderzusetzen. Im Folgenden findet sich zur besseren anatomischen Orientierung zunächst eine Zusammenstellung der wesent-

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Kopf und Kiefer lichen (palpablen) Strukturen. Zuerst sollte man, um mehr Sicherheit zu erlangen, anhand eines Kunststoffschädels üben, danach werden Sie die entsprechenden Strukturen sicher beim Patienten palpieren können.

Tipp Zum Erlernen der Biomechanik der Kiefergelenke ist es sehr anschaulich, mit Gummiringen oder einem Stück Thera-Band die Muskelzüge zu simulieren.

14.2 Anatomie des knöchernen Schädels 14.2.1 Aufteilung der Regionen des Kopfes Zur leichteren Orientierung wird der Schädel in elf Regionen unterteilt (▶ Abb. 14.1): ● Regio frontalis ● Regio parietalis ● Regio occipitalis ● Regio temporalis ● Regio zygomatica ● Regio orbitalis ● Regio infraorbitalis ● Regio buccalis ● Regio mentalis ● Regio oralis ● Regio nasalis

Abb. 14.1 Regionen des Kopfes.

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In diesen Regionen finden sich im Wesentlichen folgende 11 gut palpierbare Knochenstrukturen (▶ Abb. 14.2): ● Os occipitale ● Os parietale ● Os frontale ● Os lacrimale ● Os nasale ● Os temporale ● Proc. styloideus ● Os sphenoidale ● Os zygomaticum ● Maxilla ● Mandibula Nachdem nun eine grobe anatomische Orientierung möglich ist, folgt die spezifischere Palpation der knöchernen Strukturen am Schädel.

14.2.2 Übersicht Gesichtsschädel von frontal Der Gesichtsschädel wird eingeteilt in: ● das Obergesicht mit der Squama frontalis ● das Mittelgesicht, hauptsächlich geprägt von der Maxilla (Oberkiefer) ● das Untergesicht, das von der Mandibula (Unterkiefer) dominiert wird Im Gesichtsschädel finden wir: die Augenhöhlen ● die Nasenhöhlen ● die Nasennebenhöhlen ● die Mundhöhle ●

Abb. 14.2 Palpierbare Knochenstrukturen des Kopfes.

Kopf und Kiefer lichen (palpablen) Strukturen. Zuerst sollte man, um mehr Sicherheit zu erlangen, anhand eines Kunststoffschädels üben, danach werden Sie die entsprechenden Strukturen sicher beim Patienten palpieren können.

Tipp Zum Erlernen der Biomechanik der Kiefergelenke ist es sehr anschaulich, mit Gummiringen oder einem Stück Thera-Band die Muskelzüge zu simulieren.

14.2 Anatomie des knöchernen Schädels 14.2.1 Aufteilung der Regionen des Kopfes Zur leichteren Orientierung wird der Schädel in elf Regionen unterteilt (▶ Abb. 14.1): ● Regio frontalis ● Regio parietalis ● Regio occipitalis ● Regio temporalis ● Regio zygomatica ● Regio orbitalis ● Regio infraorbitalis ● Regio buccalis ● Regio mentalis ● Regio oralis ● Regio nasalis

Abb. 14.1 Regionen des Kopfes.

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In diesen Regionen finden sich im Wesentlichen folgende 11 gut palpierbare Knochenstrukturen (▶ Abb. 14.2): ● Os occipitale ● Os parietale ● Os frontale ● Os lacrimale ● Os nasale ● Os temporale ● Proc. styloideus ● Os sphenoidale ● Os zygomaticum ● Maxilla ● Mandibula Nachdem nun eine grobe anatomische Orientierung möglich ist, folgt die spezifischere Palpation der knöchernen Strukturen am Schädel.

14.2.2 Übersicht Gesichtsschädel von frontal Der Gesichtsschädel wird eingeteilt in: ● das Obergesicht mit der Squama frontalis ● das Mittelgesicht, hauptsächlich geprägt von der Maxilla (Oberkiefer) ● das Untergesicht, das von der Mandibula (Unterkiefer) dominiert wird Im Gesichtsschädel finden wir: die Augenhöhlen ● die Nasenhöhlen ● die Nasennebenhöhlen ● die Mundhöhle ●

Abb. 14.2 Palpierbare Knochenstrukturen des Kopfes.

14.3 Palpation des knöchernen Schädels

14.3 Palpation des knöchernen Schädels 14.3.1 Gesichtsschädel von frontal Übersicht über die zu palpierenden Strukturen Markante palpable Knochenstrukturen neben den oben genannten sind (▶ Abb. 14.3): ● die Trigeminusdruckpunkte: ○ Foramen supraorbitale: Durchtritt des R. lateralis des N. supraorbitalis (1. Trigeminusdruckpunkt) (1) ○ Foramen infraorbitale: Durchtritt des N. infraorbitalis (2. Trigeminusdruckpunkt) (2) ○ Foramen mentale: Durchtritt des N. mentalis (3. Trigeminusdruckpunkt) (3) ● Ausgehend vom Unterkiefer (Mandibula) sind u. a. palpabel: ○ Protuberantia mentalis (4) ○ Corpus mandibulae (5) ○ Angulus mandibulae (6) ○ Tuberculum mentale (7) ○ Pars alveolaris mandibulae (8) ○ Proc. alveolaris maxillae (9) ○ Proc. zygomaticus maxillae (10) ○ Os zygomaticum (11)

○ ○ ○ ○

Linea temporalis (12) Glabella (13) Arcus supercilliaris (14) Tuber frontale (15)

14.3.2 Schädel von lateral Der dominierende Bereich des Schädels von lateral wird von der seitlichen Schädelwand, dem Os parietale gebildet. Der zentrale Knochen im seitlichen Schädel ist das Os temporale, welches dem Discus articularis und dem Caput mandibulae als Gegengelenkfläche dient und somit die Art. temporomandibularis bildet.

Übersicht über die zu palpierenden Strukturen Auch hier beginnen wir mit der Orientierung an der Mandibula (▶ Abb. 14.4): ● Caput mandibulae (1) ● Ramus mandibulae (2) ● Tuberositas masseterica (3) ● Angulus mandibulae (4) ● Linea obliqua (5) ● Tuberculum articulare (eminentia) (6) ● Proc. zygomaticus ossis temporalis (7) ● Arcus zygomaticus (8) ● Proc. temporalis ossis zygomaticae (9) ● Facies lateralis ossis zygomaticae (10) ● Linea temporalis inferior (11) ● Linea temporalis superior (12) ● Tuber parietale (13) ● Spina suprameatica (14) ● Proc. styloideus (15) ● Proc. mastoideus (Ansatz des M. sternocleidomastoideus) (16)

14

Abb. 14.3 Weitere markante palpable Knochenstrukturen des Kopfes.

Abb. 14.4 Weitere markante palpable Knochenstrukturen des Kopfes von lateral.

417

Kopf und Kiefer

14.4 Kiefergelenk – Art. temporomandibularis Im Gegensatz z. B. zum Knie sind viele ligamentäre und knöcherne Strukturen nicht direkt palpabel, und wir müssen uns einiger „Kniffe“ bedienen, um diese Strukturen zu testen. Wichtig ist hierbei neben einem guten räumlichen Vorstellungsvermögen eine möglichst umfassende Kenntnis der Biomechanik des Kiefergelenkes bzw. der Kiefergelenke, da die Bewegung des einen Kiefergelenkes gleichzeitig eine Bewegung des zweiten Kiefergelenkes bedingt. Eigentlich müsste das Kiefergelenk Art. temporo(disco) mandibularis heißen, denn es artikulieren beim Kiefergelenk nicht nur das Os temporale und die Mandibula miteinander.

Discus articularis

14.4.1 Notwendige topografische und morphologische Vorkenntnisse

a

Der Discus articularis, die Gelenkscheibe oder der Gelenkpuffer, teilt das Kiefergelenk in einen oberen und einen unteren Gelenkspalt. Der obere Bereich wird als diskotemporale Kammer bezeichnet, der untere Bereich als diskomandibuläre Kammer. Die obere Kammer hat am ehesten die Funktion eines Schiebegelenkes, während die untere Kammer eher die Funktion eines „mobilen“ Scharniergelenkes erfüllt. Die Grundform des Discus articularis ähnelt einer liegenden Acht. In seiner Mitte ist er mit ca. 1–2 mm am dünnsten und kann an seinen Enden ca. 3–4 mm betragen. Er besteht aus straffem Bindegewebe, wobei sich in den Randzonen noch Knorpelzellen befinden. In dem Bereich, in dem er wie eine Kappe dem Caput mandibulae aufliegt, enthält der Diskus Faserknorpel (▶ Abb. 14.5). Die eigentliche Aufgabe des Diskus besteht darin, bestehende Unterschiede der artikulierenden Gelenkflächen, nämlich der Kondylenbahn (Os temporale) und dem Gelenkköpfchen des Unterkiefers (Caput mandibulae), auszugleichen. Bei der Kiefergelenkbewegung wird er durch die Rotation des Kiefergelenkköpfchens und durch den Muskelzug des M. pterygoideus lateralis entlang der durch das Os temporale gebildeten Gelenkbahn bewegt. Man könnte den Diskus somit auch als mobile Gelenkpfanne bezeichnen.

14.4.2 Biomechanik des Art. temporomandibularis Bei den Bewegungen im Kiefergelenk handelt es sich im Wesentlichen um kombinierte Dreh-/Gleitbewegungen. Bei der Mundöffnung wird die Bewegung wie bei einem Scharnier um eine transversale, durch beide Kondylen

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M. pterygoideus lateralis

Caput mandibulae Stratum superius Stratum inferius Genu vasculosum

Stratum superius

Discus articularis

Stratum inferius

M. pterygoideus lateralis

Porus acusticus externus Genu vasculosum

Caput mandibulae

b

Abb. 14.5 Übersicht über das Temporomandibulargelenk. a Übersicht. b Ausschnittsvergrößerung.

verlaufende Achse ausgeführt. Hierbei findet die Gleitbewegung in sagittaler Richtung nach vorne unten statt und beim Mundschluss nach hinten oben. Wir unterscheiden im Wesentlichen zwischen ● Mundöffnungs- und Mundschließbewegung und ● den beim Kauen notwendigen Mahlbewegungen. Betrachten wir nun zunächst die Mundöffnungsbewegung etwas exakter. Wir teilen den eigentlich fließenden Bewegungsablauf der Drehgleitbewegung im Kiefergelenk in 3 Phasen ein und versuchen hierdurch die komplexe Biomechanik etwas besser zu verstehen.

14.4 Kiefergelenk – Art. temporomandibularis

Mundöffnung ▶ Muskulatur. Vereinfacht dargestellt wird die Mundöffnung als Drehbewegung durch den Muskelzug des M. pterygoideus lateralis und der suprahyoidalen Muskulatur eingeleitet und über die Mundschließmuskulatur bremsend gesteuert. ▶ Gelenk. In der 1. Phase (1. Drehphase) werden die Kondylen im unteren diskomandibulären Teilgelenk, durch den Muskelzug des M. pterygoideus lateralis und der suprahyoidalen Muskulatur eingeleitet, leicht gedreht, um zunächst die Höcker-Fossa-Verzahnung zu überwinden. Hierbei kommt es zu einer kurzen Rotation des Kiefergelenkköpfchens nach anterior. Idealerweise wird hierdurch der Discus articularis („Prinzip“ der mobilen Gelenkpfanne) ähnlich der Mechanik einer Nudelmaschine auf der Kondylenbahn mit nach vorne bewegt. Die Bewegung des Diskus wird hierbei durch das Stratum superius der bilaminären Zone und durch die hinteren Fasern des M. temporalis und das Lig. laterale gebremst.

Das den Kondylus sichernde Stratum inferius wird hierbei entspannt (▶ Abb. 14.6, ▶ Abb. 14.6a). In der ohne Übergang folgenden 2. Phase kommt es zum vermehrten Gleiten des Kiefergelenkköpfchens. Hierbei wird der als mobile Gelenkpfanne wirkende Diskus vom M. pterygoideus lateralis im Sinne einer kaudoventromedialen Bewegung unter das Tuberculum articulare gezogen. Dies bezeichnet man auch als Protrusionsbewegung. Diese Bewegung wird durch den Zug des M. pterygoideus lateralis eingeleitet, von den o. g. Muskeln unterstützt und gesteuert und im Wesentlichen durch das Stratum superius der bilaminären Zone sowie durch die hinteren Fasern des M. temporalis und dem Lig. laterale gebremst (▶ Abb. 14.6, ▶ Abb. 14.6b). Um eine größtmögliche Mundöffnung zu erlangen, muss der Kondylus am Ende der Kondylenbahn erneut rotieren, 3. Phase (2. Drehphase). Der in der 2. Phase bis unterhalb des Tuberculum articulare gezogene Diskus wird nun durch die Rotation des Caput mandibulae nach anterior durch eine Art „Mitnahme-Effekt“ und – unterstützt von dem Zug des M. pterygoideus lateralis und den o. g. Muskeln – auf das Tuberculum articulare gezogen. Erst dann kann durch weitere Rotation eine größtmögliche Mundöffnung erreicht werden. Auch hier wird die Bewegung des Diskus durch das Stratum superius der bilaminären Zone gebremst. Das den Kondylus sichernde Stratum inferius wird nun gespannt (▶ Abb. 14.6, ▶ Abb. 14.6c).

Mundschluss a

Betrachten wir nun die Schließbewegung. Durch die „Rückrotation“ des Caput mandibulae kommt es zu einem Zurückführen des Diskus (Rotationsrichtung des Caput mandibulae nach dorsal) (▶ Abb. 14.7). Hierbei wird der Diskus unter „Abbremsen“ des M. pterygoideus lateralis wieder zurück nach hinten geführt.

Mahlbewegungen b

Hatten wir bei den Mundöffnungsbewegungen eine gleichzeitige Aktivierung der jeweiligen Muskelgruppen und somit eine relativ symmetrische Bewegung der Gelenkpartner gleichzeitig in eine Richtung, so kommt es

14 c

Abb. 14.6 Mundöffnungsphasen. a Phase 1: Drehphase/Öffnungsphase. b Phase 2: Gleitphase. c Phase 3: 2. Drehphase.

Abb. 14.7 Kieferschluss.

419

Kopf und Kiefer bei der Mahlbewegung zu unterschiedlicher Aktivität der Muskulatur und der Gelenkpartner. Während bei der Öffnungs- und Schließbewegung das Kinn in der Medianebene verbleibt, verschiebt sich die Kinnspitze bei Mahlbewegungen nach rechts oder links. Wir unterscheiden zum einen die Arbeitsseite und zum anderen die Balanceseite. Hierbei ist die Arbeitsseite die Seite, auf der die Nahrung zerkleinert wird, während die andere Seite (Balanceseite) die notwendige Translationsbewegung nach vorne unten durchführt. Nur im Verständnis der o. g. Biomechanik ist es dem Therapeuten möglich, Abweichungen von der Norm zu erkennen, zu verstehen und zu behandeln.

14.4.3 Beurteilung von Abweichungen von der Mittellinie bei der Mundöffnung Da nicht alle Strukturen der Kiefergelenke direkt palpierbar sind, müssen wir uns bei der Palpation der knöchernen und der Kapselbandstrukturen der Kiefergelenke und des Discus articularis einiger Tests bedienen, um eine eventuelle Pathologie dieser Strukturen zu erkennen. Da immer beide Kiefergelenke gleichzeitig betrachtet werden müssen, fällt z. B. eine deutliche Abweichung der Mittellinie bei einer Mundöffnung direkt auf.

Merke Deflexion = Abweichung des Inzisalpunktes (oder auch der Mitte der Kinnspitze) zu einer Seite während der Unterkiefer-Öffnungsbewegungohne Rückkehr in die Medianebene. Deviation = Abweichung des Inzisalpunktes (oder auch der Mitte der Kinnspitze) zu einer Seite während der Unterkiefer-Öffnungsbewegung mit Rückkehr in die Medianebene.

Technik: Test der aktiven Mundöffnung Der erste Test, um eine Abweichung festzustellen, ist die aktive Mundöffnung. Sie gibt Auskunft über eventuelle Einschränkungen, die ihre Ursache z. B. in einer kapsulären Problematik oder in einer einseitigen Blockierung der Kondylenbahn (Gegengelenkfläche, durch das Os temporale gebildet) haben kann. Zur Untersuchung der aktiven Mundöffnung wird der Patient aufgefordert, seinen Mund maximal weit zu öffnen. Diese Aufforderung an ihn wird mehrfach wiederholt, da nach mehrmaliger Wiederholung der Mundöffnungsbewegung meist eine größere Mundöffnung erreicht wird. Die maximal mögliche Mundöffnung (Schneidekantendistanz, SKD) wird mittels einer Schieblehre oder eines Lineals, dessen Skalierung direkt am Rand bei 0 beginnt, gemessen und der erhaltene Wert zum vertikalen Frontzahnüberbiss addiert. Nachdem Symmetrie und Größe der Mundöffnung fest-

420

gestellt wurden, werden wie im Folgenden beschrieben palpatorisch die Knackphänomene untersucht.

Tipp Eine normale Mundöffnung liegt nach dem HelkimoIndex ≥ 40 mm. Ist diese nicht möglich, so kann über das Ausmessen der jeweiligen Laterotrusionsbewegungen des Unterkiefers festgestellt werden, ob eine Seitenabweichung vorliegt. Ist dies nicht der Fall, also eine Laterotrusionsbewegung sowohl für die rechte als auch für die linke Seite von z. B. ca. 10 mm möglich, multipliziert man diese 10 mm Laterotrusion mit 3 und 4 und kann somit eine Mundöffnung von ca. 30–40 mm erwarten. Ist jedoch eine einseitige Einschränkung der Laterotrusionsbewegung gegeben, also z. B. eine Seitverschiebung (Laterotrusion) nach links nicht möglich, ist eine mechanische Blockierung des rechten Kiefergelenkes aufgrund z. B. einer anterioren Diskusverlagerung wahrscheinlich. Ist sie jedoch einseitig eingeschränkt möglich (z. B. links nur 5 mm und rechts 10 mm), nimmt man die kürzere Strecke und multipliziert diese mit 3 und 4, um die zu erwartende Mundöffnung zu errrechnen.

14.5 Palpation der Kiefergelenke 14.5.1 Kurzfassung des Palpationsganges Während der aktiven Mundöffnung werden die Strukturen des Diskus-Kondylus-Komplexes wie folgt palpiert. Die zu palpierenden Strukturen sind (▶ Abb. 14.8, ▶ Abb. 14.9 und ▶ Abb. 14.10): ● Os temporale (palpierbar) ● Caput mandibulae der Mandibula (palpierbar) ● Discus articularis (indirekt über „Knackgeräusch“ „palpierbar“)

Abb. 14.8 Lage des Os temporale.

Kopf und Kiefer bei der Mahlbewegung zu unterschiedlicher Aktivität der Muskulatur und der Gelenkpartner. Während bei der Öffnungs- und Schließbewegung das Kinn in der Medianebene verbleibt, verschiebt sich die Kinnspitze bei Mahlbewegungen nach rechts oder links. Wir unterscheiden zum einen die Arbeitsseite und zum anderen die Balanceseite. Hierbei ist die Arbeitsseite die Seite, auf der die Nahrung zerkleinert wird, während die andere Seite (Balanceseite) die notwendige Translationsbewegung nach vorne unten durchführt. Nur im Verständnis der o. g. Biomechanik ist es dem Therapeuten möglich, Abweichungen von der Norm zu erkennen, zu verstehen und zu behandeln.

14.4.3 Beurteilung von Abweichungen von der Mittellinie bei der Mundöffnung Da nicht alle Strukturen der Kiefergelenke direkt palpierbar sind, müssen wir uns bei der Palpation der knöchernen und der Kapselbandstrukturen der Kiefergelenke und des Discus articularis einiger Tests bedienen, um eine eventuelle Pathologie dieser Strukturen zu erkennen. Da immer beide Kiefergelenke gleichzeitig betrachtet werden müssen, fällt z. B. eine deutliche Abweichung der Mittellinie bei einer Mundöffnung direkt auf.

Merke Deflexion = Abweichung des Inzisalpunktes (oder auch der Mitte der Kinnspitze) zu einer Seite während der Unterkiefer-Öffnungsbewegungohne Rückkehr in die Medianebene. Deviation = Abweichung des Inzisalpunktes (oder auch der Mitte der Kinnspitze) zu einer Seite während der Unterkiefer-Öffnungsbewegung mit Rückkehr in die Medianebene.

Technik: Test der aktiven Mundöffnung Der erste Test, um eine Abweichung festzustellen, ist die aktive Mundöffnung. Sie gibt Auskunft über eventuelle Einschränkungen, die ihre Ursache z. B. in einer kapsulären Problematik oder in einer einseitigen Blockierung der Kondylenbahn (Gegengelenkfläche, durch das Os temporale gebildet) haben kann. Zur Untersuchung der aktiven Mundöffnung wird der Patient aufgefordert, seinen Mund maximal weit zu öffnen. Diese Aufforderung an ihn wird mehrfach wiederholt, da nach mehrmaliger Wiederholung der Mundöffnungsbewegung meist eine größere Mundöffnung erreicht wird. Die maximal mögliche Mundöffnung (Schneidekantendistanz, SKD) wird mittels einer Schieblehre oder eines Lineals, dessen Skalierung direkt am Rand bei 0 beginnt, gemessen und der erhaltene Wert zum vertikalen Frontzahnüberbiss addiert. Nachdem Symmetrie und Größe der Mundöffnung fest-

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gestellt wurden, werden wie im Folgenden beschrieben palpatorisch die Knackphänomene untersucht.

Tipp Eine normale Mundöffnung liegt nach dem HelkimoIndex ≥ 40 mm. Ist diese nicht möglich, so kann über das Ausmessen der jeweiligen Laterotrusionsbewegungen des Unterkiefers festgestellt werden, ob eine Seitenabweichung vorliegt. Ist dies nicht der Fall, also eine Laterotrusionsbewegung sowohl für die rechte als auch für die linke Seite von z. B. ca. 10 mm möglich, multipliziert man diese 10 mm Laterotrusion mit 3 und 4 und kann somit eine Mundöffnung von ca. 30–40 mm erwarten. Ist jedoch eine einseitige Einschränkung der Laterotrusionsbewegung gegeben, also z. B. eine Seitverschiebung (Laterotrusion) nach links nicht möglich, ist eine mechanische Blockierung des rechten Kiefergelenkes aufgrund z. B. einer anterioren Diskusverlagerung wahrscheinlich. Ist sie jedoch einseitig eingeschränkt möglich (z. B. links nur 5 mm und rechts 10 mm), nimmt man die kürzere Strecke und multipliziert diese mit 3 und 4, um die zu erwartende Mundöffnung zu errrechnen.

14.5 Palpation der Kiefergelenke 14.5.1 Kurzfassung des Palpationsganges Während der aktiven Mundöffnung werden die Strukturen des Diskus-Kondylus-Komplexes wie folgt palpiert. Die zu palpierenden Strukturen sind (▶ Abb. 14.8, ▶ Abb. 14.9 und ▶ Abb. 14.10): ● Os temporale (palpierbar) ● Caput mandibulae der Mandibula (palpierbar) ● Discus articularis (indirekt über „Knackgeräusch“ „palpierbar“)

Abb. 14.8 Lage des Os temporale.

14.5 Palpation der Kiefergelenke

Abb. 14.9 Lage der Mandibula. Abb. 14.11 Palpation der Kiefergelenkgruben mit fast geschlossenem Mund.

Abb. 14.10 Diskokondylarer Komplex.

14.5.2 Untersuchung der Knackphänomene im Untersuchungsgang aktive Mundöffnung

Abb. 14.12 Palpation der Kiefergelenkgruben mit weit geöffnetem Mund.

Ausgangsstellung Der Patient liegt entspannt mit leicht erhöhtem Kopf auf einer Behandlungsliege bzw. einem Behandlungsstuhl. Der Untersucher setzt sich in „11- bis 12-Uhr-Position“ an das Kopfende des Patienten.

Technik Bei der aktiven Mundöffnung palpiert der Untersucher die etwa ein Fingerbreit vor und unter dem Gehörgang liegenden Gruben der Kiefergelenke. Bei der aktiven Mundöffnung sind dann unter den Fingerkuppen ggf. auftretende Knackphänomene oder Krepitation zu spüren. Diese können auftreten: ● initial bei beginnender Mundöffnung ● intermediär bei etwa der Hälfte der maximal möglichen Mundöffnung ● terminal unmittelbar vor dem Erreichen der maximalen Mundöffnung

Tipp Wie bereits beschrieben, besteht das Kiefergelenk im Wesentlichen aus den knöchernen Partnern, dem Os temporale und dem Caput mandibulae. Diese werden durch den Discus articularis in einen oberen und einen unteren Gelenkspalt aufgeteilt. Idealerweise liegt der Discus articularis wie eine liegende Acht auf dem Caput mandibulae auf. Kommt es zu einer morphologischen Veränderung des Diskus aufgrund starker Kompression des Kondylus auf den hinteren Pol des Diskus, kann es zu einer anterioren Diskusverlagerung kommen. Hierbei wird das sichernde Stratum superius überdehnt und es kommt zu Knackphänomenen. Die bereits beschriebene Biomechanik des Diskus-Kondylus-Komplexes verschlechtert bei anterior verlagertem Diskus diese pathologische Situation und es kommt zum Kiefergelenkknacken.

14

und beschreiben die vermutliche Position des Diskus zum Caput mandibulae (▶ Abb. 14.11, ▶ Abb. 14.12 und ▶ Abb. 14.13).

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Kopf und Kiefer

M. pterygoideus lateralis Discus articularis Stratum superius

Stratum inferius Genu vasculosum Caput mandibulae

Abb. 14.13 Position des palpierenden Fingers am Kiefergelenk.

14.6 Palpatorische Untersuchung der Kiefergelenkmuskulatur 14.6.1 Kurzfassung des Palpationsganges Beim Festlegen eines Palpationsganges sollten auch praktische Erwägungen eine Rolle spielen. Die orofazialen Muskeln können sowohl intra- als auch extraoral palpiert werden. Empfehlenswert ist, nach der intraoralen Palpation entweder die Handschuhe zu wechseln oder wenigstens zu säubern, bevor mit der extraoralen Palpation fortgefahren wird. Zum besseren Verständnis wird die Palpation der Muskulatur anhand der Muskelfunktionen dargestellt.

andererseits intraoral (in der Mundhöhle) palpiert wird, stellt sich schon aus ästhetischen Gründen die Frage, ob man mit den notwendigerweise behandschuhten und vom Patientenspeichel feuchten Fingern nach der intraoralen Palpation direkt extraoral im Gesicht des Patienten fortfährt. Andererseits ist es auch nicht angenehm für den Patienten, wenn nach extraoraler Palpation in seinem evtl. geschminkten Gesicht mit der intraoralen Palpation weiter gemacht wird.

14.6.2 M. masseter Der M. masseter ist einer der am deutlichsten und leichtesten palpierbaren und oft auch sichtbaren Muskeln des Kausystems. Er teilt sich in einen oberflächlichen Teil (Pars superficialis) und einen tiefen Anteil (Pars profunda). Er hat seinen Ursprung am Arcus zygomaticus und zieht flächig zur Tuberositas masseterica am Angulus mandibulae. Er bildet zusammen mit dem M. pterygoideus medialis eine Muskelschlinge am Angulus mandibulae. Diese beiden Muskeln sind zusammen für etwa 55 % der Kieferadduktion, also der Mundschließung, verantwortlich.

ASTE Der Patient liegt entspannt mit leicht erhöhtem Kopf auf einer Behandlungsliege bzw. auf einem Behandlungsstuhl. Der Untersucher setzt sich an die zu untersuchende Kopfseite des Patienten.

Technik Die Palpation erfolgt intraoral mit dem Zeige- oder Mittelfinger auf der bukkalen Seite (Wangeninnenseite) und dem Daumen auf der Wangenaußenseite. Über die Wangenaußenseite ist der Muskel auch extraoral zu palpieren.

Tipp Zum Eigenschutz des Behandlers und zum Schutz des Patienten ist es unbedingt notwendig, Handschuhe und ausdrücklich einen Mundschutz zu tragen. Dies ist bei der Behandlung in einer physiotherapeutischen Praxis zwar ungewöhnlich, aber aufgrund des erhöhten Infektionsrisikos bei der Behandlung von CMD-Patienten durch den direkten Kontakt mit dem Speichel und ggf. Blut des Patienten geboten. Zusätzlich besteht sowohl für den Behandler als auch für den Patienten ein zusätzlicher Schutz vor Tröpfcheninfektionen. Da einerseits extraoral (im Gesicht) Muskeln zu palpieren sind und

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Abb. 14.14 Palpation der Pars superficialis des M. masseter.

Kopf und Kiefer

M. pterygoideus lateralis Discus articularis Stratum superius

Stratum inferius Genu vasculosum Caput mandibulae

Abb. 14.13 Position des palpierenden Fingers am Kiefergelenk.

14.6 Palpatorische Untersuchung der Kiefergelenkmuskulatur 14.6.1 Kurzfassung des Palpationsganges Beim Festlegen eines Palpationsganges sollten auch praktische Erwägungen eine Rolle spielen. Die orofazialen Muskeln können sowohl intra- als auch extraoral palpiert werden. Empfehlenswert ist, nach der intraoralen Palpation entweder die Handschuhe zu wechseln oder wenigstens zu säubern, bevor mit der extraoralen Palpation fortgefahren wird. Zum besseren Verständnis wird die Palpation der Muskulatur anhand der Muskelfunktionen dargestellt.

andererseits intraoral (in der Mundhöhle) palpiert wird, stellt sich schon aus ästhetischen Gründen die Frage, ob man mit den notwendigerweise behandschuhten und vom Patientenspeichel feuchten Fingern nach der intraoralen Palpation direkt extraoral im Gesicht des Patienten fortfährt. Andererseits ist es auch nicht angenehm für den Patienten, wenn nach extraoraler Palpation in seinem evtl. geschminkten Gesicht mit der intraoralen Palpation weiter gemacht wird.

14.6.2 M. masseter Der M. masseter ist einer der am deutlichsten und leichtesten palpierbaren und oft auch sichtbaren Muskeln des Kausystems. Er teilt sich in einen oberflächlichen Teil (Pars superficialis) und einen tiefen Anteil (Pars profunda). Er hat seinen Ursprung am Arcus zygomaticus und zieht flächig zur Tuberositas masseterica am Angulus mandibulae. Er bildet zusammen mit dem M. pterygoideus medialis eine Muskelschlinge am Angulus mandibulae. Diese beiden Muskeln sind zusammen für etwa 55 % der Kieferadduktion, also der Mundschließung, verantwortlich.

ASTE Der Patient liegt entspannt mit leicht erhöhtem Kopf auf einer Behandlungsliege bzw. auf einem Behandlungsstuhl. Der Untersucher setzt sich an die zu untersuchende Kopfseite des Patienten.

Technik Die Palpation erfolgt intraoral mit dem Zeige- oder Mittelfinger auf der bukkalen Seite (Wangeninnenseite) und dem Daumen auf der Wangenaußenseite. Über die Wangenaußenseite ist der Muskel auch extraoral zu palpieren.

Tipp Zum Eigenschutz des Behandlers und zum Schutz des Patienten ist es unbedingt notwendig, Handschuhe und ausdrücklich einen Mundschutz zu tragen. Dies ist bei der Behandlung in einer physiotherapeutischen Praxis zwar ungewöhnlich, aber aufgrund des erhöhten Infektionsrisikos bei der Behandlung von CMD-Patienten durch den direkten Kontakt mit dem Speichel und ggf. Blut des Patienten geboten. Zusätzlich besteht sowohl für den Behandler als auch für den Patienten ein zusätzlicher Schutz vor Tröpfcheninfektionen. Da einerseits extraoral (im Gesicht) Muskeln zu palpieren sind und

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Abb. 14.14 Palpation der Pars superficialis des M. masseter.

14.6 Palpatorische Untersuchung der Kiefergelenkmuskulatur Der M. masseter ist intraoral seitlich am Ramus mandibulae dicht unter der Haut palpierbar. Seinen Kontraktionswulst sieht man seitlich am Angulus mandibulae. Um die einzelnen Strukturen besser unterscheiden zu können, kann man den Patienten bitten, leicht auf die Zähne zu beißen. Die sich dann kontrahierenden Anteile des M. masseter sind in diesem Fall leicht palpier- und unterscheidbar (▶ Abb. 14.14–▶ Abb. 14.17).

Therapeutische Hinweise Sowohl Ohren- als auch Zahnschmerzen im Seitenzahnbereich können aufgrund eines übertragenen Schmerzes aus den Triggerpunkten, z. B. des M. masseter, auftreten (▶ Abb. 14.18–▶ Abb. 14.21). Abb. 14.15 Palpation der Pars profunda des M. masseter.

Abb. 14.16 Intraorale Palpation des M. masseter. Abb. 14.18 Die Triggerpunkte des kranialen Anteils der Pars superficialis des M. masseter übertragen Schmerzen in den oberen molaren Bereich und die Kieferhöhlenregion.

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Abb. 14.17 Schematische Darstellung der intraoralen Palpation des M. masseter.

Abb. 14.19 Übertragung myofaszialer Schmerzen des kaudalen Anteils der Pars superficialis in den unteren molaren Bereich und den horizontalen Unterkieferast.

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Kopf und Kiefer

Abb. 14.20 Übertragung myofaszialer Schmerzen der direkt im Kieferwinkel inserierenden Anteile der Pars superficialis in den horizontalen Unterkieferast und den Schläfenbereich.

Abb. 14.22 Lage des M. pterygoideus medialis.

Tipp Die starke Belastung des Kiefergelenkes zeigt sich schon am Kaudruck. Der Kaudruck kann beim Zubeißen 100– 150 kp betragen, kann allerdings auch wesentlich stärker ausgeprägt sein. Bei Patienten, die stark pressen oder knirschen (Bruxismus), kann es aufgrund des hohen Kaudrucks zu Veränderungen und Schäden an den Zähnen und der Bisslage kommen. Hierdurch bedingte muskuläre Dysbalancen können ebenso zu Schmerzen im Gesichtsbereich wie auch über Beeinflussung der Gesamtstatik zu Beschwerden, z. B. im Kreuzbein-/ Darmbeinbereich (Iliosakralgelenke) führen.

ASTE Abb. 14.21 Triggerpunkte der Pars profunda übertragen die Schmerzen bevorzugt ins Ohr und die präaurikuläre Region.

14.6.3 M. pterygoideus medialis Der M. pterygoideus medialis entspringt aus der Fossa pterygoidea und zieht nahezu parallel mit dem auf der Kiefergelenkaußenseite liegenden M. masseter zum Angulus mandibulae. Hier setzt er an der Tuberositas pterygoidea an. Er bildet zusammen mit dem M. masseter eine Muskelschlinge am Angulus mandibulae. Diese beiden Muskeln sind zusammen an ca. 55 % der Adduktion des Kiefers, also der Mundschließung beteiligt.

424

Der Patient liegt entspannt mit leicht erhöhtem Kopf auf einer Behandlungsliege bzw. einem Behandlungsstuhl. Der Untersucher setzt sich an die zu untersuchende Kopfseite des Patienten.

Technik Die Palpation erfolgt intraoral lingual mit dem Zeigeoder Mittelfinger an der Medialseite des Ramus mandibulae, wo er sich vom Tuber maxillae bis zum Angulus mandibulae erstreckt. Über die Innenseite der medialen Spitze des Angulus mandibulae ist er auch extraoral zu palpieren (▶ Abb. 14.22–▶ Abb. 14.25).

14.6 Palpatorische Untersuchung der Kiefergelenkmuskulatur

Abb. 14.23 Intraorale Palpation des M. pterygoideus medialis. Abb. 14.26 Schmerzübertragung durch Triggerpunkte des M. pterygoideus medialis führt zu präaurikulären Schmerzen.

Therapeutische Hinweise Durch Übertragung von Schmerzen von Triggerpunkten des M. pterygoideus medialis kommt es zu präaurikulären Schmerzen (▶ Abb. 14.26).

14.6.4 M. pterygoideus lateralis

Abb. 14.24 Palpationsweg von oben gesehen.

Abb. 14.25 Schematische Darstellung der intraoralen Palpation des M. pterygoideus medialis.

Der M. pterygoideus lateralis hat seinen Ursprung am Caput medialis der Crista infratemporalis ossis sphenoidalis. Mit seinem Caput lateralis an der Lamina lateralis des Proc. pterygoideus. Er setzt mit seinem Caput medialis am Discus articularis an, zieht ihn nach ventral und leitet die Mundöffnung ein. Mit seinem Caput lateralis setzt er am Proc. condylaris mandibulae an und verschiebt bei einseitiger Funktion den Unterkiefer zur Gegenseite (Mediotrusionsbewegung). Bei doppelseitiger Funktion schiebt er den Unterkiefer nach vorne (Protrusionsbewegung). Die vom M. pterygoideus lateralis eingeleitete Kinematik bei der Mundöffnungsbewegung wird in der Folge von der suprahyoidalen Muskulatur fortgesetzt. Neuere Studien (Schindler 2004) zeigen, dass der M. pterygoideus lateralis nahezu an allen Bewegungen in irgendeiner Art und Weise im Kiefergelenk beteiligt ist. Einer der am stärksten Schmerzen verursachenden Muskeln der Kiefergelenke ist der M. pterygoideus lateralis. Aufgrund der ungeklärten Frage, ob er überhaupt palpierbar ist, führten wir eine eigene Studie (Stelzenmüller et al. 2004) zum erstmaligen Nachweis der Palpationsmöglichkeit des Muskels durch. Diese wurde notwendig, weil nur durch die direkte digitale Palpation die Beschaffenheit des Muskels und das Schmerzempfinden beurteilt und anschließend durch Funktionsmassage (Mundöffnung, Mundschluss während der digitalen Palpation) auch direkt behandelt werden kann. Einschlusskriterium der Studie war ein kiefergelenkgesunder Patient. Die Palpation wurde sowohl in der MRT als auch im EMG-Ver-

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425

Kopf und Kiefer such eindeutig nachgewiesen. Der Palpationsweg wurde bei 5 anatomischen Präparaten mit unterschiedlichen Größenverhältnissen nachvollzogen. Voraussetzung für die Palpation sind die genaue Kenntnis des Palpationsweges und die Erfahrung des Untersuchers (▶ Abb. 14.27, ▶ Abb. 14.28 und ▶ Abb. 14.29).

ASTE Der Patient liegt entspannt mit leicht erhöhtem Kopf auf einer Behandlungsliege oder einem Behandlungsstuhl. Der Untersucher setzt sich an die zu untersuchende Kopfseite des Patienten.

Technik Die digitale Palpation des M. pterygoideus lateralis erfolgt intraoral bukkal mit dem Klein- oder Zeigefinger. Nachdem der Patient eine Laterotrusion (Seitwärtsverschiebung des Unterkiefers von der Mitte weg) des Unterkiefers der zu untersuchenden Seite ausgeführt hat, wird

Abb. 14.27 Darstellung des Zugangsweges in der MRT. Rot: Mm. pterygoidei lateralis, gelb: palpierender Finger.

der Klein- oder Zeigefinger des Untersuchers parallel zum Proc. alveolaris superior entlang des Vestibulums oris bis zum Tuber maxillae und darüber hinaus bis zur Lamina lateralis des Proc. pterygoideus geführt. Dabei wird der kraniale Anteil des M. pterygoideus medialis überquert. Während der Palpation beschreibt der palpierende Finger terminal eine kraniomediale Bewegung. Dieser Muskel kann auch isometrisch extraoral getestet werden, wobei dieser Test aber nicht ganz so aussagekräftig ist wie die digitale Palpation. Hierbei wird der Patient bei leicht geöffnetem Mund aufgefordert, seinen Unterkiefer z. B. nach links zu verschieben. Diese Bewegung wird mit submaximalem Widerstand gegen die linke Unterkieferseite gebremst. Hierbei wird der rechte M. pterygoideus lateralis auf Kraft und Schmerz getestet. Diese Technik nutzte man bis zum Nachweis der Möglichkeit der Palpation des M. pterygoideus lateralis auch als Therapie, um durch postisometrische Relaxation den M. pterygoideus lateralis zu entspannen (▶ Abb. 14.30, ▶ Abb. 14.31 und ▶ Abb. 14.32).

Abb. 14.29 Darstellung des Zugangsweges am Präparat. Rot umrandet: M. pterygoideus lateralis, blau: M. pterygoideus medialis.

Therapeutische Hinweise

Abb. 14.28 Palpation des M. pterygoideus lateralis unter MG-Kontrolle.

426

Abb. 14.30 Lage des M. pterygoideus lateralis.

14.6 Palpatorische Untersuchung der Kiefergelenkmuskulatur

a

b

Abb. 14.31 Nach erfolgter Laterotrusion intraorale Palpation des M. pterygoideus lateralis. a Hierbei wird der kleine Finger parallel zum Proc. alveolaris superior geführt. b Anschließend wird der kleine Finger entlang des Vestibulums oris bis zum Tuber maxillae und darüber hinaus bis zur Lamina lateralis des Proc. pterygoideus geführt.

Abb. 14.33 Schmerzübertragung durch Triggerpunkte des M. pterygoideus lateralis führt zu Schmerzausstrahlung in das Kiefergelenk. Hierbei können Verwechslungen mit arthrogenen Problemen und Kieferhöhlenbeschwerden auftreten.

Abb. 14.32 Schematische Darstellung der intraoralen Palpation des M. pterygoideus lateralis (orange: Discus articularis).

Eine Schmerzübertragung durch Triggerpunkte des M. pterygoideus lateralis führt zu einer Schmerzausstrahlung in das Kiefergelenk. Hierbei kann es zu Verwechslungen mit arthrogenen Problemen und Kieferhöhlenbeschwerden kommen (▶ Abb. 14.33).

14.6.5 M. temporalis Der M. temporalis gliedert sich in 3 Segmente: Pars anterior, Pars medialis und Pars posterior. Aufgrund der flächenmäßig starken Ausdehnung des M. temporalis und seiner unterschiedlichen Funktionen und Schmerzprojektionen der einzelnen Muskelanteile ist eine palpatorische Untersuchung dieses Muskels unerlässlich.

Er hat seinen Ursprung an der Linea temporalis der Squama ossis temporalis und des Os parietale. Er setzt am Proc. coronoideus mandibulae an. Der M. temporalis erzeugt bei beidseitiger Aktivität etwa 45 % der Kieferadduktion (Mundschluss). Hierbei zieht der dorsale Anteil den Unterkiefer am Proc. coronoideus nach dorsokranial. Die vorderen Anteile sind an der Protrusionsbewegung und an der Mundöffnung beteiligt.

ASTE Der Patient liegt entspannt mit leicht erhöhtem Kopf auf einer Behandlungsliege bzw. einem Behandlungsstuhl. Der Untersucher setzt sich in 11- bis 12-Uhr-Position an das Kopfende des Patienten.

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Kopf und Kiefer

Technik Die extraorale Palpation beginnt man im anterioren Gebiet der Schläfenregion. Der Untersucher beginnt die Palpation quer zur Faserrichtung mit mittlerem Druck. Die Palpation beginnt für die Pars anterior an der Linea temporalis der Squama ossis temporalis am Os parietale. Der Untersucher palpiert vom anterioren Anteil des Segments zum posterioren und von dort in Richtung Muskelansatz bis zum Jochbogen. Dieses Verfahren ist insbesondere aufgrund der unterschiedlichen Lokalisation von Trigger- und/oder Tenderpunkten in den verschiedenen Muskelsegmenten notwendig. Mit dem medialen und posterioren Segment wird in ähnlicher Weise verfahren. Es kann hilfreich sein, wenn der Patient während der Palpation aufgefordert wird, kurz den Mund zu öffnen oder auf die Zähne zu beißen, um die einzelnen Strukturen besser unterscheidbar zu machen. Palpiert werden kann mit dem Zeige-, Mittel- oder Ringfinger im Schläfenbereich des Patienten (▶ Abb. 14.34–▶ Abb. 14.38).

Abb. 14.36 Fortführung der Palpation der Pars medialis des M. temporalis.

Abb. 14.37 Palpation der Pars posterior des M. temporalis.

Abb. 14.34 Lage des M. temporalis.

Abb. 14.35 Extraorale Palpation beginnend im anterioren Gebiet der Schläfenregion.

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Abb. 14.38 Schematische Darstellung des Palpationskreises des. M. temporalis.

14.6 Palpatorische Untersuchung der Kiefergelenkmuskulatur

14.6.6 M. digastricus venter anterior und posterior Der M. digastricus hat seinen Ursprung mit seinem Venter posterior an der Incisura mastoidea ossis temporalis und ist mit seinem Venter anterior über die Zwischensehne mit dem Cornu minoris ossis hyoidei verbunden. Der Ansatz ist die Fossa digastrica. Eine der wichtigsten Aufgaben des M. digastricus ist die Hebung des Zungenbeins beim Schluckakt. Des Weiteren unterstützt er die Kieferöffnung.

Tipp Grundsätzlich sollte bei allen Patienten mit Kopf-/Kiefergelenkbeschwerden in bestimmten Abständen eine Untersuchung des Mundbodens auf Schmerz und/oder Veränderung vorgenommen werden. Der Untersucher testet die Zunge motorisch, indem der Patient aufgefordert wird, mit der Zungenspitze an die Nase zu kommen, an die Kinnspitze und so weit wie möglich nach links und rechts. Wenn sich bei diesen motorischen Tests Seitendifferenzen ergeben, sollte eine weitere Abklärung des Mundboden- und Zungenbereichs durch Zahnarzt, Oralchirurgen, Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgen oder Neurologen erfolgen. Diese Abweichungen können im einfachsten Falle aufgrund gestörter Körperwahrnehmung auftreten. Ursachen können Veränderungen im Mundboden sein, z. B. eine Aphthe oder auch Lymphknotenschwellungen, Speichelsteine, Tumoren, hirnorganische Prozesse usw. Aus diesem Grund wird der Mundboden komplett palpiert (hierbei ist darauf zu achten, dass nur minimalster Druck intraoral ausgeübt wird, da diese Region äußerst schmerzempfindlich ist).

Abb. 14.40 Die Triggerpunkte der Pars medialis des M. temporalis führen zu Ausstrahlungen in die Eckzähne und Prämolaren.

Abb. 14.41 Myofasziale Schmerzen der Pars medialis können in den mittleren Bereich des Os parietale übertragen werden.

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Abb. 14.39 Die Triggerpunkte der Pars anterior des M. temporalis übertragen Schmerzen in die oberen Frontzähne.

Abb. 14.42 Myofasziale Schmerzen der Pars posterior können in das Os parietale übertragen werden.

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Kopf und Kiefer

ASTE Der Patient liegt entspannt mit leicht erhöhtem Kopf auf einer Behandlungsliege bzw. einem Behandlungsstuhl. Der Untersucher setzt sich an die zu untersuchende Kopfseite des Patienten.

Technik (intraoral) Die Palpation erfolgt mit dem Mittel- oder Zeigefinger des Untersuchers sublingual (unterhalb der Zunge) im Mundboden des Patienten. Hierbei wird der Muskelbauch des M. digastricus venter anterior durch den intraoral befindlichen Finger des Untersuchers leicht in den Mundboden gedrückt und ist dann sowohl intraoral als auch extraoral gut palpierbar. Um den Venter anterior des M. digastricus besser von der restlichen suprahyoidalen Muskulatur im Mundboden abgrenzen zu können, hat es sich bewährt, bei der Mundöffnung einen leichten Widerstand an der Kinnspitze zu setzen. Der V-förmig zur Kinnspitze ziehende M. digastricus venter anterior stellt sich dann deutlich dar.

Technik (extraoral) Die extraorale Palpationstechnik des M. digastricus venter posterior stellt eine Alternative zur intraoralen Vorgehensweise dar. Hierzu umgreift man den Angulus mandibulae und palpiert hinter dem Ramus mandibulae in die Weichteile ein.

Abb. 14.43 Intraorale Palpation des M. digastricus venter anterior.

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Der M. digastricus venter posterior wird durch Umgreifen des Kieferwinkels und leichten Druck hinter den Ramus mandibulae in die Weichteile spürbar. Idealerweise wird der Patient gebeten, während der Palpation kurz zu schlucken. Hierbei schiebt sich der zu palpierende M. digastricus posterior direkt in den palpierenden Finger. Der intraoralen Behandlung des M. digastricus venter anterior sollte jedoch der Vorzug gegeben werden (▶ Abb. 14.43–▶ Abb. 14.46).

Tipp Suprahyoidale Muskulatur: Zu den oberen Zungenbeinmuskeln Mm. suprahyoidei gehören neben dem M. digastricus die Mm. stylohyoideus, mylohyoideus und geniohyoideus. Die Mm. geniohyoideus, mylohyoideus sowie der vordere Bauch des M. digastricus sind am muskulären Aufbau des Mundbodens beteiligt. Die oberen Zungenbeinmuskeln beteiligen sich am Kauund Schluckakt sowie an der Artikulation beim Sprechen und Singen. Bei festgestellter Mandibula können die Mm. mylohyoidei den Zungenboden anheben und damit gegen den Gaumen drücken. Das Zungenbein wird dabei mit dem Kehlkopf nach ventrokranial gezogen. Bei Fixierung des Zungenbeins durch die infrahyoidale Muskulatur beteiligen sich die Mm. mylohyoidei an der Öffnungs- und Seitwärtsbewegung des Unterkiefers (Rauber u. Leonhardt 1987).

Abb. 14.44 Extraorale Palpation des M. digastricus venter posterior.

14.7 Literatur

Abb. 14.45 Schematische Darstellung der intraoralen Palpation des M. digastricus venter anterior.

Abb. 14.46 Schematische Darstellung der extraoralen Palpation des M. digastricus venter posterior.

14.7 Literatur Rauber A, Leonhardt H (Hrsg.). Anatomie des Menschen: Lehrbuch und Atlas. Bd 1. Bewegungsapparat. Stuttgart: Thieme; 1987 Schindler HJ. Vortrag auf der 37. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Funktionsdiagnostik und Therapie (AFDT). Bad Homburg; November 2004 Stelzenmüller W, Weber D, Özkan V, Umstadt H. Is the lateral pterygoid muscle palpable? A pilot study for determining the possibilities of palpating the lateral pterygoid muscle. Best awarded poster presentation. AFDT der DGZMK (Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde). 28.11.2004. Int Poster J Dent Oral med 2006; 8: 301. Im Internet: http://ipj.quintessenz.de; Stand: 28.08.2017

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14.7 Literatur

Abb. 14.45 Schematische Darstellung der intraoralen Palpation des M. digastricus venter anterior.

Abb. 14.46 Schematische Darstellung der extraoralen Palpation des M. digastricus venter posterior.

14.7 Literatur Rauber A, Leonhardt H (Hrsg.). Anatomie des Menschen: Lehrbuch und Atlas. Bd 1. Bewegungsapparat. Stuttgart: Thieme; 1987 Schindler HJ. Vortrag auf der 37. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Funktionsdiagnostik und Therapie (AFDT). Bad Homburg; November 2004 Stelzenmüller W, Weber D, Özkan V, Umstadt H. Is the lateral pterygoid muscle palpable? A pilot study for determining the possibilities of palpating the lateral pterygoid muscle. Best awarded poster presentation. AFDT der DGZMK (Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde). 28.11.2004. Int Poster J Dent Oral med 2006; 8: 301. Im Internet: http://ipj.quintessenz.de; Stand: 28.08.2017

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Sachverzeichnis A Abhebeprobe 24, 229 AC-Gelenk, siehe Akromioklavikulargelenk Acetabulum coxae 132 Achillessehne 219 – Insertion 192 Achillodynie 191 Acromion, siehe Akromion Adamsapfel 410 Adduktorenschmerz 151 Akromioklavikulargelenk 39, 51 – Aufbau 39 – Gelenkkapsel 52 –– Arthritis, traumatische 54 –– Formvariation 53 –– Querfriktion 54 – Gelenkspalt, Ausrichtung 51 – Lokalisation 53 – Palpation 48 – Translation, transversale 54 – Zugang 50 Akromion 44 – Rand, lateraler 49, 53 – Schulterhochstand 44 – Topografie 37 Ala ossis ilii 242 Allodynie 224 Amphiarthrose 39, 246 Anatomie in vivo, Erfolgsformel 23 Aneurysma 310 Angulus – acromialis 44, 53 – costae 332 – inferior scapulae 40, 42 – pubis 241 – sterni 354 – superior scapulae 40, 43 Antetorsionswinkel 132 – Palpation 136 – Schnellbestimmung, manuelle 136 Anulus inguinalis – profundus 321 – superficialis 321 Aorta abdominalis 310, 317 Apertura thoracis inferior 315 Apex – patellae 163 –– Querfriktion 165 – sacri 244 Aponeurosis bicipitalis 70 Appendix vermiformis 309 Arcus – costalis 332 –– Siehe auch Rippenbogen – mandibulae 399 – palmaris superficialis 121 – pubis 241 – zygomaticus 422 Arm, Eigenpalpation 73 Armelevation 39, 41–42, 325 – hochgradige 40 – Palpation, interkostale 357

Arteria – brachialis –– Eigenpalpation 74 –– Palpation 75 – carotis communis 412 – dorsalis pedis 216 – femoralis –– Palpation 148 –– Trigonum femorale mediale 148 – occipitalis 393 – Palpation 31 – radialis –– Palpation 119 –– Verlauf 110 – subclavia 408 – tibialis –– anterior 216 –– Palpation 200 –– Verlauf 200 – tibialis posterior 204 – ulnaris 121 Arthritis – Akromioklavikulargelenk 54 – Becken 245 – Fuß 191 – Hand 96 – Hüfte 227 – Sternoklavikulargelenk 57 – Tibiofibulargelenk, proximales 183 Arthrose 25 Articulatio – calcaneocuboidea 208 – capitis costae, siehe Kostovertebralgelenk – costotransversaria, siehe Kostotransversalgelenk – cubiti 68 – genus, siehe Kniegelenk – humeroradialis 68 – humeroulnaris, siehe Humeroulnargelenk – metatarsophalangea, Gelenkspalt 202 – radioulnaris, siehe Radioulnargelenk –– proximalis 68 – talonavicularis 204 –– Gelenkspalt 201 – temporomandibularis 415, 418 – tibiofibularis proximalis 156 – trochoginglymus 69, 155 – trochoidea 69 – zygapophysialis, siehe Zygapophysealgelenk Aszendenspunkt 319 Atemexkursion 326, 334 – Rückenlage 356 Atemhilfsmuskel 376 Atemparameter 326 Atemrichtung 360 Atemtherapie 302, 334, 358 Atlas 370 Atlasassimilation 369

Ausfälle, sensible 226 Ausgangsstellung 34 Axis 370 Azetabulum, siehe Acetabulum

B Ballottement Test 113 Band, siehe Ligament Bandscheibe, siehe Discus Basis patellae 161 Bauch – Aorta, siehe Aorta abdominalis – Atmung 302 – mittlerer 317 – Muskulatur, tiefe 304 Bauchdeckendiagnose 302 Bauchfell, siehe Peritoneum Bauchpresse 304 Bauchraum, Organe 306 Bauchregion 302 – Muskulatur 316 – Projektion, orientierende 315 Bauchwand 303 Becken – Unterschiede, geschlechtsabhängige 241 – Anatomie 131, 240 – Bandapparat 244 – Funktion 130 – Referenzpunkte, knöcherne 249 Beckenboden – Aktivität 240 – Palpation 140 – Übungen 269 Beckenraum, Organe 309 Beckenregion 130, 238 – Projektionen, orientierende 265 – Referenzpunkte, knöcherne 241 Beckenschiefstand 316 Befunderhebung 83 – Kniegelenk 159 – Schulter 36 Behandlung – lokale 22 – regionale 22 Behandlungstechnik, dynamische 358 Behandlungstechnik – bimanuelle 360 – gehaltene 359 – segmentale 350 Beschwerden, zervikozephale 363 Beweglichkeitsprüfung – Brustwirbelsäule 326 – segmentale 277 Bindegewebemassage 326 Bizeps, siehe Musculus biceps brachii Blinddarm 308 Brustkorb, siehe Thorax Brustwirbel 329 Brustwirbelsäule 325 – Behandlung 350

– Besonderheiten, anatomische 328 – Mobilitätstest, segmentaler 349 – Palpation –– dorsal 337 –– ventral 354 – Provokation 232 – Traktion, segmentale 351 Bruxismus 424 Bursa – iliopectinea 134 –– ventral 149 – ischiadica m. glutei maximi 135 – olecrani –– Palpation 30, 92 –– Schwellung 92 – Palpation 30 – peritrochantäre 138 – subacromialis 39 – subtendinea 135 – trochanterica 135 –– Palpation 138 Bursitis – Palpation 240 – trochanterica 30, 138

C C 0–C 1 364 Caecum, siehe Blinddarm Calcaneus, siehe Kalkaneus Canalis inguinalis 310 – Palpation 322 Capitulum humeri 69, 85 – posterior 85 Caput – commune 80 –– Begrenzung 81 –– Palpation 80 – fibulae 180 – humeri 37 – mandibulae 418 – radii 69, 86 –– Begrenzung 86 –– Translation 77 – tali 196, 215 – ulnae –– palmar 125 –– Palpation 104 –– Sehnen 109 Carpalia, siehe Ossa carpalia Carpus, siehe Karpus Cartilagines costae 313 Cartilago – cricoidea 409, 412 – thyreoidea 375, 410 Cavitas – abdominalis, siehe Bauchraum – glenoidalis 59 –– Ausrichtung 60 – pelvis, siehe Beckenraum Cavitas-glenoidalis-Ebene 60 Cavum articulare 134 Center-Collum-Diaphysen-Winkel 131

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Sachverzeichnis Chondromalazie 154 Chopart’sche Gelenklinie 192 Circumferentia 69 Clavicula, siehe Klavikula Colles-Fraktur 96 Collum – radii 86 – tali 196, 215 Colon 309 – Palpation 318 Condylus – femoralis 155 –– lateralis 177 –– medialis 166–167 – humeri 68 Coracoid, siehe Processus coracoideus Cornu sacralia 244 Cornu sacrale 262 Coronary-Ligaments, siehe Ligamenta meniskotibialia Corpus adiposum infrapatellare, siehe Hoffa'scher Fettkörper Costochondritis, siehe TietzeSyndrom Coxa – valga 131 – vara 131 Crista – iliaca 250, 293 –– Palpation 257 – mediana sacralis 260 – supracondylaris 85 –– lateralis 84 –– medialis 79 – tuberculi minoris 61 Cyriax, James 28

D Darmbeinkamm, siehe Crista iliaca Dart-throwing motion 99 Daumen, Opposition 95–96 Daumensattelgelenk 113 – Gelenkspalt 113 – Traktion 114 Daumensäule 111 Deflexion 420 Deformation, knöcherne 25 Deltalücke 62 Dens axis 373 – Vorwölbung 368 Deszendenzpunkt 320 Deviation 420 Dickdarm 308 Differenzierungstest, Symphysenpathologie 150 Discus – articularis 418 – Irritation, chronische 397 – Ligamente, Verletzung 117 – Prolaps 272 – thorakaler 329 – ulnaris 97 –– Entzündung 117 – zervikaler, Rissbildung, horizontale 365 – Zweiteilung 366

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Diskus, siehe Discus Divergenz 286, 388 Dornfortsatz, siehe Processus spinosus Dreieck, epigastrisches 315 Drosselgrube 409 DRUG, siehe Radioulnargelenk, distales Durchblutung, arterielle, Test 218 Dynamisierung 153, 158 Dysbalance, muskuläre 424 Dysfunktion – kraniomandibuläre (CMD) 415 – temporomandibuläre (TMD) 415

E Eigenpalpation – A. brachialis 74 – Arm 73 Einstieg, kranialer 346 Elastizität 23 Elastizitätsprobe 24 Elektrotherapie 326 Ellbogen 68 – Insertionstendopathie 87 – Gelenkkapsel, Palpation 92 – Schmerz –– lateraler 69, 87 –– medialer 70, 72 Ellbogenbeuge, siehe Fossa cubitalis Ellbogengelenk – Referenzpunkte, knöcherne 93 – Rückseite 92 – Schwellung 92 – Wärme 92 Ellbogenregion 68 – Palpation –– anteriore 73 –– lateral 83 –– medial 77 – Strukturen, neurale 71 – Topografie 68 Epicondylus – lateralis –– femoris 179 –– humeri 70, 84 – medialis 79 –– femoris 168 –– humeri 70, 80, 82 Epigastrium 303 Epikondylopathie 81, 83 – Typ 81 Epikondylus, siehe Epicondylus Erguss, Knie 159 Erhebung, knöcherne 25 Exspiration 308, 333 – forcierte 304 Exspirationsstellung 333

F Fabella 155 Facettengelenk 386 – Reizung, länger andauernde 363 Facettentropismus 277 Fascia – nuchae 377

– thoracolumbalis 248, 280 –– aufpumpen 285 –– Schichten 281 Fasciitis plantaris 192 Faszie – Stärke 26 – Vorspannung 26 Federtest 343, 394 Femur 154 Femurkondylus, femoraler, siehe Condylus femoralis Fersensporn 192 Fibula 203 Finger – Extensor 102 – Flexor 28 – Opposition 95 Fingerregel 329–330, 347 Flachrücken 51, 59 Flexions-Kompressions-Test 83 Flüssigkeitshaushalt 24 Foramen – infraorbitale 417 – infrapiriforme 267 – mentale 417 – occipitale magnum 278 – supraorbitale 417 – suprapiriforme 268 – transversarium 365 – vertebrae 275, 329 Fornix humeri 39 Fossa – cubitalis 72, 76 –– Palpation 73 – digastrica 429 – infraclavicularis 54, 58, 405 – intercondylaris 155 – jugularis sterni 413 – lunata 126 – poplitea 183 –– Hinweis, therapeutischer 186 –– Strukturen, neurale 184 – radialis 103, 107 –– Knochen 112 – scaphoidea 126 – supraclavicularis 54, 405 Fovea – capitis radii 69 – radialis, siehe Fossa radialis Frankfurter Horizontale 378 Friktion, gluteale 240 Friktionsneuritis 72 Funktionsmassage 282, 398 – Halswirbelsäule 364 – Lendenwirbelsäule 234, 282 – Musculus trapezius 235, 394 – Nacken, schmerzhafter 364 – paravertebrale 398 – Variante nach –– Matthias Grötzinger 236 –– Oliver Oswald 394 Funktionstest, passiver 24 Fuß 189 – Komplex, kinematischer 190 – Abstoßphase 190 – Arthritis 191 – Besonderheiten 189 – Bewegungseinschränkung 191

– Biomechanik 190 – Funktion 189 – Gelenkspalt, medialer 201 – Instabilität 191 – Landungsphase 190 – Längsgewölbe 189 – Laxität 191 – Muskulatur, extrinsische 193 – Nervenkompression 192 – Nomenklatur, spezielle 190 – Rand –– lateraler 204, 207, 210 –– medialer 194 – Rücken –– Gefäße 216 –– Palpation 214 –– Querfriktion 218 – Schmerz, plantarer 192 – Tendinopathie 192 – Tendosynovitis 191 – Topografie 192 – Weichteilaffektion 191

G Gabelgriff 252 Gallenblase 308 Gaster, siehe Magen Gefäß – Bündel 75 – Palpation 31 Gegennutation 246 Gelenk – atlantoaxiales 372 – atlantookzipitales 372 – zygapophyseales, siehe Zygapophysealgelenk Gelenkfacette, lumbale 277 Gelenkflächenkongruenz, glenohumerale 38 Gelenklinie – karpometakarpale 105 – radiokarpale 103 Gelenkspalt – Kalkaneus zum Os cuboideum 209 – Os metatarsale IV/V zum Os cuboideum 209 – Sprunggelenk, oberes 214 Gelenkspaltdreieck – laterales 177 – mediales 169 Gelenkspieltest 24, 204, 214 – Articulatio calcaneocuboidea 213 – Tarsalgelenk 213 – Zwischengelenk 214 Gesäßmuskel 252 Gesichtsschädel, frontaler 416 Gewebe – hartes 24 – weich-elastisches 23 Glandula thyreoidea, siehe Schilddrüse Gleichgewichtsorgan 368, 375 Gleittechnik – Talus 217 – Tibia posterior 217

Sachverzeichnis Glenohumeralgelenk 37 Glutealregion 27, 254 – Muskulatur 252 – Nerven 238 Golfarmsyndrom 70, 81 Greifen 99 Grifftechnik, lumbosakrale 235 Großzehengrundgelenk 202 Grube, subokzipitale 382 Guyon-Loge, siehe Loge de Guyon

H Halsdreieck – oberes 402 – seitliches 402 – unteres 403 Halsregion – seitliche 402 – vordere, Anatomie 409 Halswirbelsäule 363 – Funktionsmassage 364 – Ligamente 371 – Muskulatur –– autochthone 373 –– dorsale 373 –– heterochthone 373 –– hochzervikale 375 –– prävertebrale, tiefe 376 –– seitliche 375 –– ventrale 375 – Nerven und Gefäße 377 – obere –– Anatomie 368 –– Biomechanik 372 – Palpation –– dorsale 381 –– laterale 399 –– ventral 408 – untere –– Anatomie 364 –– Biomechanik 366 –– Einteilung 364 Halswirbelsäule, Schmerzprovokation, Facettengelenk 29 Hämarthros 159 Hamstring-Syndrom 31, 134, 239 Hamstrings, siehe Musculi ischiocrurales Hamulus ossis hamati 123 Hand 95 – Arthritis 96 – Bewegungseinschränkung 96 – Diskriminationsfähigkeit 95 – Einteilung, anatomische 97 – Extensorensehne 107 – Fraktur 98 – Funktion 95 – Greifen 99 – Gyrus praecentralis 96 – Hypermobilität 117 – Hypomobilität 98 – Instabilität 96, 98 – Mechanorezeptor 95 – Modell, kinematisches und kinetisches 99 – Nervenkompression 97

– Nervenkompressionssyndrom 127 – Palpation –– dorsal 107 –– palmar 118 – Pathologie 96 – Säulenkonzept 97 – Sehnenfächer 102 – Stabilität 99 – Tendosynovitis, Querfriktion 111 – Topografie, knöcherne 103 – Überlastung 97 – Weichteilaffektion 97 Handballen 117 Handwurzel, siehe Karpus Handwurzelknochen, siehe Ossa carpalia Hänge-Packe-Griff 359 Harnblase 309 Haut – Beschaffenheit 24 – Flüssigkeitshaushalt 24 – Konsistenz 24, 229 – Oberfläche 225 –– Palpation 228 – Palpation 24 –– Systematik 226 – Rollung 358 – Temperatur 24, 228 – Tonus 233 – Turgor 233 Head-Zone 238 Helkimo-Index 420 Hemisakralisation 274 Hemmung, reziproke 27, 235 Hepar, siehe Leber Hernie, inguinale 322 Hiatus sacralis 244, 261 Hinterhaupt 368 – Siehe auch Okziput Hirnembolie 412 Hoffa’scher Fettkörper 166 Hueter’sches Dreieck 93 Hüft- und Leistenregion, Palpation – dorsal 139 – lateral 135 – ventral 142 Hüfte – Anatomie 131 – Bursa 134 – Funktion 130 – Pathologie 130 – Schmerz 130 – schnappende 240 – Weichteile, posterior 134 Hüftregion 130 Humeroradialgelenk 69 – Gelenkspalt 85 Humeroulnargelenk 68–69 Humerus 68 – medialer, Palpation 74 – Orientierung, allgemeine 92 – Rand, medialer 78 – Rand, lateraler 83 – Schaft, medialer 73 – Translation 60 Hyperalgesie 233

Hyperästhesie 233 Hypermobilität – Hand 117 – segmentale 295 Hypomobilität – Hand 98 – kapsuläre 77 – Rippe 326

I Impingement 42 – externes 65 – femoroazetabulares 131 – internes 47, 61, 65 Impression, primäre basale 368 Incisura – jugularis sterni 334, 354, 413 – trochlearis 69 Inion 369 Insertionstendinitis 28 Insertionstendopathie 70 – Fuß 192 – Musculus tibialis posterior 203 – Querfriktion 111, 203 Inspirationsstellung 333 Instabilität – axiale 295 – Fuß 191 – Hand 96 – hochzervikale 376 – Os lunatum 115 – Sakroiliakalgelenk 246 – segmentale 295 – Symphyse 302 Interkostalraum – Palpation 356 – Streichung 359 International Academy of Orthopedic Medicine 138 Interspinalraum 297 Intestinum crassum, siehe Dickdarm

J Jacoby-Linie 241, 288 Joint Line Tenderness Test 175 Jumper's Knee 154, 163 Jung girl’s knee syndrome 154

K Kalkaneus – distaler 209 – Spitze 208 Kammer – diskomandibuläre 418 – diskotemporale 418 Kaplanfaser 157 Kapselverstärkungsband 29 Karpalia, siehe Ossa carpalia Karpaltunnel 97 – Aufbau 100 – Begrenzung 100, 122, 124 – Kompression 127 – palmar 126

– Querschnitt 101 – Syndrom 117 Karpus 95, 98 – Begrenzung 103, 106 – Topografie 98 – Translation 106 Kaudruck 424 Kauen 418 Kaumuskel 375 Kehlkopf 375 – Palpation 411 Kette, kinematische – Brustwirbelsäule 331 – Thorax 331 Kiblerfalte 24, 230 Kiefer 415 Kiefergelenk 415, 418 – Bedeutung, funktionelle 415 – Biomechanik 418 – Blockierung 420 – Grube 421 – Köpfchen 418–419 – Muskulatur 422 – Palpation 420 Kieferschluss 419 Klavikula – Begrenzung 51 – Ende, mediales 55 – Palpation 51 –– Rand, posteriorer 50 – Rand 405 Klopfung, Hohlhand 360 Knackgeräusch 420 Knackphänomen 420–421 Knetung, gluteale 240 Kniegelenk 153–154 – Erguss 159 – Etage 154 – Extension 156 – femorotibial 154 – Flexion 157 – Funktion 153 – Gelenkspalt, medialer 166 – Gelenkspaltdreieck, mediales 167 – Hinweise, therapeutische 182 – Kapsel 155 – Kollateralband –– laterales 156 –– mediales 156 – Maxierguss 159 – Meniskus 155, 174 – meniskofemoral 154 – meniskotibial 154 – Midierguss 159 – Minierguss 160 – Muskulatur 156 – Palpation –– anterior 161 –– lateral 176 –– medial 166 –– posterior 183 – patellofemorales 164 – Pathologie 154 – Schwellung 159 – Topografie 154 – Wärme 159 Kniekehle, siehe Fossa poplitea

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Sachverzeichnis Knochenkante 25 Knochennekrose, aseptische 164 Kollateralband – laterales 180 – mediales 169 –– Insertion 170 –– Querfriktion 175 Kolon, siehe Colon Kolonpunkte nach Vogler 318 Kommunikation, nonverbale 95 Komplex – diskokondylarer 421 – subtalarer 190 – triangulärer fibrokartilaginärer, siehe TFC-Komplex Kompression, Thorax 360 Kompressionsneuropathie, Provokation 127 Kompressionstest nach Tetro 127–128 Kontaktatmung 360 Konvergenz 286, 388 Kopf 415 – Anatomie 416 – Knochen 416 – Schwerpunkt 363 – Seitneigung 373 Kopfgelenk – oberes, siehe Gelenk, atlantookzipitales – unteres, siehe Gelenk, atlantoaxiales Kopfschmerz 415 Korakoid, siehe Processus coracoideus Kostochondritis, siehe TietzeSyndrom Kostotransversalgelenk 332 – Mobilisation 361 – Traktion 353 Kostovertebralgelenk 328, 332 Kranialvariation, siehe Sakralisation Kreuz, lumbosakrales 289 Kreuzgriff 245 Kreuzung, neurovaskuläre 365 Kribbelgefühl 31, 76 Krikoid, siehe Cartilago cricoidea Kubitaltunnel 72, 79 – Syndrom 72, 83 Kuboid, siehe Os cuboideum Kyphose, thorakale 328

L L 3–L 4 292 L 4–L 5 292 L 5 290 – Endgefühl 290–291 Labrum glenoidale 38 Lacertus fibrosus 70 – Palpation 74 Lachman-Test 153 Lagerung – Rumpf 26 – Sitz, freier 25 Lähmung 41 Lamina – C 2 387

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– C 3 387, 409 – C 4 410 – C 5 412 – C 6 412 Landmark 249 Längsfriktion, Entzündung 28 Laterotrusion 420 Laxität, kapsuläre 77 Laxitätstest, Radioulnargelenk, proximales 77 LBH-Region, siehe Lenden-BeckenHüftregion Leber 307 – Rand 319 Leiste – Gefäßbündel 133 – Nervenbündel 133 – Schmerz 130 Leistenband, siehe Ligamentum inguinale Leistenbeuge 133 – Siehe auch Sulcus inguinalis Leistenbruch, siehe Hernie, inguinale Leistenkanal, siehe Canalis inguinalis Leistenregion 130, 310 – Palpation 321 Leistenring, siehe Anulus inguinalis Leitstruktur 32 Lenden-Becken-Hüftregion 130 Lendenrippe 276 Lendenwirbelsäule – Anatomie 273 – Aufgabe 271 – Bewegung, gekoppelte 298 – Bewegungsrichtungen 286 – Frontalebene 288 – Funktionsmassage 234, 282 – Körperposition, vertikale 288 – Mobilität, segmentale 298 – Palpation 288 –– Flexion und Extension 278 –– Seitneigung und Rotation 278 – Seitenlage, neutrale 288 – Transversalebene 288 – Verbindung von Crista iliaca und SIPS 288 Ligament – Dynamisierung 248 – palmares tiefes extrinsisches 98 – Palpation 29 Ligamenta – alaria 372 –– Funktion 373 –– Test 395 – cruciata 155 – iliolumbalia 280 – interspinalia 279 – intertransversaria 279 – sacroiliacalia ventralia 245 Ligamentum – acromioclaviculare –– inferius 39 –– superius 39 – anulare radii 68 – arcuatum pubis 134 – calcaneofibulare, Lage 211 – calcaneonaviculare plantare 193, 198

– collaterale mediale 175 – conoideum 39 – costoclaviculare 40 – deltoideum 193, 197 – flavum 279 – glenohumerale –– inferius 38 –– medius 38 –– superius 38 – iliopatellae 157 – inguinale 314, 316 –– ventral 146 – interclaviculare 40 – Laxität 397 – longitudinale –– anterius 278 –– posterius 278 – meniscotibiale, Querfriktion 175 – nuchae 371, 384 – patellae 29 –– Querfriktion 165 –– Rand 163 –– Tendopathie 165 – patellotibiale, laterale 177 – sacroiliacale dorsale longum 245, 264 – sacrotuberale 248, 264 – sternoclaviculare –– anterius 40 –– posterius 40 – supraspinale 279 – talofibulare anterius 211 –– Lage 211 – tibiotalare posterius, Verlauf 198 – transversum –– atlantis 371 –– carpi 126 – trapezoideum 39 Linea – alba 316 – arcuata 241 – nuchae 369 –– superior 381 –– suprema 381 – semilunaris 317 – temporalis 427 Linearpunkt 320 Lisfranc’sche Linie 192 Loge de Guyon 122–123 – Topografie 121 Lokalisation, Tricks zur Bestätigung 33 Lordose 364 – zervikale 338 – lumbale 228, 238, 274 – physiologische 287 – zervikale 338 Lücke, pelvitrochantäre 139 Lumbalisation 273 Lunatum, siehe Os lunatum Lymphangiomotorik 364

M M. flexor digitorum superficialis 120 Magen 306

Malleolus – lateralis 205 –– Sehne 207 – medialis 195 Mandibula 416 – Bewegungen 415 – Lage 421 – Laterotrusionsbewegung 420 – Mediotrusionsbewegung 425 – Öffnungsbewegung 420 – Protrusionsbewegung 425 Manubrium sterni 334 Manuelle Therapie 224, 326 Margo medialis scapulae 41–42 Massagetherapie 224, 230–231, 234, 326 Maxierguss 159 Maxilla 416 Mechanorezeptor 95, 189 Membrana – fibrosa 29 – interossea antebrachii 99 – obturatoria 242 Meniscus 155, 174 – lateralis 182 – Vorderhorn 174 Meniskus, siehe Meniscus Meralgia paraesthetica 147 Metatarsale, siehe Os metatarsale Metatarsus 189 Midierguss 159 Milz 307 – Palpation 320 – Vergrößerung 320 Minierguss 160 Mitnahmetechnik 351 Mittelgesicht 416 Mittelhand, Verformbarkeit 95 Mobilisation, sakroiliakale 239, 269 Monitormuskel 335 Morbus – de Quervain 108, 110 – Osgood-Schlatter, siehe Knochennekrose, aseptische Mundöffnung 419 – Knackgeräusch 421 – Test 420 Mundschluss 419, 427 Murphy-Zeichen 319 Musculi – ischiocrurales 140, 157 –– Muskelbäuche 140 –– Querfriktion 141 –– Ursprungssehne 140 – multifidi 261 –– lumbales 283, 299 – rotatores thoracis 335 – scaleni 376 Musculus – abductor pollicis longus 108 – adductor –– brevis 149 –– longus 145, 149 –– magnus 168 – anconeus 85 – biceps femoris 157, 181, 185 – biceps brachii 74 – brachialis, Palpation 76

Sachverzeichnis – brachioradialis 86 –– Palpation 76 – digastricus 429 –– extraoral 430 –– intraoral 430 – erector spinae, Palpation 299 – extensor carpi radialis 84, 87–88 – extensor carpi ulnaris 89, 109 – extensor digiti minimi 109 – extensor digitorum communis 89 – extensor indicis proprius 109 – extensor pollicis brevis 108 – flexor carpi radialis 119, 124 – flexor carpi ulnaris 120 – flexor digitorum longus 198 – flexor digitorum profundus 100 – flexor digitorum superficialis 101 – flexor hallucis longus, Sehne 199 – flexor pollicis longus 101, 120 – gastrocnemius 158 – geniohyoideus 430 – gluteus –– maximus 252 –– medius 255 – gracilis 149 –– Sehne 186 – iliocostalis 284 – iliopsoas, ventral 149 – infraspinatus 46 –– Lage 46 –– Tendinosis 47 – latissimus dorsi 282, 336 – levator –– ani 140 –– scapulae 406 – longissimus –– capitis 374 –– cervicis 374 – longus –– capitis 374 –– colli 374 – masseter 422 –– Triggerpunkt 423 – mylohyoideus 430 – obliquus –– externus abdominis 305, 317 –– internus abdominis 305, 317 – obliquus capitis inferior 375 – obliquus capitis superior 375 – palmaris longus 96 –– Sehne 120 – pectineus, Palpation 149 – pectoralis major 335 – peroneus –– brevis 206 –– longus 206 – piriformis 266 –– Projektion 266 – popliteus 158 –– Insertion 179 – pronator teres 80 –– Palpation 76, 80 – psoas –– major 304, 318 –– minor 304

– pterygoideus –– lateralis 425 –– medialis 424, 426 – pterygoideus lateralis, Triggerpunkt 427 – quadratus lumborum 304 – quadriceps femoris 156 – rectus –– abdominis 304, 316 –– femoris 144, 157 – rectus capitis –– anterior 375 –– lateralis 375 –– posterior 375 – sartorius –– Palpation 143 –– Sehne 186 –– ventral 145 – scalenus –– anterius 407 –– medius 408 –– posterius 407 – semispinalis –– capitis 373, 389 –– cervicis 373 – semitendinosus, Sehne 185 – serratus anterior, Lähmung 41 – spinalis thoracis 335 – splenius –– capitis 373, 392 –– cervicis 373 – sternocleidomastoideus 55 –– Hinterrand 403 –– Palpation 55, 391 – stylohyoideus 430 – subscapularis 38 –– Sehne 60 – supraspinatus –– Insertion 64 –– Muskelbauch 45 –– Querfriktion 45, 65 –– Tendinitis 65 –– Tendinose 65 –– Verlauf 65 – temporalis 427 –– Schmerz 429 –– Triggerpunkt 429 – tensor fasciae latae, Palpation 143 – teres minor 39 – tibialis anterior 200 – tibialis posterior, Sehne 197 – transversus abdominis 281, 305, 317 – trapezius 336 –– Funktionsmassage 235, 394 –– Pars descendens 390, 405 – triceps surae 220 Muskelbauch – Konsistenz 26 – Palpation 26 Muskelhartspann 233 Muskellücke 317, 393 Muskelrand, Palpation 27 Muskeltonus 230 – Prüfung 230 Muskelverhärtung 233 Myogelose 232–233

N Nacken, schmerzhafter 364 Nackenlinie 381 Nackenmuskel 389 – Detonisierung 394, 398 – Insertionslinie 389 Nerv – anzupfen 393 – Kompression, periphere 31, 71 – Palpation 31 Nervenbündel 75 Nervus – cutaneus femoris lateralis, ventral 146 – femoralis, Trigonum femorale mediale 148 – gluteus 267 –– superior 268 – ischiadicus 267 –– Verlauf 239 –– Verlauf am Becken 268 – medianus 71 –– Kompressionsneuropathie 75 –– palmar 127 –– Palpation 75 – occipitalis –– major 393 –– minor 393 – peroneus –– communis 158, 194, 216 –– profundus 194, 216 –– superficialis 217 – radialis 71 –– Palpation 87, 110 –– Palpation, provokative 91 –– Verlauf, proximaler 86 – saphenus 158, 173 – tibialis –– Palpation 184, 200 –– Verlauf 194, 200 – ulnaris 71, 78, 121 –– Kubitaltunnel 72, 79, 82 –– Palpation 121 Neuritis 267 Nutation 246 Nutationsbremser 245

O Oberbauch 306 Obergesicht 416 Ohrenschmerz 423 Okziput – Muskulatur, Insertion 389 – Nerven und Gefäße 377 – Palpation 381 Opposition 95 Orbitomeatalebene 379 Os – capitatum 114, 126 – coccygis 244 – coxae 242 – cuboideum 210 – cuneiforme mediale, Gelenkspalt 202 – hamatum 116

–– Lage 117 – hyoideum 375 –– Hebung 429 –– Palpation 409 – lunatum 96, 114–115, 126 – metatarsale V, Basis 206 – naviculare, Gelenkspalt 202 – occipitale 369, 389 – pisiforme 120 –– palmar 122 – sacrum 243, 251, 260 –– Sakrumpole 263 –– Schmerz 269 –– Übergang zum Os coccygeum 262 – scaphoideum 112–113 –– Abgrenzung Os trapezoideum 114 –– dorsal 114 –– Lokalisation 125 –– palmar 124 – temporale 418 –– Lage 420 – trapezium 95, 112 –– Lokalisation 125 –– palmar 124 – triquetrum 115 – zygomaticum 416–417 Osborne’s ligament 72 Ossa carpalia 98 – Säule, radiale 112 – distale 99 – Lage 116 – Lokalisierung 127 – Mobilitätstest 113 – Palpation –– dorsal 111 –– palmar 122 – Säule –– radiale 112 –– ulnare 115 –– zentrale 114 Osteoarthrose 154 Osteochondrosis dissecans 154 Ottawa Ankle Rules 203

P Palmaraponeurose 96 Palpation 321 – Aufgabe 23 – Basisprinzipien 21 – Konsistenz 23 – Leberrand 319 – Leistenregion 321 – Lokalisation 23 – lumbale –– Flexion und Extension 296 –– Güte, wissenschaftliche 294 – Milz 320 – sichere 23 – Technik 23–24 – Vorgehensweise 23 – Workflow 23 Palpationsdruck 24 Parese, siehe Lähmung Patella 153, 156 – Rand 162

437

Sachverzeichnis Pelvis, siehe Becken Peritoneum 306 Perkussionstest nach Tinel 127 Pes anserinus – profundus 158 – superficialis 157, 172 –– Differenzierung, muskuläre 172 –– Insertion 172 Pfannenband 193, 198 Pfötchengriff 236 Pinzettengriff 95–96, 221 Piriformis-Syndrom 239, 267 Planum – interspinale 314 – nuchale 369 – occipitale 369 – subcostale 303 Plexus – brachialis 378, 408 – cervicalis 377 Press Test 117 Processus – coracoideus 57 –– Palpation 58 – costalis, siehe Processus costarius – costarius 276 – posterior tali 196 – spinosus –– C 2 384, 386 –– C 5 339 –– C 6 339, 385 –– C 7 340 –– Halswirbelsäule, untere 385 –– L 5 290 –– Länge 337 –– Lokalisation, lumbale 289 –– lumbaler 275 –– S 1 260, 290 –– S 2 260, 289 –– S 3 261 –– S 5 260 –– Th 1 340 –– Th 1, Projektion 341 –– Th 8 347 –– Th 11 293 –– Thorax 329 – styloideus –– radii 103 –– ulnae 104 – transversus –– C 1 400 –– C 2 401 –– C 3 401 –– Thorax 329 – xiphoideus 313 Projektion nach Loyd 342 Protraktion 378 Protuberantia occipitalis externa 369, 381, 384

Q Querfriktion – Apex patellae 165 – bilaterale 221 – Entzündung 28 – Insertionstendopathie 111 – Kollateralband, mediales 175

438

– Ligamentum –– collaterale mediale 175 –– meniscotibiale 175 –– patellae 165 –– talofibulare anterius 212 – Musculus –– extensor carpi ulnaris 111 –– peroneus brevis 213 –– tibialis posterior 203 – nach Cyriax 28 – ohne Irritation 218 – Sehne 29 – Sehnenfach 111 – Tendinose 28, 47

R Radfahrerlähmung 122 Radialextension 100 Radialistunnel 71 – Palpation 90 Radialistunnelsyndrom 90 Radiokarpalgelenk – Ausrichtung 105 – Gelenklinie, palmar 118 Radioulnargelenk 68 – distales –– Gelenkspalt 109 –– Palpation 104 – proximales 69, 76 –– Gelenkspalt 77 –– Laxitätstest 77 Radius 69, 99 – Palpation von distal 103 – Rand 104, 118 Radiuskopf, siehe Caput radii Ramus – dorsalis 243 – ventralis 243 Raphe lateralis 281 Rautengriff 359 Recessus axillaris 39 Referenzpunkt 32 Referred Pain 130, 363 – Halswirbelsäule 364 Reflex, zervikookulärer 368 Regio colli – anterior 409 – lateralis 402 Rektum 309 Relaxation, postisometrische 235 Retinaculum – extensorum 102, 107 – flexorum 102, 200 – ligamentäres 79 – musculorum peroneorum superius 206–207 Retinakulum, siehe Retinaculum Retraktion 378 Rhizarthrose 114 Ringknorpel, siehe Cartilago cricoidea Rippe – 1. 341, 408 –– Blockade 343 –– ventral 356 – 2. 355 –– Atmung 356

– 11. 314 – 12. 293 – Aufbau 331 – Bewegungspalpation 358 – Exspirationsstellung 352 – Hypomobilität 326 – Inspirationsstellung 352 – Palpation, kaudal 348 – Positionsdiagnostik 327 – Stellungsdiagnostik 351 – Sternumkontakt 332 Rippen-Wirbelgelenk 332 – Behandlung 353 – Mobilisation 361 Rippenbogen 313, 332 Rippengelenk 332 – Provokation 232 Rosette-Test, siehe Rotationstest, lumbaler Rotationstest, lumbaler 295 Rotatorenintervall 38 Rücken – Muskulatur –– autochthone, Funktion 285, 335 –– heterochthone 336 – Schmerz –– akuter 272 –– chronischer 304 –– thorakaler 334 Rückenmuskulatur – autochthone, Trakt, medialer 283 – autochthone, Trakt, lateraler 284 Rumpf – Flexion 285 – Lagerung 26 – Orientierung –– knöcherne 225 –– muskuläre 225 – Palpation 224 – Rotation 306 – Wand, Muskulatur 285 – Weichteil, dorsales, Behandlungsbeispiel 234 – Weichteiltechnik 230 –– lumbale 224 Rundrücken 59 Runner's Knee 154, 183

S S 1 290 – Schub, ventraler 290 S 2 289 Sakralisation 273 Sakroiliakalgelenk 130, 238, 245 – Anatomie 246 – Biomechanik 247 – Lage, dorsale 265 – Ligament, dynamisiertes 248 – Projektion 265 Sakrumpol 263 Säule – radiale 97 – ulnare 98 – zentrale 98

SC-Gelenk, siehe Sternoklavikulargelenk Scaption 45 Scapula alata 41 Schädel – Anatomie 416 – Palpation 417 Schilddrüse 412 Schleimbeutel, siehe Bursa Schleudertrauma 366 Schluckbeschwerden 363 Schmerz 423 – chronischer 326 – fortgeleiteter 138 – myofaszialer 423 – präaurikulärer 425 – projizierter 130, 138 – Provokation 29 – übertragener 415, 423 Schmerzgeneratoren 238 Schneidekantendistanz 420 Schub, ventraler, auf S 1 290 Schubladentest 153 Schulter, Befunderhebung 36 Schulterdach, siehe Fornix humeri Schultergürtel 40 Schulterhochstand 44 Schulterregion 36 – Kapselaufbau 38 – Palpation –– dorsal 42 –– lateral 48 –– ventrolateral 57 –– ventromedial 55 – Pathologie 62 – Prinzip, funktionelles 36 – Retrotorsion 37 – Schmerz 36 – Subluxation 39 – Topografie 36 Schwellung 25, 29 – Bursa olecrani 92 – Ellbogengelenk 92 – Fossa radialis 107 – kapsuläre 30 – Kniegelenk 159 Schwindel 363 Segment – intercalated 98–99, 190 – lumbales 286 Segmentspiel – dorsoventrales 296 – ventrodorsales 297 Sehne – Caput ulnae 109 – Hand 102 – Malleolus lateralis 207 – Musculus –– adductor magnus 168 –– biceps brachii 74 –– biceps femoris 185 –– extensor digiti minimi 109 –– flexor carpi radialis 124 –– flexor hallucis longus 199 –– gracilis 186 –– palmaris longus 120 –– peroneus brevis 208 –– sartorius 186

Sachverzeichnis –– semitendinosus 185 –– subscapularis 60 –– tibialis posterior 197 – Palpation 27 – Pathologie 28 – Querfriktion nach Cyriax 29 – Rotatorenmanschette 39 Sehnenfach 97, 102, 107 – Querfriktion 111 Sehnenscheidenentzündung 108 – Siehe auch Tendosynovitis Sekretmobilisation 359 Sensibilität, Ausfall 226 Separation, axiale 327 Septum intermusculare – laterale 83 – mediale 78 –– Palpation 79 SIAI, siehe Spina iliaca anterior inferior SIAS, siehe Spina iliaca anterior superior Sigmapunkt 321 Sinnesorgan 363 Sinus-tarsi-Syndrom 191 Skalenuslücke 376 – hintere 377 – vordere 377 Skalenussyndrom 377 Skaphoid, siehe Os scaphoideum Skapula – Bewegung bei endgradiger Arminnenrotation 41 – Topografie 40 Skapulatipping 42 Skapulawinging 42 Skoliose 316 Slipping Rip Syndrome 313 Spina – acromialis 49, 53 – iliaca –– anterior inferior 145 –– anterior superior 146, 314 –– posterior inferior 265 –– posterior superior 26, 256–257 – scapulae 40 –– Kante, inferiore 43 –– Kante, superiore 45 Spinalnerv 282, 329, 378 Splen, siehe Milz Spondylolisthesis 290 Springing-Test 352 Sprunggelenk – Ligamente 193 – oberes (OSG), Techniken, gelenkspezifische 217 – oberes (OSG), Gelenkspalt 194 – unteres (USG), Mobilitätstest 218 Sprungschanzenphänomen 290 Squama occipitalis 369 Steinmann-II-Test 174 Sternoklavikulargelenk 39 – Arthritis 57 – Gelenkspalt 56 – Traktion 57 Sternum, Spitze, siehe Processus xiphoideus

Stoßdämpfung 130, 189 Stratum – inferius 419 – superius 419 Sulcus – bicipitalis 75 –– Palpation 78 – inguinalis 133 – intertubercularis 61–62 –– Palpation 62 – nervi –– radialis 71 –– ulnaris 72, 79 – terminalis 155 Sulkus, siehe Sulcus Sustentaculum tali 195 – Palpation 196 Sympathikus 326 – Aktivität, erhöhte 409 Symphyse, siehe Symphysis pubica Symphysis pubica 133, 314 – Arthropathie 134 – Instabilität 302 – Lockerung 246 – Pathologie 150 Syndesmose 246 Synostose 240 Synovialmembran 134

T Tabatière anatomique, siehe Fossa radialis Talus 190, 215 – Gleittechnik 217 – Lokalisation 196 – Rotation 190 Tapotement 360 Tarsaltunnel 200 – Syndrom 204 TCM, siehe Traditionelle Chinesische Medizin Tendinitis, Musculus supraspinatus 65 Tendinose 28, 47 – Musculus supraspinatus 65 – Querfriktion 28 Tendopathie – Impingement 65 – Provokation 140 Tendosynovitis – Musculus tibialis posterior 203 – stenosans, siehe Morbus de Quervain Tennisarm 70, 87 – Querfriktion 89 – Typ 87 Test nach Tinel/Tetro 127 TFC-Komplex 97, 100 Th 1, Lokalisation 340 Thermorezeptor 227 Thoracic-Outlet-Syndrom 377 Thorax 331 – Facettengelenk 330 – Kompression, exspiratorische 360 – Kyphose 328

– Mobilisation 360 – Muskulatur 335 Thoraxchirurgie 326 Tibia – Condylus 155 – Gleittechnik 173, 217 – Plateau 166 –– laterales 177 – proximale 155 – Slope 166, 177 Tibiofibulargelenk, Arthritis 183 Tietze-Syndrom 355 Tilt, palmarer 98, 105, 118 Tinnitus 363 Tonus 225 Torus occipitalis 381 Totaltechnik 350 Tractus iliotibialis 157, 178, 256 Tractus-iliotibialis-Friktionssyndrom, siehe Runner's Knee Traditionelle Chinesische Medizin 302 Traktion – Kostotransversalgelenk 353 – segmentale 351 Traktus-Friktionssyndrom 183 Translation – anteriore 338 – transversale 54 Trapezium, siehe Os trapezium Trigeminusdruckpunkt 417 Triggerpunkt 232–233, 267 – Behandlung nach Travell und Simons 239 – Musculus –– masseter 423 –– pterygoideus lateralis 427 –– pterygoideus medialis 425 –– temporalis 429 Trigonum femorale – laterale 133, 142 –– Palpation 142 –– Spitze 143 – mediale 133, 142, 148 –– ventral 146 Trio – radiales 118 – ulnares 119 –– Lage 121 Triple Compression Test 204 Trizeps, siehe Musculus triceps brachii Trochanter major 250 – Insertion 138 – Insertionstendopathie 138 – lateral 135 – Palpation 136 – Spitze 136 Trochlea peronealis 205 Tuber – ischiadicum 252 –– Palpation 139 – ossis ischii, siehe Tuber ischiadicum Tuberculum – adductorium 168 –– Apex 168 – caroticum 412

– gastrocnemius mediale 169 – Gerdyi 155, 164 –– Palpation 179 – majus 62 –– Facette 62, 63 – minus 61 –– Lage 61 – ossis scaphoidei 119 – pubicum 149 – radiale dorsale –– Daumenextension 108 –– Palpation 104 – von Lister, siehe Tuberculum radiale dorsale Tuberkulum, siehe Tuberculum Tuberositas – glutea 254 – ossis navicularis 197 – radii 74 – tibiae 155, 164 Tunica fibrosa 307 Turgor 225

U Übelkeit 363 Überempfindlichkeit 226 Übergang, zervikothorakaler 344 Übergangswirbel 370 Ulna 69 Ulnar Fovea Sign 117 Umknicktrauma 192 Unkovertebralgelenk 366, 368 Unterarm – posteriorer, Muskelinsertion 87 – Schnellorientierung 82 – Topografie, muskuläre 82 Unterbauch 306 Untergesicht 416 Unterkiefer, siehe Mandibula Unterschenkel, posteriorer, distaler, Palpation 219

V Vasa occipitalia 377 Vena – cephalica 110 – femoralis 310 Vena femoralis, Trigonum femorale mediale 148 Verbindungslinie 32 Verschieblichkeitstest 24, 229 Vesica – fellea, siehe Gallenblase – urinaria, siehe Harnblase Vibration 359 Viererzeichen 181 Vorbeugen 260 Vorlaufphänomen 256

W Wartenberg-Syndrom 110 Weichteile, Schmerz 269 Wirbelkörper, keilförmiger 328

439

Sachverzeichnis Wirbelkörperbänder, siehe Ligamentum longitudinale Wundheilung 226 Wurmfortsatz, siehe Appendix vermiformis

440

Z Zahnschmerz 423 Zäkalpunkt 318 Zeichnung 21, 34

Zungenbein, siehe Os hyoideum Zygapophysealgelenk 276, 386 – Hypomobilität 326 – Palpation 366