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Die Imagination des Weiblichen
 3205774566, 9783205774563

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Böh I a u

Ester Saletta

Die Imagination des Weiblichen Schnitzlers Fräulein Else in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit

Böhlau Verlag Wien • Köln • Weimar

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-205-77456-6 ISBN 978-3-205-7756-3 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2006 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H . und Co. KG, Wien • Köln • Weimar http: //www. boehlau.at Druck: Primerate, Budapest

Inhalt Danksagung

VI

Vorbemerkung

IX

Einleitung

13

1.

Wien in der Zwischenkriegszeit

21

2.

Schnitzlers „Fräulein Else"

65

5.

Schnitzlers Frauengestalten in Bezug auf „Else"

77

„Spiel im Morgengrauen" „Therese. Chronik eines Frauenlebens"

79 89

4.

Beispiele aus der österreichischen Literatur in Bezug auf „Fräulein Else".

107

Die „Drei Frauen" (1924) „Grigia" „Die Portugiesin" „Tonka" Schlussbemerkungen über R. Musils „Drei Frauen" „Eine blaßblaue Frauenschrift" von F. Werfel (1941) Frauengestalten aus der Trivialliteratur der Zwischenkriegszeit

125 132 140 149 157 160 173

Primärliteratur

209

Sekundärliteratur

212

Personenregister

218

Danksagung Für die Hilfsbereitschaft und die Unterstützung in der Suche nach literarischen Quellen danke ich den Mitarbeitern der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur und des Institutes für Wissenschaft und Kunst. Für seine zahlreichen Auskünfte und Beratungen danke ich Dr. Johann Sonnleitner, der mich in den ersten Phasen der Verfassung dieser Arbeit (ermöglicht durch ein siebenmonatiges OAD-Stipendium) betreut hat. Ein freundlicher und herzlicher Dank gilt meinen zwei Kollegen Herrn Dr. Kurt Krottendorfer und Frau Dr. Christa Tuczay, die diese Arbeit in ihren unterschiedlichen Verfassungsphasen lektoriert haben. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Wendelin Schmidt-Dengler, der diese Dissertation angeregt und mit aufmunternder und bestätigender Kritik gefördert hat.

Meinem Vater gewidmet

Vorbemerkung

Wien, Oktober 1999. Ort und Zeit des Beginns meiner Schnitzler-Forschung. An einem trüben, nebeligen und windigen Wiener Nachmittag verließ ich die Wärme und gemütliche Atmosphäre des Café Central, um mit schnellen Schritten durch die Herrengasse in Richtung Karl-Lueger-Ring zu gehen, wo mich mein damaliger Betreuer, Herr Dr. Johann Sonnleitner, am Institut für Germanistik erwartete. Die von Italien aus per E-Mail geplante Verabredung sollte dazu dienen, mir erste Hinweise zu meiner einjährigen ÖAD (Österreichischer Austauschdienst)-Stipendienarbeit zu geben. Zu dieser Zeit war ich noch nicht entschlossen, über Schnitzler zu schreiben, sondern vielmehr über weibliche Figuren in der österreichischen Literatur. Die Idee, die Wiener Moderne zu untersuchen, hatte mich schon immer stark fasziniert, und die Stimmung, in die mich die Tatsache versetzte, nun in der Hauptstadt, am Geburtsort, im Herzen dieser Kultur zu sein, verstärkte diese Faszination immer mehr. Ich beeilte mich; ich ging schnell durch die Uni-Arkade mit den Mamorbüsten berühmter Persönlichkeiten, die an der Universität Wien ihren Ruhm erlangt hatten und betrat das Institut fiir Germanistik. Im dritten Stock erwartete mich Dr. Sonnleitner. Das Gespräch war produktiv und erhellend für mich, und das Thema der Imagination des Weiblichen in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit wurde zum ersten Mal erwähnt. Der Name Arthur Schnitzler fiel jedoch noch nicht. Dieser sollte erst ein Jahr später von meinem Doktorvater, Herrn Prof. Wendelin Schmidt-Dengler, ins Spiel gebracht werden. Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre, an die Worte von Herrn Dr. Sonnleitner: „Liebe Frau Saletta, Sie wissen, Sie müssen wie wahnsinnig lesen; alles mögliche über die Kozepte des Weiblichen und der Imagination in den 20er und 30er Jahren." Doch ich war so begeistert von meinem Thema, dass ich ohne eine Sekunde zu zögern bereit war, zum Bücherwurm zu werden. So begann ich, meine Tage am Schreibtisch, mit dem grünen Licht der Tischlampe als einzigem Gesellschafter, in der Wiener Nationalbibliothek, im Literaturhaus und in der Fachbibliothek der Germanistik zu verbringen. Gleichzeitig besuchte ich Univorlesungen, die mein Thema vertiefen konnten, wie z. B. eine Veranstaltung von Frau Prof. Gisela Brinkler-Gabler, die mich mit den Theorien der Gender-Studies vertraut machte. Je mehr ich las und forschte, desto intensiver wurde die Leidenschaft für mein Thema, und am Horizont begann sich die Idee abzuzeichnen, das gelesene Material für eine zukünftige Dissertation zu verwenden. Und so geschah es. Ein Jahr später, nachdem ich mein Forschungsstipendium abgeschlossen hatte, entschied ich,

Vorbemerkung

X

wieder aufgrund der Empfehlung von Herrn Dr. Sonnleitner, das Motiv der Imagination des Weiblichen in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit noch weiter zu vertiefen, um unter der wissenschaftlichen Betreuung von Herrn Prof. Wendelin Schmidt-Dengler eine Dissertation zu verfassen. Das von mir seit einem Jahr erforschte Thema sowie die von mir gewählte Untersuchungsperspektive - die der Gender-Studies - betrachtete mein neuer Betreuer zunächst mit gehöriger Skepsis. Zu banal, zu oft bearbeitet, lauteten die Einwände. Und fur einen brillanten und kreativen Wissenschaftler wie Wendelin Schmidt-Dengler entsprach eine Dissertation über die Imagination des Weiblichen zu sehr den modischen Klischees. Es gehe nicht länger um ein einjähriges Forschungsstipendium, sondern um eine Arbeit zur Erlangung eines Doktortitels in Deutscher Philologie, gab er mir zu bedenken, als ich mich mit ihm in seiner Sprechstunde unterhielt. Ich ließ den Kopf sinken. Es herrschte Grabesstille, nur das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben war zu hören, und man sah, wie Prof. Wendelin Schmidt-Dengler auf der Suche nach einer rettenden Eingebung war. Er wollte meinem Thema neuen Glanz und den Hauch des Innovativen geben. Unruhig, mit dem Kugelschreiber zwischen den Fingern spielend, dachte er nach - bis der Name Arthur Schnitzlers in seinem Kopf aufblitzte. Arthur Schnitzler und Fräulein Else waren die Lösungen des Problems. Herrn Schmidt-Dengler ist es zu verdanken, dass ich schließlich diese Studie über die Imagination des Weiblichen in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit in Bezug auf Arthur Schnitzlers Fräulein Else schrieb; eine Arbeit, die mich mehr als vier Jahre harter Forschung gekostet hat und die nun das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Fünfundsiebzig Jahre sind vergangen, seit Arthur Schnitzler im Alter von 69 Jahren an einer Gehirnblutung in Wien gestorben ist. Die Faszination für diesen Schriftsteller der Wiener Moderne, der auch heute noch über Osterreich hinaus weltweit geschätzt wird, ist auch in mir seit der Zeit meines ersten Forschungsstipendiums lebendig geblieben. Arthur Schnitzler, ein Name, den die meisten italienischen Germanisten dank Giuseppe Fareses zweisprachiger Biographie Arthur Schnitzler. Una vita a Vienna 1862-1931.

(1997) [Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien 1862-

1931], gut kennen. Und jetzt, fast zehn Jahre nach Fareses biographischer Anstrengung, deren Verdienst es gewesen war, Schnitzler auf italienischem Boden bekannt zu machen, erscheint dieses Buch, mit der kleinen Anmaßung, die Arbeit Fareses fortzusetzen; diesmal jedoch mit der Absicht, einen neuen Schnitzler vorzustellen. Nicht den Arzt, nicht den Wiener Bürger des Fin de siècle oder den Schriftsteller einer schon verblassenden habsburgischen Welt, sondern den Vertreter einer patriarchalischen Auffassung über die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Trotz der vielen Emanzipationsversuche in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist

Vorbemerkung

XI

die Frau Opfer der epochalen Tradition geblieben, die die Frau nur in der Rolle der Mutter und der Ehefrau sah. In diesem Buch gilt die Aufmerksamkeit nicht mehr dem Menschen Schnitzler, wie bei Farese, sondern dem Autor der rätselhaften Weiblichkeit in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Seine noch heute begeisternden Werke Fräulein Else; Therese. Chronik eines Frauenlebens oder Spiel im Morgengrauen, die viele seiner Zeitgenossen wie u. a. Robert Musil stark beeinflusst haben, entwerfen Konzepte der Weiblichkeit und der Geschlechtlichkeit, die trotz aller feministischer Anstrengungen noch heute aktuell sind. Frauen wie Else, Therese und Leopoldine sowie Männer wie Herr Dorsady, Kasimir und Willi sind in meinen Augen Vorbilder, denn diese männlichen und weiblichen Figuren überschreiten die von Schnitzlers Epoche errichteten engen Grenzen gesellschaftlich akzeptierten Verhaltens. Aus dieser Uberzeugung heraus entstand die Idee, eine komparatistische und interdisziplinäre Studie über das Konzept des Weiblichen zu schreiben, in dem Schnitzler und insbesondere seine berühmte Erzählung Fräulein Else eine zentrale Rolle in der literarischen Diskussion einnehmen. Hinzu gesellten sich Autoren aus Schnitzlers Epoche: männliche wie der schon erwähnte Robert Musil oder Franz Werfel und weibliche wie die Wienerin Gina Kaus. Sie alle haben sich in ihren Texten mit dem Motiv der Weiblichkeit auf verschiedene Weise beschäftigt. Das Resultat ist eine den Gender Studies verpflichtete Studie über die literarischen Darstellungsarten der imaginären und realen Weiblichkeit in verschiedenen geschlechts- und gattungsspezifischen Kontexten, wie z. B. in der Hochund Trivialliteratur. Der interdisziplinäre Zugriff dieser Studie, der Geschichte, Kunst, Soziologie und Literatur gleichermaßen berücksichtigt, der authentische und fiktionale Diskurse zu verbinden trachtet, versucht ein zwar komplexes, aber harmonisches Bild der Frau zu präsentieren. Wirklichkeit und Imagination sind die Schlüsselworte dieser Arbeit, die einerseits auf aktiv engagierte moderne Frauen eingeht wie Ea von Allesch, Milena Jesenska, Lina Loos und Alma Mahler, die trotz ihres Status als "Frauen bedeutender Männer" einen konkreten Beitrag zur sozialen weiblichen Emanzipation geleistet haben; andererseits behandelt die Studie fiktive Gestalten, die in der Imagination männlicher Schriftsteller immer nur Opfer geblieben sind. Ich leugne nicht meine Schwierigkeit, diese beiden Aspekte meiner Argumentation parallel zu erörtern, ebensowenig wie meine manchmal riskante methodologische Entscheidung, Werke der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit durch die sprachliche und inhaltliche Untersuchungsperspektive einer modernen Methode wie jener der Gender Studies vorzustellen. Diese anfängliche Schwierigkeit glaube ich durch die Berücksichtigung von wissenschaftlich traditionsorientierter Sekundärliteratur einerseits und gerade neu erschienenen Forschungsergebnissen andererseits im Laufe des Verfassens der Arbeit überwunden zu haben. Somit untersucht diese Studie das Motiv der Imagination des Weiblichen

XII

Vorbemerkung

auf zweifache Weise: mit Blick auf die Tradition wie auch auf die Moderne. Fiktionale und zeitgeschichtliche Diskurse über Konzeptionen der Weiblichkeit sollen dabei nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sich vielmehr ergänzen. Der Wert dieses Buchs besteht gerade in seiner Eigenschaft, die Imagination des Weiblichen unter der Lupe der kulturellen Interdisziplinarität zu analysieren und dabei nicht von der feministischen Theorie des unversöhnlichen Konflikts zwischen Mann und Frau auszugehen, sondern von der Komplementarität der Geschlechter. Ester Saletta März 2006

Vorwort

Es versteht sich von selbst, dass eine Forschungsarbeit keine Wiederholung sein darf, sondern einen neuen Beitrag zum literarischen Studium leistet. Allerdings wäre es fiir die Forschung zu begrenzt und zu wenig interessant, wenn all das auf den Literaturbereich reduziert bleiben sollte. Ziel dieser Arbeit ist die Textinterpretation der Sprache und des Inhalts einiger Werke österreichischer Autoren der Zwischenkriegszeit wie Arthur Schnitzlers Fräulein Else (1924), Spiel im Morgengrauen (1926) und Therese. Chronik eines Frauenlebens (1929); Robert Musils Die Versuchung der stillen Veronika (1911) und Die drei Frauen (1924); Franz Werfeis Eine blaßblaue Frauenschrift (1941); Gina Kaus' Teufel nebenan (1927) und Die Schwestern Kleh (1933). Die Konzentration auf die verschiedenen Geschlechterbeziehungen und ihre „dramatis personae" erlaubt die Analyse und die Kontextualisierung des Weiblichkeitskonzepts als „sex" und „gender"1. Es geht um eine „doppelte Reflexion": Einerseits werden die auch in der Zwischenkriegszeit beibehaltenen patriarchalischen und sehr stereotypen Männervorstellungen um die Jahrhundertwende gezeigt; andererseits wird betont, wie der literarische Text Ort der Koexistenz von Wirklichkeit — im Sinne von historischen Ereignissen — und Imagination ist. „Wirklichkeit" bedeutet bei Schnitzlers Kunst „Historismus"2, wie die folgende Bemerkung Schmidt-Denglers bestätigt: 1

Es ist sehr problematisch, die englischen Begriffe „sex" und „gender" ins Deutsche zu übersetzen, denn die deutschen Worte „Geschlecht" und „Geschlechtscharakter" oder „Geschlechterrolle" sind enger und theoretisch weniger eingebunden als die englischen ParallelbegrifFe. Für weitere Hinweise zur Unterscheidung sex/gender siehe die Einleitung der Studie von Christina von Braun und Inge Stephan: Gender-Studies. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler Verlag 2000, S. 58-69, oder das Buch von Ingrid Neumann-Holzschuh (Hrsg.): Gender, Genre, Geschlecht. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 9-19.

2

Urbach, Reinhard: „Was war, ist". Das Problem des Historismus im Werk Arthur Schnitzlers. In: Studia Austriaca. Hrsg. von Fausto Cercignani. Milano: Edizioni dell'Orso 1991, S. 97-106. Hier betont Urbach wie „die Gegenwart sich zusammen aus der Summe vergangener Taten und Absichten setzt; sie ist völlig abhängig von der Vergangenheit" und dass „alles was geschieht, die Folge von etwas Geschehenem ist".

Vorwort

2

„Es ist bekannt, daß Schnitzler seine späten Schriften nahezu allesamt aus Stoffen speiste, die er schon viel früher notiert hatte. [ . . . ] Schnitzler selbst scheint seine Texte so gebaut zu haben, daß eine direkte Bezugnahme auf Zeitereignisse ihnen keineswegs abzulesen ist."'

Nicht nur „Wirklichkeit", sondern auch „Imagination" sind Kernbegriffe dieser Arbeit, wobei der Begriff „Imagination" sich auf die männliche Konstruktion der Weiblichkeit bezieht. Neu im literarischen Kontext ist die Unterscheidung zwischen „Konstruktion" und „Darstellung". Beide Begriffe sind Produkte einer unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Beobachtungsperspektive des Weiblichen. Die Werke von Autoren wie Arthur Schnitzler, Robert Musil, Felix Dörmann oder Hugo Bettauer zeigen die Weiblichkeit als Spiegelung der traditionellen Kodierung, die die Frau als Befriedigungsobjekt des Mannes oder als sein finanzielles Sanierungsmittel konzipierte. In seiner Forschungsarbeit über die Determinierung der Männlichkeit in den Werken Arthur Schnitzlers betont Oosterhoff, dass „ [ . . . ] die Frauen im vorehelichen Sexualleben der Männer meist nur Spielobjekte darstellen, mit denen diese sich die Wartezeit vor der beruflichen und damit ehelichen Etablierung vertreiben". 4

Bei Oosterhoff finden die Frauen sich insbesondere in der Ehe, „in der die Moral der Jahrhundertwende den Frauen eine reproduktive Rolle vorschreibt, oft in eine zwiespältige Lage gedrängt, indem sie von ihren Männern entweder zur Madonna erklärt oder zur Hure verdammt werden".5 Autorinnen wie z. B. Gina Kaus oder Vicki Baum stellen die weiblichen Gestalten als emanzipierte, moderne, selbstbewußte und mutige Frauen dar, die die strengen Gesetze der patriarchalischen Gesellschaft in Frage stellen. Neu ist auch das Studium der Sprache und der Haltung beider Geschlechter im Rahmen der Geschlechterbeziehung. Mann und Frau sind nicht mehr Protagonisten einer konfliktträchtigen, fast feindseligen Beziehung, sondern sich ergän-

3

Schmidt-Dengler, Wendelin: Inflation der Werte und Gefühle. Z u Arthur Schnitzlers Fräulein Else. In: Wendelin Schmidt-Dengler, Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien: Böhlau 2002, S. 53

4

Oosterhoff, Jenneke A.: Die Männer sind infam, solang sie Männer sind. Konstruktionen der Männlichkeit in den Werken Arthur Schnitzlers. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 2 2

5

3

Ebda., S. 223

Vorwort

3

zende Partner. Diese Perspektive enspricht dem Hauptthema der amerikanischen Gender-Studies, die die schwierige Frage der Geschlechterbeziehung in Bezug auf die Frauenforschung der siebziger Jahre neu interpretiert haben. Wie Ingrid Neumann-Holzschuh pointiert, unterscheiden die Gender-Studies sich von früheren Argumentationen des Feminismus, weil diese „die Geschlechterdifferenz nach Männlichkeit und Weiblichkeit nicht als Gegebenheiten hinnehmen, die durch ihr biologisches Substrat im Körper bestimmt sind, sondern daß sie Geschlechterdifferenz als Ergebnis von Interpretationen einschließlich der dazugehörigen Interpretationsgeschichte begreifen: als kulturelle Überformungen des biologischen Substratus ,Geschlecht' in wechselnden politischen Konfigurationen von Differenz". 6

Innovativ für diese Forschungsarbeit ist auch die Behauptung von Gudrun Knapp, die die Aufmerksamkeit in der feministischen Theoriediskussion auf noch unbearbeitete Gesichtspunkte verschiebt. .Anstatt weiterhin die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und die Differenz von Frauen und Männern zum ausschließlichen oder primären Fokus ihrer Analysen zu machen und Formen patriarchaler Herrschaft zu kritisieren, steht die jüngere Diskussion unübersehbar im Zeichen der Bedeutung von Unterschieden innerhalb der Genus-Gruppen." 7

Das bedeutet, dass die neue Perspektive der Gender-Studies zum Thema der Weiblichkeit und Männlichkeit eine innovative Potenz in der Mann/Frau-Beziehung beinhaltet. Diese zwei Begriffe sind tatsächlich nicht nur als Geschlecht (= „sex"), sondern — im Rahmen einer kulturellen und sozialen Umgebung — auch als Geschlechtsidentität (= „gender") zu verstehen. Eine ausführliche Begriffsbestimmung von „gender" und „sex" findet sich in dem Aufsatz Gender als Analysekategorie in den Philologien von Ingrid NeumannHolzschuh: „ G e n d e r heute im Unterschied zum biologischen Geschlecht (sex), das das sozial und kulturell erworbene und geprägte Geschlecht bezeichnet, also bestimmte gesellschaftlich bedingte, historisch variable Rollenmuster und Verhaltensformen, die das

6

Neumann-Holzschuh, Ingrid (Hrsg.): Gender, Genre, Geschlecht. Sprach- und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Gender-Forschung. Tubingen: Stauffenburg 2001, S. 11

7

Knapp, Gudrun: Kurskorrekturen. Feminismus zwischen kritischer Theorie und Postmoderne. Frankfurt am Main: Campus Verlag 1998, S. 63

Vorwort

4

Verhältnis der Geschlechter zueinander in weit höherem Maße beeinflussen, als die biologisch bestimmten Differenzen."8 Schon die Behauptung von Simone de Beauvoir — „ M a n k o m m t nicht als Frau zur Welt, man wird es. [...] Die gesamte Zivilisation bringt dieses als weiblich qualifizierte Zwischenprodukt zwischen dem M a n n und dem Kastraten hervor" 9 — bestätigt die Erkenntnisse von Inge Stephan und Christina von Braun: „Wenn die Bedeutung, die der Geschlechter-Differenzierung beigemessen wird, nicht auf anthropologische, biologische oder psychologische Gegebenheiten zurückgeführt werden konnte, sondern von kulturellen Klassifikationen abhängig war, so konnte auch die Beziehung der Geschlechter zueinander nicht länger als Ausdruck oder Repräsentation einer statischen, naturgegebenen Ordnung verstanden werden. Geschlechterbeziehungen sind Repräsentationen von kulturellen Regelsystemen."10 Im Kontext der von Gender-Studies neu vorgestellten Darstellung der Geschlechterbeziehung finden die Geschlechter sich nicht mehr einander gegenüber, so wie die Frau nicht mehr die Rolle „des anderen Geschlechts" — wie in Simone de Beauvouirs Perspektive — spielt. Sie sind hingegen zwei verschiedene Seiten derselben Medaille. Keine Art feministischen Geschlechterkampfes mehr - „Geschlechterbeziehungen scheinen für die jetzige G e n e r a t i o n nicht m e h r in d e m S i n n e , K a m p f verhältnisse' u n d auch nicht in d e m Fall so zentral zu sein" 1 1 —, s o n d e r n ein Differenzierungsprozess, ein Emanzipationssystem für die Suche nach einer Geschlechtsidentität, die weiblich, männlich oder weiblich/männlich sein kann. „Prozess", in d e m die Frau ihre biologische, psychologische und kulturelle Natur nicht verleugnet oder dem M a n n gegenüberstellt, bedeutet „Differenzierung", d. h. Unterscheidung vom M a n n . A n diesem Punkt fragt m a n sich: W i e wird diese Differenzierung verwirklicht? Welche sind die Bedingungen für diese Differenzierung? Vielfältig u n d oft widersprüchlich ist der zeitgenössische Diskurs zu diesem Thema. Während Lacan das Problem a u f die Frage „Phallus sein/haben" redu-

8

Neumann-Holzschuh, Ingrid: Gender, Genre, Geschlecht. Sprach- und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Gender-Forschung. Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 10 9 Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Hamburg: Rowohlt 2000, S. 335 10 Braun, Christina von/Stephan, Inge: Gender-Studies. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2001, S. 68 11 Ebda., S. 65

Vorwort

5

ziert, 12 wobei die Frau als auf der Suche nach der Ergänzung ihres sexuellen Verlusts gedacht wird, kennzeichnet Riviere 1 ' die o. g. weibliche Ergänzungsphase als Maskerade. Theoretiker wie Kristeva und Wittig lösen das Problem durch linguistische Untersuchungen. 14 S c h o n 1 9 2 3 versuchte die Feministin Rosa Mayreder das Problem der G e schlechtsdifferenzierung von einem philosophischen, historischen und physiologischen Gesichtspunkt aus darzustellen. „Also noch einmal die Frage, wie weit bestimmt die Geschlechtsdifferenzierung das Wesen und Sein des Einzelnen? Es gibt der Hauptsache nach dreierlei Methoden, durch die eine Antwort darauf gesucht wird: die philosophische, die das Problem auf spekulativem Wege durch Geschlechtsmetaphysik entscheiden will; die historische, die sich an die Einrichtungen der Vergangenheit hält, um aus ihnen die Schlüsse über das zu ziehen, was die Geschlechter vermöge ihrer besonderen Eigenart aus dem Leben machen, und die physiologische, die aus körperlichen Vorgängen die seelischen Phänomene nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung erklärt." 15

12

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1991, S. 75. „Der Phallus sein" und „den Phallus haben" benennt zwei unterschiedliche Positionen oder Nicht-Positionen (d. h. unmögliche Positionen) in der Sprache. „Der Phallus sein" heißt: Das Objekt, der/die Andere eines männlichen Begehrens zu sein und zugleich dieses Begehren zu repräsentieren oder zu reflektieren. Diese/r Andere bildet also nicht die Grenze der Männlichkeit in einer weiblichen Andersheit, sondern lediglich den Schauplatz einer männlichen Selbst-Ausarbeitung. „Der Phallus sein" bedeutet also für die Frauen, dass sie die Macht des Phallus widerspiegeln, den Phallus verkörpern, den Ort stellen, an dem der Phallus eindringt, und den Phallus gerade dadurch bezeichnen, daß sie sein Anderes, sein Fehlen, die dialektische Bestätigung seiner Identität sind". Butler erklärt die Theorie von Lacan weiter: „Wenn Lacan behauptet, daß das Andere, dem der Phallus fehlt, der Phallus ist, will er offenbar daraufhinweisen, daß die Macht des Phallus durch die weibliche Position des Nicht-Habens bedingt ist und daß das männliche Subjekt, das den Phallus „hat", die Andere braucht, die den Phallus bestätigt und somit im „erweiterten" Sinne der „Phallus ist".

13

Ebda., S. 84; „Allerdings konzentriert Riviere ihre Analyse auf die .Zwischentypen', die die Grenzen zwischen Heterosexuellen und Homosexuellen verwischen. [...] O f f e n sichtlich geht Riviers Analyse von feststehenden Vorstellungen aus, was es bedeutet, die Kennzeichen des eigenen Geschlechts zur Schau zu stellen, und wie es kommt, daß diese offensichtlichen Merkmale als Ausdruck oder Reflex einer angeblichen sexuellen Orientierung verstanden werden."

14

Eine detaillierte und vertiefte Beschreibung der o. g. Theorien liefert Judith Butler in ihrem Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1991, S. 73-189.

15

Mayreder, Rosa: Geschlecht und Kultur. Wien: Mandelbaum 1998, S. 91. Es ist zu betonen, daß auch Mayreder über eine bipolare Geschlechtlichkeit spricht: „Jeder Mensch

6

Vorwort

Keine von diesen Theorien oder Meinungen ist Thema dieser Arbeit. Sie bestätigen nur, wie „gender" nicht nur von dem biologischen Geschlecht — wie bei Cesare Lombroso, Paul Julius Möbius, Otto Weininger oder Sigmund Freud —, sondern auch von außerbiologischen Komponenten determiniert wird. „You cant do anything without making reference to gender", behauptet die Historikerin Gertrude Himmelfarb, die überzeugt davon ist, dass die Gender-Studies neue Interpretationsperspektiven und damit eine Entwicklung und Erweiterung in der Frauenforschung mit sich gebracht haben. Diese unterschiedlichen Theorien haben versucht aufzuzeigen, dass Mann und Frau zwei verschiedene Verkörperungen der Kategorien „sex" und „gender" sind und dass deren Verschiebung nur im Kontext einer Geschlechterbeziehung möglich ist. Else und Dorsday, Willi Kasda und Leopoldine, Therese und Kasimir, Veronika und Johannes, Grigia und Homo, die Portugiesin und der Herr von Ketten, Tonka und ihr Freund und andere sind die Paare, die im Rahmen dieser Arbeit im Kontext des „sex/gender"-Verschiebungsprozesses analysiert werden sollen. Sie sind schon traditionell Gegenstand der Forschung, wenn auch die Forschungsperspektive sie immer sehr traditionell und konservativ interpretiert hat. Selten wurden diese Paare unter dem Begriff „sex/gender" analysiert, meist unter Einbeziehung des psychoanalytischen Modells wie in Arnim-Thomas Bühlers Studie, der sich allerdings nur auf die psychoanalytischen Einflüsse, die Schnitzlers Else Persönlichkeit markieren, wie z. B. den inneren Monolog oder die Tagträume, beschränkt. Gedanken und Emotionen Elses sind auch Themen, die Deborah Knob in ihrem Beitrag zur Schnitzler-Forschung bearbeitet hat. Sie argumentiert mit der sprachlichen und methodologischen Struktur des erzählenden Stoffs, ohne aber die Aufmerksamkeit auf die Entsprechung zwischen Sprache und Geschlecht zu berücksichtigen. Larissa Dimovic fokussiert nur den historisch-gesellschaftlichen Hintergrund in Bezug auf die Rolle der Frau. Dargestellt wird das Motiv des Ehebruchs in Schnitzlers Werk mit einer geschlechtsspezifischen Dimension in Bezug auf Liebe und Untreue. Thema der Untersuchungen von Karl Corino und Marja Rauch zu Musil ist die zerrissene Identität der Gestalten, die aus einem philosophischen oder psychoanalytischen Gesichtspunkt gesehen sind. Beide Studien zeigen die Geschlechter als universale, selbst begrenzte Monaden, die wenig miteinander gemein haben. Die ist eine Synthese von Männlichkeit und Weiblichkeit und kann je nach Umständen als Mann oder als Weib in die Erscheinung treten" (S. 93). Diese Definition stimmt mit den Theorien der Gender-Studies überein, weshalb man sie auch als Vorläuferin der feministischen Bewegung betrachten könnte.

Vorwort

7

Forschungsperspektive über die Rolle der Frau und ihre Auseinandersetzung mit der Männlichkeit bei Musil bleibt bislang ebenfalls klischeehaft. Elisabeth Hubers Studie der Trivialliteratur beschäftigt sich mit dem Bild der Frau in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, und Günther Fetzers Beitrag ist auf die Bedeutung von „Realität, Realismus und Wirklichkeitsbewusstsein" begrenzt. Keine der o. g. Forschungsarbeiten hat das Motiv der Imagination des Weiblichen in der Zwischenkriegszeit aus einer geschlechtsspezifischen, bipolaren und vergleichenden Perspektive in Betracht gezogen. Noch nicht bearbeitet war auch die geschlechtsspezifische Schreibart beider Gattungen, die das Weibliche sowohl sprachlich als auch inhaltlich je anders darstellen. Das Beispiel von Elses Rollenspiel, das Symbol für keine Maskerade oder Karnevalisierung im Sinne von Rivieres Theorie ist, zeigt die Inszenierung von Elses Weiblichkeit als nicht verhülltes oder dem Mann nicht imponierendes „gender". Leopoldine hingegen stellt die Verkörperung der noch instabilen und prekären feministischen Uberzeugungen von der Existenz einer Geschlechterpolarität vor. Sie spiegelt gerade die doppelte Geschlechtsidentität wider, die in Abhängigkeit von den äußeren Ereignissen männlich oder weiblich sein kann. Bei der Portugiesin und Herrn von Ketten, Tonka und ihrem Freund repräsentieren die weiblichen Figuren noch die traditionellen Bilder von Weiblichkeit/Natur, Weiblichkeit/Unterordnung und Weiblichkeit/Naivität. Nicht nur Grigia, die nicht weiblich von einem biologischen Gesichtspunkt aus ist, verstärkt ihre Geschlechtsidentität durch die natürliche, idyllische, ursprüngliche und landschaftliche Konnotierung, so wie auch die Passivität der Portugiesin von dem fremden Wohnungsort des Herrn von Ketten potenziert wird, sondern auch Tonkas Naivität wird von ihrem kühlen und distanzierten Freund ausgebeutet. Anders sind die weiblichen Gestalten von Gina Kaus' Roman Die Schwestern Kleb. Sie verkörpern die erreichte Emanzipation einerseits und die Vereinigung der traditionellen Rolle der Frau als Mutter und Gattin und berufstätige, emanzipierte Frau andererseits. Alle im Folgenden ausgeführten Textinterpretationen, deren Zentrum die Werke Schnitzlers sind, haben auch einige Interpretationsschwierigkeiten hervorgerufen. Zu Schnitzlers Roman Therese beispielsweise gibt es im Vergleich zu seinen anderen Romanen und deren Protagonistinnen nur wenig Sekundärliteratur. Dabei drängt sich mir die Frage auf: Warum hat Therese das Interesse der Forschung bis heute nicht geweckt? Ist der Roman vielleicht uninteressant oder geht es eher um das Problem der Rezeption dieser Chronik eines Frauenlebens? Vielleicht weil der Inhalt des Romans unspektakulär erscheint oder weil es sich um die Darstellung der Monotonie in Thereses Leben handelt? Thereses Erfahrungen sind tatsächlich als gleichförmig und ohne menschliche Entwicklungen

Vorwort

8

dargestellt, Therese bleibt eine unglückliche Frau und (später auch Mutter) von Anfang bis zum Ende des Romans. Oder vielleicht weil Therese die Summe der Eigenschaften der übrigen weiblichen Gestalten Schnitzlers ist und deswegen als „Imitation" oder als Epigonin und nicht als Schnitzlers Neuschöpfung betrachtet wird. „Eben was dem stumpfen Leser monoton scheinen könnte, daß sich sozusagen die Figur des Erlebnisses bis zur beabsichtigten Unzählbarkeit wiederholt, das hat Ihnen ermöglicht, Ihre rhythmische Kraft bis zum Zauberhaften zu entfalten." 16

Schnitzlers Freund Hugo von Hofmannsthal erklärt die Funktion der Monotonie in Therese als Schnitzlers besondere Erzählmethode, die dem Roman eine linguistische und inhaltliche Zirkularität und musikalisch-impressionistische rhythmische Kadenz gibt. Ganz anders ist die erzählende Darstellung Elses oder Willis, die Gestalten mit einer innerlichen Wandlung sind. Tatsächlich findet man auch in der Rezeption dieser zwei Erzählungen keine solche Konfliktbezogenheit, wie es in Schnitzlers Novelle Spiel im Morgengrauen der Fall ist. Der Brief (8. 4.1931) des Literaturhistorikers Joseph Körner an Arthur Schnitzler - „Spiel im Morgengrauen wurde [...] als ein rundes Meisterwerk bezeichnet und die wundervolle Kunst und zarte Kraft des Erzählens betont."17 — und die briefliche Antwort Schnitzlers an den Patentanwalt Karl Michaelis (7.1.1931) — „So bekam ich [Schnitzler] vor wenigen Wochen von der M. G. einen Antrag, die Dramatisierungsrechte für ,Spiel im Morgengrauen' gegen ein Perzent der (7~io%igen) Theatertantiemen abzutreten, was ich selbstverständlich abschlug."'8 - bestätigen die Popularität von Spiel im Morgengrauen. Auch bei der Erzählung Fräulein Else sind die Kritiken durchwegs sehr positiv und nicht kontrovers, wie der Kommentar des Schriftstellers Jakob Wassermann vom 26. Oktober 1924 belegt: „Fräulein Else ist mir unmittelbar nah gegangen."' 9

16

Farese, Giuseppe: Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien 1862-1931. München: C . H. Beck 1999, S. 300

17

Schnitzler, Arthur: Briefe 1913-1931. Hrsg. von P. M . Braunwarth, R. Miklin, S. Pertlik und H. Schnitzler. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1984, S. 784

18

Ebda., S. 737

19

Ebda., S. 254

Vorwort

9

Auch Stefan Zweig schreibt am 4. November desselben Jahres an Schnitzler: „Lieber verehrter Herr Doktor, ich bin schwer in Arbeit — aber ich muß mich für eine Minute unterbrechen, um Ihnen zu sagen, wie außerordentlich ich Ihre Novelle in der ,Neuen Rundschau' finde."20

Beide Zitate spiegeln die begeisterte Stimmung der Autoren zu der erfolgreichen Veröffentlichung von Fräulein Else wider. Nicht nur die wenige Sekundärliteratur über Therese, sondern auch die widersprüchlichen Meinungen zur Schnitzlerrezeption haben mir große Schwierigkeiten bereitet, wie auch die unterschiedliche Wahrnehmung der Konstruktion der Weiblichkeit in der Trivialliteratur und in der so genannten Hochliteratur. Trivialromane, wie die von Gina Kaus, Vicki Baum, Hugo Bettauer und Felix Dörmann, porträtieren die Weiblichkeit mit unterschiedlicher Stilistik und Wortwahl. Was in der Trivialliteratur augenfällig ist, ist die Authentizität der Beschreibung der weiblichen Physis. Die Frau ist in ihrer Körperlichkeit Spiegelung einer durchschnittlichen Frau des Alltags. Auch die Sachlichkeit der landschaftlichen Darstellungen verleiht der Konstruktion der Weiblichkeit zudem Greifbarkeit und Realität. Gänzlich anders ist die Darstellung der Weiblichkeit in der „Hochliteratur", z. B. bei Schnitzler oder Musil, wobei das Konzept der Weiblichkeit zudem der Atmosphäre der Imagination, der männlichen Projektion und des künstlichen Amphitryonismus vorgestellt wird. Kurz: Die Frau bleibt in der „Hochliteratur" noch Spiegelung einer männlich bestimmten Stimmung und Weltanschauung. Dieser Kontrast zwischen einer imaginierten, gleichsam ungreifbaren und manchmal auch noch kindhaften Weiblichkeitsdarstellung und einer konkreten, alltäglichen und lebendigen kann auch dem flüchtigsten Leser nicht verborgen bleiben. Emanzipierte Frauengestalten wie Vicki Baums Doris Hart oder Gina Kaus' Melanie „leben" nur in den Trivialromanen, in denen man reale durchschnittliche Frauen der Zwischenkriegszeit im Text entdecken kann. Auch bei Schnitzlers Else besteht die Möglichkeit, eine zeitliche Transposition der Frauengestalt von der Jahrhundertwende in die Zeit Schnitzlers zu rekonstruieren,21 aber dieser Prozess braucht eine literarische Kompetenz, eine wissen-

20 Ebda., S. 256 21 Vgl. Wendelin Schmidt-Denglers Interpretation von Schnitzlers Erzählung Fräulein Else in Bezug auf die sozialen und historischen Ereignisse der Ersten Republik. In: Wendelin Schmidt-Dengler, Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien: Böhlau 2002, S. 53-65

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Vorwort

schaftliche Textinterpretation, die sicherlich die Grenzen des Durchschnittslesers übersteigt. Diese Kompetenz ist bei den Autoren der Trivialliteratur nicht erforderlich. Aber woher kommt diese so unterschiedliche Darstellung? N i m m t man erstens Bezug auf die Autoren selbst und insbesondere auf ihr Geschlecht, kann man bemerken, dass die meisten R o m a n e der Trivialliteratur von Frauen und f ü r Frauen geschrieben sind und dass die Frauen, anders als die Männer, ihre alte begrenzte und untergeordnete Lage als Männeropfer nicht vergessen, sondern „überwinden" wollen. Betrachtet man zweitens die Trivialromane von Hugo Bettauer und Felix Dörmann, die eine konkrete, lebendige und aktuelle Weiblichkeit statt einer „imaginierten" darstellen, könnte man behaupten, dass die Frauen die Literatur so stark geprägt haben, dass auch die Autoren die Frauen durch eine weibliche Perspektive porträtieren. Richtet man drittens das Augenmerk auf das Publikum der Trivialliteratur in der Zwischenkriegszeit, d. h. auf „durchschnittliche Menschen" ohne Illusionen, könnte man den Absturz der habsburgischen Monarchie, die katastrophale Erfahrung des Ersten Weltkriegs, die darauf folgende steigende Inflation, Spekulation, Armut, Arbeitslosigkeit in ihnen widergespiegelt sehen. Nie wollten die Triavialautoren der Ersten Republik den „habsburgischen Mythos" wieder aufleben lassen." „Es war keine Komödie, es war eine Massenpsychose. [...] Diese Tracht war noch warm aus dem Grabe hervorgeholt, diese Vergangenheit ist noch lebendig."23 22 Ich will hier zwei Beispiele nennen, wobei die dekadente und melancholische Atmosphäre des Verfalls der habsburgischen Monarchie durch die lustige und fröhliche Erinnerung an die glänzende Vergangenheit des Kaisertums überwunden wird. In Hugo von Hofmannsthals letztem allegorischem Trauerspiel Der Turm (1925) verbannt König Basilius seinen Sohn Sigismund in einen entlegenen Turm. Die Prophezeiung, dass dieser ihn vom Thron stürzen werde, wird als Metapher für den Untergang der habsburgischen Monarchie gesehen und begründet. Das zweite Beispiel ist Joseph Roths Novelle Die Büste des Kaisers (1935), in der die Büste des Kaisers die Solidität, die Ordnung und die Sicherheit der vergangenen Welt repräsentiert. „So stand das Bild jahrelang vor dem Hause des Grafen Morstin, das einzige Denkmal, das es im Dorf Lopatyny jemals gegeben hatte und auf das alle Einwohner des Dorfes mit Recht stolz waren." Der Wunsch von Graf Morstin, das alte Bild des Kaisers zu behalten, auch wenn die Zeit modern (vgl. S. 84 f. Roths Beschreibung der Frauenmode) geworden war, bedeutet, „der ganze Weltkrieg und die ganze Veränderung der europäischen Landkarte hatten die Gesinnung des Volkes von Lopatyny nicht verändert". 23 Schmidt-Dengler, Wendelin: Wien 1918: Glanzloses Finale. In: Wendelin Schmidt-Dengler, Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien: Böhlau 2002, S. 43

Vorwort

Ii

Trotz der Tendenz einer nostalgischen Glorifizierung der habsburgischen Vergangenheit als Wunsch der Menschen, die negativen und dramatischen Ereignisse des Ersten Weltkriegs zu vergessen, hat die Frauenfrage Veränderungen, Entwicklungen im Laufe der Jahre in der Gesellschaft erreicht. Die historisch-realistische Uberzeugung der Frau, ihre Emanzipation auch in der Literatur zu proklamieren, wird in den Trivialromanen mit anderen stilistischen, strukturellen und inhaltlichen Mitteln als in der „Hochliteratur" dargestellt. „ D i e E i n f ü h r u n g der Personen, ihre allererste Schilderung und zugleich bereits Charakterisierung geht in der Trivialliteratur [...] immer zuerst über das Ä u ß e r e vor sich. [...] Das Äußere spielt dabei eine ganz wesentliche Rolle." 24

Die Suche nach einer effektiven Beschreibung der historischen gesellschaftlichen Ereignisse verursacht ein Vetrautheitsgefühl in den Lesern, die sich mit den Gestalten identifizieren können. Dennoch bleibt zu betonen, dass die Realitätsdarstellung der Trivialliteratur zu einer „stereotypen" Beschreibung tendiert. Die Trivialromane beschreiben „kein imaginäres, unerreichbares Traumland, sondern die Wirklichkeit, aber nicht die tatsächliche Wirklichkeit, sondern die des Klischees".15 Obwohl die Trivialliteratur eine Typisierung der gesellschaftlichen Kategorien vermittelt, die „die Komplexität und die Wandlungsfähigkeit des Individuums" 26 zeigt, stellt dieses Zitat fest, dass dieses Literaturgenre als Spiegelung seiner Zeit Vertreter des allgemeinen Bewusstseins und Wiedergabe der sozialen Wirklichkeit des Alltags ist. „Trivialliteratur gewinne aus diesem Widerspiegelungscharakter ihren Wert als sozialgeschichtliches Dokument, denn ihr historischer Wert liege in ihrem Quellenwert." 17

Die bis jetzt angenommene Gattungsdichotomie Trivialliteratur versus Hochliteratur ist auch eine Inhaltsdichotomie, die in der Darstellung der Weiblichkeit sehr deutlich von den historischen Umständen beeinflusst wird. 28

24 Huber, Elisabeth: Das Bild der Frau in der Trivialliteratur der Jahrhundertwende. Wien: Diplomarbeit 1991, S. 59 25 Fetzer, Günther: Wertungsprobleme in der Trivialliteraturforschung. München: Wilhelm Fink Verlag 1980, S. 45 26 Nusser, Peter: Trivialüteratur. Stuttgart: Metzler Verlag 1991, S. 127 27 Ebda., S. 45 28 Huber, Elisabeth: Das Bild der Frau in der Trivialliteratur der Jahrhundertwende. Wien: Diplomarbeit 1991, S. 42fr.

12

Vorwort

Noch einmal soll vom Thema der Koexistenz zwischen Geschichte und Alltag, zwischen Kunst und Leben in diesem Vorwort die Rede sein. Zur Illustration ein Zitat aus dem Buch Werner Koflers Am Schreibtisch (1988): „Ich reiste nach Deutschland, um etwas zu erleben [...] statt zu fabulieren, statt zu erfinden, reise ich."29 Bei Kofler bedeutet das Schreiben „reisen", und das Reisen bedeutet eine „qualitative" Literatur zu schreiben. Das Buch als Produkt des Schreibens kann sowohl eine Begrenzung als auch eine Erweiterung des Begriffs „Literatur" bezeichnen, wenn das Buch selbst als Ort einer Reise in der Geschichte, in der Gesellschaft, in der Realität der Gestalten gelesen wird. Es kann eine Reise in einer bestimmten Epoche oder Gesellschaft sein; es kann auch eine Reise in der Imagination des Autors stattfinden, der sein Leben in den Gestalten widergespiegelt sieht; es kann schließlich eine Reise in der Phantasie des Lesers sein, der seine Welt in jener der Gestalten und des Autors wiedererkennt. Die Literatur kann nie allein betrachtet und gelesen werden, sondern immer als Resultat verschiedener „Reisen" und als Basis für neuere literarische und nicht literarische Entdeckungen und Horizonte.

29

Kofler, Werner: A m Schreibtisch. Hamburg: Rowohlt 1988, S. 56

Einleitung

In der folgenden Einleitung wird die Darstellung der Geschlechterbeziehung unter Berücksichtigung einer kritischen Einführung in die Konstruktion und Imagination der Weiblichkeit und Männlichkeit in Schnitzlers Werk gezeigt. Schnitzlers Meinung über die Geschlechterinteraktion und über die Rolle der Frau in der Gesellschaft und in der Ehe wird durch einen historischen Uberblick über die Jahrhundertwende dargestellt. Die untergeordnete, begrenzte und schwache Position der Frau wird durch ein literarisches Beispiel - Schnitzlers Fräulein Else (1924) — bestätigt, das die starke, „emanzipierte", sowohl imaginierte als auch reale Weiblichkeit Elses vorstellt. „Meine damalige Stellung zu M a n n und Frau. Immer war ich auf seiner Seite." 30

So schreibt Schnitzler am 24. 4.1915 in seinem Tagebuch. Damit ist eine wichtige hier zu beantwortende Frage aufgeworfen. Die Frage nämlich, ob sich Schnitzlers Stellung zur Frauenfrage - wie sie sich in den von ihm geschilderten Männerporträts widerspiegelt — nach 1900 wirklich wesentlich änderte, wie es der Tagebuchnotiz nach den Anschein hat. Schnitzlers vor der Jahrhundertwende geschriebene Texte entstanden eindeutig unter dem Einfluss der herrschenden frauenfeindlichen Ideologie. Gestalten wie Anatol im gleichnamigen Drama (1888), Fedor Denner in Das Märchen (1891), Felix in Sterben (1892) und Leutnant Gustl in der gleichnamigen Erzählung (1900) sind Beispiele von Repräsentanten einer von Männern dominierten Sexualmoral. Erzählungen wie Doktor Gräsler, Badearzt (1914), Casanovas Heimfahrt (1917) und Spiel im Morgengrauen (1926) zeigen eine traditionelle Männlichkeit einerseits und eine imaginierte Weiblichkeit andererseits. Man denke an die Passivität, die Unfähigkeit Gräslers, eine klare Entscheidung zu treffen und, im Gegensatz dazu, an den mutigen und „männlichen" Brief, den 30 Schnitzler, Arthur: Tagebücher. Bde. I - I X . Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1981fr

Einleitung

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Sabine an Gräsler schreibt! Dort gesteht sie ihm ihre Liebe, so wie es ein Mann machen sollte. „[...] Ich habe nichts dagegen, gar nichts, falls Sie mich etwa fragen wollten, ob ich Ihre Frau werden möchte. D a steht es nun einmal. Ja, ich will gern Ihre Frau werden [...]." JI

Und wir können mit dem Beispiel von Casanova und Marcolina weiter fortfahren. Der alte Casanova, Bild des „körperlichen und moralischen Verfalls] des ehemaligen Libertins"32, liebt eine mutige Frau, in deren Blick er „[...] das Wort, das ihm von allen das furchtbarste war, da es sein endgültiges Urteil sprach. Alter Mann."' 3

sieht. Aber auch das Beispiel von Willi Kasda zeigt einerseits die Schwächung und die Erniedrigung der männlichen Gestalt und andererseits die Verstärkung und die Wertschätzung der weiblichen Figur Leopoldine.' 4 Kann man also von einer Änderung in Schnitzlers Haltung zur Weiblichkeit ausgehen? In Beantwortung dieser Frage könnte man nur von einer scheinbaren Änderung sprechen, denn der zweite Teil von Schnitzlers Zitat beweist, dass er „immer" auf der Seite des Mannes geblieben ist. Das bedeutet, dass keine absolute Veränderung in Schnitzlers Konstruktion der Weiblichkeit stattgefunden hat. Aber die früher erwähnten literarischen Beispiele haben hingegen eine nicht zu unterschätzende Meinungsänderung des Autors gezeigt. „Veränderung/Nichtveränderung", die an das so viel bearbeitete Thema „Sein/Schein" in Schnitzlers Kunst erinnert, bestätigt die Rätselhaftigkeit, die „Ambiguität" und die Doppeldeutigkeit des weiblichen Wesens. „Das Weib ist ein Rätsel: — So sagt man! Was für ein Rätsel wären wir erst für das Weib, wenn es vernünftig genug wäre, über uns nachzudenken."' 5

31

Schnitzler, Arthur: Doktor Gräsler, Badearzt. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2001, S.44

32

Farese, Giuseppe: Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien 1862-1931. München: C . H. Beck 1999, S. 200

33

Ebda., S. 202

34 Vgl. das dritte Kapitel dieser Arbeit, das vom Rollentausch zwischen den Geschlechtern handelt. S. 7 7 - 1 0 6 . 35

Schnitzler, Arthur: Anatol. Stuttgart: Reclam Verlag, S. 66

Einleitung

15

Mit diesen Worten aus dem Anatol bestimmt Arthur Schnitzler die Frau nicht nur als Charakter oder Person in dem Sinn, dass sie die Verkörperung eines moralischen, sittlichen und historischen Wechsels in der Kultur der Zwischenkriegszeit ist, sondern auch als Geschlecht in dem Sinn, dass sie die Veränderung der alten patriarchalisch-männlichen, sexuellen Ordnung verkörpert. Diese M o d i fikation, die erst nach 1 9 0 0 stattfindet und die nur momentan ist, könnte eine Untersuchung des zeitspezifischen Hintergrundes in Bezug auf die Konstruktion der Weiblichkeit bei Schnitzler erhellen. Im Lichte der Theorien von Otto Weininger und Paul Julius Möbius, die die biologische Minderwertigkeit der Frau postulierten, erscheint die Position Schnitzlers im Kontext „Weiblichkeit" weder als rein biologistisch noch als rein sexuell zu verorten. E r distanziert sich auch von den Theorien seines Zeitgenossen Freud, der die Konstruktion der Weiblichkeit durch eine Darstellung der verschiedenen Entwicklungsphasen der weiblichen Sexualität zu erklären versucht.' 6 Bei Schnitzler ist die Frau als „soziales Produkt" konzipiert, und das bedeutet, dass er seine Frauengestalten nicht in Bezug auf eine Theorie der Weiblichkeit modelliert, sondern in Bezug auf die wechselnden gesellschaftlichen Umstände. „Seine Frauenfiguren sind [...] eine Mischung aus Sachlichkeit und Sentiment, Frauen, welche versuchen, die eigene Wahrnehmung nicht mehr uneingeschränkt an den Mann zu delegieren, sondern selber zu sehen und selber zu wünschen."' 7

36 Freud skizziert kein vorgeschriebenes Bild der Frau, sondern beschäftigt sich mit dem biologisch-sexuellen Entwicklungsprozess vom jungen Mädchen zur erwachsenen Frau, in der Absicht, den weiblichen Identifizierungsvorgang zu erfassen. Die Frau wird auch von Freud als sexuell problematisch erfahren, denn bei der Frau sind nämlich zwei Geschlechtsorgane vorhanden: Das weibliche Organ, die Vagina, und das männliche, das heißt die Klitoris, die dem männlichen Glied „in verkümmertem Zustand" entspricht. Marianne Knoben-Wauben, die Verfasserin des Essays Ambivalente Konstruktionen der Weiblichkeit. Das Bild der Frau aus der Sicht des Wissenschaftlers Sigmund Freud und des Dichters Arthur Schnitzler in: Ester Hans und Guillaume von Gemen (Hrsg.): Grenzgänge — Literatur und Kultur im Kontext. Amsterdam: Rodopi Verlag 1990, S. 279-295, schreibt: „... das Wesentliche des weiblichen infantilen Sexuallebens spielt sich nach Freud an der virilen Klitoris ab. In dem Moment, in dem die Frau noch ein Mädchen ist, bleibt - bei Freud - noch ein kleiner Mann. [...] Mit der Wendung des Mädchens zur Weiblichkeit verknüpft Freud zwei Bedingungen. Einerseits soll ein Übergang der Empfindlichkeit der Klitoris auf die Vagina und anderseits ein Objektwechsel von der Mutter auf den Vater stattfinden." (S. 282-283) 37 Möhrmann, Renate: Schnitzlers Frauen und Mädchen. Zwischen Sachlichkeit und Sentiment. In: Giuseppe Farese (Hrsg.), Akten des internationalen Symposiums ,Arthur Schnitzler und seine Zeit". Bern: Lang Verlag 1985, S. 94

Einleitung

i6

Die Ansichten und die Wünsche von Schnitzlers Frauengestalten sind immer vom konkreten, lebendigen sozialen Hintergrund abhängig, wie in dem Fall Elses, wobei das Establishment ein Normensystem des Scheins und des Materialismus ist, von denen auch die Konstruktion der Weiblichkeit determiniert wird. Die konsolidierte Unterschätzung, Unterordnung und Abgrenzung der Frau der Jahrhundertwende und die lediglich illusorische Frauenemanzipation der Zwischenkriegszeit sind bei Schnitzler aus dem Misstrauen, „das das Verständnis zwischen den Geschlechtern erschwert"38 zu erklären, nicht von der Unzulänglichkeit der Sprache, sondern auch vom starren Bewusstsein der Männer hervorgerufen. In den Augen des durchschnittlichen männlichen Intellektuellen der Jahrhundertwende — Schnitzler selbst ist eine Bestätigung — sowie auch der Ersten Republik bleibt die Frau ein Geschöpf, dem man nicht vertrauen kann, wie Guido Wernig in Schnitzlers Das Bacchusfest behauptet: „Sich einer Frau sicher fühlen, heißt ja beinahe, sie beleidigen!" 39

Hier ist die weibliche Sexualität eine bedrohliche Macht, vor der man sich hüten und die man bändigen muss.4° Während die Frauen im vorehelichen Sexualleben der Männer meist nur (Spiel-)Objekt ihrer Wünsche und Triebe sind, sind sie in der Ehe, in der die Moral der Jahrhundertwende den Frauen eine „reproduktive" Rolle vorschreibt, oft in eine zwiespältige Lage gedrängt: Sie werden von ihren Männern entweder zur Madonna verklärt oder zur Hure verdammt. „ S o bleibt im männlichen Bewußtsein die Trennung zwischen M a d o n n a und Hure, femme fragile und femme fatale, Domestizierung und Dämonisierung auch oder gerade noch in einer Zeit bestehen, in der die Frauen sich auch aus ihrer sexuellen Zwangsjacke zu befreien versuchen."41

38

Oosterhoff, Jenneke A.: Die Männer sind infam, solange sie Männer sind. Konstruktionen der Männlichkeit in den Werken Arthur Schnitzlers. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000, S. 223

39

Schnitzler, Arthur: Das Bacchusfest. In: Die dramatischen Werke. Band 2, Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1981, S. 540

40 Möbius, Paul Julius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Hamburg: Mattheus & Seitz 1990 [1908], S. 40. Der Neurophysiologe Möbius betont die angebliche weibliche Verlogenheit: „Verstellung, d. h. lügen ist die natürlichste und unentbehrlichste Waffe des Weibes, auf die sie gar nicht verzichten kann." 41

Oosterhoff, Jenneke A: Die Männer sind infam, solang sie Männer sind. Konstruktionen der Männlichkeit in den Werken Arthur Schnitzlers. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 224

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Die Frau befindet sich an der Grenze zwischen Bewahrung ihrer konsolidierten gesellschaftlichen Rolle als Mutter und Gattin und ihrem Wunsch nach Befreiung, Selbstständigkeit und Emanzipation. Die literarische Figur Elses, die sowohl das Opfer eines männlichen Systems, das die Frau bis zur Ware erniedrigt, als auch Symbol für die noch nicht erfolgte Emanzipation ist, trägt in sich die doppelte Valenz von Schnitzlers Konzeption der Weiblichkeit, d. h. die Koexistenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Else ist eine zerrissene Gestalt, die „die Krise der österreichisch-ungarischen Welt [versinnbildlicht] und deren Widersprüche und labilen Fundamente" spiegelt;4* sie besitzt aber auch den mutigen, impulsiven und entschlossenen Charakter einer Rebellin, die gegen die strenge und puritanische „Doppelmoral" der Gesellschaft ihrer Zeit kämpft. „Else ist eine Frau, die ihre unterdrückte Position innerhalb der Gesellschaft erkennt. In dieser Hinsicht ist sie eine emanzipierte Frauenfigur, eine konstruktive Gestalt, die im inneren Monolog über die Unzulänglichkeiten der Lage der Frau um die Jahrhundertwende reflektiert." 4 '

Wie Knoben-Wauben bemerkt hat, ist Else ein schwaches, ausgebeutetes und ungeschütztes Mädchen, 44 das aber selbstbewusst genug ist, um zu verstehen, dass die Macht und die Wirkung ihrer Schönheit und Sinnlichkeit nicht nur Grund für ihre Unterordnung als Frau, sondern auch für ihre Emanzipation sein kann. Gestärkt von dieser Uberzeugung ist sie bereit, ihren Körper zu verkaufen, 45 um ihr Ziel - das Geld für die Rettung des Vaters — zu erreichen. Sie schämt sich nicht, sich nicht nur vor Herrn von Dorsday, sondern vor vielen anderen Gästen des Hotels nackt sehen zu lassen, denn bei ihr rechtfertigt das Ziel das Mittel.

42 Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg: Otto Müller Verlag 1988, S. 104 43 Knoben-Wauben, Marianne: Ambivalente Konstruktionen der Weiblichkeit. Das Bild der Frau aus der Sicht des Wissenschaftlers Sigmund Freud und des Dichters Arthur Schnitzler. In: Ester Hans und Guillaume von Gemert (Hrsg.), Grenzgänge - Literatur und Kultur. Amsterdam: Rodopi Verlag 1990, S. 293 44 Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg: Otto Müller Verlag 1988 S. 113. Die Beschreibung Elses als ein naives Wesen entspricht die Definition Magris des ,,süße[n] Mädel[s]". „Das süße Mädel, ein zärtliches, etwas trauriges, liebebereites Geschöpf, das bald verlassen wird." 45 Else entscheidet, sich für nur 30.000 Gulden zu verkaufen, obwohl der Cousin Paul ihr eine Million angeboten hatte. „Nein Paul, auch für dreißigtausend kannst du von mir nichts haben [...] Aber für eine Million?", S. 72

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i8

„Für wen habe ich sie denn, die herrlichen Schultern? [...] Aber Kind will ich keines haben. Ich bin nicht mütterlich [...] Noch etwas Puder auf den Nacken und Hals, einen Tropfen Verveine ins Taschentuch [.. ,]"46

Diese Beschreibung der Vorbereitung Elses für die Begegnung mit Dorsday, ihre Uberzeugung, kinderlos zu bleiben und nie mit einem Mann eine feste Beziehung einzugehen, sind die notwendigen Eigenschaften einer traditionellen Femme fatale, wie auch die Worte ihres Cousins Paul bestätigen: „Du bist geheimnisvoll, dämonisch und verführerisch."47 Else will nicht ihre Freiheit und Schönheit auf Grund einer Schwangerschaft oder einer Ehe verlieren. Sie bleibt kühl, distanziert, gleichgültig und unmütterlich, denn was für sie wirklich zählt, ist die Verwirklichung eines Plans: Die Verführung Dorsdays und der Besitz der 30.000 Gulden für den Vater. Aber diese emanzipierte Natur Elses ist eine momentane, bleibt zweckgebunden, denn in Schnitzlers Konstruktion der Weiblichkeit muss die Frau in ihre von der Gesellschaft stigmatisierte stereotype Rolle als Männerprojektion zurückkehren. Inge Stephan hat in ihrem Essay Bilder und immer wieder Bilder ... Überlegungen zur Untersuchung von Frauenbildern in der männlichen Literatur48 versucht, eine Katalogisierung und Typologisierung der männlichen Imagination der Weiblichkeit vorzunehmen. Sie stellt drei Typen der männlichen Imagination dar: Die „ideologische", die sich auf die Spaltung zwischen imaginierter und realer Weiblichkeit konzentriert; die „psychoanalytische", die die Frau als eine individual-kollektive Männerwunschprojektion assoziiert,49 und die „historisch-soziale", in der die Frau die konventionelle gesellschaftliche Vorstellung der Weiblichkeit widerspiegelt. Wenn man jetzt die Darstellungen von Schnitzlers Frauengestalten mit dieser Typologie vergleicht, bemerkt man deutlich, dass er die psychoanalytische und die historisch-soziale Imaginationsform verwendet hat. Tatsächlich benützt Schnitzler sowohl den inneren Monolog als auch eine indirekte Darstellung der

46 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1998, S. 66 47 Ebda., S. 72 48 Stephan, Inge: Bilder und immer wieder Bilder ... Überlegungen zur Untersuchung von Frauenbildern in männlicher Literatur. In: Sigrid Weigel, Die verborgene Frau: Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Berlin: Argument Verlag, S. 15—33 49 Hier betont Stephan, dass die Frau — durch die psychoanalytische Imagination - ein Wunschbild des Autors und gleichzeitig der Gesellschaft verkörpert. Inge Stephan zitiert in diesem Zusammenhang Klaus Theweleits Buch Männerphantasien. 1995-

München: dtv

Einleitung

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sozialen Situation der Zeit, um „einen Einblick in den unbewußten, seelischen Prozeß, der Protagonistinnen zu gewinnen" 50 . Die Bedeutung von Schnitzlers Wahl der psychoanalytischen Form der Imagination der Weiblichkeit soll durch eine Episode aus Fräulein Else verdeutlicht werden. Als Else den Brief der Mutter bekommt, bricht ein unvorhergesehenes Ereignis in ihr Leben herein. Die Folgen einer solchen Aktion sind zum einen Tagträume, die die Wirklichkeit zum Traum machen, und andererseits manifestieren sich im freudianischen Sinne Sex, Geld und Selbstmordversuch als die drei Bereiche, in denen das „Traummaterial" Elses sich entwickelt.51 Aus Thomas Arnim Bühlers Analyse geht hervor, dass Elses häufigste Traumproduktion mit dem sexuellen Bereich zu tun hat. „Willst du am E n d ' den C i m o n e besteigen? Aber nein, so hoch hinauf darf ich noch nicht." 51

In den Augen Freuds symbolisiert das Aufsteigen den Geschlechtsakt. Elses Angst, das Motiv des Absturzes - „Ich bin auch abgestürzt" 53 - , und die Unmöglichkeit für sie, eine sexuelle Erfahrung zu erleben, betonen die Tatsache, dass sie noch ein „Kind" ist und frei bleiben will. Diese zwei Elemente sind die zwei wichtigsten Eigenschaften der doppeldeutigen weiblichen Natur. Sexual konnotiert ist auch Elses Traum über „die Villa an der Riviera", wo es Marmorstufen ins Meer gibt, auf denen sie „nackt auf dem Marmor" liegt.54 Der Wunsch Elses, in ihrer körperlichen Nacktheit zu erscheinen, zeigt ihren exhibitionistischen und narzisstischen Charakter. 55

50 Knoben-Wauben, Marianne: Ambivalente Konstruktionen der Weiblichkeit. Das Bild der Frau aus der Sicht des Wissenschaftlers Sigmund Fraud und des Dichters Arthur Schnitzler. In: Ester Hans und Guillaume von Germet (Hrsg.), Grenzgänge - Literatur und Kultur. Amsterdam: Rodolpi Verlag 1990, S. 287 51

Bühler, Arnim Thomas: Arthur Schnitzlers Fräulein Else. Ansätze zu einer psychoanalytischen Interpretation. Wetzlar: Kletsmeier Verlag 1995 S. 8f. Bühler betont, dass die Beziehung zwischen Freud und Schnitzler für viele Jahre unfreundlich und distanziert geblieben sei auf Grund der Tatsache, dass Schnitzler - trotz seiner medizinischen Kompetenzen — die Literatur als Ort der Beschreibung des Alltags und nicht einer psychoanalytschen Untersuchung betrachtet hat.

52 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1998, S. 47 53 Ebda., S. 147 54 Ebda., S. 42 55 Schmidt-Dengler, Wendelin: Inflation der Werte und Gefühle. Z u Arthur Schnitzlers

zo

Einleitung „ B ' n ich wirklich so schön im Spiegel? Ach, kommen Sie doch näher, schönes Fräulein."»6

Angesichts der Tatsache, dass diese Interpretationen Elses generell für die schnitzlerische Frauendarstellung gelten kann und dass man mehr als sechzig Jahre nach Schnitzlers Tod bei der Lektüre seiner Werke das Gefühl hat, dass darin wirklich das Wesentliche schon gesagt worden ist und dass der Rest in jenen von Schnitzler geschriebenen klugen Artikeln und Kritiken steht, wählt diese Arbeit dennoch gerade Fräulein Else als zentrale Erzählung Schnitzlers. Die Bedeutung dieser Entscheidung liegt in der Überzeugung, dass Fräulein Else immer noch unberücksichtigte Aspekte und Akzente enthält. Erstens steht noch die sprachliche Analyse der Geschlechterbeziehung Else/ Dorsday in einer an den Gender-Studies orientierten Perspektive aus. Zweitens soll der historische Hintergrund der Erzählung, die, obwohl 1924, d. h. in der Zwischenkriegszeit veröffentlicht, um die Jahrhundertwende spielt noch eingehender betrachtet werden. Drittens soll genaueres Augenmerk auf die sprachliche Spaltung der Geschlechter und ihre Ergänzungsfähigkeit (statt ihrer kriegerischen Rivalität) gelegt werden. Viertens soll die Gegenüberstellung zwischen Literatur und Geschichte, Kunst und Alltag gerade in der Frauenfrage analysiert werden, da diese Dichotomie die Texte Schnitzlers besonders geprägt hat.

„Fräulein Else". In: Wendelin Schmidt-Dengler, Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien: Böhlau 2002, S. 62. Schmidt-Dengler interpretiert die Entblößung Elses als Zeichen und „neues Verständnis der Körperlichkeit", das „keineswegs als Vorankündigung der Freikörperkultur" zu sehen ist. 56 Ebda., S. 24

I. Wien in der Zwischenkriegszeit

Eine historisch-soziale und kulturelle Darstellung Wiens in der Zwischenkriegszeit mit einem kurzen, aber gut dokumentierten Rückblick auf die Jahrhundertwende erweist sich meines Erachtens als notwendiges und funktionelles Moment dieser Arbeit, wobei man an der Kontextualisierung der gewählten literarischen Werke den Grad der Innovationen hinsichtlich der Frauenfrage ablesen kann. Wien, Anfang November 1918: das Ende des Ersten Weltkriegs. Die Menschen hungerten, froren und waren vor allem verunsichert. Die Straßen waren voll von verwundeten Kriegsheimkehrern, Spekulanten und Menschen, die Wien während des Krieges verlassen hatten. Einige Verse aus dem Schlagertext Wien, sterbende Märchenstadt (1922) von Hermann Leopoldi und Dr. Fritz Löhner sollen diese Nachkriegszeitatmosphäre dokumentieren: „[...] Zwei müde Weiblein steh'n auf der Pawlatschen mit Einkaufstaschen, die so mager sind wie ihre Wangen, seufzen schwer und tratschen; beim Brunnen spielt ein bleiches Wiener Kind. [...] die Armut reicht die Hand der Mutter Sorge, und magre Kinderfüßchen trippeln nackt. [...] Refrain: Wien, Wien, Wien, sterbende Märchenstadt, die noch im Tod für alle ein freundliches Lächeln hat. Wien, Wien, Wien, einsame Königin im Bettlerkleid, schön auch im Leid bist du, mein Wien."57

57 Schmidt-Dengler, Wendelin: Wien 1918: Glanzloses Finale. In: Wendelin Schmidt-Dengler, Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien: Böhlau 2002, S. 33

Wien in der Zwischenkriegszeit

22

Die Darstellung Wiens als eine „sterbende Märchenstadt" trägt in sich zwei widersprüchliche Eigenschaften: den Tod und die Magie einer phantastischen Welt, die trotz der Trauer infolge der tragischen Erfahrung des Kriegs noch die Kraft findet, den Leuten „ein freundliches Lächeln" zu schenken. Man kann auch diese Elemente Tod/Magie metaphorisch interpretieren, wobei Tod nicht nur mit dem physischen Tod der Soldaten an der Front assoziiert werden kann, sondern auch mit einem ökonomischen Tod, der die alltägliche Wirklichkeit nach dem Umsturz von 1918 in der Wiener Gesellschaft geworden war. Die Negativität des Todes wird durch die illusorische Positivität der Magie Wiens ersetzt, das wie eine Königin dargestellt wird; eine Königin, die „auch im Leid" und „im Bettlerkleid" fähig ist, durch ihre Schönheit zu faszinieren, als ob sie eine elegante und raffinierte Frau wäre. Diese faszinierende Atmosphäre ist auch den Versen des oben genannten Schlagertexts deutlich abzulesen: „ N o c h rauscht der Wienerwald auf sanften Hügeln, noch blüht der Wein, wo einst Beethoven schritt; noch klingt Musik auf zarten Elfenflügeln, und tausend junge Herzen singen mit."' 8

Die Traurigkeit über eine unsichere Lebenssituation der Wiener Bevölkerung wird durch die Musik momentan vergessen und überwunden. „Die Inflation hat eingesetzt, Millionäre schießen aus dem Boden und Banken brechen zusammen, niemand hat mehr Vermögen, viele haben keine Arbeit, trotzdem tanzt man in Wien, man tanzt des Nachts umso wilder, je weniger man sicher sein kann, am nächsten Morgen noch sein Mittagsmahl bezahlen zu können." 59

Diese deutliche Gegenüberstellung von Leiden und Fröhlichkeit, von Tod und Leben, die in diesem Schlagertext gezeigt wird, spiegelt die offensichdiche Widersprüchlichkeit des Wiener Alltags nach dem Ersten Weltkrieg wider, wobei man gerade in einer so schwierigen ökonomischen Situation das geistige und künstlerische Leben aufblühen sieht. „ M i t dem Untergang der Monarchie erblühten die Künste. Sie waren nicht verstummt. Im Gegenteil, sie waren viel wichtiger geworden." 60

58 59

Ebda., S. 33 Herrberg, Heike/Wagner, Heidi: Wiener Melange. Frauen zwischen Salon und Kaffeehaus. Berlin: Edition Ebersbach 2002, S. 39

60 Ebda., S. 13

Wien in der Zwischenkriegszeit Diese W o r t e der Tänzerin M a r i a Ley-Piscator, die in den dreißger Jahren den Avantgarde-Regisseur E r w i n Piscator heiratete, dokumentieren, dass die Erste Republik auf dem Feld der Kunst und der Wissenschaft eine Vorrangstellung erlangte. A l s im November des Jahres 1918 die Republik ausgerufen und Kaiser Karl zur A b d a n k u n g gezwungen wurde, 6 1 war diese Veränderung auch auf künstlerischer Ebene offensichtlich: So wechselte etwa die Hofoper ihren N a m e n und hieß von nun an Staatsoper. Das bedeutete auch eine Veränderung in der W a h l der Stücke, die aufgeführt werden sollten. Die Ernennung von Richard Strauss zum Staatsoperndirektor verschaffte der Staatsoper internationales Ansehen. A m A b e n d der Ausrufung der Republik ( 1 2 . 1 1 . 1 9 1 8 ) wurde Strauss' Oper Salomé aufgeführt. 6 1 A u c h die G r ü n d u n g der Salzburger Festspiele durch M a x Reinhardt und H u g o von Hofmannsthal zeigt die Bedeutung der Kultur für die Politik in der Zeit der Ersten Republik. Reinhardt wie Hofmannsthal waren davon

61 Zweig, Stefan: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1952 S. 261. Die Abfahrt des Kaisers wird von Zweig mit diesen melancholischen Worten dargestellt: „Langsam, ich möchte fast sagen, majestätisch rollte der Zug heran, ein Zug besonderer Art, nicht die abgenutzten, vom Regen verwaschenen gewöhnlichen Passagierwaggons, sondern schwarze, breite Wagen, ein Salonzug. Die Lokomotive hielt an. Eine fühlbare Bewegung ging durch die Reihen der Wartenden, ich wußte noch immer nicht, warum. Da erkannte ich hinter der Spiegelscheibe des Waggons hoch aufgerichtet Kaiser Karl, den letzten Kaiser von Osterreich und seine schwarz angekleidete Gemahlin, Kaiserin Zita. Ich schrak zusammen: der letzte Kaiser von Österreich, der Erbe der habsburgischen Dynastie, die siebenhundert Jahre das Land regiert, verließ sein Reich! Obwohl er die formelle Abdankung verweigert, hatte die Republik ihm die Abreise unter allen Ehren gestattet oder sie vielmehr von ihm erzwungen. Nun stand der hohe ernste Mann am Fenster und sah zum letztenmal die Berge, die Häuser, die Menschen seines Landes." 62 Brokoph Mauch, Gudrun: Salomé und Ophelia: Die Frau in der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende. In: Modern Austrian Literature, Band 3/4, Nr. 22,1989, S. 241-255. Den Figuren der Salome sowie der Ophelia entsprechen die zwei berühmtesten männlichen Imaginationsbilder der Weiblichkeit um die Jahrhundertwende. Salomé oder die Femme fatale; Ophelia oder die Femme fragile sind Spiegelbilder der seelischen Störungen des Mannes, hervorgerufen durch den Konflikt zwischen einer repressiven offiziellen Moral, die der Frau keine eigene Erotik zugesteht, und dem Verlangen nach einer erotisch entfesselten oder inhibierten Partnerin, je nach den Gangarten der männlichen Libido. Während der Schöpfer der Femme fatale aus der repressiven Sexualmoral auszubrechen vermeint, identifiziert sich der Dichter der Femme fragile mit ebendieser Moral und unterdrückt seine eigene sexuelle Entwicklung. Beide sind schließlich Produkte einer tiefenpsychologisch fassbaren Verkrampfung, die in der Literatur Befreiung sucht.

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überzeugt, dass Salzburg, das „in der Mitte zwischen Süd und Nord, zwischen Berg und Ebene, zwischen dem Irdischen und dem Idyllischen" 63 liegt, der ideale Ort sei, in einer Zeit des Zerfalls zu einem Zentrum für die Erhaltung und Erneuerung kultureller Traditionen zu werden. A u c h das Kaffeehaus, O r t der Entwicklung und Verbreitung der Kultur in Wien par excellence, Fortsetzer der Tradition des „goldenen Hauses" 6 4 , war von solch tief greifenden Veränderungen betroffen. „Mit den alten Häusern fallen die letzten Pfeiler unserer Erinnerungen, und bald wird ein respektloser Spaten auch das ehrwürdige C a f é Griensteidl dem Boden gleichgemacht haben" 6 '

schrieb 1897 Karl Kraus. Die traditionelle Atmosphäre des Kaffeehauses der Vorkriegszeit66 wird durch eine moderne, chaotische und nervöse Atmosphäre ersetzt.

63 Dusek, Peter: Zeitgeschichte im Aufriß. Wien: Verlagsunion 1988. Für alle geschichtlichen und gesellschaftlichen Auskünfte zu dieser Zeit, die in der vorliegenden Arbeit aufscheinen, beziehe ich mich auf dieses Buch. 64 Herrberg, Heike/Wagner, Heidi: Wiener Melange. Frauen zwischen Salon und Kaffeehaus. Berlin: Edition Ebersbach 2002, S. 25-49. Die Tradition des privaten Salons als Ort für die Entdeckung von neuen literarischen Talenten, war in Wien vom jüdischen Bürgertum gegründet worden. Auch in Wien gab es Frauen wie die berühmte politische Journalistin Berta Zuckerkandl, deren Salon eine Drehscheibe der Kontakte für das liberale und fortschrittliche Wien war. Der Salon der Zuckerkandl wird im kulturellen Leben Wiens der zwanziger und dreißiger Jahre eine Institution, wobei man „eine Atmosphäre von Toleranz und Vorurteilslosigkeit" spüren konnte. Eine ähnliche Atmosphäre herrschte im Salon von Zuckerkandis Freundin Alma Mahler, die ihre Gäste Sonntag abends in die Elisabethstraße einlud. Auch die Schwestern Gomperz, die mit den Bankiers von Wertheimstein und Todesco verheiratet waren, führten die Tradition des literarischen Salons weiter. Die Villa des Bankiers von Wertheimstein im Vorort Döbling und das Ringstraßenpalais der Familie Todesco waren Treffpunkte des kulturellen Lebens des Wiens der ersten Nachkriegszeit. 65 Kraus, Karl: Die demolierte Literatur. In: Gotthart Wunberg, Die Wiener Moderne. Stuttgart: Reclam 1992, S. 644 66 Wengraf, Edmund: Kaffeehaus und Literatur. In: Gotthart Wunberg, Die Wiener Moderne. Stuttgart: Reclam Verlag 1981, S. 640. „Diese rauchgeschwängerte, durch Gasflammen verdorbene, durch das Beisammensitzen vieler Menschen verpestete Luft [...]", in der man „täglich zwei bis drei Stunden zubringt, gafft, schwatzt, gähnt", existiert nicht mehr.

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„Das Berufsleben, die Arbeit mit ihren vielfachen Nervositäten und Aufregungen, spielte sich in jenem Kaffeehaus ab", und „[...] das Durcheinanderschwirren von Kommenden und Gehenden, gesprächigen Gästen und geschäftigen Kellnern, dieses Gewirr schattenhafter Erscheinungen und unbestimmbarer Geräusche macht jedes ruhige Nachdenken, jede gesammelte Betrachtung unmöglich. Die Nerven werden überreizt, Gedächtniskraft, Aufmerksamkeit und Fassungsvermögen werden geschwächt." 67

Auch Friedrich Torberg betont in seinem Traktat über das Wiener Kaffeehaus, wie sehr sich das Leben im Kaffeehaus auf Grund der technologischen Innovationen der zwanziger Jahre gewandelt habe, wie etwa infolge der Einführung des Telefons und der Schreibmaschine.68 „Es liegt an der Technik, die sich mit Politik und Soziologie zu unheimlichem Trifolium zusammengeschlossen hat. Es liegt an dem, daß die heutigen Dichter direkt in die Schreibmaschine dichten, und die kann man ins Kaffeehaus nicht mitnehmen; daß sie ihre Hörspiele der Sekretärin diktieren [...] daß auch der Produktionsleiter der Fernseh-Dramaturgie, der Programmdirektor der Funkabteilung „Kulturelles Wort" nicht ins Kaffeehaus kommen können, sondern in ihren Studios oder Büros aufgesucht werden wollen. [...] Und selbstverständlich haben sie alle sowohl zu Hause wie im Büro ein Telephon, so daß sie nicht darauf angewiesen sind, sich im Kaffeehaus kostenlos anrufen zu lassen."69 Nicht nur die Atmosphäre, sondern auch die Gäste des Kaffeehauses änderten sich in der ersten Nachkriegszeit. Wenn um die Jahrhundertwende die Kaffeehausbesucher arm, doch reich an freier Zeit waren, sind „die Insassen der heutigen Literaturcafes beschäftigt; sie haben zu tun; sie sind nur noch potentielle Kaffeehaus-Stammgäste, keine praktischen mehr. Sie haben keine Zeit, und Zeithaben ist die wichtigste, die unerläßliche Voraussetzung jeglicher Kaffeehauskultur." 70

67 Kraus, Karl: Die demolierte Literatur. In: Karl Riha, Reihe deutsche Satiren. Steinbach: Anabas Verlag 1972, S. 5 68 Torberg, Friedrich: Traktat über das Wiener Kaffeehaus. In: Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. München: Langen Müller Verlag 1975, S. 327 69 Ebda., S. 318 70 Ebda., S. 326

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Die Stammgäste der früheren Literaturcafés schrieben, dichteten, beantworteten ihre Post und wurden telefonisch angerufen; wenn sie nicht da waren, nahm der Ober die Nachricht für sie entgegen. Dort trafen sie ihre Freunde und Feinde, dort musste man hingehen, wenn man mit ihnen sprechen wollte, dort lasen sie die Zeitungen; dort lebten sie, denn in ihrer Wohnung schliefen sie nur. Ihr wirkliches Zuhause war das Kaffeehaus. „In den letzten Jahren, als es nichts zu essen gab, wo zu Hause nicht geheizt werden konnte und man nichts zum Anziehen hatte, verwandelte sich das Kaffeehaus in das gemeinsame Zuhause der Boheme, der es verdammt schlecht in der Zeit des Krieges ging. [...] Im KafFehaus schreibt man, korrigiert man und diskutiert. Im Kaffeehaus spielen sich alle Familienszenen ab, im Kaffeehaus weint und schimpft man über das Leben und auf das Leben." 7 '

Eine weitere Neuheit ist die Anwesenheit der Frauen in den literarischen Runden des Kaffeehauses. Hilde Spiel weist in ihrem Buch Die grande Dame (1992) darauf hin, dass sie nach dem Ersten Weltkrieg eine der wenigen Frauen im Café Herrenhof war, denn üblicherweise waren um die Jahrhundertwende nur Männer die Kaffeehausbesucher, und wenn es einige Frauen gab, waren sie Begleiterinnen der Männer.72 Sie waren die Frauen „bedeutender Männer", die Verkörperung eines männlichen Bildes. Typisches Beispiel ist die Modejournalistin Ea von Allesch, eine emanzipierte Frau, die die „Königin des Café Central" genannt wurde und die witzig und kreativ die Mode und die Sittlichkeit ihrer Zeit kommentiert hat. Ihre journalistische Tätigkeit bei der Moderne[n] Welt (1918-1920) und dann bei der Prager Presse (1921-1927) gibt ihr die Möglichkeit, über die Frauenemanzipation zu schreiben und die Mode als Gradmesser der fortschreitenden Innovation zu betrachten. Kurze Röcke, Bubikopf-Frisur und Hosenkostüme werden Symbole für die neue Frau, so dass „die Mode für sie nicht eine von sozialen Wandlungen, von Veränderungen der Beziehungen zwischen den Geschlechtern und von politischen Gegebenheiten zu trennende, rein ästhetische Angelegenheit war".73 Trotz ihrer engagierten Tätigkeit als emanzipierte Journalistin der Zwischenkriegszeit bleibt Ea von Allesch eine sehr beliebte und viel bewunderte literarische Inspirationsquelle für viele Literaten der Zeit. Alfred Polgar z. B. schreibt über sie:

71

Herrberg, Heike/Wagner, Heidi: Wiener Melange. Frauen zwischen Salon und Kaffeehaus. Berlin: Edition Ebersbach 2002, S. 126

7 2 Spiel, Hilde: Die grande Dame. Hrsg. von Ingo Hermann. Göttingen: Lamuv 1992, S. 25 73

Lützeler, Paul Michael: Ea von Allesch. Von der femme fatale zur femme emancipee. In: Nachwort zu Hermann Brochs Das Teesdorfer Tagebuch fiir Ea von Allesch. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1995, S. 202f.

Wien in der Zwischenkriegszeit „Vom Tage, da ich Dich kennenlernte, beginnt mein Leben. Alles vorher war der Z u g durch die Wüste, Einsamkeit, Leere, Seelen-Noth [...] Geheiligt werde Deine Schönheit, zu uns komme Dein Reich, D u sei Herrin über unsere Seele wie über unseren Körper." 74 Sie ist aber a u c h die literarische M u s e H e r m a n n Brochs, m i t d e m sie ab 1927 eine Liebesbeziehung erlebte. Frauke Severit schreibt: „Ea von Allesch war für Broch in diesen Zeiten äußerer wie innerer Neuorientierung Halt und Quelle seiner Kraft." 75

Frauke Severit bezieht sich hier a u f den Einfluss, den Ea v o n A l l e s c h a u f B r o c h bei der A b f a s s u n g der N o v e l l e Ophelia (1920) ausübte. In dieser N o v e l l e hat Broch die traditionelle Shakespeare-Rolle O p h e l i a als F e m m e fragile revolutioniert. D i e O p h e l i a - G e s t a l t w i r d v o n B r o c h d u r c h das B i l d der e m a n z i p i e r t e n E a v o n A l lesch modelliert. K e i n e schwache, fragile oder untergeordnete Frau m e h r ist die neue O p h e l i a , sondern eine selbstbewusste u n d kräftige Frau. „Brochs Ophelia von 1920 demonstriert, wie sich die femme fragile der Jahrhundertwende zur emanzipierten Frau der Nachkriegszeit gewandelt hat." 76

N i c h t n u r die intellektuelle Seite der Gestalt v o n Ea v o n A l l e s c h hat eine g r o ß e W i r k u n g ausgeübt, sondern a u c h ihr Aussehen. Sie w a r mittelgroß, k n a b e n h a f t , schlank u n d eine M i s c h u n g aus Scheu u n d O f f e n h e i t , eine faszinierende Frau, die auch viele Künstler der Zeit inspiriert hat. „Der Maler Gustav Klimt kreiert den ,idealen' Frauentyp in seinen Bildern, der Schriftsteller Peter Altenberg liefert das literarische Pendant: die Kindfrau, zart und scheu, zugleich aufreizend und sinnlich. Eas Charakter-Mischung aus Offenheit und Natürlichkeit, kühler Distanz und sogar Härte provoziert. Sie wird zur Projektionsfigur, zum Spiegel männlicher Vorstellungen, wie Frauen sein sollen." 77

74 Weinzierl, Ulrich: Alfred Polgar. Eine Biographie. Wien: Locker Verlag 1985, S. 35 75 Severit, Frauke: Ea von Allesch: Wenn aus Frauen Menschen werden. Wiesbaden: Deutscher Universitäts Verlag 1999, S. 118 76 Lützeler, Paul Michael: Die Modeschriftstellerin in den zwanziger Jahren. In: Nachwort zu Hermann Brochs Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1995, S. 208 77 Herrberg, Heike/Wagner, Heidi: Wiener Melange. Frauen zwischen Salon und Kaffeehaus. Berlin: Edition Ebersbach 2002, S. 117

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Ähnlich ist es auch bei Lina Loos, jener engagierten, aktiven, humorvollen, ironischen und teilweise lustigen Gesellschaftskritikerin für die Wiener Woche, die Arbeiter-Zeitung und das Neue Wiener Tagblatt seit Anfang der zwanziger Jahre. Wie Ea von Allesch besucht auch Lina Loos das Café Raimund und das Café Sievering, wo „sie oft die Abende, insbesondere im Winter, wenn Kohlen knapp sind oder ihr Geld dafür nicht reicht"78 verbringt. In dieser Umgebung lernt sie Egon Friedell kennen, der sich leidenschaftlich in sie verliebt, aber die Antwort Linas auf den Heiratsantrag Friedells betont die Tatsache, dass Lina wie Ea von der männlichen Welt nur als Projektionsfigur und als Wunscherfüllungsmittel betrachtet wird. „Ich suche einen Mann, der mich liebt als — Lina Loos. Ich will kein überirdisches Wesen sein, ich will nicht angebetet werden, der Mann, dem ich bereits eine Gottheit bin - der ist mir viel zu arm."79 Als letztes Beispiel dieser bedeutungsvollen Frauengestaltengalerie, die sich immer zwischen Imagination und Wirklichkeit bewegt und die das Kaifeehaus als Schutzort und Zentrum ihrer intellektuellen und gesellschaftlichen Tätigkeiten, als Weltbeobachterinnen der Zeitveränderungen verwendet haben, will ich die Figur der berühmten politischen Prager Journalistin, die durch Kafkas posthum veröffentlichte Briefe an Milena bekannt wurde, skizzieren. Es ist die Rede von Milena Jesenská, der Frau des Fremdsprachenkorrespondenten der österreichischen Landesbank Ernst Pollak, die aus Prag nach Wien gekommen war und sich in der Donaumetropole - wegen ihrer mangelhaften Deutschkenntnisse — zu Beginn eher einsam fühlte. „Sie saß da, unter den Leuten. Sie war jung und sehr hübsch, kräftig, schön gewachsen, hatte aschblondes Haar und diesen schönen kleinen Mund. Ich dachte, was hat die da verloren. Sie sprach sehr schlecht deutsch und konnte sich an der Diskussion kaum beteiligen."80 Diese Worte von Franz Xaver Graf Schaffgotsch, Stammgast im Café Herrenhof, zeigen — nicht anders als bei Lina und Ea —, wie die physischen Merkmale einer faszinierenden Weiblichkeit, die aber auch einen Schleier von Traurigkeit und Melancholie durchscheinen lassen, eine große Rolle gespielt haben. Es ist gerade das, 78 Ebda., S. 113 79 Ebda., S. 112 80 Ebda., S. 138

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was Franz K a f k a mit den Worten „ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nicht gesehen habe, [...] dabei äußerst zart, mutig, klug" notiert hat.81 Hatten die Frauen damals im Kaffeehaus nie die Möglichkeit, sich aktiv an einem Gespräch zu beteiligen, zeigen diese Beispiele, daß die Frauen sich erst nach 1918 emanzipiert genug fühlten. „Natürlich waren Frauen da, Studentinnen, Malerinnen, Tänzerinnen und Freundinnen der Männer. Aber ich möchte sagen, wir haben damals begriffen, daß wir völlig emanzipiert waren." 81

Die Rolle der Frau als Begleiterin und „Ergänzung" des Mannes ist in der Realität des Kaffeehauses somit überwunden. Frauen wie die früher erwähnten Lina Loos, Ea von Allesch und Milena Jesenska sind vielleicht die berühmtesten Beispiele, echte Königinnen des Cafes, die den Männern beweisen, dass auch eine Frau ein kulturelles Gespräch führen kann. Wie Schnitzler etwa am Beispiel der Mutter Thereses zeigt, ist die Frau nicht mehr nur Vertreterin eines weiblichen Typs, der für seine physische Schönheit geschätzt wird, sondern eine selbstständige Gestalt, eine echte Persönlichkeit, die mit ihrer literarischen Tätigkeit einen bedeutungsvollen Beitrag zur kulturellen Welt leisten kann. Als am 12. November 1918 die im Jahre 1911 gewählten Reichsratsabgeordneten des deutschen Siedlungsgebietes der Habsburgermonarchie verabschiedet wurden, 8 ' wurde der neue Staat Deutschösterreich als demokratische Republik ausgerufen und zu einem Bestandteil der Deutschen Republik erklärt.84 „ A m frühen Nachmittag des zwölften November setzten sich in den äußeren Stadtteilen sonderbare Massenzüge in Bewegung. Die Sozialdemokratie hatte ihren Heerbann aufgeboten und führte unübersehbare Scharen gegen die innere Stadt, am Parlament vorbei, damit das eigentliche Wien und das echte Osterreich zu sehen bekomme, wieviele Tschechen und Hannaken, Serben und Kroaten, Polen und Magyaren, Slovaken und Slovenen, Ruthenen und Huzulen und sonstige Völker zweiter, dritter und vierter kultureller Garnitur ihr zur Verfügung stehen, wenn sie es für notwendig fände, das republikanische Deutschösterreich repräsentieren zu lassen."85

81

Ebda., S. 131

82 Spiel, Hilde: Die grande Dame. Hrsg. von Ingo Hermann. Göttingen: Lamuv 1992, S. 25 83 Steiniger, Robert: 12. November bis 13. März 1938: Stationen auf dem Weg zum Anschluß. In: Robert Steiniger, Osterreich im 20. Jahrhundert von der Monarchie bis zur zweiten Republik. Wien: Böhlau Verlag 1997, S. 100 84 Ebda., S. 100 85 Paumgartten, Karl: Repablik. Eine gelangenfröhliche Wiener Legende aus der Zeit der gel-

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A m selben Tag teilte Otto Bauer, der intellektuelle Führer der Sozialdemokraten, dem Volksbeauftragten Hugo Haase in Berlin mit: „Deutschösterreich hat seinen Willen kundgetan, sich mit den anderen deutschen Stämmen, von denen es vor 52 Jahren getrennt wurde, wieder zu vereinigen. Wir bitten Sie, in direkte Verhandlungen mit uns über die Vereinigung Deutschösterreichs mit der deutschen Republik einzutreten."86 Der Anschluss schien den Sozialdemokraten die einzige Möglichkeit zur Schaffung einer Einheitsfront mit den deutschen Sozialdemokraten im Kampf gegen Hunger und Arbeitslosigkeit zu sein, denn ein Land wie Osterreich, das keine Kohle hatte und im eigenen Land weder ausreichend Lebensmittel erzeugen konnte noch eine nennenswerte Exportindustrie besaß, konnte wohl nicht selbstständig existieren. „Wir wollen uns mit dem roten Deutschland vereinen. Vereinigung mit Deutschland bedeutet jetzt Vereinigung mit dem Sozialismus."87 Die Entscheidung Wiens, ein Bündnis mit Berlin anzustreben, wurde von den Deutschen zunächst nicht akzeptiert, und Bauer kam am 21. Februar 1918 nach Deutschland, um in Berlin mit dem Außenminister Brockdorff-Rantzan zu reden. A m 2. März endeten die Gespräche, und Deutschösterreich sollte als „selbständiger Gliedstaat" mit gewissen Sonderrechten (u. a. wurde Wien als gleichberechtigte zweite Hauptstadt nominiert) anerkannt werden.88 Alle Anstrengungen der Sozialdemokraten, ein österreichisch-deutsches Bündnis zu bilden, blieben erfolglos, denn der Vertrag von St.-Germain (10. 9. 1919) verbot die Vereinigung Österreichs mit Deutschland (vor allem da Deutschland nicht zu mächtig werden sollte) und sanktionierte die Unabhängigkeit Österreichs von anderen Staaten. Am 21. Oktober 1919 änderte Deutschösterreich seinen Namen in „Republik Österreich". 8 '

ben Pest und des roten Todes. Zit. nach Schmidt-Dengler, Wendelin: Wien 1918: Glanzloses Finale. In: Wendelin Schmidt-Dengler, Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien: Böhlau 2002, S. 39 86 Ebda., S. 101 87 Ebda., S. 102 88 Ebda. S. 104 89 Ebda., S. 105. Im Artikel 88 des Vertrags von St.-Germain liest man: „Die Unabhängigkeit Österreichs ist unabänderlich."

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1922 wurde Ignaz Seipel, Obmann der von Karl Vogelsang und Karl Lueger 90 gegründeten Christlichsozialen Partei, als Bundeskanzler Österreichs nominiert. Er schlug die Rückkehr zur Monarchie vor und bemühte sich um eine Verbindung zwischen Industrie und Politik. Sein Motto war „Demokratie und Kaiserreich". Der christlichsoziale Seipel war kein Freund des Anschlusses. Er wollte die Sanierung der dramatischen ökonomischen Lage des Staats ohne Anschluss erreichen, und seine Taktik war es, „die Sieger für die weitere Entwicklung verantwortlich zu machen, sie aber gleichzeitig von dem Erhalt Österreichs als einer europäischen Notwendigkeit zu überzeugen". 91

A m 4. Oktober 1922 wurden die Genfer Protokolle zwischen den Regierungen Englands, Frankreichs und Italiens auf der einen sowie Österreichs auf der anderen Seite beschlossen.92 Nach dem Brand des Justizpalastes (15. 7. 1927) gewann die antimarxistische und antisemitische Ideologie der Heimwehrbewegung auch auf Bundeskanzler Seipel 93 an Einfluss. In den Gesprächen der Jahre 1928-29 erklärte er, dass eine Demokratie auf der Verschmelzung von verschiedenen Ständen wie Professoren und Arbeitern gründet, die zusammen für die Schaffung einer nationalen Identität Österreichs kämpften. Seipel war überzeugt, dass der Sozialismus/Kommunismus die Spannung zwischen Arbeit und Kapital nicht lösen, sondern nur verstärken konnte. 1929 erlebt Österreich eine wirtschaftliche Krise, die Seipel zwang, die Regierung zu demissionieren.

90 In dem politischen Panorama der Zwischenkriegszeit ergriff Lueger die Partei der Kleinbürger und grenzte sich sowohl von den Kapitalisten als auch von den Proletariern ab. Lueger konnte Anhänger von Georg Ritter von Schönerer gewinnen, denen dieser zu radikal, zu wenig habsburgtreu und zu antiklerikal war. Lueger standen die Sozialdemokraten gegenüber, die bessere Bedingungen für die Arbeiter forderten. 91

Zöllner, Erich: Geschichte Österreichs. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1974, S.

503 92 Die Genfer Protokolle erneuerten das Anschiussverbot für 20 Jahre, eine Anleihe von 650 Millionen Goldkronen wurde zugesagt. 93 Ebda., S. 506. Die mit Tumulten verbundene Demonstration am 15. Juli 1927 in Wien war das Signal, dass das politische Leben des Staats durch halbmilitärische Verbände, deren Aufeinandertreffen gelegentlich auch Todesopfer forderte, gestört war.

Wien in der Zwischenkriegszeit „Ein katastrophaler Sturz der Börse war eingetreten. Es war in N e w York der größte Geldkrach des Jahrhunderts eingetreten. Zusammengefallen war der Schein eines übermäßigen und überleichten Geldverdienens. Die Hysterie des Gewinnes hatte sich in die grausame Hysterie des Verlierens verwandelt. In den Toiletten erschossen sich Männer, die Hunderttausende besessen und verloren hatten." 94 Im selben Jahr, als Berta Zuckerkandl diese Ereignisse in ihren Memoiren notiert, „[...] von meinem Vis-à-vis, der Bodencreditbank, war den ganzen Tag ein bienenhaftes Summen zu hören, besonders im Frühjahr, wenn bei offenem Fenster gearbeitet wurde, störte das Klappern von Hunderten von Schreibmaschinen. [...] Eines Tages, nach meiner Rückkehr nach Salzburg, störte mich eine drückende Stille, wie man sie empfindet, wenn ein gewohntes Geräusch plötzlich nicht mehr vorhanden ist. Erstaunt suchte ich nach der Ursache dieses Phänomens, und ich bemerkte, daß die fieberhaft klappernden Schreibmaschinen der Bodencreditbank nicht nur schwiegen, sie waren überhaupt nicht mehr da. Auch das Hin und Her der Beamten, das Klingeln der Telephone, die mit Post beladenen Diener waren wie von einem Zauberstab berührt verschwunden. Kein Zweifel, die Bodencreditbank war gestorben" 9 ', entscheidet Johannes Schober, 1931 eine Zollunion mit Deutschland zu proklamieren, die von den anderen europäischen Staaten aber als illegale politische A k tion beurteilt wurde, denn der Vertrag von St.-Germain hatte ja den Anschluss an Deutschland verboten. Inzwischen waren auch in Wien die Nationalsozialisten immer mehr zu einer einflussreichen Partei geworden, die den Anschluss an Deutschland als eines der wichtigsten politischen Ziele betrachtete.' 6 Nach der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuss durch die Nationalsozialisten (1934) wurde der 1933 ausgerufene Ständestaat zu einer sich an Mussolini orientierenden Diktatur. 97 Dramatisch und problematisch war in den Jahren zwischen 1918 und 1938 auch die soziale Situation Wiens, wobei das Niveau der Industrialisierung zu niedrig war, um eine Verbesserung der Lebensqualität zu erreichen, und die ökonomische Stagnation wurde eine permanente Komponente des Wiener Alltags dieser Zeit. 94 Baum, Vicky: Die Karriere der Doris Hart. Stuttgarter Hausbücherei 1936, S. 187 95 Zuckerkandl, Berta: Osterreich intim. Erinnerungen 1892-1942. Hrsg. von Reinhard Federmann. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, S. 123 96 Steininger, Rolf: 12. November bis 13. März 1938: Stationen auf dem Weg zum Anschluß. In: Rolf Steininger, Osterreich im 20. Jahrhundert von der Monarchie bis zur zweiten Republik. Wien: Böhlau Verlag 1997, S. 115.1930-31 wuchs die politische Macht der Heimwehr, der militanten antimarxistischen Bewegung in Wien. Es bestand die Gefahr der Errichtung einer faschistischen Diktatur. 97 Fejtö, Franco: Requiem per un impero defunto - la dissoluzione del mondo austro-ungarico. Milano: Saggi Oscar Mondadori 1990.

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„Es gab gar keine Stellungen. Überall wurden Menschen entlassen, die mit ratlosen und erstaunten Gesichtern auf der Straße standen, einander erzählten, wieviel sie damals besessen."'8

A u c h die realistische, aber dramatische Darstellung von Karl Paumgartten, der „das gereizte Klima dieser Epoche" 9 9 in seinem Roman Republik

(1924) be-

schreibt, ist ein wichtiges Dokument der hoffnungslosen ökonomischen Situation Österreichs und insbesondere Wiens in den zwanziger Jahren. „[...] So weit man blickte, niedrige Stirnen, brutal hervortretende Jochbeine, tief liegende Augen, mächtige, weit ausladende Unterkiefer, Arme, die bis zu den Knien herabhingen." 100

Diese ökonomische Katastrophe war die Folge des Verlusts der pannonischen Tiefebene (die zur Zeit der Monarchie die „Kornkammer" darstellte) und des chronischen Ungleichgewichts des Außenhandels, so dass die „Produktionskapazitäten in keiner Phase der Zwischenkriegszeit ausgelastet werden konnten. A b 1923 stiegen die Arbeitslosenquoten, die Inflationsraten und das Preisniveau. Es gab einen Wertverfall der österreichischen Krone auf den Devisenmärkten 101 und einen Mangel an Verkehrsverbindungen im Land, und die Einschränkungen im Handelsverkehr spitzten die Lage zu".102

98 Baum, Vicky: Die Karriere der Doris Hart. Stuttgart: Stuttgarter Hausbücherei 1936, S. 188 99 Schmidt-Dengler, Wendelin: Wien 1918: Glanzloses Finale. In: Wendelin SchmidtDengler, Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien: Böhlau 2002, S. 38 100 Ebda., S. 39 101 Es ist interessant zu beobachten, dass Stefan Zweig den katastrophalen finanziellen Zustand seines Landes auch mit einer positiven Stimmung erlebt. In Die Welt von gestern schreibt er auf Seite 337: „Eben durch das Unerwartete, daß das einstmals Stabilste, das Geld, täglich an Wert verlor, schätzten die Menschen die wirklichen Werte des Lebens - Arbeit, Liebe, Freundschaft, Kunst und Kultur - um so höher, und das ganze Volk lebte inmitten der Katastrophe intensiver und gespannter als je." Noch einmal wird hier das Motiv des „Doppellebens" von Wien in der Zwischenkriegszeit wiederholt. Wien, Metapher der Dekadenz und des Zerfalls, versucht durch die Liebe für das Vergnügen seinen tragischen Zustand zu überwinden. 102 Milena Jesenskä, Freundin Franz Kafkas, stellt die soziale Lage Wiens nach dem Ersten Weltkrieg mit diesen Worten dar: „Es gibt kein Brennmaterial, keine Kohle, kein Holz, keinen Koks. Die Züge fahren im ganzen Land nicht, die Fabriken stehen jeden Augen-

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In einer so dramatischen Situation musste eine Lösung gefunden werden: Einige österreichische Aktiengesellschaften wurden an ausländische Interessenten verkauft. Dieses Sanierungsprogramm — Genfer Sanierung genannt (1922) —, in dem das österreichische Finanzwesen immer stärker den ausländischen Kreditgebern verbunden wurde, löste einen großen internationalen Einbruch auf dem Börsenmarkt aus, der zahlreiche Bankenzusammenbrüche und die Rücknahme ausländischer Kredite aus Osterreich zur Folge hatte. Die Banken reagierten mit einem hohen Zinsniveau; die Arbeitslosigkeit stieg rasant an. Gemeinsam mit der steigenden Inflation und der wirtschaftlichen Unsicherheit führten diese Phänomene zu verstärkten politischen Agitationen. 10 ' Niemand war sicher, seinen Besitz behalten zu können; daher erschien vielen Menschen die Rückkehr zur Monarchie als ideale Lösung. 1 0 4 Doch es war klar, dass die Rückkehr in die Vergangenheit keine brauchbare Option darstellte, und man beschloss zu kämpfen. Nach dem Ende der Inflations- und Börsenkonjunktur im Frühjahr 1924 waren die Banken in weitaus größerem M a ß als vor 1914 Eigentümer der österreichischen Industrie, und die Industrie selbst war stärker als je zuvor vom Kredit der Banken abhängig. In diesem Spiel der Spekulation spielte die Frau eine doppelte Rolle: die der Haus„besorgerin", die sich um Haushalt und Kinder allein kümmerte, und die der Emanzipierten, die die Familie durch eigene Erwerbsarbeit unterstützte. 105 blick still, die Geschäfte schließen um fünf Uhr, in den Restaurants und Kaffeehäusern brennt ab acht Uhr ein flackerndes Karbidlämpchen. Bald soll der elektrische Strom für den privaten Verbrauch gesperrt werden, so daß wir mit Kerzen leuchten müssen, die nicht zu haben sind! Zum Heizen gibt es nichts, zum Essen gibt es nichts" (in Milena Jesenskd. Biographie von Aleña Wagnerová. Mannheim: Bollmann 1995, S. 78). 103 Essl, Günter: Das Männer- und Frauenbild in Texten einiger österreichischer Sozialistinnen zwischen 1896 und 1922. Diplomarbeit Universität Wien 1986, S. I34f. 104 Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit. München: Kösel Verlag 1957, S. I09f. „Die grundlose Feschität, die dieses neuwienerische Dasein so beliebt macht wie die Figuren jenes teuflischen Antitalents, die tiefe Unfähigkeit, im Raum zu stehen, die die niedrigste Kunst und das niedrigste Leben zu vollkommener Deckung bringt", und weiter liest man: „Nie zuvor hat in der Weltgeschichte eine stärkere Unpersönlichkeit so ihren Stempel allen Dingen und Formen aufgedrückt, so dass wir in allem was uns den Weg verstellte, in allen Miseren, Verkehrshindernissen, im Querschnitt jeden Pechs diesen Kaiserbart agnoszierten". Mit diesen Worten beschreibt Kraus das Leben der Wiener in der Monarchiezeit, und er betrachtet diese lange Zeit als eine „[...] siebzigjährige Gehirn- und Charaktererweichung; eine Verflachung, Verschlampung und Korrumpierung aller Edelwerte eines Volkstums". 105 Die Spaltung zwischen Hausfrau und emanzipierter Frau situiert die weibliche Figur auf

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U m Hausfrau zu werden, bedurfte es keiner besonderen Erziehung, u m hingegen Arbeiterin zu werden, brauchte die Frau eine Verbesserung der eigenen Bildung. 1 0 6 Tatsächlich wurden A n f a n g der zwanziger Jahre mehrere Mädchen-Bürgerschulen, nicht nur in der Bundeshauptstadt, sondern in allen größeren Schulbezirken Ö s terreichs, errichtet. Das Interesse an einer Weiterbildung der Frauen begünstigte die G r ü n d u n g der ersten Frauengewerbeschule in Innsbruck ebenso wie die Errichtung von Fortbildungs- und Haushaltungsschulen in ganz Osterreich. 107 Als Pionierin des Mädchenbildungssystems zur Z e i t der Jahrhundertwende gilt Eugenie Schwarzwald, die die erste Schuldirektorin der Stadt W i e n w a r u n d das Mädchenlyzeum a m Franziskanerplatz gründete.

zwei verschiedenen und widersprüchlichen Ebenen, die zwei Bedeutungen in der männlichen Welt der Imagination wecken. Bei emanzipierten Frauen symbolisiert die Hausfrau die weibliche Erniedrigung und Unterordnung gegenüber dem M a n n , während die emanzipierte Frau f ü r die Hausfrauen ein unerreichbares Ziel bedeutet, Resultat vieler anstrengender K ä m p f e . Eine emanzipierte Frau zu werden heißt, eine aktive, moderne und selbstbewusste Position erreicht zu haben. Virginia Woolf, eine der Pionierinnen der englischen Frauenbewegung in ihrem Essay über die Weiblichkeit A Room of one's own schreibt: „Indeed, if a woman had no existence save in the fiction written by men, one would imagine her a person of the utmost importance; very various; heroic and mean; splendid and sordid; infinitely beautiful and hideous in the extreme; as great as a man, some think even greater. [...] Imaginatively she is of the highest importance; practically she is completely insignificant. [...] In real life she could hardly read, could scarsely spell and was the property of her husband." In dieser Darstellung zeigt Virginia Woolf wie die erniedrigte soziale Position der Frau, die nur als Hausfrau und Gattin in der viktorianischen Gesellschaft gesehen war, Wert und Würde als Geschöpf in der Literatur gewinnt, aber nicht als Mensch, denn sie wird vom Autor geschaffen. Die Literatur schenkt ihr durch die Imagination die Möglichkeit für eine literarische Emanzipation, die als Ersatz der fehlenden gesellschaftlichen Emanzipation interpretiert werden kann. Natürlich bleibt die Frau auch in der Literatur nur eine scheinbar emanzipierte Frau, denn wie Virginia Woolf weiter feststellt, ist sie nur ein „looking-glass possessing the magic and delicious power of reflecting the figure of man at twice its natural size". 106 Die dem traditionellen weiblichen Rollenbild entgegengesetzten neuen Errungenschaften, denen die Mädchen im Bereich der schulischen Ausbildung begegneten, brachten auch eine Gleichstellung von Mädchen und Buben in der sportlichen Erziehung. Dabei tauchte die Problematik der Turnbekleidung auf und die Spannung zwischen Sittlichkeit und Gesundheit. A u f dem Gebiet des Sports f ü r Erwachsene hingegen kamen die traditionellen Rollenbilder zum Tragen und brachten engagierte Frauen in die Situation von einsamen Vorkämpferinnen, die immer wieder gegen festgefahrene Vorurteile anrennen mussten. 107 Kinigadner, Agnes: Tiroler Anzeiger-Volkszeitung und die Situation der Frau im Tirol der Zwischenkriegszeit. Innsbruck: Diplomarbeit 1988, S. 84f.

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Nach der Absolvierung ihres Germanistik-Studiums in Zürich, der einzigen Stadt Europas, die Frauen zur Hochschule zuließ, kehrt Eugenie Schwarzwald nach Wien zurück, wo sie für die Erreichung der Gleichberechtigung des Mädchenstudiums aktiv war. Ihr Wunsch nach der Gründung einer Volks-Mittelschule mit Mädchen und Jungen in einer Klasse, Weiterbildungskursen für Mädchen, die ein Lyzeum schon besucht hatten, ist von dem Motiv einer „schöpferischen Erziehung" beeinflusst. Das bedeutet „ein angstfreies Lernen, Lehrerinnen als Verbündete, Freizeit mit Freundinnen, Freude am Schmökern, Besuche im Burgtheater und in der Oper, Spaziergänge im Wald und dann und wann eine Party".108 Gemeinsame Leitidee all dieses Bemühens war die Vermittlung „mädchengemäßer" Bildung. Dem Mädchen sollte die Möglichkeit geboten werden, einen der weiblichen Eigenart angemessenen Beruf zu erlernen, um die Zeit bis zur Ehe sinnvoll zu nützen, und sich gleichzeitig willkommene Kenntnisse für den eigentlichen Beruf, den der Hausfrau und Mutter, anzueignen. Weiterhin bestand das Vorurteil, dass eine längere und kostspieligere Berufsausbildung für Mädchen unnötig sei, da der Besuch einer Schule nur eine Ubergangslösung bis zur Ehe darstelle. Mit der Zeit aber erhielten die Frauen eine „männliche" Erziehung und Fortbildung, die ihnen in den zwanziger und dreißiger Jahren die Möglichkeit bot, Positionen in der Arbeitswelt einzunehmen, die einmal den Männern vorbehalten waren. Kein anderer Beruf erfuhr zwischen 1918 und 1933 so großes Interesse und Erfolg wie der der kaufmännischen Angestellten, die sofort zur Vertreterin der emanzipierten Frau und Repräsentantin der „neuen Frau" wurde. Fritz Croner, damals Funktionär des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes, schrieb, daß die Verweiblichung des Angestelltenberufes der „ B e g i n n der wirklichen E m a n z i p a t i o n der Frau durch die Erwerbsarbeit in allen Schichten der Bevölkerung gewesen ist". 109

Mitte der zwanziger Jahre konnte man den Berufsberatungsstatistiken entnehmen, dass sich rund ein Drittel aller weiblichen Ratsuchenden, gegenüber 15 Prozent der männlichen, für eine kaufmännische Tätigkeit interessierten.110 Obwohl

108 Herrberg, Heike/Wagner, Heidi: Wiener Melange. Frauen zwischen Salon und Kaffeehaus. Berlin: Edition Ebersbach 2002, S. 50 109 Ebda., S. 90 110 Ebda., S. 27. Für Mittelschülerinnen gerade noch „standesgemäß", galt Berufsschülerinnen „der kaufmännische Beruf als der vornehmste, die Schneiderei als der sicherste, das Weißnähen als der sauberste und die Hauswirtschaft als der unbequemste Beruf".

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die Frau die Möglichkeit erreicht hatte, eine Arbeitsstelle zu haben, blieben die Diskriminierungen zwischen Frau und Mann noch augenfällig. Aufstiegsmöglichkeiten waren zwar im Einzelfall vorhanden, scheiterten aber in der Praxis sowohl an den nicht ausreichenden Vorqualifikationen der meisten Frauen als auch am Widerstand männlicher Angestellter gegen weibliche Vorgesetzte. „Daß viele kleine Arbeiten ausgeschieden und von weiblichen Kräften erledigt werden, während den Männern die höhere Arbeit bleibt, ist doch auch eine Hebung der Männerarbeit."111

Obschon die Standardisierung, die Aufsplitterung und die Technisierung der Arbeitsfunktionen rasch voranschritt, blieb die „höhere Arbeit" ein Monopol von Männern, und Frauen mussten sich mit den „kleineren Verrichtungen" begnügen; mit der Folge, dass sie ausgenützt wurden und weniger Geld als die Männer verdienten. Das wird in vielen Zeitungsstatistiken, insbesondere in denen des Tiroler Anzeigers, deutlich bestätigt.112 Auch die Literatur begrüßt 1922 mit Begeisterung die Veröffentlichung von Adelheid Popps Autobiographie Jugend einer Arbeiterin, die das Schicksal der Autorin und einer ganzen Klasse darstellt. Das Werk Popps kann auch als die programmatische Aufklärungsschrift über die sozialistische Frauenbewegung in Osterreich gelesen werden. Die Autorin stellt ihre entbehrungsreichen Kinderjahre in einer proletarischen Familie, den frühen Zwang zur Lohnarbeit in einer Fabrik, die vielen Unterdrückungen und den Verzicht als Arbeiterin und schließlich ihre aktive Rolle in der sozialistischen Partei dar. „Wir arbeiteten von sieben Uhr früh bis sieben Uhr abends. Zu Mittag hatten wir eine Stunde Pause, am Nachmittag eine halbe Stunde."" 5

Die Arbeitsjahre in der Fabrik geben Adelheid Popp die Gelegenheit, in direkter Erfahrung die schlechten Lebensbedingungen der Frauen kennen zu lernen. Als sie 1892 Mitbegründerin und Redakteurin der Arbeiterinnen-Zeitung wurde, dem

m Ebda., S. 27 112 In der Zwischenkriegszeit war der Tiroler Anzeiger eine der bekanntesten Tiroler Volkszeitungen; dessen statistische Daten belegen, dass Frauen, in Osterreich und in anderen in den Ersten Weltkrieg involvierten Staaten, viele männliche Arbeitsstellen besetzten und dass das einen bedeutenden Beitrag zur heimischen Wirtschaft darstellte und nach und nach sogar zu einer Pflicht der Frauen wurde. 113 Popp, Adelheid: Jugend einer Arbeiterin. Bonn: J. H. W. Dietz Verlag 1991, S. 60



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führenden Organ der sozialdemokratischen Frauenbewegung in Österreich, beginnt sie, für die Verbesserung der Frauenarbeitskonditionen, d. h. die Verkürzung der Arbeitszeit und die Erhöhung des Arbeitslohns, zu kämpfen. Am Ende des Krieges wurde ein großer Teil der direkt in der Kriegswirtschaft engagierten Frauen entlassen. So machte nicht nur die Not der Zwischenkriegszeit, sondern auch der Wunsch nach nicht nur rein häuslicher Betätigung vielen neu ins Erwerbsleben getretenen Frauen den Rückzug an den „heimischen Herd" sehr schwer. Einen deutlichen Zuwachs an weiblichen Erwerbstätigen verbuchten jedoch jene Berufszweige, in denen das gesellschaftlich vorherrschende Bild der Frau als der fürsorgenden, einfühlsamen und wirtschaftlich begabten Hausfrau und Mutter am ehesten über die Familiengrenzen hinaus verstärkt werden konnte. Nachdem die Frauen nun einmal in die Arbeitswelt eingetreten waren, konzentrierten sie sich vorerst auf die Textil- und die Lebensmittelbranche sowie auf das Gastund Schankgewerbe." 4 Die bedeutende Zunahme des Frauenanteils in Berufszweigen des tertiären Sektors hatte ihre Ursachen einerseits in einem generellen Anwachsen dieses Wirtschaftsbereiches, andererseits im höheren Sozialprestige, das dieser im Gegensatz zur Fabriksarbeit bot. Es erwies sich auch, dass Berufe, die als traditionelle Frauendomänen betrachtet wurden, wie die Arbeit im Haus (sowohl als Hausangestellte als auch als Heimarbeiterin), dies auch in der Ersten Republik blieben. Besonders in wirtschaftlichen Krisenzeiten griffen arbeitslose Frauen auf diese Erwerbsmöglichkeiten zurück und nahmen dadurch für eine nur minimale Entlohnung weitgehende persönliche Abhängigkeit in Kauf. Die wohl am schlechtesten bezahlte und gewerkschaftlich am wenigsten kontrollierbare Frauenarbeit war die Heimarbeit. Trotzdem wollte vor allem die bürgerliche Schicht die außerhäusliche Erwerbsarbeit von verheirateten Frauen nicht gutheißen. Die Sozialdemokraten erkannten hingegen die wirtschaftliche Notwendigkeit der Frauenarbeit; ihr Bestreben richtete sich nicht, wie das der Konservativen, auf Rückführung der Frauen in die Hauswirtschaft, sondern auf Arbeiterinnenschutz, gerechte Entlohnung und bessere berufliche Qualifikation der Frau. Obwohl diese Uberzeugungen und Behauptungen der Sozialdemokraten von bürgerlichen Kreisen durchaus anerkannt wurden, blieb das bürgerliche Frauenideal das der Hausfrau und Mutter.

114 Rigler, Edith: Frauenleitbild und Frauenarbeit in Österreich vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Hrsg. von A. Hoffmann. Band 8. Wien: Verlag für

Geschichte und Politik 1976, S. I28f.

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„ D i e Frau [ist] schließlich dazu bestimmt, sich als Ehefrau und Mutter um die Familie zu kümmern." ,IS

In den Jahren der Weltwirtschaftskrise (1928-1929) wurde die so genannte „Bestimmung" der Frau als Argument für rigorose gesetzliche Maßnahmen gegen Frauenarbeit missbraucht. Betroffen waren in erster Linie verheiratete berufstätige Frauen, die man als unliebsame Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt betrachtete. „Die Arbeiterfrauen waren durch den Krieg aus der bis dahin auch für sie üblichen Hausfrauenfunktion emanzipiert worden. G e z w u n g e n , ihre Familien allein zu ernähren, mußten viele in die Fabriken. Sie hatten Antihungerdemonstrationen organisiert, sich an Plünderungen voller Schaufenster beteiligt. Sie hatten lernen müssen, sich mit Unternehmern herumzuschlagen, sei es um den Lohn, sei es um die Höhe der Mieten in den unternehmereigenen Wohnungen. Sie hatten traditionelles Männerterrain erobert und entsprechend traten sie auf. Sie waren unheimlich. Unheimlich selbst den eigenen Männern, scheint es."" 6

Wenn es die selbstverständliche Pflicht der Frauen war, in Kriegszeiten die Männer in der Wirtschaft zu ersetzen, galt wenige Jahre später Erwerbsarbeit bereits als dem Wesen der Frau widersprechend. Dieses Festlegen und Zuweisen von Rollenbildern kann aber auch problemlos in die andere Richtung eingesetzt werden. Die Ideologie des Nationalsozialismus sollte die Aufgaben der Frau zuerst auf die biologische Funktion des Gebärens reduzieren und sie darauf festlegen, um die Frauen wenig später mit demselben ideologischen Pathos zur Pflichterfüllung in die heimische Kriegsindustrie zu rufen." 7 Der weibliche Beitrag zum Wohl der Gesellschaft ist nicht nur in der Wirtschaft sichtbar, sondern auch im karitativen Engagement von Frauen. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, als es notwendig war, Lebensmittel und Kleider für die Bevölkerung zu sammeln, organisierten viele katholische Frauenorganisationen Basare und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Die besondere Fürsorge der Frauen galt den Kindern. Auch Eugenie Schwarzwald gründete 1916 die Organisation Wiener Kinder aufs Land, wobei die Stadtkinder Ferien auf den Bauern-

115 Dimovic, Larissa: Das Motiv des Ehebruchs im Werk von Arthur Schnitzler. Wien: Diplomarbeit 2001, S. 4 116 Theweleit, Klaus: Männerphantasien. Frankfurt am Main: Piper 2000, S. 151 117 Kinigadner, Agnes: Tiroler Anzeiger-Volkszeitung und die Situation der Frau im Tirol in der Zwischenkriegszeit. Innsbruck: Diplomarbeit 1988, S. iogf.



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höfen in Österreich verbringen konnten. Diese Ferienheime f ü r Kinder (und auch Erwachsene) waren damals, d. h. vor dem Ersten Weltkrieg, Sommerhäuser, die viele Wiener Familien im Krieg hatten leer stehen lassen." 8 Rund hundert Mädchen und Buben fanden jährlich in den 1920 von Ada von Fenner gegründeten Ferienkolonien Erholung und Pflege. Unterernährte Kinder wurden in der Schweiz aufgenommen oder hatten durch die Hilfe einiger Organisationen die Möglichkeit, die Sommerferien in Holland zu verbringen. In diesen von Amerikanern, Schweizern und Holländern finanzierten Organisationen fanden regelmäßig auch Lehrgänge für Frauen statt, die in erster Linie zur Weiterbildung von Hausgehilfinnen in der Stadt und weiblichen Dienstboten auf dem Land gedacht waren, aber auch Frauen des verarmten Mittelstandes die nötigen Kenntnisse für Heimarbeit vermitteln sollten. Diese karitative Tätigkeit wurde allerdings von vielen Frauen kritisiert, die darin nichts als eine Fortsetzung der traditionellen Rolle der Frau sahen." 9 Neben katholischen gab es auch einige sozialdemokratische Frauenorganisationen. Agnes Kinigadner schreibt in diesem Zusammenhang: „Mit der Gründung der Wohlfahrtseinrichtung .Hilfsbereitschaft' im Jahr 1925 erhalten die Sozialdemokraten ein Äquivalent zur christlichen Caritas, die sozialdemokratischen Frauen ein neues Aufgabenfeld. Bis 1930 wächst die Organisation so, daß in Härig, Kufstein, Wörgl und Kitzbühel Außenstellen errichtet wurden."120 Erstere halfen dem verarmten Mittelstand, zweitere konzentrierten sich auf das Proletariat und die Arbeitslosen. Nicht nur Weihnachtsbescherungen oder Sammelaktionen wurden von beiden Gruppen organisiert, sondern auch Vortragszyklen über speziell weibliche Themen, wo „Mädchen und Frauen kostenlos der Weg zur geistigen und seelischen Ausbildung und Vervollkommnung der im weiblichen Geschlecht schlummernden Kräfte von fachmännischer Hand gezeigt wurde".121 Der geltenden Anschauung nach spezifisch weibliche Themen, wie Anatomie und Physiologie des weiblichen Körpers, standen im Mittelpunkt dieser Vorträge. Die Popularität dieser Vorlesungen wurde in Wiener sozialistischen Frauenzeitungen

118 Herrberg, Heike/Wagner, Heidi: Wiener Melange. Frauen zwischen Salon und Kaffeehaus. Berlin: Edition Ebersbach 2002, S. 62 119 Kinigadner, Agnes: Tiroler Anzeiger-Volkszeitung und die Situation der Frau im Tirol der Zwischenkriegszeit. Innsbruck: Diplomarbeit 1988, S. i7f. 120 Ebda., S. 25 121 Ebda., S. I7f.

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wie Die neue Frau, Die Unzufriedene oder Die Arbeiterinnen-Zeitung immer wieder betont. Engagierte Frauen kämpften auch gegen den übermächtigen Einfluss der politischen Parteien auf die Presse, da sie erleben mussten, dass die politischen Parteien sich nur selten um die alltäglichen Probleme der notleidenden Bevölkerung kümmerten. Obwohl es in der Gesellschaft eine große Gruppe von Leuten - vor allem Frauen — gab, die Desinteresse an der Politik bekundete, muss man feststellen, dass die von Frauen gegründeten politischen, karitativen Organisationen zur Verbesserung der Lebensqualität der sozial schwächeren Gruppen — wie Kinder und Arbeitslosen — beigetragen haben. Neben der Rolle der aktiven und tätigen Frau in der Arbeitswelt gab es auch die Figur der Frau, die nur mit ihrer Familie beschäftigt geblieben war. Auch die Hausarbeit erfuhr viele Innovationen, wie die Entwicklung von Hilfsmitteln 111 für den Haushalt und eine Umstrukturierung des häuslichen Raumes. Die Raumaufteilung sollte nicht repräsentativ, sondern praktisch sein, den Alltagsbedürfnissen einer modernen Familie entsprechen und der Hausfrau Arbeiten und Wege sparen.12' Selbstbewusst, materiell unabhängig, gepflegt, sportlich und sexuell befreit kämpfte die Frau, stolz auf die Erreichung des Wahlrechts und die Reform des Eherechts, um die Streichung des Paragraphen 144 des österreichischen Strafrechts (Schwangerschaftsabbruch), der nur finanziell sehr gut gestellten Frauen unter medizinisch einwandfreien Bedingungen abzutreiben ermöglichte — die ärmeren Frauen hingegen waren gezwungen, zur so genannten „Engelmacherin" zu gehen. Die Lage der Frau in der Zwischenkriegszeit war in der Stadt und auf dem Land sehr verschieden. In der Stadt wurde die Kleinfamilie als Ideal betrachtet, auf dem Land hingegen gab es nach wie vor große Familien. Später, in der nationalsozialistischen Zeit, wurde die Eingliederung der Frau in die Arbeitswelt, die schon in der Schlussphase der Monarchie begonnen hatte, verstärkt.124 122 Ebda., S. 238. Neuartige technische Geräte sollten die Hausarbeit erleichtern, etwa der Gas-, später auch der Elektroherd, das Bügeleisen, das ab Mitte der zwanziger Jahre mit einer Temperaturregulierung versehen war, der Staubsauger und die elektrische Küchenmaschine - später auch der Kühlschrank. 123 Ebda., S. 90. Die in diesem Sinne veränderten Wohnungsgrundrisse rückten die Küche aus dem Randbereich ins funktionelle Zentrum der Wohnung. Ein Beispiel ist die „Frankfurter Küche" von Margarete Schütte-Lihotzky, bei der jeder Zentimeter durch Schrankraum und ähnliches genutzt war. Beispielsweise verfügte ihre Arbeitsplatte über einen Einwurfschlitz unter dem eine Emailleschublade angebracht war, um Abfalle während der Arbeit aufzunehmen. 124 Kraus behauptet, daß „die bequeme Lässigkeit, die genußfrohe Gedankenlosigkeit" der Kriegszeit vorbei sind und dass „jeder Standesunterschied aufgehoben war". Das bedeu-

Wien in der Zwischenkriegszeit Die Durchschnittsfrau hatte wenig mit der Frau gemeinsam, die im Kino oder im Theater vorgestellt wurde. Frauen wie Maria Jeritza oder Marte Harell waren Verkörperungen einer idealen Frau, die keine alltäglichen Sorgen hatte und deren Rolle die Ablenkung von den Unsicherheiten des Alltags war. Kino und Radio wurden mehr und mehr zur Möglichkeit, ein schwieriges Leben zu vergessen, wenn auch nur für kurze Zeit. Dieses Vergessenwollen, dieses Verschleiern war eines der konstituierenden Kennzeichen Österreichs. Schon im Biedermeier und auch am Ende des 19. Jahrhunderts versuchte man durch Operette und Tanz den Niedergang der Monarchie zu verschleiern.125 N e ben imaginierten emanzipierten Frauen im Film stand die noch nicht gleichberechtigte Frau des Alltags, der der Z u g a n g zu bestimmten Sportarten praktisch unmöglich war und deren einzige Gelegenheit für eine ästhetische Veränderung die Mode war. Die früher erwähnte E a von Allesch hatte in ihrer intensiven Tätigkeit als G e sellschaftsreporterin die Mode als Seismographen der weiblichen sozialen Veränderungen gewählt. So schreibt sie 1921 in der Prager Presse: „Der Rock ist wie die Kette am Fuße des Sklaven und gehört nicht mehr in unsere Zeit, da die Frau in den Straßen zu rennen und zu jagen hat, und in Bureaus und in Fabriken arbeiten muß." 126

Der Bubikopf und die Hosen waren die Kennzeichen der emanzipierten Frau, die mit ihren „veilchenblauen Augen" (Zitat aus dem Artikel in der Illustrierten

tet, dass auch die Frau viele männliche Arbeiten machen kann. „Auch werden wohl alle deutschen Frauen und Mädchen, die in Kriegszeiten innegehabten Stellen um so lieber den heimkehrenden Helden wieder überlassen, als dieselben ihnen für die Beschützung des deutschen Vaterlandes ... verpflichtet sind." (Vgl. Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, S. 42/43/390) 125 Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit. München: Kösel Verlag 1957, S. 541. In der Kaiserzeit war man „gezwungen aufzustehen oder sein Haupt zu entblößen, wenn es dem blödgemachten Volke gefiel, einem seiner Gut- und Blutegel zu huldigen, einen dieser Dummköpfe hochleben zu lassen, die auch während einer Isonzoschlacht ihren Orgien und Bubenstreichen nicht entsagen konnten"; - „[...] die unlösbar mit der dunstigen Vorstellung eines Animierlokals verknüpft bleibt, wo es plötzlich allerhöchst hergeht, zwischen den Gassenhauern der Liebe das Vaterland in seine Rechte tritt und, da die geweihten Melodien einer verblichenen Glorie schon durch die kriegerische Gegenwart entehrt sind, die nur hier Büffetdamen, Diebe und [...]" 126 Herrberg, Heike/Wagner, Heidi: Wiener Melange. Frauen zwischen Salon und Kaffeehaus. Berlin: Edition Ebersbach 2002, S. 123

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Kronenzeitung vom 21. 7.1931) „kein Püppchen mehr zum Spiel" (Zitat aus dem Artikel in der Wochenschrift Die Unzufriedene vom 28. 6.1939) war. Die Mode als Frauenangelegenheit, die die Ereignisse der Emanzipation zeigen wollte, findet in der innovativen Tätigkeit von Modekünstlern wie dem Wiener Wimmer oder dem Franzosen Poiret ihre beste Verwirklichung. Die in den modern eingerichteten Werkstätten produzierten Kleiderkollektionen — wie die 1912 in der Galerie der Mode in Berlin - waren deutliche Impulse für die neue Frau mit dem Modestil der zwanziger Jahre ihre Emanzipation zu demonstrieren. Es war ein schlichter, funktioneller und schmuckloser Stil — Gar^onne-Stil —, der eine knabenhaft schlanke, schmalschultrige, flachbusige, schmalhüftige und langbeinige Idealfigur propagierte. Wie man auch in dem Roman von Vicki Baum Die Karriere der Doris Hart (1936) lesen kann, ist die Frau der zwanziger Jahre so dargestellt: „[Die Frauen] hatten hohe schöne Beine — aber das hatten alle Frauen, seit die Beine in Mode gekommen waren."127

Zur Garderobe einer Dame dieser Zeit gehörten das Lauf-, das Straßen- und das Trotteurkleid, das Mantelkleid, die Nachmittagskleider für Tee und den Tanz, die Abendkleider und die Sportkleidung. Der Schnitt dieser Kleider war sackartig, einfach und schmal. Fast alle Kleider hatten ein loses, gerade geschnittenes, hüftlanges Oberteil, mit einem geraden, glockigen, „plissierten" (in Falten gelegten), angesetzten Rock, der kaum die Knie bedeckte. 1926 wurden solche Kostüme geschaffen: Die Jacke, die mit der des Herrenanzuges vergleichbar war, wurde mit einer Bluse und einem ,,longette[n]" Rock getragen. Sehr elegant und „en vogue" war der Pelzmantel"8, der sofort ein Statussymbol wurde.129 Da sich nur wenige 127 Baum, Vicky: Die Karriere der Doris Hart. Stuttgart: Stuttgarter Hausbücherei 1936, S. 7°

128 Es ist hier die Assoziation dieses weiblichen Accessoires, des Pelzes, der das literarische Kennzeichen der emanzipierten Weiblichkeit wird, sehr interessant. Die Frau im Pelz ist eine echte „Domina" wie Wanda, die weibliche Hauptfigur des Romans Venus im Pelz (1869) von Leopold Sacher-Masoch, die ihre schöne Weiblichkeit mit Pelz, Stiefeln und Peitsche zeigt. Die Mode ist bei Masoch Mittel, um die emanzipierte, kraftvolle und gefahrlich tierische Rolle der Frau zu betonen. Er schreibt im Roman S. 45: „[...] und so erkläre ich mir auch die symbolische Bedeutung, welche der Pelz als Attribut der Macht und Schönheit bekam. [...] Und dieses Weib, dieses seltsame Ideal aus der Ästhetik des Häßlichen, die Seele eines Nero im Leibe einer Phryne, kann ich mir nicht ohne Pelz denken." 129 Dieses Attribut der neuen Frau, die in sich noch die alte gefährliche und verführerische

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Frauen den Luxus eines Pelzmantels leisten konnten, begannen die Stylisten, Imitationen zu produzieren. Die Garderobe der Dame war mit einer geeigneten Kopfbedeckung komplettiert. Die Hüte waren schmal und klein, umschlossen eng den Kopf, und wurden vielfach tief ins Gesicht gezogen getragen. „Sie trug ein graues Schneiderkleid aus Gabardine und eine Gardenie im Knopfloch. Ein winziger Hut aus kleinen perlmutterfarbenen Federn umschloß ihren Kopf so dicht, daß kein Haar zu sehen war." IJO

Die berühmteste Fasson war neben dem Turban die Cloche oder das Samtbarett. Im Sommer waren Stroh- und Filzhüte sehr populär. Ein bedeutungsvolles Beispiel ist der Florentiner Strohhut, mit dem Leopoldine aus Schnitzlers Novelle Spiel im Morgengrauen (1926) ihre Weiblichkeit demonstriert (vgl. S. 121). Die Mode der zwanziger Jahre ist durch eine Maskulinisierung der Damenmode gekennzeichnet. Die einstige starke Polarität zwischen M a n n und Frau wird durch die Kleidung der Frauen überwunden. Das Phänomen wird auch in M u sils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/33) thematisiert, wobei sich Ulrich und Agathe bei ihrem Wiedersehen in Ulrichs Wohnung in fast identischer Bekleidung — einem Pyjama, der an ein Pierrot-Kostüm erinnert — begegnen. 1 ' 1 Die Einfachheit, die Bequemlichkeit und die Funktionalität, die die drei wichtigsten Merkmale der Damenmode der Zwischenkriegszeit sind, entsprechen auch den Kennzeichen der Architektur Adolf Loos', der „Herr der Einfachheit und der Funktionalität" genannt wurde. 13 *

Natur der Femme fatale der Jahrhundertwende trägt, ist auch das Symbol für eine höhere Position. So Sacher-Masoch in Venus im Pelz, S. 45: „In diesem Sinne nahmen ihn in früheren Zeiten Monarchen und ein gebietender Adel durch Kleiderordungen ausschließlich für sich in Anspruch und große Maler für die Königinnen der Schönheit. So fand ein Raphael für die göttlichen Formen der Fariña, Tizian für den rosigen Leib seiner Geliebten keinen köstlicheren Rahmen als dunklen Pelz." 130 Ebda., S. 319 131 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. von Adolf Frisé. Hamburg: Rowohlt 1995, S. 676. Ulrich „fand sich durch geheime Anordnung des Zufalls einem großen, blonden, in zarte graue und rostbraune Streifen und Würfel gehüllten Pierrot gegenüber, der auf den ersten Blick ganz ähnlich aussah wie er selbst". 132 Hilde Spiel zitiert in Glanz und Untergang (S. 75) den englischen Kunstkritiker John Rüssel, der 1962 ausführte: „Seine Vorlesungen waren so populär, daß er den größten Konzertsaal Wiens füllte. Er erklärte uns, wie falsch es sei, auf Stühlen zu sitzen, die nie fürs Sitzen gedacht waren, und zeigte uns einen englischen Stuhl, der nicht nur unser Gewicht trug, sondern auch das Rückgrat entspannte und uns Raum ließ zum Strecken

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Im Jahr 1908 erschien Ornament und Verbrechen, wobei Loos im Essay Das Luxusfuhrwerk seine sparsame Innenausstattung und Einrichtung des Café Museum aus dem Jahr 1899 beschrieb. Seine Uberzeugung der Nutzlosigkeit des Ornaments zeigte er mit der Einrichtung der eleganten „American Bar" von 1908. Holz und Marmor in ihrer natürlichen Maserung beherrschten das Design. Er kritisierte die „Fassaden" Wiens, mit denen er nicht nur die Fassaden der Ringstraßengebäude meinte, sondern auch Leute, die ein Doppelleben führen. Die Reaktion von Loos auf diesen Stil war der Bau des modernen Gebäudes am Michaelerplatz. Dieser dreistöckige Bau wurde von der Wiener Bevölkerung als Beschimpfung und Beleidigung der Tradition und der Vergangenheit betrachtet. „ I m ersten Augenblick machen diese glattgefegten Fassaden einen unerträglich unfertigen, nackten E i n d r u c k . " 1 "

Die mildeste Form der Beschimpfung dieses Eckhauses war noch der Spottname „Haus ohne Augenbrauen", da seine Fenster keine Umrahmungen hatten. Das „Haus ohne Augenbrauen" ist Loos' bestes Beispiel für die Proklamation der Abdankung des Ornaments, die in Loos' Augen als ökonomisches Sparen zu betrachten war. „ D a g e g e n habe das Fehlen des O r n a m e n t s [...] eine V e r k ü r z u n g der Arbeitszeit und eine Erhöhung des Lohnes zur Folge. [...] Ornamentlosigkeit erscheint hier i m Sinne einer kapitalistischen Rationalisierungsmaßnahme, einer Produktions- oder Lohnkostensenkung."" 4

Die Aufmerksamkeit der Kunst Loos' konzentriert sich auf die reine Funktionalität des Kunstgegenstandes, der bei Loos je einfacher und kleiner, desto schöner ist. Auch in Loos' Definition des Begriffs „Ornament" liest man: „Wenn ein Gebrauchsgegenstand in erster Linie nach ästhetischen Gesichtspunkten geschaffen wird, ist er ein Ornament, mag er auch noch so glatt sein." 1 ' 5 der Beine." Tatsächlich predigte Loos überdies die englische Art. „Für ihn", fügte Rüssel hinzu, „war England alles. Damals war übrigens ganz Wien, oder wenigstens mein Wien, in England verliebt". 133 Gombrich, Ernst: Die Geschichte der Kunst. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1997, S. 559

134 Roth, Fedor: Adolf Loos und die idee des Ökonomischen. Wien: Deuticke Verlag 1995, S. 53

135 Ebda., S. 60

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Minimale, funktionale, sparsame, aber auch ästhetisch schöne und künstlich attraktive Gegenstände charakterisieren nicht nur die Kunst Leos', sondern auch die weibliche Gestalt in der Literatur der Zwischenkriegszeit. Loos' Reduktion der Kunst zu ihrer ursprünglichen, einfachen Zweckform erinnert an die Tendenz vieler Intellektueller dieser Zeit, wie z. B. Möbius, Weininger oder Freud, die Frau auf ihre ursprüngliche Natur zu reduzieren. Die Funktion der Frau als Weib, d. h. als sexueller, reproduktiver Organismus oder, besser gesagt, als reines Geschlecht, entspricht der architektonischen Vision Loos'. Auch Loos' Triade Kunst/Funktionalität/Okonomie stimmt mit der Triade Frau/Schönheit/Handelsware überein. Schon Schnitzler hat diese Meinung in der Darstellung Elses reproduziert, indem er Else zu einem Kunstobjekt reduziert. Dorsday funktionalisert ihre Schönheit, erniedrigt sie zu ihrer minimalen Zweckform. Sie muss ganz nackt vor ihm stehen, so dass er ihre körperliche Schönheit genießen kann. In dieser minimalen Darstellung der Schönheit Elses versteckt sich auch die erotische Funktion der Kunst. „Ornamentlosigkeit, das bloße Material, verbindet sich bei Loos nicht nur mit der optischen Sinnlichkeit des Glatten, sondern auch mit der Symbolik des Nackten — und dies wohl durchaus in seiner erotischen Bedeutung."156

Fedor Roth erwähnt auch einige Künstler, die die glatte und nackte architektonische Struktur mit der weiblichen Körperlichkeit assoziieren. „Richard Schaukai zum Beispiel verglich die schmucklose Putzfassade der vier oberen Geschosse [des Loos-Hauses] mit der Nacktheit eines Oberkörpers und die marmorverkleideten Sockelgeschosse mit dem bis auf die Hüften herabgesunkenen Gewand. Die ornamentlose Architektur wurde in der zeitgeschichtlichen Rezeption also als sublimes Symbol eines hocherotischen Augenblicks verstanden."1'7

Der Ornamentlosigkeit der Kunst, die metaphorisch mit der weiblichen Nacktheit Elses übereinstimmt, entspricht nicht nur die Zeittendenz der erreichten Freikörperkultur der Frau oder einer „Entblößung, die nicht nur die Bloßstellung dieser Gesellschaft, die diese Bloßstellung von ihr uneingestanden verlangt", sondern auch der Versuch Elses, ihrem Vater ein „entbehrungsreiches" Leben im Gefängnis zu „ersparen". Dieser Prozess weckt aber gleichzeitig die erotischen Triebwünsche Dorsdays. 136 Ebda., S. 70 137 Ebda., S. 71

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Diese metaphorisch-literarische Interpretation des Kunstprojekts Loos' als eine ästhetisch-ökonomische Verweiblichung hat die „funktionale" Rolle der Frau wieder betont. Die Frau spielt nur eine von Männern determinierte Imaginationsrolle: die eines Handels- und Triebobjekts. Das Weibliche hat im Bereich der Kunst eine „auffällige und offensichtliche Rolle" gespielt, allerdings nur in der Fiktion, als „Ergebnis des Phantasierens, des Imaginierens", denn die reale Frau war „die Sklavin eines jeden beliebigen Jungen, dessen Eltern ihr einen Ehering auf den Finger zwangen". 1 ' 8 Kurz: die Frau ist noch Eigentum des Mannes, obwohl die Gesellschaft schriftlich die Unabhängigkeit der Frau vom Mann kraft Gesetze proklamiert hatte. Die imaginierte Frau erscheint hingegen als ein vom Künstler gebildetes Artefakt, das der Künstler arrangiert und formt, um seinen Phantasien einen Körper zu geben. In diesem Sinn wird die Frau vom Künstler instrumentalisiert. Das ist besonders in der Malerei offensichtlich, die sich mit lebenden Modellen beschäftigt, wobei die Grenze zwischen Kunstgegenstand und lebendigem Wesen deutlich verwischt ist.139 Die Selbstdarstellung der Frau als eigenständige Persönlichkeit wird allerdings nicht berücksichtigt, vielmehr wird sie oft in einen mythologischen oder symbolischen Rahmen hineingezwängt und den Vorstellungen des Künstlers entsprechend transformiert. Interessant ist dabei noch die Selbstverständlichkeit und Problemlosigkeit, mit der solche Darstellungen der Frau als männliche Projektionen erfolgten. Die Frauen taten vielfach noch ein Übriges und versuchten, sich den männlichen Idealen anzupassen, um den Bildern der männlichen Phantasie so gut wie möglich zu entsprechen. D a f ü r fehlt in der künstlerischen Projektion die „reale Frau", das heißt das, was die Frau wirklich als Frau ist, denn so verkörpert sie nur ein erotisches Prinzip, ein gewünschtes Modell des Künstlers, einen manchmal unbegreiflichen Geist, der von der Imagination des Mannes geschaffen wird. In jeder Form der Kunst wird die reale Frau, die weibliche Gestalt der Geschichte, jeden Tag durch Kunstfiguren und Imaginationen ersetzt. So geschieht es auch im ausgeprägten Schauspielerinnenkult der zwanziger und dreißiger Jahre. Die Opernsängerinnen Maria Jeritza und Lotte Lehmann, die die internationale Bühnenszene revolutionierten, sind Beispiele einer neuen theatralischen Kunstkultur, die „nicht Töne, sondern Gebärden, nicht Phrasen, sondern Emp-

138 Ebda., S. 11 139 In dem Bild Gustave Moreaus Tätowierte Salome (1874) fungiert die Frau nicht allein als „Container" des Todes, sondern wird auch zur Projektionsfläche verdrängter Sexualität. Die Verbindung von Erotik und Tod im Typus der Femme fatale verortet beide im Spannungsfeld zwischen Faszination und Bedrohung.

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findungen, die mit einer Intensität, die bisweilen zu Tränen rührt, auf die Bühne brachten".' 40 Auch die Tänzerinnen Gertrud Bodenwieser, Hilde Hogar und Grete Wiesenthal „wollen die ganze Skala der Gefühle mit allen Schattierungen und Nuancen, von den zartesten Sehnsüchten der Seele bis zu elementarer Leidenschaft" 14 ', und die Schauspielerin Ida Roland, die ab 1923 Star am Burgtheater war und androgyne Charaktere statt klassischer Heroinen zu spielen bevorzugte, „spielte, fast wie Derwische tanzen, in halber Trance — zugleich Medium und Hypnotiseur ihres Publikums". 141 Alle diese Künstlerinnen waren Symbol für eine ungreifbare, traumhafte und imaginäre Weiblichkeit für die Alltagsfrauen. Die Worte von Ida Rolands Ehemann, Dr. Richard Graf Coudenhove-Kalergi: „Wenn sie [Ida Roland] auftrat, war es, w i e w e n n ein Licht aufging, u n d niemand konnte sich ihrer suggestiven K r a f t entziehen", 143

entsprechen dem Gefühl der Verzauberung und Faszination, die solche Frauen auf das Publikum ausübten. Ida Rolands Ehemann betont nicht nur diese Bühnenfaszination, sondern auch die Kraft der neuen Frau. Die perfekte Harmonisierung von alten, traditionellen weiblichen Eigenschaften wie Zartheit, Naivität und Schönheit mit modernen Merkmalen wie Determination und Kraft bilden den Weiblichkeitsbegriff. Denn diese verehrten, ja fast schon vergötterten Wesen ließen in ihrer Wandlungsfähigkeit all jene Figuren lebendig werden, die die Phantasie der Männer geschaffen hatte. In diesem Zusammenhang ist der Brief Hofmannsthals über Eleonora Duse zu sehen, in dem er seine Vorstellung von dieser Frau betont. „Ihr Bild ist seither unaufhörlich, wie der Z w a n g einer Suggestion." 1 4 4

Diese Aussagen zeigen, dass Hofmannsthal die Frau nur als Leidenschaft, Natur, Geschlecht betrachtet (vgl. Weininger); deshalb ist sie auch keine gute Schauspielerin, denn sie ist unfähig, die Ideen von Männern zu realisieren.

140 Herrberger, Heike/Wagner, Heidi: Wiener Melange. Frauen zwischen Salon und Kaffeehaus. Berlin: Edition Ebersbach 2002, S. 190 141 Ebda., S. 71 142 Ebda., S. 205 143 Ebda., S. 205 144 Hofmannsthal, Hugo von: Eleonora Duse. Die Legende einer Wiener Woche. In: Gotthart Wunberg, Die Wiener Moderne. Stuttgart: Reclam Verlag 1981, S. 623

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Anders als Hofmannsthal thematisieren Schnitzler und der englische Dramatiker Shaw 1 4 5 die Tatsache, dass die Frau das Geschöpf des Mannes spielen soll, denn sie ist die lebendige Imagination des Künstlers, und daher hat sie keine oder jede Individualität. W i e auch Virginia W o o l f 1928 in ihrer Vorlesung in C a m bridge behauptete, existiert und lebt die Frau nur im Kopf des Künstlers; nur an diesem O r t hat sie eine Persönlichkeit; außerhalb des Kopfes des Künstlers hat die Frau keinen Wert.' 4 6 A u s der männlichen Perspektive Schnitzlers sind es zwei Faktoren, die dem Künstler die Verwandlung der lebendigen Frau in eine Kunstfigur erlauben: die Sprache und die Topographie. Beide betonen die Spaltung und die Gegenüberstellung der Geschlechter, denn die entsprechen zwei sich ergänzenden, wenn auch verschiedenen Persönlichkeiten. 147 Das erste Element, die Sprache, wurde von Hedwig Appelt analysiert.'48 Sie zeigt die Existenz von zwei Sprachen auf: der weiblichen und der männlichen. Während die erste die Sprache der Natur, der Seele und des Instinkts ist, ist die zweite die Sprache der Vernunft, der Kultur und des Kopfs (vgl. das Gespräch zwischen Else und Herrn von Dorsday, S. 8off.). Das zweite Element, der Hintergrund der Kunstdarstellung, wird von Sigrid Weigel in ihrem Buch Topographien der Geschlechter behandelt. Sie spricht über die Stadt und das Dorf als zwei mögliche künstliche Orte, die viele Ähnlichkeiten mit der Persönlichkeit der Frau und des Mannes haben.

145 Er ist Autor des Theaterstücks Pygmalion (1912), das im vierten Kapitel dieser Arbeit thematisiert wird, wobei die weibliche Gestalt von Elizabeth Dolittle durch eine philologische Arbeit Professor Higgins' „geschaffen" wird. Sie wird eine echte Dame der Londoner Gesellschaft, aber in den Augen Higgins' bleibt sie von Anfang an nur ein „Fall". 146 Die Tatsache, dass die Existenz der Frau einen Wert nur in der männlichen Vorstellung, nur als Bild eines Spiels hat und dass sie bedeutungslos ist, wenn sie eine eigene Existenz zu führen versucht, entspricht dem, was Schnitzler in der Schlussszene der Erzählung Fräulein Else dargestellt hat. Obwohl Else sich aus dem Spiel Dorsdays zu befreien versucht, bleibt sie ein Opfer des männlichen Systems, und möglicherweise wird sie auch deswegen sterben, wie sie selbst behauptet: „Ich habe Veronal getrunken. Ich werde sterben." (S. 156) 147 Vgl. Luce Bonnerot: The saying of Virginia Woolf. Eastbourne: Duckworth 2002, S. 36. „In every human being a vacillation to one sex to the other takes place, and often it is only the clothes that keep the male or female likeness, while underneath the sex is the very opposite of what it is above." Und weiter in Virginia Woolfs A room of one's own. London: Penguin 2002, S. 96. „[...] It is natural for sexes to cooperate. One has a profound, if irrational, instinct in favour of the theory that the union of a man and a woman makes for the greatest satisfaction, the most complete happiness." 148 Appelt, Hedwig: Die leibhaftige Literatur: das Phantasma und die Präsenz der Frau in der Schrift. Weinheim: Quadriga Verlag 1989, S. 13



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Weigel setzt die Frau mit dem Dorf gleich, denn die Frau in ihrer Sexualität spiegelt die Kraft der Natur wider. Die Frau lebt, wie man auf dem Land lebt, das heißt in einem seelischen und geistigen Kontakt mit der Natur, der auch physisch ist; ein Kontakt, der keine Regeln kennt, wenn nicht die des Herzens (vgl. die Darstellung Grigias in Musils Erzählung S. 227 oder Schnitzlers Therese S. 48fr.). Weiters behauptet Weigel, dass man viele Ähnlichkeiten zwischen der Stadt und der männlichen Persönlichkeit bemerken kann. Die Stadt als Ort der Ordnung, der Technologie und der Modernität stellt das „vernünftige" Verhältnis des Mannes zur Welt dar (vgl. Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und darin besonders die Beschreibung des Lebens in Kakanien). Die Stadt ist auch das Bild der Technologie. Vor allem am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts erfuhr Wien eine innovative und rasche architektonische Veränderung in seiner Struktur, die das Ergebnis der Industrialisierung und der Modernisierung war. Dieser Fortschritt erlaubte auch eine gesellschaftliche Verbesserung des Lebens von einem ökonomischen und sanitär-hygienischen Gesichtspunkt aus. Diese Faktoren gelten nicht als weibliche Eigenschaften, sondern als männliche, denn sie haben mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen zu tun. Sprache und Topographie der Geschlechter sind die zwei Faktoren, die eine wichtige Rolle in verschiedenen literarischen Werken der Zwischenkriegszeit spielen. Aber auch das Thema der Beziehung zwischen den Geschlechtern als Spannungsverhältnis, wobei es dem Mann zumeist schwerfiel, die Frau als ein ihm ebenbürtiges und gleichberechtigtes Individuum zu erkennen, wird in der Literatur dieser Zeit thematisiert. Der Wunsch nach der Entdeckung der sexuellen Welt der Frau und des Mannes war groß, aber engstirniges Denken der Gesellschaft behinderte dieses Interesse. Die Sexualität war kein öffentliches Thema, und die Möglichkeiten, über dieses Thema frei zu sprechen, blieben gering. Man musste auf die Zeit nach dem Krieg warten, als die habsburgische Monarchie durch eine liberale und tolerantere Demokratie ersetzt wurde. Das engstirnige, fast bigotte Denken der Zeit um die Jahrhundertwende bewirkte eine Beziehung der Geschlechter, die als verkrampft, gehemmt und unnatürlich bezeichnet werden kann. Liebesbeziehungen wurden nicht natürlich er- bzw. ausgelebt, sondern erschöpften sich in einem ritualisierten Balzspiel von Verlockung, Verlangen, theoretischer Neugierde und Beibehaltung einer „schicklichen" Distanz. Gleichzeitig aber ermöglichten das verstärkte Interesse für die Psyche des Individuums, die entstehende Psychoanalyse wie auch Fortschritte auf dem Gebiet der Humanmedizin eine Vertiefung der Kenntnisse speziell der weiblichen Psyche und des weiblichen Körpers.

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„Sex and its nature might well attract doctors and biologists; but what was surprising and difficult of explanation was the fact that sex - women, that is to say - also attracts agreeable essayists, light-fingered novelists, young men who have taken the M . A . degree; men who have taken no degree; men who have no apparent qualification save that they are not women." 149

In diesem Zitat von Virginia Woolf wird ein wichtiger Punkt fokussiert: Die Tatsache, dass die Frau als sexuelles Wesen nur in einer von Männern dominierten Wissenschaft wahrgenommen wird. Aufschlussreich die Frage Woolfs: „What could be the reason, then, of this curious disparity, I wondered, [...] why are women, judging, from this catalogue, so much more interesting to men than men are to women?" 150

Die Beweisführung führt zum Thema „Misogynie" im Sinne einer männlichen Rachestimmung gegenüber der Frau, nicht als Individuum, sondern als Modell des weiblichen Geschlechts, das in sich eine männliche Komponente trägt. In diesem Kontext sind die Studien über die anatomische Struktur des weiblichen Geschlechtsapparats von Freud bedeutungsvoll. In ihrem Werk über die sexuelle Theorie Freuds aus dem Jahr 1905 stellt Nike Wagner fest, dass Freud die Frau „ [ . . . ] für eine A r t verkümmerten Mann mit schwächerem Sexualtrieb hält"' 51 . Aber wie Paolo Orvieto bemerkt, betont Freud sofort die Schwäche der weiblichen „Männlichkeit". „La bambina, contrariamente al maschio, entra in una specie di involuzione all'apice del suo processo di sviluppo sessuale e deve passare da una fase attiva, maschile, masturbatoria (con zona erogena la clitoride) ad una fase passiva, femminile, eterosessuale (con zona erogena la vagina)."' 52

Bei Freud erwirbt die Frau ihre Weiblichkeit nur durch einen Prozess der Ent-Maskulinisierung und wird nur noch als passives sexuelles, reproduktives Geschöpf gesehen. In diesem Sinn wird die männliche Angst von einer Herrschaft der Weib-

149 Woolf, Virginia: A room of one's own. London: Penguin 2002, S. 29 150 Ebda., S. 29 151 Wagner, Nike: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 129 152 Orvieto, Paolo: Misogenie. L'inferiorità della donna nel pensiero moderno. Roma: Salerno Editrice 2002, S. 86

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lichkeit über die Männlichkeit überwunden. Das Gleichgewicht des männlichen Systems, in dem der Mann die Frau sexuell dominiert, ist hier respektiert. Die Gründe eines so rachsüchtigen Verhaltens des Mannes sind bei Paolo Orvieto entweder in einem autobiographischen oder kulturellen männlichen Kontext zu finden. Der Mann fühlt sich unsicher und hat Angst, nicht fähig zu sein, die männliche Seite der Weiblichkeit zu beherrschen.'53 Sowohl das autobiographische als auch das kulturelle Gefühl des Mannes, Opfer zu sein, werden als Augenblicke der sexuellen Schwäche oder Impotenz des Mannes erlebt. Es ist also augenfällig, dass das zentrale Problem, das Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler dieser Zeit interessierte, der Begriff „Sexualität" ist, und zwar vor allem in seinen der heterosexuellen Norm widersprechenden Ausdrucksformen; eine Beschäftigung, die intensiv zuerst hauptsächlich von medizinischer Seite geführt wurde. Das populärste Beispiel ist die 1886 erschienene Psychopathia sexualis von Richard Freiherr von Krafft-Ebing. Er wurde von dem italienischen Psychiater und Kriminologen Cesare Lombroso (1835-1909) beeinflusst, der überzeugt war, dass der Kriminalität, vor allem der weiblichen Kriminalität, eine kleinere Gehirnstruktur zu Grunde lag. Auf Basis dieser Forschungen Lombrosos untersucht auch Krafft-Ebing eine Kasuistik von Strafdelikten, die Frauen zur Last gelegt wurden. Er konstatierte, dass Frauen oft in der Phase des monatlichen Zyklus gegen Gatten und Kinder gewalttätig würden. Auf Basis einer wissenschaftlichen Auswertung von verschiedenen Fällen, in denen die Frau sich auf eine spezielle Art verhält, unterteilte die wissenschaftliche Forschung die Ergebnisse in zwei Gruppen: das „normale" weibliche Verhalten einerseits und andererseits das „unnatürliche" Verhalten, das von einem bestimmten körperlichen Zustand der Frau abhängig war. Sexualität, und gar eine lustvoll erlebte, hatte auf die Ehe beschränkt zu sein, um als moralisch integer zu gelten, und ihr Zweck war die Fortpflanzung. Diese Meinung von Krafft-Ebing entspricht der Theorie von Paul Julius Möbius, Autor des berühmten und sehr strittigen Werks Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1908), wobei die von ihm überprüfte psychische Schwäche der Frau die einzige Voraussetzung für die Frau ist, eine moralische und gute Mutter zu werden. „Wollen wir ein Weib, das ganz seinen Mutterberuf erfüllt, so kann es nicht ein männliches Gehirn haben." 1 ' 4

153 Ebda., S. 2of. 154 Möbius, Paul Julius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Halle: Carl Marhold Verlagsbuchhandlung 1908, S. 14

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Mit dieser Behauptung verurteilt Möbius eine Vermännlichung der Frau, die nur Grund für eine Ablehnung der Mutterschaft sein kann. „Mütterliche Liebe und Treue will die Natur vom Weibe. [...] Das Weib ist berufen, Mutter zu sein, und alles, was sie daran hindert, ist verkehrt und schlecht."'55 Möbius' Werk soll nicht als Beispiel für eine starke und tief überzeugte Misogynie betrachtet werden, sondern als das Eintreten für die Weiblichkeit als Mutterschaft, wie auch schon 1861 Bachofen in Das Mutterrecht proklamierte. „Das Mutterrecht gehört einer früheren Kulturperiode an als das Paternitätssystem, seine volle und ungeschmälerte Blüte geht mit der siegreichen Ausbildung des letztern dem Verfall entgegen."156 „Wie in dem väterlichen Prinzip die Beschränkung, so liegt in dem mütterlichen das der Allgemeinheit; wie jenes die Einschränkung auf engere Kreise mit sich bringt, so kennt dieses keine Schranken, so wenig als das Naturleben."157 Möbius ist kein Frauenkämpfer, sondern ein Verfechter der traditionellen Bedeutung der Weiblichkeit als Mutterschaft und Reproduktivität. „Einige meiner Kritiker haben gemeint, meine Abhandlung sei eine Streitschrift gegen das weibliche Geschlecht und ich sei ein Weiberfeind. Das ist nun freilich recht töricht. Denn in Wahrheit führe ich die Sache des weiblichen Geschlechts gegen seine Schädiger und streite gegen den blutlosen Intellektualismus, gegen den mißverstehenden Liberalismus, der auf eine öde Gleichmacherei hinausläuft."'58

Und weiter liest man: „Die eigentlichen Weiberfeinde sind die .Feministen', die den Unterschied der Geschlechter aufheben möchten."'59

155 Ebda., S. 27 156 Bachofen, Johann Jakob: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Hrsg. von Hans Jürgen Heinrichs. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 3 157 Ebda., S. 13 158 Möbius, Paul Julius: Uber den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Halle: Carl Marhold Verlagsbuchhandlung 1908, S. 25 159 Ebda., S. 25

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Von diesem Gesichtspunkt aus kann man Möbius als einen Vorläufer der Gender-Studies-Thcoricn sehen; in dem Sinne, dass er die Spaltung und die Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht annullieren will. Natürlich ist das Grundkonzept Möbius' anders zu interpretieren, weil er die Geschlechterbeziehung nur aus einer sexuellen und biologischen Perspektive analysiert (vgl. die Studien Möbius' zur Struktur und Dimension des weiblichen Gehirns), und nicht wie bei Gender-Studies-Untersuchungen von einem gesellschaftlichen Gesichtspunkt. Aber gemeinsam bleibt die Uberzeugung der Negativität der Uberwindung der Geschlechterdifferenzen. Im Zusammenhang mit dieser breit angelegten Beschäftigung mit dem Sexuellen entwickelten auch die medikalisierten/pönalisierten „Perversen", und das waren in erster Linie die Homosexuellen, ihre eigenen Forschungen und Bestandsaufnahmen. 160 Der Berliner Magnus Hirschfeld, der 1897 das Wissenschaftliche Humanitäre Komitee begründete und ab 1899 das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualität herausgab, vertrat die Theorie vom dritten Geschlecht und entwarf ein intersexuelles Konstitutions- und Variationsschema zwischen den Polen Hetero- und Homosexualität. Die Diskussion um eine grundsätzliche Bisexualität des Menschen, eine dauernde Doppelgeschlechtlichkeit, fand gerade in Wien statt, wo Freud die Bisexualitätstheorie von dem Berliner Arzt Wilhelm Fließ übernommen und in seinen Abhandlungen zur Sexualtheorie (1904/1905) dargelegt hatte. Eine Annahme, die Otto Weininger mehr als ein Jahr zuvor schon in Geschlecht und Charakter vertreten hatte. Otto Weininger (1880-1903), der von Strindberg 1903 in der von Karl Kraus gegründeten Zeitschrift Die Fackel als der, der am Ende das Problem „Weib" endlich gelöst habe,161 verherrlicht wird, wird von Stefan Zweig so geschildert: 160 Berger, Barbara: Feminismus-Antifeminismus im Wien der Jahrhundertwende am Beispiel Mayreder-Weininger. Wien: Hausarbeit für das Lehramt an Höheren Schulen Philosophische Fakultät 1989, S. 8f. 161 Weininger, Otto: Otto Weiningers Taschenbuch. In: Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. München: Matthes & Seitz 1997, S. 603. Otto Weininger hat seine Natur so definiert: „Ich glaube, daß sicher meine Geisteskräfte derartige sind, daß ich in gewissem Sinne Löser für alle Probleme geworden wäre. Ich glaube nicht, daß ich irgendwo lange im Irrtum hätte bleiben können. Ich glaube, daß ich den Namen des Lösers mir verdient hätte, denn ich war eine Lösernatur", oder wie Nike Wagner in Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 71, die das Zitat Strindbergs notiert, schreibt: „Herr Doktor [...] schließlich - das Frauenproblem gelöst zu sehen ist mir eine Erlösung und so - nehmen Sie meine Verehrung und meinen Dank!"

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„ E r sah immer aus wie nach einer dreißigstündigen Eisenbahnfahrt, schmutzig, ermüdet, zerknittert, ging schief und verlegen herum, sich gleichsam an eine unsichtbare W a n d drückend, u n d der M u n d unter dem dünnen Schnurrbärtchen quälte sich irgendwie schief herab." 162

Zweig berichtete diese Eindrücke, um zu betonen, dass das wahrhaft Geniale eines Menschen nur selten in Antlitz und Wesensart kenntlich wird, dass die Natur ihre merkwürdigsten Formen ins Geheimnis hüllt. Der Jude Otto Weininger begann ursprünglich als Student der Naturwissenschaft, denen er sich noch in seiner frühen Jugend, in der er als sprachbegabt und als begeisterter Theaterfreund galt, zuwandte. Es war die Zeit, in der von der Naturwissenschaft, vor allem der Biologie, die Lösung aller Welträtsel erwartet wurde. Er promovierte im Jahr 1902 und trat am gleichen Tag zum Protestantismus über. Der Religionswechsel im alten Osterreich war nicht immer eine Sache des Glaubens. Es war häufig von Rücksicht auf die Laufbahn, auf die Erleichterung des Lebens bestimmt. In Weiningers Sicht dominiert das individuell verschiedene Mischungsverhältnis von männlichen und weiblichen Anteilen in der menschlichen Psyche, die dann komplementär die Wahl des Partners bestimmt, d. h., ein eher „weiblicher" Mann sucht eine eher „männliche" Frau und umgekehrt. „Wir werden also schon hier darauf aufmerksam, daß ein M a n n Weibliches in bes t i m m t e m M a ß e in sich haben k a n n , ohne d a r u m in gleichem G r a d e schon eine sexuelle Zwischenform darzustellen." 16 '

Das erinnert an den Mythos von Androgyn denken, wie ihn Aristophanes in Piatons Symposion erzählt.104 In diesem Mythos gibt es drei Geschlechter: ein zur Gänze männliches, ein zur Gänze weibliches und ein drittes, mann-weibliches, nämlich das androgyne. Diese seien aber von den Göttern wegen ihres Hochmuts geteilt worden, und jeder Mensch sei nun auf der Suche nach seiner ihn ergänzenden Hälfte. Otto Weininger war der typische Vertreter seiner Zeit. Mit seiner Definition der Frau als seelenloses, sexuell orientiertes WesenIÄS, mit der Infragestellung der

162 Kohn, Hans: Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Otto Weininger. Aus dem jüdischen Wien der Jahrhundertwende. Tübingen: J. C . B. Mohr 1962, S. 30 163 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. München: Matthes Sc Seitz 1997, S. 108 164 Ebda., S. 9 165 Kohn, Hans: Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Otto Weininger. Tübingen: J. C . B. M o h r

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Möglichkeit einer menschlich-sittlichen Sexualität, aber auch mit seinem Antisemitismus und mit seiner Wagner-Verehrung stellt er ein frappantes Dokument des „Malheur de Siècle" dar. Typisch war er auch als jüdischer Intellektueller, der zum Protestantismus konvertierte; ein Schüler des Positivismus, der sich aber von der Philosophie Ernst Machs abwandte; ein verhinderter oder uneingestandener Homosexueller, der mit seiner Sexualität nicht zu Rande kam. „Der Haß gegen die Frau ist immer nur noch nicht überwundener Haß gegen die eigene Sexualität."166

Weininger war ein Philosoph, der die Wiener schockierte; einmal durch die Veröffentlichung des oben genannten Buches, das zweite M a l durch seinen Selbstmord im Sterbehaus Beethovens. Weiningers dualistisch strukturierte Charakterologie basiert auf den idealtypischen Kategorien M (= M a n n ) und W (= Weib), die in der Realität in einer bestimmten, individuellen Kombination auftreten. M ist „formendes, aktives" Prinzip, das Subjekt, das Etwas; der M a n n hat alles in sich und kann daher auch alles werden, er wird gleichgesetzt mit Persönlichkeit, mit Individualität und Genialität. „Der Mann, als Mikrokosmos, ist beides, zusammengesetzt aus höherem und niederem Leben, aus metaphysisch Existentem und Wesenlosem, aus Form und Materie: das Weib ist nichts, es ist nur Materie."'67

Der M a n n ist in sich geschlossen, er ist eine Monade, er hat Willen zum Wert, er kann auch der Frau durch die Liebe Wert verleihen; ihm wird ein Ich und ein Charakter zugeschrieben; Merkmale, die beim absoluten, echten Weibe fehlen. W ist keine Monade, was sich durch ihre Unbegrenztheit und Verschmolzenheit mit allen Menschen — die etwas durchaus Sexuelles darstellt — ausdrückt. W ist nur passive Materie, das Objekt, das Nichts, „eine Funktion von M , eine Funk-

1962, S. 37. „In Geschlecht und Charakter sieht Weininger die Frau als die reine Verkörperung der Sexualität. Sexualität ist für Weininger die Negation des Ethischen, vor allem weil der Mann in der Frau die Ethik und die Idee der Menschheit immer wieder negiert, indem er sie (die Frau) als Genußmittel benutzt." 166 Weininger, Otto: Otto Weiningers Taschenbuch. In: Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. München: Matthes & Seitz 1997, S. 626 167 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. München: Matthes & Seitz 1997, S. 393

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tion, die er setzen, die er aufheben kann" 168 . Die Frau hat keinen Eigenwert und erhält nur durch den Mann Essenz und Existenz. „W geht im Geschlechtsleben, in der Sphäre der Begattung und Fortpflanzung, d. i. im Verhältnisse zum Manne und zum Kinde, vollständig auf, sie wird von diesen Dingen in ihrer Existenz vollkommen ausgefüllt." 16 ' Nike Wagner stellt in Geist und Geschlecht fest: „Der sie schafft, der Mann, bezieht seine Inspiration aus der ekstatischen Begegnung mit dem Sinnlichen, Materiellen, mit der Frau. [...] Statt einer gegnerischen, feindlichen Beziehung herrscht eine diplomatisch vermittelte, eine komplementäre Beziehung. Denn was die weibliche Sexualität an Gedanken schenkt, erstattet ihr der Körper des Mannes an Lust zurück."' 70

Sie hat zwar die gleichen psychischen Inhalte wie der Mann, kommt aber über das „Henidenstadium" (= Stadium der Unklarheit) kaum hinaus, bei ihr sind Denken und Gefühle miteinander verschmolzen und basieren auf instinktiver Erfahrung; damit kann W auch nicht genial sein, im Gegensatz zu M . „Die Frauen haben [...] in Wahrheit gar keinen Sinn für das Genie, ihnen gilt jede Extravaganz der Natur, die einen Mann aus Reih und Glied der anderen sichtbar hervortreten läßt, zur Befriedigung ihres sexuellen Ehrgeizes gleich; sie verwechseln den Dramatiker mit dem Schauspieler, und machen keinen Unterschied zwischen Virtuose und Künstler."'71 Weininger beeinflusste Kraus insofern, als beide dem Mann den Bereich der Rationalität, der Frau den des Gefühls zuordneten. „Die Frau [...] wird von Kraus zum Inbegriff einer universalen Geschlechtlichkeit erhoben, zum Sexualwesen jenseits der Anforderungen der Kulturarbeit, jenseits von gut und böse."' 71

168 Ebda., S. 449 169 Ebda., S. 112 170 Wagner, Nike: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 162 171 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. München: Mathes & Seitz 1997, S. 132 172 Wagner, Nike: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 129

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Auf Grund dieser starken primitiven Natur des Weibes behauptet Kraus — wie auch Weininger — die Spaltung zwischen zwei Geschlechterkategorien, denn „nur so kann die Gesellschaft gerettet werden, denn nur so kann der Mann seine Rettung finden".'73 Kraus schreibt in der Fackel: „Die Frauen sind die besten, mit denen man am wenigsten spricht. [...] Ein Weib ist manchmal ein ganz brauchbares Surrogat für die Selbstbefriedigung. Freilich gehört ein Übermaß an Phantasie dazu."'74

Kraus war kein Rationalist wie Weininger. Die nihilistisch-destruktive Darstellung der Frau, etwa dass das weibliche Leben ausschließlich unter dem Zeichen des Gefühles stehe, wird von Kraus modifiziert. Er betrachtete die Frau als ein von Natur aus erotisches Wesen: Die Frau ist reine Sexualität, und sie handelt dementsprechend. Sie ist nur Gefühl, Irrationalität und Geschlechtlichkeit, während der Mann sich von der Frau unterscheidet, denn er weiß seine Sexualität zu beherrschen. Die Frau verkörpert alle negativen Aspekte der menschlichen Existenz, daher wird auch bei Weininger die jüdische Rasse als Frucht der Weiblichkeit bezeichnet. Der Ausdruck „Frucht der Weiblichkeit" meint, wie Weininger im Kapitel von Geschlecht und Charakter über das Judentum erklärt, dass „es nicht um eine Rasse und nicht um ein Volk, noch weniger freilich um ein gesetzlich anerkanntes Bekenntnis" geht,175 sondern dass „man das Judentum nur für eine Geistesrichtung, für eine psychische Konstitution halten darf, welche für alle Menschen eine Möglichkeit bildet, und im historischen Judentum bloß die grandioseste Verwirklichung gefunden hat".176 Die Rede ist hier von einer Projektion, einer imaginativen Existenz des Begriffs „Judentum", die die Idee Weiningers von Weiblichkeit widerspiegelt. „Er [der Mann] projiziert sein Ideal eines absolut wertvollen Wesens auf ein anderes menschliches Wesen [die Frau], und das und nichts anderes bedeutet es, wenn er dieses Wesen liebt."177

173 174 175 176 177

Ebda., S. 120 Ebda., S. 164 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. München: Matthes & Seitz 1997, S. 406 Ebda., S. 406 Ebda., S. 332

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Der Prozess der weiblichen Konstruktion als Imaginationsbild oder männliche Projektion entspricht Weiningers Meinung über die Natur des Judentums. Für Kraus hingegen war das emotionale Wesen der Frau ein Ausdruck von Sittlichkeit und Phantasie, die er als Quelle aller Inspiration und alles Schöpferischen betrachtete. Er glaubte, dass die Quelle moralischer und ästhetischer Wahrheit des Lebens die Einheit von Sittlichkeit und Gedanken darstellt. Da die Sittlichkeit aus der weiblichen Phantasie stammt und der Gedanke aus der männlichen Vernunft, ist die Weiblichkeit eine notwendige Ergänzung der Männlichkeit. Aus diesem Grund verwarf er die Frauenbewegung seiner Zeit als den prinzipiell falschen Versuch, das Weibliche dem Männlichen anzugleichen. „Wenn er das Recht der Frau auf ihr Sinnenleben verteidigte, war er überzeugt, im Namen des Rechtes der Natur zu sprechen. [...] Er war für die geschlechtliche Freiheit der Frau, freilich nicht im Sinne einer Gleichberechtigung; denn er glaubte an eine für den Mann verbindliche Ethik, die sich aus der Verantwortung des Geistes ergibt und der man die Frau, die ihrer Natur folgt, nicht unterwerfen dürfte."'78 Weiters galt das Interesse der wissenschaftlichen Forschung zur Jahrhundertwende der Gesundheitsvorsorge und den Geschlechtskrankheiten, die mit dem sozialen Problem der überhandnehmenden Prostitution verbunden war. In der habsburgischen Zeit waren sowohl die Prostitution als auch die Homosexualität verboten. Erst mit der Veröffentlichung des Aufsatzes Sittlichkeit und Kriminalität (1908) von Karl Kraus wurden diese zwei Aspekte des Lebens in weiten Kreisen diskutiert. Kraus erklärte, dass die Sittlichkeit und das private Leben nicht zum Gegenstand der Justiz werden sollten. „Als Kraus die Korruption zu bekämpfen begann, schwebte ihm die ideale Ordnung eines Rechtsstaates vor. [...] Nun sah er auch die andere Seite des Problems: die Gefährdung des Individuums durch das Eingreifen des Staates in die privateste Sphäre des Einzelnen, in die Sexualsphäre."17' Wenn sich Homosexuelle in der Gesellschaft sittlich und korrekt verhalten, sollte ihr privates Leben ungestört bleiben. Niemand, auch nicht die Polizei, sollte sie strafen oder verfolgen. Kraus betonte, dass Kriminalität mit Sittlichkeit nichts zu tun habe: Es handle sich um zwei verschiedene Bereiche. 178 Schick, Paul: Karl Kraus. Hamburg: Rowohlt Verlag 1999, S. 51 179 Ebda., S. 50

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Auch das Verhältnis gegenüber den Prostituierten war in der Zwischenkriegszeit nicht mehr so streng wie u m die Jahrhundertwende. Die offene Darstellung der Lage der Prostituierten wurde notwendig wegen der steigenden Z a h l illegaler Prostituierter und der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten. Diese Zahlen zeigten, dass die Prostitution strenger kontrolliert werden musste. Mit einem Statut aus dem J a h r 1873 wurden die Prostituierten polizeilich registriert, und sie mussten sich regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen unterziehen. Trotz dieser Kontrollen blieb das physische, aber auch das psychische Risiko der Geschlechtskrankheiten hoch. Die zwei am weitesten verbreiteten Krankheiten vor und nach dem Ersten Weltkrieg waren Tuberkulose und Syphilis. Die Internierung der Kranken zum Schutz der Gesellschaft bedeutete für sie psychische Gewalt. Die Tuberkulose wurde „die Wiener Krankheit" genannt, denn die Tbc-Sterblichkeit war in Wien, und vor allem in Elendsvierteln, vier- bis sechsmal höher als in anderen Orten Österreichs: Das hatte seinen G r u n d in der Zuwanderung und der Ballung von Menschen in Industriezentren, wo Hygiene und Ernährungslage schlecht waren. A b e r Tuberkulose war nicht ausschließlich eine Krankheit der Armen; auch die Aristokraten, z. B. der Thronfolger Franz Ferdinand, erkrankten daran. Während aber die Armen sich in den überfüllten Spitälern drängten, fuhren die Reichen nach Davos, Meran, an die Riviera oder ins Semmeringgebiet (das neben Schnitzler auch Altenberg, Doderer, Rosegger u. a. in ihren Werken erwähnten). Tuberkulose wurde das Hauptthema der Zeitungsartikel der Zeit, in denen man über konkrete wissenschaftliche Lösungen fiir das tückische Unheil berichtete. Auch nach 1882, als Koch den Tuberkel-Bazillus entdeckte, konnten nicht alle Erkrankten geheilt werden, und die Straßen Wiens waren voll mit hohlbrüstigen, eckigen, knochigen Menschen mit fiebrig leuchtenden Augen. „Hier tappen sie durchs Leben, Krüppel und Gelähmte, zitternde Bettler, altersgraue Kinder, irrsinnige Mütter, die von Offensiven geträumt hatten, Heldensöhne mit den Flackeraugen der Todesangst, und alle, die keinen Tag mehr haben und keinen Schlaf und nichts mehr sind als die Trümmer einer zerbrochenen Schöpfung."'80

Dieser T y p des Menschen wurde der Prototyp der symbolistischen K u n s t der Jahrhundertwende. Kokoschkas „Pietä" (1908) zeigt eine bleiche Frau, fast wie eine Leiche, die eine purpurrote männliche Gestalt in den A r m e n hält. Sie ist vielleicht das beste Beispiel dieser neuen Kunsttendenz. Bedeutungsvoll ist auch 180 Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit. München: Kösel Verlag 1957, S. 644

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die Tatsache, dass viele Künstler dieser Zeit Liebesbeziehungen zu erkrankten Frauen hatten. Kokoschka liebte die Amerikanerin Bessie Bruce, eine tuberkulöse Tänzerin des Wiener Casinos, die viele Jahre in einem Sanatorium verbrachte. Kokoschka bezahlte ihren Aufenthalt in diesem Sanatorium und zog schließlich selbst dorthin, wo er viele Impulse für seine Arbeiten fand.'81 Auch Hermann Broch liebte eine erkrankte Frau — Ea von Allesch —, und diese Liebe ist noch heute lebendig in den Briefen, die Broch ihr geschrieben hatte.182 Diese zwei Beispiele zeigen, wie die Krankheit eine der wichtigsten Quellen der Inspiration für Maler und Schriftsteller zur Jahrhundertwende und in der Zwischenkriegszeit war. Tatsächlich verkörperte die erkrankte Frau die Unsicherheit des Lebens, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, und sie war die Spiegelung der häufig aufgestellten Gleichung Jugend — Tod und Eros — Tod. Wenn die Tuberkulose Kokoschka inspirierte, so war die Syphilis die Inspirationsquelle für Schiele.'8' Die Darstellung der Folgen, die diese Krankheit an dem Körper hinterlassen konnte, wurde von Schiele durch eine direkte und einfache malerische Technik gezeigt. Mit kräftigen Farben und Lichtspielen, die eine grausame, manchmal auch dramatische Atmosphäre schaffen, zeigt er nackte Körper, Genitalien, Brüste, was ihm auch einen Prozess wegen Sittlichkeitsvergehen einbrachte. Die vielen durch die Medien stärker ins Bewusstsein gerufenen Krankheitsund Todesfälle bewirkten aber ein steigendes Gesundheitsbewusstsein. Man begann gesünder zu leben: Die Wohnungen wurden größer und besser beleuchtet; man hielt die Jugend dazu an, mehr Sport zu treiben. Von diesem Gesichtspunkt aus erfuhr Wien auch eine architektonische Veränderung, wobei die Priorität in der Hygiene und nicht in der Ästhetik lag. Schon 1848 hatte in England eine Veröffentlichung des Public Health Act[s], mit dem die Arzte großen Einfluss auf die Planung von Gebäuden gewonnen hatten, betont, dass die Schönheit eines Gebäudes mit dem Lebensgefuhl der Bewohner übereinstimmen sollte. Luft, Licht und Sauberkeit sollten die drei wichtigsten Elemente der modernen Architektur sein.'84 Die Sanierung der Stadtviertel, die nicht als gesund genug gelten konnten, und die Ubersiedlung der Kranken an ande-

181 Schorske, Carl: Vienna fin de Sieclè. Milano: Bompiani Editore 1995, S. 30if. 182 Vgl. Hermann Brochs Das Teesdorfer Tagebuch fürEa von Allesch. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1995, S. io8f. 183 Damigella, Maria: La Vienna di Klimt/2. In: Ars. Milano: De Agostini Periodici Oktober 1998, S. 4if. 184 Damigella, Maria: La Vienna di Klimt/i. In: Ars. Milano: De Agostini Periodici September 1998, S. 3öf.

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re Orte, wurden zur Hauptaufgabe des Architekten H. Gessner. 1924 führte er ein Projekt durch, bei dem er unter anderem die Notwendigkeit zu beweisen versuchte, Wohnungen im vierten oder fünften Stock zu errichten, damit die Leute Sonne bekämen und frische Luft atmen könnten. Die Kennzeichen der Baukunst der zwanziger und dreißiger Jahre waren Bequemlichkeit, Reinlichkeit und Hygiene, und das war der Grund, warum die Architekten die Einfachheit vorzogen, während das Ornament als Symbol für Dekadenz, Schwäche und Krankheit betrachtet wurde. Jeder Umstand des Alltags wurde als kulturelles und künstlerisches Phänomen interpretiert, und die Modedesigner, die ab 1903 in den Wiener Werkstätten mit dem Gründer Joseph Hoffmann zusammenarbeiteten, brachten aus Paris eine stilistische Wende mit. Das Beispiel der schottischen Gruppe „Glasgow Boys", Künstler, die ihre Arbeiten zum ersten Mal im Jahr 1890 in einer Londoner Galerie ausgestellt hatten, wurde von den Künstlern der Wiener Werkstätten imitiert.'85 Die floralen Motive der Jahrhundertwende wurden durch geometrische Muster ersetzt. Auch in der Architektur wurden jetzt in großen und kleinen Bauwerken das Viereck und der Würfel eingesetzt. Bei einem Besuch auf Capri hatte Josef Hoffmann die weiß getünchten, kubischen Wohnhäuser bewundert und sie ebenso wie Flachdächer und säulengeschmückte Loggien in seine Entwürfe integriert. Bald beherrschte das Viereck die secessionistische Kunst, vor allem in der Graphik, in Drucken, Textilien, Tapeten und Damenkleidern. Dennoch wurden die geometrischen Entwürfe, oft als schwarz-weißes Schachbrettmuster, aber auch als farbige Rhomboide oder regelmäßige Wellenlinien, immer noch mit den Blumenmotiven des Jugendstils verbunden — Schlingpflanzen, langstielige, ineinander verschlungene Lilien und Schlangen, wie Klimt sie in dem berühmten Gemälde „Medizin" verwendete.'86 Dieser „Excursus" in den politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Epochenwechsel, den Österreich und insbesondere Wien in der Zwischenkriegszeit erlebte, sollte die Lage der Frauen dieser Zeit von einem biologisch-sexuellen und auch sozialen Gesichtspunkt aus zeigen. Die Darstellung erhellt, dass die von den ersten emanzipierten Frauen errichteten sozial-historischen

185 Spiel, Hilde: Glanz und Untergang. Wien 1866-1938. München: List Verlag 1997, S. 64. Sie waren von James Whistler und den französischen Impressionisten beeinflusst, Vertretern einer modernen, spontanen, einfachen Malerei. Im Laufe der neunziger Jahre wurden achtzig ihrer Werke zuerst in München, dann in Wien gezeigt. 186 Ebda., S. 65

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Verbesserungen keinen Widerhall in der „Hochliteratur" gefunden haben, denn die Spaltung zwischen „realer und imaginierter" Weiblichkeit in Alltag „Hochliteratur" war noch deutlich vorhanden. Der engagierten, aktiven und selbstbewussten Frau des Alltags steht die schwache, untergeordnete Frau der „Hochliteratur" gegenüber, wie sie Virginia Woolf in ihrem Essay A room ofones own (1928) folgendermaßen beschreibt: „[...] in short she was so constituted that she never had a mind or wish of her own, but preferred to sympathize always with the minds and wishes of the others."' 87

Diese passive Natur der literarischen Frauengestalt, ihre Oppositionsstellung zur starken und selbst determinierten Männlichkeit und letztlich ihre Reduktion zum Handelsobjekt, zur Ware, sind auch die zentralen Motive des nächsten Kapitels, in dem eine soziale ökonomische und literarische Textinterpretation Schnitzlers Erzählung Fräulein Else versucht wird.

187 Woolf, Virginia: A room of one's own. London: Penguin 2000, S. 41

II. Schnitzlers „Fräulein Else"

„Es fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends. Wir wissen nichts von anderen, nicht von uns. Wir spielen immer; wer weiß, ist klug."'88

Arthur Schnitzler, der liberale Bourgeois, der Jude, der Arzt und der Künstler, „urbaner und enger gebunden an die Lebensweise und das soziale Spektrum der Donaumetropole" 1 8 ', wurde 1862 als Sohn eines Professors der Medizin in Wien geboren. Nach dem Studium der Medizin war er Assistenzarzt an der Poliklinik und dann praktischer Arzt in Wien, bis er sich mehr und mehr seinen literarischen Arbeiten widmete. Er starb am 21. Oktober 1931. 190 Die äußeren Daten der Schnitzler sehen Biographie zeigen die Solidität und die Selbstverständlichkeit eines bürgerlichen Lebenslaufs: Kindheit, Schulzeit, Militärdienst, ununterbrochene Berufstätigkeit als Arzt und später als Schriftsteller. Arthur Schnitzler wuchs auf in einer Zeit, in der die Traditionen zusehends kraftloser wurden und die psychischen und sozialen Zwänge im Gefolge des enger werdenden ökonomischen Netzes an Stärke zunahmen. Der Schauplatz dieses Lebens blieb stets ein Wien, das fest verankert war in der bürgerlichen Gesellschaft des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In der gut argumentierten Darstellung der gesellschaftlichen Struktur der Schnitzler-Zeit betont Deborah Knob die Koexistenz von zwei verschiedenen Ty-

188 Schnitzler, Arthur: Paracelsus. Zit. nach Friedrich Torbergs Nachwort zu Arthur Schnitzlers Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Frankfurt a. Main: Fischer Verlag 1999, S. 325 189 Keller, Ulrich: Böser Dinge hübsche Formel. Das Wien Arthur Schnitzlers. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2000, S. 53 190 Für weitere Notizen über Schnitzlers Leben empfiehlt sich die Lektüre des Werkes Jugend in Wien. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1998.

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pologien von Bürgertum. 19 ' Einerseits gibt es das Bildungsbürgertum, „zu dem die Mehrzahl der schnitzlerischen Figuren zählen und dem auch die Familie des Fräulein Else angehört"'91. Zu dieser Gruppe gehören höhere und mittlere Beamte, Lehrer, Arzte und Künstler, die einen akademischen Titel tragen. Andererseits gibt es das Großbürgertum, dessen bürgerliches Selbstbewusstsein und Selbstverständnis durch „Kleidung, Habitus, Körpersprache und gute Manieren"'93 vermittelt wird. Berühmt wurde Schnitzler vor allem durch die Behandlung zeit- und gesellschaftskritischer Themen: Das Fehlverhalten von Menschen in der Zeit des Umbruchs in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts - von Menschen, die nicht davor zurückschrecken, andere zu opfern, wenn sie selbst sich in Gefahr wähnen'94 - und die moralische Problematik der Ehe und des Ehebruchs. In Schnitzlers Gesellschaft gelten noch die patriarchalischen Regeln, und das bedeutet, dass der „mit Ehrgeiz und Leistungsanspruch ausgestattene Mann" sich in der Welt umtat, das Vermögen bewahrte und vergrößerte, die Geschäfte erledigte und die bürgerliche Frau sich mit der Aufgabe konfrontiert sieht, „die Familiensphäre im Gleichgewicht zu halten, die sich täglich wiederholende Hausarbeit zu verrichten und wie ein regelmäßig tickendes Uhrwerk zu funktionieren".'9' Eine der schwerwiegendsten Prämissen dieser bürgerlichen Gesellschaft ist die Idee und Uberzeugung „von der Unvereinbarkeit der Ehe mit leidenschaftlicher Liebe".'96 Die Überzeugung, dass die leidenschaftliche Liebe die familiäre Ordnung in der Geschlechterbeziehung zwischen Mann und Frau destabilisiere, ist einer der Gründe zur Legitimierung des Ehebruchs. Ehe und Ehebruch sind die einzigen zwei Möglichkeiten in Schnitzlers gesellschaftlicher Struktur, eine Geschlechterbeziehung zu führen. Aber zu diesem Punkt muss man einige Elemente hervorheben, die die unterschiedliche Rolle der Geschlechter in der Ehe und im Ehebruch kennzeichnen.

191 Knob, Debora: Arthur Schnitzlers „Fräulein Else" - Zur wissenschaftlichen Rezeption. Wien: Diplomarbeit 2001, S. 56-59 192 Ebda., S. 57 193 Ebda., S. 58 194 Schmidt-Dengler, Wendelin: Abschied von Habsburg. In: Bernhard Weyergraf, Literatur der Weimarer Republik 1918-1933.

München: dtv 1995, S. 488f.

195 Frevert, Ute: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1986, S. 65 196 Dimovic, Larissa: Das Motiv des Ehebruchs im Werk von Arthur Schnitzler. Wien: Diplomarbeit 2001, S. 4

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In der Ehe wird die Geschlechterbeziehung von der starken und traditionellen Moral der patriarchalischen Gesellschaft determiniert, wobei die Ehe einem G e sellschaftsvertrag ähnlich ist. „ D i e E h e als Institution w a r eine gänzlich unromantische Angelegenheit [...] die zu Lebzeiten Schnitzlers, in seinen Gesellschaftsschichten, noch immer ein B u n d war, den m a n meistens nicht aus Liebe, sondern aus anderen Interessen einging. D i e Brautwerbung erfolgte auf G r u n d gründlicher geschäftlicher und gesellschaftlicher Überlegungen, das Wesen und die N e i g u n g e n der U m w o r b e n e n hingegen waren vollkommen unerheblich." 197

Die Frau wird nur als Gattin und Mutter betrachtet, und der Mann wird als das Haupt der Familie gesehen. Zwischen den beiden gibt es keine leidenschaftliche Liebe, sondern nur eine „funktionale" Liebe, die die „Reproduktion" sichern soll. Wenn der Mann seine sexuellen Triebe genießen will, kann er ein Abenteuer erleben, ohne dass er von der Gesellschaft als „schuldig" betrachtet wird. Der Mann hat das Recht, seine Leidenschaft und seine sexuellen Wünsche zu befriedigen, während die betrogene Frau die Situation tolerieren muss. Für die verheiratete Frau gibt es keine Möglichkeit zu betrügen, ohne zur Dirne „deklassiert" zu werden. Der weibliche Seitensprung wird von einem betrogenen Mann als Scham und Beleidigung erlebt und hat das Duell gegen den Rivalen zur notwendigen Folge. Der Gewinner ist gleichsam immer der Mann, und das bedeutet in einem metaphorischen Sinn, dass die alte patriarchalische Ordnung bewahrt und geschützt ist. Es ist also ganz klar, dass das gesellschaftliche Verhältnis gegenüber Frau und M a n n in der Geschlechterbeziehung zwei Maßstäbe anlegt. „Wenn eine Frau verheiratet ist, wird sie als Instrument der Reproduktion verwendet, und w e n n sie ihre Sexualität frei leben will, ist sie als D i r n e dargestellt. [...] In der damaligen Zeit galt das promiskuitive Verhalten des M a n n e s deswegen als tolerierbar, weil es biologisch als seiner N a t u r entsprechend erklärt wurde, eine solche Lebensweise der Frau hingegen galt als widernatürlich und deswegen als zu verurteilen." 1 ' 8

Alle diese Themen werden durch hypotaktische Satzkonstruktionen, statt Begriffen Symbole und Abstrakta aller Art, bei Schnitzler gezeigt, die seine Neigung zu 197 Ebda., S. 1 7 7 198 Ebda., S. 8 - 1 7 8

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andeutendem und indirektem Sprechen, zu Zwischentönen, Nuancen und suggestiven Bildern ebenso wie zu parataktischen Konstruktionen betonen, in denen die Beziehungen der Satzglieder offener und unbestimmter bleiben. Das ist nur der präzise syntaktische Reflex von Schnitzlers Form der Aneignung der Wirklichkeit. Die besten Werke Schnitzlers zeigen die Schärfe und die Unmittelbarkeit einer Sprache, mit der er die Einzelheiten des Lebens aus dem Ganzen und aus der Perspektive der Hauptfigur mitteilt. Unmittelbarkeit bedeutet bei Schnitzler auch Knappheit und Kürze. Das ist der Grund, warum Schnitzlers Meisterwerke Novellen, Erzählungen oder Einakterstücke sind, wobei „das geschlossene Kunstwerk den Standpunkt der Identität von Subjekt und Objekt einnimmt". 1 " Das Lebensgefühl der Menschen im alten k. u. k. Osterreich, die Gleichgültigkeit, die Eigenliebe und der Egoismus sind die Hauptkennzeichen von Schnitzlers Gesellschaft und werden auch in der Erzählung Fräulein Else behandelt. Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, dessen Vater in einen Skandal verstrickt ist. Er hofft, sich durch seine Tochter von einem Geschäftsfreund, Herrn von Dorsday, die notwendige Summe zur Rückzahlung seiner Schulden leihen zu können. Die Bedingung, die dieser stellt - „eine Viertelstunde dastehen dürfen vor Ihrer Schönheit"200 (und zwar ihrer nackten Schönheit) - , ist mit ihrem Ehrgefühl nicht vereinbar. Aus Liebe zu ihrem Vater erklärt Else sich schließlich dazu bereit, ohne jedoch dieser Zumutung wirklich entsprechen zu können oder zu wollen. Else zeigt ihren nackten Körper vor einigen Leuten, die in der Hotelhalle sind, aber erst, nachdem sie eine nicht allzu starke Dosis von Veronal eingenommen hat. Durch diese Reaktion Elses, ihre Entblößung — Verzweiflung und Aggression — können die sinistren Absichten des Herrn von Dorsday bloßgestellt werden und bringen ihn um den privaten Genuss. Obwohl der Leser auf die höchst subjektive und auch notwendigerweise eingeengte Wahrnehmungsform der nervösen und narzisstischen Hauptfigur festgelegt wird, entsteht doch ein objektives Bild der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Reaktionsmuster unter dem Druck der drohenden Verarmung.201 Bei Schnitzler ist das durch die Verwendung der Technik des inneren Monologs möglich, die die Spaltung zwischen der inneren und der äußeren Welt der Hauptperson zeigt. 199 Ebda., S. 98 200Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S. 89 201 Schmidt-Dengler, Wendelin: Abschied von Habsburg. In: Bernhard Weyergraf, Literatur der Weimarer Republik 1918-1933. München: dtv 1995, S. 500

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„Die Technik des inneren Monologs wird in Fräulein Else um neue Nuancen reicher. Der Autor macht die Trennung der Protagonistin von ihrer Umwelt auch graphisch deutlich, indem er die Dialoge aller anderen Figuren, die Else umgeben, in Kursivschrift setzt. Sogar die Musik von Schumanns Carneval, die erklingt, als Else den betroffenen Anwesenden in der Hotelhalle ihren wunderbaren jungen Körper zeigt, wird mit der Abschrift der Noten heraufbeschworen."202

Diese Technik der sprachlichen Introspektion zeigt die Widersprüchlichkeiten der Wiener Gesellschaft um die Jahrhundertwende, die in Elses Gestalt vereint sind. In diesem Zusammenhang gewinnen die Worte Jakob Wassermanns an Bedeutung, der seinem Freund Schnitzler am 26.10.1924 Folgendes schreibt: „Fräulein Else ist mir unmittelbar nah gegangen; abgesehen davon, daß da eine ganze Welt (eine abgeschlossene, abgetane, zum Tod verurteilte) eine ihrer dämonischen Niedrigkeit und sittlichen Verzweiflung in einer Figur, in einer Brennlinse in Erscheinung tritt, wodurch ihr Zusammenbruch begreiflich und zum Bilde wird [...]."»'

Die Behauptung Wassermanns über die dekadente Atmosphäre der Welt Elses und den zu spürenden Verfall einer vergangenen glänzenden Epoche findet auch eine Bestätigung in den Bemerkungen Wendelin Schmidt-Denglers: „Else fühlt selbst, daß eine Epoche für sie zu Ende geht. Sie kann das sorglose Leben nicht führen, das ihr vorgezeichnet schien [...] Ein Adieu dem Hedonismus einer untergegangenen Zeit, welche jene Konflikte erfolgreich verdrängte, nur um sie den Erben zu überlassen."204 Auch Schnitzler zeigt dem Leser sprachlich - schon am Anfang der Erzählung - , welche Rolle Else in der Ökonomie der Geschichte spielen soll. Elses Cousin fragt: „Du willst wirklich nicht mehr weiterspielen, Else?"205

202 Farese, Giuseppe: Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien 1862-1931. München: C. H. Beck 1999, S. 253 203 Ebda., S. 254 204Schmidt-Dengler, Wendelin: Inflation der Werte und Gefühle. Zu Arthur Schnitzlers „Fräulein". In: Wendelin Schmidt-Dengler, Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien: Böhlau Verlag 2002, S. 59 205 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S.i

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In dieser Frage gibt es eine Verbindung zwischen dem Modalverb „wollen" und dem negierten Verb „weiterspielen", in der einerseits Else als nicht selbst bestimmtes Geschöpf identifiziert wird (sie spielt nur), andererseits will Schnitzler die Lust Elses betonen, ihre Rolle, ihre Existenz zu verändern (sie will nicht mehr). In diesem Sinn wird Else als eine gespaltene, eine zerrissene Gestalt beschrieben; eine Frau, die die Verkörperung eines idealen Modells der männlichen Imagination ist, gleichzeitig aber eine Frau, die sich nach Veränderung sehnt. Der Wunsch Elses, sich zu emanzipieren (aus der Enge ihrer gesellschaftlichen Rolle zu flüchten), stimmt mit ihrem Willen (nicht mehr weiterzuspielen) überein. Sie hat also einen eigenen Willen und drückt ihn auch aus (zumindest dem Cousin gegenüber), damit kann sie einen Wert als selbstständiges Individuum erhalten. Sie kann das erreichen, indem sie ihren Körper, der von einem Mann als Objekt der Sexualität und der Lust betrachtet wird, als Rettungsmittel für den Vater einsetzt. „ [ . . . ] ihr Körper, das ist die W a r e , mit der sie den Wertverfall v o n d e m ihre Familie bedroht ist, aufhalten k a n n . " 2 0 6

Während das Modalverb „wollen" den Wunsch der weiblichen Gestalt nach einer anderen Existenz ausdrückt, deutet der Autor mit der Verwendung des Verbs „weiterspielen" an, dass er die Frau nicht als selbst denkendes Wesen mit eigener Identität betrachtet, sondern als eine Marionette, die eine Rolle spielt, die der Autor ihr zuteilt, denn sie ist die Verkörperung eines idealen Modells der männlichen Imagination. Da Else nach einer anderen Identität strebt als nach der, die der Autor ihr gibt, wird sie als Objekt betrachtet. „ D i e edle Tochter verkauft sich f ü r den geliebten Vater, u n d hat a m E n d e noch ein Vergnügen davon." 2 0 7 „ I c h bin heute wirklich schön [...] f ü r w e n bin ich schön?" 2 0 8

Diese zwei Zitate zeigen deutlich, wie sehr Else selbst sich als Objekt und gleichzeitig als Mittel zum Zweck versteht. Als Objekt der Schönheit stimmt die Gestalt Elses mit einem abstrakten Ideal überein, aber als Objekt für die Rettung

zoöSchmidt-Dengler, Wendelin: Inflation der Werte und G e f ü h l e . Z u A r t h u r Schnitzlers „Fräulein Else". In: Wendelin Schmidt-Dengler, O h n e Nostalgie. Z u r österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. W i e n : Böhlau Verlag 2 0 0 2 , S. 59 2 0 7 E b d a . , S . 61 208 Ebda., S . 65

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des Vaters wird sie mit einem materiellen und konkreten Element, dem Geld, verglichen. Else verkörpert all das, was die männliche Imagination bei der Frau mit dem Weib, dem Geschlecht und der reinen Schönheit gleichsetzt.209 Wenn die Gestalt Elses die Verkörperung der männlichen Konstruktion der Weiblichkeit unter dem Einfluss der Theorien von Otto Weininger und Sigmund Freud repräsentiert (vgl. die symbolische freudianische Interpretation von Elses Träumen in der Einleitung, S. 25fr.), ist Herr von Dorsday die Verkörperung von Weiningers männlichem Prototyp. Er ist ein vernünftiger Mann, der die Sprache als Uberzeugungsmittel gebraucht. Ein Beispiel für die sprachliche Fähigkeit Dorsdays ist die Szene, in der die Heldin ihn allein trifft, um ihn um das Geld zu bitten. „Natürlich nicht, Fräulein Else, das müßten wir wohl auf telegraphischem Wege [...] Wie viel sagten Sie, Else?" „Aber er hat es ja gehört, warum quält er mich denn? Dreißigtausend, Herr von Dorsday [.. .]" 2 I °

Dorsday zwingt Else unter dem rhetorisch perfekten Vorwand, sie nicht gehört zu haben, die für sie beschämenden Worte (30.000 Gulden) zu wiederholen und erniedrigt sie dadurch noch mehr. Else ist hingegen die Verkörperung der Impulsivität und der sprachlichen Klarheit, als sie zu ihm ohne Doppeldeutigkeiten spricht: „Es handelt sich natürlich nicht um eine Million, es handelt sich im ganzen um dreißigtausend Gulden, Herr von Dorsday, die bis übermorgen mittag um zwölf Uhr in den Händen des Herrn Doktor Fiala sein müssen." 111

Während der Mann schweigend zuhört, spricht die Frau mit sich selbst:

209 Vgl. Otto Weiningers Geschlecht und Charakter, wobei Weininger die Frau mit dem Weib im Kapitel „Männliche und Weibliche Sexualität" identifiziert. Bei ihm ist sie „nichts als Sexualität ist, weil sie die Sexualität selbst ist", denn „beim Weib ist die Sexualität diffus ausgebreitet über den ganzen Körper" (S. 115). Hingegen ist der Mann in Weiningers Augen vernünftig und genial, denn er schreibt: „Genialität [ist] eine Art höherer Männlichkeit; und darum kann W (das Weib) nicht genial sein" (S. 141). 210 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S.81 211 Ebda., S. 80

Schnitzlers Fräulein Else „Warum schweigt er? Warum bewegt er keine Miene? Warum sagt er nicht ja? [...] Gott sei Dank, er spricht!"212

Während das Verhalten des Mannes auf die passive „Tätigkeit" des Zuhörens beschränkt ist, wird das der Frau „aktiv" durch die Tätigkeit des Sprechens. Else, als Frau, spiegelt die unruhige Kraft der Natur wider, die immer in Bewegung ist und durch eine innere, seelische Bewegung der Heldin verdeutlicht wird. Schnitzler verwendet, wie bereits erwähnt, zur Darstellung den inneren Monolog. Diese literarische Technik erlaubt dem Autor, ein weiteres Thema einzuführen: die Gegenüberstellung der Geschlechter. 2 ' 3 „Nie hat mich ein Mensch so angeschaut. Ich ahne, wo er hinaus will." „Ich sitze da wie eine arme Sünderin." „Wie er mich ansieht!" „Da, wir stehen uns gegenüber."2'4

An diesen Zitaten lässt sich ablesen, wie gut Else Dorsdays gestisch-mimische Kommunikationsformen zu lesen und zu interpretieren versteht. Er ist also ein lakonischer Sprecher, denn er verwendet sowohl die Sprache als auch die körperliche Bewegung mit Sparsamkeit. Das „Ansehen" wird zum Mittel Dorsdays in der Kommunikation; sein Dialog mit Else erfolgt über das Anschauen, das Augenspiel. Hingegen wird die ununterbrochene Gesprächigkeit Elses durch eine physische Immobilität begleitet. „Warum schlage ich ihm nicht ins Gesicht, dem Schuften!"21'

Als Mann und Frau einander gegenüberstehend, behandeln sie sich, als ob sie „Todfeinde" wären. In den Augen Dorsdays erscheint Else als die Personifizierung der Lust, 2 ' 6 und die Rolle der Frau wird mit der einer Dirne verglichen. 217 Die Frau, die vom Mann auf ein Objekt des Handels reduziert wird, versucht diese männliche Festlegung zu überwinden. Else sagt ihrem Vater: 212 Ebda., S. 80-81 213 Auch Weininger beschreibt das Verhalten der Frau als impulsiv und extravagant. Er schreibt: „Die Frauen haben in Wahrheit gar keinen Sinn für das Genie (die Vernunft), ihnen gilt jede Extravaganz der Natur" (S. 13z). 214 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S. 82/84/87 215 Ebda., S. 88 216 Auf der Seite 94 in Schnitzlers Fräulein Else lese man: „Nein, nein. Zu jedem anderen - aber nicht zu ihm [...] Da wäre ich ja wie ein Frauenzimmer von der Kärntnerstraße." 217 Weininger identifiziert die Frau sowohl mit der Mutter als auch mit der Dirne (S. 288f.).

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„Du hast zu sicher auf meine kindliche Zärtlichkeit spekuliert, Papa, zu sicher darauf gerechnet [.. .]" 2 ' 8

Die Wiederholung der Partikel „zu" (in Verbindung mit dem Adverb „sicher") verweisen darauf, dass - Elses Meinung nach - der Vater zu weit gegangen ist: Indem er sie als Werkzeug, als Puppe ohne Verstand und Willen, nicht als eigene Persönlichkeit behandelt hat, hat er eine Grenze überschritten und in Else die Rebellion in Gang gesetzt, die im Schlussakt gipfeln wird. Von nun an geht alles sehr schnell: Das Erzähltempo wird erhöht, und Else scheint ihre Identität zu erkennen: „Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich wirklich vernünftig. Alle, alle sollen sie mich sehen!"219

Damit zeigt Schnitzler die Verwandlung der Heldin, und diese Veränderung wird durch die Verwendung männlich konnotierter Termini („vernünftig" und „sehen") gezeigt. 220 Das einstige „Weib", das Opfer, das Objekt der Lust verwandelt sich in eine Frau, die auch vom Autor als Schauspielerin dargestellt wird. Wenn Else sich vor ihrer schauspielerischen Verwandlung tot fühlt, „Die frühere Else ist schon gestorben. Ja, ganz bestimmt bin ich tot." „Mein Herz ist tot. Ich glaube, es schlägt gar nicht mehr",121

fühlt sie sich danach als eine nur scheinbar stärkere und mutigere Frau, die die Kraft gefunden hat, ihren Körper von den Leuten betrachten und schätzen zu lassen. „Nur mit dem Mantel bekleidet sind Sie ins Musikzimmer getreten, sind plötzlich nackt dagestanden vor allen Leuten und dann sind Sie ohnmächtig hingefallen."222

218 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S. 95 219 Ebda., S. 125 220 Weininger schreibt auch: „Alles was ein Mensch tut, ist physiognomisch für ihn". Er verwendet hier das Wort Mensch,

um beide Geschlechter zu erfassen.

221 Arthur Schnitzler: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 126136 222 Ebda., S. 153

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Die Tatsache, dass Else nur in diesem Augenblick ihre Identität als Frau wiedergefunden, wieder entdeckt hat, wird auch von Schnitzler betont, indem er das Pronomen „Sie" verwendet, um Respekt für diese mutige Frau zu zeigen. „Sie ist sich bewußt, daß sie mit ihrer Entblößung die Entblößung des Vaters verhindern soll; die Defensive schlägt um in Aggression. Aggression: das ist der erste Schritt zu einer Emanzipation." 12 '

Die Schlussszene der Erzählung bringt die Entscheidung Elses, das dem Vater gemachte Versprechen zu halten, und zeigt dabei gleichzeitig die Schwäche Elses, die geglaubt hatte, dass die Veränderung der Rolle, die der Mann-Autor ihr gegeben hatte, der A n f a n g einer Wiedergeburt sein könnte. Else ist zweimal O p fer: Erstens das ihres Vaters und zweitens das ihrer Gesellschaft. In beiden Fällen ist Else immer ein „indirektes" Opfer 2 2 4 von zwei Welten, die männlich sind (Vater/Dorsday) und die als Männer denken. Obwohl Else sich als eine starke, entschlossene, emanzipierte erwachsene Frau verhält und die Kraft findet, diese männliche, gleichgültige und zu viel um Geld besorgte Gesellschaft schuldig zu sprechen für ihre Erniedrigung, Ausgrenzung und Schöpfung „[...] Ihr wart es, könnt ich sagen, Ihr habt mich dazu gemacht, Ihr alle seid schuld, daß ich so geworden bin, nicht nur Papa und Mama. Auch der Rudi ist schuld und der Fred und alle, alle, weil sich ja niemand um einen kümmert. Ein bißchen Zärtlichkeit, wenn man hübsch aussieht, und ein bißl Besorgtheit, wenn man Fieber hat. [...] Aber was in mir vorgeht und was in mir wühlt und Angst hat, habt ihr euch je darum gekümmert?" 225 - , bleibt sie bei Schnitzler von Anfang bis Ende der Erzählung ein „kindliches Weib", wie ihre letzten Worte zum Vater bestätigen.

223 Schmidt-Dengler: Inflation der Werte und Gefühle. Zu Arthur Schnitzlers „Fräulein Else". In: Wendelin Schmidt-Dengler, Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien: Böhlau Verlag 2002, S. 62. 224 Ich will hier die Verwendung des Adjektivs „indirekt" erklären. Else ist erst Opfer ihres Vaters, als die Mutter ihr mitteilt, dass der Vater Geld schuldig ist. Das bedeutet, dass Else von der Mutter und nicht direkt vom Vater zu Dorsday geschickt wird. Else ist auch Opfer der Gesellschaft, die durch die Figur Dorsday symbolisiert wird. Die erzählerische Entscheidung Schnitzlers, Else als „indirektes" Opfer sowohl des Vaters als auch der Gesellschaft zu zeigen, verstärkt die Passivität der Gestalt, ihre Unmöglichkeit zu entscheiden und erniedrigt sie als Mensch. 225 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1987, S. 107

Schnitzlers Fräulein Else

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„[...] Alle singen mit. Die Wälder auch und die Berge und die Sterne. Nie habe ich etwas so Schönes gehört. Noch nie habe ich eine so helle Nacht gesehen. Gib mir die Hand, Papa. Wir fliegen zusammen. So schön ist die Welt, wenn man fliegen kann. Küss' mir doch nicht die Hand. Ich bin ja dein Kind, Papa."" 6

Hier dominiert die kindliche und träumerische Seite der Gestalt Elses, die, auch wenn sie erniedrigt und zum Ding reduziert ist, die Süße und die Zärtlichkeit findet, den Vater zu verteidigen und entschuldigen. 227 Die Bemerkungen dieses Kapitels haben gezeigt, dass eine Interpretation Fräulein Elses sowohl in einer sexuellen als auch in einer ökonomischen Perspektive nur möglich ist, wenn man das „Spiel" als Hauptthema der ganzen Narration feststellt. Das „Spiel" ist auch das Kennzeichen von Schnitzlers Epoche, deren soziale, historische, ökonomische und kulturelle Ereignisse im vorigen Kapitel beschrieben wurden.

22 6 Ebda., S. 160 227 Knoben-Wauben, Marianne: Ambivalente Konstruktionen der Weiblichkeit. Das Bild der Frau aus der Sicht des Wissenschaftlers Sigmund Freud und des Dichters Arthur Schnitzlers. In: Ester Hans und Guillaume von Gemert (Hrsg.), Grenzgänge-Literatur und Kultur im Kontext. Amsterdam: Rodopi Verlag 1990, S. 288

III Schnitzlers Frauengestalten in Bezug auf Else

Zwei Ziele hat dieses Kapitel: die Darstellung zweier anderer weiblicher Gestalten aus der erzählenden Produktion Schnitzlers: Leopoldine Lebus aus der Erzählung Spiel im Morgengrauen (1926) und Therese Fabiani aus dem Roman Therese. Chronik eines Frauenlehens (1928), und den Vergleich des von Else verkörperten Weiblichkeitsmodells mit jedem dieser Werke. Die Textanalysen beider Werke zeigen, wie einige Merkmale der Entwicklung Elses als Frau und als Opfer einer männlich orientierten Gesellschaftsstruktur auch im Rahmen der Gestaltdarstellung der oben genannten Texte noch vorhanden sind. Die Texte enthalten dennoch auch einige innovative und moderne Elemente der Konzeption der Weiblichkeit und Männlichkeit. Ein Beispiel ist etwa die Charakterisierung beider Hauptgestalten der Erzählung Spiel im Morgengrauen, in der Leutnant Willi Kasda und Leopoldine Lebus — von einem geschlechtlichen Gesichtspunkt aus — an der Grenze zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit leben. Die Figur Therese Fabianis, deren Leben ein Walzer von Illusionen, Schuldgefühlen, Ausbeutung und Einsamkeit ist, bewegt sich hingegen zwischen Tradition und Innovation. Tatsächlich verkörpert Therese das letzte Stadium der Weiblichkeitskonstruktion Schnitzlers, in der er die Frau als Mutter und als sich Emanzipierende darstellt. Aber die traditionellen weiblichen Rollenzuschreibungen der patriarchalischen Gesellschaft der Schnitzler-Zeit bleiben noch in der Gestalt fest verankert. Die zwei folgenden Textinterpretationen, die in Bezug auf Schnitzlers Erzählung Fräulein Else verglichen werden, gründen sich auf eine soziale und historische sowie auch auf eine psychologische Darstellung der erzählerischen Entwicklung beider Werke. Bemerkenswert im Zusammenhang einer historisch-sozialen Interpretation der Werke Schnitzlers sind die Ausführungen Susanne Gebeis im Rahmen ihrer 1979 verfassten Forschungsarbeit über die Rolle der Gesellschaftskritik in Schnitzlers Werken Leutnant Gustl, Fräulein Else und Spiel im Morgengrauen:

Schnitzlers Frauengestalten in Bezug auf Else



„Er [Schnitzler] beschäftigt sich vorwiegend mit Einzelschicksalen: er zeigt eine Person in einer Zwangslage, in der diese eine Entscheidung zu treffen hat, die über Leben und Tod entscheidet.""8

Ähnlich äußert sich auch Martin Swales, er nimmt in seinem Forschungsessay aus dem Jahr 1971 Gebeis Meinung vorweg: „Schnitzlers's work is remarkably lacking over social comment. It has little or nothing to say about the broader political issues of his time. It is not concerned with mass movement or ideologies. When Schnitzler does attempt to give more general picture of society [...] he tends to be concerned above all with specific individuals rather than with social processes as such."229

Die Tatsache, dass Schnitzlers Aufmerksamkeit und Interesse auf das individuelle Schicksal seiner literarischen Gestalten statt auf eine generelle soziale Darstellung seiner Zeit gerichtet ist, soll nicht als eine Absenz der gesellschaftlichen Komponente in seiner Kunst gelesen werden, sondern als eine gewählte erzählende Technik, in der er die Gestalt als Spiegelung der Gesellschaft und der Zeit betrachtet. Die sozialen Umstände von Schnitzlers Zeit werden durch die Gestalt selbst und durch ihre Geschichte beschrieben. Die literarische Figur wird bei Schnitzler zum Mittel fur die Darstellung einer Epoche, die nie direkt historisch oder soziologisch porträtiert wird. Das prädominante Interesse Schnitzlers an den Lebensgeschichten der verschiedenen Gestalten und seine Entscheidung, die Gesellschaft und die Zeitereignisse nur als Hintergrund der erzählenden Aktion erscheinen zu lassen, spiegelt auch die literarische Struktur aller drei Texte, d. h. Fräulein Else, Spiel im Morgengrauen und Therese. Chronik eines Frauenlebens wider.

228 Gebel, Susanne: Die Gesellschaftskritik in Arthur Schnitzlers Novellen „Leutnant Gustl", „Fräulein Else" und „Spiel im Morgengrauen". Wien: Hausarbeit aus Deutsch 1979 S. 1. Dieser Uberzeugung von Susanne Gebel entsprechen die Gedanken von Willi Kasda in Spiel im Morgengrauen: „[...] Und die einzige Möglichkeit für die Rettung war Onkel Robert. Das stand fest. Sonst blieb nichts übrig als eine Kugel vor die Stirn". (S.

85). 229 Swales, Martin: Arthur Schnitzler. A critical Study. Oxford: University Press 1971, S. 28

Spiel im Morgengrauen

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Spiel im Morgengrauen Die Figur Elses ist meiner Meinung nach Spiegelfigur des k. u. k. Offiziers Willi Kasda, Hauptgestalt der Erzählung Schnitzlers Spiel im Morgengrauen (1926)130. Auch der Inhalt beider Erzählungen ist sehr ähnlich. Der Offizier Willi Kasda versucht einem Kameraden, dem ehemaligen Oberleutnant Otto Bogner, zu helfen. Dieser, ein durch nicht beglichene Spielschulden aus der Armee entlassener Offizier, der die im militärischen Ehrenkodex verankerte Wahl zwischen Tod und Leben in Schande zugunsten des Letzteren entscheidet, gibt seine Karriere auf und schlägt den Weg eines Zivilisten ein, was ihm weder Erfolg noch Glück bringt. Kasda, der davon überzeugt ist, Bogners 1000-Gulden-Schulden mit Kartenspielen gewinnen zu können, gerät dabei selbst in weitaus höhere Schulden: 11.000 Gulden.2'1 Da er nicht im Besitz der nötigen Summe ist, bittet er um die Hilfe seines Onkels Robert Wilram, der aber selbst über keine finanziellen Mittel verfügt. Dessen Ehefrau Leopoldine, die das Geld ihres Mannes verwaltet und die Willi ebenfalls um Hilfe bittet, verbringt, ohne das Geld mit einem Wort zu erwähnen, die Nacht mit ihm und gibt ihm als Liebeslohn 1000 Gulden. Mit dieser Aktion revanchiert sich Leopoldine für die 10 Gulden, die Willi ihr für eine gemeinsame Nacht einst gegeben hatte. Unerwartet bringt der Onkel die Summe von 11.000 Gulden zur Kaserne, aber zu spät, denn der Offizier Willi Kasda ist schon tot: Er hat sich erschossen. Das schon im Titel genannte „Spiel" meint zunächst einfach das Glücksspiel, bei dem die Hauptfigur im Morgengrauen ein Vermögen verliert; darüber hinaus aber das tückische Spiel des Zufalls, das die Figuren Schnitzlers wie Marionetten durch den Wirbel des Lebens bewegt. Die Erfahrung, dass das Leben ein Spiel ist, charakterisiert beide Erzählungen.2'2 Dem Modell des Kartenspiels muss, meiner Meinung nach, kompositionsprägende Wirkung in seinem Bezug zur textinhärenten sozialen Realität zugesprochen werden. Die genauen Regeln und Ordnungen, welche den Spielablauf bestimmen, sind bekannt und müssen von den Spielern eingehalten werden. Jeder versucht, sei-

230 Bemerkenswert ist auch, dass die beiden Erzählungen mit nur zwei Jahren Abstand veröffentlicht wurden (1924 Fräulein Else, 1926 Spiel im Morgengrauen). 231 Vgl. die Figur von Schnitzlers Großvater mütterlicherseits, der als Spieler und Verschuldeter in Jugend in Wien (S. 15) dargestellt wird. 232 Schnitzler, Arthur: Spiel im Morgengrauen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S. 44-47

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Schnitzlers Frauengestalten in Bezug auf Else

ne Karten klug und gezielt einzusetzen, um so den Sieg davonzutragen und Gewinne einzustreichen. Natürlich müssen sich die Teilnehmer des Ungewissheitsfaktors hinsichtlich des Spielausgangs bewusst sein, was jedoch niemanden davon abhält, in der H o f f n u n g auf Gewinn zu spielen. Die Folge dieser spielerischen Erzählstruktur der Novelle ist, dass „jede Figur Spieler und Karte zugleich ist".2'3 Rang und Namen bestimmen die Höhe und den Nutzen des Spieleinsatzes. Die Reduktion des Menschen zum Objekt ist in der gültigen Spielordnung impliziert. Die Beziehungen zwischen den Gestalten entfalten sich zu ritualisierten Begegnungen, bei denen es darauf ankommt, sich klug, d. h. ganz den gegebenen Verhältnissen entsprechend, einzusetzen. Kenntnis des eigenen Spielwertes und Bedachtnahme auf jenen des Partners, welche durch die gesellschaftliche Position definiert ist, sind Grundbedingungen für eine erfolgreiche Teilnahme. Susanne Gebel schreibt über die Position des Konsuls Schnabel: „Er, der ein Emporkömmling ist, haßt die Offiziere, denn sie gehören einer priviligierten Schicht an. Sein H a ß ist daraus zu erklären, daß er ohne sein Geld von den Offizieren überhaupt nicht geachtet werden würde. Jedoch auf G r u n d seines Vermögens hat er es erreicht, in ihre Kreise aufgenommen zu werden. N u n setzt er alles daran, ihnen seine Macht zu zeigen." 234

Auch im Fall Leopoldines spielt die Macht des Geldes eine wichtige Rolle in ihrer Position als emanzipierte, kapitalkräftige und skrupellose Geschäftsfrau, als die sie Einfluss auf das Spiel um Kasdas Leben ausübt. Geld, Macht, Hass und Ausbeutung sind die Komponenten von Leopoldines Spiel und dem ihres diabolischen männlichen Pendants: des Konsuls Schnabel. Die Bedeutung des Spiels als Metapher des Lebens ist sowohl für Else als auch für Willi augenfällig, denn das Spielen bedeutet nicht nur eine Aktion, nämlich Karten spielen — das Pendeln zwischen Gewinnen und Verlieren135 —, wie in dem Fall des Offiziers Willi Kasda, oder die Inszenierung der Schönheit, nämlich eine Viertelstunde vor Herrn von Dorsday nackt zu bleiben, wie in Elses Fall, sondern etwas mehr: die Unsicher-

233 Kecht, Maria Regina: Analyse der sozialen Realität in Schnitzlers Spiel im Morgengrauen. In: Modern Austrian Literature. Vol. 25 Nr. 3/4 University of California 1992, S. 185 234 Gebel, Susanne: Die Gesellschaftskritik in Arthur Schnitzlers Novellen „Leutnant Gustl", „Fräulein Else" und „Spiel im Morgengrauen". Wien: Hausarbeit aus Deutsch 1979, S. 48 235 Schnitzler, Arthur: Spiel im Morgengrauen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S. 36. „Er gewann wieder, verlor, gewann, rückte seinen Sessel nahe an den Tisch zwischen die andern, die ihm bereitwilligst Platz machten; und gewann-verlor-gewann-verlor, als könnte sich das Schicksal nicht recht entscheiden."

Spiel im Morgengrauen

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heit, die Vorläufigkeit, die Unmöglichkeit der Existenz einer festen Ordnung, die das ganze Leben beherrscht. 236 Kurz: M a n spürt die dekadente Atmosphäre der Jahrhundertwende und die prekäre Welt der Zwischenkriegszeit. Hier steht die Vergangenheit der Gegenwart Schnitzlers gegenüber. Die erste kann nur durch das „Spielen" evoziert werden. In der Metapher des Spielens versteckt sich das sozialpolitische Problem der Inflation, das die zwanziger Jahre charakterisiert hat. So hat Hugo Bettauer in dem Roman Das entfesselte Wien117

geschrieben:

„In Wien begann sich die Wirkung der Börsenkrise, das Zerfließen großer Vermögen, der Geldknappheit und der Zusammenbrüche von Bankhäusern in katastrophaler Weise auszuwirken." 2 ' 8

Es gab viele Leute, die mit Geld spekuliert hatten und deswegen immer mehr Schulden machten, wie die Hauptgestalt des Romans, Paul Mautner, „depraviert, verdorben bis in die Knochen, angefault durch die Erlebnisse des Krieges, durch die Umwertung aller ererbten Begriffe". 2 ' 9 Die Assoziation zwischen Spielen und Schulden führt zweifellos zum Problem der Ehre, die in dem Fall des Leutnants Willi Kasda mit der militärischen Ehre übereinstimmt. Die Überzeugung Kasdas — „Ein Offizier mußte doch am Ende wissen, bis wohin er gehen durfte" 240 — findet keine Entsprechung in der Wirklichkeit, als Kasda — obwohl er sich in einer schwierigen Lage befindet — sich entscheidet weiterzuspielen. Seine Illusionen,

236 Kecht, Maria Regina: Analyse der sozialen Realität in Schnitzlers Spiel im Morgengrauen. In: Modern Austrian Literature Vol. 25 Nr. 3/4. University of California 1992, S. 189 237 Wie Murray G. Hall in dem Buch: Der Fall Hugo Bettauer. Ein literatursoziologisches Kapitel der Zwischenkriegszeit, Wien: Locker Verlag 1978, schreibt, kann der Roman Das entfesselte Wien verstanden werden nur „wenn man den zeitgeschichtlichen Horizont von damals zurückgewinnt". Er schreibt weiter: „Der Roman ist eine Art Chronik der laufenden Ereignisse, eine Mischung aus Fiktion und Feuilleton und schöpft seinen Personenvorrat fast zur Gänze aus dem öffentlichen Leben" (S. 9). 238 Bettauer, Hugo: Das entfesselte Wien. Salzburg: Hannibal Verlag 1980, S. 121 239 Ebda., S. 160 240Schnitzler, Arthur: Spiel im Morgengrauen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S. 25

Schnitzlers Frauengestalten in Bezug auf Else

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das nötige Geld am Spieltisch zu verdienen, werden von den lapidaren Worten des Konsuls Schnabel zerbrochen. „Ehrenschulden sind bekanntlich innerhalb vierundzwanzig Stunden zu bezahlen. [...] So setzen wir denn die Stunde [...] auf Dienstag mittag zwölf Uhr fest, wenn es Ihnen recht ist."24'

Die temporale Angabe spielt hier — auf zwei Ebenen — eine sehr wichtige Rolle. Einerseits entspricht sie jener der Erzählung Fräulein Else („Und wenn das Geld am fünften um zwölf Uhr mittags nicht in Fialas Händen ist [...]") 241 und andererseits bewirkt sie eine Beschleunigung der erzählenden Aktion, denn alles wird ab diesem Moment mit Schnelligkeit und Dynamik dargestellt. Es ist auch interessant zu bemerken, dass Schnitzler „zwölf Uhr" As Zeittermin für die Auflösung der problematischen Lage Kasdas und Elses gewählt hat. Das ist nicht zufällig, denn es trägt, meiner Meinung nach, in sich eine prägnante symbolische Bedeutung.243 So wie zwölf Uhr gerade die Zeit ist, in der die Sonne ihre maximale Helligkeit erreicht, ist es symbolischerweise auch die Zeit, in der die Gestalten Schnitzlers und die Narration selbst eine Klimax erreichen. Tatsächlich, nachdem diese Uhrzeit das erste Mal erwähnt wurde, erlebt die ganze inhaltliche und sprachliche Struktur beider Erzählungen eine Wende. Die Angst, die Zweifel und die Unsicherheiten Elses Dorsdays Vorschlag gegenüber finden eine umgekehrte Entsprechung in Kasdas Verhalten, denn er — im Gegensatz zu Else - fühlt sich zweimal sicher. Das erste Mal, als er am Spieltisch sitzt, und das zweite Mal, als er Leopoldine um das Geld bittet. „[...] die Hundertzwanzig, die ich heute noch hab', verdank' ich übrigens auch nur meiner Ausdauer, sonst wäre ich ganz blank. [...] Ich weiß, die Chance ist nicht überwältigend, aber der Tugut hat sich neulich gar nur mit fünfzig hingesetzt, und mit dreitausend ist er aufgestanden. Und dann kommt noch etwas hinzu: daß ich seit ein paar Monaten nicht das geringste Glück in der Liebe habe. Also vielleicht ist auf ein Sprichwort mehr Verlaß als auf die Menschen."244

241 Ebda., S. 70 242 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S.

55

243 In Grande

Dizionario

della lingua

italiana

von Salvatore Battaglia Voi X. Torino: Editrice

Torinese 1978, S. 334 liest man: „Istante in cui il sole raggiunge il suo culmine; periodo di intenso fulgore, di vigoroso sviluppo, culmine o acme." 244Schnitzler, Arthur: Spiel im Morgengrauen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S. 22

Spiel im Morgengrauen

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„Und etwas unvermittelt erklärte er, daß er nach den Aufschlüssen, die ihm der Onkel gegeben, natürlich nicht weiter in ihn dringen dürfe, und er ließ sogar gelten, daß ein Versuch beim Konsul Schnabel immerhin noch eher Aussicht auf Erfolg haben könnte als bei dem gewesenen Fräulein Leopoldine Lebus [.. .]"24S Kasdas Selbstvertrauen in die positiven und glücklichen Ereignisse des Kartenspiels entsprechen seiner Selbstsicherheit Frauen und insbesondere Leopoldine gegenüber, bei der er seinen Charme und seine verführerischen Eigenschaften als Kredit verwenden will. „[...] daß endlich in ihrem Herzen noch etwas für ihn sprach, dieses Gefühl wirkte so stark in Willi nach, daß er sich, im Geist eine lange Frist überspringend, plötzlich als Gatten der verwitweten Frau Leopoldine Wilram, nunmehriger Frau Majorin Kasda, zu erblicken glaubte."240 Aber diese Sicherheit des Leutnants wird durch den negativen Einfluss des Unglücks und des Schicksals in Frage gestellt. Nicht nur am Spieltisch erlebt Kasda, dass das Glück nicht auf seiner Seite ist „Vor einer Viertelstunde war man ein wohlhabender junger Mann; und jetzt ist man ein Habenichts, und das nennen sie ,auf gleich'"247 —, sondern auch als er Leopoldine nach vielen Jahren wieder trifft. Die neuerliche Begegnung mit dem Vorstadtmädel — dem Wuschelkopf von damals — verwirrt die geplanten Verhaltensstrategien des Leutnants einigermaßen, weil sich Leopoldine in eine distanzierte, kühle Geschäftsfrau verwandelt hat. „Sie sah dem Geschöpf nicht im geringsten ähnlich, das er in der Erinnerung bewahrt hatte, war stattlich und voll, ja anscheinend größer geworden."24' Die Dekonstruktion von Kasdas Uberzeugungen im Rahmen von Spielen und Frauenbegegnungen wird in einer kontinuierlichen Steigerung erzählt, unglückliche und schwierige finanzielle Umstände für die Hauptgestalt, die sich als Opfer von Schuldnern wieder findet. 245 Ebda., S. 117 246 Ebda., S. 129 247 Ebda., S. 61 248 Ebda., S. i2i

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Schnitzlers Frauengestalten in Bezug auf Else „Ihre Schuld, Herr Leutnant, - fügte der Konsul freundlich hinzu - beläuft sich auf elftausend Gulden netto."149

In diesem Kontext ist das Thema der Spekulation und der Inflation sowohl in der Erzählung Fräulein Else als auch in Spiel im Morgengrauen augenfällig. Die Steigerung der Summe, die Willi Kasda dem Konsul wiedergeben muss - von iooo auf 11.000 Gulden - , so wie die Worte von Elses Mutter in dem zweiten Telegramm: „Wiederhole flehentliche Bitte, mit Dorsday reden. Summe nicht dreißig, sondern fünfzig. Sonst alles vergeblich. Adresse bleibt Fiala",2'0 sind Hinweis auf die Inflation und den Verfall der Werte. In einer solchen inflationären Lage ist der Körper, weiblich oder männlich (vgl. Figuren wie Else oder Willi) der einzig stabile Wert, der die „ökonomische" Situation der Gestalten „sanieren" kann. Else und Willi verkaufen sich für die Rettung jemandes anderen, der in ökonomische Not geraten ist. Spielen um Geld ist die eine „Lösung", Einsatz der Weiblichkeit die andere.2'1 In der Erzählung Spiel im Morgengrauen findet gegenüber Else ein Geschlechtertausch statt, die männliche Gestalt wird weiblich und die weibliche männlich. Willi, der k. u. k. Offizier, verkörpert die Else-Figur, eine weibliche Figur auf der Suche nach Geld, schwach und immer von jemandem anderen abhängig.252 Wie Willi Leopoldine braucht, braucht Else Herrn von Dorsday, und wenn Else sich verkaufen muss, so auch Willi, 253 der das Geld für den Freund benötigt. „Er fühlte sich bereit, ihr über die Treppe nachzulaufen, im Hemd - geradeso — er sah das Bild vor sich - wie er in einem Provinzbordell vor vielen Jahren einmal eine

249 Ebda., S. 66 250 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1998, S. 119 251 Vgl. die Erzählungen Fräulein Else, S. 89, und Spiel im Morgengrauen, S. 78. In beiden Fällen geht es um eine Handelsbeziehung zwischen Körperlichkeit und Geld, aber als Bezahlung wird Unterschiedliches verlangt: In Elses Fall verlangt Dorsday die Betrachtung der körperlichen Schönheit Elses; in Kasdas Fall hingegen verlangt der Konsul Schnabel die Vergangenheit Greisings, eines von Willis Kameraden. 252 Diese männliche Abhängigkeit von einer Frau findet sich auch in der Gestalt des Onkels von Willi, als der Onkel sagt: „Ich brauch' sie nämlich, Willi, ich kann ohne sie nicht existieren", S. 112. 253 Ebda., S. iji. „Denn plötzlich wußte er, - und hatte er es nicht früher schon geahnt? - daß er auch bereit gewesen war, sich zu verkaufen".

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Dirne einem Herrn hatte nachlaufen sehen, der ihr den Liebeslohn schuldig geblieben war. [...] Sie [Leopoldine] ließ eine Banknote auf den Tisch gleiten ... [...] Die tausend Gulden, die sind nicht geliehen, die gehören dir — für die vergangene Nacht."' 54

Willi, Vertreter einer bereits untergegangenen militärischen Macht, die in der Figur des Offiziers das wichtigste Element der bürokratischen Struktur der österreichischen Gesellschaft der Monarchiezeit sah, wird jetzt, in der Wiener Moderne, zu einer Dirne „degradiert". In der neuen Welt der ersten Nachkriegszeit hat die alte Figur des k. u. k. Offiziers keinen Wert mehr. „Und welche Sicherheit würden Sie mir bieten, Herr Leutnant?", fragte Leopoldine den Offizier, und er antwortete: „Ich bin Offizier, gnädige Frau", aber die Worte Leopoldines sind lapidar: „Verzeihen Sie, Herr Leutnant, aber das bedeutet nach geschäftlichen Usancen noch keine Sicherheit. W e r würde für Sie bürgen?" 2 « W e n n die weibliche Konnotation in der Darstellung Willis prädominant ist, so dass er die Rolle einer Dirne spielt, sind die Kennzeichen Leopoldines (man kann auch bemerken, dass der Name das weibliche Pendant zu dem häufigeren männlichen „Leopold" ist) gut ausbalanciert, so dass ihr Bild die androgyne Natur der Frau der zwanziger Jahre zeigt, aber nicht ohne die versteckte, unterdrückte, faszinierende Weiblichkeit zu vergessen. Das ehemals schöne und faszinierende Aussehen Leopoldines, das noch in Kasdas Erinnerung lebendig ist „Er sah den blonden Wuschelkopf auf dem grobleinen-weißen, rotdurchschimmerten Bettpolster, das blasse, rührend-kindliche Gesicht [...] den schmalen Goldreif mit dem Halbedelstein auf dem Ringfinger ihrer Rechten [...] das schmale silberne Armband um das Gelenk ihrer linken [.. .]" 2 ' 6 scheint verschwunden zu sein, als Schnitzler in Kapitel X I die männliche Natur Leopoldines darstellt. Es ist, als ob sie ihre Weiblichkeit und Schönheit für immer verloren hätte. „Sie sah dem Geschöpf nicht im geringsten ähnlich, das er in der Erinnerung bewahrt hatte, war stattlich und voll, ja anscheinend größer geworden, trug eine ein-

254 Ebda., S. 146-148 255 Ebda., S. 124-125 256 Ebda., S. 118

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fache, glatte, beinahe strenge Frisur, und, was das merkwürdigste war, auf der Nase saß ihr ein Zwicker, dessen Schnur sie um das Ohr geschlungen hatte." 1 ' 7

Diese Beschreibung des wenig anmutigen Erscheinungsbildes Leopoldines erinnert an die Darstellung der Frau in der Mode der zwanziger und dreißiger Jahre, wobei die Frau den männlichen Modestil zu imitieren versucht. Diese „männliche" Frau, die in den Augen ihres Ehemannes als eine „sehr sparsam[e] [...] und auch sehr geschäftstüchtig^]" Gattin, die „das Geld vernünftiger angelegt, als ich das je getroffen hätte"*'8 gesehen wird, reflektiert ihre Männlichkeit auch in ihrem Lebensraum: dem Arbeitszimmer. Leopoldine lädt Willi in ein „hellefs] und geräumige[s] Zimmer, in dessen Mitte ein langer Tisch stand, mit Tintenzeug, Lineal, Bleistiften und Geschäftsbüchern; an den Wänden rechts und links ragten zwei hohe Aktenschränke, auf der Rückwand über einem Tischchen mit Zeitungen und Prospekten war eine große Landkarte von Europa ausgespannt [..J"1»

Leopoldine, Verkörperung einer engagierten und emanzipierten „Self-made"Frau,26° die, wie sie selbst behauptet, „ein freier Mensch [ist], [...] von niemandem abhängig, wie ein Mann" 26 ', spiegelt Schnitzlers Konstruktion der emanzipierten Weiblichkeit wider, die der veränderten Rolle der Frau der neuen industrialisierten Gesellschaft der Zwischenkriegszeit entspricht. Die Rede ist hier von einem modernen Konzept der Weiblichkeit, die von einer Frau, die ihre persönliche und ökonomische Unabhängigkeit durch soziale und politische Kämpfe und Anstrengungen erreicht hat, verkörpert wird. Es ist aber merkwürdig zu beobachten, wie Schnitzler diese moderne emanzipierte Weiblichkeitskonstruktion noch mit traditionellen Merkmalen kennzeichnet. Die weiblich-sinnliche und klassisch-verführerische weibliche Schönheit, die auch der männlichen AufFassung von Schnitzlers Gesellschaft entspricht, wird in der Erzählung durch die inneren monologischen Bemerkungen Willis — in Kapitel XIII - beschrieben:

257 Ebda., S. 121 258 Ebda., S. i n 259 Ebda., S. 121 260 Ebda., S. 123. „Sie wies auf die offene Schachtel, er bediente sich, sie gab ihm Feuer und zündete sich selbst gleichfalls eine Zigarette an." 261 Ebda., S. 142

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„Wie lang mag sie schon dastehen, dachte Willi, und was ist denn das für eine Stimme? Und wie sieht sie aus? Das ist doch eine ganze andere als die vom Vormittag."*6*

Die Eindrücke Willis werden sofort von der Erscheinung Leopoldines bestätigt: Sie ist eine andere Person geworden; sie hat sich in eine echte weibliche Frau verwandelt, die sich bewusst ist, dass ihre sexuelle Macht noch lebendig ist und nur auf jemanden wartet, der sie wecken kann. „In der Hand hielt sie einen weiß-blau gestreiften Schirm, der ihrem blauen, weiß getupften Foulardkleid vortrefflich angepaßt war. Sie trug einen Strohhut von nicht ganz moderner Fasson, breitrandig, nach Florentiner A r t , mit herabhängenden, künstlichen Kirschen." 26 '

Leopoldine hat ihre männlichen Waffen abgelegt und holt nun die weibliche Waffe der Schönheit und der Verführung hervor.264 Ein Signal dieser Veränderung in Leopoldines Verhalten ist die Verweigerung einer Zigarette, die Willi ihr anbietet. „[...] und plötzlich bot er Leopoldine aus der im Hotel gekauften Schachtel eine Zigarette an. Sie lehnte ab [.. ,]" 2 6 '

Die Parallelität in den Beziehungen zwischen Else und Willi einerseits und Herrn von Dorsday und Leopoldine andererseits gründet auf der Umkehrung der Beziehung zwischen den Geschlechtern in den zwanziger Jahren und gleichzeitig auf der Notwendigkeit für den Menschen, Geld zu besitzen, das der Motor der menschlichen Existenz jeder industrialisierten Gesellschaft, das Mittel zur Rettung der Ehre sowohl für Elses Vater als auch für Willi ist. In der Schlussszene der Erzählung, als Willi schon tot ist und Onkel Robert mit den 11.000 Gulden zur Kaserne kommt, ist folgendes Zitat aufschlussreich: „Und als glaubte er [der Onkel] wirklich, daß er ihn damit zum Leben erwecken könnte [...] als müßten sie nun, da das Geld herbeigeschafft war, doch wenigstens einen Versuch machen, den Toten wieder zum Leben zu erwecken." 166

262 Ebda., S. 133 263 Ebda., S. 134 264 Ebda., S. 1)6. Leopoldine verkörpert das Bild der Femme fatale. „Teilnahmsvoll, die Lippen halb geöffnet, sah sie zu ihm auf." 265 Ebda., S. 134 266 Ebda., S. 162

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Schnitzlers Frauengestalten in Bezug auf Else

Die Macht des Geldes, die das Leben der modernen mechanisierten und inflationären Gesellschaft der Zwischenkriegszeit regiert, vermag nichts gegen den Tod, denn das Geld ist kein Auferstehungsmittel, sondern gerade der Grund für den Tod. Die bis hier kommentierte Textanalyse von Spiel im Morgengrauen hat die Parallelität zwischen einer traditionellen Geschlechterbeziehung, die schon in Else dargestellt wird, und einer modernen, mehr emanzipierten gezeigt, in der die Geschlechterrollen vertauscht sind. Wenn man jetzt die Aufmerksamkeit auf die Darstellung der zwei im primären Sinne weiblich determinierten Gestalten, d. h. Else und Leopoldine, richtet, muss man feststellen, dass Leopoldine im Vergleich zu Else von einem ungemeinen Lebenswillen erfasst ist, der es ihr ermöglicht, sich durchzusetzen. Sie flieht nicht vor dem Gesetz des Marktes der bürgerlichen Gesellschaft, sondern sie macht es sich zunutze. Ihre Erfahrung hat sie gelehrt, hart zu sein, denn sie und ihre männlichen Doppelgänger sind von einer Seelenkälte gegen alle Werte erfüllt, mit einer Ausnahme - Geld. Mit Hilfe des Geldes ist es beiden möglich, andere Leute von sich abhängig zu machen und ihr Spiel mit ihnen zu treiben. Schnitzlers Konstruktion der Weiblichkeit ist in Spiel im Morgengrauen komplexer geworden. Er hat sie — durch die Darstellung Leopoldines — in zwei Phasen strukturiert. Es gibt eine innovative Phase, die Leopoldine als „männlich" und emanzipiert zeigt, und es gibt eine traditionelle Phase, in der Leopoldine ihre konventionelle Weiblichkeit als Hausfrau und Dirne erhält. Es ist, als ob Schnitzler versuchte, sich im Rahmen der Frauenfrage zu emanzipieren, aber es gibt auch plötzlich seine Rückkehr zur Tradition. Während in Else Schnitzler seiner patriarchalischen Uberzeugung verankert geblieben ist, hat er in Spiel im Morgengrauen eine vorläufige Anstrengung in Richtung Emanzipation gemacht.

Therese. Chronik eines Frauenlebens

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Therese. Chronik eines Frauenlebens Diese Anstrengung erreicht eine echte und effektive Verwirklichung in dem späteren Roman Schnitzlers aus dem Jahr 1928 Therese. Chronik eines Frauenlehens. Die Heldin, Therese Fabiani, wird nicht nur als „Weib" und Mutter, sondern auch als selbstständige Frau dargestellt. Der Emanzipationsprozess Thereses, der mit ihrer Entscheidung, das Zuhause zu verlassen, und dem Beginn ihrer Berufstätigkeit 267 als Gouvernante und Privatlehrerin zusammenfällt 1 6 8 , spiegelt nicht nur Thereses W u n s c h nach Selbstständigkeit und Freiheit ganz weit weg von ihrer Familie wider, die sie nicht mehr ertragen kann, 269 sondern stellt auch eine finanzielle Notwendigkeit dar. „Sie ergreift ihren Beruf nicht, um sich bewußt zu emanzipieren, sondern sie wird von den äußeren Umständen dazu gezwungen." 270 In Wien verwickelt Therese sich in verschiedene Liebesbeziehungen, wie dieser mit dem Hochstapler Kasimir Tobisch, der sie durch seine Galanterie — er nennt sie „Prinzessin oder Erzherzogin" (S. 70) und spielt auf ihre adelige Abstammung mütterlicherseits an — und Fröhlichkeit täuscht. Von ihm bekommt Therese einen Sohn, den sie in der Nacht der Geburt sofort töten will, aber es nicht vermag. Franz, so heißt Thereses Sohn, wird von der Heldin aufs Land gebracht, wo er bei einer Pflegefamilie lebt. Der Junge entwickelt sich von einem bösartigen Kind zu

267 Schnitzler, Arthur: Therese. Chronik eines Frauenlebens. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1995, S. 14. „Eines nur war gewiß, daß sie hier in diesen Räumen, in dieser Stadt keineswegs mehr lange wohnen würde; sobald als möglich wollte, vielmehr mußte sie einen Beruf ergreifen; lieber anderswo als hier." 268 Die Rolle von Therese als Gouvernante in den verschiedenen Familien, ihre Beziehungen mit den Hausherrinnen und Hausherren, ihre Entscheidungen, nach kurzer Zeit zu kündigen, weil sie mit den Ansichten der Hausfrau über die Erziehung der Kinder nicht konform geht (S. 49); weil „die Frau (Hausherrin), deren Gatte indes Beziehungen zu einem anderen weiblichen Wesen angeknüpft hatte, Theresen vorwarf, diese suche ihr die Liebe ihres Kindes zu entziehen" (S. 118) oder letzlich weil sie ,,ein[en] ganz[en] brutal[en] Annährungsversuch" vom Hausherrn, „während Frau und Kinder im Nebenzimmer weilten" (S. 128), erlebt, spiegelt die Schwierigkeiten der Heldin, menschliche Beziehungen aufzubauen und auch den Mangel an Konstanz und die Instabilität ihres Lebens wider. 269 Thereses Beziehung zu ihrer Mutter und ihrem Bruder Karl ist sehr konfliktreich, während ihre Beziehung mit dem Vater, einem Ex-Offizier in Pension und in einem Irrenhaus interniert, nicht so problematisch zu sein scheint (S. 12-14). 270 Kündig, Maya: Arthur Schnitzlers „Therese". Bern: Peter Lang 1991, S. 148

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einem ausgewachsenen Dieb, der schließlich aus Raffgier seine Mutter tötet. Therese, die nie f ä h i g gewesen war, eine gute Beziehung zu i h m aufzubauen, fühlt sich verantwortlich und schuldig für Franzens Verhalten. Schon in dieser kurzen Z u s a m m e n f a s s u n g des R o m a n s sind einige wichtige T h e m e n der Narration fokussiert: die Mutter-Tochter-Beziehung, die MutterSohn-Beziehung, das Schuldgefühl der Heldin und noch einmal die Rolle des Geldes als G r u n d für den M o r d an der Hauptgestalt. Ich will jetzt diese einzelnen Elemente kontextualisieren und mit Fräulein Else vergleichen. In dem R o m a n ist die Beziehung zwischen Therese u n d ihrer Mutter von Beginn an konfliktzentriert. Die Mutter, die aus einer adeligen Familie s t a m m t und die ihrer A b s t a m m u n g wegen ihre Hochzeit mit einem Offizier als Deklassierung gesehen hat „Ja, ihre Mutter war eben doch eine Baronin, war auf einem Schlosse aufgewachsen, hatte ein wildes Pony geritten"271 - , „blieb daheim, mehr noch als früher ins Lesen von Romanen verloren, um das Hauswesen wenig bekümmert [...] und hatte bald wieder [...] zur Kaffeestunde zwei- oder dreimal die Woche einen Kreis von schwatzenden Weibern um sich versammelt, Frauen oder Witwen von Offizieren und Beamten, die ihr den Klatsch der kleinen Stadt über die Schwelle brachten".272

Ihre Rolle in der Familie und insbesondere in Bezug auf Therese ist von einem widersprüchlichen Gefühl geprägt. Einerseits interessiert sie sich für die zukünftige Position ihrer Tochter und ist darum besorgt, dass Therese einen reichen und gut positionierten M a n n heiraten kann, wie z. B. den Grafen Benkheim, der ihr einen sozialen Aufstieg anbieten kann. „Eines Abends [...] erschien der Graf Benkheim. [...] rückte näher an sie heran und sprach zu ihr in einer Weise, die ihr völlig ungewohnt war. [...] Er nahm ihre beiden Hände und nannte einen Ort an einem italienischen See [...] in einer reizenden kleinen Villa mit einem herrlichen Park. Marmorstufen führten geradewegs in den See."273

271 Schnitzler, Arthur: Therese. Chronik eines Frauenlebens. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1995, S. 30 272 Ebda., S. 7 273 Ebda., S. 37. Die Beschreibung der kleinen Villa am See mit Marmorstufen und die fol-

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Dieses mütterliche Schutzgefühl ist im Grund nur eine Fassade, die das egoistische ökonomische Interesse der Mutter Thereses versteckt. „Denkst du, es geht so fort? Wir hungern, Therese. [...] Und der Graf würde für dich sorgen — für uns alle, für den Vater auch."274

Der Versuch von Frau Fabiani, die Tochter Therese mit dem Grafen zu verkuppeln, ist nur eine brutale und auch banale Weise, die Tochter zu verkaufen. Unter dem Vorwand, die schwierige finanzielle Lage der Familie Fabiani sanieren zu wollen, versucht Frau Fabiani ihre Tochter zu verkaufen. So wie bei Else spielt auch hier die Mutter die Rolle derjenigen, die die Tochter für die Rettung der Familie — im Fall Elses nur für den Vater, der die ganze Familie symbolisiert — zwingt, sich zu opfern. Es ist interessant zu beobachten, wie ambivalent das Verhalten der Mutter ist, denn einerseits erniedrigt sie die Tochter zur Hure und Dirne und andererseits glorifiziert sie sie als rettenden Engel. Aber Thereses Reaktion ist genau das Gegenteil jener Elses. Während Therese den Vorschlag der Mutter nicht akzeptiert und entscheidet, eine Existenz als selbstständige Frau zu führen, bleibt Else Opfer der klugen Planung ihrer Mutter. Obwohl Therese die Kraft und den Mut hat, sich dem Grafen nicht zu verkaufen, „verschenkt" sie sich an Männer - wie den Leutnant Max oder Kasimir Tobisch - für die sie nie ein echtes Liebesgefühl spürt. Die inkohärente und manchmal auch unvernünftige und impulsive Reaktion Thereses dem Leben gegenüber ist nicht nur in ihrem Verhalten in der Arbeitswelt oder in der Liebe (vgl. die verschiedenen Episoden, in denen sie gekündigt oder in denen sie Liebesbeziehungen abgebrochen hat) deutlich, sondern auch in ihrer Beziehung zum Sohn Franz. Therese verhält sich widersprüchlich ihm gegenüber. Sofort, ab dem ersten Augenblick nach seiner Geburt, verspürt sie den Impuls, ihr Kind zu töten, gleich daraufbrechen mütterliche Gefühle durch. „Und da war das Kind. [...] Es war wohl tot. Gewiß war es tot. Und wenn es nicht tot war - in der nächsten Sekunde würde es sterben. Und das war gut. [...] Ich will's ja nicht zum Fenster hinauswerfen oder ins Wasser oder in den Kanal [...] Sie zog den Knaben nah an sich heran, nahm ihn in die Arme, preßte ihn an ihre Brust." 17 '

gende Szene der drei jungen Damen (die drei Grazien), die „ganz nackt in den See hinaus schwammen" (S. 33), erinnert an Elses Traum, an der Riviera zu leben und „nackt auf dem Marmor" (Fräulein Else, S. 42) zu liegen. 274 Ebda., S. 25 275 Ebda., S. uo

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Widersprüchlich ist auch Thereses Entscheidung, das Kind aufs Land zu bringen und ihn in die Hände einer Pflegefamilie zu geben, der gegenüber sie ein Eifersuchtsgefühl spürt, während sie ihre Liebe und Mühe anderen fremden Kindern schenkt. „Andere Male wieder gab es Eifersüchteleien nicht nur zwischen Therese und der Bäuerin, sondern auch zwischen Therese und Agnes; und dann beklagte sich Therese geradezu, daß Frau Leutner und ihre Tochter das Kind so verzärtelten, als wenn sie es ihr abspenstig machen wollten." 176 „Und bald erkannte sie, daß sie dieses Kind geradeso sehr, ja, noch mehr liebte als ihr eigenes." 277

Diese Gefühlswechsel der Heldin werden ausgelöst, als Therese sterbend, in der letzten Szene des Romans, Alfred bittet, vor Gericht zu gehen und für die Unschuld Franzens einzustehen. „Er ist unschuldig. Er hat mir nur vergolten, was ich ihm getan habe. M a n darf ihn nicht zu hart bestrafen." 178

Therese hat sich am Ende ihres Lebens für ihre weibliche Rolle entschieden: Sie will als eine liebevolle Mutter betrachtet werden, die „durch ihre Mordgedanken in der Geburtsnacht nun tatsächlich für die Verdorbenheit ihres Sohnes und somit in letzter Konsequenz für ihren eigenen Tod verantwortlich zu machen ist".2™ Das doppelte Leben der Heldin als Frau und Mutter wird vom Autor schon im Titel gezeigt. Therese. Chronik eines Frauenlehens weist daraufhin, dass es sich nicht um eine traditionelle Romanform handelt, sondern um eine Chronik, eine Auflistung chronologisch geordneter Fakten. Den Begriff „Fakten" interpretiert Kündig folgendermaßen: „ E s sind die inneren Vorgänge, die bis in die feinsten Regungen wiedergegeben werden. N i c h t äußere H a n d l u n g und Vorfälle sind wichtig, sondern die Reaktionen, die diese im Empfinden und Denken der Hauptfigur auslösen." 280

276 Ebda., S. 120 277 Ebda., S. 138 278 Ebda., S. 302 279 Kündig, Maya: Arthur Schnitzlers „Therese". Bern: Peter Lang Verlag 1991, S. 195 280 Ebda., S. 119

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Von einem inhaltlichen Gesichtspunkt aus kann man den Roman als eine Bearbeitung der früheren Erzählung Schnitzlers Der Sohn. Aus den Papieren eines Arztes aus dem Jahr 1892 betrachten, wie auch Schnitzler selbst in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal 1898 schreibt: „Die alte Skizze vom ,Sohn' (Muttermörder) gestaltet sich in mir zu irgendwas aus, was beinah ein Roman sein könnte." 181

Zwischen den zwei Werken bestehen durchaus sowohl zahlreiche Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Ich werde in diesem Zusammenhang nur einige erwähnen, die einen interessanten Beitrag zum Verständnis der Interpretation des Romans leisten können. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf zwei Gestalten — den Arzt und den Sohn — und auf ihre Beziehung zur weiblichen Hauptgestalt, d. h. Frau Martha Eberlein in Der Sohn und auf Therese. In der 1892 erschienenen Erzählung spielt die Figur des Arztes eine doppelte Rolle: Er ist gleichzeitig als berufstätiger Arzt im Rahmen der Entwicklung der Narration und auch als auktorialer Erzähler dargestellt. Seine Funktion ist nicht nur mit dem Inhalt, sondern auch mit der sprachlichen Ebene des Textes verbunden. Er ist eine namenlose Figur, die nur durch ihre Tätigkeit determiniert wird und deren fiktionale Rolle in der Geschichte die des Rettenden ist. Kündig schreibt: „Die Hauptfiguren sind im Roman und in der Erzählung die gleichen: Mutter, Sohn und Arzt; sie haben jedoch nicht in beiden Texten dieselben Funktionen. Dies ist besonders bei der Figur des Arztes auffällig. In der Kurzgeschichte fungiert er als Ich-Erzähler, der die Ereignisse berichtet."28*

Er soll die Mutter heilen und auch den Mörder vor Gericht durch die Wiederholung der Mutterworte entlasten. „Und darum, Herr Doktor, gehen Sie vors Gericht, und erzählen Sie, was Sie hier von mir gehört; man wird ihn freilassen, man muß es tun." 2 8 '

281 Ebda., S. 131 282 Ebda., S. 125 283 Schnitzler, Arthur: Der Sohn. Aus den Papieren eines Arztes. In: Das erzählerische Werk. Band I. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1977, S. 85

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Die Entscheidung des Arztes, vor Gericht zu gehen, wird in den zwei Texten unterschiedlich formuliert, denn der Arzt in der Erzählung gibt dem Leser keine Hinweise über die letzte Entscheidung des Gerichts und so bleibt der Schluss offen. Im Roman hingegen bleibt das Erscheinen Alfreds vor Gericht erfolglos und statt Hoffnung bleibt nur Resignation: Theresens Sohn wird zu zwölf Jahren „schweren Kerkers" mit der Verstärkung „durch Dunkelhaft und Fasten an jedem Jahrestage der Tat" 184 verurteilt. In dem oben genannten Ausspruch der sterbenden Mutter erkennt man eine der ersten Parallelen mit Therese, als diese Alfred die Unschuld Franzens erklärt. Alfred ist der Arzt des Romans; er trägt einen Namen und ist seit Jahren mit der Heldin gut bekannt. Während dieser langen Bekanntschaft ist er immer freundlich und hilfsbereit Therese gegenüber, sowohl als sie verlobt waren als auch als Therese auf dem Sterbebett liegt. „Betrachtet man diese Beziehung zwischen Therese und Alfred als Ganzes, so ist es eigentlich die einzige Verbindung von einer gewissen Konstanz im Leben der Protagonistin, die auch Tiefpunkte zu überstehen vermochte. Immerhin ist Alfred als Berater und Freund für Therese da, und auch wenn er seinen gesellschaftlichen Vorteil ihretwegen nicht aufgeben will, so beweist er an ihrem Sterbebett doch Freundschaft, Treue und ein gewisses Einfühlungsvermögen." 28 '

Wir kommen jetzt zur zweiten Parallele: Es geht um die Beziehung Mutter — Sohn und um die Tatsache, dass diese von einer Mischung doppeldeutiger Gefühle geprägt ist. Diese kontrastierenden Stimmungen sind sowohl in der Erzählung als auch im Roman deutlich; auch wenn die Beziehung Mutter - Sohn von einem „topographischen" Gesichtspunkt aus gebildet ist. Tatsächlich kann man sich an die Tatsache erinnern, dass der Sohn (namenlos) immer mit seiner Mutter gelebt hat, während Franz von der Mutter selbst aufs Land gebracht wurde. Aber abgesehen von diesem Faktor ist das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn in beiden Texten ähnlich, da der Sohn seine Nähe zur Mutter nur durch eine funktionale Motivation begründet: der Suche nach Geld. Er nützt die Geduld und die Liebe der armen Mutter aus und bittet skrupellos immer wieder um das Geld; Geld, das die Mutter durch eine anstrengende Arbeit verdient. Es ist gerade das Thema der Mutterarbeit, in dem die zwei Texte sich unterscheiden und zeigen, wie die Konstruktion der Weiblichkeit bei Schnitzler gereift ist. Während die Hausfrau Martha noch

284 Ebda., S. 303 285 Kündig, Maya: Arthur Schnitzlers „Therese". Bern: Peter Lang Verlag 1991, S. 176

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ihr G e l d durch N ä h e n und Sticken verdient, 286 ist Therese schon eine emanzipierte Frau, die eine Arbeitsstelle außerhalb des Hauses hat. A b e r das G e l d bleibt — in beiden Werken - zentrales T h e m a f ü r die Unstimmigkeiten zwischen Mutter und S o h n . Diese Unstimmigkeiten u n d ihre Folgen werden von den beiden M u t t e r Gestalten g a n z unterschiedlich erlebt. W ä h r e n d die G e f ü h l e der Mutter der Erzählung - von A n f a n g bis Ende - in R i c h t u n g Liebe, Verstehen und G e d u l d dem S o h n gegenüber gehen, sind die G e f ü h l e Thereses durch einen T a u m e l zwischen Hass (sie will das K i n d in der Geburtsnacht töten) 287 und Mitleid (sie will f ü r ihn durch die Hilfe von A l f r e d einen Freispruch erreichen) geprägt. 'Konstant u n d i m m e r deutlich hingegen ist das H a s s g e f ü h l beider Söhne, das aber a u f unterschiedliche Weise gezeigt wird. W ä h r e n d der namenlose S o h n der E r z ä h l u n g nie den M u t findet, seine Rachegefühle der M u t t e r gegenüber wegen ihres Tötungsversuches auszudrücken, ihr ins Gesicht zu sagen „Ja, [...] es will dich kratzen, es will sich rächen, denn es erinnert sich an jene erste N a c h t seines Lebens, w o du es unter D e c k e n vergrubst! [...] A b e r das k a m so allmählich - so allmählich." 2 8 8 - , ist Franz sprachlich aktiv, als er seine Mutter attackiert: „ D a ganz plötzlich, schrie er ihr ein Wort ins Gesicht, das sie zuerst nur falsch verstanden zu haben glaubte. M i t großen, fast irren A u g e n sah sie ihn an, er aber wiederholte den Schimpf, sprach weiter [...] Seine Z u n g e war entfesselt. Weiter sprach er, schimpfte, höhnte, drohte, und sie hörte zu w i e erstaunt. Es war das erste M a l , d a ß er ihr den M a k e l seiner G e b u r t ins G e s i c h t schrie. A b e r er sprach nicht zu ihr w i e etwa zu einer Unglücklichen, die von einem Liebhaber i m Stich gelassen worden war, sondern wie zu einem Frauenzimmer [...] es waren bübische, gemeine S c h i m p f w o r t e wie Gassenjungen sie Dirnen auf der Straße nachrufen."* 8 '

286 Schnitzler, Arthur: Der Sohn. Aus den Papieren eines Arztes. In: Das erzählerische Werk Band 1. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1977, S. 80 287 Ebda., S. 83-110. „Ich bin eine schlechte, eine elende Mutter gewesen [...] ich hab' ihn umbringen wollen in der ersten Nacht [...] Ich nahm Decken und Linnenzeug und legte es über ihn und dachte, er werde ersticken [...]"; „Ich bin nicht die rechte Mutter für dich. Ich verdien' dich ja gar nicht. Du darfst nicht leben [...] Es ist gut, daß du gleich sterben wirst." 288 Ebda., S. 83-84. Die Unfähigkeit des Sohnes, seinen Hass und seinen Ärger seiner Mutter gegenüber auszusprechen, wird durch die „aktive" Sprache der Taten ersetzt. Seine Entscheidung, die Schule nicht mehr zu besuchen und auch sich mit keiner Arbeit zu beschäftigen, lässt deutlich erkennen, dass er die Taten den Worten vorzieht. 289 Schnitzler, Arthur: Therese. Chronik eines Frauenlebens. Frankfurt am M a i n : Fischer Verlag 1995, S. 216

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Diese Worte des Sohnes bezeugen nicht nur seinen Hass, sondern auch seine Meinung — als Mann — über seine Mutter als Frau, die er jetzt nur als Weib/Dirne wiedererkennt. Die Schuld der Mutter, ihr Tötungsversuch in der Geburtsnacht, hat die Mutter selbst zur Dirne erniedrigt. Sie ist also Opfer von sich selbst, von ihrer Aktion oder, besser gesagt, von ihrem „Versuch", den Tod ihres Sohnes zu verursachen. Das ist meiner Meinung nach ganz wichtig: Die Mutter wird vom Sohn nur für einen Versuch schuldig gesprochen, während sie, die Mutter, sich verpflichtet fühlt, ihn für ihren effektiven Tod zu entschuldigen. Aber es gibt noch etwas Interessantes in diesem Zusammenhang: Die Worte des Sohnes sind die perfekte Spiegelung der Meinung von Schnitzlers Gesellschaft, die eine junge Frau erniedrigt und moralisch kriminalisiert auf Grund der Tatsache, dass sie ihre uneheliche Schwangerschaft zu verstecken versucht und dann ihren Sohn allein lässt. Hier kann man feststellen, dass Schnitzler Martha Eberlein nicht ganz negativ beurteilt. Das ist möglicherweise von der Tatsache abhängig, dass die Heldin der Erzählung immer eine engagierte Mutter und Hausfrau ohne Wünsche nach Emanzipation geblieben ist. Diese Annahme könnte auch erklären, warum der Autor die uneheliche Geburt Franzens oder die verschiedenen geschlechtlichen Beziehungen Thereses außerhalb der Ehe nicht bestrafen will bzw. verurteilt, wohl aber den Wunsch Thereses, sich zu emanzipieren, den er als Grund für ihre Vernachlässigung der familiären Beziehungen betrachtet. Der journalistische, chronistische Stil von Schnitzlers Roman lässt an die Schreibart eines Tagebuchs einer imaginierten Frau denken, Thereses Leben könnte somit paradigmatisch für jedes Frauenleben der Zwischenkriegszeit stehen. Therese wie Else sind fiktive weibliche Gestalten, aber ihre Biographien sind die realer Frauen, die durch von Männern verursachte Enttäuschungen und Leiden Selbstbewusstsein entwickeln. „Yet for all her complexity Therese is not as interesting a character as Else or Leopoldine, most likely because [...] she goes through no development but is instead always the same woman, only seen in different episodes. Her fatalistic passivity sets the tone of the entire work, causing it to become very soon all too predictable." 290

Diese Behauptung zeigt, meiner Meinung nach, eine ganz oberflächliche eindimensionale und sehr begrenzte Forschungs- und Analyseperspektive, denn — wie bis jetzt der Text, auch im Vergleich mit der ersten Verarbeitung des Stoffes des 290 Schmidt, Willa Elisabeth: The Changing Role of Women in the Works of Arthur Schnitzler. Wisconsin: Dissertation 1994, S. 303-304

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Romans beweist — die Gestalt der Therese erlebt eine deutliche Entwicklung sowohl auf der Gefühlsebene, in ihrem gesellschaftlichen Zustand und letztlich auch in ihrer sexuellen Rolle. All das wird von Maya Kündig betont: „Sie ["Therese] entwickelt sich tatsächlich. Von einer zwischen ihrer Vernunft und ihrer Sinnlichkeit hin- und hergerissenen Frau wird sie zu einer Mutter, die für ihr Kind die letzte Verantwortung übernehmen will." 251

Konstanze Fliedl hingegen stellt in Arthur Schnitzler — Poetik der Erinnerung fest, dass Therese und Else „Kontrafakturen des trivialen Aschenputtel-Schemas"29* sind. In diesem Zitat interessant sind die Begriffe „trivial" und „Aschenputtel-Schema", die die Lebensentwicklung Thereses bezeichnen. Die Assoziation zwischen Leben und Trivialität erinnert an die Banalität des Schicksals Thereses. Dem „Aschenputtel-Modell" entspricht einerseits Thereses Versuch und Wunsch, ihre Position zu verbessern und andererseits die Koexistenz der Gattung des Märchens mit der des Romans. Auch in diesem zweiten Fall geht es um Banalität, wie die schriftstellerische Tätigkeit von Thereses Mutter zeigt. „ D a fiel ihr einmal ein Buch ihrer Mutter in die Hände. Sie griff kaum mit größerem Interesse danach als nach irgendeinem der andern, da ihr, was sie bisher von den Leistungen der Schriftstellerin Fabiani kennengelernt, nicht nur langweilig, sondern überdies lächerlich erschienen war." 293

Interessant zu bemerken ist die Tatsache, dass die Begriffe „trivial" und „Aschenputtel-Modell" mit Weiblichkeit verbunden sind. Das bedeutet, dass die Weiblichkeit mit Banalität assoziiert wird, oder besser, dass die Banalität der Weiblichkeit entspricht.294 Die „Chronik" von Therese Fabianis Leben, die einen Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg umspannt, entwickelt sich um drei miteinander verflochtene Themen: das Berufsleben der Heldin, die (nach dem

291 Kündig, Maya: Arthur Schnitzlers „Therese". Bern: Peter Lang Verlag 1991, S. 198 292 Fliedl, Kostanze: Arthur Schnitzler - Poetik der Erinnerung. Wien: Böhlau Verlag 1997, S. 175 293 Schnitzler, Arthur: Therese. Chronik eines Frauenlebens. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1995, S. 142 294 Fliedl, Kostanze: Arthur Schnitzler - Poetik der Erinnerung. Wien: Böhlau Verlag 1997, S. 173

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Verlassen des Elternhauses in Salzburg) als Gouvernante und Privatlehrerin in Wien arbeitet; das Liebesleben der jungen Frau und die schwierige und konfliktreiche Beziehung zu ihrem Sohn Franz, die „der Frage, ob prä- und postnatale Erlebnisse als determinierende psychische Faktoren aufzufassen sind", nachgeht. 195 Diese drei Ebenen zeigen aus der distanzierten Position des Autors, wie verzweifelt Therese versucht, sich den verschiedenen Milieus und Situationen anzupassen. Auf Grund der distanzierten Erzählerkommentare sieht sich der Leser während der Lektüre zu intensivem gedanklichem Mitvollzug der der Heldin eigenen Beobachtungen, Überlegungen und Wahrnehmungen gezwungen; die Absenz einer sich über das Mitgeteilte erhebenden Erzählerperspektive verstärkt das latente „Identifikationsangebot des Buchs" 2 ' 6 . Die ebenso schwierige und konfliktreiche Beziehung Thereses zu ihrer Mutter macht ihren Wahrnehmungsmodus deutlich: Sie erkennt sich selbst als nicht zugehörig: „Therese fühlte sich in dem Hause der Mutter wohler und doch zugleich fremder als früher — etwa so, als wenn sie nicht bei ihrer Mutter, sondern bei einer älteren Dame zu Besuch wäre, mit der sie auf Reisen vertrautere Bekanntschaft geschlossen."

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Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, in dem die Mutter von der Tochter als eine fremde, ja unverständliche Frau betrachtet wird, wird auch durch direkte Rede verdeutlicht. 2 ' 8 Diese Mutter-Tochter-Beziehung, die auf einem G e f ü h l des Ausgenutztseins gründet, „braucht und verwendet" Thereses Mutter doch die Liebeserfahrungen ihrer Tochter, um ihre Trivialromane zu schreiben, 2 " findet eine deutliche und

295 Ebda, S. 183 296 Müller, Heidy Magrit: Divergenz: Therese. Chronik eines Frauenlebens. In: Töchter und Mütter in deutschsprachiger Erzählprosa von 1885 bis 1935. München: Iudicium Verlag 1991, S. 189 297 Schnitzler, Arthur: Therese. Chronik eines Frauenlebens. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1995, S. 145 298 Ebda., S. 30/34/142. Dieses Gefühl, Thereses Unzugehörigkeit, wird später, als sie als Gouvernante in den verschiedenen Familien arbeitet, wieder betont: „Sie war es endlich müde, in der Welt herumgestoßen zu werden; sie sehnte sich nach Ruhe, nach Heimat, nach einer eigenen Häuslichkeit" (S. 157). 299 Ebda., S. 142. „[...] und nun erkannte Therese, daß die Briefe, die sie hier gedruckt las, keine anderen waren, als die Alfred ihr vor vielen Jahren geschrieben und die die Mutter ihr damals aus der Lade gestohlen hatte."

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prägnante Entsprechung in der Beziehung, die Else mit ihrer Mutter hat, wobei auch Elses Mutter die Tochter ausnützt, als sie Else um die Hilfe fiir die finanzielle Sanierung der Lage des Vaters bittet. In beiden Fällen wird die Tochter immer als Opfer der Ziele der Mutter gesehen. Die Tochter zählt nicht als Individuum, sondern als Objekt, als von der Mutter geplanter Mosaikstein. Während also die Beziehung zwischen Mutter und Tochter als angespannt dargestellt wird, ist diejenige zwischen Therese und dem Vater inniger.' 00 Bordellbesuche des Vaters verbindet Therese nicht mit moralischen Bedenken; hingegen registriert sie die dubiosen Abendgesellschaften der Mutter mit wachsendem Unwillen und mit dem Vorsatz, die Mutter zur Rechenschaft zu ziehen.301 In diesem Zusammenhang ist das Mädchen von der Doppelmoral der Familie beeinflusst, die die Seitensprünge des Mannes als obligate Begleiterscheinungen der Ehe betrachtet, während erotische Flausen der Gattin mit sozialer Diskriminierung geahndet werden. Große Kritiklust bezeugt Therese auch in Bezug auf andere Tätigkeiten der Mutter, die nicht den traditionellen Aufgaben einer guten Hausfrau entsprechen; besonders verurteilt sie die schriftstellerischen Aktivitäten der Mutter, deren Ergebnisse - Trivialromane — ihr langweilig, ja lächerlich vorkommen, und deren Klischeehaftigkeit sie schon als junges Mädchen scharfsichtig bemerkt: „Die Geschichte fangt an wie hundert andere, und jeder Satz erschien Therese, als hätte sie ihn schon hundertmal gelesen."'01 Negativ konnotiert sind auch die Plauderstündchen, in denen die Mutter sich „zwei oder dreimal die Woche einem Kreis von schwatzenden Weibern" widmet.'03 Alle Kritik Thereses am Verhalten der Mutter deutet daraufhin, dass diese in Thereses Augen pflichtbewusst ihre Rolle als Mutter wahrnehmen und sie eine verständnisvolle, nachsichtige Gattin und Hausfrau bleiben sollte. Ein solches weibliches Idealbild stimmt auch mit der Uberzeugung des Autors und indirekt mit den Ansichten der Gesellschaft überein, dass eine Frau wohl in einem eng

300 In dem Fall Elses ist die Beziehung mit dem Vater nur indirekt erwähnt und kommt nicht deutlich im Text vor. Die Tatsache, dass Else das ganze „Spiel" mit Dotsday inszeniert, weist daraufhin, dass sie im Grunde genommen den Vater noch liebt, obwohl er mit ihrer Kindlichkeit spekuliert hat. 301 Ebda., S. 14 302 Ebda., S. 26 303 Ebda., S. 15

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begrenzten Bereich eigene Interessen haben, ihre Hausfrau- und Mutterpflichten dabei jedoch nicht vernachlässigen dürfe. Das gilt auch, wenn die Kinder längst erwachsen sind.304 Aber für Therese ist die Realität gänzlich anders, und Frau Fabiani wird von ihrer Tochter als Feindin betrachtet. Das ebenso feindselige Verhalten der Mutter der Tochter gegenüber wird in zwei Situationen offensichtlich: Zuerst, als sie Therese mit einem alten Grafen zu verkuppeln versucht, nicht um einen geeigneten, standesgemäßen Gatten für die Tochter zu suchen, sondern der materiellen Vorteile wegen; dann, als sie im Zimmer Thereses spioniert, um die Liebesbriefe Alfreds (Thereses Freund) zu lesen. Diese zwei Episoden, in denen die Mutter sich ins Privatleben der Tochter einmischt, zeigen, wie die Mutter ihrer Tochter weder Freiheit noch Respekt zugesteht. Vielmehr verwendet, ja verkauft Frau Fabiani ihre Tochter zu ihrem persönlichen und finanziellen Vorteil. Sie liest beispielsweise die Briefe Alfreds, um für ihren Roman zu recherchieren. Therese entdeckt das: „Zuerst fühlte sie nur die leise Wehmut, die sie immer überkam, wenn sie auf irgendeine Weise an Alfred erinnert wurde. Dann aber erfaßte sie eine heftige Erbitterung gegen ihre Mutter [..

Die schwierige und immer unerträglicher werdende Beziehung der Heldin zur Mutter öffnet Therese schließlich die Augen: „War sie nicht verrückt, daß sie wie eine Sklavin — wie eine Nonne lebte?" 306 , und gleichzeitig gewinnt sie Kraft und Mut, das Elternhaus zu verlassen. Die Fahrt nach Wien gibt ihr die Gelegenheit, ein neues Leben zu beginnen und auch neue Kontakte zu Männern zu knüpfen. Obwohl die Heldin in viele Liebesbeziehungen verwickelt wird, hat sie anhaltende Schwierigkeiten, ihre Seele anderen zu öffnen. Therese scheint die Verkörperung der „Blicktheorie" von Jean Paul Sartre, denn ihr Verlangen nach dem Blick des Anderen, und ihre Enttäuschung, wenn sie nicht mehr im Brennpunkt des Interesses steht, illustriert Sartres Theorie über die Situation zweier Liebender,

304 Müller, Heidi Magrit: Divergenz: Therese. Chronik eines Frauenlebens. In: Töchter und Mütter in deutschsprachiger Erzählprosa von 1885 bis 1935. München: Iudicium Verlag 1991, S. i9of. 305 Schnitzler, Arthur: Therese. Chronik eines Frauenlebens. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1995, S. 142 306 Ebda., S. 72

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„deren Wunschvorstellung von der Liebe zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist, da auch Liebende einander durch ihren Blick objektivieren, während beide gerade nicht objektivierendes Subjekt, sondern Objekt des Partners sein möchten." 507

Die Unfähigkeit der Heldin, ihrem Partner ins Gesicht zu sehen, wird durch die Art des Blicks des Mannes verursacht und durch ihren Versuch, sie zu rechtfertigen: „Aber auch seine Lügen gehörten zu ihm, ja gerade die waren es, die ihn so liebenswert und verführerisch machten."308 Kasimir, der Vater von Thereses Sohn, wird von ihr als Lügner bezeichnet, und generell werden die Männer mit Misstrauen betrachtet, als Symbol für Lüge und Unwahrheit beschrieben. D a Therese auf Grund ihrer Erfahrungen mit Männern schließlich kein Vertrauen mehr zu diesen hat, fühlt sie sich allein und verzweifelt, bis sie Hilfe im Glauben an Gott findet: „Heute zum erstenmal beugte sie aus einem inneren Drang das Haupt, faltete die Hände in wortlosem Gebet und verließ die Kirche mit dem Vorsatz, bald und oft wiederzukeh ren ."'° 9

Die Geburt wird für Therese die Gelegenheit, ihre Schwierigkeiten (die unerwartete Schwangerschaft und ihre immer schlechtere ökonomische Lage) zumindest für einige Augenblicke zu vergessen. Die A n k u n f t eines Kindes, das das Ende ihrer sorglosen Jugend und den A n fang des Erwachsenenlebens kennzeichnet, lässt viele Zweifel in Therese aufkommen. „Was soll ich mit einem Kind anfangen? Was würde mein Bruder dazu sagen?"' 10

307 Vgl. Müller, Heidi Magrit: Divergenz: Therese. Chronik eines Frauenlebens. In: Töchter und Mütter in deutschsprachiger Erzählprosa von 1885 bis 1935. München: Iudicium Verlag 1991, S. 196 308 Schnitzler, Arthur: Therese. Chronik eines Frauenlebens. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1995, S. 95 309 Ebda., S. 99 310 Ebda., S. 109

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Diese zwei Fragen, auf die Therese keine Antwort zu geben weiß, zeigen die Naivität dieser Gestalt, die zu jung und zu unvorbereitet ist, um sich um ein Kind zu kümmern. Gleichzeitig deuten sie eine begrenzte, überaus egoistische, männliche Haltung des Bruders einer Frau gegenüber an. Durch den Standpunkt von Thereses Bruder kann, wenn auch auf indirekte Weise, die Meinung der Gesellschaft der Jahrhundertwende einer ledigen Frau gegenüber nachvollzogen werden. Der Bruder will oder besser kann 3 " die Lage der Schwester nicht akzeptieren, denn er schämt sich und hat Angst, dass dieses „unmoralische" Leben Thereses seine politische Karriere kompromittieren könnte. Die Beziehung zu Karl wird zunehmend getrübt: erstens, weil Therese sich nicht so verhält, wie er es von ihr erwartet - er wirft ihr unter anderem vor, sie treibe sich „mit irgendeinem älteren, reichen Juden umher" (S. 249), zweitens, als Thereses Sohn Franz von ihm Geld fordert (S. 250). Karl geht in seiner Wut so weit, seine Schwester anzuklagen, ein unsolides Leben geführt zu haben: „Meinst du vielleicht, ich hab' nicht immer gewußt, was du für eine Existenz führst, unter dem Deckmantel deines sogenannten Berufes? [...] Du wirst auf dem Mist krepieren, genau so wie dein Herr Sohn. [...] Und mit den Mädeln da, was machst du denn mit denen? Lektionen? Haha! Werden wahrscheinlich herangebildet zum Gebrauch für semitische Wüstlinge?"' 11

M a n kann deutlich erkennen, dass diese Worte Karls gerade der Meinung Franzens über Therese entsprechen, und das bedeutet, dass man an dem Verhalten Karls erkennen kann, dass der M a n n sowohl die Mutterschaft einer ledigen Frau in seiner Privatsphäre - nicht aber in der Öffentlichkeit des gesellschaftlichen Lebens31'— sowie auch eine berufliche Tätigkeit nur mit Schwierigkeiten, manchmal auch mit Verachtung akzeptiert.

311 Karl kann sich nicht mit der Lage seiner Schwester anfreunden, weil er nicht gegen die von der Gesellschaft festgesetzten Regeln verstoßen will. Er verkörpert den Prototyp einer altmodischen und gleichsam mumifizierten Gesellschaft, die der alten Ordung der Kaiserzeit folgt; Therese hingegen ist das Symbol für die Modernisierung und den Bruch mit den alten und falschen Traditionen der Vergangenheit. 312 Schnitzler, Arthur: Therese. Chronik eines Frauenlebens. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1995, S. 263 313 Man vergleiche die Beschreibung des Lebens in den zwanziger und dreißiger Jahren in Wien mit der, die Gina Kaus in ihrer Selbstbiographie Was für ein Leben ... gibt (S. 49/165/1680.

Therese. Chronik eines Frauenlebens

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Meine oben erwähnten Fragen werden in eine abschließende Frage in Schnitzlers Roman zusammengeführt: „Was sollst du ohne Vater und Mutter auf der Welt, und was soll ich mit dir?"'14 Mit dieser Frage betont Therese, dass die Vaterlosigkeit ihres Kindes zwei Gründe hat: Kasimir hat das Kind nicht anerkannt, und auch die Gesellschaft wird nie ein Kind einer ledigen Frau akzeptieren. Wirklich dramatisch klingt aus Thereses Mund die Feststellung, dass das Kind auch keine Mutter hat. Mit dieser schockierenden Behauptung gesteht Therese ihre Unfähigkeit ein, eine gute Mutter zu sein. Das ist der Grund, warum sie in Erwägung zieht, das Kind zu töten: „Es ist gut, daß du gleich sterben wirst." 3 ' 5

Diese Worte, von einer verzweifelten Frau gesagt, zeigen die Impulsivität und den Selbsterhaltungstrieb Thereses, die hier nur als „Weib", nicht mehr als Mutter erscheint. Obwohl sie in der Tiefe ihrer Seele überzeugt ist, die richtige Mutter für das Kind zu sein, weiß sie auch, dass sie das Kind nicht verdient hat.3'6 In ihrem Konflikt zwischen Instinkt (das Kind zu töten) und Vernunft (mit der Lage fertig zu werden) beschließt sie, der Vernunft zu folgen; so passt sie sich den Regeln der Gesellschaft an und unterwirft sich gleichzeitig der männlichen Meinung. Da sie diesen Ausweg gewählt hat, schickt sie das Kind aufs Land. Hedwig Appelt hat diese Entscheidung der Hauptgestalt in ihrem Buch Die leibhaftige Literatur — das Phantasma und die Präsenz der Frau in der Schrift als weibliche Reaktion dem Mann gegenüber interpretiert, und in einer symbolischen Weise als Reaktion der Natur gegenüber der Stadt. Aber Therese bleibt nicht auf dem Land, sondern kommt in die Stadt zurück. Man darf auch nicht vergessen, dass Therese nach ihrer Schwangerschaft einen Beruf ergreift, gleichso als ob sie ein Mann geworden wäre. Nachdem sie das Kind aufs Land geschickt hat, will sie ihre ökonomische Lage verbessern.

314 Schnitzler, Arthur: Therese. Chronik eines Frauenlebens. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1995, S. 110. 315 Ebda., S. i n 316 Ebda., S. i n . „Ich bin nicht die richtige Mutter für dich. Ich verdiene dich ja gar nicht." Das Verb „verdienen" lässt hier meiner Meinung nach eine zweite Bedeutung anklingen: Einerseits betont es, dass Therese effektiv nicht fähig ist, das Kind zu behalten, und anderseits zeigt es, wie sie von der äußeren Welt beurteilt wird. Aber beide Bedeutungen zeigen das Konzept des Wahrnehmungsvermögens von M . Müller. Tatsächlich scheint es, als ob Therese schon weiß, dass sie keinen Respekt von ihrem Kind erhalten wird.

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Schnitzlers Frauengestalten in Bezug auf Else

Therese, die früher ihre Schönheit allein eingesetzt hat, um der Imagination der männlich geprägten Gesellschaft zu entsprechen, fiihlt sich nun als hoffnungsloses Geschöpf, denn „sie sah aus mit ihren vierunddreißig Jahren verblüht, äldich, fahl, wie eine Frau von über vierzig"'17. Ihr Körper, der vorher die Spiegelung der Schönheit, der frischen Sexualität und Leidenschaft war, ist jetzt Abbild der Schwäche, der Müdigkeit und des Vergehens der Zeit. „Sie war einfach nicht mehr schön genug, um einen Mann zu reizen. Wenn auch ihr Körper seine jugendlichen Formen bewahrt hatte, ihre Züge waren ältlich und vergrämt."'18 Die oben erwähnten Adjektive betonen die physische und sexuelle Veränderung, die Therese nach der Schwangerschaft erfahren hat. „Wie konnte es anders sein. Sie hatte zu viel erlebt, zu viel erlitten, sie war Mutter, die ledige Mutter eines fast erwachsenen Sohnes, und lange schon hatte kein Mann sie begehrt."3'9 Der Zustand des jungen Mädchens Therese wird mit dem der Dirne verglichen; der Zustand der erwachsenen Heldin aber mit dem der Mutter. Mutterschaft wird sowohl von Schnitzler als auch von Weininger negativ gesehen, denn die Frau büßt ihre sexuelle Kraft und Schönheit durch eine Schwangerschaft ein — zumindest in der männlichen Imagination. Wenn die Frau Mutter ist, ist sie kein attraktives und erwünschtes Objekt des männlichen Vergnügens mehr, sondern sie wird mit der Hausfrau identifiziert. Während die Dirne eine aktive Rolle in der Imagination der Männer spielt, ist die Rolle der Mutter eine langweilige, abwartende und passive. Nach ihren Erfahrungen ist es für Therese nur konsequent, dass sie nach Arbeit sucht, nicht nur um Geld zu verdienen, sondern um eine respektable und selbstständige Position in der Gesellschaft zu erhalten. Trotz ihrer Anstrengungen, einem Beruf nachzugehen, wird sie weder von ihrem Bruder noch von ihrem Kind respektiert. Franz schätzt sie nicht als Mutter, denn sie hat sich nie persönlich um ihn gekümmert, als er ein kleines Kind war; 317 Schnitzler, Arthur: Therese. Chronik eines Frauenlebens. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1991', S. 217 318 Ebda., S. 248 319 Ebda., S. 249

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und er schätzt sie nicht als Frau, denn sie arbeitet „unter dem Deckmantel eines sogenannten Berufes [...]— „Lektionen! Haha!"' 10 , wie Karl zu Therese sagt. Noch einmal wird hier das egoistische männliche Verhalten Franzens deutlich, der sie einerseits ihres Berufes wegen tadelt, sie aber andererseits ausnützt und ihr Geld nimmt. Es ist deutlich, dass Franz bloß das männliche, die Gesellschaft dominierende Bild von der richtigen Rolle der Frau übernommen hat, während Therese sich anstrengt, ein Individuum zu werden. Franzens verdorbenes Leben und sein Hass gegen die Mutter verstärken in Therese ein Gefühl von Schuld und Verzweiflung — sie fühlt sich schuldig an der Verdorbenheit des Sohns. Diese Selbstanklage der Heldin zeigt den Unterschied zwischen Therese und ihrer Mutter. Diese, eine egoistische, hartherzige Frau, hatte keinerlei Interesse für ihre kleine Tochter gezeigt — außer eines finanziellen. Tatsächlich hat sie in ihr bloß ein Hilfsmittel für den gesellschaftlichen Aufstieg gesehen; Therese hingegen k ü m m e r t sich um ihren gewalttätigen und verdorbenen Sohn und versucht, bessernd auf ihn einzuwirken. Dennoch glaubt die Heldin, nicht genug getan zu haben: „Wenn ich mich um ihn mehr hätte kümmern können, dann sähe er wohl anders aus. Wenn ich eine andere Mutter gewesen wäre, wäre mein Sohn ein anderer Mensch geworden."'21 Thereses nun erlangte Reife gibt ihr die Möglichkeit, von Herrn Wohlschein, einem Witwer mit einer Tochter (Thilda), als Privatlehrerin eingestellt zu werden, und in ihm nicht bloß einen Vertrauten, sondern auch einen möglichen Gatten und Vater ihres Sohns zu sehen. Es entwickelt sich auch eine freundschaftliche Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Therese und Thilda; eine Beziehung, die Therese mit ihrer Mutter nie gelebt, aber von der sie immer geträumt hatte. Durch diese beiden neuen Beziehungen entdeckt Therese, dass sie noch ein weibliches Wesen und ihr „Frauendasein noch lange nicht zu Ende" 311 ist. Aber der plötzliche Tod von Herrn Wohlschein zerstört den Traum Thereses von einem neuen und besseren Leben, und sie fühlt sich wieder allein, wie „eine Witwe, ohne verheiratet gewesen zu sein"323. Nach dem Tod Wohlscheins verliert Therese ihre Weiblichkeit vollends, denn sie wird von Schnitzler als eine Frau dargestellt, deren Existenz nur mit ihrem Beruf identifiziert wird. 320 Ebda., S. 263 321 Ebda., S. 229 322 Ebda., S. 265 323 Ebda., S. 268

Schnitzlers Frauengestalten in Bezug auf Else

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Die Leute nennen sie „Fräulein Fabiani" oder „die Lehrerin", und Kasimir sagt ihr: „Als Weib kommst du doch nicht mehr in Betracht für mich."324 Der Verlust der Weiblichkeit, die Entdeckung, dass Kasimir schon lange verheiratet ist, sowie die Geldforderungen von Franz machen Therese glauben, dass sie ein leeres und sinnloses Leben gelebt hat. Therese lässt sich kurz auf folgendes, durchaus althergebrachtes Schema zusammenfassen: Die Tochter verlässt das Elternhaus frühzeitig; der Sohn Franz verfolgt - wie Thereses Bruder Karl — finanzielle Interessen; die Mutter rechtfertigt — Therese - die verhängnisvolle Existenz des Sohns. Das, was Therese, auch selbst in ihrer Todesstunde, leitet, ist ihre Mutterliebe zu Franz. In ihren letzten Worten - „Er hat mir nur vergolten [...] man darf ihn nicht zu hart bestrafen"325 — ist die Grundlage ihrer Existenz enthalten: die Liebe einer Mutter bleibt, auch wenn der Sohn ein Mörder ist. In diesem Roman hat Schnitzler die frühere Erzählung Fräulein Else vertieft und entwickelt, denn er hat einige Eigenschaften Elses — die Schönheit, die Naivität und den Kampf gegen das Schicksal — für die Beschreibung der Gestalt Thereses verwendet; aber er hat Neues hinzugefügt, denn Therese ist „Weib" und gleichzeitig Frau, in dem Sinn, dass sie gebildet ist und eine Arbeit hat. .Außerdem hat Schnitzler in diesem seinem letzten vollendeten Roman alle Themen aufgegriffen, die ihm in seinem Gesamtwerk wichtig gewesen sind — allerdings, und das ist neu, sind diese nun nicht mehr aus der zu erwartenden Sicht des Mannes, sondern aus jener einer Frau dargestellt."326

Schließlich ist dieser Roman das Bild einer Frau, zugleich „Wunsch und Ideologieproduktion, die eine tägliche reale weibliche Lebensdarstellung" zeigt.327 Die Probleme um ledige Mütter, Abtreibungen, Beziehungslosigkeit sind auch heute noch von großer Aktualität, aber die Aktualität liegt in der Tatsache, dass Schnitzler sie aus einer weiblichen Perspektive gestaltet hat, als ob er ein Stück eigener Schuld als Vertreter des männlichen Geschlechts eingestehen wollte.

324 Ebda., S. 269 325 Ebda., S. 302 326 Kündig, Maya: Arthur Schnitzlers „Therese". Bern: Peter Lang Verlag 1991, S. 196 327 Stephan, Inge: Bilder und immer wieder Bilder. In: Die verborgene Frau. Berlin: Argument Verlag 1985, S. 26

IV. Beispiele aus der österreichischen Literatur in Bezug auf „Fräulein Else"

Im ersten Teil dieses vierten Kapitels versuche ich vier Novellen aus der literarischen Produktion Musils zu analysieren. Ziel dieser Untersuchung ist die Darstellung der Weiblichkeitskonstruktion und der Geschlechterbeziehung bei Musil im Vergleich zu Schnitzler. Die von mir gewählten Novellen sind Die Versuchung der stillen Veronika aus dem Novellenband Vereinigungen (1911) und Drei Frauen (1924). Ausschlaggebend für die Wahl gerade dieser Texte sind ihr relativ geringer Bekanntheitsgrad innerhalb von Musils Werk und ihre stilistischen und inhaltlichen Besonderheiten, die eine bedeutungsvolle Perspektive auf das Thema dieser Arbeit werfen. Im zweiten Teil konzentriere ich mein Interesse auf das Thema „Weiblichkeit", das nicht mehr durch die Augen eines männlichen Autors - wie es die Darstellung bis jetzt gezeigt hat —, sondern durch die einer engagierten emanzipierten Schriftstellerin der Zwischenkriegszeit wie Gina Kaus gesehen wird. Das Beispiel dieser berühmten Vertreterin der Trivialliteratur soll zeigen, wie Gattung und Geschlecht des Autors ein neu orientiertes Weiblichkeitskonzept bilden können. Widmet man sich Gattungsgeschichte bzw. Gattungsstruktur, entdeckt man, dass auch Musil Theorien darüber entwickelt hat, die die epische Form der Novelle nicht aus dem historischen Gattungsbegriff herleiten, sondern in engem Zusammenhang mit seinen ästhetischen Reflexionen stehen. Seine Aussagen beziehen sich im Wesentlichen auf die oben genannten Texte, die sich durch weitgehenden Verzicht auf Handlung und mikroskopisch analysierende Darstellung des inneren Erlebens von weiblichen Hauptgestalten auszeichnen. Einer Besprechung zeitgenössischer Novellen hat Musil unter der Uberschrift Die Novelle als Problem (1914) eine knappe Darstellung seines Novellenbegriffs vorausgeschickt. In dieser Schrift betont Musil seine Bewunderung für die Novellen von Paul Ernst, der eine Erneuerung der Gattung nach dem Vorbild der Renaissance (Boccaccio) anstrebte. Ausschlaggebend sind für ihn die Vollendung der Form und die „Erfüllung dieser Form mit höchstem individuellem Wesen und Wirken" so-

Beispiele aus der österreichischen Literatur

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wie „die Bedeutung der konzentrierten Handlung, die künstlerische Geschlossenheit und der Verzicht auf psychologische Begründung".328 Zusammengefasst ist der Unterschied zwischen Novelle und Roman in diesem Zitat Musils deutlich erkennbar: „Ein Erlebnis kann einen Menschen zum Mord treiben, ein anderes zu einem Leben fünf Jahre in der Einsamkeit; welches ist stärker? So, ungefähr, unterscheiden sich Novelle und Roman. Eine plötzliche und umgrenzt bleibende geistige Erregung ergibt die Novelle; eine langhin alles an sich saugende den Roman."' 2 9

Für Musil also ist das wesentliche Kriterium der Novelle die Erlebnis(be)deutung, während die Bestimmung nach Formmerkmalen relativ nebensächlich bleibt. Die Darstellung der Höhepunkte entspricht jedenfalls dem Hauptkriterium Musils, der Betonung des Schicksalshaften und Erschütternden, der Bedeutung des Erlebten. Auch das Kunstprinzip der Kürze und der Verdichtung durch symbolische Bildgestaltung wie bei Musils Die Portugiesin, der Gebrauch von Zeichen sowie die Akzentuierung von Bedeutung durch Reduktion erzählerischen Ausgreifens sind in überzeugender Weise verwirklicht. Tatsächlich ist Musils Aufmerksamkeit auf die Erlebnisse der weiblichen Protagonisten und auf die „Plötzlichkeit" der Ereignisse gerichtet. Höhepunkt und Wendepunkt sind bei den Novellen Veronika, Grigia und Tonka deutlich, denn diese Hauptgestalten sind Objekt einer Entfernung von ihrer alltäglichen Lebensumgebung: Veronika durch ihre Begegnung mit Demeter; Homo durch seine leidenschaftliche Liebe für Grigia und Tonka durch ihre uneheliche Schwangerschaft. Nur im Fall von Die Portugiesin bleibt die Spaltung zwischen Höhepunkt und Wendepunkt problematisch. Ist dieser der Stich der Fliege, das Erscheinen der kleinen Katze oder vielleicht das Ersteigen der Felswand? Unproblematisch hingegen ist die Dekodierung des Hauptmotivs dieser Texte, die einerseits immer nur mit einer menschlichen und existenziellen Kommunikationsschwierigkeit zwischen den Geschlechtern zu tun haben und andererseits einen möglichen, aber nur scheinbaren Versuch einer Vereinigung der Partner zeigen. In beiden Fällen aber bleiben die Rolle und die Figur der Frau als Kern der Narration zentral, auch wenn das weibliche Wesen bei Musil verschiedene Frauentypen verkörpert. 328 Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. Interpretation. München: Oldenbourg 1993, S. 117 329 Ebda., S. 117

Beispiele aus der österreichischen Literatur

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„Es erscheint zwitterhaft, gaukelnd, zaubervogelähnlich wie Ciarisse"530 und entspricht einem Frauentyp, den man als eine besondere Schöpfung der Zeit empfand, als eine Karikatur der modernen Frau, als geschlechtslosen Typ. Ein weiterer Typ ist die erdnahe, sinnliche, schwere und mütterliche Frau wie Grigia. Aber es gibt auch die Frau als Repräsentantin einer herrischen, stärkeren selbstständigen Gattung, als geschlechtlich-geschlechtslose Persönlichkeit, erotisch und nicht erotisch, Schwester und Gattin zugleich; sie steht in der Linie der Wotanstöchter, der Hera oder der Athene; ja, dieser Typ wird durch die Figur der Portugiesin in der gleichnamigen Novelle und später vor allem durch die Gestalt von Agathe in dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften als autonomer, aber auch dem Mann ebenbürtiger und komplementärer Partner dargestellt.33' Sie zeichnet sich nicht durch Emanzipationsforderungen aus, sondern durch das Geltendmachen eines inneren, weiblichen Reichtums, durch geistige Disponibilität, Beweglichkeit und Dynamik. „Dieser Typ Frau [...] ist nicht dem Manne unterwürfig, diese Frau ist nicht ein zur Disposition stehendes Objekt, sondern dank ihrer eigenen Persönlichkeit und durch das vollendet Weibliche, durch das Erotische selbst, durch ihr Selbstbewußtsein und ihre Nüchternheit spricht sie die Neugierde an, sie offenbart dem Mann eine andere Welt, befreit ihn von dem Gefühl herkömmlicher Seelenarten; sie wird Antrieb zur Verwandlung und zu seelischem Gewinn und geistiger Erweiterung."5'1 Mit diesem Zitat hat Marie-Louise Roth den strukturellen Unterschied zwischen Musils und Schnitzlers Weiblichkeitskonzept aufgezeigt. Während die Frau bei Schnitzler eine Männervorstellung verkörpert oder besser gesagt „spielt" und so Opfer eines sexuellen männlichen Ausbeutungsprozesses bleibt, indem sie sich im Zustand einer totalen Passivität, Unterordnung und Erniedrigung befindet, wird sie bei Musil in ihrer Funktion als Schutzengel des Mannes, als seelische Ergänzung des Mannes geschätzt. Schnitzlers Rolle der Frau als ökonomisch-finanzielles „Sanierungsmittel" von schwierigen familiären Situationen, die immer vom Manne verursacht werden, wird bei Musil durch eine metaphysisch-ontologische Funktion der weiblichen 330 Roth, Marie-Louise: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Z u m theoretischen Werk des Dichters. München: Paul List Verlag 1972, S. 29. 331 Ebda., S. 29/30 332 Ebda., S. 30

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

Gestalt ersetzt. Er schenkt der Frau Dignität und Wert wieder und betrachtet sie als wichtigen Faktor für die Verwirklichung einer Geschlechterversöhnung. Die Frau also verkörpert ein seelisches Mittel, die konkrete naturhafte Möglichkeit für den Mann, seine Identität und seine geistige Dimension wieder zu finden. In diesem Sinn ist die Frau ein „Du", das ohne Worte und ohne dialogische Tätigkeit (vgl. die Tatsache, dass die weiblichen Gestalten dieser Texte von Musil oft eine fremde für den Mann unverständliche Sprache sprechen, Schnitzlers Personen hingegen sind durch ihr Sprechen konstituiert) auskommt. Die Frau Musils ist eine Frau, die ihre sprachliche Aktivität durch die Sprache der Seele und des Körpers ersetzt hat. Es ist auch interessant zu bemerken, wie Musil die Frau in diesen Texten, insbesondere in Drei Frauen, sowohl bei Grigia oder bei Die Portugiesin, mit einer uralten, naturhaften, fast mythischen Dimension assoziiert. Es ist, als ob er in die Vergangenheit, in die Anfangszeit der Weltgeschichte zurücktreten wollte, um den Wert der Frau wieder zu entdecken. Mit dieser Entscheidung hat Musil, meiner Meinung nach, die Modernität und die verschiedenen Fortschritte der Frauen in Richtung Emanzipation indirekt beurteilt und negativ konnotiert. Gerade in diesem Zusammenhang, d. h. im Rahmen einer Beurteilung Musils über das Thema „Emanzipation" und „Weiblichkeit", finde ich wichtig, drei weitere Werke des Autors, die dieses Thema behandeln, zu erwähnen und zu kommentieren. Ich beziehe mich auf zwei frühe Texte aus der Vorkriegszeit, nämlich Erinnerung an eine Mode und Penthesileiade, beide 1912 erschienen, und auf einen späteren Beitrag, Die Frau gestern und morgen aus dem Jahr 1929. Alle drei Texte sind Essays, die Musils Meinung über die Frauenfrage durch eine aufmerksame Beobachtung der sozialen und zeitlichen Phänomene wie Mode oder Frauenbewegung beschreiben. Die Lektüre und die Analyse dieser Beiträge der Prosa Musils über die Weiblichkeit haben mir gezeigt, dass die Ansichten des Autors in zwei verschiedene Momente oder Phasen zusammengefasst werden können. Durch die Beschreibung des Entstehens einer modernen, immer stärker männlich konnotierten Damenmode, deren Hauptkennzeichen Androgynität ist, betont Musil die Tatsache, dass nicht nur die tradierten Regeln eines „guten Geschmacks" verloren gegangen sind, sondern auch, dass die Ähnlichkeiten der Damenkleidung mit der des Mannes einen Verlust an Persönlichkeit verursacht haben. Kein geschlechtlicher Unterschied in der Kleidung weist auf einen Mangel an Geschlechteridentität hin. „Die Stärke der Wirkung hängt natürlich gerade mit dem heute sonst noch bestehenden Trachtunterschied zusammen, mit der Fremdheit dessen, Frauen wie

Beispiele aus der österreichischen Literatur

in

Männer anzusehen. [...] Nicht mehr der unpersönliche Geschlechtsunterschied hätte sich in der Kleidung auszudrücken, sondern der das Geschlecht vertausendfachende Unterschied der Persönlichkeiten." 5 »

Diese Meinung wird auch in dem Essay Penthesileiade betont, wenn Musil den Mythos der Amazonen erwähnt. „Es waren Frauen einer herrischen, stärkeren Gattung, dennoch Frauen. Heute muß dieses dem Gefühl eines Mannes nur auf Umwegen, schattenhaft, in zoologischen Gärten erreichbar sein oder wenn er vor einer Doggenhündin erschrickt und nicht vergißt, daß es ein Weibchen ist."« 4

Musil betont hier die Bedeutung der Assoziation eines starken und selbst determinierten Charakters der Frau mit der Bewahrung der Weiblichkeit. Nach Veronica Fanelli ist das in Musils Kunst möglich, denn „die weiblichen Gestalten [...] bleiben im mythischen R a u m verhaftet, in einer Zeit- und Bewußtseinsdimension also, die sie aus der geschichtlichen Entwicklung ausschließt".»5

Das entspricht gerade der Entscheidung Musils, die Weiblichkeit durch eine mythische, uralte, fast primitive Komponente zu konnotieren. Die Modernität mit ihren rasanten technologischen Entwicklungen hat das Ursprüngliche der Weiblichkeit denaturalisiert und verarmt. Diese Tendenz des Autors, die Rückkehr zur Suche einer mythischen, erdhaften und mütterlichen weiblichen Natur, verstärkt die herkömmliche männliche Vorstellungstradition, die auch in Schnitzlers Kunst lebendig ist. Es gibt aber einen radikalen Unterschied zwischen Schnitzlers und Musils Imagination des Weiblichen: die Absenz des erotischen Motivs bei Musil. Die Schönheit eines harmonischen weiblichen Körpers inspiriert keine erotischen Vorstellungen, sondern evoziert die alte körperliche Schönheit der Mutter Erde. Bei Musil bleibt die Frau in ihrer physischen Harmonie nur Spiegelung der Schönheit der Weltschöpfung ohne erotische oder sexuelle Spuren.

333 Musil, Robert: Erinnerung an eine Mode. In: Robert Musil, Essays Reden Kritiken. Hrsg. von Anne Gabrisch. Berlin: Verlag Volk und Welt 1984, S. 24 334 Musil, Robert: Penthesileiade. In: ebda., S. 27 335 Fanelli, Veronica: Die Frau gestern und morgen. Anamnese und Diagnose eines aktuellen Phänomens. In: Neue Ansätze zur Robert-Musil-Forschung. Hrsg. von Marie-Louise Roth. Berlin: Peter Lang Verlag 1999, S. 169

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

1929 wird mit der Veröffentlichung des Essays Die Frau gestern und morgen Musils Weiblichkeitskonzeption verändert; deutlich aktualisiert und zeitlich konkretisiert. Soziale und politische Umstände wie der Erste Weltkrieg, die Entstehung der Weimarer und der ersten österreichischen Republik und der Eintritt der Frauen in die Arbeitswelt konnten nicht übersehen werden und haben Musils Meinung über die Imagination der Weiblichkeit radikal modifiziert. „Die Frau ist es müde geworden, das Ideal des Mannes zu sein [...] und hat es übernommen, sich als ihr eigenes Wunschbild auszudenken."" 6

Aus diesen Zeilen wird deutlich, wie Musils Perspektivenwechsel von einer männlichen zu einer weiblichen Betrachtungsweise stattgefunden hat. Hier ist die Rede über den Versuch des Autors „imaginierte Weiblichkeiten als krankhafte Männerphantasien zu demaskieren, sie aus der versteinerten Hülle der männlichen Ordnung zu befreien und weiblichen Subjekten faktischen Entfaltungsraum zu öffnen'." 7

Dieser Meinungswechsel Musils findet eine konkrete Entsprechung in Tonka, wobei die Frau mit ihrer alltäglichen, modern orientierten Lebensstruktur in einer Großstadt und mit ihren menschlichen Schwierigkeiten dargestellt wird. In Grigia und in Die Portugiesin wird die Frau hingegen durch das mythische Weiblichkeitsmodell ersetzt. Tonka verkörpert die neue Perspektive der Weiblichkeitskonstruktion Musils, die mit konkreten weiblichen Problemen wie z. B. einer unehelichen und rätselhaften Schwangerschaft konfrontiert wird. Das Motiv der Schwangerschaft, das sowohl Schnitzler als auch Musil bearbeitet haben, spielt für Musil eine besondere, persönliche Rolle. Als 1980 in einem Bozener Keller zahlreiche Briefe an Musil gefunden wurden, die ihm in erster Linie seine Frau Martha und andere Bekannte und Freunde geschrieben hatten, konnten die neuen Fakten seine Beziehung zu Martha und insbesondere zum Thema „Kinder" erhellen. Karl Corino schreibt:

336 Musil, Robert: Die Frau gestern und morgen. In: Robert Musil, Essays Reden Kritiken. Hrsg. von Anne Gabrisch. Berlin: Verlag Volk und Welt 1984, S. 483 337 Fanelli, Veronica: Die Frau gestern und morgen. Anamnese und Diagnose eines aktuellen Phänomens. In: Neue Ansätze zur Robert-Musil-Forschung. Hrsg. von Marie-Louise Roth. Berlin: Peter Lang Verlag 1999, S. 191

Beispiele aus der österreichischen Literatur

"3

„Bei M a r t h a hat sich zunächst eine W a n d l u n g vollzogen [...] während Robert schon auf Grund seiner syphilitischen Erkrankung, die er sich in seiner Brünner Jugend zugezogen hatte, große Bedenken gegenüber leiblichen Kindern hatte. [...] Außerdem fiel ihm der Kontakt mit Kleinkindern schwer, sie waren ihm, wie er nach einer Weihnachtsfeier in der Ponponniere zu G e n f schreibt, so sympathisch wie Schnecken."" 8

Im Bozner Nachlass schreibt Martha Musil am 27.10.1914 an ihren Mann: „ D i e Neuigkeit, von der ich schrieb, ist immer noch anhaltend; wenn es wahr bleibt, laß es Dich nicht anfechten." 359

Die Rede ist hier von einer Schwangerschaft Martha Musils, über die sich der Autor in einem Brief vom 5.11.1914 äußert: Er hatte seine medizinischen, finanziellen und sonstigen Einwände gegen ein Kind hintangestellt und gerade in Zeiten wie diesen dem „Unvernünftigen", nämlich einem Ja zum Kind, das Wort geredet. Dieses Verhalten Musils angesichts einer möglichen Schwangerschaft seiner Frau spiegelt die negative literarische Konnotation wider, mit der er eine Geburt im Rahmen seines Weiblichkeitsmodells assoziiert. In Tonka ist die Schwangerschaft der Heldin Präludium für die tödliche Krankheit der Protagonistin. Es ist interessant zu beobachten, wie auch bei Schnitzler im Fall von Therese dieser weibliche Zustand eigentlich für den Tod der Hauptgestalt verantwortlich ist. Es gibt aber einen grundlegenden Unterschied zwischen den zwei Todesfällen: Bei Musil stirbt die Protagonistin wegen der Schwangerschaft; bei Schnitzler hingegen stirbt die Heldin durch die Frucht dieser Schwangerschaft, nämlich Franz, ihren Sohn. Das bedeutet, dass zumindest in Tonka die Schwangerschaft in sich selbst als weiblicher Zustand tödlich ist, und so von Anfang an für eine gesunde Frau die Möglichkeit ausschließt, ein Kind zu gebären. Man könnte aber auch dieses negative Gefühl des Autors gegenüber der Schwangerschaft als emanzipatorischen Ansatz für die Uberwindung des traditionellen Musters der Frau als Mutter lesen.

338 Corino, Karl: „Der Zaubervogel küsst die Füsse". Z u Robert Musils Leben und Werk in den Jahren 1914-16. In: Musil-Studien. Robert Musil - Literatur, Philosophie, Psychologie. Hrsg. von Joseph Strutz und Johann Strutz. Band 12. München: Wilhelm Fink Verlag 1984, S. 156 339 Ebda., S. 156

Beispiele aus der österreichischen Literatur

ii4 Musils Zitat

„Sie [die Frau] will überhaupt kein Ideal mehr sein, sondern Ideale machen, zu ihrer Bildung beitragen, wie die Männer es tun." 340 betont die neue emanzipatorische Dimension dieses Musil'schen Gedankens, der die Frau autonom, selbstständig und frei sieht, ihr Leben zu gestalten. Musils kleiner Novellenband Vereinigungen, iv

der Liebe

der die zwei Texte Die

Vollendung

und Die Versuchung der stillen Veronika enthält, wurde 1911 veröffentli-

cht und kann exemplarisch für die wichtigsten Themen Musils stehen, die einige Ähnlichkeiten zu den Motiven Schnitzlers haben. Die zweideutige, manchmal auch widersprüchliche Haltung des Autors in Bezug auf die entfremdete und sprachlose Beziehung zwischen M a n n und Frau, die die Distanz zwischen den Geschlechtern zeigt, sind Elemente, die auch bei Schnitzler Raum und Bedeutung haben. Karl Corino bezeichnet die oben genannten Erzählungen als „die schwierigsten und seltsamsten, vielleicht auch zum bedeutendsten in der literarischen Produktion Musils gehörenden Texte" 342 , Musil selbst betrachtete z. B. Die Versuchung stillen Veronika als „ein kleines weibliches Tagebuchfragment"

343

der

. Das Elaborierte

des Stils wird von mehreren Rezensenten metaphorisch zu Kristall und Metall in Beziehung gesetzt; so heißt es bei Béla Balazs, mit dem Musil befreundet war: „Musils Sätze haben eine dreidimensionale Plastizität. Sie befühlen sich wie kühles, hartes Edelmetall." 344

340 Musil, Robert: Die Frau gestern und morgen. In: Robert Musil, Essays Reden Kritiken. Hrsg. von Anne Gabrisch. Berlin: Verlag Volk und Welt 1984, S. 477 341 Thema dieser Novelle ist das Liebesverhältnis zwischen der Protagonistin Claudine und ihrem namenlosen Mann, das durch Claudines Verbindung zu einem Fremden in Frage gestellt wird. Die Untreue wird jedoch paradoxerweise nicht als Ende der innigsten Zuneigung zum Ehepartner begriffen, sondern als höhere Form der Vereinigung mit ihm. Für weitere Informationen oder eine tiefere Textanalyse: Marja Rauch: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Robert Musils Prosawerk. Wurzburg: Könishausen & Neuemann 2000. 342 Corino, Karl: Robert Musils Vereinigungen. München: Fink Verlag Band 5 1994, S. 1 343 Musil, Robert: Brief an Franz Blei vom 21. 2.1911. In: Robert Musil, Briefe Hamburg: Rowohlt Band 1

1901-1942.

344 Zit. nach Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg 1993, S. 13

Beispiele aus der österreichischen Literatur

"5

Andere Autoren sprechen von den „ungemein fein ziselierten Novellen", von einer ,,selbsterwählte[n] kristallische[n] Sprachform", von „Knappheit, Körperlichkeit, Gegenständlichkeit". 345 Die Vereinigungen

stellen die Frage nach einem Verhältnis zum eigenen Ich an-

hand zweier Frauenfiguren. Damit greift Musil auf das Thema der Ich-Krise zurück, denn die Novellen bieten eine Beschreibung der modernen Erfahrung des Ichzerfalls und erproben zugleich Möglichkeiten, diesem entgegenzuwirken. 346 Eine der Besonderheiten des Musil'schen Textes liegt darin, dass der Autor diese Ich-Krise aus der Binnenperspektive der weiblichen Figuren darstellt. Die Vereinigung entspricht dem Versuch, das moderne Gefühl des Selbstverlusts durch die Wiedererlangung einer Einheit zu überwinden, 347 auch wenn es fragwürdig bleibt, ob die Vereinigung die ihr anvertraute Aufgabe der Wiederherstellung der Einheit des Ich wirklich erreichen kann. In der bereits Ende 1908 unter dem Titel Das verzauberte Erzählung Die Versuchung der stillen Veronika?^

Haus erschienenen

wird von Musil als Hauptthema

die Beziehungsachse Mann-Frau aus der Sicht der Frau beschrieben.

345 Ebda., S. 13 346 Die Kritik der modernen Subjektivität durch die Dekonstruktion knüpft dabei an Tendenzen an, die sich bereits um die Jahrhundertwende abzeichneten. Ernst Mach z. B. formulierte 1885 die These, das Ich sei unrettbar verloren. In seiner Analyse der Empfindungen und des Verhältnisses des Physischen zum Psychischen postulierte er, das Ich sei nur aus Elementen, Empfindungen und Erinnerungen zusammengesetzt. Auch Sigmund Freud — anders als Mach - geht nicht von der Abhängigkeit des Ich von Empfindungen aus, sondern von der Abhängigkeit des Ich vom Es. In beiden Fällen ist das Ich gespalten, abhängig und strebt nach einer seelischen Wiedervereinigung. 347 Rauch, Marja: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Robert Musils Prosawerk. Würzburg: Königshausen & Nauemann 2000, S. 107. „Jeder von uns ist also ein Stück von einem Menschen, da wir ja zerschnitten, wie die Schollen, aus einem zwei geworden sind. Also sucht nun immer jedes sein anderes Stück." Diese Worte aus dem Symposion von Piaton belegen die alte Dimension dieses Themas, das schon in der griechischen Literatur und Philosophie bearbeitet wurde. 348 Der Entstehungszeit nach ist diese Novelle die ältere des Sammelbandes. Musil hat sie jedoch so häufig umgearbeitet, dass er sie schließlich nach der Vollendung der Liebe fertig gestellt und dieser nachgeordnet hat. Beweis sind die Aufzeichnungen im Tagebuch Musils. Am 1 8 . 1 1 . 1 9 1 0 notierte der Autor: „Claudine beendet", und am 19.11.1911: „1 h morgens Veronika beendet." Von Die Versuchung der stillen Veronika sind verschiedene Fassungen überliefert. In meiner Arbeit soll jedoch nur die Endfassung untersucht werden, aber für einen Vergleich empfehle ich die Lektüre des Buchs von Won Koh Robert Musils „Die Versuchung der stillen Veronika". Entwicklung der fiinf Fassungen. St. Ingbert: Werner Röhrig Verlag 199z, S. i68f.

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Im Mittelpunkt der Novelle steht ebenfalls ein Liebesverhältnis, das die Protagonisten Veronika und Johannes verbindet. Dieses Verhältnis wird durch Demeter ergänzt, der zugleich als Dritter eine Bedrohung für die Beziehung der beiden darstellt. Die Novelle zeichnet sich durch Handlungsarmut aus, die durch ein Extrem an sprachlicher Verdichtung ausgeglichen wird. Musil entwickelt das Geschehen nicht über äußere Begebenheiten, sondern verlagert es ausschließlich in die Innenwelt von Veronika und Johannes sowie in die von ihnen bewohnten Räume. Die Erzählstruktur der Novelle beruht auf drei Teilen. Diesen ist darüber hinaus eine Art Prolog vorgeordnet, der die Problematik des Textes in nuce enthält. Zentrales Thema der Novelle ist der Wunsch Veronikas nach einer Vereinigung, der zwischen göttlich-mystischen und sexuell-animalischen Momenten oszilliert. Das Ende des ersten Teils der Erzählung wird durch die Trennung der Protagonisten und die Abreise Johannes' markiert. (Vgl. in der Vollendung der Liebe ist es Claudine, die mit der Ausrede, die Tochter Lili im Internat zu besuchen, ihren Mann verlässt.) Objekt der ersten Phase der Narration ist die Gegenüberstellung der Hauptgestalten, die Musil durch die Darstellung von zwei bestimmten Stimmen charakterisiert. „Irgendwo muß man zwei Stimmen hören. Vielleicht liegen sie bloß wie stumm auf den Blättern eines Tagebuchs nebeneinander und ineinander, die dunkle, tiefe [...] Stimme der Frau und die weiche, weite [...] Stimme des Mannes." 349

Die Stimmen der Gestalten Johannes und Veronika, deren Namen an die biblische Geschichte erinnern, beschwören zwei verschiedene Bilder herauf: Beide sind auf der Suche nach der Sprachlichkeit, denn beide Gestalten sind Gottessucher und Wortsucher, wenn auch auf verschiedene Weise. Johannes, wie der gleichnamige Apostel, der in seinem Evangelium „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort" schreibt, setzt die Sprachlosigkeit der Welt mit der Abwesenheit Gottes gleich. Er nimmt in der Novelle Züge der Christusfigur an. Er identifiziert sich mit dem alles erduldenden Erlöser, der auf die durch Demeter erfahrene Aggression mit einem Lächeln reagiert. An dieses Erlebnis knüpft sich sein später revidierter Entschluss, Priester werden zu wollen. „[...] Damals sagtest du nachher zu mir, daß du Priester werden wolltest." 350

349 Musil, Robert: Die Versuchung der stillen Veronika. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlass zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1988, S. 183 350 Ebda., S. 187

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Veronika, die in der Hagiographie zu einer der frommen Frauen des LukasEvangeliums ( X X I I I , 2 7 ) gerechnet wird und die die Kirche mit einer von Jesus geretteten Frau (Matthäus XI,20) gleichgesetzt hat, setzt - im Gegensatz zu J o hannes — die Kommunikationsunfähigkeit mit der Abwesenheit der Liebe gleich. Sie glaubt ihre Ausdrucksschwierigkeiten in der Tatsache begründet, dass sie Johannes nicht mehr liebt. Aber sie überwindet ihr sprachliches Unvermögen, als sie Demeter kennen lernt. Demeter, der vermutlich Johannes' Bruder oder Vetter ist,351 bildet die Gegenfigur zu Johannes, indem er die versuchende K r a f t der Sexualität darstellt, schließlich erinnert Demeter an die griechische Fruchtbarkeitsgöttin. Merkwürdig ist, dass Demeter einen weiblichen N a m e n aus der griechischen Mythologie trägt (Demeter ist aber z. B. in Ungarn ein männlicher Name). Das spätere Verhältnis zwischen ihm und Veronika zeichnet sich jedoch anders als das zwischen Veronika und Johannes nicht durch eine Verkehrung der tradierten Rollenverhältnisse von M a n n und Frau aus. Während Johannes' Reden über die Liebe schnell eine Wendung ins Geistliche nehmen — „Und er sprach von Gott, da dachte sie: mit Gott meint er jenes andere Gefühl, vielleicht von einem Raum, in dem er leben möchte"351 —

und den Geboten der chrisdichen Religion genügen, indem er auf eine Ehe dringt, versucht Demeter, diese Reglements zu umgehen und Veronika zu verfuhren. „Demeter sagte ganz unvermittelt zu mir: ,Der dort wird dich nicht heiraten und der dort nicht; du wirst hier bleiben und alt werden wie die Tante [...]

Mit diesen Worten versucht Demeter Veronika zu verunsichern und einen starken Druck auf die physische und sexuelle Potenz der Weiblichkeit der Protagonistin auszuüben. M i t seinem verführerischen Verhalten ist Demeter sündhaft und wird metaphorisch mit dem Hahn (im Evangelium Symbol für die Untreue) assoziiert.

351 Dass Demeter und Johannes Brüder oder zumindest Vettern sind, geht aus folgender Bemerkung hervor: „Wir haben wenig Geld, aber wir sind die älteste Familie in der Provinz" (Die Versuchung der stillen Veronika, S. 189). 352 Musil, Robert: Die Versuchung der stillen Veronika. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 199z, S. 205 353 Ebda., S. 188

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„Demeters N ä h e half ihr dabei und beengte sie zugleich. U n d nach einer Weile wußte sie, daß es der Hahn gewesen war, woran sie gedacht hatte."" 4

Die animalische Phantasie Veronikas findet auch bei ihrer Johannes-Darstellung eine interessante Entsprechung, als sie ihn „das Tier" nennt. „ D a begriff ich plötzlich: nicht Demeter, sondern du bist das Tier [...] Ein Priester hat etwas von einem Tier!" 355

In dem Fall von Johannes ist die Entscheidung Veronikas, ihn mit einem namenlosen Tier zu benennen, kein Zufall, sondern verstärkt die religiöse Dimension seiner Persönlichkeit, schließlich ist ein Priester als Stellvertreter Christi auch als L a m m Gottes zu sehen. W e n n Johannes das Symbol für die Sakralität und Religiosität repräsentiert, symbolisiert Demeter die Verführung, den Betrug und paradoxerweise auch die Versöhnung zwischen Johannes und Veronika (wie schon im Fall Claudines), denn er gibt Veronikas Leben einen Sinn. „Dann kam Demeter [...] und sie begann zu merken, daß sie doch die ganze Zeit an etwas gedacht hatte, bloß im Dunkel, und jetzt fing sie an es zu erkennen [...] Demeters Nähe half ihr d a b e i . . . und je länger er neben ihr stand, desto deutlicher."356

Die Idealisierung und Entsexualisierung des sprachlosen Begehrens von Johannes wird durch die Realisierung und Sexualisierung des Begehrens von Veronika ersetzt. Deshalb gibt es eine deutliche Gegenüberstellung: Die V e r n u n f t des Mannes steht dem Instinkt der Frau entgegen. Die Identifikation des Mannes mit der Vernunft und die der Frau mit der N a tur oder Körperlichkeit stellen auch in der Szene zwischen Else und von Dorsday

354 Ebda., S. 186 355 Ebda., S. 187 356 Ebda., S. 185^ Demeter, die Verkörperung der Fruchtbarkeit der Natur, die „[...] böse dicke Frau, die den Menschen ihre Brüste zu küssen zwingt", ist für die Suche nach Veronikas Weiblichkeit notwendig. Das zeigt, meiner Meinung nach, wie die christliche Religiosität Veronikas eine Ergänzung erhält. Durch die Rückkehr in die alte griechische Welt der Mythologie hat Musil gezeigt, dass der christliche Gott schwach geworden ist, und dass er nicht mehr fähig ist, der Welt einen Sinn zu geben. Das findet eine Korrespondenz in dem Wort von Johannes: „es ist Gott [...] es sagte nichts von dem, was er meinte. Was er meinte, aber war damals vielleicht nur etwas wie jene Zeichnungen, [...] niemand weiß, wo das lebt, worauf sie deuten, und wie es in seiner vollen Wirklichkeit sein mag" (S. 184).

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die zwei Gegenpole der Sexualität dar. Die kontrollierte, vernünftige und kühle Art des Sprechens von Herrn von Dorsday findet keine Entsprechung in der impulsiven, total geöffneten und unzweideutigen Sprachlichkeit Elses, die den Gesprächspartner wie ein Fluss fortreißt. Die distanzierte und gefühllose Haltung Dorsdays erinnert auch an eine andere Gestalt Schnitzlers: an Leopoldine, Hauptgestalt der Erzählung Spiel im Morgengrauen, die den Leutnant Willi Kasda mit folgenden Worten anspricht: „Und welche Sicherheit würden Sie mir bieten, Herr Leutnant?"357 Auch sie — wie Dorsday - hört der Erzählung von der schwierigen Situation Willi Kasdas mit der Gleichgültigkeit eines skrupellosen, professionellen Geschäftsmannes zu. Das Thema der unterschiedlichen Sprachlichkeit der Geschlechter wird in zwei späteren Erzählungen Musils, Die Portugiesin und Tonka, vertieft und ist mit zwei anderen Begriffen verbunden: der Musil'schen Theorie des „Glaubens" und der Darstellung der Frau als Männerphantasie. Musils Konzept der Religion und der Weltschöpfung, nämlich der Natur, die in einer pantheistischen Dimension gezeigt wird („weil er [Gott] in allem ist")3'8, stimmt mit einem Glauben an etwas „Furchtsames und Frommes"359 überein. Die Verbindung einer metaphysischen Weltanschauung mit einer religiösen Stimmung, die Musil als eine „Stimme des Ganzen" bezeichnet (vgl. Tonka, S. 257), steht für die Verschmelzung des Individuums mit der Natur. Das Resultat dieser Verschmelzung ist die Verwandlung des Mannes (im Sinne Weiningers) in ein tierisches Wesen,360 das das Leben und insbesondere die sexuelle Beziehung mit der Frau nur als Quelle eines fremden Vergnügens erfährt. „ D i e Körper standen steif und starr und ließen bloß mit geschlossenen Augen geschehen, was da heimlich vor sich ging [.. .]" j61

357 Schnitzler, Arthur: Spiel im Morgengrauen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1998, S. 124 358 Musil, Robert: Die Versuchung der stillen Veronika. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 190 359 Ebda., S. 184 360 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. München: Matthes & Seitz 1997, S. i n . Weininger behauptet, dass „M. in sexueller Beziehung das Bedürfnis anzugreifen hat, W. das Bedürfnis angegriffen zu werden [...]". 361 Musil, Robert: Die Versuchung der stillen Veronika. In: Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 201

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Johannes erscheint Veronika wie „ein großer mit Zähnen bewehrter Mund, der mich verschlingen konnte". 362 Das Motiv der Verwandlung des Mannes in ein gewalttätiges und fürchterliches Geschöpf wird auch bei Schnitzlers Beschreibung Herrn von Dordays betont: „Seine gepflegten Finger sehen aus wie Krallen."' 6 '

In diesem Zusammenhang ist interessant, dass diese tierische und wilde Natur Dorsdays durch sein subtiles zynisches Lachen noch unterstrichen wird. „Aber er lächelt. D u m m e s Mädchen, denkt er. E r lächelt ganz liebenswürdig."' 6 4

Mit diesem Zitat gibt Schnitzler der Darstellung von Dorsdays Verhalten gegenüber Else einen Akzent der Harmlosigkeit, der in Musils Porträt von Johannes fehlt, aber gleichzeitig in Schnitzlers Kontext die totale Unterordnung Elses zeigt. Sie ist gehetzt, ohne Möglichkeiten zur Rettung. Sie muss ihren neuen „Besitzer" akzeptieren. Der Leser findet sich noch einmal mit Schnitzlers Ansicht über die Doppeldeutigkeit der menschlichen Natur konfrontiert, denn die scheinbar harmlosen „gepflegten Finger" Dorsdays verstecken gefährliche Krallen, die bald bereit sind, das Opfer zu greifen. So wie Else Opfer Herrn von Dorsdays ist, ist Veronika Opfer ihrer Vereinigung mit Johannes. Man muss aber auch hinzufügen, dass das Gefühl der weiblichen Zugehörigkeit zum Mann, das die Frauengestalten Schnitzlers und Musils empfinden, von einem Gefühl der Freiheit bestimmt ist. Sowohl Else, Therese als auch Claudine oder Veronika verspüren den Wunsch nach einem Freiheitszustand, der nur durch eine Bedingung des Alleinseins möglich ist. Die Szene der Vorbereitung Elses vor dem Spiegel, bevor sie Dorsday trifft, oder die Episode des Verlassens des Zuhauses in Thereses Leben und die folgende Entscheidung

362 Ebda., S. 190. U m diese Zitate besser zu verstehen, muss man Weiningers Meinung über die Spaltung des Weiblichen in Mutter - Dirne in Betracht ziehen. Im Kapitel „Männliche und Weibliche Sexualität" beschreibt Weininger die Frau als ein Geschöpf, das „sexuell viel erregbarer als der M a n n " ist. Mit dieser Behauptung will Weininger die Rolle der Frau als Dirne gegenüber der als Mutter betonen, denn die Frau hat die Fähigkeit, das vernünftige Verhalten des Mannes mit ihrer Koketterie zu destabilisieren, bis der M a n n sich in ein Tier verwandelt. 363 Ebda., S. 9 0 364 Ebda., S. 81

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der Heldin, eine autonome Existenz in der Großstadt zu führen, sind Momente, die die Notwendigkeit einer inneren Freiheit der Heldin betonen, wie die Entscheidung Claudines abzureisen oder Veronikas Einsamkeit nach der Abreise Johannes'. Nicht die ewige Präsenz des Mannes, sondern seine Abwesenheit ruft in den weiblichen Gestalten ein Glücksgefühl hervor. Obwohl diese glückliche Stimmung nicht lange dauert, ermöglicht sie eine vorläufige Situation der „geistigen Vereinigung" der Geschlechter. „ S i e e m p f a n d eine w o l l ü s t i g e W e i c h h e i t u n d ein ungeheueres N a h e s e i n . M e h r noch als des Körpers eines der Seele; es w a r w i e w e n n sie aus seinen A u g e n heraus a u f sich selbst schaute u n d bei jeder B e r ü h r u n g nicht nur ihn e m p f ä n d e , sondern a u f eine unbeschreibliche W e i s e auch sein G e f ü h l von ihr, es erschien ihr w i e eine geheimnisvolle geistige Vereinigung."' 6 5

A m nächsten Morgen wird durch das Eintreffen eines Briefes von Johannes diese glückliche und positive Wiedergeburt in Frage gestellt, denn der imaginierte Johannes, mit dem ihr eine geistige Vereinigung möglich erschien, weicht dem realen Johannes. Die Möglichkeit seiner Rückkehr stellt eine erneute Bedrohung für Veronika dar. „ U n d sie ängstigte sich bereits wieder in diesem fremden, sie umschließenden D a sein."' 6 6

Die konkrete Anwesenheit des Mannes ist Ursache eines bedrohlichen Zustandes der Frau, die sich als Opfer einer patriarchalischen Gesellschaft fühlt, in der die Frau Opfer der Familie und ihres Mannes ist. Von diesem Gesichtspunkt aus kann die Erzählung auch als Vorarbeit für die Geschichte der Portugiesin gelesen werden, wobei die imaginierte Metamorphose des Johannes eine Entsprechung in der Figur der Katze der Portugiesin, die mit ihrem Mann (Herrn von Ketten) gleichgesetzt wird, finden kann.' 67

365 Musil, Robert: Die Versuchung der stillen Veronika. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 209 366 Ebda., S. 2 0 7 367 M u s i l , Robert: Drei Frauen. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem N a c h l a ß zu Lebzeiten. H a m b u r g : Rowohlt 1988, S. 238. In dieser Erzählung ist die Portugiesin mit einem Ritter - Herrn von Ketten - verheiratet. Einmal, als ihr M a n n im Feld ist, findet sie eine Katze an der Schlosstür, und sie beschließt die Katze mit sich zu nehmen. N a c h seiner Heimkehr erkrankt Herr von Ketten lebensgefährlich, doch es ist die Katze, die

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Das zweite Thema der Erzählung, die Darstellung der Frau als Männerphantasie, wird von Musil durch eine an Schnitzler erinnernde Erzähltechnik - er verwendet stellenweise den inneren Monolog — beschrieben. Johannes und Veronika stehen vor einander, von der Dunkelheit des Hauses umgeben, und Johannes beginnt zu phantasieren: „Wie sie in Wahrheit sein mußte [...] E r sagte: Veronika und fühlte an ihrem N a men den Schweiß [...], das demütige, rettungslose Hinterhergehen u n d das feuchtkalte [...] Begnügen [...]" ä 6 8

und „Wenn er sie nicht sah, sah er alles mit übermäßiger Deutlichkeit vor sich, ihre breite, ein wenig flache Brust, ihre niedrige, wölbungslose Stirn [.. .]" j 6 s

In den Worten Johannes' über Veronika wirft Musil das Thema der Frau auf, die sowohl Symbol für eine religiöse Geistigkeit als auch reine Körperlichkeit ist, die die männliche sexuelle Lust anregt. Die biblische Veronika ist eine Nebenfigur im Leben Jesu, deren Rolle nur im Moment von Jesu Tod bedeutungsvoll wird, als sie das Schweißtuch aufhebt (vgl. „ E r fühlte an ihrem Namen den Schweiß" 370 ) und es mit Andacht bewahrt, so dass es auch heute das „Schweißtuch der Veronika" genannt wird. Diese biblische Figur wird von Musil aufgegriffen und verweltlicht. Während Veronika eine fromme und gleichzeitig weltliche Frau ist, bleibt Else nur die Verkörperung einer Frau, deren einzige Stärken ihr Körper und dessen Schönheit sind. Und gerade im unterschiedlichen physischen Aussehen dieser zwei Frauengestalten lassen sich unterschiedliche historische Männerphantasien erkennen. Einerseits gibt es die frische, junge, naive, kindliche und unschuldige Schönheit eines süßen Mädels der Jahrhundertwende, auf der anderen Seite steht die verblühende, dekadente Schönheit einer weiblichen Gestalt in Kakanien.

stellvertretend f ü r ihn stirbt. 368 Musil, Robert: Die Versuchung der stillen Veronika. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 192 369 Ebda., S. 192 370 Ebda., S. 192

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Ihre breite und ein wenig flache Brust, ihre niedrige, wölbungslose Stirn greifen die platonische Dreiteilung des menschlichen Leibes wieder auf, wo „die Brust den sterblichen Teil der Seele fesselt"' 71 und die Stirn der Ort der Vernunft ist. Schon in dem Lehrbuch des Renaissance-Physiologen Fernel liest man: „Es gibt drei Bereiche für die inneren Teile des Körpers: der oberste ist der Sitz der Sinneswahrnehmung und des Verstandes; der mittlere, die Brust, beherbergt Leben; der untere ist Werkstatt der Natur." 372

Nach dieser Einteilung wird Musils Veronika als eine lebensvolle und unvernünftige Frau dargestellt, denn ihre Brust, Symbol für Mutterschaft seit dem Altertum, ist „breit" und „ein wenig flach", während die Stirn „niedrig und wölbungslos" ist. Ihr Körper hat seine einstige Schönheit verloren und spiegelt die Dekadenz und das Vergehen der Zeit wider. Ihre einstige Schönheit erinnert an die Plastizität der griechischen Marmorbildwerke, deren Harmonie die Vollkommenheit der Natur darstellt. Ihre Schwäche und ihre Müdigkeit hingegen spiegeln die Dekadenz der Zeit Musils wider. „Ihre Brüste waren längst nicht mehr so spitz und neugierig, rotgeschnäbelt wie damals, sie hatten sich ein ganz klein wenig gesenkt und waren ein bißchen so traurig wie zwei liegengelassene Papiermützchen auf einer weiten Fläche [.. .]" 171

Trotz dieser physischen Dekadenz bleibt der Verstand Veronikas stark genug, um den Kampf der Emanzipation weiterzufuhren. Noch einmal sieht man sich einem Bild der Frau, in diesem Fall Veronika, gegenüber, das in einer symbolischen Weise Prototyp jeder Frau der Zeit Musils ist, die als Weib, als Mutter Natur beschrieben wird und deren Aufgabe die Fortpflanzung ist, wie Weininger betont.

371 Piaton: Timeois 31 Kap., S. 69-70. In: Sämtliche Werke von F. Schleiermacher. Hrsg W. F. Otto. Hamburg 1959, S. i9if. Piaton zitiert, außer der Brust, Genick und Zwerchfell als Orte des Mutes und der Mannheit; den Nabel als Ort des begierigen Teils unseres Leibes. Die Dreiteilung zeigt, wo die Grenze zwischen Seele und Körper verläuft. 372 Fernel, J: De naturali parte medicinae. Hrsg. von K. E. Rothschuh, Freiburg 1968, S. 43-48f 373 Musil, Robert: Die Versuchung der stillen Veronika. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1988, S. 195

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Musil zeigt uns an Veronika hauptsächlich ihre Körperlichkeit und weniger ihre Intelligenz: Sie gibt den Gedanken, dass Johannes sterben könnte, nicht auf, und wartet auf seinen Brief in der Hoffnung, dass er ihr seinen bevorstehenden Tod mitteilt. Aber die Worte seines Briefes: „Ich habe mich nicht getötet? [...] Wir werden darüber sprechen" 374 , machen Veronikas Möglichkeit, ihren Emanzipationsprozess zu beenden, zunichte, einen Prozess, der mit der Flucht Johannes' vor Veronika begonnen hatte. Die Gefährlichkeit und die Aggressivität der Frau, über die Weininger gesprochen hat, findet in dieser Darstellung keine Korrespondenz mehr; es ist, als ob die Stärke der Religion die weibliche Körperlichkeit bedeckt und ausgelöscht hätte. Veronika ohne die Macht ihrer physischen Schönheit ist nur ein Opfer in den Händen des Mannes. Schlussendlich verkörpert Veronika die doppeldeutige männliche Imagination: die Frau als Körper und Geist.

374 Ebda., S. 210

Die „Drei Frauen"

Die „Drei Frauen" (1924) Dreizehn Jahre nach dem Erscheinen des Novellenbandes Vereinigungen hat Musil 1924 seinen nächsten Erzählband mit dem Titel Drei Frauen veröffentlicht. Wie auch im Fall der Vereinigungen stellt sich in Bezug auf die Drei Frauen die Frage nach ihrem Stellenwert im Gesamtwerk Musils. Die Meinung der Forschung ist in dieser Frage geteilt. Bernhard Großmann drückt seine Verwunderung aus, dass die Drei Frauen „relativ geringe Aufmerksamkeit [...] in Forschung und Kritik gefunden haben".375 Er erwähnt auch Rosemarie Zeller, die der Ansicht ist,' die Novellen würden im Vergleich zu anderen Texten von Musil unterschätzt. „Die Novellen Drei Frauen nehmen in der Musilforschung eine Stelle ein, die ihrer künstlerischen Bedeutung nicht gerecht wird."376

Zeller erwähnt auch die Tatsache, dass Musil die avantgardistische Linie der Vereinigungen auch in diesem späteren Erzählband bewahrt hat. „Die Novellen Drei Frauen liegen durchaus in der Fortsetzung der Vereinigungen, wenn auch manche Verfahren dort noch extremer angewendet werden."577

Sie rechtfertigt ihren Vergleich durch den Hinweis auf die gemeinsame Erzählform und vertritt die These, dass „wohl hier — weniger deutlicher als in den Vereinigungen — der Modus der Psycho-Narratives vorliegt".378 Während die weiblichen Protagonisten der Vereinigungen Zentrum der Narration sind, bleiben die männlichen Charaktere im Schatten und werden nur als Rahmenbedingung des weiblichen Vereinigungsprozesses betrachtet. Das bedeutet, dass die männlichen Figuren eine Nebenrolle im Kontext der erzählenden Entwicklung spielen. Anders als in den Vereinigungen geht es in den Drei Frauen jedoch nur auf den ersten Blick um die Geschichte von Frauen, die in den Einzeltiteln Grigia, Die Portugiesin und Tonka auch ausdrücklich genannt werden. Im Zentrum der Novellen stehen nicht so sehr die Frauenfiguren, sondern ihre männlichen Partner. Die Frauen werden nur in ihrem Verhältnis zu den Männern thematisiert. Die männlichen Figuren, die scheinbar auf Nebenrollen verwiesen sind — wie eigent-

375 Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg Verlag 1993, S. 12 376 Ebda., S. 25 377 Ebda., S. 25 378 Ebda., S. 27

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lieh bei den Vereinigungen — beherrschen tatsächlich das Geschehen der Novellen. In diesem Zusammenhang ist auch die Erzählperspektive anders, denn die binnenpsychische Perspektive der Vereinigungen, in deren Zentrum die Frauen Claudine und Veronika stehen, wird in den Drei Frauen durch eine auktoriale Erzählperspektive ersetzt, die die männlichen Protagonisten privilegiert. Die Veränderung der Erzählperspektive entspricht einem Wechsel in der Darstellungsweise des Geschlechterverhältnisses, die vom Standpunkt der Frau auf den des Mannes übergeht. Der Verbindungspunkt der Drei Frauen und der Vereinigungen liegt dagegen vor allem auf der thematischen Ebene. Gemeinsam ist den beiden Textgruppen die Gestaltung einer fundamentalen und existenziellen Krisenerfahrung des Ich und die Reflexion auf das Motiv der Vereinigung als der Kraft, die dazu in der Lage sein soll, aus der Krise herauszufinden. Unterschiedlich sind jedoch die Bezugspunkte der Novellen. Während die Vereinigungen die Identitätsfrage der weiblichen Figuren Claudine und Veronika thematisieren, suchen die Drei Frauen nach Möglichkeiten und Grenzen einer Identitätsgewinnung für die männlichen Figuren, die sich über ihr Verhältnis zu den Frauen gestaltet. „Jede der drei Frauen in Musils Novellenzyklus verkörpert f ü r den M a n n eine bestimmte Möglichkeit, aus dem Bruchstückhaften seines Daseins zum vollendeten Ganzen zu gelangen." 379

Man kann also davon ausgehen, dass die Novellen auf den Gewinn der männlichen Identität abzielen, wobei die Frauen nur die Funktion eines Mediums übernehmen. „Im Zentrum der Novellen steht die Lebens- und Identitätskrise eines Mannes, jeweils ausgelöst durch die Begegnung mit einer Frau, in der sich das , Andere' der Bereich des Seelenhaften, des Nicht-Ratioiden, wie der Begriff Musils lautet, verkörpert."' 80

Mit diesem Zitat weist Großmann darauf hin, dass die Problematik der Identitätskrise der Frau, die im Mittelpunkt der Vereinigungen stand, in den Drei Frauen durch die des Mannes ersetzt wurde. Trotz dieser unterschiedlichen Ausrichtung 379 Rauch, Marja: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Robert Musils Prosawerk. Würzburg: Königshausen & Neuemann 2000, S. 81 380 Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg 1993, S. 8

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ist der Zusammenhang von Eros und Mystik in beiden Novellen mitreflektiert, als Methode, um Wege aus der Ichkrise zu erproben. Wie in den Vereinigungen geht es in den Drei Frauen nicht nur um ein erotisches Verhältnis zwischen Mann und Frau, sondern auch um die mystische Erfahrung eines anderen, für das die Frauenfigur Stellvertreterin ist. Für zwei der drei Erzählungen, Grigia und Die Portugiesin, bilden Musils Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges als Offizier im Fersental (in der Nähe von Trient) das Material für die landschaftliche und soziale Ausstattung; beide weisen auch gemeinsame Elemente für die Darstellung des Weiblichen in Schnitzlers Schaffen auf. Wie in all seinen Werken hat Musil auch hier persönliche Erlebnisse, autobiographisches Material als Grundlage herangezogen. Im Tagebuchheft I, in dem Musil von 1915—1920 Kriegserlebnisse und literarische Pläne notierte, findet man neben zahlreichen Landschafts-, Menschen- und Tierbeschreibungen auch Todesahnungen, Kriegserfahrungen, Gedanken über Untreue und über die Trennung von seiner Frau Martha.38' Hinter der Figur der Grigia etwa steckt eine reale Person. Karl Corino fand bei einem Besuch in Palai 1969 heraus, dass eine gewisse Magdalena Maria Lenzi (geb. 1880 und gest. 1954) Vorbild dafür war. „Die Lenzi wohnte gegenüber dem Schulhaus, in dem Musil einquartiert war, die Soldaten holten bei ihr die Milch der Grigia; die Frau war, wie viele andere des Tals, Lastträgerin beim österreichischen Heer."' 82

Tatsächlich war Musil vom 22. Mai bis Ende August 1915 in Palai stationiert, und der Zeitraum seines Aufenthaltes entspricht exakt dem Handlungszeitraum der ersten Novelle Grigia. „In den Straßen war eine Luft, aus Schnee und Süden gemischt. Es war Mitte Mai."' 8 '

381 Musil, Robert: Tagebuch I. Hrsg. Adolf Frisé. Hamburg: Rowohlt 1976, S. 345-349 382 Zit. nach Kurt Krottendorfer: Bürgerliche Kriesenerfahrungen. Das reale Geschehen in Robert Musils „Drei Frauen". Wien: Dissertation 1991, S. 140 383 Musil, Robert: Grigia. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1988, S. 216

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Auch Schnitzlers Else ist möglicherweise unter Rückgriff auf zwei wirkliche Frauengestalten entstanden. Einerseits erinnert die junge und naive Schönheit Elses „Ich habe eine edle Stirn und eine schöne Figur. [...] W i e schön meine blondroten Haare sind, und meine Schultern; meine Augen sind auch nicht übel." 384

— an die einer gewissen Anni, Urbild des süßen Mädels, die Schnitzler so darstellt: „Eine schmiegsame, weiche, schlanke Gestalt, ein charmantes Köpfchen mit reichlichem blonden Haar [...] dunkle Augenbrauen über blaugrauen Augen [...] U n d Geist? Natürlich keinen, aber ich küsse ja nicht ihren Verstand."' 85

Und andererseits erinnert Else mit ihrer Hoffnung und ihrem Wunsch nach einer besseren, emanzipierten Zukunft „ D a n n gibt es kein Zurück, kein nach Hause zu Papa und M a m a , zu den Onkeln und Tanten. D a n n bin ich nicht mehr Fräulein Else, das man an irgendeinen D i rektor Wilomitzer verkuppeln möchte." 386

- an Adele Sandrock, eine emanzipierte Schauspielerin, die versuchte, durch ihre Tätigkeit am Theater ihre Schnitzler gegenüber untergeordnete Position zu kompensieren. Stilistisch werden die Charaktere der drei Musil-Novellen nicht mehr, wie in den Geschichten von Törleß, von Claudine oder von Veronika, aus der Perspektive anderer Figuren beschrieben, sondern werden durch eine auktoriale Prosa dargestellt. Gerade dieser stilistische Aspekt stellt einen wichtigen Unterschied zu Schnitzlers Else dar, wobei Else als Gestalt nicht erzählt wird, denn sie erzählt sich selbst durch den inneren Monolog, der ihre Taten und die Bewegungen ihrer Seele zeigt. Die drei Geschichten in Musils Novellensammlung stehen in keinerlei Beziehung zueinander. Sie zeigen zwar Ähnlichkeiten, aber auch Verschiedenheiten. Während in der dritten Erzählung, Tonka, einerseits eine gewisse Nähe zum Ex384 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1998, S. 6 6 - 1 2 1 385 Scheible, Harmut: Schnitzler. Hamburg: Rowohlt 2000, S. 25 386 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1998, S. 125-126

Die „Drei Frauen"

pressionismus vorhanden ist, weist die zweite, Die Portugiesin, symbolistische Züge auf: Einem einfachen, guten Landmädchen, das von Flaubert stammen könnte, wird eine Frau aus dem Mittelalter, die in einem Schloss wohnt und mit einem Ritter (Herrn von Ketten) verheiratet ist, gegenübergestellt. Während Grigia in einer totalen Verschmelzung mit der Natur lebt, lebt die Portugiesin in einer geheimnisvollen Verschmelzung mit einer Symbolwelt. Teilt Grigia ihr Leben mit ihrer Kuh, ist die Portugiesin hingegen an ihren Mann gekettet. Wie schon erwähnt, weisen die drei Erzählungen Musils auch einige Ähnlichkeiten auf. Die drei Titelheldinnen spielen nicht die Hauptrolle; jede der Geschichten wird als Erlebnis eines Mannes dargestellt, für den die Begegnung mit der jeweiligen Frau eine Prüfung darstellt; alle drei Frauen verkörpern das Animalische oder Ursprüngliche; die Geschichten sind keine Liebesgeschichten, sondern „Eifersuchtsgeschichten". Zu all dem kommt das wichtige Motiv der „Einsamkeit der Liebe" hinzu. Schon 1907 schrieb Musil: „Lieben, weil einen der andere betrügt; die besten, die verliebtesten Leute selbst, wünschen den Anderen tot. Er liebt eine Frau und kann nicht widerstehn, eine andere zu probieren. Die Forderung der Treue ist, die erste hors de concours zu rücken."' 87

Sowohl bei Schnitzlers Else als auch bei Musils Drei Frauen ist die Liebe kein Gegenstand dieser Erzählungen, aber auch nicht die Unmöglichkeit der Liebe, sondern die innerhalb der Liebe bestehende Fremdheit, die bleibende Entfremdung zwischen den Liebenden. Ein weiteres Thema, das alle drei Erzählungen durchdringt, ist die märchenhafte Atmosphäre, in der die Handlung abläuft. Der paradiesischen Landschaft von Grigia, wo es ,,ein[en] Märchenwald von alten Lärchenstämmen"'88 gibt, entspricht die märchenhafte Dimension der Landschaft der zweiten Erzählung - Die Portugiesin —, in die „kein Schall der Welt von außen"'89 dringt und in deren Wäldern nicht nur wilde Tiere, sondern auch das Einhorn leben.

387 Musil, Robert: Tagebuch I. Hrsg. von Adolf Frise. Hamburg: Rowohlt 1976, S. 307 388 Musil, Robert: Grigia. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 221 389 Musil, Robert: Die Portugiesin. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1988, S. 234

13°

Beispiele aus der österreichischen Literatur

Schließlich beginnt auch die Erzählung Tonka mit dieser wunderbaren, bukolischen und fast magischen Märchen-Atmosphäre: „Ein Vogel sang. Die Sonne war dann schon irgendwo hinter den Büschen. Der Vogel schwieg. Es war Abend. Die Bauernmädchen kamen singend über die Felder. Welche Einzelheiten! [...] Aber war es so gewesen? Nein, das hatte er [Tonkas Freund] sich erst später zurechtgelegt. Das war schon das Märchen; er konnte es nicht mehr unterscheiden." 390

Diese landschaftlichen Beschreibungen haben auch symbolischen Wert, der besonders in der Symbolisierung der Tiere deutlich wird. Pferde, Kühe, Schweine, Fliegen, Bären, Wölfe und Katzen stellen Aspekte der Seele des Menschen dar. Ein Beispiel dafür ist die kleine Katze aus der Novelle Die Portugiesin, „die etwas von einem kleinen Kind hat und [die] die Gesellschaft der Menschen sucht und es versteht, sich ihnen anzupassen und ihren Erwartungen zu entsprechen"'91, oder die Assoziation Grigias mit der Kuh, die der reinen, ursprünglichen und naturhaften Dimension der Heldin entspricht. Grigia, die den gleichen Namen wie ihre Kuh trägt, Herr von Ketten, der durch den Tod der Katze gerettet wird, und Tonka, die „ähnlich wie ein Hund"392 ist, zeigen, wie nicht nur Schnitzler393, sondern auch Musil etwas Tierisches in der menschlichen Natur sieht, die den Menschen zu seiner ursprünglichen, manchmal auch entwürdigenden Dimension zurückbringt. Die Uberzeugung Musils, dass das menschliche Leben dem tierischen gleich sein kann, gipfelt in dem von Musil leicht veränderten Ausspruch Novalis'594: „Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Katze werden."395 Doch dieser

390 Musil, Robert: Tonka. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1988, S. 251 391 Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg 1993, S. 68 392 Musil, Robert: Tonka. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1988, S. 277 393 Vgl- Schnitzlers Beschreibung des Herrn von Dorsday: „Wie tief er sich verbeugt und was für Augen er macht. Kalbsaugen" (S. 46), oder noch: „Ich irre in der Halle umher wie eine Fledermaus" (S. 135). 394 Paulson, Ronald: A Re-examination and Re-interpretation of some of the symbols in Robert Musil's „Die Portugiesin". In: Modern Austrian Literature, Volume 13, Nr. 2 1980, S. in. Paulson zitiert Novalis' Ausspruch: „Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Stein, Pflanze, Tier und Element werden, und vielleicht gibt es eine fortwährende Erlösung in der Natur." 395 Musil, Robert: Tonka. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 277

Die „Drei Frauen"

Satz ist nicht blasphemisch gemeint: Er zeigt auch den Wunsch des Menschen nach einer Rückkehr zu einer natürlichen Dimension, die dem Menschen unbegreiflich bleibt. Da die Vereinigung mit der Natur unmöglich ist, bleiben der Tod und die Abwesenheit Gottes der einzige Ausweg, den der Mensch (im ontologischen Sinn) hat. Die Ursprünglichkeit als eine Möglichkeit, Selbstbewusstsein zu erlangen, erweist sich für die Hauptgestalt der ersten Erzählung, Homo, als utopisch und trügerisch: Er wird von der Natur verschlungen. Homo, der die Einfachheit und Schönheit der Natur durch die Beziehung mit Grigia entdeckt hat, wird von der Einfachheit ebendieser Natur überwältigt und getötet. Der Kampf Mensch gegen Natur wird von dieser gewonnen, und jener, der Mensch, bleibt allein mit seiner Entfremdung, Hingebung und dem Tod als einziger Lösung. Nach dieser generellen und theoretischen Einleitung werden die drei Erzählungen in Bezug auf Schnitzlers Fräulein Else analysiert, mit dem Blick auf die Darstellung der Geschlechterbeziehung.

Beispiele aus der österreichischen Literatur

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Grigia Das Geschehen der Novelle kann in wenigen Sätzen zusammengefasst werden: Homo, Angehöriger des städtischen Bürgertums und von Beruf vermutlich Geologe, kann sich nicht entschließen, seinen kranken Sohn auf einen Kuraufenthalt zu begleiten. Durch das Kind hat die Liebe zu seiner Frau eine Veränderung erlebt. Nach deren Abreise erhält er eine Einladung, sich an einem Unternehmen zur Aufschließung alter Goldbergwerke im Gebirge zu beteiligen. Dem leistet er ohne langes Bedenken Folge. Die Wirklichkeit des abgeschlossenen Hochgebirgstals nimmt er auf eine völlig neue Weise als eine „Zauberwelt" mit märchenhaftmythischen Zügen wahr. Obwohl er Frau und Sohn noch liebt, will er nicht mehr zu ihnen zurückkehren. In der Landschaft und in den Menschen des Tales, vor allem in der Bäuerin Grigia, mit der ihn bald ein Liebesverhältnis verbindet, begegnet ihm elementare Natur. Im Sommer erlebt er einen Zustand mystischer Entrückung, den „anderen Zustand" wie ihn Musil nennt, der ihm die „Wiedervereinigung" mit seiner Frau in der Transzendenz verheißt. Homo und Grigia wandern ins Gebirge hinauf und vereinigen sich in einem alten Stollen ein letztes Mal. Dieser wird von Grigias Mann, der plötzlich auftaucht, mit einem Felsblock verschlossen. Nach einiger Zeit vermag Grigia durch einen Spalt zu entkommen, während Homo dem Tod entgegendämmert. Sowohl bei Schnitzlers Else als auch bei Musils Drei Frauen spielen die Titel eine wichtige Rolle in der Ökonomie des Textes, weisen sie doch von Anfang an auf den Namen der Hauptgestalt hin. Grigia ist eine Figur, die durch ihr dem Erdhaft-Vegetativen verhaftetes Sein Authentizität besitzt, worauf die Vergleiche hinweisen, die ihr Wesen und Verhalten veranschaulichen: Sie „sah so natürlich lieblich aus wie ein schlankes giftiges Pilzchen"; „sie polterte wie ein Steinchen [...] die Wiese hinab", wuchs aus den Schuhen „wie aus wilden Wurzeln", ihre Hand war „so samten rauh wie feinstes Sandpapier oder rieselnde Gartenerde".3'6 Auch ihr Gesicht wird in seiner Mischung von Feinheit, Lustigkeit und Rohheit mit einem Mund, „geschwungen wie Kupidos Bogen"397, beschrieben. In Grigia spürt man das Elementar-Dämonische, das „Grauen vor der Natur", die „nichts weniger als natürlich ist; sie ist erdig, kantig, giftig und unmenschlich in allem, wo ihr der Mensch nicht seinen Zwang auferlegt".3'8 396 Musil, Robert: Grigia. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 226-227 397 Ebda., S. 227 398 Ebda., S. 226

Grigia

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Die zweite Gestalt der Novelle ist ein Mann, der Vernunft, Klugheit und Bildung, kurz die Zivilisation, mit Schnitzlers Herrn von Dorsday teilt und der nicht zufällig „Homo" heißt, ein Name, der kein Spitzname ist, sondern ihn als Prototyp der Menschheit erscheinen lässt. Die Lebenssituation Homos lässt in der Unsicherheit und Widersprüchlichkeit seines Verhaltens Zeichen einer Krise seiner Identität erkennen, die er durch den Kontakt mit einer uralten, fast primitiven Welt überwinden will. In den Augen Homos gewinnt die Landschaft in expressiv gesteigerten Bildern märchenhaftmythische Züge. Die Straßen des Städtchens werden zu „Schluchten von dunklem Blau" und die darüber gespannten Bogenlampen zu „weiß zischende[n] Sonnen", die sich „oben im Weltraum [...] drehten".399 Es verstärkt sich der Eindruck, „daß sich unter dem Aussehen dieser Gegend, das so fremd vertraut flackerte wie die Sterne in mancher Nacht, etwas sehnsüchtig Erwartetes verberge"400. Jennings weist daraufhin, dass „his entry into the valley is indeed an entry into a ,Märchenwelt, but the magical attributes do not exist indipendently in the world of the valley: they emanate from Homo's new Interpretation. Only in this sense can we understand Homo's remark that the valley is something .sehnsüchtig Erwartetes' which was at the same time ,fremd vertraut'". 401

Homo ist in seinem Verhalten nicht nur ein Mann, der seine Familie für eine kurze Zeit verlässt, um wieder den Kontakt zur ursprünglichen Natur zu spüren, sondern der moderne Mensch, der vor der Natur, d. h. Grigia, selbst steht. Die Figur des Homo kann auch mit dem Autor selbst assoziiert werden, denn auch Musil war wie Homo längere Zeit von seiner Frau getrennt. „Er hatte sie sehr geliebt und liebte sie noch sehr, aber diese Liebe war durch das Kind trennbar geworden, wie ein Stein, in den Wasser gesickert ist, das ihn immer weiter auseinander treibt."401

399 Ebda., S. 116 40oEbda„ S. 216 401 Jennings, Michael: Mystical Selfhood, Self-Delusion, Self-Dissolution: Ethical and Narrative Experimentation in Robert Musil's Grigia. In: Modern Austrian Literature, Band 17, Nr. i, 1984, S. 68 402 Musil, Robert: Grigia. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 215

Beispiele aus der österreichischen Literatur

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Dieses Verhältnis Homos zu seiner Frau und seinem Kind findet eine Entsprechung in Musils Briefen an Martha Musil. In diesem Zusammenhang bemerkte Corino: „Ganz offenbar hatte Robert Musil auch seiner Frau gegenüber Fluchttendenzen oder vielmehr: er empfand die ersten Monate im Feld als Ende einer Beengung, als Befreiung aus dem bürgerlichen Leben und seinen intimen Zwängen." 40 '

Sowohl für Homo als auch für Musil wird die Flucht aus der Alltäglichkeit auch als Flucht aus der Familie erlebt. In der Novelle wird diese Flucht durch eine Expedition ermöglicht, die einen Ausweg aus der Monotonie, aus der ,,ungeheure[n] Flaute über Europa" 404 darstellt. Eine ähnliche Flaute liegt auch über Homos Leben. Sein Familienleben befriedigt ihn nicht mehr, er langweilt sich und weiß mit dem bevorstehenden Sommer nichts anzufangen. Auch Schnitzler verspürt die Monotonie des Lebens im Rahmen einer distanzierten, kühlen und entfremdeten Familienbeziehung so stark, dass er sie auch in seinen Werken beschrieben hat. In seiner Autobiographie schreibt er: „[...] war mein Vater nach Anlage, Beruf und Streben doch so sehr von sich selbst erfüllt, ja auf sich angewiesen, und die Mutter in all ihrer hausfraulichen Tüchtigkeit und Übergeschäftigkeit hatte sich seiner Art und seinen Interessen so völlig und bis zur Selbstentäußerung angepaßt, daß sie beide an der inneren Entwicklung ihrer Kinder viel weniger Anteil zu nehmen vermochten." 40 '

Dies ist nicht nur die Lebenssituation des jungen Schnitzlers, sondern auch jene Homos und der bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen, die A n f a n g des 20. Jahrhunderts infolge des Krieges den Zerfall der Familie als Institution und des traditionellen Geschlechterrollenspiels erlebte. „Dieser Mensch von 1914 langweilte sich buchstäblich zum Sterben!" 406

403 Zit. nach Kurt Krottendorfer: Bürgerliche Krisenerfahrungen. Das reale Geschehen in Robert Musils „Drei Frauen". Wien: Dissertation 1991, S. 141 404MUSÌI, Robert: Das Ende des Krieges. 1918. In: Ges. Werke. Hrsg. von Adolf Frisé. Hamburg: Reinbek 1978, Bd. 8, S. 1343^ 405 Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1999, S. 44 406 Musil, Robert: Das Ende des Krieges. 1918. In: Ges. Werke. Hrsg. von Adolf Frisé. Hamburg: Reinbek 1983, Bd. 8, S. 1343

Grigia

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Die Expedition Homos ist ein Abenteuer und gleichzeitig die Lösung für alle Schwierigkeiten, der Anfang einer neuen Existenz. „So kann es nicht verwundern, daß die veränderte Lebenssituation auch eine Veränderung des Bewußtseins und des Wahrnehmungsvermögens bewirkt" 407 , denn ,he is now „Sultan seiner Existenz' (S. 222), free to continue a life based upon solipsism." 4 ° 8

Man kann dasselbe über den Ersten Weltkrieg sagen, der von den Leuten als „Flucht vor dem Frieden", wie es Musil 1922 in seinem Essay Das hilflose Europa bezeichnet hatte, gesehen wurde. In der Euphorie bei Kriegsbeginn wurde der Krieg als ein „Abenteuerevent" erlebt und schien eine Erlösung aus der Langeweile der Zeit zu sein.409 „Von diesem Tag an war er von einer Bindung befreit, wie von einem steifen Knie oder einem schweren Rucksack." 410

Die Expedition bzw. der Krieg gibt Homo die Möglichkeit, seine Gefühlslage, die der eines Soldaten ähnlich ist, auszudrücken. Er ist von seinem „normalen" gesellschaftlichen Dasein befreit, von seiner Familie getrennt, vom Tode bedroht, ist aber dennoch „Sultan seiner Existenz"4". Homo ist kein Individuum, sondern er ist ein Typus, ein Vertreter der „männlichen", westlichen, europäischen und despotischen Macht. Er ist der Repräsentant der bürgerlichen Gesellschaft um die Jahrhundertwende, sein Verhalten spiegelt deren Ziellosigkeit, deren Tendenz zur Auflösung, zur Befreiung von sich selbst, die eine der wichtigsten Ursachen für die Kriegsbegeisterung war, wider. Homo und die Expeditionsteilnehmer stellen eine bürgerliche Gesellschaft en miniature dar. In der Kasino-Szene betont Musil, wie sehr Homos Krise keine individuelle Krise ist, sondern eine Krise der Gesellschaft.

40/Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg 1993, S. 22 408 Jennings, Michael: Mystical Selfhood, Self-Delusion, Self-Dissolution: Ethical and Narrative Experimentation in Robert Musil's Grigia. In: Modern Austrian Literature, Band 17, Nr. 1,1984, S. 72 409 Ebda., S. 144 410 Musil, Robert: Grigia. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 222 411 Ebda., S. 222

Beispiele aus der österreichischen Literatur

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„Sie sprachen nichts mehr miteinander, sondern sie sprachen [...] sie sprachen in Zeichen [...] eine Tiersprache." 412

Das Zitat zeigt - wie das Gespräch zwischen Else und Dorsday - noch einmal die Unfähigkeit der modernen Menschen, eine Kommunikationsebene zu finden, und beschreibt gleichzeitig, wie diese Unfähigkeit Symptom einer Zeit der Ungewissheit, der Orientierungslosigkeit und des Stillstandes ist. Durch die Beherrschung von Grigias Gefühlen (Natur) stärkt Homo seine Männlichkeit; ihm kommt vor, als ob seine Seele wieder geboren würde, denn durch Grigia und ihren Instinkt werden verschüttete Empfindungen in ihm wachgerufen. „ E r sank zwischen den Bäumen mit den giftgrünen Barten aufs Knie, breitete die A r m e aus, was er so noch nie in seinem Leben getan hatte, und ihm war zu Mut, als hätte man ihm in diesem Augenblick sich selbst aus den Armen genommen. E r fühlte die A r m e seiner Geliebten in seiner, ihre Stimme im Ohr, alle Stellen seines Körpers waren wie eben erst berührt, er empfand sich selbst wie eine von einem anderem Körper gebildete Form. [...] Sein Herz war demütig vor der Geliebten und arm wie ein Bettler geworden, beinahe strömten ihm Gelübde und Tränen aus der Seele." 4 ' 3

Homo fühlt sich durch die Verschmelzung mit der Natur und der Geliebten als ein neuer Mensch, als Wiedergeborener. Diese neue Lage Homos bedeutet auch eine seelische Verarmung und einen Zustand der totalen Unterordnung. Aber diese Gefühle sind nur von kurzer Dauer und erweisen sich am Ende der Erzählung als utopisch und illusorisch. Diese vorläufige euphorische Stimmung einer Wiedervereinigung mit der Natur mündet in den Tod. Im Rahmen der Novelle gibt es zwei Episoden, die als Hinweis auf den Tod Homos gelesen werden können. Ich beziehe mich auf die Szene, in der die Expeditionsteilnehmer über eine kleine Brücke in das Gebirgstal gelangen und den Gesang von „sicher zwei Dutzend Nachtigallen" (S. 216) hören. Das Bild der Nachtigall gilt als Symbol für den Tod in der literarischen Tradition, da sie nur einmal in ihrem Leben ihre schöne Stimme hören lassen kann. 4 ' 4

412 Ebda., S. 224 413 Ebda., S. 221 414 Im Wörterbuch der Symbolik liest man, dass der Name „Nachsängerin" bedeutet, und dass dieser Vogel in Persien Sinnbild der Liebe war. Daneben gilt er als Bringer eines sanften, schmerzfreien Todes ( Wörterbuch der Symbolik. Hrsg. von Manfred Lurker. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1991, S. 513). Auch Udo Becker hat in Lexikon der Symbole festgestellt, dass die Nachtigall wegen ihres süßen und zugleich klagenden Gesanges

Grigia

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Die zweite Episode ist die Szene mit der Fliege und deren T o d auf einem giftigen Fliegenpapier. „Von einem der vielen langen Fliegenpapiere, die von der Decke herabhingen, war vor ihm eine Fliege heruntergefallen und lag vergiftet am Rücken. [...] Die Fliege machte ein paar immer schwächer werdende Anstrengungen, um sich aufzurichten, und eine zweite Fliege, die am Tischtuch äste, lief von Zeit zu Zeit hin, um sich zu überzeugen, wie es stünde."415 N u r im T o d lässt sich Ekstase unbegrenzt aufrechterhalten, kann eine dauernde Vereinigung mit der Natur gelingen. Diese Wiedergeburt Homos, die eine sexuelle Befreiung von Zivilisation und Konvention bedeutet, ist aber nur ein Schritt zu Entfremdung und Tod. Grigia wird als ein „giftiges Pilzchen" bezeichnet; sie verbirgt eine doppelte Natur, denn sie ist gleichzeitig ursprünglich-kindlich (was grammatikalisch durch das Diminutiv ausgedrückt wird), aber auch giftig und daher gefährlich. 4 ' 6 Dieses Bild vom „giftigen Pilzchen" findet eine deutliche Entsprechung auch bei Schnitzler, als Dorsday die weibliche Natur Elses so darstellt: „ D u bist geheimnisvoll, dämonisch, verführerisch." 4 ' 7 In Grigias doppeldeutiger N a t u r spiegelt sich die doppeldeutige Weiblichkeit Elses, eines jungen Mädchens, das plötzlich die Welt der Sorglosigkeit und der kindlichen Träume durch die Inszenierung einer A r t Expedition verlässt. „Also ich werde mich in die Halle setzen, schau mir die Illustrated News an und die Vie parisienne, schlage die Beine übereinander. [...] Keine Zeit mehr verlieren, nicht wieder feig werden. Herunter das Kleid [...] fort mit den Strümpfen [...] Ich bin ja bereit. Die Vorstellung kann beginnen." 4 ' 8

Symbol der Liebe, der Sehnsucht und des Schmerzes ist. Der Volksglaube, hat er angemerkt, sieht in ihr häufig eine verdammte Seele, aber auch die Künderin eines sanften Todes (Becker, Udo: Lexikon der Symbole. Wien: Herder 199z, S. 202). 415 Musil, Robert: Musil, Robert: Grigia. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 225. Interessant ist auch ein Vergleich mit dem späteren Prosatext Musils Das Fliegenpapier (1936), in dem der Autor dasselbe Thema bearbeitet hat. In diesem Prosastück ist die Aufmerksamkeit des Lesers stärker als in Grigia auf die detaillierte Dynamik des Fliegentodes gerichtet. 416 Man kann diese Gefährlichkeit mit der konkreten Gefährlichkeit der bedrohlichsten Krankheiten dieser Jahre (Tuberkulose und Syphilis) vergleichen. 417 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1998, S. 72 418 Ebda, S. 126

Beispiele aus der österreichischen Literatur

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Wenn Homos Expedition den Kontakt mit der Natur und die seelische Befreiung bedeutet, hat Elses Expedition etwas Materielles und Konsumorientiertes zum Ziel: die Geldsumme für die Befreiung ihres Vaters aufzutreiben. Auch in diesem Fall geht es um die Rettung eines Menschen; nicht eine direkte, sondern eine indirekte. Else und Homo haben ihre Abenteuer ausgekostet und das, wofür sie gekämpft haben, verdient. Bei dieser „Expedition" gibt es die Tendenz, die Distanz zwischen den Geschlechtern zu reduzieren, denn das Ziel von Elses „Expedition" ist in Bezug auf Musils Epoche männlich — es geht um Geld, um etwas, das der Welt des Mannes angehört —, das Ziel von Homos Expedition hingegen ist weiblich: Er ist auf der Suche nach der Natur, d. h. einer — aus der männlichen Sicht Musils - weiblichen Eigenschaft. Wenn Else das Motiv der Expedition mit Homo teilt, teilt sie Grigias Leidenschaft, Kraft der Natur und des Instinkts. Beide sind in den männlichen Augen Objekte der Lust, wie zugleich die männlichen Gestalten die Vernunft verkörpern. Wenn Grigia „deals with the reconciliation of the tension between the two areas, the reconciliation of the interiority and identity of the individual with reality which seems to dictate universal and immutable ethical laws: love your wife, nurture your child"4'9, handelt Else von einer materiellen und fast kapitalistischkonsumorientierten Vereinigung der Geschlechter, die nicht mit der metaphysischen Dimension des Ich zu tun hat, sondern mit einer gespaltenen Familie, die auf der Suche nach einer Wiedervereinigung ist. In beiden Fällen aber ist die Rolle der Frau von großer Bedeutung: Sie ist die Ergänzung des Mannes, schenkt Homo seine Identität durch eine wieder gefundene seelische Harmonie. „Während die Liebe in seinem früheren Leben, das der Routine einer normierten Alltagswelt unterworfen war, ihre Ursprünglichkeit eingebüßt hatte, hat die Beziehung zu Grigia ihn die irdische Liebe in neuer Intensität erleben lassen." 420

Homos Entdeckung der Existenz einer irdischen Liebe hat die richtigen Bedingungen geschaffen, eine Vereinigung zwischen ihm und seiner Frau ermöglicht.

419 Jennings, Michael: Mystical Selfhood, Self-Delusion, Self-Dissolution: Ethical and Narrative Experimentation in Robert Musil's Grigia. In: Modern Austrian Literature, Band 17, Nr. i, 1984, S. 62 42oGroßmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg 1993, S. 37

Grigia

„Grigia ist nicht nur die Verkörperung eines fremden Liebescodes, sondern sie ist auch die Dritte, durch die eine gesteigerte Liebe zwischen zwei anderen bewerkstelligt werden soll."421

Nicht zufallig hat Musil im Tagebuch notiert: „Eine Untreue kann in einer tieferen Innenzone eine Vereinigung sein." 4 "

421 Ebda., S. 37 422 Musil, Robert: Tagebuch I. Hrsg. von Adolf Frise. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 232

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

Die

Portugiesin

Auch die zweite Erzählung, Die Portugiesin, stellt die Imagination der Frau als Wesen der Natur dar, obwohl Die Portugiesin ein Fremdkörper in Musils Werk zu sein scheint. Bereits die Germanisten Kaiser und Wilkins betonen, dass „diese Novelle auf eine Weise ein Eigendasein [führt], wie wir ihm sonst in Musils Werk nirgends begegnen. Doch steht gerade die geschlossenste, poetologisch sicherlich am meisten befriedigende Erzählung, nämlich „Die Portugiesin", einigermaßen fremd im Werk Musils." 41 '

Die Novelle beginnt mit der Rückkehr des Herrn von Ketten (oder delle Catene) in Begleitung einer Portugiesin in seine Heimat und mit dem Ausbruch eines elfjährigen Krieges gegen den Bischof von Trient. Beide Ehegatten bleiben sich trotz gemeinsamer Kinder innerlich fremd, doch ist in ihnen eine wechselseitige Verstehensmöglichkeit angelegt. Eine durch den Stich einer giftigen Fliege verursachte schwere Krankheit bringt von Ketten an den Rand des Todes und leitet eine Wandlung seines Wesens ein. Inzwischen ist ein Jugendfreund der Portugiesin eingetroffen; bei dem noch sehr geschwächten von Ketten erwachen Eifersuchtsgefühle. Eines Tages taucht ein kleines Kätzchen vor der Burg auf, das von der Portugiesin aufgenommen wird. In seiner bald ausbrechenden Krankheit (Räude), seinem stellvertretenden Leiden und Tod wird das Tier zum symbolischen Zeichen für das Schicksal der auf der Burg lebenden Menschen. Die Portugiesin überwindet ihr Abgeschlossensein im Magischen und Ästhetischen und Herr von Ketten gewinnt neue Lebenskraft und Gesundheit durch das Bezwingen einer unbesteigbaren Felswand. Diese Novelle ist die einzige der Drei Frauen, deren Handlung nicht in der Gegenwart oder in der unmittelbaren Vergangenheit angesiedelt ist. „Bei dieser Novelle handelt es sich um den einzigen dichterischen Text Musils, der stofflich in geschichtlich zurückliegender Zeit — Spätmittelalter oder Frührenaissance - angesiedelt ist; [...] sie weist überdies chronikhafte und legendennahe Züge auf, die an mittelalterliche Wundererzählungen denken lassen."414

423 Zit. nach Kurt Krottendorfer: Bürgerliche Krisenerfahrungen. Das reale Geschehen in Robert Musils „Drei Frauen". Wien: Dissertation 1991, S. 205 424 Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg 1993, S. 52

Die Portugiesin

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Wie bei Schnitzler stimmt auch bei Musil die erzählte Zeit mit der Zeit der Veröffentlichung des Werkes nicht überein. Das ist von einem strukturellen Gesichtspunkt aus unwichtig, wird aber bedeutungsvoll, wenn man an die zeitlose Gültigkeit des Themas der vom Mann beherrschten, ausgebeuteten Weiblichkeit denkt. Im Tagebuch wird Die Portugiesin nie erwähnt. Nur in der Aufstellung der Titel für das geplante Tierbuch (Tagebuch I, S. 340) scheint Die kleine Geisterkatze in Bozen auf. Vielleicht hatte Musil ein persönliches Erlebnis mit einer Katze, als er 1916 in Bozen war. Hier beschreibt er das hohe Fieber, die Schwäche, das Gefühl des Sichauflösens und der Gottesnähe, aber ebenso das Wiedersehen mit seiner Frau bei seiner Rückkehr nach Bozen, nachdem sie seit Marthas Abreise aus Palai (1915) getrennt gewesen waren (Tagebuch II, S. 1055/1057). In diesem Zeitraum begegnete Musil der kleinen Katze, die schließlich an der Räude erkrankt und getötet werden muss. Der Entwurf für Die kleine Geisterkatze in Bozen ist noch in der Gegenwart angesiedelt und Musil transponierte die Handlung erst ins ausgehende Mittelalter, als er Die Portugiesin verfasste. Auch in dieser Novelle erscheint wie in Grigia das deutsch-italienische Grenzgebiet in den Südtiroler Bergen als Grenzraum zweier Sprachen und Kulturen, aber auch von Gebirge/Wald und Meer, von Norden und Süden. Schon an dieser kulturell-klimatischen Scheidelinie, aber ebenso an Herkunft, Wesen, Verhalten und Handeln der beiden Hauptgestalten wird die Antinomie zwischen Norden und Süden deutlich, die auch die Antinomie männlich — weiblich bildet. Von Ketten und sein Geschlecht stammen aus dem Norden; die Portugiesin hingegen ist eine Südländerin, die über die Hässlichkeit des Landes erschrickt, dem sie voller Erwartung entgegengeritten ist, über die in die Tiefe gestaffelten „Steinmauern", die kopfgroßen Steine unter den Füßen und „Steine so groß wie ein Haus". Für sie ist all das „eine Welt, die eigentlich keine Welt war"425, denn dieser Welt fehlen Maß und Harmonie. Auf diese Antinomie in der Landschaftsdarstellung, die auch durch die Verwendung zweier unterschiedlicher Farbtöne betont wird, nämlich das Grün als Symbolfarbe für von Ketten und seine Wälder rund um die Burg und das Blau, das an das „pfaublaue Meer" des Landes der Portugiesin erinnert, gründen sich auch die entgegengesetzten Persönlichkeiten der zwei Hauptpersonen. Zweckrational ausgerichtetes Tatmenschentum und ein von Nützlichkeitskategorien geleitetes Denken bestimmen nicht nur von Kettens militärische Aktivitäten, sondern auch seine Maßnahmen im persönlichen Lebensbereich. Sein Ver425 Musil, Robert: Die Portugiesin. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 236

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

halten dem Leben gegenüber bewegt sich in Richtung seiner Vorfahren, die ihre Frauen von weither holten und die schön und reich sein sollten, und nur um diese zu gewinnen, erscheinen sie in der Zeit der Werbung als „glänzende Kavaliere". „Als scharf und aufmerksam galten alle Herren von Ketten, und kein Vorteil entging ihnen in weitem Umkreis. Und bös wie Messer waren sie, die gleich tief schneiden. [...] Sie nahmen, was sie an sich bringen konnten, und gingen dabei redlich oder gewaltsam oder listig zu Werk, je wie es kam, aber stets ruhig und unabwendbar. [...] Es war Sitte im Geschlecht der Ketten, daß sie sich mit dem in ihrer Nähe ansässigen Adel nicht versippten; sie holten ihre Frauen von weit her und holten reiche Frauen, um durch nichts in der Wahl ihrer Bündnisse und Feindschaften beschränkt zu sein."426 Die Triebfeder für Herrn von Kettens Verhalten wird nicht nur im Privatleben, sondern auch in der Öffentlichkeit deutlich, als er gegen den Bischof von Trient kämpft. „[...] seit des Urgroßvaters Zeit lagen die Ketten mit ihnen [den Bischöfen von Trient] in Streit wegen Stücken Lands, und bald war es ein Rechtsstreit gewesen, bald waren aus Forderung und Widerstand blutige Schlägereien erwachsen, aber jedesmal waren es die Herren von Ketten gewesen, die der Überlegenheit des Gegners nachgeben mußten."427 Dem wechselvollen und entbehrungsreichen Kampf, der sich nach einem misslungenen Handstreich elf Jahre hinzieht, widmet er sich als Feldhauptmann des Adels unter Einsatz aller geistigen und körperlichen Energien. Er passt sich der mitunter gewaltsamen, listigen und Entscheidungen ausweichenden Kampfesweise seines Gegners an, den er „wie ein Wolf [...] umkreiste". 428 Mehrmals im Text erscheint von Ketten in einer tierischen Verkörperung: entweder in der eines Wolfes — „Einmal brachte man ihr einen jungen Wolf aus dem Wald. [...] Sie liebte diesen Wolf, weil seine Sehnen, sein braunes Haar, die schweigende Wildheit und die Kraft der Augen sie an den Herrn von Ketten erinnerten"429 oder auch in der der kleinen Katze, die an einer akuten Erkrankung stirbt. 426 Ebda., S. 234 427 Ebda., S. 235 428 Ebda., S. 239 429 Ebda., S. 241

Die Portugiesin

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Diese Krankheit der Katze ist auch mit der Krankheit von Kettens zu assoziieren: ,,B e ' fallendem Fieber versinkt er [von Ketten] in schwebende Halbbewußtheit. Er durchläuft eine Phase eng miteinander verbundener Wahrnehmungen, die jenseits der Ebene des Rationalen liegen und den Prozeß andeuten, der sich in ihm vollzieht."« 0

Gefühle der Ich-Entfremdung, der Lösung von früheren Erlebnis- und Bewusstseinsstufen, eine Ahnung des Abgeschiedenseins sind auch im Text lesbar: „Er hatte nie gewußt, daß Sterben so friedlich sei; er war mit einem Teil seines Wesens vorangestorben und hatte sich aufgelöst wie ein Z u g Wanderer." 431

Großmann hat in seiner Studie über die drei Novellen Musils auch darauf hingewiesen, dass es sich bei der Katzenszene „um eine allegorische Nachbildung, eine Kontrafaktur des christlichen Erlösungsvorgangs" 432 handelt, und zwar in dem Sinne, dass Musil sich christlicher Vorstellungen und Begriffe in einer Weise bedient, die bei der Schilderung von Leiden und Tod der Katze Einzelaspekte der Passion Christi deutlich werden lassen. Die symbolische Bedeutung der Katze in der Narrationsentwicklung der Novelle lässt sich als eine Handlungsanweisung für beide Ehegatten verstehen, denn für beide geht es um Erlösung aus der Kommunikationslosigkeit ihres Daseins. Die Tötung der Katze stellt einen symbolischen Appell an von Ketten dar, Schwäche und Passivität zu überwinden, die Erwartungen seiner Frau an ihn nicht zu enttäuschen und eine neue Existenzform zu gewinnen. Während die Figur Kettens symbolischerweise mit der eines Wolfes oder einer Katze assoziiert wird, die seine männliche Macht und Kraft betont, steht die Figur der Portugiesin für Zärtlichkeit, Harmonie und verzaubernde Schönheit. Diese Eigenschaften der Heldin werden von Musil fast nie physisch, sondern durch Taten der Protagonistin dargestellt. Eine Ausnahme ist die Szene, in der von Ketten sich „an den Abend, dem der zweite [Sohn] sein Leben dankte" erinnert:433

430 Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg 1993, S. 64 431 Musil, Robert: Die Portugiesin. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 243 432 Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg 1993, S. 69 433 Musil, Robert: Die Portugiesin. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 240

Beispiele aus der österreichischen Literatur

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„[...] ein weiches hellgraues Kleid mit dunkelgrauen Blumen, der schwarze Kopf war zur Nacht geflochten, und die schöne Nase sprang scharf in das glatte G e l b eines beleuchteten Buchs mit geheimnisvollen Zeichnungen. Es war wie Zauberei. Ruhig saß, in ihrem reichen Gewand, mit dem Rock, der in unzähligen Faltenbächen herabfloß, die Gestalt, nur aus sich heraussteigend und in sich fallend; wie ein Brunnenstrahl [...]." 4 ' 4 A u c h wird die Geduld geschildert, mit der sie elf Jahre lang auf von Ketten gewartet hat und die Tatsache, dass er für sie „der Geliebte des Ruhms und der Phantasie" 435 ist, sie für ihn jedoch die „mondnächtige Zauberin" 4 ' 6 blieb. Interessant ist hier noch eine Antinomie in der Gegenüberstellung der Protagonisten: Die Portugiesin wird als M o n d und von Ketten als Sonne dargestellt. Die Helligkeit und das Strahlen des Reichtums und der militärischen Tätigkeiten von Kettens werden durch die Dunkelheit und die magische Atmosphäre seiner Gemahlin ausbalanciert. 437 W i l l man auf einer symbolischen Ebene der Interpretation der Novelle bleiben, finde ich auch die Bedeutung der Burg interessant, in der von Ketten lebt. Kettens Burg liegt genau an einem Schnittpunkt: „[...] am Kreuzungspunkt zwischen Norden und Süden, [...] von der Häßlichkeit einer unwirtlichen Wald- und Felswüste und der leichten, eintönigen Schönheit des ,pfaublauen Meers' [.. J." 4)8

Die Burg ist zugleich der Wesenskern des Herrn von Ketten; w ä h r e n d seiner Kämpfe gegen den Bischof von Trient umkreist er diese jahrelang und damit sein innerstes Selbst. „[...] aber seine Heimat lag damals fern, sein wahres Wesen war etwas, auf das man wochenlang zureiten konnte, ohne es zu erreichen."439

434 Ebda., S. 240 435 Ebda., S. 246 436 Ebda., S. 243 437 In diesem Zusammenhang vgl. Ronald Paulsons Studie über den starken Einfluss der ägyptischen Mythologie und des Tarots auf Musils Novelle. In dieser Studie wird die mysteriöse Natur der Portugiesin betont, die an das romantische englische Konzept des „Sublimen" erinnert. Schönheit, Grausamkeit, Rätselhaftigkeit und Einsamkeit sind die Kennzeichen dieser weiblichen Gestalt. 438 Ebda., S. 236 439 Musil, Robert: Die Portugiesin. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 239

Die Portugiesin

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Der geographischen Grenzlage entspricht auch eine temporale: Zeit der Handlung ist das Mittelalter, doch nicht die Zeit der hohen Blüte des Rittertums, sondern das Spätmittelalter. Das eher respektlose Verhalten des Humanisten, der Gast auf von Kettens Burg ist, weist bereits auf den Untergang des Rittertums, auf die Auflösung traditioneller Autoritäten hin. 440 Obwohl auch Die Portugiesin, wie die beiden anderen Novellen, mit wenigen Ausnahmen aus der Perspektive der männlichen Hauptperson erzählt ist, ist die Portugiesin selbst, im Gegensatz zu Grigia und Tonka, nicht nur „Gegenstand des männlichen Interesses, Inhalt seiner Perspektive, Ziel seines Suchens, Geheimnis seines Lebens [...] die .andere' Seite des Lebens." 441

Sie versucht vielmehr, sich Kettens Perspektive anzueignen, seine Kriegerexistenz zu akzeptieren und zu verstehen. „Sie sah ihn an, ohne zu fragen, prüfend, wie m a n d e m Flug eines Pfeils folgt, ob er treffen w i r d [...] Sie blieben beieinander stehn, [...] und fanden kein Wort [...] Eine Kuppel von Stille war u m beide."

441

Interessant ist hier zu bemerken, wie die Portugiesin eine aktive, dem Mann gleichwertige Rolle im Rahmen der Geschlechterblicktheorie spielt. Es ist sie, die den Mann anschaut: „ S i e sah ihn an, der leise eingetreten war, w i e m a n einen M a n t e l wiedererkennt, den m a n lang an sich getragen und lang nicht mehr gesehen hat." 443

Und nicht wie bei Schnitzler, wo Else vom Mann angeschaut oder, besser noch, fixiert wird; also Objekt des Blickes des Mannes ist. „Wie er mich ansieht! [...] E r soll mich nicht so ansehen, es ist unanständig." 4 4 4

440 Vgl. Kurt Krottendorfet: Bürgerliche Krisenerfahrungen. Das reale Geschehen in Robert Musils „Drei Frauen". Wien: Dissertation 1991, S. 209 441 Ebda., S. 211 442MUSÜ,

Robert: Die Portugiesin. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu

Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 240 443 Ebda., S. 240 444Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer 1998, S. 78

Beispiele aus der österreichischen Literatur

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Der Angst, der Unsicherheit und der Passivität von Elses Blick steht der aktive, sichere und mutige Blick der Portugiesin gegenüber. Diese Veränderung im weiblichen Verhältnis gegenüber dem anderen Geschlecht ist bei der Portugiesin durch ihre Anpassungsfähigkeit möglich. „Aber da sie nun hier war, gehört sie her, vielleicht war das, was sie sah, gar nicht häßlich, sondern eine Schönheit wie die Sitten von Männern, an die man sich erst gewöhnen mußte." 44 '

Bei Else hingegen ist das unmöglich, denn sie ist den Blick Dorsdays nicht gewöhnt und will sich auch nicht an ihn gewöhnen. „Ich lasse mich nicht so behandeln. Ich werde mich auch umbringen." 446 Die Beziehung der beiden Eheleute von Ketten zueinander und zu den Kindern zeigt eine K l u f t , die durch ihr getrenntes Leben dargestellt wird. Beide Personen sind in ihrer eigenen Welt gefangen, und die Versuche, in die Welt des anderen einzudringen, bleiben erfolglos, solange Ketten sich von seiner Burg möglichst fern hält und nur aus der Distanz liebt. „Auch jetzt sprach er noch zuweilen unüberlegte Worte, aber nur so lang, als die Pferde im Stall ruhten; er k a m nachts und ritt am Morgen fort oder blieb v o m Morgenläuten bis zum Ave. Er war vertraut wie ein Ding, das man schon lange an sich trägt. [...] Wäre er einmal länger geblieben, hätte er in Wahrheit sein müssen wie er war. [...] E r kannte seine zwei Kinder kaum, die sie ihm geboren hatte." 447 W ä h r e n d Grigia Abbild einer stürmischen, wilden und sinnlichen Natur ist, spiegelt die Portugiesin das Bild einer geordneten, harmonischen, einsamen und ungreifbaren Natur wider. „She is described throughout the story as beautiful, but to claim as some critics have said that her isolation is part of her nature as ,das Schöne'. The Portugiesin is the symbol of the world of magic and mythos, the rationally inexplicable." 448

445 Musil, Robert: Die Portugiesin. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 236 446Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1998, S. 84 447 Musil, Robert: Die Portugiesin. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 239 448 Paulson, Ronald: A re-examination and re-enterpretation of some of the symbols in Robert Musils „Die Portugiesin". In: Modern Austrian Literature, Band 13, Nr. 2,1980, S. 112

Die Portugiesin

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Grigia ist frei, ihre Gefühle zu zeigen; die Portugiesin hingegen kann die ihren nicht zeigen, weil sie ohne von Ketten, der abwesend ist, nicht kommunizierbar sind. Es geht hier um eine ontologische Komplementarität des Ehepaares Ketten, denn die Fremdheit der Portugiesin ist funktional, damit sie die Rolle des Ritters, Herrn von Ketten, ergänzt. Im Fall von Schnitzlers Paar Dorsday/Else hingegen geht es um eine zweckorientierte Beziehung. Wahrend die Portugiesin ihren Mann für ihre Existenz als Mensch braucht, braucht Else Dorsday, um die finanzielle Situation ihres Vaters zu sanieren. Die Namenlosigkeit der Portugiesin kann als Hinweis für ihre Unterordnung und Opferrolle gelesen werden, wenn auch nicht zu vergessen ist, dass im Mittelalter die Herrin einer Burg eine genau umschriebene Rolle und Macht auf Grund ihrer sozialen Abstammung hatte. Das bedeutet, dass eine Herrin in ihrem Bereich (Haus und Familie) machtvoller als ein männlicher Knecht war. Ahnliches findet man auch bei Schnitzler, etwa den Umstand, dass der Name seiner Mutter in der Autobiographie nie erwähnt wird. Hartmut Scheible schreibt darüber: „ D i e Ausfallserscheinung der Mutter in Schnitzlers Autobiographie und ihr Ersatz durch andere Frauengestalten wie z. B. das Kindermädchen Bertha Lehmann markieren exakt den Verlust der Identität der Frau in der patriarchalischen Welt Schnitzlers. Sie ist umso bestürzender, als Schnitzlers Verhältnis zu seiner Mutter, dem Tagebuch nach zu urteilen, im wesentlichen ungetrübt war." 449

Wie in Grigia gehen wichtige Motive und Episoden der Portugiesin auf die Aufzeichnungen von Erlebnissen und Eindrücken Musils während des Ersten Weltkrieges zurück. Direkter als in Grigia bediente sich Musil aber des Ersten Weltkrieges als Vorlage, besonders für die kriegerische Auseinandersetzung mit dem Bischof von Trient. Der überfallsartige Beginn des Krieges, die Taktik der Überrumpelung eines ebenbürtigen, wenn nicht gar überlegenen Gegners, die aber nicht ganz gelingt und in jahrelange Kämpfe, in eine Art Stellungskrieg übergeht, mit einzelnen Gefechten und Schlachten, die jedoch keine wirkliche Entscheidung bringen, entspricht sehr genau dem Beginn des Weltkriegs, mit den nur knapp gescheiterten Versuchen der Mittelmächte im Spätsommer 1914, durch rasche Vorstöße Frankreich im Westen und Serbien im Südosten in möglichst kurzer Zeit zu besiegen.450 449 Scheible, Hartmut: Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bildokumenten. Hamburg: Rowohlt 1976, S. 13 450 Krottendorfer, Kurt: Bürgerliche Krisenerfahrungen. Das reale Geschehen in Robert Musils „Drei Frauen". Wien: Dissertation 1991, S. 226

Beispiele aus der österreichischen Literatur

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„Der Handstreich gegen Trient, leichtfertig vorbereitet, war mißlungen, hatte der Rittermacht gleich am A n f a n g über ein Drittel ihres Gefolges gekostet und mehr als die Hälfte ihres Wagemuts." 451

Die Analyse der Novelle hat ergeben, dass Ketten wie Homo, Tonkas Freund und Schnitzlers Herr von Dorsday Vertreter des modernen Typus der Ratio ist und dass seine Flucht in den Krieg wie auch seine Krankheit Ausdruck einer Krise der modernen westlichen Identität ist, die auch Schnitzler mit diesen Worten so beschreibt: „ D i e Katastrophe, die unter dem Namen ,Der Große Krach' berüchtigt geblieben ist" 4 ' 2 ,

in der die Traditionen kraftlos wurden und die psychischen und sozialen Zwänge im Gefolge des enger werdenden ökonomischen Netzes an Macht zunahmen. Konjunktur und Krise sind zwei Hauptthemen auch in Schnitzlers Werk. Diese Novelle, wie die Versuchung der stillen Veronika und Schnitzlers Else, zeigt, dass die geschlechtliche Einheit zwischen Mann und Frau durch eine dritte Figur verwirklicht wird. So wie Demeter die Vereinigung Veronikas mit Johannes ermöglicht hat, so wie Dorsday die familiäre und finanzielle Vereinigung Elses mit dem Vater realisiert hat, hat auch der Jugendfreund der Portugiesin Eifersuchtsgefühle in von Ketten geweckt, die ihm die nötige Energie (auch nach der schweren Krankheit) gegeben haben, die Liebe seiner Frau zu gewinnen. „ M i t der K r a f t war die Wildheit wiedergekehrt. Er atmete sich aus. Seinen Dolch an der Seite hatte er nicht verloren." 4 "

451 Musil, Robert: Die Portugiesin. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 237 452 Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1998, S. 48 453 Musil, Robert: Die Portugiesin. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 250

Tonka

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Tonka Zuerst will ich die gut strukturierte Zusammenfassung der Novelle Tonka wiedergeben, die Großmann in seinem Beitrag über die Drei Frauen veröffentlicht hat: „Ein junger Mann aus bürgerlicher Familie hat nach seiner Militärzeit ein Liebesverhältnis mit einem jungen Mädchen aus der Unterschicht begonnen, das in seiner naturhaften Einfachheit für ihn, den Verstandesmenschen, fremd und schwierig bleibt. Seine Mutter mißbilligt diese Beziehung. Der junge Mann ist bereit, für Tonka zu sorgen und übersiedelt mit ihr in eine Großstadt, um dort weiter an naturwissenschaftlichen Erfindungen zu arbeiten. Nachdem sie dort schon einige Jahre gemeinsam gelebt haben, fühlt Tonka sich eines Tages schwanger und stellt kurz darauf auch eine schleichende Krankheit bei sich fest. Für beides können keine Ursachen ermittelt werden; der junge Mann konnte weder der Vater des Kindes noch der Urheber der Krankheit sein. Obwohl alles dagegen spricht, besteht ein Verdacht auf Tonkas Untreue. So drängt der Freund auf ein Geständnis, doch Tonka leugnet und erklärt, daß sie nicht wisse, wie es gekommen sei, und daß sie nicht lüge. Er leidet unter den Zweifeln und kann nicht auf Aufklärung verzichten; er ist aber auch nicht in der Lage, Tonka zu glauben und sie vorbehaltlos zu lieben. Sie arbeitet, um den Lebensunterhalt zu verdienen, wird nach Entdeckung der Schwangerschaft entlassen und welkt dahin. Er lehnt die erbetene Hilfe seiner Mutter schließlich ab. [...] Die Verschlimmerung des Zustandes von Tonka bringt sie ins Krankenhaus, wo sie bald stirbt."454

Dieses knappe Resümee der Novelle stellt verschiedene Themen vor, wie z. B. die Beziehung zwischen den Geschlechtern, die problematische gesellschaftliche Lage einer schwangeren Frau und ihre Schwierigkeiten, in einer Großstadt zu leben und zu arbeiten; Themen, die das Motiv der Weiblichkeit und ihrer komplexen Verbundenheit mit der Männlichkeit mehr als in den anderen schon analysierten Novellen Musils betonen. Tonka ist der Entstehungsgeschichte nach die älteste der drei Novellen, die ersten Skizzen finden sich bereits 1903 im Tagebuch I (S. 80). Sie unterscheidet sich vor allem in ihrer Struktur deutlich von den beiden anderen, wie auch im Umfang (sie ist so lang wie die beiden anderen zusammen) und durch die Unterteilung in Kapitel.4SS Während für die anderen Novellen nur wenige Episoden

454 Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg 1993, S. 81-82 455 Großmann schreibt, dass die Novelle „in 15 kleinere, durch römische Ziffern bezeichnete Kapitel" gegliedert ist, die jeweils einen Komplex von Erzählsituationen enthalten. Nach

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

aus dem Tagebuch verwendet wurden, entstanden schon in den Jahren 1903—1908 Skizzen zu einem autobiographischen Roman, in den der Tonka-Stoff eingefügt werden sollte (Grigia und Die Portugiesin wurden erst Anfang der zwanziger Jahre geschrieben). Schon in den Notizen treten reale Erlebnisse (mit Herma Dietz, dem Vorbild Tonkas) und fiktive Episoden nebeneinander und ineinander verwoben auf. Herma Dietz wird im Tagebuch erstmals am 13.11.1902 erwähnt: „Heute mit Herma voraussichtlich das letztemal in unserem alten Z i m m e r gewesen, in dessen Verschwiegenheit ihre ,Unschuld' verloren ging. Herma war sehr hübsch."456

Es ist augenfällig, dass die Beziehung schon längere Zeit bestanden haben muss, wenn auch Adolf Frise den Beginn der Beziehung im Jahre 1901 vermutet (Tagebuch II, S. 11). Darauf weist auch der Satz: „Es war in seinem Militärjahr" (Tonka, S. 276) hin, denn Robert Musil leistete seinen Dienst als Einjährig-Freiwilliger 1901-1902 in Brünn ab. Obwohl Musil die erste Begegnung in einer romantischen Atmosphäre ansiedelt, zeigt er auch gleich Zweifel an Hermas Unschuld. Im Tagebuch liest man: „Es ist mir, als ob ich mit einem Schlage so gräßlich krank geworden wäre." 457

Die Beziehung dauerte, trotz des Widerstandes, den Musils Mutter aus gesellschaftlichen Gründen leistete, bis etwa 1907: Am 11. 3. 1907 wird dann Martha Marcovaldi erstmals im Tagebuch erwähnt. Der Beschreibung einer Frau ohne Persönlichkeit und ohne Identität, die in den beiden anderen Erzählungen mit der Darstellung einer namenlosen Frau (der Portugiesin) oder einer gleichsam „animalischen" Frau (Grigia) aufscheint, wird in der dritten Erzählung die Beschreibung einer Frau (Tonka) entgegengesetzt, die sich — wie auch Schnitzlers Else — in der männlichen Sprache nicht zurechtfindet und daher ihre eigene spricht.

Großmann umfasst der Ablauf der Geschichte mehrere Sinnkomplexe: Kapitel 1-4: Kennenlernen und Vorgeschichte der Beziehung zwischen Tonka und ihrem Freund und des Verlassens des elterlichen Zuhauses; Kapitel 5: Zusammenleben in der Großstadt; Kapitel 6 - 7 : Schwangerschaft und Erkrankung Tonkas; Kapitel 8-12: Entfremdung und Wiederannäherung; Kapitel 13-15: Krankheit und Tod Tonkas. 456 Musil, Robert: Tagebuch I. Hrsg. von Adolf Frise. Hamburg: Rowohlt 1983, S. 11 457 Ebda., S. 16

Tonka „[...] Sie spricht die gewöhnliche Sprache nicht, sondern irgendeine Sprache des Ganzen." 4 ® 8

In diesem Zusammenhang behauptet Großmann: „Ihre Stummheit bedeutet nicht bloß Schweigen, sondern auch Zuhören können, zwar ohne Verstehen der Denkabläufe und abstrakten Begriffe, jedoch mit einem intuitiven Erfassen des Menschen als Ganzheit." 459

Ihr Medium der Kommunikation sind wenige Worte, die durch Gebärden, Gesang und Gefühle ersetzt werden. Nicht nur die unkonventionelle Sprache Tonkas, sondern auch ihr physischer Aspekt, der mit „einem Pfeil mit einem Widerhaken" verglichen wird, führen zu der Annahme, dass Tonka ein zweideutiges, manchmal unverständliches und unvorhersehbares Wesen verkörpert. 460 „Schon in der Frühzeit ihrer Bekanntschaft empfindet der Erzähler ihr rätselhaftes Anderssein, er erkennt ihre Einsamkeit und Wehrlosigkeit." 46 '

Während der Erzähler, d. h. Tonkas Freund, als analytisch denkender Verstandesmensch und zukünftiger Wissenschaftler, dem eine begrifflich differenzierende Sprache zur Verfugung steht, die Phänomene hinterfragt, ist Tonka „eingebettet in ein naturhaftes Seinsgefühl" 462 und nicht fähig, komplexe Gedankenfolgen zu verstehen, psychische Vorgänge zu artikulieren und sich redegewandt der gewöhnlichen Sprache als Kommunikationsmittel zu bedienen, was aber bei ihr nicht als Mangel anzusehen ist. Die Unfähigkeit Tonkas, sich mitzuteilen und sich etwas vorzustellen, zwingt Musil, sie von dem Gesichtspunkt ihres Partners aus darzustellen. 46 ' Tonkas Freund ist Vertreter einer neuen Generation, deren Väter sich durchgesetzt haben und etabliert sind, einer Generation, die gegen die Anpassung des

458 Musil, Robert: Tonka. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt, S. 257 459 Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg 1993, S. 84 46oMusil, Robert: Tonka. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt, S. 254 461 Großmann, Bernhard: Robert Musil. Drei Frauen. München: Oldenbourg 1993, S. 84 462 Ebda., S. 87 463 Man darf nicht vergessen, dass Tonkas Partner auch der Erzähler der Ereignisse ist, der sich an die Zeit nach Beendigung seines Militärdienstes erinnert.

Beispiele aus der österreichischen Literatur

liberalen Bürgertums an die traditionellen Gesellschaftsstrukturen des großbürgerlich-aristokratischen Spätfeudalismus rebelliert und eine Ablösung der überkommenen Autoritäten erreichen will. 464 Merkwürdig ist in diesem Kontext das Verhalten von Tonkas Freund in seiner Daseinsspannung zwischen „seiner Erfindung im Kopf und der Uberzeugung von Tonkas Untreue". 46 ' Das Dilemma des jungen Wissenschaftlers erwächst aus dem dargestellten Antagonismus zwischen Wissen und Glauben: Entscheidet er sich für die Gesetzmäßigkeit der Natur und die empirische Erfahrung, so würde das den Verzicht auf das Vertrauen in die Unschuld und Wahrhaftigkeit Tonkas bedeuten; schenkt er ihr bedingungslosen Glauben, so wäre das für ihn Verzicht auf rationale Erklärbarkeit natürlicher Vorgänge, Verlust intellektueller Sicherheit und Infragestellen seines Selbst als Naturwissenschaftler. „ E r kam sich wohl manchmal wie geprüft vor, aber wenn er erwachte und zu sich wieder wie zu einem Manne sprach, mußte er sich sagen, daß solche Prüfung doch nur in der Frage bestand, ob er gegen die neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit, daß er betrogen worden und ein D u m m k o p f sei, gewaltsam an Tonka glauben wolle." 466

Zum Unterschied zu Dorsday hat Tonkas Partner keinen Namen; er wird durch seine Position definiert: Er ist ein junger Wissenschaftler, der Tonka — so wie auch Else in den Augen Dorsdays — als Instrument seines sexuellen Begehrens und seiner Selbstfindung betrachtet. „Schenkte sich Tonka? E r hatte ihr keine Liebe versprochen [...] schweigend handelte sie, als würde sie von der Macht des ,Herrn' unterjocht; vielleicht würde sie einem anderen auch so folgen, der fest will?" 467

Interessant und eigentlich anders als in Else ist das Motiv des „Sich Schenkens" der Frau statt dieses des „Sich Verkaufens". Mit der Entscheidung Musils für das „Sich Schenken" hat er die Freiwilligkeit und Selbstständigkeit der Heldin unterstrichen. Die Folge einer solchen stilistischen und strukturellen Entscheidung Musils ist die

464 Krottendorfer, Kurt: Bürgerliche Krisenerfahrungen. Das reale Geschehen in Robert Musils „Drei Frauen". Wien: Dissertation 1991, S. 186 465 Musil, Robert: Tonka. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 278 466 Ebda., S. 279 467Ebda., S. 268

Tonka

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Tatsache, dass die Protagonistin nicht mehr als Opfer des Mannes gesehen wird, sondern als Selbstopfer. Aber sowohl als freiwilliges als auch als verpflichtetes Opfer bleibt die Frau in Schnitzlers und Musils Augen Sexualmonopol des Mannes, denn es gibt nach beiden Autoren keinen Raum für eine gleichberechtigte Partnerschaft im Geschlechtlichen. Neben der Dominanz des Mannes ist es Tonkas Passivität, resultierend aus einem Gefühl der Gleichgültigkeit, mit der sie die Entscheidung trifft, in eine Großstadt zu übersiedeln, und des Angewiesenseins auf ihn, die ihre Hingabe zu fordern scheint und jeden Keim der Weigerung oder gar Empörung erstickt. „Tonka schnürte ihre Sachen und verließ die Heimat so herzlos, so selbstverständlich, wie der W i n d mit der Sonne wegzieht oder der Regen mit dem Wind." 4 6 8

In diesem Sinn wird sie mit einer „Wunscherfüllungsmaschine" verglichen. Er hingegen ist „ein fanatischer Jünger des kühlen, trocken phantastischen, Bogen spannenden neuen Ingenieurgeistes. E r war für die Zerstörung der Gefühle, war gegen G e dichte, Güte und Tugend [.. .]" 4 6 '

Die Mitglieder dieser neuen Generation rebellierten gegen die Familie als einen zentralen Bestandteil der traditionellen Ideologie. Die Familie wird, wie schon erwähnt, in Frage gestellt und erlebt als Institution eine Krise. Auch Tonkas Familie besteht nur aus „uneigentlichen" Verwandten und der einzige wirkliche Verwandte ist bereits gestorben. „Auch das Haus darf man nicht vergessen. Fünf Fenster hatte es auf die Straße hin [...] und ein Hintergebäude, darin Tonka mit ihrer Tante wohnte, die eigentlich ihre viel ältere Base war, [...] und einer Großmutter, die nicht wirklich die Großmutter, sondern deren Schwester war." 470

„Das war Tonka" 471 , ist das Ende ihrer lakonischen Beschreibung als Gestalt, die keine lebendige Frauenfigur ist und die am Ende sogar mit einem kleinen, schon verwelkten Küchenkraut verglichen wird.

468 Ebda., S. 265 4Ö9Musil, Robert: Tonka. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 264 470 Ebda., S. 252 471 Ebda., S. 271

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Beispiele aus der österreichischen Literatur „Tonka war bei diesem Leben ohne Licht und voll Sorgen hingewelkt und sie verblühte natürlich nicht schön wie manche Frauen, die Berauschendes ausströmen, wenn sie verfallen [...] "472

Tonka wird durch die Worte eines bürgerlichen, gebildeten Mannes beschrieben, der die Natur als eine Ansammlung von Hässlichkeiten betrachtet und der in der rationalen Sprache des Bürgertums denkt und sich fragt, ob eine Person, die nicht spricht und nichts gelernt hat, „wertlos oder böse" sein kann.473 „Sie war Natur, die sich zum Geist ordnet; nicht Geist werden will, aber ihn liebt und unergründlich sich ihm anschloß [.. .]"474

In diesem Sinn denkt und handelt der Partner Tonkas, als ob er Geschlecht und Charakter von Otto Weininger gelesen hätte. „Es ist also richtig, daß das Weib keine Logik besitzt. [...] Eine Frau nun sieht nie ein, daß man alles auch begründen müsse; da sie keine Kontinuität hat, empfindet sie auch kein Bedürfnis nach der logischen Stützung alles Gedachten: daher die Leichtgläubigkeit aller Weiber. [...] Ihr mangelt das intellektuelle Gewissen. Man konnte bei ihr von ,logical insanity' sprechen."475

Tonka, die reine Natur, ist keine Frau, sondern ein Weib, das „von der Macht des Herrn unterjocht" wird und das sich selbst ihrem Herrn schenken will.476 In diesem Zusammenhang unterscheidet sich Tonka von Else, denn Tonka gibt sich ihrem Freund freiwillig hin, auch wenn sie niemanden zu retten hat. Tonka, Besitz ihres Liebhabers, „lag im Bett mit geschlossenen Augen [...] in fürchterlich einsamer Angst [...] waren ihre Augen warm von Tränen".477

Diese Szene betont die Distanz zwischen den Geschlechtern; jene Distanz, die beide Gestalten schon am Anfang der Beziehung erfahren haben, findet eine Entsprechung in der Szene der Entdeckung von Tonkas Schwangerschaft und Krankheit. Ton-

472 Ebda., S. 271 473 Ebda., S. 280 474 Ebda., S. 266 475 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. München: Matthes & Seitz 1997, S. 191/192 476 Ebda., S. 268 477 Ebda., S. 268

Tonka

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ka wird von ihrem Geliebten im Stich gelassen, auf Grund ihrer unerklärlichen Schwangerschaft, die sie hässlich werden lässt. „Sie welkte unscheinbar wie ein kleines Küchenkraut, das gilbt und häßlich wird, sobald die Frische seines Grüns verloren ist."478

Tonka wird auch mit einem Geschöpf der Natur, nämlich einem Hund 479 , der jedem Herrn folgt, verglichen. Das ist Tonka, das Weib, die reale Tonka, die in der Imagination ihres Liebhabers aber so dargestellt wird: „Ihre Beine sind vom Boden bis zu den Knien so lang wie von den Knien nach oben, und überhaupt sind sie lang und können gehen wie Zwillinge, ohne zu ermüden. Ihre Haut ist fein, aber sie ist weiß und ohne Makel. Ihre Brüste sind fast ein wenig zu schwer [.. .]"4So

Die Spaltung zwischen einer realen und einer „imaginierten" Weiblichkeit wird auch in den Gedanken von Tonkas Liebhaber deutlich: „Er sagte sich: entweder muß ich Tonka zur Frau nehmen oder sie verlassen [...] aber wenn er erwachte und zu sich wieder wie zu einem Mann sprach, mußte er sich sagen, daß solche Prüfung doch nur in der Frage bestand [.. .]"4gl

Dieses Zitat drückt aus, dass das Leben sich auf zwei Ebenen erfassen lässt: Einerseits gibt es eine mögliche, utopische und traumhafte Welt, andererseits eine konkrete, alltägliche Welt, aus der der Mensch flüchten will. Diese doppelte Struktur der Welt findet auch im weiblichen Charakter eine Korrespondenz, denn die Natur der Frau ist in zwei Teile getrennt: Sie ist die Verkörperung eines männlichen Bildes482, und gleichzeitig wird diese männliche Phantasie von der äußeren Welt zerstört. Die Frau bleibt „[...] ein pflichtvergessenes Mädchen [...] ein fremdes Geschöpf"4'3, das seiner Identität beraubt worden ist.

478 Ebda., S. 479 Ebda., S. 480 Ebda., S. 481 Ebda., S. 482 Ebda., S. 483 Ebda., S.

271 277 277 279 277 272-274

i5 6

Beispiele aus der österreichischen Literatur

Trotz einer ganz anderen Entstehungsgeschichte kann man die Novelle Tonka als Gegenbild zu Grigia betrachten. Die Parallelen zwischen den beiden Novellen sind zwar gering: Sowohl Tonkas Freund als auch Homo sind Naturwissenschaftler und beide erfahren eine Lebenskrise. Aber während Homo sich in den Mythos flüchtet, kehrt Tonkas Freund ins bürgerliche Leben zurück. Grigia fuhrt von der Großstadt in die Natur, in Tonka ist es genau umgekehrt. Tatsächlich fiihlt Tonkas Freund sich in der Natur unwohl; er mietet ein Zimmer für das Zusammenleben mit Tonka, „weil es dazugehört und auch weil man im Winter nicht stundenlang in den Straßen sein kann".484 In Grigia gibt es die Darstellung einer Regression, einer Rückkehr zur Natur; in Tonka hingegen spüren die männlichen Figuren das Bedürfnis, in die Stadt zurückzukehren.

484 Ebda., S. 286

Schlussbemerkungen

Schlussbemerkungen

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über Robert Musils „Drei Frauen"

Die Novellensammlung Drei Frauen teilt mit Schnitzlers Else die Entstehungszeit, eine Zeit politischer und sozialer Umbrüche sowie gravierender wirtschaftlicher und kultureller Veränderungen. Beide Werke sind Versuche, Möglichkeiten zu suchen, die politische und gesellschaftliche Krise der Zwischenkriegszeit zu erfassen, denn sie betonen eine Krisenerfahrung des modernen Individuums. Die Protagonisten, Angehörige des gebildeten und modernen Bürgertums, brechen aus ihrem bisherigen Dasein aus und geraten in Konflikt mit ihrer familiären Umgebung. Die gesellschaftliche Ordnung ist fragwürdig, unbefriedigend geworden, und die Flucht in „Abenteuer" (Expedition, Krieg, Großstadt oder Versuch eines Selbstmordes wie bei Else) erscheint als Möglichkeit, die Krise zu überwinden. Die Unsicherheit und der Orientierungsverlust der modernen Welt werden mit der Metapher der Krankheit bzw. dem Selbstmordversuch Elses dargestellt. In Grigia ist es die Erkrankung von Homos Sohn, die zu einer Trennung von Frau und Kind fuhrt, im Gebirge leidet dann Homo selbst — wie auch die anderen Expeditionsteilnehmer — „nicht selten an einer mäßigen Fleischvergiftung"485, während die Dorfbewohner und vor allem Grigia von blühender Gesundheit zu sein scheinen. In Tonka ist ebenfalls Krankheit (und Tod) der Großmutter Anlass für Tonkas Freund, die Trennung von seiner Familie vorzunehmen — ein Versuch, der verachteten, erstarrten bürgerlichen Gesellschaft zu entkommen. Die Krankheit Tonkas führt dann zur Auflösung des antibürgerlichen Idylls. In Die Portugiesin wird schließlich, nach dem Tod des Bischofs, von Kettens Lebensaufgabe und damit seine Identität, seine gesellschaftliche Position, obsolet. Seine Krankheit und die des Kätzchens bewirken eine Ablösung vom bisherigen Dasein und eröffnen die Chance auf eine andere Existenz. In Schnitzlers Else ist für die Hauptgestalt der Selbstmordversuch mit Hilfe von Veronal die einzige Möglichkeit, einen Weg zur Befreiung aus einem Dorsday untergeordneten Leben zu finden.4'6 Alle diese Textbeispiele belegen die Tatsache, dass Musil und Schnitzler die Krankheit oder den wahrscheinlichen Tod der Protagonistin nicht mit negativen 485 Musil, Robert: Grigia. In: Robert Musil, Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten. Hamburg: Rowohlt 1992, S. 243 486 In Schnitzlers Fräulein

Else, S. 128, kommt eigentlich der tatsächliche Tod der Gestalt nicht

vor, sondern eine Todesvorstellung. „Und wenn ich dann heraufkomme und keine Lust habe, mich umzubringen und nur schlafen will, dann trinke ich eben nicht das ganze Glas aus, sondern nur ein Viertel davon oder noch weniger."

Beispiele aus der österreichischen Literatur

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Aspekten wie Schwäche, Hilflosigkeit, Zerfall verbinden, sondern mit Befreiung, Erneuerung und Veränderung. Ganz typisch bei Musil, bei Schnitzler aber nicht erwähnt, ist die bedeutungsvolle Beziehung der drei Protagonisten zur Natur; die Vorstellung einer idyllischen, heilen und heilenden Natur wird mehrfach als Illusion entlarvt. Die Bergbauern in Grigia werden sowohl von der übermächtigen Natur als auch von der modernen Zivilisation bedroht, romantische Vorstellungen von einem „natürlichen Leben" erweisen sich als wirklichkeitsfremd (S. 218). In Tonka wird die Natur den Bedürfnissen einer rationalisierten Lebenswelt angepasst; nur in Die Portugiesin ist die Natur noch intakt, wenn auch gefahrlich, unzugänglich und verschlossen (S. 236). Der legendenhafte Stil der Naturbeschreibungen verweist dabei ebenfalls auf die Unwirklichkeit und den artifiziellen Charakter romantischer Naturvorstellungen. Auch der offene Schluss der drei Novellen Musils, der in keinem der drei Fälle eine wirkliche, endgültige Lösung der Krise bietet, ist ein übereinstimmender Punkt, der eine vollkommene Entsprechung in Schnitzlers Erzählung findet. Grigia und Tonka enden mit einem zumindest vorläufigen Scheitern des Versuchs einer Integration des „Anderen" in die Wirklichkeit, während Die Portugiesin die einzige Novelle ist, die am Ende die Möglichkeit einer Lösung andeutet.487 Die Drei Frauen sind als drei Versuche zu sehen, die unterschiedlichen Möglichkeiten, auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft zu reagieren, darzustellen. Homos Weg einer Abkehr von der modernen Zivilisation, einer Regression in eine Welt der Natur, der Vergangenheit, der mystischen Vereinigung mit der Natur führt zu einer solipsistischen Existenz. Der Weg von Tonkas Freund stellt die Antithese zu dem Homos dar, statt „zurück zur Natur" ein „vorwärts zu" einer vollkommen rationalisierten, von Traditionen und Konventionen befreiten Gesellschaft. Der Herr von Ketten verfällt — wie Homo — auf der Flucht vor veränderten gesellschaftlichen Anforderungen zunächst der trügerischen Sicherheit eines Aufgehobenseins in einer mystischen Totalität.488 Von Ketten schafft es mit seiner scheinbar sinnlosen Tat, zum „Tatsachendenken" zurückzukehren, ohne es auf ein „Zweckdenken" zu reduzieren. Nur eine der modernen Massengesellschaft adäquate Ethik könnte nach Musils Ansicht aus dem „babylonischen Narrenhaus" der Nachkriegszeit herausführen. Dass Musil gerade in der Novelle von 487 Krottendorfer, Kurt: Bürgerliche Krisenerfahrungen. Das reale Geschehen in Robert Musils „Drei Frauen". Wien: Dissertation 1991, S. 245

488 Ebda., S. 246

Schlussbemerkungen

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den gesellschaftlichen Bedingungen des 20. Jahrhunderts historischen Abstand nimmt, die als einzige eine Möglichkeit zu einer Uberwindung der Krise aufzeigt, unterstreicht noch seine Skepsis in Hinblick auf die Chancen auf Veränderung. 489 Schließlich kann man behaupten, dass Else die Eigenschaften Grigias und der Portugiesin in sich trägt, so wie die zynische Rationalität des Herrn von Ketten und die von Tonkas Freund mit dem persönlichen Interesse und der Leidenschaft des Herrn von Dorsday und Elses Vater übereinstimmen. Die echte, unruhige, impulsive und unvorhersehbare Kraft der Natur Grigias spiegelt die unkontrollierte und irrationale Natur Elses wider, die Herrn von Dorsday einen Moment lang stumm und verunsichert macht. Die Portugiesin hingegen ist das Bild von Elses gesellschaftlicher Position; die Position einer Frau, die Objekt, Opfer, Besitz eines männlichen Systems ist. So wie die Portugiesin Opfer ihres Mannes ist, ist Else Opfer zweier anderer Männer, ihres Vaters und des Herrn von Dorsday. Sowohl bei Musil als auch bei Schnitzler werden diese Männer als kühle, gleichgültige und skrupellose Figuren gezeigt.

489 Ebda., S. 247

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

„Eine blaßblaue Frauenschrift" von Franz Wetfel (1941) „Daß dem Manne das Geheimnis des Empfangens, des Tragens, das hohe SchmerzGlück des Gebärens versagt bleibt, daß er nur die Blamage des Verlustes erfahrt, daß er innerhalb der kosmischen Unsterblichkeit nur eine Clown-Rolle spielt, das halte ich für die Ursache jenes großen Unruhezustandes, aus dem sowohl unendlich der Wahn als auch unendlich das Werk steigen muß." 490

So hat der Literaturwissenschaftler Braselmann die Lage des Mannes dargestellt. Es ist das Porträt eines Wesens, dessen Rolle die eines gespalteten und ewig unsicheren Clowns ist. Ich glaube, Braselmanns Darstellung des Mannes entspricht auch der Beschreibung der männlichen Hauptfigur von Werfeis Erzählung Eine blaßblaue Frauenschrift, denn auch Leonidas ist Opfer einer Identitätskrise, die viele Aspekte des „Unruhezustandes" der schon analysierten Gestalten der Werke Musils widerspiegelt. Sowohl bei Musil als auch bei Werfel wird deutlich, wie schwierig es für den modernen Menschen ist, ein ausgeglichenes Selbstbewusstsein zu finden. Aber während sich bei Musil diese Schwierigkeit in einer seelischen Unfähigkeit äußert, eine innere Harmonie zwischen Ich und Welt zu schaffen, ist die Unfähigkeit der männlichen Gestalt aus Werfeis Erzählung eine soziale. Die ontologische Suche nach einer Selbsterfüllung der männlichen Gestalten Musils wird bei Werfel durch die Suche nach einer gesellschaftlichen Position ersetzt. In beiden Fällen spielt die Frau eine entscheidende Rolle, denn sie ist die Schöpferin, das Mittel für die Verwirklichung der Erreichung der inneren Wiedervereinigung des Mannes. Wenn bei Musil die Frau die ontologisch-metaphysische Ergänzung des Mannes ist, ist sie bei Werfel seine soziale Möglichkeit, die ihm hilft, in der Gesellschaft zu zählen. Bei der Darstellung der Frau in Werfeis Erzählung Eine blaßblaue Frauenschrift ist hervorzuheben, dass hier von einer „Frau", Leonidas Gemahlin Amelie, und nicht von einem „Weib" die Rede ist. Das bedeutet, dass Werfel, im Gegensatz zu Schnitzler und Musil, die weibliche Gestalt als reales Individuum und nicht mehr nur als Bild der Imagination betrachtet. Schon in dieser Erzählung Werfeis fällt auf, dass die Frau eine determinierende gesellschaftliche Rolle als Schöpferin der Zukunft des Mannes spielt. Nicht nur zählt sie in den Augen Werfeis als Autor und Mann als Mensch mehr, sondern sie kann auch auf eine gesicherte finanzielle Position verweisen. Sie ist es, die das Geld besitzt, und das Geld ist ihr 490 Braselmann, Werner: Exkursus: Die Frau - Magd und Heilige. In: Franz Werfel, Dichtung und Deutung. Wuppertal: Emil Müller Verlag i960, S. 97

„Eine blaßblaue Frauenschrift"

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Eigentum. Leopoldine in Spiel im Morgengrauen hingegen ist nur die Verwalterin des Geldes ihres Mannes, auch wenn sie bei Schnitzler als eine „emanzipierte" Frau dargestellt wird. So wie bei Schnitzler die Emanzipation Leopoldines nur eine scheinbare Freiheit vom Mann ist, wird auch bei Werfel die Stellung der Frau noch vom Mann beeinflusst, steht sie doch im Grunde noch im Dienst ihres Ehemannes. Der Mann braucht sie fiir seinen gesellschaftlichen Aufstieg nicht als Person, sondern nur ihres Geldes wegen, und so wird sie noch einmal als das Mittel des Glücks und der Rettung des Mannes porträtiert. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass in diesem Weiblichkeitskonzept Werfeis das Privatleben des Autors und insbesondere seine Liebesbeziehung und spätere Ehe mit Alma Mahler eine wichtige Rolle spielt. Alma Mahler, die Werfel im Café Central in der Gesellschaft von Franz Blei kennen gelernt hatte und die ihn als „einen kleinen, untersetzten Mann mit sinnlichen Lippen und wunderschönen großen Augen unter einer Goetheschen Stirn" beschreibt, war „eine Kombination von Esprit und Manneskraft".491 Obwohl er „eine wunderschöne Sprechstimme und eine faszinierende Rednergabe besaß und ein blendender Unterhalter" war, brauchte er die konstante Unterstützung seiner Frau Alma, die seine literarische Inspirationsquelle und sein Schutzengel wurde. „ A l m a war seine Muse, seine matronenhafte ,Mutterfrau'. Er benötigte eine starke Persönlichkeit, die ihm Halt gab, die sein schriftstellerisches Talent und seine Kreativität in produktive Bahnen lenkte."492

Auch Almas Tochter stellte fest, wie wichtig die Rolle ihrer Mutter für die literarische Bildung Werfeis war: „Sie hat ihn zweifellos zum Romancier gemacht. E r wäre ohne sie ziemlich sicher ein Lyriker und Bohemien geblieben, sein Leben lang." 49 '

Und Werfel selbst beobachtet: „Wenn ich A l m a nicht begegnet wäre, hätte ich noch ein paar Gedichte geschrieben und wäre selig verkommen." 494

491 Weissensteiner, Friederich: Sklavin, Muse und Matrone: Alma Mahler-Werfel. In: Die Frauen der Genies. Frankfurt am Main: Deuticke 2001, S. 197 492 Ebda., S. 199 493 Ebda., S. 198 494 Ebda., S. 199

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

Aus diesen Zitaten wird klar, wie die Figur der Frau sowohl im Privaten als auch in der Literatur Werfeis der Ergänzung des Mannes entspricht. Im Fall Werfeis als realer Person unterstützt sie seine literarische Tätigkeit, die es ihm erlaubt, gesellschaftliche Anerkennung und Ruhm zu erlangen. Auch in seiner Erzählung Eine blaßblaue Frauenschrift spielt die Frau die Rolle des Hilfsmittels, denn durch sie erlangt Leonidas eine gesicherte Position im Ministerium, die ihm Zugang zu den höchsten Kreisen der Gesellschaft erlaubt. Es wird also deutlich gemacht, dass der Mann ohne die Hilfe der Frau ein „Nichts" ist. Hier ist deutlich eine radikale Veränderung in der Geschlechterkonstruktion abzulesen, kann man doch fast von einem Rollentausch sprechen. Aber analysieren wir zunächst die Passagen dieser Geschlechterveränderung bei Schnitzler und Werfel. Bei Schnitzler ist Else diejenige, die durch ihre Schönheit, ihre verführerischen Eigenschaften Geld aus den Händen eines Mannes gewinnt, 49 ' doch von diesem radikal ausgebeutet wird. Im Fall Leopoldines hingegen könnte man von einer emanzipierten Darstellung der Frau sprechen, denn Leopoldine scheint in der Lage zu sein, den Mann ökonomisch zu beherrschen. Aber es ist nur eine scheinbare Emanzipation, denn das Geld gehört nicht ihr, sondern ihrem Mann, und außerdem wird Leopoldine androgyn dargestellt. Dieser Aspekt der physischen Vermännlichung der Frau als Folge ihrer Emanzipation findet in Werfeis Erzählung keine Entsprechung, wobei Amelie ihr schönes weibliches Aussehen bewahrt hat. Man kann also Werfeis Weiblichkeitskonzeption so zusammenfassen: Wie schon bei Schnitzler und Musil ist die Frau auch bei Werfel als Ergänzung des Mannes konzipiert. Unterschiedlich bleibt der Zweck der Ausbeutung der Frau: bei Schnitzler hat er ökonomische Gründe; bei Musil ontologische und bei Werfel soziale. Es stimmt, dass bei Werfel die Frau eine Wertschätzung erlebt, aber im Grunde genommen bleibt sie das Rettungsmittel des Mannes. Sie ist noch immer Opfer ihrer alten Rollen, wenn sie auch bei Werfel schon höheren Stellenwert und Autonomie genießt. Es geht vorerst nur um finanzielle Autonomie, die aber noch keiner Selbstautonomie entspricht. Die Wertschätzung der Frau wird in Werfeis Erzählung Eine blaßblaue Frauenschrift durch eine Geringschätzung des Mannes ausbalanciert, die bei Schnitzler z. B. fehlt.

495 Ich habe hier das Verb „gewinnen" nicht zufällig gewählt, denn ich finde, dass Else mit Dorsday ein Spiel der Verführung inszeniert, um die nötige Summe f ü r die Rettung ihres Vaters zu „verdienen". „Gewinnen" und „verdienen" sind, meiner Meinung nach, die zwei Verben, die die Taten Elses am deutlichsten bezeichen können: Sie gewinnt das Geld am Tisch der Verführung und sie verdient es auch, denn sie hat auch einen hohen Preis dafür bezahlt, d. h., sie hat sich verkauft.

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In den hier kommentierten Texten ist die männliche Gestalt Vertreter der finanziellen Macht, der Klugheit und der Vernunft. Durch die Analyse der Texte Musils konnte die Schwäche und die Unsicherheit des Mannes aufgezeigt werden, weil er Bild einer universellen seelischen Zerrissenheit ist. Dieser männliche Abwertungsprozess erfährt noch eine Steigerung: Der Mann scheint eine Marionette in den Händen der Frau zu sein. Zwar ist er noch kein Sklave der Frau, wie z. B. bei Gina Kaus, wohl aber nicht mehr Herr seiner selbst, da er seine Selbstsicherheit und Selbstbestimmung verloren hat und von der Frau abhängig ist. Diese Einleitung hat versucht zu erklären, wie die Struktur der Geschlechterbeziehung sowohl bei Schnitzler und Musil als auch bei Werfel dieselbe geblieben ist, auch wenn es eine leichte Veränderung in der Konstruktion der Weiblichkeit dieser Autoren gibt, der die ausgewogene Konstruktion der Männlichkeit gegenübersteht. Von Schnitzler über Musil bis Werfel hat die weibliche Gestalt im Laufe der Jahre in den Augen der männlichen Autoren an Wertschätzung gewonnen — ein Prozess, der in der literarischen Produktion von Gina Kaus seinen Höhepunkt erleben wird. Man kann jetzt also von der literarischen weiblichen Gestalt als „Frau" und nicht mehr als „Weib" sprechen. Die Gestalten in Werfeis Erzählung Eine blaßblaue Frauenschrift teilen viele Ähnlichkeiten mit Schnitzlers Else. Diese 1941 erschienene Erzählung, dem Jahr, als Werfel und seine Frau Alma Mahler nach Frankreich ins Exil gingen, erzählt die Geschichte des Sektionschefs Leonidas und seiner früheren Liebesbeziehung zu Vera Wormser, Tochter einer Wiener jüdischen Familie. Am Tag seines fünfzigsten Geburtstags erhält Leonidas mit der täglichen Korrespondenz früh am Morgen einen Brief. Der Brief ist von Vera Wormser. Leonidas erkennt die weibliche Schrift sofort, hin- und hergerissen zwischen Neugier und Angst versteckt er den Brief. Er will nicht, dass seine Frau, die schöne und wohlhabende Amelie, Begründerin seines Glücks als engagierter Geschäftsmann, etwas über seine Vergangenheit entdeckt. Er hat das Geheimnis über zwanzig Jahre lang bewahrt; jetzt beginnt er an die Möglichkeit zu denken, Amelie die ganze Wahrheit zu sagen. Aber er kann und will dies schließlich doch nicht tun, denn eine solche Aktion würde das Ende seiner Ehe und auch seiner Karriere bedeuten. Mit dieser Entscheidung im Kopf liest er den Brief und bemerkt, dass die Worte Veras kühl, gleichgültig, distanziert und formell klingen, ohne Erinnerung an die Vergangenheit. Sie bittet ihn, einem jungen Studenten zu helfen, einem Juden, der in Deutschland wegen der Rassengesetze des Nationalsozialismus das Gymnasium nicht abschließen kann. Bei der Lektüre des Briefes phantasiert Leonidas, dass der Student sein Kind sein könnte; ein Kind von ihm und Vera, die er damals mit der Ausrede, in vier-

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

zehn Tagen zurückzukommen, allein in Hamburg zurückgelassen hatte. Leonidas bleibt verwirrt: er weiß nicht, ob er Vera helfen und Amelie die ganze Sache beichten soll. Sicher ist, dass er die Wahrheit über den Jungen herausfinden muss. Aber Amelie, der das veränderte Verhalten ihres Mannes schon aufgefallen ist, fragt ihn nach dem Inhalt des Briefes. Leonidas ist gezwungen, ihr den Brief zu zeigen, in der H o f f n u n g , dass sie nicht zwischen den Zeilen lesen kann. Tatsächlich versteht Amelie nicht und entschuldigt sich für das geringe Vertrauen in ihren Mann. D a die Lage mit Amelie geklärt ist, will Leonidas Vera persönlich treffen. Vera erklärt ihm, dass Emanuel — der Student — Sohn einer verstorbenen Freundin ist, während ihr Kind auf Grund einer schweren Krankheit zwei Jahre nach der Geburt gestorben ist. Die Erzählung endet mit dem Abschied der beiden; mit Leonidas' Versprechen, dem Studenten zu helfen; mit seinem Bedauern darüber, Vera nicht mehr wieder zu sehen und mit der Sicherheit, sein Leben und seine Karriere neben Amelie weiterführen zu können. Uber die Frage, ob dieser Text Werfeis wirklich als Erzählung bezeichnet werden kann, gibt es in der Forschung unterschiedliche Meinungen. Hans Wagener vermutet, anknüpfend an die kontroversiellen Forschungsarbeiten von Weber und Paulsen 496 , dass dieser Text Werfeis „zwischen Februar und April 1940 entstanden sei", obwohl das sich an der University of Philadelphia befindliche Manuskript hier noch unter dem Titel „Wirrnisse eines Oktobertages" eingeordnet ist. 497 Er erwähnt auch ein Typoskript im Ben-Huebsch-Archiv der Library of Congress in Washington mit dem Titel „Ein kleiner Roman (Blaßblaue Frauenschrift)". 498 Ich habe vorhin eine genaue Gattungsbezeichnung bewusst vermieden, da die Problematik einer gattungsmäßigen Zuweisung bereits aus der zitierten Sekundärliteratur deutlich wird. Werfel selbst hat im Untertitel wohlweislich den neutralen Begriff der „Erzählung" gewählt; einen Begriff, den ich auf G r u n d verschiedener stilistischer und struktureller Elemente auch im Rahmen dieser Textanalyse beibehalten will.

496 Ich beziehe mich auf Alfons Weber: Problemkonstanz und Identität: Sozialpsychologische Studien zu Franz Werfeis Biographie und Werk - unter besonderer Berücksichtigung der Exilerzählungen. Frankfurt am Main: Lang 1990 und auf Wolfgang Paulsen: Franz Werfel: Sein Weg in den Roman. Tübingen: Francke 1995, S. 223-233. 497 Wagener, Hans: Gericht über eine Lebenslüge. Zu Franz Werfeis Eine blaßblaue Frauenschrift. In: Brücken. Hrsg. von M. Berger, K. Krolop und M. Papsonovä. Germanistisches Jahrbuch, Neue Folge 3,1995, S. 192 498 Ebda., S. 192

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Wagener weist d a r a u f h i n , dass der Begriff „Erzählung" dem Text tatsächlich gerecht wird, denn es geht eigentlich um eine Geschichte, die keine Romanlänge hat. 499 Das Typoskript der Library of Congress hingegen wird als „kleiner R o man" bezeichnet. Diese Diskrepanz - so auch Wagener - könnte so erklärt werden: Das Werk handelt von der Geschichte einer Karriere, einer Ehe und einer außerehelichen Beziehung, die viele Jahre umfasst. Darüber hinaus ist das Werk auch in sieben Kapitel mit je eigenen Uberschriften eingeteilt, wie sie sich sonst nur in einem Roman finden. U n d schließlich gibt es auch die Beobachtung und die Meinung Fokins 500 , die Wagener so berichtet: „Im selben Jahr (1940) entstand noch die Novelle .Eine blaßblaue Frauenschrift', die 1941 erschien. Sie behandelt das für Werfel so wichtige Thema eines jüngsten Gerichts. Rein vordergründig gesehen, gehört die Novelle zum Kreis der sich mit Antisemitismus und Exil befassenden Werke."501 Hier ist eindeutig von einer Novelle die Rede. Wagener rechtfertigt die Entscheidung Fokins, den Text als Novelle zu bezeichnen, mit der folgenden Erklärung, die ich jedoch nicht teile: „Trotz der Gliederung in Kapitel erzählt Werfel hier mit großer Ökonomie und Stringenz. Aus dem Leben des Heldens Leonidas wird uns nur mitgeteilt, was zum Verständnis seines in der Gegenwart handelnden Konfliktes notwendig ist. Auch erzählt der Autor hier nicht in chronologischer Folge, sondern fugt die Ereignisse der Vergangenheit in Form von Erinnerungsrückblicken ein. [...] Der Brief Vera Wormers bricht wie das Schicksal in seine geordnete Welt ein und stellt sie in Frage. Er ist der ,Falke' der Novelle, [...] das Dingsymbol, in dem in verhaltener Form das Leben des Sektionschefs und seine Lebensschuld zusammengeballt sind. Die Ankunft des Briefes [...] bezeichnet zugleich den Tieckschen Wendepunkt, von dem an das Leben des Sektionschefs eine völlig neue Richtung zu nehmen scheint, bis dieser Anruf des Schicksals im Nichts verhallt."502 Gerade in diesem letzen Satz Fokins findet sich ein deutlicher argumentativer Widerspruch: M a n kann nicht über den Wendepunkt der Novelle sprechen, wenn

499 Ebda., S. 192 500 Foltin, Lore: Franz Werfel. Stuttgart: Metzler 1972, Bd. 115, S. 96 501 Wagener, Hans: Gericht über eine Lebenslüge. Zu Franz Werfeis Eine blaßblaue Frauenschrift. In: Brücken. Hrsg. von M. Berger, K. Krolop und M. Papsonovä. Germanistisches Jahrbuch, Neue Folge 3,1995, S. 191 502 Ebda., S. 192

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die Erzählsituation konkret nur eine scheinbare Wendung erlebt. Hier fehlt die Veränderung der anfänglichen narrativen Situation und deshalb ist es in meinen Augen unkorrekt, von einer „Novelle" zu reden. Aus diesem Grund schließe ich diese Gattungsbezeichnung aus und entscheide mich für „Erzählung", wie auch Werfel selbst. Die so bezeichnete Erzählung beinhaltet Motive — wie die des Antisemitismus und der schwierigen politischen Situation Österreichs in den Jahren des Nationalsozialismus —, die in Betracht zu ziehen nicht Gegenstand dieser Arbeit sein kann.s°3 Ich will hingegen versuchen, die Aufmerksamkeit auf die Funktion des Mannes und der Frau in der Geschlechterbeziehung zu richten, um mögliche Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten zu Schnitzlers Texten aufzuzeigen. Die Handlung dieser Novelle beinhaltet vier Themen: 1) die Rolle der Geschlechter (weibliche Schöpferin und männliches Opfer) 2) die Ehe als materieller Vertrag 3) die Bedeutung des Briefes 4) die weibliche Typologie: Amelie gegenüber Vera Ich halte es für wichtig, die ersten beiden Motive gemeinsam zu deuten, da sie unmittelbar zusammenhängen. Ich möchte mit einer Charakterisierung der Hauptgestalten, also Leonidas, Amelie und Vera, beginnen. Leonidas, dessen Name aus der griechischen Geschichte stammt,504 zeichnet sich eher durch Mittelmäßigkeit und Konventionalität aus als durch besondere In-

503 Z u r Biographie Werfeis vgl. Peter Stephan Jungk: Franz Werfel - Eine Lebensgeschichte. Frankfurt am M a i n : Fischer Verlag 1987, oder D o n n a Heizer: Jewish-German identity in the Orientalist literature o f Else Lasker-Schüler, Friederich W o l f and Franz Werfel. C o lumbia S C : C a m d e n House 1996, S. 6 8 - 9 0 504 M o o r m a n n , Eric: Lexikon der antiken Gestalten. Stuttgart: A l f r e d Kröner Verlag 1995, S. 416. V o n 488 bis 4 8 0 v. C h r . w a r Leonidas König von Sparta. 4 8 0 v. C h r . führte er im zweiten Perserkrieg den Befehl über einen Teil des griechischen Heeres. A l s sich die Perser unter Xerxes mit einer großen Ubermacht den Thermopylen näherten, w o lediglich 4 0 0 0 Griechen standen, darunter ein spartanisches Elitecorps von 3 0 0 M a n n , widersetzte sich Leonidas der Forderung nach einem Rückzug auf den Peloponnes. Es gelang den Griechen unter seiner F ü h r u n g , die Perser bei den Thermopylen a m Passweg zwischen Gebirge und M e e r aufzuhalten und sogar zurückzudrängen. D a s Verhalten Leónidas' wurde für die spartanische Staatseinrichtung und die dortige Lebensweise und für das Griechentum überhaupt als Z e u g n i s für G r ö ß e gepriesen. In Werfels T e x t ist die W i dersprüchlichkeit in Leonidas' Verhalten deutlich. Er ist kein mutiger Held und wird als Karikatur des kraftvollen, energischen spartanischen Führers dargestellt.

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telligenz oder Leistung. Er „ist einfach der typische Opportunist seiner Zeit".505 Er verdankt seine Karriere dem „Glücksfall", dass ein studentischer Zimmernachbar Selbstmord begangen und ihm seinen Frack vererbt hatte. „Mors tua vita mea" ist das Motto Leonidas', der mit Hilfe dieses Fracks, seiner Geschicklichkeit im Walzertanzen und seines guten Aussehens die reiche Erbin Amelie Paradini verführt und geheiratet hat. Immer konservativ, ein kompromissloser und angepasster Streber, hat Leonidas gegen den Wunsch von Amelies Familie die Ehe durchgesetzt und sich seinen Aufstieg in der österreichischen Bürokratie gesichert. Seine Frau Amelie ist „eine verwöhnte, reiche Frau, Erbin eines großen Vermögens. [...] Sie ist hauptsächlich darauf bedacht, sich durch Hungerkuren die Schlankheit ihres Körpers zu erhalten und im übrigen ihre physische Attraktivität durch Kosmetika und häufige Besuche beim Friseur. Gesellschaftlich anerkannt zu werden, eine Rolle zu spielen ist f ü r sie wichtig." 506

Die Ehe mit dieser ewig jugendlichen Frau ermöglicht Leonidas den erhofften gesellschaftlichen Aufstieg, verdankt er doch den Beziehungen von Amelies Familie seine Ernennung zum Sektionschef im Ministerium. Das bedeutet, dass die durch eine Ehe konsolidierte Geschlechterbeziehung immer noch eine gute Möglichkeit für sozialen Aufstieg ist. Als Beweis der neuen Konzeption der Geschlechterbeziehung gilt die Tatsache, dass die „gute Partie" nicht der Mann, sondern die Frau ist. Ohne die Hilfe seiner Frau wäre er „der Sohn des hungerleidenden Lateinlehrers, ein J ü n g l i n g mit dem geschwollenen N a m e n Leonidas, der nichts besaß als einen gutsitzenden, aber makabren Frack" 507 ,

geblieben. Nach der Hochzeit mit Amelie „fühlt er sich als der Umworbene, als der Gewährende, als der Gebende"508, und Werfel schreibt:

505 Wagener, Hans: Gericht über eine Lebenslüge. Zu Franz Werfeis

enschrift.

Eine blaßblaue Frau-

In: Brücken. Hrsg. von M . Berger, K. Krolop und M. Papsonovà. Germanisti-

sches Jahrbuch, Neue Folge 3,1995, S. 197 506 Ebda., S. 198 507 Werfel, Franz: Eine blaßblaue Frauenschrift. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1998, S. 15 508 Ebda., S. 16

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„Er betrachtet sich in dieser reizenden, für zwei Menschen leider viel zu geräumigen Villa gleichsam nur als Mieter, als Pensionär, als zahlenden Nutznießer [.. ,]"SO!>

Leonidas befindet sich seiner Frau gegenüber in einer völlig untergeordneten und abhängigen Position, die durch die ökonomische Macht von Amelies Familie bestimmt wird. „Sie war kraft ihres Reichtums die Herrin über mich."' 1 0

Die Folge davon: Er zählt nur als Amelies Mann. Ahnlich ist die Position von Schnitzlers Figur Willi Kasda, der wie Leonidas eine „weibliche" Rolle spielt: Er ist die Verkörperung einer schwachen, abhängigen und untergeordneten Person, deren Eigenschaften von einer weiblichen Gestalt determiniert werden. Wenn die Rolle der männlichen Gestalt durch die der Frau besetzt wird, wird auch die Frau eine männliche Figur. Sie wird ein „Pygmalion", eine Schöpferin.5" Die Positionen in der Geschlechterbeziehung kehren sich um, das Geschlecht der Protagonisten wechselt. Das betont die neue moderne Konfiguration der Beziehung zwischen Mann und Frau, wie sie auch Gina Kaus in ihrem Roman Teufelin Seide durch die Figuren Albert und Melanie dargestellt hat. Wie schon erwähnt, basiert die Ehe zwischen Leonidas und Amelie auf der Bedeutung des Geldes, und die Beziehung zwischen den beiden — sowohl gesellschaftlich als auch privat — wird vom Geld bestimmt. Die Funktion des Geldes als Motor in der erzählenden Aktion und im Leben der Gestalten selbst wird auch bei Schnitzler oft thematisiert. Geld symbolisiert die Möglichkeit, eine gute Position zu erreichen, und gleichzeitig die Gelegenheit, gesellschaftlichen Ruhm zu erlangen. Das ist auch in Schnitzlers Else der Fall, wo Elses Vater seine Ehre als Anwalt verlieren würde, wenn Else nicht die notwendige Summe auftreiben könnte, um die Schulden ihres Vaters zu bezahlen. Das dritte Thema, die Bedeutung des geschriebenen Wortes, ist sowohl in Werfeis Erzählung als auch bei Schnitzler ein zentraler Punkt der Entwicklung des Textes.

509 Ebda., S. 16 510 Ebda., S. 40 511 Die Assoziation der Gestalt von Amalie mit der des Pygmalion in G . B. Shaws Theaterstück betont das Spiel der Geschlechterrolle noch stärker, wobei Shaws Professor Higgins, der eine männliche Figur ist, in Werfels Novelle durch eine weibliche Figur, die von Amalie, ersetzt wird. Das bedeutet, dass die Hauptrolle als Schöpfer der Weiblichkeit nicht mehr von einem Mann gespielt wird, sondern von einer Frau.

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In Schnitzlers Else erhält die Protagonistin einen Brief ihrer Mutter, als sie ihren Urlaub in Italien im Hotel Frattazza verbringt. Das Eintreffen dieses Briefes verursacht eine Wendung in der zu Beginn der Erzählung ruhigen Atmosphäre. Das lustige, unbeschwerte und fröhliche Verhalten Elses ändert sich, sie wird besorgt, ängstlich und nervös. Diese Veränderung der anfänglichen Ordnung der Erzählung betont auch die Veränderung der Persönlichkeit Elses, die plötzlich ihre sorglose Kindheit vergisst. Sie wird eine Frau, auf deren Schultern eine große Verantwortung lastet. Der gute Name von Elses Familie liegt in ihren Händen, sie muss nicht nur den Vater, sondern mit ihm auch die ganze Familie retten. Die Entwicklung in Werfeis Text ist ähnlich. Auch in diesem Fall ist das Eintreffen des Briefes einer Frau der Grund fiir das Umschlagen von Ordnung in eine „scheinbare" Unordnung. Nachdem Leonidas und auch Else einen bestimmten Brief bekommen haben, sind sie gezwungen, ihr Leben zu ändern, auch wenn dies für Leonidas nur ein zeidich begrenzter Zustand ist. „Es waren elf Briefe, zehn davon in Maschinenschrift. U m so mahnender leuchtete die blaßblaue Handschrift des elften [...] Eine großzügige Frauenschrift, ein wenig streng und steil." 511

Die Normalität von Leónidas' Alltag wird durch die Ankunft eines von elf Briefen destabilisiert und vielleicht auch zerstört. „Nach einer Ewigkeit von achtzehn Jahren hatte den allseits Gesicherten die Wahrheit doch eingeholt. Es gab keinen Ausweg mehr für ihn und keinen Rückzug. [...] N u n war die Welt f ü r ihn von Grund auf verwandelt, und er für die Welt." 51 '

Leonidas „senkte unwillkürlich den Kopf, denn er spürte, daß er aschfahl geworden war".514 Leonidas empfundene Unfähigkeit, ohne die Hilfe seiner Frau ein geachteter Mann zu bleiben,515 drückt seine Schwäche aus, starke Reaktionen zu zeigen.

512 Werfel, Franz: Eine blaßblaue Frauenschrift. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1990, S. 18 513 Ebda., S. 34 514 Ebda., S. 18 515 Aufschlussreich ist die Reflexion und der Vergleich, den Leonidas anstellt, als er im Schlosspark spaziert. Ein schlafende Betder, „der eigentlich kein alter Herr, sondern nur ein alter Mann war" (S. 6z), dessen „räudige Melone [...] und knotigen Hände schwer wie Vorwürfe auf den eingeschrumpften Schenkeln lagen" (S. 62), lässt ihn an seine eigene Zukunft

Beispiele aus der österreichischen Literatur

Zweimal bleibt er indirekt sprachlos und machtlos gegenüber der Frau: Das erste M a l gegenüber Amelie und das zweite Mal gegenüber der nicht anwesenden Briefschreiberin. Ahnlich ist Elses Reaktion zu Beginn der Novelle — scheinbare Sprachlosigkeit und Starre —, allerdings wie die von Leonidas nur vorläufig. Beide Gestalten finden eine Lösung, der eine plötzliche Erkenntnis ihres Selbstbewusstseins entspricht. Leonidas zeigt seiner Frau den Brief — „Plötzlich zum kühlen Beobachter geworden, reichte er Amelie mit ausgestreckter Hand das schmale Blatt hinüber"5'6 —, und Else trifft sich mit Dorsday. Beide entschließen sich, die Angst vor dem angekommenen Brief zu überwinden. Dieser Vergleich zeigt, dass sich die beiden Texte nur in den Schlussszenen unterscheiden. Während Schnitzlers Erzählung die durch den Brief verursachte Unordnung durch den wahrscheinlichen Tod Elses unterstreicht, gibt es in Werfeis Erzählung die Uberwindung der Unordnung und die Rückkehr zur verlorenen anfanglichen Ordnung, da Leonidas sich nicht von seiner Frau trennt. Zentrales Thema ist in beiden Texten die Anwesenheit einer komplizierten, schattenreichen, indirekten und direkten Beziehung der Geschlechter. Ich beziehe mich auf die Begegnung Elses mit ihrem Vater, die nur durch einen Brief erfolgt, und die direkte mit Dorsday. Eine solche Geschlechterbeziehung findet eine Entsprechung in Werfeis Werk, wenn auch umgekehrt, denn hier ist es eine männliche Gestalt, die zwei Frauen treffen soll: Amelie auf direkte und Vera auf indirekte Art, d. h. mit Hilfe des Briefes. Vera, von Leonidas einst auf so niederträchtige Weise verlassen, ist eine vornehme, intelligente, moderne Frau, eine noble Seele, die sich erst Jahre später und nur in äußerster Not an ihn wendet. Auch jetzt, im Jahr 1936, schreibt sie ihm nur um des Sohnes einer verstorbenen Freundin willen und hält dabei eine fast unglaubliche Distanz ein, indem sie von sich aus zunächst mit keinem Wort auf die Vergangenheit zu sprechen kommt. Im Gegensatz zu Leonidas ist sie es, die Takt und Gelassenheit besitzt, während er sich zu einem Schuldeingeständnis, einer falschen Beichte ihr gegenüber hinreißen lässt, deren Verlogenheit der Er-

denken, wenn er nicht seine Frau Amelie getroffen hätte. „Soeben war er seinem Doppelgänger begegnet, seinem Zwillingsbruder, der anderen Möglichkeit seines Lebens, der er nur um Haaresbreite entgangen war. [...] Er [Leonidas] schlief keinen flüchtigen agonischen Schlaf auf der Parkbank, sondern den gesunden, runden, regelmäßigen Schlaf der Geborgenheit in seinem großen französischen Bett" (S. 63). 516 Werfel, Franz: Eine blaßblaue Frauenschrift. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1990, S. 102

„Eine blaßblaue Frauenschrift"

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zähler wiederholt betont. Aber Vera ist auch das Gegenbild der damenhaften und kapriziösen Amelie, Vertreterin eines bourgeoisen Konventionalismus, die den ehemaligen kleinen Beamten aus der „Extravaganz einer Sehrverwöhnten" 517 gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Familie geheiratet hatte. Außerdem ist Vera - eine ähnliche Konstellation gibt es in Musils Vereinigungen —, die Dritte in einer „Ménage à trois"; sie ist gleichzeitig Bedrohung und Wiedervereinigungsmöglichkeit für das Paar Leonidas/Amelie. Im Schicksal Leonidas' ist es immer eine Frau, die die entscheidende Rolle spielt, so wie auch bei Schnitzlers Else, wobei Else als „Summa" von Vera und Amelie betrachtet werden kann; in dem Sinn, dass sie eine Entwicklung in ihrer Gestalt erlebt. A m A n f a n g der Erzählung Schnitzlers ist Else Amelie physisch ähnlich: „Amelie ist sehr groß und schlank. Sie muß aber um diese Schlankheit unaufhörlich kämpfen [...] Ohne daß je eine Bemerkung darüber gefallen wäre, hat es der Instinkt Amelies genau erfaßt, daß mich alles Pompös-Weibliche kalt läßt und daß ich eine unüberwindliche Zuneigung für kindhafte, ätherische, durchsichtige, rührend-zarte, gebrechliche Frauenbilder empfinde [...] Amelie ist dunkelblond [.. .]"5'8

Aber am Ende der Novelle wird Else das Spiegelbild Veras; eine süße, zarte, aber sehr selbstbewusste Frau, die mit Einsatz ihrer Schönheit und Attraktivität ei-

517 Ebda., S. 48 518 Ebda., S. 43-44. Das schöne, gleichsam märchenhafte und ätherische physische Aussehen Amelies entspricht der detaillierten Darstellung ihres Boudoirs: „Im Zimmer herrschte noch die leichte Unordnung, die Amelie zurückgelassen hatte. Mehrere Paare kleiner Schuhe standen betrübt durcheinander. Der Toilettentisch mit seinen vielen Fläschchen, Kristall-Flakons, Schälchen, Schächtelchen, Döschen, Scherchen, Feilchen, Pinselchen war nicht zusammengeräumt" (S. 92). Diese Beschreibung weist auf die raffinierte Schönheit der Heldin hin. Die verschiedenen Objekte, die durch Diminutive adressiert werden, deuten auf die Präsenz einer „kleinen" Frau, die in einer zauberhaften Welt lebt. Die Dinge auf dem Toilettentisch sind die Instrumente für die Verwirklichung von Amelies Schönheitspflege. Die Atmosphäre, in der dieses Ritual stattfindet, ist „leicht" ungeordnet und das teilt dem Leser mit, dass auch die Unordnung des Zimmers durch die raffinierte Zärtlichkeit der Protagonistin verschönt wird. Amelies Welt, die mit Kosmetika, Parfüms und Pinseln zu tun hat, ist weiblich konnotiert und kann als Gegendarstellung des Arbeitszimmers von Leopoldine gelesen werden. Bei Werfel, nicht aber bei Schnitzler, spürt man schon den Einfluss der Mode als Prozess der Konstruktion eines Weiblichkeitsmodells. Die Schönheit Amelies ist tatsächlich geschaffen, gebildet, künstlich und nicht naturhaft wie die Elses. Ahnlich ist, in diesem Kontext, das Zitat von Schnitzlers Else: „Wie schön meine blondroten Haare sind, und meine Schultern [...]" (S. 121).

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

nen Zweck erreichen will. Sowohl Else als auch Vera sind sich der Schwäche des Mannes gegenüber der weiblichen Schönheit bewusst, und es ist genau diese Schwäche, die die beiden ausnützen wollen. Das Ziel ist für beide dasselbe — die Rettung eines Mannes, einerseits des Vaters und andererseits des Sohnes einer verstorbenen Freundin. Veras „zierliche Gestalt in einem grauen Reisekostüm, von dem sich eine lila Seidenbluse und eine Halskette aus goldbraunen Ambrakugeln ungenau abhob" 5 ' 9 , scheint mit Elses Gestalt nichts zu teilen, als sie „nur mit dem Mantel bekleidet ins Musikzimmer getreten"520 ist. Diese Verschiedenheit der zwei Gestalten erweist sich als scheinbare, denn die weibliche Eigenschaft, einen Mann zu verfuhren und an sich zu binden, ist beiden gemeinsam. Die Frau verwendet ihre „versteckte" Macht, nämlich das Bewusstsein, dass sie auf ihre Schönheit zählen kann. Ich habe das Wort „versteckte" Schönheit verwendet, da es in Elses Fall dank ihrer Jugend um eine neu geborene Schönheit geht, im Fall Veras aber um eine Schönheit, die verblüht ist. Else und Vera zeigen zwei komplementäre Aspekte des Lebens einer Frau, die Jugend und die Reife, und die konstante Suche nach der Schönheit in beiden „Jahreszeiten" des menschlichen Lebens. Wahrend sich Else nach der Faszination der reifenden Frau sehnt, versucht Vera, so wie auch Amelie, nach der Schönheit eines jungen Mädchens zu streben. In diesem Prozess ist wichtig, wie die Frauengestalten sich bewegen, während die Männergestalten unverändert bleiben. Sowohl Dorsday als auch Leonidas bleiben in ihren Rollen gefangen, und nur passiv erfahren sie die weibliche Veränderung.

519 Ebda., S. 1 2 4 520 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1998, S. 153

Frauengestalten aus der Trivialliteratur

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Frauengestalten aus der Trivialliteratur der Zwischenkriegszeit „Es ist kurze Zeit her, dass die Frauen zu den Problemen der Realität zugelassen sind. Bis dahin waren sie einerseits selbst Teil der Realität, andererseits Fiktion des Mannes. Wie Kinder, die gar zu viel auf einmal nachzulernen haben, wagen sie sich nicht ans Spiel. In 20 Jahren mag das alles anders sein."' 21

Im Folgenden soll nicht nur die neue Weiblichkeitskonstruktion, die in einigen sehr beliebten Werken der Trivialliteratur der Zwischenkriegszeit porträtiert wird, sondern auch die literarische Spaltung in die Existenz einer weiblichen und einer männlichen Sicht der Weiblichkeit dargestellt werden. Die Lektüre verschiedener Romane der zwanziger Jahre zeigt die radikale Veränderung des dargestellten Frauenbildes in der Hochliteratur. Neben den sozialen und historischen Faktoren ist dafür auch die Geschlechtszugehörigkeit des Schreibenden ausschlaggebend. Wie die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger in ihrem Essay Frauen lesen anders betont hat, gibt es sowohl in der Lektüre als auch in der Phase des Schreibens eine geschlechtsspezifische Auseinandersetzung mit dem Text. In Bezug auf ihre eigene Autobiographie behauptet sie: „Der Großteil meines Publikums ist weiblich [...] Das Buch hat einen feministischen Grundzug, und man findet darin die schwersten Vorwürfe gegen das Patriarchat." 5 "

Und weiter: „Doch fast jeder Mann, der das Buch gelesen hat, trägt sich mir als Widerlegung meiner hingeworfenen und relativ harmlosen Bemerkung über mein vermutliches Lesepublikum an." 52 '

So schreibt sie in Bezug auf ihre Uberzeugung, dass „Frauen mehr über Gut und Böse wissen als Männer, die das Gute oft trivialisieren und das Böse dämonisieren".'24 Aus Ruth Klügers These ergibt sich die logische Konsequenz: Wenn Frauen

521 Capovilla, Andrea: Die Kunst, brauchbar zu schreiben. Gina Kaus - Romanautorin, Emigrantin, Drehbuchschreiberin. In: Wiener

Zeitung.

März 2000, S. 10

522 Klüger, Ruth: Frauen lesen anders. München: dtv 1996, S. 91 523 Ebda., S. 91 524 Ebda., S. 91

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

anders lesen, müssen sie auch anders schreiben,52' weil sie die Ereignisse aus einer anderen Perspektive beobachten und deshalb auch darstellen. Man kann also behaupten, dass sich die Sensibilität, die Beobachtungsfähigkeit und die Schreibart einer Autorin von der eines Autors unterscheiden. Diese Spaltung wird besonders in der so genannten Trivialliteratur deutlich, während in der „Hochliteratur" weiterhin nur Männer zu Ruhm und Ehre gelangen konnten. In der Zwischenkriegszeit hingegen, als die Massengattung Trivialliteratur entstand, haben auch viele Frauen durch das Schreiben Popularität erlangt. In der Literaturgeschichte der zwanziger Jahre wurde also durch Gattungskoordinaten und Geschlechtsorientierung eine neue Phase der Weiblichkeit eingeläutet. Allerdings wurde diese neue Form der Weiblichkeitsdarstellung nicht immer realisiert. Autoren wie Hugo Bettauer und Felix Dörmann, ebenso Vertreter der Trivialliteratur der Zwischenkriegszeit, zeichnen die weibliche Gestalt - in Anlehnung an Schnitzler - noch mittels der zur Jahrhundertwende üblichen Charakterisierung. In den Werken dieser Autoren ist die Frau noch keine Frau, sondern ein stereotypes süßes, armes und ausgenütztes Mädchen der Vorstadt, das Opfer des Mannes. Das schnitzlerische Modell der Weiblichkeit wird beibehalten und präsentiert ein Frauenbild, das trotz der sozialen Fortschritte der Zeit noch Synonym für Ausbeutung und finanzielle Abhängigkeit ist. Ganz anders die Darstellung der Weiblichkeit bei Autorinnen wie Gina Kaus oder Vicki Baum. Sie zeichnen das Bild einer emanzipierten Frau, die Herrin ihres Lebens ist und den Mann nicht mehr braucht. Die Selbstständigkeit der Frau, die ökonomisch wie auch sozial unabhängig ist, spiegelt ihre alltägliche und reale Position in den zwanziger Jahren wider. Die innovative Beschreibung der weiblichen Gestalt, die vor dem zeithistorischen Hintergrund dargestellt wird, betont nicht nur die Frau als eine reale, lebendige und konkrete Figur — nicht mehr als Bild der Imagination —, sondern weist auch darauf hin, dass die klischeehafte Weiblichkeitsdarstellung endgültig überholt ist. Definiert man Trivialliteratur als klischeehaft und kitschig, darf man die Romane von Gina Kaus nicht zu dieser Gruppe zählen. Zwar zielen ihre Werke in erster Linie auf Unterhaltung ab, doch sind sie nicht „trivial" im Sinne von banal oder minderwertig. In diesem Zusammenhang sehe ich die Bemerkungen von Patrizia Guida-Laforgia als einen interessanten und wichtigen Beitrag zur Diskussion. Sie bestätigt meine Uberzeugung, dass die Romane weiblicher Autoren der Zwischenkriegszeit zu Unrecht als „trivial" abgestempelt wurden, weil die gewöhnlichen Merkmale eines typischen Trivialromans fehlen.

525 Vgl. Virginia Woolfs A room ofone's own, S. 27 f.

Frauengestalten aus der Trivialliteratur

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„The women of her [Gina Kaus'] novels are never naive little virgins. On the contrary they are enterprising and bright charmers. [...] Even the male characters escape the traditions of the popular novels in which they are usually portrayed as virile and powerful people. The men in Kaus's novels have weak personalities. [...] A surprising aspect of the general structure of Gina Kaus's novels is that they rarely have a happy ending which is the usual case in traditional love stories. On the contrary, her stories leave one with a bitter taste."526 Die Unterhaltungsromane weiblicher Autoren der Zwischenkriegszeit sind banal, alltäglich und realitätsnah, aber sicher nicht trivial. Das Wort „trivial", heute synonym für „platt", „abgedroschen", „alltäglich" oder „gewöhnlich", bezeichnet eine Gruppe von literarischen Texten, die in der Literaturwissenschaft seit langem als klischeehaft, kitschig und simpel gelten. Die feste Uberzeugung vieler Germanisten 517 , dass es „zwei Literaturen, die ziemlich fremd nebeneinander hergehn: eine wirkliche und eine bloss scheinbare".518 gibt, wird auch von Hermann Broch in seiner Analyse der Rolle des Kitsches in der Kultur der Zwischenkriegszeit bestätigt. Broch identifiziert die Trivialliteratur mit dem Begriff des Kitsches und des künstlichen Bösen. „Gute Kunst", schreibt Broch in Dichten und Erkennen, „ist die ästhetische Konkretisierung des Ethischen." 529 A b den sechziger Jahren wurde diese „minderwertige" Literatur dann wieder mehr geschätzt, vor allem von einer neueren Generation von Lesern. Die Regeln der Literaturwelt und der Kultur der Zwischenkriegszeit haben sich in der Folge von sozialen und historischen Ereignissen geändert. Der kapitalistische Produktionsprozess, die Tendenz, den Menschen nur als Massenphänomen zu betrachten, ist nicht nur Merkmal des alltäglichen Lebens, sondern auch der Kulturproduktion der Ersten Republik.

526 Guida-Laforgia, Patrizia: Invisible Women Writers in Exile in the U.S.A. Wien: Peter Lang 1995, S. 34 527 Domagalski, Peter: Trivialliteratur. Freiburg: Herder 1981, S. 9f. Schon in der Goethezeit teilte die klassisch-romantische Literaturtheorie die Gesamtheit der fiktionalen und lyrischen Texte in zwei einander ausschließende Klassen: Kunst und Unkunst, wobei die Grundlage einer solchen Trennung bestimmte Eigenschaften des Werks, des Lesers und des Autors waren. 528 Falck, Lennart: Sprachliche „Klischees" und Rezeption. Empirische Untersuchungen zum TrivialitätsbegrifF. In: Zürcher Germanistische Studien. Bern: Peter Lang Verlag 1992, S. 1 529 Broch, Hermann: Das Böse in dem Wertsystem der Kunst. In: Hermann Broch, Dichten und Erkennen. Band I. Zürich: Rhein Verlag 1955, S. 311-350

Beispiele aus der österreichischen Literatur „Es ist die Masse, die eingesetzt wird. Als Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur."5'0

Die Produktion, die Rezeption und die Distribution von literarischen Werken erlebten eine Veränderung: Die überholte Figur des innerlich zerrissenen, einsamen Schriftstellers, der Opfer seelischer Verstörungen war und sein Werk händisch verfasst, verschwindet und wird durch die Figur eines „kollektiven" Autors ersetzt, der Druckmaschine. Die Produktion wird schneller, umfangreicher und billiger, so dass die Texte auch von einem Massenpublikum gelesen werden können. Das bedeutet, dass das neue Publikum nicht mehr eine Elite von Lesern, sondern die Masse ist, die die neuen Bestseller der Literatur an jeder Straßenecke finden kann. Diese neue literarische Massenproduktion wird durch einige Kennzeichen charakterisiert: 1) Klischeehaftigkeit 2) Einfachkeit 3) Eindeutigkeit Lennart Falck behauptet in seiner Studie Sprachliche „Klischees" und Rezeption, dass die Sprachform der Trivialliteratur „durch den Gebrauch ausschließlich wohlvertrauter, semantisch eindeutig bezeichneter, einfacher Lexeme, durch leicht auffaßbare Bildlichkeit, durch regelrechte Hauptsätze, [...]""'

gekennzeichnet sei. Die Klischeehaftigkeit dieser Gattung wird in der Redundanz der Adjektive sichtbar, die die Umgangssprache widerspiegelt, wie auch in der Bildhaftigkeit der erzählten Szene. In Hugo Bettauers Roman Die freudlose Gasse sind diese stilistischen und inhaltlichen Kennzeichen deutlich bemerkbar. „Sie wickelte den dichten Schleier von dem Goldhütchen, ließ den Pelz von den Schultern auf den Teppich gleiten und stand nun in ihrer ganzen jugendlichen Schönheit vor dem Mann [...] Das goldgestickte schwarze Seidenkleid floß weich von den schneeweißen Schultern zu den schwarzen Seidensandalen. Die fleisch-

530 Kracauer, Sigfried: Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 51 531 Falck, Lennart: Sprachliche „Klischees" und Rezeption. Empirische Untersuchungen zum Trivialitätsbegriff. In: Zürcher Germanistische Studien. Bern: Peter Lang Verlag 1992, S. 11

Frauengestalten aus der Trivialliteratur

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farbenen Seidenstrümpfe umschlossen die schlanken feinen Beine, die wie nackt

aussahen" (Diefreudlose Gasse, S. 5). Auch die Einfachheit und die Eindeutigkeit des Inhalts und der Entwicklung des Erzählstoffes charakterisieren die Unterhaltungsliteratur. Der Leser braucht weder höhere Bildung oder spezielle Kenntnisse, um den Text zu verstehen, denn die Adjektive, die häufige Parataxe und die stereotype, manchmal auch banale Erzählsituation tragen zum Verständnis des Inhalts bei, und wecken gleichzeitig die Neugier, die Phantasie und das Interesse des Lesers. Genau genommen sind sie also ein wichtiges Kommunikationsmittel für eine direkte und objektive Darstellung der Frauenfrage. Das neue, realitätsnahe Frauenbild äußert sich auch im neuen Stellenwert der Mutterschaft. War sie bei Schnitzler oder Musil noch ein negatives Element, Ursache für den Tod der Heldin, wird sie z. B. in den Romanen von Gina Kaus als zentral für die Vereinigung der Geschlechter gesehen. Ein Beispiel dafür ist Gina Kaus' Roman Die Schwestern Kleh, in dem eine der beiden Protagonistinnen, Irene, erfolglos schwanger zu werden versucht, um ihre Liebesbeziehung mit Alexander zu retten. Nur die Schwangerschaft ihrer emanzipierten Schwester Lotte kann die Situation kurzfristig retten, da Irene die Leute glauben lässt, Lottes Kind sei ihr Kind. Erstaunlicherweise hat sich die Autorin für eine Schwangerschaft der „männlichen" weiblichen Gestalt des Romans und nicht der „traditionellen" Hausfrau Irene entschieden. Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Emanzipation die Schwangerschaft als eines der wichtigsten Attribute von Weiblichkeit nicht verleugnet. Trivial und anachronistisch hingegen ist die anhaltende Darstellung des stereotypen Frauenbildes, auf das die männlichen Autoren auch in der Zwischenkriegszeit wieder zurückgreifen, als ob sie die emanzipierte Position der Frau negieren wollten. Die männlichen Autoren wollen von der imaginierten Weiblichkeit nicht abgehen, da das ein Eingeständnis ihrer Schwäche und Unsicherheit bedeuten würde. Hugo Bettauer spielte im kulturellen Leben der Zwischenkriegszeit eine besondere Rolle. Zwei Daten sind im „Fall Bettauer" von besonderer Bedeutung: 1924 die Gründung der Zeitschrift Er und Sie az, und 1925 die Ermordung Bettauers auf offener Straße durch Otto Rothstock, einen psychisch gestörten Zahnarzt mit nationalsozialistischen Ideen.

532 Murray Hall, G: Der Fall Bettauer. Wien: Locker Verlag 1978, S. 220. Diese Zeitschrift interessierte sich für weibliche Probleme und Erotik und wurde als Beratungsmittel für Frauen bezeichnet. Doch wurde sie ebendieser Themen wegen als „unmoralisch und gefahrlich" für die Jugend betrachtet.

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

Die Besonderheit im Fall Bettauer liegt darin, dass Rothstock für unzurechnungsfähig erklärt und in einer psychiatrischen Klinik interniert wurde. Die Tatsache, dass die dortigen Arzte der Familie Rothstock die Erlaubnis gaben, den freigesprochenen Sohn wieder nach Hause zu bringen, schockierte die Öffentlichkeit. Aber der Name Hugo Bettauers ist nicht nur mit dem „Fall" Bettauer verbunden, sondern auch mit der in den zwanziger und dreißiger Jahren erfolgreichen Trivialliteratur. Romane wie Die Stadt ohne Juden (1922), Das entfesselte Wien (1923) oder Die freudlose Gasse (1924) stießen auf reges Publikumsinteresse, so dass alle drei Bücher noch vor dem Zweiten Weltkrieg verfilmt wurden. Bettauer, der durch seine Ermordung und den folgenden Freispruch für seinen Mörder zum Symbol für ein pervertiertes bürokratisches Gerichtssystem und für die Parteilichkeit des Justizsystems wurde, hat in seinen Werken die Heuchelei, die moralische Armut und die Versteinerung der Wiener Gesellschaft dargestellt, die nur scheinbar und nach außen Modernität zu proklamieren versucht hat. Hugo Bettauer, 1872 in Baden geboren, am Gymnasium Schulkamerad von Karl Kraus, arbeitete zunächst als Journalist in Zürich, bevor er in Amerika das väterliche Erbe verlor und sich von seiner ersten Frau trennte. Zurück in Europa, fand er in Berlin eine Anstellung bei einer Zeitung. Wegen seiner revolutionären Ansichten wurde er jedoch gezwungen, seine Stelle aufzugeben und lebte fortan als Bohemien. Mit seiner zweiten Frau verließ er die deutsche Hauptstadt und übersiedelte nach New York, wo er mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit begann. Es folgten fünf erfolgreiche Romane. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er als Kriegskorrespondent für eine amerikanische Zeitung engagiert, und nach dem Krieg war er in Wien als „Sozialjournalist" tätig. Die Spuren seiner journalistischen Tätigkeit sind auch in seinen Romanen erkennbar, so dass man sie als Chronikromane bezeichnen kann. Das große Interesse Bettauers für die politischen Ereignisse im Wien der Ersten Republik erklärt, weshalb er die Geschichte der Ersten Republik als historischen Hintergrund für seine Romane gewählt hat. Alle Romane Bettauers sind konkrete Bilder einer politischen und sozialen Epoche der Wiener Geschichte: der Zwischenkriegszeit. In Bettauers literarischer Produktion ist Wien die Bühne der erzählten Situation; ein Wien, das „in den zwanziger Jahren Osterreich so gut wie identisch mit der Hauptstadt"533 erscheinen lässt und das 533 Schmidt-Dengler, Wendelin: Abschied von Habsburg. In: Literatur der Weimarer Republik 1918-1933. Hrsg. von Bernhard Weyergraf. München: dtv 1995, S. 502f. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Allegorie des Kärntner Friederich Anton Perko-

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„alle Fesseln der Tradition zerbrochen hat, [...] wird von der großen Vergangenheit nicht mehr getragen, sondern belastet, ist zügellos geworden, ohne frei zu sein, weiß nicht, nach welcher Richtung es sich bekennen soll."" 4

Auch der Kriminalroman Die freudlose Gasse, ist ein Bild der Zwischenkriegszeit und „Symbol fiir eine ganze Stadt, die ganze Welt und das ganze Leben geworden"» 5 , in dem die Bewohner der Melchiorgasse, der so genannten „freudlosen Gasse", die Gestalten einer Kriminalgeschichte sind. Das Opfer ist eine junge, schöne, reiche und elegante Frau, die mit einem berühmten Anwalt verheiratet ist. Ihr Name ist Frau Lia. Den Abend, an dem sie ermordet wird, verbringt sie mit ihrem Liebhaber, Egon Stirner, einem skrupellosen Spekulanten, in einem Absteigequartier. Mit Lias Einverständnis entwendet der Spekulant Stirner dort ihre Perlenkette, um diese in Italien zu verkaufen. Als Egon die Frau allein in der Wohnung zurücklässt, ist sie noch am Leben, doch am nächsten Tag wird sie von der Polizei dort tot aufgefunden. Die Täterin ist Marie Leicher, eine alte Freundin, die auf Lias Position und Reichtum neidisch geworden war. Diese Hauptgeschichte verbindet sich mit einer Nebengeschichte, deren Gestalten ein junges Mädchen, Grete, und ein Journalist, Freund von Frau Lias Ehemann, Otto Demel, sind. Grete, die sich um die ökonomische Situation ihrer Familie kümmern soll, bittet Frau Greifer, eine Schneiderin, die auch Besitzerin eines Bordells ist, um Geld, ohne die Möglichkeit zu haben, es ihr zurückzugeben. U m die Schulden bei Frau Greifer zu bezahlen, akzeptiert Grete das Angebot von Frau Greifer und beginnt im Bordell zu arbeiten, ohne dass Otto Demel, der sich inzwischen in Grete verliebt hat, etwas davon weiß. Trotz verschiedener theatralischer Streitereien endet der Roman mit einem Happy End. A u f der Bühne der Zwischenkriegszeit bewegen sich Gestalten, die stets mit Geld oder mit Menschen spielen. Sie sind Spekulanten wie Egon Stirner, Symbol des neuen Reichtums, der eine ahnungslose elegante Frau ausnutzt, u m sich an ihr zu bereichern, oder Frau Greifer 5 ' 6 , eine Schneiderin, die gleichzeitig ein ex-

nig, der Wien mit einer Mutter verglichen hat, die ihre Kinder, in allegorischem Sinn die Bundesländer, vergessen hat. 534 Bettauer, Hugo: Das entfesselte Wien. Salzburg: Hannibal Verlag 1980, S. 99 535 Ebda., S. 291 536 Gemeinsamkeiten dieser Gestalt mit Frau Rattazzi, der Tanzlehrerin des Romans Jazz (1925) von Felix Dörmann, sind augenfällig. Beide sind skrupellose Frauen, die eine „ungewöhnliche" Position erreicht haben. Die Worte von Frau Rattazzi: „Wir Frauen machen unsere Karriere immer durch die Betten der Männer" (S. 102), zeigt die Rolle der Frau und zu welchem Preis sie sich ihre Position erkämpfen muss.

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klusives Bordell führt. Aber die Gestalten Bettauers sind auch Opfer wie Grete, die gezwungen ist, sich um jeden Preis an Spekulanten zu verkaufen, um ihrem tristen Leben zu entkommen,537 sei es aus wirklicher Not oder aus dem Bedürfnis nach Erfolg. Schon diese knappe Darstellung zeigt, dass Bettauer und Schnitzler (in seinem Fräulein Else) ähnliche Themen behandeln. Else und Grete könnten als Schwestern betrachtet werden, denn beide verkörpern eine ausgebeutete und schwache Weiblichkeit und sind zudem noch Opfer des Inflationsprozesses der Zwischenkriegszeit. Die dreißigtausend Gulden, um die Else Herrn von Dorsday bittet, sind für Grete zehn Millionen geworden. Der Preis fiir die Frau ist scheinbar gestiegen, während die Zahlungsbedingungen dieselben geblieben sind: Die Frau muss sich dem Mann verkaufen. Die Worte von Frau Greifer, „Sein Sie g'scheit, dann ist Ihr Glück besiegelt. Sie schwimmen im Geld und können mir auch das meinige zurückgeben" 5 ' 8 ,

klingen wie die Negierung von Gretes Wert als eigenständige Frau. „Die nackten Weiber, die auf einen nackten Mann mit Peitschen losschlugen"539

sowie „zwei junge, bildhübsche Geschöpfe auf dem Podium, nur in seidene Tücher gehüllt, die sie langsam gleiten ließen"540,

sind Mittel zum Gelderwerb der skrupellosen Spekulantin Frau Greifer. Bedeutungsvoll und interessant ist meiner Meinung nach auch der Vergleich mit Horväths Theaterstück Geschichten aus dem Wiener Wald. In beiden Texten wird das Thema des Mädchenopfers erwähnt, aber mit einem erheblichen Unterschied. Während die Hauptgestalt von Bettauers Roman — Grete — gezwungen ist, sich selbst zu verkaufen und ihren Körper als Mittel zu verwenden, um Geld für den Unterhalt ihrer Familie zu verdienen, verkauft sich Marianne541, die

537 Diese Themen sind auch der Stoff von Felix Dörmanns Jazz, wobei die männliche Hauptgestalt Egon Kalmar die Rolle des Börsenspekulanten und die Baronesse Marianne - Künstlername Natascha - die Rolle des ausgenützten Mädchens spielt. 538 Bettauer, Hugo: Das entfesselte Wien. Salzburg: Hannibal Verlag 1980, S. 126 539 Ebda., S. 129 540 Ebda., S. 209 541 Man könnte auch eine starke Ähnlichkeit mit der weiblichen Hauptfigur des Romans

Frauengestalten aus der Trivialliteratur Hauptfigur aus Horväths Text, um eine unabhängige Position zu erreichen und gegen die strengen und traditionellen väterlichen Uberzeugungen zu rebellieren. „Ich verdiene hier zwei Schilling pro Tag. [...] D u [der Vater] hast mich ja nichts lernen lassen, nicht einmal meine rhythmische Gymnastik, du hast mich ja nur für die Ehe erzogen."542

Aber der Vergleich zeigt auch eine Ähnlichkeit: Beide Mädchen sind Attraktionen für Männer geworden; sie wurden „geschaffen" 5 '", um die Leidenschaft und den sexuellen Trieb des Mannes zu wecken. Sie sind nur Puppen, Marionetten ohne Persönlichkeit, Spielzeuge in den Händen eines Schöpfers, der mit ihnen spekuliert.544 „Sie wollte keine Spielpuppe der Männer, kein Schauobjekt der Menge werden, das man für Geld beklatscht oder auszischt", oder wie Marianne aus Dörmanns Roman selbst behauptet: „Ich komme mir wie eine Gliederpuppe vor, die mechanisch bewegt wird: Wenn der Spieler die Fäden aus der Hand gleiten läßt, dann klappt die Puppe zusammen - ich - bin so weit."545

Jazz feststellen; eine Ähnlichkeit, die nicht nur wegen des Namens der Gestalt - beide Mädchen heißen Marianne

sondern auch wegen ihrer Tätigkeit als Tänzerinnen in

einem Lokal besteht. 542 Horvath, Odön von: Geschichten aus dem Wiener Wald. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 74 543 Die Verwendung dieses Verbs ist nicht zufallig. Silvia Bovenschen hat in Die imaginierte Weiblichkeit einen Brief Flauberts an Louise Colet zitiert, worin er schreibt: „Die Frau ist ein Erzeugnis des Mannes. Gott hat das Weibchen geschaffen und der Mann die Frau; sie ist das Resultat der Zivilisation, ein künstliches Werk" (S. 43). Die Frau als männliche Schöpfung findet auch eine Entsprechung in der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts: das Theaterstück Pygmalion von Bernard Shaw. 544 Das Thema der Frau als sexuelle Attraktion wird schon in dem Theaterstück Lulu von Franz Wedekind gezeigt. Der Tierbändiger im Prolog spricht: „Hereinspaziert in die Menagerie, / Ihr stolzen Herrn, ihr lebenslust'gen Frauen, / Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen / Die unbeseelte Kreatur zu schauen, / Gebändigt durch das menschliche Genie. / Hereinspaziert, die Vorstellung beginnt!" 545 Beide Zitate stammen aus dem Roman F. Dörmanns: Jazz. Warnsdorf: Strache, S. 132320

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Auch Felix Dörmann, dessen Lebensgeschichte in der deutsch-österreichischen Literaturgeschichte von Eduard Castle nur in wenigen Worten erzählt wird, kann als Beispiel fiir eine traditionelle Weiblichkeitsdarstellung betrachtet werden. Dörmann hat mit seinen zwei Gedichtbänden, Neurotica und Sensationen., mit Dramen wie Die ledigen Leute oder Die Frau Baronin und mit Romanen wie der erfolgreiche Jazz das berühmteste Schnitzler sehe Thema, das „süße Mädel", zum Mittelpunkt seiner Kunstproduktion gewählt. In Dörmanns Werken ist die Protagonistin stets eine Frau, die ahnt oder erkennt, dass sie sich eigentlich um den Gegenwert eines guten Lebens dem Meistbietenden verkaufen sollte.' 46 D a s Thema der Käuflichkeit der Frau findet im Roman Jazz sein bestes Beispiel. Es ist die Geschichte der Offizierstochter M a r i a n n e von Hartenthurn, die nach dem Tod ihres Vaters allein mit einem Dienstmädchen im alten Familienhaus wohnt. Infolge akuten Geldmangels denkt Marianne an die Möglichkeit, einen Teil des Hauses zu vermieten. Als Mieter tritt Egon Kalmar auf, der durch illegale Tätigkeiten reich geworden ist. Obwohl sie nun unter einem Dach wohnen, haben sie fast nie die Gelegenheit, einander zu treffen. A m Weihnachtsabend jedoch, an dem Egon Marianne seine Unterstützung anbietet, u m ihr ein besseres Leben zu ermöglichen, erzählt er ihr von Frau Rattazzi, einer Tänzerin, die eine Tanzschule leitet. Marianne wird als Attraktion für das Lokal engagiert. Von diesem Augenblick an verliert Marianne ihre Identität: Sie wird zu Natascha. Marianne, die Egon nie geliebt hat, lernt Leo kennen, den Sohn der Besitzerin des Palais Wallstein, das Egon gekauft und renoviert hat. Leo und Marianne beginnen eine Liebesbeziehung, und der eifersüchtige Egon inszeniert eine Intrige. Die Folge ist der Selbstmord Leos. Marianne, die keinen Verdacht gegen Egon hegt, heiratet ihn, aber während eines Streites erzählt er ihr die ganze Wahrheit über Leos Tod. Allein, betrogen und verzweifelt beginnt Marianne, an Rache zu denken — sie plant, Egon im Stich zu lassen. Durch die Hilfe eines reichen Geschäftsmannes, der schon lange von der Schönheit Mariannes fasziniert ist, treibt Marianne Egon in den finanziellen Ruin. Aber als Gegenwert muss sie sich dem Mann verkaufen. Ohne den M u t zu haben, einen so hohen Preis zu zahlen, verursacht sie einen Autounfall, als die beiden Wien mit dem Wagen verlassen. Der Roman endet mit dem Tod beider. Der dramatisch geplante Selbstmord Mariannes, die den Verkauf ihres Körpers nicht ertragen kann, weil sie

546 Schneider, Helmut: Felix Dörmann. Eine Monographie. Wien: V W G O E 1 9 9 1 , S. 5

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„keine Spielpuppe der Männer, kein Schauobjekt der Menge werden wollte, das man für Geld beklatscht oder auszischt"547 ,

erinnert an den Elses, wobei beide Frauen Opfer eines Erniedrigungsprozesses und einer Reduktion der Frau auf den Wert ihres Körpers sind. Die Figur der Frau wird jedoch nicht nur als Opfer gezeigt, sondern auch als Spekulantin wie Frau Rattazzi oder als androgenes Wesen wie Frau Doktor HefFter. Während die weibliche Gestalt eine durchgehende Verwandlung erlebt, die die Metamorphose des Weiblichen im Laufe der Zeit beschreibt, bleibt Egon der unveränderte Prototyp des Spekulanten und des Neureichen. Die Gestalt des Spekulanten taucht oft als Hauptperson auf. Schnitzler präsentiert Herrn von Dorsday als Geschäftsmann, dessen Herkunft und Vergangenheit im Dunkeln bleiben; Dörmann präsentiert Kalmar als Prototyp eines auf illegale Weise zu Reichtum gelangten Mannes, ebenso wie Bettauers Egon Stirner im Roman Die freudlose Gasse. Illegale Geschäfte, Betrügereien, sich auf Kosten anderer bereichern, das sind die Methoden einer Gesellschaft, die durch die Inflation zu Geld gekommen ist und eine privilegierte Position erlangen will. „ A m liebsten lieh er eigentlich Damen, denn die hatten meistens etwas, was sie verpfänden konnten, einen Ring oder eine Kette, oder kamen auf eine andere Art wieder zu größeren Summen." 548

Diese Notwendigkeit, auf welche Weise auch immer zu Geld zu kommen, ist in diesem Roman eine Lebensnotwendigkeit geworden, da man ohne Geld nicht überleben kann. Alle sind ständig auf der Suche nach Geld, und so wie Macchiavelli im Traktat II Principe geschrieben hat, „il fine giustifica il mezzo" (der Zweck heiligt die Mittel), behauptet auch Marianne: „Irgendwas mußte geschehen. Von irgend einer Seite mußte Geld kommen." 549

Geld hat bezüglich der unterschiedlichen Sichtweisen von Mann und Frau eine doppelte Bedeutung. Vom männlichen Standpunkt aus bedeutet es die Möglichkeit, eine Frau zu kaufen und zu besitzen; aus weiblicher Perspektive bedeutet es Freiheit, ein besseres Leben, die Verwandlung in eine Dame. Während aber der Mann das Geld ohne weitere Bedingungen borgen kann, muss die Frau Zinsen 547 Dörmann, Felix: Jazz. Warnsdorf: Strache, S. 132 548 Ebda., S. 65 549 Ebda., S. 13

Beispiele aus der österreichischen Literatur

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bezahlen, und das bedeutet den Gegenwert ihres Körpers. Das gilt sowohl für Schnitzler als auch für Dörmann und Bettauer. Mädchenopfer, die die Puppenrolle spielen, Spekulantinnen oder schließlich androgyne Frauen wie Frau Doktor Heffter — „als Faun sah [sie] mit den zierlichen Hörnchen und in ihrer knabenhaften Schönheit fast so bezaubernd aus; eine Frau, die nur von Frauen geliebt und bewundert und von Männern als Greuel und defektuöse Unweiblichkeit empfunden wird — keine Frau mehr — und noch immer kein Mann" 550 ,

— sind Spiegelungen der „Evolution" der weiblichen Emanzipation. Die Romane Hugo Bettauers und Dörmanns bestätigen die neue Lebensordnung der Wiener Gesellschaft der zwanziger Jahre, die von Inflation551, Illegalität und Prostitution geprägt war. Im Schatten eines Mäzens zu leben ist nicht nur ein fiktionales Thema der Unterhaltungsliteratur der zwanziger Jahre, sondern auch tatsächliche Realität für viele Frauen der Zwischenkriegszeit. Mit Persönlichkeiten wie Gina Kaus oder Vicki Baum eröffnet sich in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit die Darstellung einer neuen literarischen Weiblichkeit, die nicht länger Bild der männlichen Imagination ist, sondern konkrete Realität. Die Frau beginnt eine Existenz als selbstständiges Individuum zu führen und lässt ihre auf das Opfer des Mannes beschränkte Rolle hinter sich. Die weiblichen Gestalten der Romane Gina Kaus' sind Frauen, die die Naivität, die Kindlichkeit und die Unschuldigkeit der Frauengestalten Schnitzlers überwunden haben. Sie sind emanzipierte Frauen, die im Namen und unter dem Eindruck eines harten Kampfes gegen die Macht, die Ausbeutung und die Präpo-

550 Ebda., S. 261 551 Ebda., S. 126. Dörmann schreibt: „Die Inflation steigt wie das Manometer eines überheizten Kessels, der vor der Explosion steht. Niemand will noch Kronen besitzen, sondern nur mehr Realwerte." Das Problem der Prostitution und der vielen Razzien wird von Bettauer gezeigt, wenn er das Bordell Frau Greifers mit folgenden Worten beschreibt: „Rauch, Lärm, grelles Lachen, Klavierspielen umgab sie. Herren im Sakkoanzug, Smoking, Frack. An die zehn oder zwölf Mädchen, in tief ausgeschnittenen Abendkleidern, saßen neben den Herren, auf ihren Knien, tanzten, tranken Champagner, lachten und sangen" (S. 208). Über das Thema der Illegalität schreibt Dörmann in Jazz bei der Darstellung der Wohnung von Lise Varnay und Anka von Bergen, die in ein Casino verwandelt wurde: „Auch sonst war die Wohnung mit Vorsichtsmaßregeln aller Arten ausgezeichnet versehen. [...] Gefahr war die Polizei, die darauf aus war, Spielgesellschaften auszuheben, die Anwesenden zu perlustrieren und nach Möglichkeit abzuschieben" (S. 62).

Frauengestalten aus der Trivialliteratur

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tenz des Mannes aufgewachsen sind. Sie haben den Mut und das Selbstbewusstsein gefunden, eine klar definierte Rolle als aktives, engagiertes Mitglied der Gesellschaft zu erfüllen. In der literarischen Produktion Gina Kaus' sind alle weiblichen Gestalten die perfekte Spiegelung eines Teils der Autorin, die sich in jeder ihrer Gestalten, die lebendig, konkret und wirklichkeitsnah bleiben, selbst findet. Diese Frauen sind kein Imaginationsbild, keine männliche Vorstellung, keine Verkörperung von Leidenschaften oder Wünschen, sondern Geschöpfe, die von der Gesellschaft und dem Partner völlig unabhängig sind. Sie sind keine Puppen oder Opfer eines patriarchalischen Systems, sondern Resultat eines emanzipatorischen historischsozialen Kampfes, der den Frauen echte Würde geschenkt hat. Eine dieser Frauen ist Gina Kaus, die in Osterreich erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wieder entdeckt wurde. Georg Froeschel bezeichnet sie als „eine der geistreichsten Frauen in Wien", „die in ihrem Denken der eigenen Zeit weit voraus war"" 2 . Auch Patrizia Guida-Laforgia beschreibt die literarischen Qualitäten Gina Kaus': „Her talent as a writer, her passion for intrigue, her capacity to investigate the psychology of her characters, and her ability to analyze feelings were intimately connected to her own existence."" 5

Die große Fähigkeit dieser Autorin, die Gestalten ihrer Romane auch von einem psychologischen Gesichtspunkt aus zu beschreiben, rührt aus ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit Alfred Adlers Individualpsychologie. Tatsächlich besuchte Gina Kaus Adlers Vorlesungen und war von ihm und seinen Thesen beeindruckt und beeinflusst. „Gemeinsam mit ihm [Otto Kaus] hörte sie bei A l f r e d Adler Vorlesungen, die sie beeindruckten und die auch ihre literarische Arbeit beeinflußten."" 4

552 Malone, Dagmar: Gina Kaus. In: Deutsche Exilliteratur seit 1933. Bd. 1. München: Winkler 1976, S. 752 553 Guida-Laforgia, Patrizia: Invisible Women in Exile in the U.S.A. Wien: Peter Lang 1995, S. 28 554 Gürtler, Christa/Schmid-Bortenschlager, Sigrid: Erfolg und Verfolgung. Österreichische Schriftstellerinnen 1918-1945. Wien: Residenz Verlag 2002, S. 210

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

Die Individualpsychologie Adlers, die auf der menschlichen „Seelenbewegung" gründete und den Menschen als ein Individuum sah, das in Liebe, Beruf und Gesellschaft auf der Suche nach seiner Verwirklichung ist, betont die Rolle der Alltagsumgebung als wichtigsten Faktor für die menschliche Bildung, auch von einem geschlechtsspezifischen Gesichtspunkt aus. In seinem Werk Menschenkenntnis beschreibt Adler die Gegenüberstellung der Geschlechter z. B. in Bezug auf die Arbeitswelt. Er erklärt, dass „die Frau, zufolge ihrer Körperbeschaffenheit von bestimmten Leistungen ausgeschlossen wird, während es andererseits gewisse Arbeiten gibt, die man Männern nicht zuweist, weil sie ihnen ihrer besseren Verwendbarkeit wegen nicht eigentlich gelegen sind".555 Adlers Uberzeugung von der Existenz einer Zweigeschlechtlichkeit, in der es eine „privilegierte Gruppe, die Männer" 556 gibt, öffnet ihm den Weg zum Studium der „unprivilegierten", der Frauen. Die intellektuelle Position Adlers kann also als „weiblich" bezeichnet werden, wie auch seine Typologisierung der Frau in zwei Kategorien: „Der eine Typus wurde bereits gestreift. Es sind jene Mädchen, die sich nach einer aktiven, „männlichen" Richtung hin entwickeln. [...] Sie versuchen ihre Brüder und männlichen Kameraden zu übertreffen, wenden sich mit Vorliebe Beschäftigungen zu, die dem männlichen Geschlecht vorbehalten sind, betreiben allerhand Sport. Oft wehren sie sich auch gegen die Beziehungen der Liebe und Ehe. Gegen alle Angelegenheiten der Haushaltung bekunden sie eine ungeheure Abneigung, entweder direkt, indem sie dieselbe ganz offen aussprechen, oder indirekt, indem sie sich jedes Talent dazu absprechen und zuweilen auch den Beweis zu erbringen suchen, daß sie zu Arbeiten des Haushaltes nicht die Fähigkeiten hätten.""7 Dieser erste Adlersche Frauentypus versucht mit einer Art Männlichkeit das Übel der Weiblichkeit gutzumachen. Die Abwehrhaltung gegen die Frauenrolle ist ein Grundzug ihres ganzen Wesens. Adler bezeichnet sie mit dem Begriff „Mannweiber". „Zum andern Typus von Frauen gehören jene, die mit einer Art Resignation durchs Leben gehen und einen unglaublichen Grad von Anpassung, Gehorsam und Demut an den Tag legen.""8

555 Adler, Alfred: Menschenkenntnis. Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1966, S. 115 556 Ebda., S. 115 557 Ebda., S. 126 558 Ebda., S. 127

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Die Adler'sche Polarität innerhalb der Weiblichkeitskonstruktion, in der die von ihm dargestellten Frauentypen dem alten und dem modernen Konzept der Weiblichkeit entsprechen, wird auch in Gina Kaus' literarischer Vision der Frau widergespiegelt. Im Roman Die Schwestern Kleh sind Irene und Lotte die Verkörperung zweier verschiedener Möglichkeiten, Weiblichkeit zu erleben: Irene entspricht der traditionellen Frau, d. h. Adlers zweitem Typus, Lotte hingegen der modernen und emanzipierten, d. h. Adlers erstem Typus. Diese doppelte weibliche Natur findet eine deutliche, wenn auch komplexere Entsprechung in Gina Kaus' Produktion. Bei ihr zeigt der Weiblichkeitsdualismus nicht nur die Koexistenz zweier verschiedener, von Gesellschaft und Geschichte determinierter Realitäten, sondern auch die Koexistenz einer Zweigeschlechtlichkeit innerhalb der Weiblichkeit selbst. In diesem Sinn bildet Gina Kaus Weiblichkeit als Ort der Vereinigung der Weiblichkeit mit Männlichkeit ab. „Ich glaube nicht an die Existenz des ,Typisch-Weiblichen. Ich glaube nicht, daß der Körperbau zu einem bestimmten Geschlechtscharakter verpflichtet."559

Bei ihr existiert also keine Gestalt, die ausschließlich weiblich ist, sehr wohl aber eine rein männliche Gestalt. Während die Männlichkeit einseitig auf Schwäche, Unsicherheit, Angst, Depression dimensioniert ist, hat die Weiblichkeit eine doppelte Struktur: Sie ist „männlich" im Sinne der klassischen Bedeutung der Männlichkeit, d. h. selbstbestimmt, selbstbewusst, kräftig und mutig, und „weiblich" im Sinne von echt weiblich. Ihre weiblichen Gestalten haben die körperliche Schönheit von Schnitzlers Else, aber das Selbstbewusstsein einer emanzipierten Frau der zwanziger Jahre. Gina Kaus hat die alte männliche Uberzeugung, dass ein „Mannweib" ihre Weiblichkeit, d. h. ihre Schönheit oder ihre Mutterschaft verleugnen sollte, überwunden. Die moderne Frau behält bei Gina Kaus ihre klassische Weiblichkeit und kombiniert sie harmonisch mit männlichen Attributen. Ihre Erfahrungen, ihre subtile, gleichsam psychoanalytische Menschenkenntnis gehen in ihre Geschichten, die „zügig aus der Avantgarde-Literatur wegführen"sSo, ein und „sie schrieb so gut wie, wenn nicht besser als ihre Freundin Vicki Baum".'61

559 Capovilla, Andrea: Die Kunst, brauchbar zu schreiben. Gina Kaus - Romanautorin, Emigrantin, Drehbuchschreiberin. In: Wiener Zeitung. März 2000, S. 10 560 Mulot-Deri, Sybille: Nachwort zum Roman Von Wien nach Hollywood von G. Kaus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 245 561 Ebda., S. 248

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Gina Kaus' Romane liefern einen wichtigen Beitrag zur Erschließung der Lebensweise, der Gesinnung und des gesellschaftlichen Stils der intellektuellen Szene der Epoche zwischen 1918 und 1938: vom Zusammenbruch des Habsburgerreiches, dessen letztes Aufbäumen sie als junges Mädchen miterlebte, bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus, dessen Grausamkeit sie persönlich als Jüdin und Schriftstellerin kennen gelernt hat.' 62 „Damals, in den zwanziger Jahren, [...] war nicht nur alles erlaubt, sondern auch selbstverständlich. Den Begriff Treue gab es nicht, jeder schlief mit jedem, wann es ihm beliebte, oft nur ein einziges Mal; es gab zwar Liebesverhältnisse, aber auch Liebende trieben es gelegentlich mit anderen, ohne Vorwürfe, ohne Szenen, ohne lange Diskussionen, ohne Witze. Es war selbstverständlich."' 6 '

Schon zu Anfang ihrer literarischen Tätigkeit verlief ihr Leben wie in einem Roman, wobei sie selbst als aktive Figur an den Entwicklungen des geistigen, wissenschaftlichen und künstlerischen Geschehens in Wien beteiligt war. Die „Salonlöwin" Gina Kaus, wie Hilde Spiel sie bezeichnet hatte, lernte in ihren Wiener Jahren berühmte Literaten wie Franz Blei, Franz Werfel, Hermann Broch 564 , Ernst Pollack und Milena Jesenskä kennen, mit der sie eine spannungsreiche Freundschaft begann. 565 Sowohl die Erfahrungen, die sie in der bohemehaften Szene der

562 Gina Kaus ist eine der Autoren, deren Bücher 1938 verbrannt wurden, da sie von den Nationalsozialisten als gefährliche Publikationen betrachtet wurden. Außerdem war Gina Kaus Jüdin und daher gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und über die Schweiz nach Amerika zu flüchten. In dem Buch Invisible Women Writers in Exile in the U.S.A. beschreibt Guida-Laforgia (S. 38), wie die Naziokkupation in Wien Gina Kaus' Leben verändert hatte. „The following day two phone calls marked a new course in her existence: Eduard telephoned their house in Vienna only to find out that the Gestapo were there and the second phone call was to her agent Marton in Paris, who has found her a job." Alle Auskünfte über ihr Leben sind in ihren Memoiren, Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film, gesammelt. 563 Kaus, Gina: Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Hamburg: Albrecht Knaus Verlag 1979, S. 165. Diese sexuelle Freiheit der Geschlechter findet eine Spiegelung auch in der Liebesbeziehung zwischen der Autorin und Otto Kaus, wie Gina Kaus in ihrer Autobiographie schreibt: „[...] aber davon abgesehen schien es uns selbstverständlich frei zu bleiben. Wir hatten uns oft über sexuelle Dinge unterhalten und waren beide davon überzeugt, daß weder Mann noch Frau monogam veranlagt seien und es deshalb richtig sei, jedem seine Freiheit zu lassen." (S. 83). 564 Vgl. ebda., S. 5of. 565 Bakos, Eva: Wilde Wienerinnen. Leben zwischen Tabu und Freiheit. Wien: Ueberreuter 1999, S. 122

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Wiener Literatencafes 566 gemacht hat, als sie die Runde um Franz Werfel, Karl Kraus, Alfred Adler, Hermann Broch und andere Persönlichkeiten der Zeit frequentierte, als auch ihre privaten Beziehungen und Freundschaften stellten Material für ihre Romane und Erzählungen dar. Das ist der Grund, warum Sibylle Mulot-Deri sie als „Zeitgeschöpf" und ihre Romane als „technisch so perfekt, psychologisch so überraschend" bezeichnet hat, „daß es schwer fällt, sie auf der Unterhaltungsebene festzumachen, obwohl es zweifellos auch Unterhaltungsromane sind"' 67 . Sie ist die Spiegelung ihrer Epoche, und gleichzeitig hat sie ihr künstlerisches Talent eingesetzt, um eine objektive, realistische und konkrete Darstellung der Wiener in der Zwischenkriegszeit zu vermitteln. Gina Kaus wird am 21. Oktober 1893 als Regina Wiener in der Sterngasse im ersten Bezirk geboren. Ihre Familie, assimilierte Juden, ist sehr arm und die Angst vor der Armut wird sie das ganze Leben verfolgen. „Mein Vater war arm. Nicht bloß arm — sehr arm. Ich hatte immer nur ein einziges Kleid. Das hat mich sehr gestört, denn ich war immer sehr eitel."' 68

Nicht nur die Armut, sondern auch die Tatsache, dass sie ein Mädchen ist, hat ihre Jugendzeit negativ beeinflusst. Auch in der Familie von Gina Kaus wird die Geburt einer Tochter statt eines Sohns als Unglück gesehen. „Bei der Geburt eines jüngeren Geschwisters oder eines Kindes im weiteren Bekanntenkreis erfahrt das Mädchen, daß man die A n k u n f t eines Sohnes mit größerer Freude, mit größerem Stolz begrüßt, als die einer Tochter."' 69

Die Gleichberechtigung der Frau im politischen Bereich hat deren Lage nicht wesentlich verbessert, denn nach wie vor wird den Mädchen der Zugang zu hö566 Kuh, Anton: Central und Herrenhof. In: Das Wiener Kaffeehaus. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1993, S. 157. Das Kaffeehaus hat in Wien eine alte Tradition als Treffpunkt der Intellektuellen. Zu den bekanntesten zählten das Café Central und das Café Herrenhof. Ersteres frequentierten die Leute, die über „alles was politisch und erotisch revolutionär" war, plaudern wollten; letzteres jene, die „Mumien bleiben wollten", behauptet Kuh ironisch. 567 Gürtler, Christa/Schmid-Bortenschlager, Sigrid: Erfolg und Verfolgung. Osterreichische Schriftstellerinnen 1918-1945. Wien: Residenz Verlag 2002, S. 214 568 Gina Kaus hat diese Worte Victor Suchy in einem Brief vom 8. 4 . 1 9 7 7 geschrieben. Diese Korrespondenz ist heute im Literaturhaus Wien aufbewahrt. 569 Zit. Nach Christina Huber: Gina Kaus. Eine Monographie. Wien: Dissertation 1994, S. 10

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heren Schulen schwer gemacht, und ihre Erziehung wird nur auf ihre Funktion als Mutter und Hausfrau ausgerichtet. Kaus besucht nach der Volksschule das Mädchenlyzeum des Schulvereins für Beamtentöchter. „Das konservative Mädchenlyzeum des Schulvereins für Beamtentöchter [...], das als strenge Schule mit ausgezeichneten Lehrern galt" 570 ,

ist besonders anerkannt in Wien. Gina Kaus schreibt in ihren Memoiren, dass sie eine der schlechtesten Schülerinnen war. Als sie das Lyzeum beendet hat, macht sie die Staatsprüfung in Englisch, um als Englischlehrerin zu arbeiten, findet aber keine Anstellung. Sie meldet sich also auf eine Zeitungsannonce und beginnt als Krankenschwester in einem Laboratorium zu arbeiten. „Wir waren das einzige Laboratorium, das Wassermanntests machte - das heißt, ich machte mit achtzehn und neunzehn Jahren alle Syphilistests für das ganze Land." 5 7 1

1913 heiratet Gina den Kapellmeister Josef Zirner und übersiedelt mit ihm für ein Jahr nach Breslau. Die Schulerfahrungen und die Begegnung mit Zirner ermutigten Gina, die Emanzipationsbewegung als Frau und Schriftstellerin zu unterstützen. Diese Unterstützung wird vor allem durch die Bekanntschaften möglich, die Gina während ihrer Beziehung mit Joseph Kranz, einem der mächtigsten und reichsten Männer Wiens in der Vor- und Zwischenkriegszeit, gemacht hat. Joseph Kranz, finanzieller Berater wechselnder Regierungen in der Monarchie, Präsident der Depositenbank, Mäzen vieler Künstler dieser Epoche 572 und Kunstsammler573, verliebt sich in Gina Kaus.

570 Ebda., S. 13 571 Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Mappe Gina Kaus, Brief von Gina Kaus an Victor Suchy vom 8. 4 . 1 9 7 7 572 Kraus, Karl: Die Fackel. Hrsg. von Hink Wolfgang. München: Saur 1994, Nr. 857, S. 104. Kraus schreibt über ihn: „Ein besonders geistreicher Mann." 573 Kaus, Gina: Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Hamburg: Albrecht Knaus Verlag 1979, S. 38. Sie schreibt: „Er hatte eine wahre Leidenschaft für Antiquitäten jeder Art, und seine Wohnung war ein richtiges Museum." Vgl. Arthur Schnitzlers Jugend in Wien, S. 65: „Joseph Kranz, der spätere Advokat und Finanzier, brachte Fännchen seine Huldigungen in Gedichten dar, die mir viel besser erscheinen als die meinen."

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„Ich habe mich in dich verliebt [...]. Ich bin dreißig Jahre älter als du. Ich habe nicht gerade eine Glatze, aber schütteres graues Haar und ein wenig Bauch. Ich erwarte nicht, daß du dich ohne weiteres in mich verliebst. Aber wenn du mir Zeit gibst, dir zu zeigen, wer ich bin [...]. Ich habe vielleicht noch zwanzig Jahre zu leben, dann bist du vierzig und gewiß immer noch eine schöne Frau, und mit dem Vermögen, das ich dir hinterlassen werde [.. .]" 574

Nach dieser Liebeserklärung entschließt sie sich, seine Geliebte zu werden, obwohl er um vieles älter ist als Gina und sie ihn nicht liebt. „ E r hätte nicht zu warten brauchen. Ich war entschlossen ihn zu nehmen, ihn und seinen Reichtum [...] In all den Monaten der schwarzen Trauer hatte ich niemals an Selbstmord gedacht; ich hatte ein Leben vor mir, ein Leben ohne Liebe, und ich wollte reich sein. Ich schäme mich nicht das zu sagen." 575

Mit diesen Worten begründet Gina Kaus ihre Entscheidung, denn Gina Kaus ist Witwe, ihr Ehemann, Pepi Zirner, ist im Krieg gefallen, und sie fühlt sich allein. Doch sie will Autorin werden. Kranz erscheint ihr als die geeignete Person, sie in die richtigen Kreise einzuführen. Aber der Preis, den Gina bezahlt, ist hoch: Sie verkauft sich an ihn. Interessant ist hier die Verortung des in der „Hochliteratur" oft eingesetzten Motivs des Frauenverkaufens im Alltag einer Frau. Die Schnitzler'sche Else findet ihre reale Verkörperung und wird durch Gina Kaus zu einer lebendigen Figur. Auch wenn die Entscheidung Gina Kaus', sich Herrn Kranz „zu verkaufen" und die Rolle seiner Geliebten zu spielen, an die Erfahrung Elses mit Dorsday erinnert, gibt es einen radikalen Unterschied: Else verkauft sich, um dem Vater zu helfen; Gina hingegen verkauft sich, um ihre eigene Position als Frau zu verbessern. „ Z u m ersten M a l wohnte ich in einem Luxushotel, jeden Tag fand Kranz etwas Neues, das er mir kaufte, jeden Tag lernte ich einflußreiche und interessante Leute durch ihn kennen." 576

An diesem Unterschied kann man bereits die neue Weiblichkeit erkennen, das neue starke und entschlossene Temperament einer Frau, die stolz auf die Erfolge der Frauenbewegung ist.

574 Kaus, Gina: Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Hamburg: Albrecht Knaus Verlag 1979, S. 31 575 Ebda., S. 29 576 Ebda., S. 35

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Aber die effektive Proklamation der Freiheit der Frau braucht noch die Hilfe des Partners, der mit seiner Berühmtheit und Popularität die Frau in die Gesellschaft einführt. 577 Das ist der Grund, warum Gina es hinnimmt, als Kranz' Mätresse in seinem Palais in der Liechtensteinstraße 53/54 zu leben. Dieses „Entgelt" ermöglicht es ihr, die Türen zur intellektuellen Welt ihrer Zeit zu öffnen. Gina Kaus ist nur heimlich die Mätresse von Kranz, denn er stellt sie öffentlich als seine Adoptivtochter vor, um die Gesellschaft nicht zu schockieren und sich nicht zu kompromittieren. „Er wollte keine gelegentliche Geliebte, sondern eine Frau, die auch nach außen hin zu ihm gehörte. [...] Er stellte mich als seine Nichte vor, und niemand schien sich zu wundern."578 In den Jahren des Zusammenlebens mit Kranz verkehrt sie in Kreisen, in denen man auf ihr Talent aufmerksam wird. Franz Werfel wählt sie als Heldin seines Romans Barbara oder die Frömmigkeit (1929), und er schreibt: „Hedda [Gina] führte demnach zwischen Cafe und Palais ein verzwicktes Doppelleben, denn sie wollte auf keines von beiden verzichten", und weiter schreibt er, „ihre durchaus nicht unhübschen Züge zeigten manche Schärfen und Verschwommenheiten, wie sie durch den ewigen Umgang mit intellektuellen Fragen, durch den Genuß von dreißig Zigaretten täglich und anderen Freiheiten [...]" entstehen.579 In der Runde um Franz Blei, die sie regelmäßig aufsucht, trifft sie auf den zweiten wichtigen Mann in ihrem Leben: den kommunistischen Schriftsteller Otto Kaus.5 80

577 In der literarischen Fiktion hat Gina Kaus das "Ihema anders formuliert. Nicht die Frau, sondern der Mann braucht die Hilfe des Partners für die Erreichung der gewünschten Position. 578 Ebda., S. 35 579 Mulot-Deri, Sybille: Nachwort zum Roman Von Wien nach Hollywood von G. Kaus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 241 580 In ihren Memoiren stellt Gina Kaus Otto Kaus mit diesen Worten dar: „Er war als Kommunist, ja als Bolschewik aus dem Krieg zurückgekommen. Er war fanatisch, aggressiv und hatte überzeugende Argumente" (S. 70).

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„ E r hatte mir - oberflächlich - immer ganz gut gefallen: E r war eher schmächtig, hatte ein dreieckiges Gesicht mit dunklem Teint, großen dunklen A u g e n , gerader Nase und sinnlichen vollen Lippen. E r hatte sieben Semester Medizin studiert, kam aber aus dem Feld mit der Absicht zurück, das Studium aufzugeben und sich ganz dem Schreiben zu widmen. Er war ein sehr einsamer Mensch."' 8 1

Sie ist von ihm so bezaubert, dass sie die von ihm gegründete Zeitschrift Der Sowjet auch finanziell unterstützt. Nach der Ausrufung der Republik gibt er allerdings seine politischen Tätigkeiten auf und beginnt sich für die Individualpsychologie Alfred Adlers zu interessieren. Gina beendet die Beziehung zu Kranz, als sie entdeckt, dass sie schwanger und Kaus der Vater ist. „Nachts kam er zu mir. Ich hatte einen schüchternen, eher kühlen M a n n erwartet. Es wurde die leidenschaftlichste [ . . . ] Liebesnacht meines Lebens. Eingedenk meines Wunsches, ein K i n d zu haben, verzichtete ich auf Vorsichtsmaßnahmen. W i r sprachen darüber, und er war begeistert. ,Wenn du schwanger bist, können wir in sechs Monaten heiraten', sagte er." 5 ' 1

Otto Kaus heiratet Gina, doch nach der Hochzeit wird das Leben mit ihm unerträglich, und sie denkt daran, ihn zu verlassen.'8' Der dritte und letzte Mann, der eine wichtige Rolle im Leben dieser Autorin spielt, ist Eduard Frischauer. Er kann als Gegenpol zu seinen beiden Vorgängern gesehen werden, denn er ist weder jüdischer Kapitalist wie Joseph Kranz noch fanatischer Kommunist wie Otto Kaus. Er ist Rechtsanwalt, dessen einziger Makel die Leidenschaft für das Bridgespiel ist. „ E d u a r d spielte den ganzen N a c h m i t t a g und jeden A b e n d bis tief in die N a c h t hinein Bridge, wie gewöhnlich mit wechselndem Erfolg."' 8 4

Mit ihm fühlt Gina sich glücklich und beschützt: Sie hat nun eine traditionelle, kultivierte Familie, bestehend aus Frischauer und den zwei Söhnen aus der Verbindung mit Otto Kaus. Gleichzeitig beginnt ihre Popularität als Autorin zu wachsen;

581 Kaus, Gina: Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film. H a m burg: Albrecht Knaus Verlag 1971, S. 80 582 Ebda., S. 83 583 Ebda., S. 88: „[...] ich weiß, daß ich unglücklich war [...] ich hatte meine Identität verloren." 584 Ebda., S. 219

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auch in Amerika kann sie sich als Drehbuchautorin durchsetzen. *8' Tatsächlich werden zwei ihrer Romane, Die Schwestern Kleh und Teufel nebenan (1946 bzw. 1956-57), in Hollywood verfilmt. Frischauers Spielschulden, die die finanzielle Situation des Paares belasten, sowie auch seine wachsende Untätigkeit sind schließlich der Grund für die Scheidung. „In diesem halben Jahr [1945] trennte ich mich von Eduard. Es gab da keine andere Frau, keinen anderen Mann. Ich konnte nur Eduards völlige Untätigkeit nicht länger ertragen. Mein Angebot einer Ausbildung als amerikanischer Anwalt hatte er abgelehnt. Auch als Häusermakler, wie mein Bruder, wollte er sich nicht betätigen. [•..] Manchmal kam ich in der Mittagspause heim, um mit meiner Familie zu essen. Dann lag er meist noch im Bett. Eines Abends kam ich ziemlich müde nach Hause, ich setze mich neben Eduard aufs Sofa und zündete mir eine Zigarette an. Wir plauderten. Nach einer Weile sagte ich: „ [...] Ich lasse mich scheiden."586

Das ist der letzte A k t des Liebeslebens einer Frau, die in der literarischen Szene der Zwischenkriegszeit als „Femme fatale" bekannt war, und die sich selbst als „indolent, aber mit einer unglaublichen Energie" bezeichnete.' 87 Das Leben dieser emanzipierten Frau spielt sich auf zwei Ebenen ab: als Schriftstellerin einerseits und andererseits als „Frauengestalt", die sich persönlich für die noch eingeschränkten Möglichkeiten der Frau in der Gesellschaft interessiert. Als Schriftstellerin hat sie die Gelegenheit, mit den Intellektuellen ihrer Zeit zu diskutieren und mit ihnen ihr Material — das Leben der Wiener in den zwanziger und dreißiger Jahren - zu reflektieren. M a n denke an die Bedeutung, die die Freundschaft mit dem Verfasser des so genannten „roten Heftes" (Die Fackel), Karl Kraus, für sie hatte, oder die mit dem Redakteur der Arbeiter-Zeitung,

Fried-

rich Austerlitz.' 88

585 Guida-Laforgia, Patrizia: Invisible Women Writers in Exile in the U.S.A. Wien: Peter Lang 1995 S. 41. „The figure of the screenplay writer was not, however, that of the artist. He was an employee just like all the others who from 9 to 5, with or without ideas, had to write. Furthermore, the intellectual property of what he wrote belonged to the studios who therefore had the right to make changes to the script without even having to consult the writer. Even given all the artistic disadvantages [...] the average weekly wage for such a writer was 100-120 dollars." 586 Kaus, Gina: Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Hamburg: Albrecht Knaus Verlag 1979, S. 260 587 Ebda., S. 12 588 Hubner, Christina: Gina Kaus. Eine Monographie. Wien: Diplomarbeit 1994, S. 39f.

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In ihren Memoiren erinnert sich Gina Kaus an ihre erste Begegnung mit Karl Kraus: „Er bat mich, am späten Nachmittag in seine Wohnung zu kommen, und ich tat es. [...] Er wollte mir sein Leben zeigen. Seine Wohnung war klein, sie bestand aus zwei Zimmern, dem Schlafzimmer, das ich gar nicht zu sehen bekam, und dem Arbeitszimmer. Es war ein asketisches Zimmer: Bücher an allen Wänden, Zeitungsstöße überall, und vor allem der Schreibtisch. Er hatte keine Maschine und keine Sekretärin. Er schrieb alles mit der Hand." 58 ' Die freundschaftliche Beziehung zwischen Kraus und Kaus, die das ganze Leben der Autorin geprägt hat, „war nicht immer wolkenlos, und manchmal stritten wir am Telefon, aber jeder meiner Tage begann mit seinem Anruf, und als er eines Tages im Jahre 1936 ausblieb, war ich mit Recht sehr besorgt. Drei Tage später war Kraus tot." 59 ° Es war auch eine sehr respektvolle Freundschaft, wie Gina Kaus erzählt: „Ich hatte Angst vor Kraus als dem schärfsten Kritiker seiner Zeit. Er hätte mich als Schriftstellerin mit einer Zeile, mein Selbstgefühl mit einem Wort vernichten können."5'1 Und weiter: „Sie haben mich nicht enttäuscht - sagte er [Kraus]. Ich habe nicht einen einzigen Fehler gefunden. Ihre Novelle ist wirklich gut."592

Beide diskutieren über das Geschehen in Wien, was sie mit ihren Erfahrungen und privaten Umständen in ihren Romanen verbindet. Mittelpunkt der literarischen Tätigkeit von Gina Kaus sind die Kaffeehäuser und ihre Wohnung: „Mein Lebensinhalt war zu dieser Zeit der Kreis, der sich um Blei gebildet hatte. Ich ging, wann ich konnte, zu ihnen ins ,Cafe Herrenhof', meist nach dem Mittagessen."59'

589 Kaus, Gina: Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Hamburg: Albrecht Knaus Verlag 1979, S. 125 590 Ebda., S. 125 591 Ebda., S. 129 592 Ebda., S. 129 593 Ebda., S. 40

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Nicht nur im Café Herrenhof, sondern auch in ihrer Wohnung trifft Gina Kaus ihre Freunde, und man diskutiert über die aktuellen Probleme der Zeit. „Ich fand eine Atelierwohnung in der Nähe des Palais Kranz, in der Strudlhofgasse, drei hübsche Z i m m e r mit einer Küche und einem wunderschönen Ausblick in den Garten des Piaristenklosters." 594

Gleichzeitig hat sie die Möglichkeit, diese Leute zu beobachten, und erkennt, dass „in den 20er Jahren nicht nur alles erlaubt war, sondern auch selbstverständlich"."' Sexuelle Freiheit, lesbische Beziehungen, Geschlechtergemeinschaft, Provokationen in der Mode sind die neuen Freiheiten der Gesellschaft der Zwischenkriegszeit, und auch Gina Kaus gehört zu dieser Generation, die sich als geistig und körperlich emanzipiert proklamierte.596 Innovativ, exzentrisch und emanzipiert zu sein bedeutete, die alte, falsche Ordnung der Vergangenheit über den Haufen zu werfen, um in aller Öffentlichkeit die neuen Werte, Selbstständigkeit, Berufstätigkeit und freie Liebe auszuleben. Ihre Romane Die Schwestern Kleb und Teufel nebenan sind die Spiegelung dieser exzentrischen Welt, in deren Zentrum die Figur „einer wohlhabenden Dame" steht, „deren Geist und Witz als Magnet" wirkt.597 Neben der Niederschrift von Romanen und Erzählungen, die vom UllsteinVerlag veröffentlicht und dann in Hollywood auch verfilmt werden, beginnt sie sich für die politischen Entwicklungen der Gesellschaft zu interessieren. In den Jahren nach der Russischen Revolution gab es in Osterreich die Tendenz, den Kommunismus als Lösung für alle Probleme der Nachkriegszeit zu betrachten. Gina Kaus, die sich vor ihrem Treffen mit Otto Kaus niemals um Politik gekümmert hat, glaubt nun ebenfalls, dass der Kommunismus die schwierige ökonomische Lage des Proletariats verbessern könnte. Sie wird zur überzeugten Kommunistin, die gegen Kapitalismus und Großbourgeoisie kämpft. Ihren Beitrag liefert sie in Form vieler Artikel, die in der Zeitschrift Sowjet erscheinen und deren zentrales Thema die Unfähigkeit des Bourgeois ist, den Wert der Kunst zu schätzen,

594 Ebda., S. 47 595 Ebda., S. 165 596 Ebda., S. 170/49. „Ich trug einen fast durchsichtigen Shawl und sonst nichts [...]", wie die Mode der Zeit erforderte. Weiter schreibt sie: „[...] in einer kleinen Wohnung in Mariahilf, schnupfte ununterbrochen Kokain. Der kleine Kreis teilte das wenige, was er besaß, mit jedem Mitglied, und alle schliefen mit allen, und alle nahmen Kokain." 597 Heyde-Rynsch, Verena: Europäische Salons. München: Winkler Vedag 1992, S. 11

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da sein Interesse von wirtschaftlichen Überlegungen geleitet und nur ein Mittel ist, seinen Status zu demonstrieren. Nach der Ausrufung der Republik schließt sie sich der sozialdemokratischen Partei an, deren Kampf um soziale Gerechtigkeit sie unterstützen will. In den Jahren 1924/25 gründet sie die alle zwei Wochen erscheinende Zeitschrift Mutter, die sich mit Problemen von Müttern befasst.5'8 Die Zeitung ist der Kinderpsychologie Adlers verpflichtet; aber der anfängliche Erfolg hält nich lange an und Gina Kaus ist gezwungen, die Zeitung zu verkaufen. „Die ,Mutter' langweilte mich. Die Themen waren beschränkt, wir hatten alles erörtert, über alle wichtigen Dinge hatten Arzte Artikel geschrieben, alle psychologischen Probleme waren erschöpfend von meinen Freunden, den Adler-Schülern, und mir behandelt worden; es fiel mir schwerer und schwerer, eine Nummer zusammenzustellen, die nicht bereits Gesagtes wiederholte. [...] Ich mußte einsehen, daß die ,Mutter', obwohl es anfangs so geschienen hatte, kein wirklicher Erfolg war. Die Leserschaft war begrenzt."559

Gina Kaus war auch in literarischer Hinsicht sehr produktiv, ihre Werke waren weit verbreitet, auch wenn sie heute in Vergessenheit geraten zu sein scheinen. Nur ein Roman, Katharina die Große (1935), ist heute noch im Buchhandel erhältlich. In der Zwischenkriegszeit schreibt sie einen Roman nach dem anderen, Theaterstücke, Erzählungen und Novellen für Zeitungen und Zeitschriften, deren Hauptthema immer wieder die gesellschaftliche Position der Frau ist. Doch sowohl ihre Romane als auch ihre Theaterstücke und Rezensionen sind vergriffen. Ihre ersten literarischen Werke, die unter dem Pseudonym Andreas Eckbrecht (auffallend und doch keinesfalls atypisch ist, dass sie einen männlichen Namen gewählt hat) veröffentlicht werden, sind Diebe im Haus (1919) 600 , Toni. Eine Schulmädchenkomödie in 10 Bildern (1927), Die Front des Lebens (1928), Die Verliebten (1929), Die Überfahrt (1932) und Morgen um neun Uhr (1932). Diese Werke sind zur Gattung der Unterhaltungsliteratur zu zählen und dienen der Verfasserin hauptsächlich dazu, ihr literarisches Talent unter Beweis zu stellen. Als Gina Kaus 1928 zum Mitglied des österreichischen PEN-Clubs nominiert wird und der Authof's League of America beitritt, steigert das ihre Popularität weiter.

598 Kaus, Gina: Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Hamburg: Albrecht Knaus Verlag 1979, S. i43f. 599 Ebda., S. 146-147 600 Ebda., S. 43. Die Quelle dieser Komödie ist eine Erfahrung der Autorin, die ihr Dienstmädchen Luise beim Diebstahl entdeckt hat. „Das ganze machte einen solchen Eindruck auf mich, dass ich in wenigen Tagen den ersten Akt meiner Komödie Dieb im Haus schrieb."

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Als Hitler 1933 Reichskanzler Deutschlands wird,601 werden ihre Schriften auf Grund der Rassengesetze des Nationalsozialismus auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums" gesetzt.602 Es folgt die Verbrennung ihrer Werke am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz.603 Es wird immer schwieriger, einen Verlag zu finden, der die Romane einer „unerwünschten" Autorin veröffentlichen will. Der holländische Verlag Allert de Lange, der sich der verbotenen deutschsprachigen Autoren annimmt, veröffendicht schließlich 1933 Die Schwestern Kleh und zwei Jahre später auch Katharina die Große. Beide Romane sind so erfolgreich, dass sie mehrere Wochen an der Spitze der Bestsellerliste bleiben. Die Gedanken an Exil und die Schulden machen es Gina Kaus schwer, sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Es fehlt ihr sowohl der Stoff als auch die Kreativität. In ihren Memoiren, Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film, schreibt sie: „Jetzt sind es mehr als drei Jahre her, seit ich etwas veröffentlicht habe, und ich bin finanziell und psychisch am Ende." 604

Durch die Emigration nach Paris (1938) werden Inspiration und physische Kraft wieder mobilisiert, und sie schreibt in Folge ihre letzte Arbeit Teufel nebenan (1939), die anfangs von der Kritik verrissen wird, denn „den amerikanischen Verlegern gefallt sie nicht. Sie behaupten, die Personen sind unsympathisch, der Held ist ein Waschlappen" 6 " 5 ,

die aber nach dem Zweiten Weltkrieg dann unter dem Titel Teufel in Seide in Hollywood mit Lilli Palmer als Hauptdarstellerin verfilmt wird (1955 erhält Lilli Palmer für ihre schauspielerische Leistung sogar den deutschen Bundesfilmpreis). Trotz dieser Anerkennung beschließt Gina Kaus, keinen weiteren Roman mehr zu schreiben, denn sie vermisst die vertraute Umgebung und die Heimat.

601 Ebda. S. i86f. 602 Pfoser, Alfred: Die verbrannten Bücher. Wien: Institut für Wissenschaft und Kunst 1983, S. 38/42 603 Kaus, Gina: Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Hamburg: Albrecht Knaus Verlag 1979, S. 183. „ A m 10. M a i dieses Jahr 1933 wurden meine Bücher in Berlin öffentlich verbrannt [...]" 604 Kaus, Gina: Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Hamburg: Albrecht Knaus Verlag 1979, S. 64 605 Ebda., S. 64

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„From 1941 to her death in Los Angeles 1985, she wrote only her memories: the already mentioned Von Wien nach Hollywood which came out in 1970 in Hamburg under the tide Und was für ein Leben ... mit Liebe und Literatur, Theater und Film. "6o6

Das Hauptthema ihrer wichtigsten Romane, Die Schwestern Kleh (1933) und Teufel nebenan (1939), ist die Psychologisierung der Figuren. Sibylle Mulot-Deri schreibt: „Der psychologische Realismus all ihrer Meisterromane, ihre wunderbare schlackenlose Form stehen noch über der Kunst einer Vicki Baum. Die beiden Schriftstellerinnen waren befreundet. Ihre Romane waren leicht zu verfilmen, ihre Themen waren modern, aktuell und realistisch angepackt." 607

Das Seelenleben, die seelischen Reaktionen stehen im Mittelpunkt der Kunst von Gina Kaus, während Handlung und Wiener Milieu nur den Hintergrund für die seelischen Erfahrungen der Figuren bilden. Wie früher schon erwähnt, beschreibt Gina Kaus, beeinflusst von der Individualpsychologie Adlers, in ihren Werken alltägliche Figuren, die sich in einem inneren Konflikt befinden und den Ursprung ihrer seelischen Störungen suchen. Von Interesse sind besonders ihre Frauenfiguren. Da ist die emanzipierte, skrupellose, moderne Frau, die immer bereit ist, einen reichen älteren Mann zu verführen, wenn es der Sache der Frauenemanzipation dient. Da ist aber auch die passive, traditionelle Frau, die in der Tradition der Vorkriegszeit an den Mann gekettet bleibt. Gina Kaus hat diese doppelte Frauentypologie im Roman Die Schwestern Kleh dargestellt, wobei die beiden weiblichen Gestalten zwei völlig gegensätzliche Charaktere sind. Die beiden Schwestern aus gutbürgerlichem Haus im Wien der Jahrhundertwende haben eine sehr gute Beziehung zueinander und sind bereit, fxir das Glück der jeweils anderen zu leiden. Lotte, jünger, ehrgeiziger und kreativer als Irene, symbolisiert die emanzipierte Frau der Zwischenkriegszeit, die mit all ihren Kräften ihr Ziel erreichen will: eine berühmte Schauspielerin zu werden.608 Die junge Lotte, Protagonistin der neuen

6o6Guida-Laforgia, Patrizia: Invisible Women Writers in Exile in the U.S.A. Wien: Peter Lang 1995, S. 43 607Mulot-Deri, Sybille: Nachwort zum Roman Die Schwestern Kleh. Berlin: Ullstein Verlag 1989, S. 295 608 Kaus, Gina: Die Schwestern Kleh. Berlin: Ullstein Verlag 1989, S. 47. „Natürlich möchte ich am liebsten Schauspielerin werden", und weiter schreibt die Autorin: „Auch in Lotte war, auf rätselhafte Weise, der Geist der neuen Zeit gefahren und machte sie älteren Ge-

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Generation, stößt auf den Widerstand der alten Generation, die vom Vater, Herrn Kleh, und von der Gouvernante, Fräulein Eula, verkörpert wird. 6 0 9 Herr Kleh steht auf dem Standpunkt, dass eine Frau zu Hause bleiben und sich um Haus und Familie kümmern soll; weil „das Theaterleben zu gefährlich ist". 610 Die Imagination des Weiblichen wird im Roman auf zwei Ebenen sichtbar, vom Gesichtspunkt der einzelnen Gestalten aus. Die männliche Perspektive, die an jene Schnitzlers erinnert, zeigt sich in den Figuren von Alexander, Irenes Ehemann, und Herrn von Kleh; die weibliche Perspektive hingegen zeigt sich in den beiden Schwestern, auch wenn sie widersprüchlich ist. Sowohl Alexander als auch Herr Kleh gehören zur alten patriarchalischen Welt der Monarchie, wie die Worte Alexanders zeigen: „Ich wollte gern eine hübsche gute Frau haben, wenn ich heil aus dem Krieg kommen sollte."611 Die Überzeugung der beiden Männer, eine Frau sei dazu bestimmt, einen älteren, reichen, hoch gebildeten M a n n in guter Position zu heiraten, findet eine Bestätigung in den Worten von Herrn Kleh: „Wenn der junge Otto aus dem Feld käme oder der junge Roeder [...] einen von diesen beiden sollte Lotte zum Mann nehmen [...] das wäre ein großes Glück."6'2 Während Schnitzlers Else und Musils Portugiesin passive, gefugige Frauen darstellen, die immer bereit sind, allen Wünschen ihres Mannes nachzukommen und der Imagination von Gina Kaus' männlichen Gestalten entsprechen, stellt die Autorin eine Frau dar, die durch die Ausübung eines Berufs auf der Suche nach ihrer Freiheit ist.

nerationen unverständlich." Im Gegensatz zu Schnitzlers Else bezeichnet hier die Tätigkeit des Schauspielers eine effektive, konkrete Arbeit und nicht nur einen Lebensstil oder ein Lebensgefühl. 609 Eine detaillierte Beschreibung der Rolle der Gouvernante in der Trivialliteratur mit einem besonderen Hinweis auf die Gestalt von Gina Kaus' Eula findet sich in der Diplomarbeit von Birgit Lumerding Das Bild der Gouvernante in den Werken „Die Gouvernante" von Stefan Zweig, „ Therese, Chronik eines Frauenlebens" von Arthur Schnitzler und „Die Schwestern Kleh" von Gina Kaus. Wien: Diplomarbeit 1999, S. 44E 610 Ebda., S. 47 611 Ebda., S. 41 612 Ebda., S. 103

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„Eine Frau soll imstande sein, ihr Brot zu verdienen - für den Fall, daß sie niemanden hat, der für sie sorgt."6'3

„Die kleine Lotte, die damals ein braver tapferer Mensch" war, und die an Gina Kaus selbst erinnert, bleibt nicht zu Hause wie ihre Schwester Irene, sondern arbeitet zuerst in einem Juweliergeschäft und beginnt dann, in Kreisen von Schauspielern und Theaterproduzenten zu verkehren.614 Diese Persönlichkeiten fuhren sie in eine exzentrische und manchmal auch unkonventionelle Welt ein; sie treffen sich abends in einer kleinen Wohnung, die Gina Kaus so beschreibt: „Alle Möbel waren von ihren Plätzen gerückt und in eine Ecke geschoben. In einer anderen Ecke war mit Teppichen und vielen Kissen eine Art Lager errichtet. Auf dem Klavier stand ein Grammophon und krächzte etwas Synkopiertes. Bloß zwei Wandlampen waren beleuchtet, und die waren mit seidenen Tüchern abgeblendet."61'

Interessant ist die Koexistenz zweier Instrumente, des Klaviers und des Grammophons, die zwei Epochen symbolisieren. Während das Klavier an die Vergangenheit erinnert, verweist das Grammophon auf die neue Zeit. Der Gegensatz wird nicht nur optisch gezeigt, sondern auch akustisch. Der synkopierte Laut des Grammophons schafft eine dekadente, müde und gelangweilte, gleichsam schläfrige Atmosphäre. Das ist die Umgebung der neuen Generation der zwanziger und dreißiger Jahre, die sich von der alten Generation zu lösen versucht. Dadurch fühlt sich die alte Generation (z. B. Eula) destabilisiert: „Es war für mich ein Blick in eine neuartige Welt. Es gefiel mir gar nicht, wie Lotte mit ihren Partnern tanzte, es gefiel mir nicht, wie die anderen tanzten [.. .]"6'6

Die neue Generation, zu der auch Lotte gehört, lebt ihre sexuelle und geistige Freiheit aus: „Wenn zwei sich müde getanzt hatten, warfen sie sich auf die Teppiche, der Champagnerkübel stand daneben, sie tranken hastig [...] dann sprangen sie wieder auf." 6 ' 7

613 614 615 616 617

Kaus, Gina: Die Schwestern Kleh. Berlin: Ullstein 1989, S. 46 Ebda., S. 67 Ebda., S. 183. (Die Unterstreichungen sind von mir.) Ebda., S. 183 Ebda., S. i83f.

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Die Atmosphäre, die Gina Kaus selbst kennen gelernt hat und die sie in ihren Romanen wieder aufleben lässt, könnte auf ganz Europa in der Zwischenkriegszeit zutreffen, 6 ' 8 eine ziellose Ritualisierung, um die falsche Schamhaftigkeit der habsburgischen Zeit zu überwinden. Deshalb bleibt das Bild ,,ein[es] Fiaker[s] mit livriertem Kutscher [...] und ein [es] Hausball [s]" 6 ' 9 eine schöne und lakonische Erinnerung auch an die vergangene Epoche Schnitzlers. Lotte, Angehörige der neuen Generation, ist entschlossen, wenn es notwendig sein sollte, auch ihre Mutterschaft zu opfern, um Selbstständigkeit zu erlangen.6*° Diese Entscheidung Lottes erinnert an Schnitzlers Therese, die ihr Kind aufs Land schickt, um ihrer Arbeit als Gouvernante weiter nachgehen zu können. Lottes Entscheidung verstärkt einerseits Irenes traditionsfixierte Weiblichkeit 621 als auch Lottes Wunsch, als Frau der neuen, emanzipierten Generation anzugehören. Das Leben der Schwestern Kleh stellt das weibliche Leben zweier Epochen dar: das der Vergangenheit und das der Gegenwart. Die Germanistin Sibylle Mulot-Deri schreibt in ihrem Nachwort zum Roman: „Dieser Roman ist Ginas persönlichstes Buch. Es muss sie gereizt haben, sich selbst zu zeichnen und ihre Lebensdramatik aufzuarbeiten." 6 "

Das legt nahe, dass es viele Ähnlichkeiten zwischen Ginas Leben und den Gestalten des Texts gibt. Nicht nur Lotte kann (mit der Autorin) identifiziert werden, sondern auch andere Figuren in Ginas Umkreis. Alexander, Irenes Gatte, der ein liebevoller Vater und gleichzeitig ein leidenschaftsloser Mann ist, hat in Eduard Frischauer, dem zweiten Gatten von Gina Kaus, sein Vorbild; Lottes Verehrer, der angehende Musiker Martin, der im Feld fällt, erinnert an den ersten Mann Ginas, Pepi Zirner; Lisbeth, die kleine, dicke und hartherzige Schwester von Alexander, trägt einige Züge von Ginas erster Schwiegermutter. Interessant ist auch die Gesellschaftskritik, die im Roman steckt. Wir finden Kritik am Krieg, der das Leben der Menschen zerstört und grausam verändert hat; 618 Ebda., S. 187. „Das ist eine ganz normale Gesellschaft. Die sieht eben heute so aus, in Berlin genauso wie bei uns, und in Paris genauso wie in Berlin." 619 Ebda., S. 187 620 Lotte gibt das Kind ihrer Schwester Irene, um ihre Arbeit im Theater nicht zu verlieren, und gleichzeitig rettet sie die Schwester, die kein Kind bekommen kann. 621 Ebda., S. 283. „Sie züchtete Rosen und Dahlien und Georginen, die blühen und [...] sie liest fast an jedem Tag ein Buch aus der Leihbibliothek und hat am nächsten Tag Autor, Name und Inhalt vergessen." 622 Mulot-Deri, Sybille: Nachwort zum Roman Die Schwestern Kleh. Berlin: Ullstein Verlag 1989, S. 296

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Kritik an den Industriellen, nicht nur, weil sie am Krieg verdienen und ihre Arbeiter ausbeuten, sondern vor allem, weil sie mit ihrem Geld den Krieg ermöglicht haben. „Wenn man die Krüppel in den Straßen sieht und die vielen schwarz gekleideten Frauen, und wenn man von Tausenden Gefallenen liest [...] nie stellt man sich vor, dass es da eine Fabrik gibt, wo das alles gemacht wird. Saubere Maschinen und sogar wirkliche Menschen, die darin arbeiten [...] man stellt sich das nie richtig vor, so eine Mordindustrie."62'

Eben unter einer solchen „Mordindustrie" leiden die Menschen in den zwanziger und dreißiger Jahren, doch sie wollen sich mit ihrem Schicksal nicht abfinden. Die umfangreiche und künstlerisch bedeutungsvolle literarische Produktion dieser Jahre zeigt, dass der Erste Weltkrieg die Kreativität der Menschen nicht auf Dauer einengen konnte. Sechs Jahre nach der Veröffentlichung des oben genannten Romans verfasste Gina Kaus ein weiteres Meisterwerk der Unterhaltungsliteratur, den Roman Teufel nebenan. „Um die Weihnachtszeit [...] setzte ich mich an die Maschine und begann .Teufel nebenan'. Der erste Satz war gut, gebar den nächsten. Es war eine Wohltat wieder zu schreiben, ich war fleißig, arbeitete täglich [...] und vollendete den Roman in etwa vier Monaten."624

So beschreibt Gina Kaus in ihrer Autobiographie Von Wien nach Hollywood, wie sie diesen spannenden psychologischen Roman begonnen hat, dessen weibliche Hauptgestalt, Melanie, „die eifersüchtigste Frau der Welt" ist. Zwischen der Autorin und Melanie gibt es keine Ähnlichkeiten; Melanie ist eine durch und durch abscheuliche Frau, deren Tod von jedermann, der mit ihr zu tun hat, als Erlösung empfunden wird. „Ein Konglomerat von verschiedenen Personen, vereinigt in der Gestalt einer persönlichen Feindin"62'

ist Melanie in den Augen der Schriftstellerin. Die Geschichte von Melanie und 623 Ebda., S. 135 624Mulot-Deri, Sybille: Nachwort zum Roman Teufel in Seidevon stein Verlag 1992, S. 284 625 Ebda., S. 287

Gina Kaus. Berlin: Ull-

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ihrem Mann Albert spielt in der unmittelbaren Nachkriegszeit, vielleicht auch etwas später; eine präzise Datierung ist schwierig, da die Autorin weder Zeit- noch Ortsangaben macht. Die Gestalten hingegen werden ausfuhrlich vorgestellt und durch ihre Familienverhältnisse und ihre Arbeit charakterisiert. Von Anfang an sagen sich die Personen mit bemerkenswerter Offenheit die Dinge ins Gesicht: Die männliche Hauptfigur, Albert, wird durch eine einzige Familienszene in ihren Wesenszügen plastisch dargestellt, und Melanie, die weibliche Heldin, verrät sich rasch durch ihre Manöver und wird auch von ihren Verwandten sofort in ein zweifelhaftes Licht gerückt. Albert wird als bequemer und willensschwacher Mann vorgestellt, Melanie hingegen als eine draufgängerische, unnachgiebige Frau, die üble Tricks auf Lager hat. 626 Kurz: Albert ist ein philosophischer Zweifler, Melanie hingegen eine fanatische Rechthaberin. Im Prinzip könnten sich die beiden ergänzen, wenn sie wenigstens gemeinsame Interessen und Ziele hätten, aber das Fatale an der Verbindung ist, dass jegliche gemeinsame Basis fehlt. In diesem Roman zeigt Gina Kaus die Frau als gespaltene Figur: Sie ist ein dämonisches, gewalttätiges und rachsüchtiges Geschöpf, gleichzeitig aber auch elegant und bezaubernd.627 Bedeutungsvoll ist das ganze vierte Kapitel des Romans, in dem die Autorin Melanie als „Femme fatale" präsentiert. Am Anfang des Kapitels steht die Szene, in der Albert die Gestalt und die Stimme Melanies erstmals wahrnimmt. Sie spielt Klavier, und er bemerkt: „Das Kleid, das sie trug, war von rosenfarbener Seide, es war lang und bildete zu beiden Seiten ihrer Füße sanfte Wellen auf dem Teppich. [...] Er konnte nur ihren Rücken sehen, der auffallend gerade war, den langen Hals und das tiefschwarze Haar." 628

In dieser Beschreibung wird Melanie mit einem übernatürlichen Geschöpf, einer Sirene, gleichgesetzt, die, wie in der Mythologie, den Mann mit ihrer Schönheit und Stimme verführt. Das ist schon im Titel augenfällig: Die Wörter „Teufel" und „Seide" zeigen die zwei Naturen der Frau: die dämonische und die sanfte. 629 In

626 Ebda., S. 287 627 Kaus, Gina: Teufel in Seide. Berlin: Ullstein Verlag 1992, S. 195. „Ich kann mir vorstellen, wie ihr beide über mich gelacht habt, du und diese Kanaille! Aber jetzt bin ich es, die lacht! [...] und sie lachte, ein häßliches, höhnisches Lachen." 628 Ebda., S. 22f. 629 Vgl. Die Frauenfiguren in Franz Wedekinds Lulu und in Leopold Sacher-Masochs Venus

im Pelz.

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diesem Fall findet die weibliche Imagination Gina Kaus' eine Parallele bei Musil, der Grigia mit derselben literarischen Technik dargestellt hat.6'0 „Sie denkt nicht vernünftig ... aber sie handelt hundertmal zielsicherer ... sie denkt überhaupt nicht, sie stellt sich vor [...] mit ungeheurer Lebendigkeit [.. ,]" 6 "

Die Gegenüberstellung der zwei Verben „denken" und „handeln" betont, dass Melanie nicht fähig ist, vernünftig zu denken, aber dass sie diesen Mangel durch die Fähigkeit zu praktischem Handeln ersetzt. Das impulsive Temperament Melanies erinnert an das unvernünftige Verhalten Elses, die ihre Impulsivität durch die Sprache mitteilt. Melanies Impulsivität und unkontrollierte wilde Natur werden durch Hyperaktivität dargestellt. Sie denkt wenig nach; sie hat ein instinktives und extravagantes Temperament; sie tut viel, besonders für ihren Mann, denn sie weiß, dass er unsicher, schwach und unfähig ist, sich beruflich zu etablieren. „Ich habe dir eine Stellung verschafft. Ich habe dich in die Lage versetzt, deine Familie unterstützen zu können. Ich habe dich aus den letztklassigen Kaffeehäusern herausgeholt." 631

Diese Fähigkeit der Frau, den Mann „auszubilden", wird auch schon von Karl Kraus im Akt II Sz. 33 der Tragödie Die letzten Tage der Menschheit erwähnt, ist also kein Phänomen der zwanziger Jahre. „ D a ß dus weißt, mir hast du zu verdanken deine ganze Karrier, mir, mir, mir — Liharzik ist tot — heut könntest du dort stehn, wo er war, überall könntest du sein — ein Potsch bist du! [...] wenn ich nicht heut da war und morgen dort." 6 ' 3

Diese Worte, die die Hofrätin Schwarz-Gelber an ihren Mann richtet, zeigen, wie emanzipiert, unternehmend und aktiv die Frau im Laufe der Zeit geworden ist: Sie weiß genau, wie man Karriere macht und soziale Beziehungen kultiviert. In

630 Vgl. Robert Musil: Grigia. In: Robert Musil: Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzelten. Hamburg: Rowohlt 1988, S. 226/227^ „[...] sie ist erdig, kantig, giftig und unmenschlich in allem [...] Und das Gesicht, das zu ihr gehörte, war ein ein wenig spöttelndes Gesicht, mit einer feinen, graziösen Gratlinie ..." 631 Kaus, Gina: Teufel in Seide. Berlin: Ullstein Verlag 1992, S. 173 632 Ebda., S. 101 633 Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp

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diesem Sinn ist sie die Ergänzung des Mannes, der sich ohne sie allein und total desorientiert fühlt. „Alles das ging ihn nichts an, es war wie das Leben eines anderen, das er lebte." 6 ' 4

Vor einer so starken und entschlossenen Frau hat der Mann Angst. Albert braucht, wie Willi Kasda in Schnitzlers Spiel im Morgengrauen, die Hilfe einer weiblichen Figur, um eine Position zu erlangen, in der er sich wirklich als Mann fühlt. Die männliche Schwäche wird zusätzlich durch ein Schuldgefühl verstärkt, das ihn zwingt, sich dem Willen der Personen, die ihn lieben, aber von ihm nicht geliebt werden, unterzuordnen. Auch die Beziehung Alberts zu seiner Frau Melanie ist von diesem Schuld-Sühne-Komplex gekennzeichnet. In einem Gespräch zwischen ihm, der nach dem Mord an seiner Frau (der als Selbstmord verschleiert wird) vom schlechten Gewissen geplagt wird, und dem Nervenarzt Dr. Heinsheimer, Alfred Adlers literarischem Abbild, thematisiert die Autorin dieses Grundgefiihl Alberts. Nach dem Gespräch mit dem Arzt fühlt sich Albert von der Last des Mordes befreit, allerdings nicht von der Verantwortung fiir die Geschehnisse, die dazu geführt haben. „Diese Schuld aber fallt weder in die Kompetenz des gerichtlichen Psychiaters noch in die der Geschworenen, über diese Schuld können wir nur von M a n n zu M a n n sprechen.[...] Sie haben Melanie aus Schwäche so böse werden lassen, daß Ihnen zum Schluß nichts anderes übrigblieb, als sie zu vertilgen. Sie haben gesehen, wie neben Ihnen die Kraft der Zerstörung sich entfaltete, und Sie haben ihr aus Bequemlichkeit alles zu fressen gegeben [.. ,]" 6)i

Der Mord an der weiblichen Hauptgestalt durch Albert ist der letzte dramatische Akt, der einer langen Reihe von Selbstmordversuchen folgt, die Melanie inszeniert hat. Damit erinnert er deutlich an die theatralische Inszenierung von Elses Selbstmord. Beide sind kluge Schauspielerinnen, sowohl in ihrem familiären als auch im gesellschaftlichen Leben. „Sie ist ein dramatischer Charakter, und was sie braucht, ist nicht Glück, sondern Aufregung. [...] Melanie braucht keine Substanz für ihre Dramen, sie schafft sie aus dem Nichts." 6 ' 6

634 Kaus, Gina: Teufel in Seide. Berlin: Ullstein 1992, S. 107 635 Ebda., S. 281 636 Ebda., S. 98

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Hinter den Inszenierungen der Selbstmordversuche Melanies und Elses steckt eine vernünftige, aber trotzdem perverse und diabolische Logik. Beide kalkulieren mit Vorsicht und Präzision alle Schritte ihrer falschen Tragödien, „[...] aber gleichzeitig achtet sie sehr vorsichtig darauf, nicht mehr Veronal aufzulösen, als sie vertragen kann", denn „wer wirklich den Tod sucht, der findet ihn".6'7 Diese Worte Melanies klingen wie die Elses - „Ich will sie nur ansehen, die lieben Pulver. Es verpflichtet ja zu nichts. Auch daß ich sie ins Glas schütte, verpflichtet ja zu nichts. Eins, zwei . . . aber ich bringe mich ja sicher nicht um. Fällt mir gar nicht ein" 6 ' 8 - , die die ganze dramatische Szene mit Präzision, Aufmerksamkeit und Klugheit geplant hat. „Gleich hülle ich mich wieder ein, laufe die Treppe hinauf in mein Zimmer, sperre mich ein und, wenn es mir beliebt, trinke ich das ganze Glas auf einen Zug." 6 ' 9 Gina Kaus stellt die weibliche Hauptfigur aus der Perspektive einer Frau dar. In ihren Augen ist Melanie eine traumhafte und verführerische Frau, die nicht nur ihren Körper, sondern auch ihren Kopf einsetzt, um ihre Ziele zu erreichen. Von diesem Gesichtspunkt aus kehrt die Autorin Weiningers Theorie um: Kein Weib, das ganz Natur und Sexualität ist, sondern eine „männliche" Frau, die genau weiß, was sie will und wie sie es erreichen kann. Für Gina Kaus ist die Kraft der neuen, emanzipierten Frau die Fähigkeit, alle ihre Aktionen, auch den Selbstmord, zu beherrschen. Die alte Frauenrolle in der patriarchalischen Tradition der weiblichen Gestalten Schnitzlers erlaubt keine klugen Schauspielerinnen, denn sie kommen bei ihren schauspielerischen Versuchen um. Das passiert Melanie nicht. Sie ist zu klug und zu durchtrieben vernünftig, sich zu töten; und obwohl sie von ihrem Mann getötet wird, bleibt sie in der männlichen Imagination weiter lebendig.

637 Ebda., S. 144 638 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1998, S. 126 639 Ebda., S. 130

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Beispiele aus der österreichischen Literatur

„Sie steht zwischen mir und meinem Leben. Sie steht zwischen mir und allem." 640 So spricht Albert, und seine Worte zeigen, dass die Frau auch den Tod überwinden kann, denn sie ist stärker als er. „Es war eine unheimliche K r a f t in Melanie; und sie wirkt noch aus dem Grab heraus." 641

640Ebda., S. 271 641 Ebda., S. 271

Primärliteratur

Andreas-Salomé, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. In: Die Frau in der Literatur. Frankfurt am Main: Ullstein Verlag 1993 [1898] Andreas-Salomé, Lou: Der Mensch als Weib. In: Die Erotik. Hrsg. von Ernst Pfeiffer. Wien: Ullstein 1985 [1889], S. 7-45 Andreas-Salomé, Lou: Lebensrückblick. Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch 1974 [1931-32] Baum, Vicky: Die Karriere der Doris Hart. Stuttgarter Hausbücherei 1936 Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Hamburg: Rowohlt 2000 [1949] Bettauer, Hugo: Das entfesselte Wien. Salzburg: Hannibal Verlag 1980 [1924] Bettauer, Hugo: Die freudlose Gasse. Salzburg: Hannibal Verlag 1980 [1924] Braun, Felix: Agnes Altkirchner. Wien: Paul Zsolnay Verlag 1965 [1927] Broch, Hermann: Das Böse in dem Wertsystem der Kunst. In: Dichten und Erkennen. Bd. 1. Zürich: Rhein Verlag 1955, S. 311-350 Broch, Hermann: Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 Canetti, Elias: Die Fackel im Ohr. Wien: Carl Hanser Verlag 1980 [1920-21] Dörmann, Felix: Jazz. Warnsdorf: Strache 1925 [1921-31] Hackert, Fritz: Kaffeehaus, Feuilleton und Kabarett in Wien um 1900. In: Studia Austria ca. Juni 1996, S. 91-121 Hofmannsthal, Hugo von: Der Turm. In: Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke. Hrsg. von Herbert Steiner. Dramen IV. Frankfurt am Main: Fischer 1958, S. 7-209 Hofmannsthal, Hugo von: Der Unbestechliche. In: Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke. Hrsg. von Herbert Steiner. Lustspiele IV. Frankfurt am Main: Fischer 1956, S. 287-405 Hofmannsthal, Hugo von: Eleonora Duse. Die Legende einer Wiener Woche. In: Gotthart Wunberg, Die Wiener Moderne. Stuttgart: Reclam Verlag 1981, S. 622-626 Horváth, Odön von: Geschichten aus dem Wiener Wald. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch 1994 [1931] Kaus, Gina: Die Schwestern Kleh. Wien: Albrecht Knaus Verlag 1933 Kaus, Gina: Teufel in Seide. Wien: Albrecht Knaus Verlag 1927 Kaus, Gina: Was für ein Leben [...] mit Liebe und Literatur, Theater und Film. Wien: Albrecht Knaus Verlag 1979 Kofler, Werner: Am Schreibtisch. Hamburg: Rowohlt 1988

Primärliteratur

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Primärliteratur

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Sekundärliteratur

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Personenregister

Adler, Alfred 185,186,187,189,193,197, 199, 206

Dörmann, Felix 2, 9,10,174,179,180,181, 182,183,184

Allesch, Ea von 26, 27, 28, 29, 42, 61

Duse, Eleonora 48

Altenberg, Peter 27

Dusek, Peter 24

Appelt, Hedwig 49,103 Austerlitz, Friedrich 194

Ernst, Paul 107 Essl, Günther 34

Bachofen, Johann Jakob 53 Bakos, Eva 188

Falck, Lennart 175, 176

Bauer, Otto 30

Fanelli, Verónica Iii, 112

Baum Vicki 2, 9, 32, 33, 43,174,184,187,

Farese, Giuseppe 8,14, 69

199

Fejtö, Franco 32

Braselmann, Werner 160

Fernel, J. 123

Beauvouir, Simone de 4

Fetzer, Gunther 7,11

Becker, Udo 136

Fliedl, Konstanze 97

Berger, Barbara 54

Foltin, Lore 165

Bettauer, Hugo 2, 9,10, 81,174,176,177,

Freud, Sigmund 6,15, 46, 51, 54, 71,115

178,179,180,183,184

Frevert, Ute 66

Blei, Franz 161,188,192,195

Friedeil, Egon 28

Bodenwieser, Gertrud 48

Frischauer, Eduard 193,194, 202

Bonnerot, Luce 49

Frisé, Adolf 150

Bovenschen, Silvia 181

Froeschl, Georg 185

Broch, Hermann 27, 61,175,188,189 Brokoph Mauch, Gudrun 23

Gebel, Susanne 77, 80

Braun, Christina von 1 , 4

Gessner, H. 62

Bruce, Bessi 61

Gombrich, Ernst 45

Butler, Judith 5

Großmann, Bernhard 108,114,125,126,

Bühler, Arnim Thomas 6,19

130,135,138,140,143,149,150,151 Guida-La Forgia, Patrizia 174,175,185,188,

Capovilla, Andrea 173,187 Castle, Eduard 182

194,199 Gürder, Christa 185,189

Cercignani, Fausto 1 Corino, Karl 6,112,113,114,127,134 Croner, Fritz 36

Haase, Hugo 30 Hall, Murray G . 81,177 Heizer, Donna 166

Damigella, Maria 61 Dimovic, Larissa 6, 39, 66 Domagalski, Peter 175

Herrberg, Heike 22, 24, 26, 27, 36,40,42, 48 Heyde- Rynsch, Verena 196

Personenregister Himmelfarb, Getrude 6

Kuh, Anton 189

Hirschfeld, Magnus 54

Kündig, Maya 89, 92, 93, 94, 97,106

219

Hofmannsthal, Hugo von 8,10, 23, 48, 49. 93 Hoffmann, Joseph 62 Hogar, Hilde 48 Horvath, Ödön von 180,181 Huber, Christina 189,194 Huber, Elisabeth 7 , 1 1

Lacan, Jacques 4,5

Jennings, Michael 133,135,138 Jeritza, Maria 47 Jesenskä, Milena 28, 29, 33,188 Jungk, Peter 166

Lueger, Karl 31

Lehmann, Lotte 47 Leopoldi, Hermann 21 Lombroso, Cesare 6, 52 Loos, Adolf 44,45, 46, 47 Loos, Lina 28, 29 Löhner, Fritz 21 Lumerding, Birgit 200 Lützeler, Paul Michael 26, 27 Mach, Ernst 115

Kafka, Franz 29, 33

Magris, Claudio 17

Kaus, Gina 1, 2, 7, 9,102,163,168,174,175, 177,184,185,187,188,190,191,192,193, 195,196,197,198,199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207 Kaus, Otto 185,188,192,193,196 Kecht, Maria Regina 80, 81 Keller, Ulrich 65 Kinigadner, Agnes 35, 39, 40 Klimt, Gustav 27, 62 Klüger, Ruth 173 Knapp, Gudrun 3 Knob, Deborah 6, 65, 66 Knoben-Wauben, Marianne 15,17,19, 75 Kofler, Werner 12 Koh, Wo 115 Kohn, Hans 55 Kokoschka, Oskar 60, 61 Körner, Joseph 8 Kracauer, Sigfrid 176 Krafft-Ebing, Richard 52 Kranz, Joseph 190,191,192,193 Kraus, Karl 24, 25, 34, 41, 42,54, 57,58, 59,

Mahler, Alma 161,163

60,178,189,190,194,195, 205 Krottendorfer, Kurt 127,134,140,145,147, 152,158

Malone, Dagmar 185 Mayreder, Rosa 5, 54 Michaelis, Karl 8 Moorman, Eric 166 Moreau, Gustave 47 Möbius, Paul Julius 6,15,16, 46, 52,53, 54 Möhrmann, Renate 15 Mulot-Deri, Sybille 187,189,192,199,202, 203 Musil, Robert 1, 2, 6, 9, 44,50,107,108, 109,110, in, 112,113,114,115,116,117, 119,121,122,123,129,130,132,133,134, 135,137,138,139,140,141,143,144,146, 147,149,150,151,152,153,157,158,160, 162,163,171,177, 200, 205 Müller, Heidi Magrit 98,100,101,103 Neumann-Holzschuh, Ingrid 1, 3, 4 Novalis 130 Nusser, Peter 11 Oosterhoff, Jenneke 2,16 Orvieto, Paolo 51,52 Palmer, Lilli 198 Paulson, Ronald 130,144,146

220

Personenregister

Paumgartten, Karl 29, 33

Schwarzwald, Eugenie 35,36, 39

Pfoser, Alfred 198

Seipel, Ignaz 31

Piscator, Erwin 23

Severit, Frauke 27

Piscator, Maria 23

Shaw, Bernard 49,168,181

Polgar, Alfred 26

Spiel, Hilde 26, 29, 44, 62,188

Pollak, Ernst 28,188

Stephan, Inge 1, 4,18,106

Popp, Adelheid 37

Steininger, Rolf 29, 32 Strauss, Richard 23

Rauch, Marja 6,115,126

Suchy, Victor 189,190

Reinhard, Max 23

Swales, Martin 78

Reinhard, Urbach I Rigler, Edith 38

Theweleit, Klaus 18, 39

Roland, Ida 48

Torberg, Friedrich 25

Roth, Fedor 45, 46 Roth, Joseph 10

Vogelsang, Karl 31

Roth, Marie-Louise 109 Rüssel, John 44 Sacher-Masoch, Leopold 43 Sartre, Jean Paul 100 Schaffgotsch, Franz Xaver 28 Schankal, Richard 46 Scheible, Hartmut 128,147 Schick, Paul 59 Schiele Egon 61 Schmidt, Willa Elisabeth 96 Schmidt-Dengler, Wendelin 1, 2, 9,10,19, 20, 21, 30, 33, 66, 68, 69, 70, 74,178 Schneider, Helmut 182 Schnitzler, Arthur 1, 2, 6, 7, 8, 9,13,14,15, 16,17,19, 20, 29, 44, 46,49, 63, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 77, 78, 79, 81, 82, 84, 85, 86, 88, 89, 90, 93, 95,

Wagener, Hans 164,165,167 Wagner, Heidi 22, 24, 26, 27, 36, 40, 42,48 Wagner, Nike 51, 57 Wassermann, Jakob 8, 69 Weber, Alfons 164 Wedekind, Franz 181, 204 Weigel, Sigrid 18, 49, 50 Weininger, Otto 6,15, 46, 54,55, 56, 57, 58, 59, 71, 72, 73,104,119,120,123,124, 154, 207 Weinzierl, Ulrich 27 Weissensteiner, Friedrich 161 Wengraf, Edmund 24 Werfel, Franz 1,160,161,162,163,164,166, 167,168,169,170,171,188,189,192 Wiesenthal, Grete 48 Woolf, Virginia 35, 49, 51, 63,174

96, 97, 98,100,101,102,103,104,105, 106,107,109, in, 112,113,114,119,120,

Zeller, Rosemarie 125

122,128,129,130,131,132,133,134,137,

Zirner, Joseph 190,191, 202

141,145,146,147,148,150,153,157,158,

Zöllner, Erich 31

160,161,162,163,166,168,169,170,171,

Zuckerkandl, Berta 32

172,174,177,180,182,184,187,190,191,

Zweig, Stefan 9, 23, 33, 54,55

200, 202, 206, 207 Schober, Johannes 32 Schorske, Carl 61