Orson Welles 3967077314, 9783967077315

Orson Welles' frühes Meisterwerk "Citizen Kane" gilt als einer der einflussreichsten Filme der Kinogeschi

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Orson Welles
 3967077314, 9783967077315

Table of contents :
Cover
Impressum
Inhalt
Henry Keazor / Alexandra Vinzenz — Einleitung
Tanja Prokić — If Kane had been on Social Media. Zur In/Aktualität eines Klassikers
Guido Isekenmeier — Intertextuelle und interfilmische Bezüge von/in/auf Orson Welles’ Citizen Kane
Peter Moormann — Bernard Herrmanns klangliches Kaleidoskop für Citizen Kane. Zur Übertragung von Kompositionstechniken aus dem Hörspiel auf den Film
Alf Gerlach — Citizen Kane – psychoanalytische Perspektiven zum Film
Fabienne Liptay — Hinterlassenschaft und Unvollendung. Von Citizen Kane zu The Other Side of the Wind
Eva Schmiedeberg — Biografie
Eva Schmiedeberg — Filmografie
Autor:innen
Abbildungsnachweise
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FILM-KONZEPTE

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 4 / 2022

Henry Keazor / Alexandra Vinzenz (Hg.)

ORSON WELLES H RE A J 80

N E Z I T I C NE KA

Begründet von Thomas Koebner Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz

FI LM- KONZE PTE Begründet von Thomas Koebner Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz Heft 68 · 4/2022 Orson Welles Herausgeber*in: Henry Keazor / Alexandra Vinzenz

ISSN 1861-9622 ISBN 978-3-96707-731-5 E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara Umschlaggestaltung: Thomas Scheer Umschlagabbildung: Orson Welles

E-ISBN 978-3-96707-732-2

Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, b ­ edarf der vorherigen ­Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für V ­ ervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektro­ nischen Systemen. © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2023 Levelingstraße 6a, 81673 München www.etk-muenchen.de Buchgestaltung: Kathrin Michel, München Druck und Buchbinder: Esser printSolutions GmbH, Westliche Gewerbestraße 6, 75015 Bretten

FILM-KONZEPTE

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4 / 2022 7 / 2016

Henry Keazor / Alexandra Vinzenz(Hg.) (Hg.) Johannes Wende

Begründet von Thomas Koebner Herausgegeben von von Kristina Köhler, Michaela Krützen, Fabienne Liptay und Fabienne Liptay Jörg Schweinitz Johannes Wende

ORSON FRANÇOIS WELLES OZON ORSON WELLES

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Henry Keazor / Alexandra Vinzenz Einleitung

014

Tanja Prokic´ If Kane had been on Social Media. Zur In/Aktualität eines Klassikers

RE Isekenmeier HGuido A J Intertextuelle und interfilmische Bezüge von/in/auf Orson 80

N E Z CITINE KA 027

Welles’ Citizen Kane

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Peter Moormann Bernard Herrmanns klangliches Kaleidoskop für Citizen Kane. Zur Übertragung von Kompositionstechniken aus dem Hörspiel auf den Film

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Alf Gerlach Citizen Kane – psychoanalytische Perspektiven zum Film

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Fabienne Liptay Hinterlassenschaft und Unvollendung. Von Citizen Kane zu The Other Side of the Wind



078  Eva Schmiedeberg Biografie 079  Eva Schmiedeberg Filmografie 081 Autor:innen 083 Abbildungsnachweise

Henry Keazor / Alexandra Vinzenz

Einleitung

I.  »…the #1 film of all time…«

Die Nummern der Film-Konzepte sind üblicherweise nicht einem einzelnen, sondern dem Gesamtwerk eines Regisseurs oder einer Regisseurin gewidmet. Wenn mit diesem Heft von dieser Tradition abgewichen und einem einzelnen Film eines Regisseurs Raum gegeben wird, dann mit gleich mehreren guten Gründen. Denn jenseits des 80. Geburtstag, den Orson Welles’ Citizen Kane (1941) 2021 feierte – und zu dessen Würdigung wir am Institut für Europäische Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg zwischen dem 4.11.2021 und dem 10.2.2022 eine Filmund Vortragsreihe organisiert hatten, auf welche die hier versammelten Beiträge zurückgehen  –, nimmt der Film innerhalb gleich mehrerer Kontexte eine herausragende Stellung ein. Es ist hierbei aufschlussreich, sich die Beigaben jener 80th Anniversary Ultimate Collector’s Edition, die im Dezember 2021 von Warner Home Video vorgelegt wurde, anzuschauen. Zu den dort angebotenen 4K-UHD- und Blu-ray-Formaten von Citizen Kane gehören auch rahmende Materialien, darunter ein anonym verfasstes Booklet, in dem die Entstehungsgeschichte des Films erzählt und zu

Rahmende Materialien der 80th Anniversary Ultimate Collector’s Edition, Warner Home Video, Dezember 2021

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deren Beschluss, gleichsam als Ergebnis, unter der Überschrift »Facts from Xanadu«, dessen herausragende Stellung innerhalb der Filmgeschichte hervorgehoben wird:1 »In 1998, Citizen Kane was voted the #1 greatest film of all time by the American Film Institute. In 2007, the AFI again voted it the greatest film ever made. In 2002, Kane was voted the #1 film of all time by separate Sight & Sound polls for both esteemed critics and inf luential directors.«2 Inzwischen freilich – und dies wird von dem 2021 veröffentlichten Booklet-Text elegant verschwiegen  – wurde Citizen Kane diesbezüglich entthront, denn 2012 wurde Alfred Hitchcocks Film Vertigo (Aus dem Reich der Toten, 1958) just von Sight & Sound zum besten Film aller Zeiten gewählt, 2022 dann Chantal Akermans Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles (1975), womit Citizen Kane nunmehr an dritter Position auf der Liste rangiert. Ausgehend von dieser Entwicklung macht sich die Literatur- und Medien­w issenschaftlerin Tanja Prokić in ihrem vorliegenden Beitrag Gedanken darüber, welche Veränderungen in den Sehgewohnheiten wohl zu einer solchen Wendung geführt haben mögen, während der Litera­turwissenschaftler und Amerikanist Guido Isekenmeier hier fragt, ob das Citizen Kane ebenfalls immer wieder zuerkannte Prädikat als »einf lussreichster Film aller Zeiten« einer kritischen Analyse standhält und ob es in irgendeinem Bezugsverhältnis zu der früher zuerkannten Spitzenposition als bester Film aller Zeiten steht.

II.  Eine einzigartige künstlerische Kontrolle

Doch jenseits solcher diskutierten, wandelnden Beurteilungen verweist das Booklet auf weitere Aspekte zu Citizen Kane, die sicherlich weniger diskutierbar sind: »Although there were subsequent highs in Welles’ career, none ever came close to reaching the same degree of creative control again, and he never made a work that resonated as strongly. His next picture set the precedent for what was to become a long and drawnout series of failed compromises and disappointments. Welles made The Magnificent Ambersons for RKO in 1942, but the editorial reins were snatched from his hands and the final film was drastically altered from his original vision.«3 Dies mutet umso paradoxer an, als Orson Welles in einer von RKO in einer August-Ausgabe des The New Yorker 1942 veröffentlichten Vorabwerbung für The Magnificent Ambersons (Der Glanz des Hauses Amberson, 1942) noch als eine Art von Hekatoncheiros, in der griechi-

Einleitung · 5

Vorabwerbung für The Magnificent Ambersons in einer August-Ausgabe des The New Yorker 1942. Im Original drei­ farbig, hier schwarzweiß reproduziert

schen Mythologie eine Familie hundertarmiger Giganten, dargestellt wurde, der alles bei der Produktion des Films selbst macht: Während er konzentriert durch den Sucher einer Kamera blickt, führt er nachdenklich eine Hand an das Kinn, tippt zugleich mit zwei weiteren Händen das Drehbuch, macht sich mit einer weiteren Hand nebenher Notizen, gibt mit einem zusätzlichen ausgestreckten Zeigefinger Regie-Anweisungen und hält sogar – dies nun dezidiert eine klar erkennbare Abweichung von der Realität – anscheinend selbst den Mikrofon-Galgen. Zu den Übertreibungen gehört dabei auch, dass er zudem nebenher mit einer weiteren Hand ein Modell der Filmkulisse, das Anwesen der Ambersons, zusammenbaut, und mit wiederum einer weiteren hinter ihm hängende Kostüm­ entwürfe koloriert. Das im Rahmen der überwiegend in Schwarz-Weiß ausgeführten Zeichnung sparsam eingesetzte Rot wird dabei zugleich auch zur Betonung eines kleinen Seitenhiebs verwendet: Ein roter Stift lenkt die Aufmerksamkeit auf einen links im Bild stehenden Siegespokal mit der Aufschrift »First Prize 1941 Citizen Kane«, der sich hier allerdings in verächtlicher Pragmatik zu einem Behälter für Schreibgeräte zweckentfremdet findet. Dies ist eventuell eine trotzige Reaktion auf die

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Enttäuschung, dass der für acht Oscars nominierte Citizen Kane dann letzten Endes nur die Auszeichnung für das »Best original screenplay« erhielt – eine Auszeichnung, die sich Welles zudem nicht nur mit dem Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz teilen musste, sondern von der auch spekuliert wurde, dass sie eigentlich nur Letzterem als Gefälligkeitsgeste zuerkannt worden war.4 Der so namentlich erwähnte Vorgänger­ film fungiert hier wahrscheinlich aber vor allem als Qualitätsmerkmal und Hinweis darauf, dass Welles bei den Magnificent Ambersons scheinbar fortsetzen zu können schien, was er als Arbeitsweise zuvor bei seinen Hörspielproduktionen hatte entwickeln und dann bei Citizen Kane auch im Bereich des Films hatte etablieren können: Die Rolle des alles beherrschenden Autors, der seine Ideen direkt und ungehindert in Personalunion umsetzen kann. Welles verlor die Lizenz zur freien Gestaltung jedoch just bei diesem zweiten Film, nachdem eine Testvorführung des soweit fertiggestellten Materials negativ verlaufen war  – die Produktionsfirma RKO entzog ihm darauf hin nicht nur die Kontrolle über den Schnitt, sondern kürzte den Film um ca. 50 Minuten und ließ obendrein ohne Rücksprache mit Welles einen neuen, versöhnlichen Schluss drehen.5 Eben dies macht Citizen Kane zum ersten und zugleich letzten vollendeten Film des Regisseurs, bei dem er umfassende künstlerische Verfügung über sein Projekt hatte, und steigert mithin die Bedeutung dieses ersten Films im Kontext von Welles’ gesamtem Schaffen. Nicht zufällig gestaltet der zitierte Text des Booklets die Spekulation darüber, wie der Erfolg beider Filme hätte ineinandergreifen können, weiter aus, denn hinsichtlich der Magnificent Ambersons heißt es da: »Although it is now considered one of the great American films, one can only imagine what might have been, had Welles possessed the clout to stay in control. One can look back at that year’s Academy Awards and postulate that if Citizen Kane had won the Best Picture trophy it so clearly deserved, its box-office potential might have gone up considerably, and if Kane had made a solid profit, then perhaps Welles would not have been so readily dismissed the second time around.«6

III. (Un)Vollendung

Was der Text in dem Booklet nicht thematisiert, sicherlich aber auch an der Citizen Kane immer wieder zugesprochenen herausragenden Bedeutung einen Anteil hat, ist das mit dem Verlust der künstlerischen Kontrolle verbundene Thema der Vollendung. Denn spätere Filme wie

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z. B. Mr. Arkadin (Herr Satan persönlich, 1955) wurden nicht nur während der Produktion der künstlerischen Verfügung Welles’ entzogen, sondern angesichts von inzwischen insgesamt sechs, je unterschiedlichen Zielsetzungen folgenden Schnittfassungen des Films7 kann man sich auch fragen, ob Mr. Arkadin überhaupt als wirklich vollendet betrachtet werden kann. Dem stehen zahlreiche, ganz offensichtlich unvollendete Projekte zur Seite, mit denen Welles’ Karriere schon begann – denn anders als oft zum erhöhten Ruhm von Citizen Kane behauptet, war dies nicht der erste (und dann gleich geniestreichhaft gelingende) Gehversuch des Regisseurs: Bereits 1938, also drei Jahre vor Welles’ allgemein als Erstlingswerk adressierter Arbeit, hatte er ein Stummfilmvorhaben unter dem Titel Too Much Johnson begonnen. Dies galt lange Zeit als verloren, wurde 2008 jedoch wiederentdeckt und 2013 erstmals in einer Schnittfassung öffentlich vorgeführt.8 Es handelt sich dabei um eine mögliche Annäherung und Interpretation, da von den 66 Minuten ungeschnittenen Materials alleine ca. 40 Minuten eine Verfolgungsjagd abdecken, die in der endgültigen Version sicherlich wenig Raum einnehmen sollte, für deren Montage Welles aber offenbar ausreichend Material zur Verfügung haben wollte. Too Much Johnson war nicht als eigenständiger Film konzipiert, sondern sollte im Rahmen einer Bühnenaufführung der gleichnamigen Komödie aus der Feder des Autors und Schauspielers William Gilette durch das Mercury Theatre am Stony Creek Theatre in Connecticut verteilt als unterschiedlich lange Prologe zu den drei Akten eingesetzt werden: 20 Minuten waren als Einführung für den Auftakt des Stücks reserviert, den Akten 1 und 2 sollten dann jeweils 10-minütige Filme vorgeschaltet werden.9 Dies war zum einen als Versuch zu verstehen, die Komik des Stücks dadurch zu steigern, dass im filmischen Medium Dinge wie z. B. die Verfolgungsjagd in einer Weise gezeigt werden konnten, die auf der Bühne nur stark eingeschränkt umsetzbar waren:10 Gilettes Komödie handelt von dem Anwalt August Billings, der mit Clairette Dathis, einer verheirateten Frau, eine Affäre hat; ihr gegenüber gibt er sich als ein reicher kubanischer Plantagenbesitzer namens Joseph Johnson aus, weshalb er nach Kuba f lieht, als Clairettes Ehemann Leon von dem Verhältnis erfährt und den Nebenbuhler zur Rechenschaft ziehen will, was insofern zu Verwirrungen führt, als der echte Johnson ­involviert wird. Die daraus sowie aus Billings’ vorgetäuschter Identität resultierenden Verwicklungen und Begebenheiten  – wie z. B. die erwähnte Verfolgungsjagd – setzt Welles in den filmischen Passagen im Stil des frühen Slapstick-Kinos um. Dazu passt die bewusste Entscheidung für das Stummfilm-Genre, die zudem als intendierte Anknüpfung an

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die Mediengeschichte zu verstehen ist, denn in der Frühzeit des Kinos, ab 1896, wechselten in Vaudevilles Bühnen- und kurze Filmaufführungen, wie sie auch von Welles im Rahmen von Too Much Johnson vorgesehen waren, einander ab: Ähnlich wie in der News-on-the-March-Sequenz in Citizen Kane, in der kalkuliert mit Anklängen an Formate wie die tatsächlich existierenden The-March-of-Time-Filme gearbeitet wird,11 ref lektierte Welles bereits 1938 mit dem intendierten Mixed-MediaProjekt die Faktur von Medienphänomenen. Der Einsatz der Schauspiel-Truppe des Mercury Theatres, mit dem Welles im Medium des Hörspiels Erfolge feierte, in dem Filmprojekt unterstreicht einmal mehr die enge Verzahnung der Gattungen Hörspiel und Film im Schaffen des Regisseurs, auf die der Musikwissenschaftler Peter Moormann im vorliegenden Band mit seinem Beitrag eingeht. Er zeigt dort, dass einige der wesentlichen filmmusikalischen Strategien des Komponisten Bernard Herrmann für Citizen Kane sich dessen vorangegangener Tätigkeit für Welles’ Hörspielproduktionen verdanken. Aufgrund finanzieller Probleme, Projektionsschwierigkeiten sowie vor allem des fehlenden Rechteerwerbs für eine Filmadaption musste Welles das Vorhaben aufgeben. Das bereits gedrehte Original-Material verblieb im Privatbesitz des Regisseurs und verbrannte im August 1970 bei einem Feuer in Welles’ Villa bei Madrid. 2008 wurde überraschend eine Kopie in einem Lagerhaus in Pordenone entdeckt, das  – zu der besagten Schnittfassung zusammengestellt – am 9. Oktober 2013 beim Pordenone Stummfilm Festival uraufgeführt wurde.12 Too much Johnson war jedoch nicht das einzige Projekt, das Welles aufgab, ehe er sich Citizen Kane zuwandte, denn er arbeitete sodann fünf Monate an einer filmischen Adaption von Joseph E. Conrads Heart of Darkness (1979 von Francis Ford Coppola mit Apocalypse Now auf eigene Weise interpretiert). Obgleich diese mit Drehbuchversionen, Entwürfen und Kulissenmodellen bereits recht weit fortgeschritten war, brach Welles die Vorbereitungen auf Druck der um die Realisierbarkeit und Lukrativität besorgten Produktionsfirma schließlich ab.13 In Anbetracht dieser frühen wie auch insbesondere der zahlreichen späteren gescheiterten Projekte nimmt Citizen Kane – als einziger nach den Vorstellungen des Regisseurs vollendeter Film – auch insofern eine besondere Stellung in Welles’ Œuvre ein. Welles selbst hat das Thema des Scheiterns und der Unvollendung mit einem seiner letzten  – ebenfalls unvollendeten  – filmischen Vorhaben The Other Side of the Wind (der als Netf lix-Produktion sogar erst 33 Jahre nach dem Tod des Regisseurs und wie im Falle der verschiede-

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nen Versionen von Mr. Arkadin sogar von anderer Hand zu einer präsentierten Fassung geschnitten wurde) explizit thematisiert, wie die Filmwissenschaftlerin Fabienne Liptay in ihrem Beitrag zeigt. Ihr Text fungiert zugleich als Ausblick nicht nur auf eben die anderen vollendeten wie unvollendeten Projekte, die der Regisseur nach Citizen Kane zu realisieren versuchte, sondern auch auf eine innovative und offene Metaform des Kinos, mit der Welles angesichts der gemachten frustrierenden Erfahrungen zuletzt verstärkt geliebäugelt zu haben scheint – und welche sich bereits in Citizen Kane angelegt finden: Wieso, so die indirekt in der Dokumentation They’ll Love Me When I’m Dead (2018) überlieferte Frage Welles’, ganz traditionell (und das heißt auch:) linear mit einem Film eine Geschichte erzählen, wenn es viel interessanter sein könnte, verschiedene Personen davon handeln zu lassen, wie ein solcher Film entsteht und auf diese Weise verschiedene Facetten der zu erzählenden Geschichte ausleuchten?14 Die damit naheliegende »multiperspektivische Zergliederung und unabschließbare Offenheit«, wie Liptay dies formuliert,15 gemahnt an das erzählerische Prinzip von Citizen Kane, in dem die Lebensgeschichte von Charles Foster Kane gerade nicht einfach aus auktorialer Erzählperspektive an einem Stück chronologisch durcherzählt wird, sondern anscheinend verschiedene Personen sich an ihn erinnern und von ihm erzählen lassen.16 Eben dies deutet sich auch in The Other Side of the Wind an, wenn von verschiedenen Personen und aus deren Sicht über Jake Hannaford, sein Leben und den gleich­ namigen Film geurteilt und dieses unvollendet bleibende Projekt immer nur in sehr unterschiedlich von den Filmfiguren kommentierten Ausschnitten präsent wird. Insofern lässt sich die erhöhte Bedeutung, die Citizen Kane zugemessen wird, auch aus dieser Perspektive heraus verstehen.

IV.  Citizen (K[ane]/Welles)

Die bislang benannten Begründungen verschränken sich jedoch auch und zeitigen, so potenziert, weitere entsprechende Wirkungen: Dass Welles nach Citizen Kane nie wieder eine vergleichbare künstlerische Kontrolle über einen Film er- und behalten sollte, bedingt sicherlich auch den Umstand, dass heute kein anderes seiner Werke so direkt und beharrlich mit ihm und seinem Namen assoziiert wird. Andere seiner vielen mehr oder weniger vollendeten Filme mögen, wenn von dem ­Regisseur die Rede ist, häufig unerwähnt bleiben – Citizen Kane, sein

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erster vollendeter Film, hingegen wird stets wenigstens genannt. Dies macht sich auch an den Themen jener Filme bemerkbar, in denen Welles’ Leben zum Gegenstand gemacht wird: Werden Episoden daraus filmisch interpretiert  – wie z. B. im Falle von Benjamin Ross’ TV-Produktion RKO 281 (Citizen Kane  – Die Hollywood-Legende aka: Die Legende: Der Kampf um Citizen Kane, 1999) oder David F ­ inchers Mank (2020) –, so kreisen diese häufig um die Entstehung von Citizen Kane.17 Damit rücken die angesprochenen Wechselwirkungen zwischen einander verstärkenden Dynamiken in den Blick. Denn – wie auch Guido Isekenmeier in seinem Beitrag betont18 – die Vokabel »Citizen« hat sich in Verbindung mit einem nachfolgenden Namen oder Buchstaben auch so weit von dem engeren Kontext des damit überschriebenen Films emanzipiert, dass er auch auf andere Personen übertragen werden kann. Die so geleistete vage Assoziation mit Welles’ berühmtem »Meisterwerk« erhöht die Aufmerksamkeit bzw. reklamiert eine entsprechende Bedeutung: Citizen K ist z. B. der 2019 vorgelegte Dokumentarfilm des amerikanischen Regisseurs Alex Gibney betitelt, der nichts mit Kane oder auch nur Welles zu tun hat, sondern den russischen Unternehmer, früheren Oligarchen und Aktivisten Michail Borissowitsch Chodorkowski (englische Schreibweise: Mikhail Khodorkovsky) porträtiert. Citizen K International ist wiederum auch der Name einer 1993 von dem Unternehmer Gérard Kappauf 19 gegründeten Zeitschrift, in der Themen wie Mode, Lebensstile und Kultur auf zuweilen provokante Weise verhandelt werden.20 In beiden Fällen gibt es also einerseits über die Titel klar intendierte Anlehnungen an Welles’ Filmtitel, während andererseits die tatsächlichen Bezüge eher vage bleiben: Chodorkowski ist, wie Kane im Film, ein in die Politik gegangener Unternehmer – damit enden die Parallelen aber auch. Und Kappauf gibt mit seinem Magazin ein Organ heraus, das – ähnlich wie Kanes Inquirer – zu provozieren versucht und sich dabei volksnah gibt: So wurde und wird an Citizen K International gerühmt, dass es die einzige Modezeitschrift sei, die für nur (anfänglich) 1 bzw. (inzwischen) 2 Euro erhältlich sei.21 Rekurse wie diese bewirken, dass der Begriff des Citizen als Bezeichnung für eine konkrete Person selbst jenen geläufig wird, die den Film gar nicht kennen. Wird er nun aber auf ihren Mit-Urheber selbst angewendet, wie z. B. den Welles gewidmeten Biografien, welche Titel wie Citizen Welles tragen,22 so nimmt die Verschmelzung eines Drehbuchautors, Schauspielers, Regisseurs und Produzenten mit einem einzigen seiner Filme auffällige, wo nicht sogar einzigartige Züge an.

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V.  »Und natürlich: Rosebud«23

Kehrt man abschließend zu der eingangs erwähnten 80th Anniversary Ultimate Collector’s Edition zurück, so fällt auf, dass unter all den beigelegten illustrierten Druckerzeugnissen die Abbildung eines Objekts auf den ersten Blick zu fehlen scheint: die von Rosebud, dem Schlitten des noch glücklichen, kleinen Charles Foster Kane. Allerdings sind Schriftzug und Roseblüten-Signet in der Edition tatsächlich doch präsent  – und zwar gleich zweimal: Einmal versteckt auf der Rückseite von fünf Sammelkarten 24 sowie in Form des Coverbilds jenes doppelseitigen Kuverts, das all die Beigaben umschließt. Auch in Citizen Kane ist Rosebud schon gleich nach der ersten Filmminute musikalisch mit seinem auf einem Vibraphon gespielten Thema präsent,25 wird aber übersehen bzw. überhört, da es vom Publikum noch nicht als solches identifiziert werden kann: Die dazu erscheinenden Bilder zeigen das in nächtlicher Schwärze wie verlassen und unheimlich daliegende Xanadu – mithin also das, womit Kane erfolglos versucht hat, den Verlust der durch Rosebud symbolisierten glücklichen Kindheit zu kompensieren. Und wie zur Bestätigung löst sich das Filmbild des sterbend vor einem matt erleuchteten Fenster liegenden Kane sodann unter dem erneuten Erklingen des Rosebud-Motivs in einer Flöte in ein Schneetreiben auf, aus dem heraus das Haus in jener Glaskugel erscheint, die der Verscheidende fallen lassen wird, nachdem er das Wort »Rosebud« ausgesprochen hat:26 Wie bei den Rückseiten der Sammelkarten und dem Coverbild des Edition-Kuverts ist Rosebud von Anfang an geradezu überdeutlich zugegen, wird aber nicht gewürdigt, da

Schriftzug und RoseblütenSignet auf der Rückseite von fünf Sammelkarten der Collector’s Edition, 2021

Schriftzug und RoseblütenSignet als Coverbild des alle Beigaben umschließenden doppelseitigen Kuverts der Collector’s Edition, 2021

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es scheinbar auf Anderes, Nachfolgendes, vermeintlich Wichtigeres verweist, während es dieses tatsächlich um- und abschließt. Am Ende des Films erklingt das Rosebud-Motiv wieder, nun in dramatischer Intonation, während jene Kombination aus Schriftzug und Signet, wie sie auch auf dem Edition-Umschlag und der Rückseite der Karten zu sehen ist, von Flammen verschlungen wird.27 Erst jetzt, nach fast zwei Filmstunden, sind die wahre Bedeutung des Begriffs und seines musikalischen Motivs deutlich geworden. Der Psychoanalytiker Alf Gerlach sieht daher in Rose­ bud – entgegen der sonst oft vertretenen Lesart – mehr als einen bloßen Hitchcock’schen McGuffin, mit dem lediglich eine Handlung ausgelöst werden soll, während er an sich sonst keine Bedeutung hat, sondern ledig­ lich vortäuscht. Demgegenüber zeigt Gerlach in seinem Beitrag, dass Rose­ bud vielmehr als Indiz wie Symbol des von Kane erlittenen Verlusts und seiner darauf reagierenden Kompensationsversuche gelesen werden kann. Was bei all dem jedoch auch deutlich wird: Selbst, wenn man die Bedeutung von Citizen Kane mit Hilfe seines Status innerhalb von Welles’ Schaffen – als unter dessen vollständiger künstlerischer Kontrolle vollendetes Projekt mit einer in die Zukunft weisenden Erzählästhetik  – zu eruieren versuchen kann, so erklärt dies in letzter Instanz nicht, wieso der Film zu immer wieder neuen Beobachtungen und Aufsätzen angeregt hat und weiter anregt, wie sie auch in diesem Band versammelt sind.

1 Die Beigaben enthalten des Weiteren einen Nachdruck des »Souvenir Programs«, das anlässlich der Premiere verteilt wurde, eine Zusammenstellung nachgedruckten Werbematerials zu dem Film, ein doppelseitiges Filmplakat, drei Karten mit Standfotografien und einer Aufnahme von Welles hinter der Kamera sowie fünf Sammelkarten mit verschiedenen Varianten der den Film bewerbenden Plakate. — 2 80th Anniversary Ultimate Collector’s Edition, Warner 2021, Booklet: Orson Welles. Citizen Kane, S. 42. — 3 Ebd., S. 31. — 4 Ebd., S. 28. — 5 Robert L. Carringer, The Making of Citizen Kane, 3. Auf l., Berkeley/Los Angeles/London 1996, S. 124–127. — 6 Booklet: Orson Welles (s. Anm. 2), S. 31. — 7 Vgl. dazu Jonathan Rosenbaum, »The Seven Arkadins«, in: Discovering Orson Welles, hg. von ders., Berkeley/Los Angeles 2007, S. 146–162, hier S. 147 und 159. — 8 Vgl. dazu https://www.filmpreservation.org/preserved-films/lostand-found-mercury-theater-films (letzter Zugriff am 24.09.2022). — 9 Vgl. dazu Clinton Heylin, Despite the System. Orson Welles versus the Hollywood Studios, Edinburgh 2005, S. 10; Steve Tavarella, Mary Wickes. I Know I’ve Seen that Face Before, Jackson 2013, S. 40–45; Josephine McKenna, »Unfinished Orson Welles film found in Italy«, in: The Telegraph, 08.08.2013, https:// www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/italy/10230843/Unf inished-Orson-Wellesfilm-found-in-Italy.html (letzter Zugriff am 01.10.2022) sowie Joseph McBride, »Too Much Johnson. Recovering Orson Welles’s Dream of Early Cinema«, in: Bright Lights Film Journal, 24.08.2014, https://brightlightsfilm.com/too-much-johnson-orson-welles-film-recoveringorson-welless-dream-of-early-cinema/#.YzhNZtjP2Ul (letzter Zugriff am 01.10.2022). — 10 Man denke hier auch an Alban Bergs 1937 uraufgeführte Oper Lulu, wo der Komponist für den Wendepunkt zwischen den beiden Szenen des 2. Aktes einen Stummfilm vorgesehen hatte, der die zwischenzeitlichen Ereignisse (mit Lulus Einkerkerung und Befreiung aus dem Gef ängnis) zeigen sollte. Vgl. dazu u. a. Volker Scherliess, Alban Berg, Reinbek bei Hamburg

Einleitung · 13 1975, S. 121. — 11 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Guido Isekenmeier in seinem hier vorgelegten Beitrag, S. 31. — 12 Seit 2014 sind das unbearbeitete Material sowie die moderne Schnittfassung auf der Website der National Film Preservation Foundation verfügbar, s. https://www.filmpreservation.org/preserved-films/lost-and-found-mercury-theater-films (letzter Zugriff am 24.09.2022). — 13 Carringer, The Making of Citizen Kane (s. Anm. 5), S. 14 f. — 14 Morgan Neville, They’ll Love Me When I am Dead, Netf lix, 2018, 01:35:30–01:53:35. — 15 Vgl. hier S. 74. — 16 Dies liefert auch die Antwort auf die 2016 von Robert James Cardullo gestellte Frage, »why (…) Orson Welles and Herman J. Mankiewicz (did) make a film about the dead Kane instead of a film about Kane while he was living« – vgl. dazu: Robert James Cardullo, »The Real Fascination of Citizen Kane. Welles’s Masterpiece Reconsidered«, in: Teaching Sound Film (2016), S. 23–37, mit dem Zitat S. 23. Wäre Kane noch am Leben, würde das gewählte Erzählprinzip keinen Sinn machen, zumal es dann mit ihm eine Autorität gäbe, welche die über ihn getroffenen Aussagen direkt in Frage stellen könnte. — 17 Ausnahmen stellen hier auf den ersten Blick die Filme The Cradle Will Rock (Das schwankende Schiff, 1999) von Tim Robbins und Me and Orson Welles (Ich & Orson Welles, 2008) von Richard Linklater dar, die beide 1937 spielen. Doch wie bei dem knapp 32-minütigen Kurzfilm von Vincent D’Onofrio Five Minutes, Mr. Welles (2005), der 1949 spielt, sind die entsprechenden Filme dafür voller motivischer und formaler Referenzen auf Citizen Kane. — 18 Isekenmeier, S. 27 f. — 19 Vgl. dazu das Gespräch mit Kappauf im Rahmen der Canal+-Sendung Le Grand Journal vom 14.12.2012, https://www.dailymotion.com/video/x55a4jq, 00:19:54–00:25:17 (letzter Zugriff am 24.09.2022). Kappauf wird dort auch als »Le Pape de la mode« vorgestellt. — 20 Kappauf gründete 2010 auch ein entsprechend getauftes Unternehmen. — 21 Vgl. Sabrina Champenois, »Portrait Kappauf. Créature de mode. Le créateur et animateur de Citizen K, magazine de luxe vendu à 1 euro, assume non sans panache son statut d’alien«, in: Libération, 23.06.2008, online unter https://www.liberation.fr/mode/2008/06/23/kappauf-creature-de-mode_74700 (letzter Zugriff am 24.09.2022). — 22 Vgl. z. B. Frank Brady, Citizen Welles. A Biography of Orson ­Welles, New York 1989. Analoges lässt sich in Bezug auf eines der Vorbilder von Charles Foster Kane, Randolph W. Hearst, beobachten, dessen Leben ebenfalls unter Titeln wie »Citizen Hearst« verhandelt wurde – vgl. z. B. die zweiteilige, ab dem 27. September 2021 verfügbare Fernsehdokumentation von Stephen Ives und Amanda Pollak zum Leben Hearsts, die als die Episoden 43 und 44 der Serie American Experience unter dem Titel Citizen Hearst laufen. — 23 Zitat aus der Anfang 2022 geposteten Antwort des Users Kirchhellner auf die ebendann unter https:// www.reddit.com/r/FragReddit/comments/rmvlwu/bei_welcher_anspielungreferenz_habt_ ihr_erst_dann/ (letzter Zugriff am 24.09.2022) von u/high_priestess23 gestellte Frage: »Bei welcher Anspielung/Referenz habt ihr erst dann bemerkt, worauf es eine Anspielung ist, als ihr erst spät das Original gesehen habt?« Seine Replik lautet: »Die Affenszene in 2001 : Odyssee im Weltraum hatte ich zuerst bei den Simpsons gesehen. Und natürlich : Rosebud«. — 24 Auch die Rückseite des Booklets wird von dem in Rot gehaltenen Signet, allerdings ohne den Schriftzug, geschmückt. — 25 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Turner 2011, 00:0:39. — 26 Ebd., 00:02:14–00:02:40. — 27 Ebd., 01:56:02–01:56:24.

Tanja Prokic´

If Kane had been on Social Media Zur In/Aktualität eines Klassikers

I.  Citizen Kane No Longer the Greatest Film of All Time

Seit 2012 gilt Orson Welles’ Meisterwerk Citizen Kane (1941) nicht mehr als der wichtigste Film aller Zeiten. So hat es sich aus der UmfragePeriode der Zeitschrift Sight & Sound zwischen 2002 und 2012 ergeben.1 Nach einer 50-jährigen Regentschaft wurde er von Alfred Hitchcocks Vertigo (Aus dem Reich der Toten, 1958) vom ersten Platz auf der Liste verdrängt. Seit der jüngsten Umfrage 2022, die Chantal Akermans Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles (1975) zum wichtigsten Film aller Zeiten wählte, rangiert Citizen Kane nunmehr auf Platz drei. Wenngleich das Ergebnis der Umfrage jenseits filminteressierter Kreise gerade für eine tagesaktuelle Schlagzeile im Kulturressort reicht, ist es für eine Mediengeschichte des Films mehr als bedeutungsvoll. Es kann als symptomatischer Beleg für einen tieferliegenden Wandel gelten, der aus den techno-ökonomischen Entwicklungen seit Mitte des 20. Jahr­ hunderts resultiert. Die Erfindung des Computers in den 1940er Jahren, die Entwicklung des Internets ab Mitte der 1960er Jahre und schließlich die Kommerzialisierung des Internets ab Mitte der 1990er Jahre führten zu einer irreversiblen Verschränkung von Ökonomie und Technologie, die unmittelbare Effekte nicht nur auf die soziale und geopolitische Ordnung, sondern auch auf die Formation des Kulturellen zeitigt.2 Eine solche Auswirkung auf die kulturelle Ebene betrifft die ubiquitäre Präsenz von Bildern. Seit dem Aufstieg der Sozialen Medien ab 2003 haben sich digitale Plattformen wie etwa YouTube, Twitter, Pinterest oder Instagram zunehmend darauf spezialisiert, den User:innen je spezifisches Infrastrukturdesign für selbst generierten Content zur Verfügung zu stellen – zunächst schriftlicher, dann zunehmend (mit Verbesserung der Hardware) auch (audio-)visueller Natur. Das individuelle Infrastrukturdesign präformiert Stil, Modus und Frequenz dieses unendlichen Bilderverkehrs. Die Plattformen als Teil größerer Unternehmen haben ein ökonomisches Interesse, nämlich die Auslese und den Weiterverkauf der User:innendaten, die bei der Nutzung ihrer Infrastrukturen hinterlassen

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werden. Das intrinsische Interesse jeder Plattform ist daher, die User:innen bei jedem einzelnen Nutzungsakt so lange wie möglich im eigenen Plattform-Universum zu halten und über den einzelnen Nutzungsakt hinaus dauerhaft an die Plattform zu binden.3 Partizipative Produktion ist ein probates Mittel, um Konsum hinter einem scheinbaren, infrastrukturellen Nutzen zu verbergen.4 Die Erfindung des Smartphones als drahtlose Medienkonvergenzmaschine und der Ausbau des mobilen Internets ab 2007 haben eine Flut an teilbarem und geteiltem Content ausgelöst. Nie zuvor war es so einfach, Fotos und Videos zu erstellen und über die unterschiedlichsten Kanäle zu verteilen.5 Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden so viele Bilder erstellt und geteilt wie in den letzten Jahren. Doch mit dem Smartphone kommen nicht nur eine amateursichere Kamera, entsprechende Bildbearbeitungsprogramme und Filter, sondern auch diverse Infrastrukturen, die zum unentwegten Teilen von Bildern auffordern. »Die quasi-echtzeitliche Distribution dieses kaum vorstellbaren Volumens digitaler Bilddaten, die mit einer beiläufigen Berührung des Touchscreens billionenfach versendet, kopiert, bearbeitet, geremixt, veröffentlicht, geshared werden können, führt zu einem permanent neu aggregierten, sich im Sekundentakt umbauenden Gesamtgefüge technischer Bilder« 6, so Simon Rothöhler. Dieses mediale Setting fordert nicht nur zu unzähligen Migrations- und Bearbeitungsprozessen, d. h. zum Einfügen von Untertiteln oder neuen Details, zum Erstellen von Montagen und zum wiederholten Upload der Bilder7 auf, sondern es konkurriert auch um unsere knappen Aufmerksamkeits­ ressourcen. Denn die Bilder wollen eine Reaktion von uns. Je höher der Reaktions- und Partizipationsdruck, desto knapper werden die Ressourcen. Das hat nicht nur Folgen für die tatsächlichen zeitlichen Aufmerksamkeitsspannen, sondern vor allem für ihre Tiefe: Wer wenig Zeit hat, ein Bild zu betrachten, der wird f lachere, weniger komplexe Bilder bevorzugen. Je einfacher die Bilder aufgebaut sind, umso mehr Bilder lassen sich in knapper Zeit durch unsere Aufmerksamkeit bewältigen. Kulturevolutionär gesehen erhalten sie den flow, den sie allererst erzeugen, aufrecht.8 Die Nutzung der Sozialen Medien transformiert damit den gesamten »perceptual code«.9 Das hat Folgen nicht nur für die Zukunft der Bilder, sondern auch für die Vergangenheit der Bilder, insofern es eben nicht nur um unsere Aufmerksamkeitsressourcen, sondern um unsere Aufmerksamkeitsroutinen und insbesondere um unsere Sehgewohnheiten geht.10 Hitchcocks Vertigo, so die erste These, steht den Sehgewohnheiten des digitalen Mediendispositivs näher als Citizen Kane. Allerdings, so

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die zweite hier verfochtene These, bietet Kane noch nach 80 Jahren mehr Potenzial, den Verstrickungen dieses neuen Mediendispositivs mit der Logik des Kapitals auf die Spur zu kommen.

II.  The War of the Images

Beide Filme erzählen von der Verführungsmacht der Bilder. Beide Filme erzählen auf die eine oder andere Weise vom System Hollywood.11 Während Vertigo das Werk eines routinierten 59-jährigen HollywoodGrandmasters ist – es ist Hitchcocks 46. Film, sowie sein letzter Film für Paramount –, ist Kane Orson Welles’ erster Film. Während Hitchcock das klassische Hollywood-Kino, dessen Periode als führender Stil des internationalen Kinos von 1910 bis in die 1950er hineinreicht, an ein Ende führt, erneuert Welles sowohl Mythos als auch Stil von Hollywood. Die Traumfabrik hatte einem 25-jährigen Enfant terrible, das in der breiten amerikanischen Gesellschaft durch sein Radiospiel The War of the Worlds (1938) für Furore gesorgt hatte und bis auf Theaterproduktionen keinerlei Erfahrungen in Filmregie mitbrachte, die Alleinmacht über den Produktionsprozess eines Films überlassen – so erzählt es zumindest der Mythos von Hollywood. Mit den Querelen, kleinen und großen Tragödien und Machtkämpfen im Hintergrund dieses Mythos haben sich die Filmgeschichtsschreibung und neuerdings auch – passend zum neuen Jahrtausend  – die Netf lix-Produktion Mank (2020) in der Regie von David Fincher bemüht, Auf klärung zu schaffen. Während also Hitchcock eine Verfallsgeschichte erzählt, indem er den Traum von Hollywood als ein Trauma entblößt, inszeniert Welles eine Erfolgsgeschichte, die auf dem Rücken einer traumatisierten Figur erzählt wird. Im Besonderen handelt es sich um eine Erfolgsgeschichte der Traumfabrik Hollywood und eine Erfolgsgeschichte des Mythos von Amerika. Während Hitchcock an der Erscheinungsoberf läche der Bilder bleibt, dringt Welles bis auf die Erscheinungsbedingungen der Bilder vor. ((Abb. 1)) Scottie Ferguson ( James Stewart), der tragische Anti-Held in Vertigo, leidet an dem gleichnamigen Krankheitsbild. Als invalider Polizist hat er mit den Folgen eines gescheiterten Verfolgungseinsatzes zu kämpfen, bei dem er hoch über den Dächern von San Francisco beinahe in die Tiefe gestürzt wäre und schließlich sogar seinen Partner verlor, der ihn zu retten versuchte. Er leidet an Höhenangst, der er schon bei dem geringsten Höhenunterschied nicht Herr werden kann. Das Vertigo-Syndrom, von Hitchcock wiederkehrend als nicht endende Spirale visuell inszeniert,

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Orson Welles, Citizen Kane, USA 1942, Mythos und Mann

steht auch am Anfang eines spiralförmig arrangierten Handlungskomplexes. Von einem alten Freund mit der Beschattung seiner Ehefrau Made­ leine (Kim Novak) beauftragt, nimmt Scottie seine alten Routinen der Detektion wieder auf. Er folgt Madeleine bei ihren mysteriösen Fahrten zu einem Friedhof, in einen Gebäudekomplex, schließlich in ein Museum. Wie der Ehemann andeutet, scheint sie von der Idee besessen, in Kontakt mit der verstorbenen Ururgroßmutter Carlotta Waldes zu stehen. Madeleine verbringt Stunden vor ihrem Porträt im Museum, das ein Abbild ihrer selbst zu sein scheint: der gleiche markante Haarknoten, der visuell das Thema das Schwindels aufnimmt. Wir sehen dabei die Zeichen, die Scottie nicht sieht. Er verliebt sich in die enigmatische Madeleine und versucht, sie von ihrem Traum(a) zu kurieren. Das Kalkül des Ehemanns, der Scottie nicht trotz, sondern wegen seiner Höhenangst anheuert, geht auf: Madeleine stürzt sich in ihrem unauf haltsamen Wahn vom Turm des Friedhofs, auf dem die Ururgroßmutter begraben liegt. Scottie konnte ihr Trauma nicht kurieren, denn sein eigenes, die Höhenangst, hindert ihn daran, die junge Frau in ihrem Todeslauf aufzuhalten. Der Sog des Schwindels verwehrt, dass Scottie die Illusionskraft der Bilder durchschaut: Madeleine 1 war bereits tot, eine angeheuerte Madeleine 2 wurde beauftragt, Scottie falsche Tatsachen vorzuspielen, damit dieser zum

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Alfred Hitchcock, Vertigo, USA 1958, die Inszenierung von Madeleine

glaubhaften Zeugen von Madeleines Wahntod wird. Die falsche Madeleine (2) verbirgt sich im oberen Bereich des Turms und Scottie kann nur mehr die Leiche der echten Madeleine (1) am Fuße des Turms auffinden. Damit kommt der erste Teil von Hitchcocks Wiederholungsspirale zum Ende. Scotties Trauma bleibt genauso wie der – einem Hollywood verdächtig ähnlichen – Traumaplot des Ehemanns intakt.((Abb. 2)) Der zweite Teil von Hitchcocks Verfallsgeschichte hebt mit einem Spaziergang Scotties durch die Innenstadt von San Francisco an: In einer Gruppe von jungen Frauen glaubt er Madeleine zu erkennen. Er führt sie zum Dinner aus und ist absolut besessen von Madeleine, die sich hinter der

Alfred Hitchcock, Vertigo, USA 1958, die falsche Madeleine

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Alfred Hitchcock, Vertigo, USA 1958, nach dem Make-Over

Fassade der etwas groben, vulgären Verkäuferin Judy (= Madeleine 2) zu verbergen scheint. Ganz im Zentrum von Hitchcocks Meisterwerk steht nun die Illusionskraft der Imagination. Scottie setzt einem zweiten Pygmalion gleich alles daran, seine Madeleine aus Judy herauszuschälen. Er wird zum Drehbuchautor, Produzent, Regisseur, zum Ausstatter, M ­ akeup-Artist und Stylist, bis sich schließlich Judy gewaltsam in das perfekte Abbild von Madeleine 2, in Madeleine 3 verwandelt.12 Scottie erhält seine verlorene Geliebte zwar zurück, doch auch ihr Tod steht bereits fest. Sie wird, indem sie den Turm herunterstürzt, den Tod sterben, den sie in ihrem Ähnlichkeitsspiel als Madeleine 2 nur gespielt hatte: und auch ihr Tod ist alles andere als zufällig.((Abb. 4)) Hitchcocks Bildkritik geht weit über das Psychogramm eines liebeskranken Mannes hinaus. Sie ist eine Abrechnung mit der HollywoodMaschine, die den rohen, ungeschliffenen Bildern gewaltsam einen ­g länzenden Schein auferlegt, damit wir ihnen im Vergessen über ihre Künstlichkeit verfallen können. Die Realität muss sich in der Logik dieser Maschine an diesem Schein von Hollywood messen. Es ist nur konsequent, dass weder Scottie noch wir, das Publikum, je die echte Madeleine  1 zu Gesicht bekommen haben. Der Schwindel, an dem Scottie leidet und zu dessen Komplize er schließlich wird, ist der notorische Schwindel der Bilder. Damit führt Hitchcock das klassische Hollywood-Kino an ein Ende. Denn die Handlung des Films ist, wie für das klassische Hollywood üblich, nicht mehr länger um die persönliche Motivation des Helden zentriert, sie löst sich vom Helden und springt auf das Bildhandeln Holly-

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woods über. Während klassische Hollywoodfilme zu einem geschlossenen Ende tendieren, mit dem alle Konf likte gelöst, alle Geheimnisse gelüftet werden, und in dem über das weitere Schicksal aller Figuren aufgeklärt wird, ist zum Ende dieses Films das Trauma noch immer intakt. Der Held ist erneut gescheitert, der zugrundeliegende Konf likt ist nicht lösbar, da er die Struktur des Hollywoodfilms per se betrifft. Denn die Verführungsmacht und die Illusionskraft der Bilder bleiben, jenseits von Scotties individueller Geschichte, intakt. Die Filmbilder beherbergen die traumatische Struktur der ewigen Wiederkehr des Gleichen.13 Vertigo ist als Synonym für den Schwindel der Bilder – so führt es Hitchcock mit seinem letzten Film für Paramount vor – das Unbewusste Hollywoods. Gleichzeitig funktioniert dieses Unbewusste Hollywoods aber auch, so könnte man zuspitzen, als das Unbewusste des Silicon Valley – von Insta­ gram bis Apple –, das mit seinem forcierten Bilderkult den HollywoodKomplex beerbt. In der Logik der Retraumatisierung, die Hitchcock als ewige Spirale inszeniert, sind wir alle ein bisschen Scottie und die von ihm konstruierte Madeleine zugleich. In Vertigo sehen wir uns dem Schwindel der Bilder unterworfen, befreien können wir uns aus dieser Struktur allerdings nicht. Hitchcock formuliert damit eine Kritik an der Oberf läche der Bilder – eine Kritik der Oberf läche liefert dagegen Orson Welles.

III. »I am, have been, and will be only one thing – an American«: Mythos und Anti-Mythos

Charles Foster Kane fungiert, anders als Scottie/Madeleine, nicht als personeller Agent einer Handlung, seine persönliche Motivation bleibt bis zum Schluss opak. Anders als der klassische Hollywood-Held ist er, kraft der Logik der Narration, ein Resultat sozialer Einf lüsse. Der Fortgang der Erzählung ist weder von seinem Verlangen noch von seinen Zielen abhängig. Denn Charles Foster Kane ist zum Beginn der Handlung bereits tot. Wenn es in dem Film eine den Konventionen des Hollywoodfilms gehorchende Hauptfigur gibt, an deren Verlangen und Ziele sich der Fortgang der filmischen Erzählung knüpft, dann ist diese Figur die unscheinbarste Figur des ganzen Films: nämlich der Reporter Jerry Thompson. Doch Thompson ist alles andere als eine echte Figur, er ist vielmehr eine Rückenfigur, eine Eintrittsfigur. Er existiert in der Bildwelt von Citizen Kane allenfalls schemenhaft. Dadurch aber, dass wir als Publikum gezwungen sind, uns mit seinem Ziel zu identifizieren –

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nämlich herauszufinden, wofür das vom sterbenden Kane geäußerte »Rosebud« steht –, werden wir gewissermaßen auf die reinste und gleichzeitig passivste Form des Zuschauer:innendaseins zurückgeworfen, die das Kino produziert. Wir sind gezwungen, Thompsons Bilder zu sehen, seine Schlüsse zu ziehen.14 So wird Citizen Kane von einem fingierten Biopic zu einem Film über Film, zu einem Film über die Beziehung des Hollywoodfilms zu seinem Publikum. So sehr der Film uns glauben machen möchte, er eröffne einen filmischen Denkraum, der es uns erlaubt, uns zu der von Thompson und seinem Arbeitgeber initiierten Suche nach Rosebud zu verhalten  – so deutlich wird im weiteren Verlauf, dass letztlich nur die eine (unbefriedigende) Lesart von Rosebud möglich ist. Rosebud steht für die verlorene Kindheit, die mit der von der Mutter auf den Sohn überschriebenen Goldmine abrupt und gewaltsam endet. Die Bedeutung von Rosebud, die allein durch die Zeichenarbeit des Publikums zu identifizieren ist, mag vielleicht der Schlüssel zu Kanes hochindividuellem Traumakomplex sein – als Erklärung für die gigantische Kane’sche Kapitalvernichtungsgeschichte ist das Trennungstrauma, das sich in Rosebud verkörpert, nicht hinreichend. Rosebud ist ein McGuffin – ein narrativer Trick, der die Aufmerksamkeit des Publikums bindet, um uns schließlich vor Augen zu führen, dass es keine eindeutige Antwort auf die von Rosebud aufgegebenen Frage gibt, und dass sowohl Frage wie Antwort in Bezug auf die vom Film Citizen Kane erzählte Geschichte absolut irrelevant sind.15 Anders als Vertigo kommt mit Citizen Kane die Erzählung trotz ihres offenen Endes an ein Ende. Denn wir werden Zeug:innen all der Fakten, die Kane binnen seines Lebens geschaffen hat, all des wertlosen Überf lusses, den sein Kapital generiert hat. Obgleich der Film vorgibt, er interessiere sich für das Individuum Charles Foster Kane, interessiert er sich eher für die Strukturbedingungen, die das Phänomen Kane ermöglichten. Ein Wort wie Rosebud vermag ein Leben nicht zu erklären, eine montierte Kette von inszenierten, hochartifiziellen Bildern allerdings vermag mehr als das; jedoch nur, weil eine falsche Frage am Anfang steht: Ganz ähnlich wie Scottie in Vertigo werden wir durch die Bilder auf eine falsche Spur gebracht, die uns nur beiläufig zur Antwort auf die Frage nach Rosebud führt  – mit einem Schwenk auf den im Feuer verbrennenden Schlitten, der die Aufschrift »Rosebud« trägt. Die Bilder erzählen allerdings noch eine zweite Geschichte, die Geschichte des Mythos von Amerika. Der Bürger Kane repräsentiert die ökonomische und kulturelle amerikanische Vorherrschaft, die, gleichgültig wie viel unbrauchbaren,

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wertlosen Überschuss sie produziert, gleichgültig wie viele individuelle Akteure sie verheizt, intakt bleibt. Das gelingt ihr durch eine sehr ein­ drucksvolle, gut funktionierende Bilder- bzw. Mythenmaschine. Nicht umsonst umfasst die Schaffenszeit von Charles Foster Kane im Film von 1895 bis 1941 genau die Jahre der Kinogeschichte von der ersten öffentlichen Filmvorführung durch die Brüder Lumière im Jahr 1895 bis zur Uraufführung von Citizen Kane im Jahr 1941. Der Handlungsrahmen von Kane fällt damit mit der Geschichte des Kinos bis zum Zeitpunkt seines Erscheinens zusammen. Im Film allerdings ist Kane selbst kein Filmemacher, sondern Medienmagnat. Sein geerbtes Vermögen, das sechstgrößte der Welt, erlaubt ihm, die Kontrolle über den New York Daily Inquirer, eine angeschlagene Zeitung, zu übernehmen. Sein Vermögensverwalter Thatcher hatte das Blatt im Rahmen einer Zwangsvollstreckung erworben. Ganz zum Ärger dieses Vermögensverwalters verbrennt Kane mit der redaktionellen Übernahme der Zeitschrift, und weil er denkt, »(…) it would be fun to run a newspaper«16, allerdings nur eine Menge Kapital. Und das nicht einmal zu einem ehrenwerten Zweck – denn die Zeitung zählt zur sogenannten Yellow Press, die mittels Techniken des Boulevardjournalismus’ Fakten und belanglose Nachrichten in reißerische News verwandelt und etwa einen Krieg mit Spanien im Jahr 1898 provoziert  –, sondern er diffamiert auch eine Reihe von Unternehmen, an denen Kane selbst als Großaktionär beteiligt ist. Kane ist, als er die Kontrolle über sein Vermögen übernimmt, genauso alt wie Welles, als dieser die Kontrollmacht über seinen ersten Film erhält. Kane mobilisiert alle möglichen Mittel, um den Inquirer zur erfolgreichsten Zeitung Amerikas zu machen. So kauft er die gesamte Starbesetzung vom Chronicle, dem erfolgreichen Konkurrenzblatt. Als ob ihm dieser unökonomische Verlust seines Privatvermögens nicht genug wäre, steigt Kane in einen Wahlkampf um das Amt des amerikanischen Präsidenten ein. Doch auch die Polit-Karriere und seine erste Ehe scheitern mit dem ÖffentlichWerden einer Affäre. Die Beziehung zu seiner zweiten Frau Susan scheitert mit dem übertriebenen Versuch, Susans Gesangskarriere gewaltsam mit den teuersten Gesangslehrern und dem Bau einer eigenen Oper voran­ zutreiben. Ihr Selbstmordversuch schließlich setzt das Ende der zweiten Ehe in Gang. Seinen besten Freund Leland hatte er bereits mit dem obsessiven Versuch, Susan zum Star zu machen, verloren. Die vom unerschöpf lichen Kapital genährten Allmachtsfantasien kommen zu einem Ende. Kane zieht sich auf sein Privatanwesen Xanadu zurück, dessen Ausbau und Erweiterung den Rest seines Lebens okkupieren wird: Eine

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Parallelwelt, bestückt mit den kunsthistorischen und architektonischen Schätzen Europas. Wenn er nicht zur Welt kommen kann, dann kommt die Welt eben zu ihm, könnte man meinen, liegt diesem letzten Wirken als Maxime zu Grunde. Mit Xanadu allerdings formuliert Welles vielleicht die deutlichste Referenz auf das filmische Vorbild von Kane, den Medienmagnat William Randolph Hearst, der genau wie Kane im Film sein Vermögen einer Goldmine verdankt. Das filmische Xanadu gleicht dem Anwesen Hearst Castle, nahe San Simeon, direkt am Pazifischen Ozean in Kalifornien. Zum 8.400 m2 großen Hauptschloss gehörten mehrere Nebengebäude, ein Außen- und ein Innenpool, insgesamt 127 Hektar große Gartenanlagen, ein Kino sowie ein privater Zoo. Hearst Castle entsprach wie das filmische Xanadu einem unvollendeten Bauprojekt, an dem Hearst 27 Jahre unentwegt baute. Zur Innenausstattung der über 100 Zimmer und zum Auf bau der Neben­ gebäude sammelte Hearst Kunstschätze und originale Bausubstanz aus Europa. Nach heutigen Maßstäben wurden auf dem Gelände im Laufe der Jahre rund 400 Millionen Dollar verbaut. Wie Kane im Film hatte sich Hearst zwischenzeitlich ein Medienimperium aufgebaut. In den 1940er Jahren besaß Hearst 25 Tageszeitungen, 24 Wochenzeitungen, 12 Radiosender, zwei weltweite Nachrichtenunternehmen, das CosmopolitanFilmstudio und einige andere Medienfirmen. Täglich wurden 13 Millio­ nen Zeitungen verkauft, die etwa 40 Millionen US-Leser:innen erreichten. Hearst wie Kane sind Medienmogule, die die kulturelle Hege­monie Amerikas repräsentieren und somit auch den Traum, den Mythos von Amerika reproduzieren.17 Doch Hearst ist dabei nur eine von vielen Inspirationen für die filmische Figur Kane – mehr als von einer Figur wäre von einer Figuration zu sprechen. Citizen Kane figuriert mit dem Mythos von Amerika damit einen ganzen Komplex, der sich im Mythos, im Traum von Hollywood verdichtet und reproduziert. Der ursprünglich vorgesehene Titel für Welles’ ersten Film sollte demnach auch American lauten. Eine Referenz auf den Titel bleibt erhalten, wenn in der News-on-the-March-Sequenz vor der Rekapitulation der Vorwürfe, Kane sei ein »Kommunist« bzw. »Faschist« gewesen, ein Statement Kanes montiert wird: »I am, have been, and will be only one thing – an American.«18 Die Frage nach der politischen Verortung wird mit Verweis auf den amerikanischen Mythos unterlaufen. So erzählt Citizen Kane, verborgen in der aufwendigen Erzählstruktur, genau diese recht simple Geschichte Amerikas: Eine Hegemoniegeschichte, die ein artifizielles System errichtet hat, nämlich Wert aus Wertvernichtung zu generieren, was schließlich keine andere

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Funktion hat, als die Vormachtstellung zu reproduzieren. Als eine perfekte Maschine wie Hollywood, d. h. ein in sich geschlossenes Medienimperium gleich der Schneekugel, die Kane mit seinem letzten Atemzug aus der Hand gleitet und zerbirst, projiziert sie eine Welt in ihr Innen und behält damit die kulturelle Deutungshoheit. Der Mythos von Holly­ wood mag zerbersten, der größere Mythos von Amerika allerdings bleibt davon unberührt. Die Demythisierung Hollywoods trägt schließlich nur zu der Remythisierung Amerikas bei. Citizen Kane liefert damit, insofern man sich nicht in der Perfektion der artifiziellen Bilderoberf lächen verliert, eine Kritik der Oberf läche.

IV.  If Kane had been on Social Media …

Der für diesen Beitrag gewählte Titel insinuiert neben einem historischen Transfer auch eine tatsächliche Frage: Wenn Kane also auf den Sozialen Medien aktiv gewesen wäre, welche hätte er als Tableau für seine Machenschaft gewählt, welche hätte er in sein Medienimperium zu integrieren versucht? Als ein Mann polarisierender Medien hätte ihn auf jeden Fall die Plattform Twitter interessiert. Denkt man an die Bühne, die dieses Medium für Personen öffentlichen und politischen Interesses, etwa noch bis vor kurzem Donald Trump zur Verbreitung seiner Fake News, einräumte,19 so würde Twitter die für Kane optimale Medienumwelt für seine dem Stil der Boulevardpresse bzw. der Yellow Press verpf lichteten Informationspolitik bieten. Die Kanes von heute wären jedenfalls leicht zu identifizieren: Sie heißen Elon Musk, Mark Zuckerberg, Jeff Bezos oder Tim Cook. Orson Welles allerdings hätte entsprechend seines perfektionistischen Umgangs mit dem filmischen Bild (und dem Ton) für eine Auseinandersetzung mit Bewegtbildern sicherlich eine andere Plattform vorgezogen: Instagram wäre eine Plattform, die ihn insbesondere in den ersten Jahren, vor der endgültigen Übernahme durch Facebook und der Integration der Zuckerberg’schen Marketinglogik, interessiert hätte. Vielleicht hätte der Regisseur von F for Fake (F wie Fälschung, 1973) sich aber auch an einer Dekonstruktion des visuellen Zeitalters versucht. Eine Analyse der Verquickung zwischen Marktlogik, Visualität und Ikonizität ist ja bereits in Citizen Kane angelegt. Man erinnere sich an die Inszenierung des Kane-Konterfeis im Wahlkampf und die ikonische Wirkung des KaneSiegels.

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Dass nun im Jahr 2012 die 846 nominierten Kritiker:innen, Pro­ grammgestalter:innen und Kuratoren:innen, die aus der ganzen Welt befragt wurden, in der ihrerzeit größten Umfrage von Sight & Sound Vertigo gegenüber Citizen Kane vorzogen, ist vielleicht der Tatsache geschuldet, dass wir ein neues Verhältnis zu den führenden Mythenmaschinen suchen müssen: eines, das mit der Remythisierungskraft der Bilder abrechnet. Vielleicht braucht es dazu einen wirklich tragischen Helden wie Scottie, der uns vorführt, wie sehr wir unserem eigenen Zwang zur Wiederholung unterliegen. Vielleicht kommt Citizen Kane als Abrechnung mit der Mythisierungsmaschine genau in dem Moment zu sich selbst, wenn er nicht mehr der beste Film aller Zeiten ist. Wenn es einem Publikum überlassen ist, den Film und seine Aussage neu zu entdecken – lange nachdem sich das Hollywood-Prinzip überlebt hat. In diesem Sinne konnten wir Citizen Kane nur wünschen, dass er seinen Thron in der jüngsten Umfrage von Sight & Sound im Jahr 2022 nicht verteidigen würde: damit er endlich nicht mehr nur Teil der Mythengeschichte Hollywoods ist, sondern Teil einer Geschichte der Kritik werden kann.

1 https://www.bfi.org.uk/sight-and-sound/greatest-films-all-time (letzter Zugriff am 16.12.2022). — 2 Ein umfassendes Bild der Folgen planetarischen Ausmaßes der Computerisierung ab Mitte des 20. Jahrhunderts zeichnet Benjamin H. Bratton, The Stack. On Software and Sovereignty, Cambridge 2015. — 3 Nick Srnicek, Plattform-Kapitalismus, Hamburg 2018. — 4 Michael Seemann, Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin 2021. — 5 Vgl. Nathan Ensmenger, »The Environmental History of Computing«, in: Technology and Culture 59/4 (2018), S. 7–33. — 6 Simon Rothöhler, »Blockieren, Moderieren, Projizieren. Anmerkungen zur technischen Kontrolle von Bildinformation«, in: Bildzensur. Löschung technischer Bilder, hg. von Katja Müller-Helle, Boston 2020, S. 24–31. — 7 Vgl. Hito Steyerl in: https:// www.e-f lux.com/journal/10/61362/in-defense-of-the-poor-image/ (letzter Zugriff am 12.07.2022). — 8 Vgl. Tanja Prokić, »Post, Like, Share, Submit. Visual Control and the Digital Image (13 Theses)«, in: Media, Culture, Technology. Special Issue of Coils of the Serpent. Journal for the Study of Contemporary Power 5/1 (2020), S. 145–152. — 9 Jonathan Sterne, MP3. The Meaning of a Format, London 2012, S. 93 f. — 10 Vgl. Tanja Prokić, »Vom Window-Shopping zum digitalen Bewertungsregime. Der invective gaze im Gefüge des skopischen Kapitalismus«, in: Invective Gaze. Das digitale Bild und die Kultur der Beschämung, hg. von Elisabeth Heyne und Tanja Prokić, Bielefeld 2022, S. 95–115. — 11 Vgl. zu Citizen Kane im Hollywood-System David Bordwell, »Citizen Kane und die Künstlichkeit des klassischen Studio-Systems«, in: Der schöne Schein der Künstlichkeit, hg. von Andreas Rost, Frankfurt a. M. 1995, S. 117–149. — 12 https:// www.bfi.org.uk/sight-and-sound/features/vertigo-1958-alfred-hitchcock-greatest-films-poll (letzter Zugriff am 09.07.2022). — 13 Vgl. auch die inspirierende Lektüre zur Bedeutung Hitchcocks für die Geschichte des Films: Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M. 2017, S. 264–288. — 14 Zur dramaturgischen bzw. narratologischen Funktion von Thompson siehe Michaela Krützen, »Charlies Reise: Die Dramaturgie des Spielfilms Citizen Kane«, in: Orson Welles’ »Citizen Kane« und die Filmtheorie. 16 Modellanalysen, hg. von Tanja Prokić und Oliver Jahraus, Stuttgart 2017, S. 142–166; Stefanie Kreuzer, »Wer erzählt eigentlich den ›Blick‹ durch die Schneekugel?«, in: Ebd., S. 83–103. — 15 Siehe zu Rosebud in diesem Band auch den Beitrag von Alf Gerlach. — 16 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Kinowelt 2010,

26 · Tanja Prokic´ 00:23:07–00:23:13. — 17 Vgl. Tanja Prokić, »Von Medien und Mogulen. Citizen Kane ›as the first radiophonic film‹«, in: Orson Welles’ »Citizen Kane« und die Filmtheorie (s. Anm. 14), S. 205– 224; Sulgi Lie, »Rosebud ist nicht Rosebud. Zur filmischen Psychoanalyse von Citizen Kane«, in: Ebd., S. 261–277. — 18 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Kinowelt 2010, 00:07:35. In einem Interview mit einem Reporter wird das im Kontext einer Frage nach seiner Rückkehr von einer Europa-Reise noch einmal aufgegriffen. »I am an American, always been an American« heißt es hier beiläufig. Vgl. 00:10:48. — 19 Vgl. dazu den Band von Lars Koch/Christina Rogers/Tobias Nanz (Hg.), The Great Disruptor. Über Trump, die Medien und die Politik der Herabsetzung, Stuttgart 2018.

Guido Isekenmeier

Intertextuelle und interfilmische Bezüge von/in/auf Orson Welles’ Citizen Kane Citizen Kane ist nicht nur ein Klassiker und Welles’ Meisterwerk – beides stehende Wendungen in der Sekundärliteratur zum Film1 –, sondern gilt vielerorts als der beste (amerikanische) Film aller Zeiten, etwa in der Liste von America’s 100 Greatest Movies des American Film Institute von 1998.2 Und wenn schon nicht der großartigste, so sei er doch zumindest der einf lussreichste Film, den es je gab.3 Mit dem Verweis auf den Einf luss, den Citizen Kane ausübe, ist dann zumindest ein mögliches Kriterium benannt, um den ehrerbietigen Duktus der Rede vom ›größten Film aller Zeiten‹ genauer zu untersuchen: dessen Status als Bezugspunkt im weitesten Sinne intertextueller, vor allem intermedialer und interfilmischer Referenzen4: »Not only is Citizen Kane often touted as the greatest film of all time, but it’s also inspired countless pop culture references.«5 Tatsächlich lassen sich wenn nicht zahllose, so doch zumindest zahlreiche Bezugnahmen anführen, ob in Comics oder literarischen Texten, animierten oder Live-action-Filmen und ‑Serien.6 Jenseits der schieren Anzahl fällt jedoch auf, dass sich die meisten dieser Referenzen zwei Typen der Bezugnahme zuordnen lassen: einerseits punktuelle Bezugnahmen auf Rosebud (oder eine Variation wie Nosebud, Roast Beef oder Razorback), entweder als Schlitten (seltener als anderer Gegenstand mit diesem Namen) oder als ›(letztes) Wort‹ (häufig begleitet von einer intermedial transponierten Schneekugel-Sequenz); andererseits hypertextuelle Bezugnahmen, meist als whole plot reference (dann oft unter Titeln wie Citizen Wayne, Citizen Solomon oder Citizen Max), bisweilen als Übernahme von Aspekten der Erzählstruktur (wie in Carlos Fuentes’ Roman La Muerte de Artemio Cruz von 1962).7 Die Bezüge des ersten Typs erscheinen oftmals als zu spielerisch und aus dem Zusammenhang gerissen, um als mehr als bloße Erwähnung oder Anspielung, als Rückverweis auf ein Vorbild gelten zu können.8 Unser Bild von Citizen Kane wird kaum davon berührt, dass Wallace einen Schlitten im Keller auf bewahrt, auf dem »Rosebud« steht (in Nick Parks A Grand Day Out with Wallace and Gromit, Wallace & Gromit – Alles Käse, 1989). Und – um ein jüngeres Beispiel zu nennen – auch die Reinszenierung der Sterbeszene in Episode 3 (Pocket Full of Lightning) der 3. Staffel der Netf lix-Produktion The Umbrella Aca-

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demy (2022), in der Reginald Hargreeves in einer Detailaufnahme seines Mundes das für den weiteren Verlauf der Serie wichtige Wort »Oblivion« murmelt, bevor ihm eine Fernbedienung aus der herabhängenden Hand zu Boden gleitet (wie Kane die Schneekugel), scheint für das Verständnis von Welles’ Film nicht wirklich aufschlussreich.9 Umgekehrt neigen die Bezüge des zweiten Typs, jenseits des wiederum parasitären transponierten Retellings von Kanes Geschichte als der eines seelisch versehrten reichen Mannes (zum Beispiel 1993 Montgomery Burns in Episode 4, Rosebud, der 5. Staffel von The Simpsons; oder 2000 Bruce Wayne in Brian Michael Bendis’ und Michael Gaydos’ C ­ itizen Wayne in Ausgabe 21 der Batman Chronicles Vol. 1) dazu, sich in inf lationär gebrauchten, aber allzu vagen Parallelen zu verlieren. So reichen die Anwendungen der Citizen-X-Formel von den Biografien Welles’10 und Donald Trumps (dessen Lieblingsfilm Citizen Kane zu sein scheint)11 über Martin Scorseses Taxi Driver (1976)12 und britische Fernseh-Sitcoms (Citizen Smith, 1977–1980, und Citizen Khan, 2012–2016)13, bis hin zu den Geschichten Jorge Luis Borges’.14 Und auch der Gebrauch einer Erzählstruktur, bei der ein Reporter Interviews mit den Vertrauten einer Person führt, über die er etwas herauszufinden versucht (Ludwig van Beethoven in Bernard Roses Immortal Beloved, Ludwig van B. – Meine unsterbliche Geliebte, 1994; Brian Slade in Todd Haynes’ Velvet Goldmine, 1998), bildet allenfalls einen groben Rahmen, innerhalb dessen es konkrete Parallelen in der Erzählweise erst noch zu entdecken gälte. Was der Diskussion um intertextuelle Bezüge auf Citizen Kane zu fehlen scheint, sind präzise und genuin interfilmische Referenzen auf einer mittleren Ebene, die mehr als einzelne Details berühren, ohne gleich das Erzählmuster von Welles’ Film als Ganzes einem anderen Sujet überzustülpen. Mit anderen Worten: Es mangelt an Beispielen der Art, wie sie für bestimmte Sequenzen aus anderen Film-Klassikern durchaus zu finden sind. Auf die Treppen-Sequenz von Odessa in Sergej Eisensteins Броненосец Потёмкин (Panzerkreuzer Potemkin, 1925) beispielsweise finden sich Mitte der 1980er Jahre gleich zwei bedeutsame Bezugnahmen der beschriebenen Art in Terry Gilliams Brazil (1985) und Brian de Palmas The Untouchables (The Untouchables – Die Unbestechlichen, 1987).15 Gilliam folgt dem Arrangement Eisensteins in zahlreichen Einzelheiten (Soldaten marschieren im Gleichschritt schießend eine Treppe hinab; einer Frau mit einem Brillengestell mit runden Gläsern wird ins Auge geschossen), variiert jedoch andere Elemente (die Massakrierten sind Mitglieder des bewaffneten Widerstands; statt eines Kinderwagens rollt ein retrofuturistisches Reinigungsgerät die

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Treppe hinab). Insgesamt hat die interfilmische Referenz bei Gilliam die Funktion, den willkürlichen Charakter der Herrschaft eines dystopischen Regimes hervorzukehren, wobei gleichzeitig die Soldaten in ihren grotesken Uniformen im Vergleich zu Eisenstein noch stärker entmenschlicht werden. Umgekehrt betont diese Einbettung der Sequenz in den Gattungsrahmen der Dystopie die von Eisensteins Film insinuierte Lesart des zaristischen Russlands als Unrechtregime. De Palma wiederum legt in seiner Iteration den Akzent auf die Menschlichkeit seiner Mafiajäger, die noch inmitten eines Shootouts ihr Hauptaugenmerk auf die Rettung des Kindes legen, das wie bei Eisenstein im Wagen die Treppe hinabrollt, während die runden Brillengläser des Buchhalters hier verschont bleiben. Und diese Version wird 1994 dann wiederum in Peter Segals Naked Gun 33 1/3 (Die nackte Kanone 33 1/3) parodiert, womit eine interfilmische Kette von Verweisen entsteht. Wenn es nun stimmt, dass es an bedeutsamen Bezügen auf Citizen Kane auf der Ebene der Sequenz (oder der Einstellung) mangelt, stellt sich die Frage, warum der ›beste (amerikanische) Film aller Zeiten‹ nicht im gleichen Maße zum Bezugstext anderer Filme geworden ist wie andere Kino-Klassiker. Ausgehend von der Beobachtung, dass Welles’ Film selbst ausgesprochen intertextuell verfasst ist, werden im Folgenden zwei Möglichkeiten vorgeschlagen, diese Frage zu beantworten. Zum einen sei im nächsten Abschnitt auf das Spiel mit Bezügen innerhalb des Films selbst verwiesen, das als eine Strategie der Hermetisierung gelesen werden kann. Dies betrifft das Zusammenspiel der Newsreel-Sequenz mit der nachfolgenden Darstellung derselben Ereignisse in einem anderen Modus. Zum anderen führt die intertextuelle Verfasstheit von Citizen Kane dazu, dass Bezugnahmen auf den Film fast notwendig als Elemente nicht eines einfachen Dialogs, sondern einer komplexeren Konstella­ tion erscheinen, in der Referenzen gleichsam durch Welles’ Film hindurch auf weitere Texte verweisen. Dies sei beispielhaft anhand des Bezugs auf Citizen Kane dargelegt, der zum Auftakt der Eröffnungs­ sequenz von Oliver Stones Nixon (1995) beobachtet werden kann.

I. Interfilmische Bezüge von/in Citizen Kane und intertextuelle Hermetisierung

Citizen Kane ist reich an transtextuellen Bezügen. Hubert Cohen nannte Welles’ Film »the most eclectic ›popular‹ masterpiece ever made«.16 Robert Edgar, John Marland und Steven Rawle, die ihn als Fallstudie in

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einem Kapitel zur filmischen Intertextualität behandeln, weisen auf die architextuellen Bezüge auf literarische und filmische Gattungen wie die Schauergeschichte (»Kane’s refuge resembles those dark Gothic castles familiar from tales by Bram Stoker and Edgar Allan Poe«) oder den Film noir (»Aesthetically, Welles and his cinematographer (Gregg Toland) ­adopt the visual idiom of film noir«) hin.17 Ziwei Chen liest die Diskussion über das News-on-the-March-Segment im Vorführraum und vor allem die visuelle Inszenierung des Übergangs zwischen beiden Sequenzen18 mithilfe einer Einstellung, die von der Einblendung »The End« des Newsreels zum Filmprojektor im Newsroom führt, als metatextuellen Binnenkommentar.19 Und schließlich finden sich auch diverse intertextuelle bzw. inter­ filmische Bezüge, oft an unerwarteter Stelle. In der Picknick-Sequenz20 zitiert Citizen Kane via Rückprojektion Bilder aus Ernest B. Schoedsacks King-Kong-Sequel The Son of Kong (King Kongs Sohn, 1933).21 So kommt es, dass im Hintergrund die Silhouetten von Flugsauriern den vermeintlichen Dschungel Floridas durchf liegen. Die Gründe für die Wiederverwendung dieser Bilder ­waren letztlich produktionstechnischer Natur: »Welles, who was noto­ riously thrifty when budgeting for the film, borrowed stock footage for the clip from another of RKO’s films.«22 Allerdings ergibt sich, vor allem in Kombination mit dem scheinbar unmotivierten Schrei einer Frau, der aus dem Off die Auseinandersetzung des Ehepaars Kane in ihrem Zelt begleitet, die Möglichkeit, die Szene im Dialog mit dem prominentesten literarischen Intertext des Films zu lesen, Samuel Taylor Coleridges Kubla Khan.23 Das Gedicht verleiht dabei nicht nur Kanes Palast seinen Namen (Xanadu), die ersten beiden Zeilen werden auch zu Beginn des News-on-theMarch-Segments eingeblendet.24 Es bietet somit eine erste Lesart Kanes als Amerikas Kubla Khan an, die jedoch sogleich durch weitere Interpretationshilfen überschrieben wird, wenn Kane in den nächsten Sekunden auch noch zum zeitgenössischen Noah (mit dem größten Privatzoo) und zum Pharao der Gegenwart erklärt wird (mit einem den Pyramiden ebenbürtigen Grabmal). Nachdem die Bedeutung des Coleridge-Fragments für Welles’ Film lange für sehr allgemein gehalten wurde,25 hat Tony Licari darauf aufmerksam gemacht, dass schon die Verschiebung der Hauptperson Kane/Khan in eine ferne Vergangenheit Teil der Strategie des Gedichts ist: »Like Khan, Kane is portrayed as a person displaced poetically from his own historical setting.«26 Der Kubla Khan des 12. Jahrhunderts wird dort kurzerhand nach Abessinien verlegt, womit wohl nicht das historische Königreich, sondern das Paradies gemeint ist

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(Miltons Mount Amara aus Paradise Lost wird zu Coleridges Mount Abora). Überhaupt scheinen die ersten fünf Zeilen der dritten Strophe des Gedichts für das Verständnis dessen relevant, was Charles Foster Kane in Susan Alexander zu sehen (und zu hören) scheint: »A damsel with a dulcimer / In a vision once I saw; / It was an Abyssian maid, / And on her dulcimer she played, / Singing of Mount Abora.«27 »Susan is a damsel with a piano (…) and it is not long before she is singing before a symphony of her own«, bemerkt Licari 28 mit Blick auf die folgenden Zeilen bei Coleridge, bei dem Khans Erinnerung an den Gesang zum Grund für die Errichtung seines Palastes wird (»Could I revive within me / Her symphony and song«).29 Und so werden am Ende noch der prähistorische Dschungel und der Frauenschrei als Echo des Gedichts lesbar (»A savage place! as holy and enchanted / As e’er beneath a waning moon was haunted / By woman wailing for her demon-lover!«30) und Xanadu erscheint ob der Parallellektüre umso mehr als Kanes Luftschloss (»that dome in air«).31 Noch enger mit der Produktionsfirma RKO Radio Pictures Inc. – in Hollywoods Goldenem Zeitalter eines der großen fünf Filmstudios  – und mit der Konzeption von Citizen Kane als Ganzem verbunden, ist das ausführliche und klar vom es umgebenden Film abgegrenzte (und insofern hypertextuelle) News-on-the-March-Segment. RKO war zu dieser Zeit nebst 20th Century Fox für den Vertrieb des von Time Inc. produzierten Newsreels The March of Time (1935–1951) zuständig und Welles selbst war zuvor als Sprecher für die Radioversion tätig gewesen.32 Für die Produktion seines persif lierenden Pastiches konnte Welles somit sowohl auf eigene Erfahrungen als auch auf das für das Aktualitätenkino zuständige Team von RKO zurückgreifen.33 News on the March ahmt entsprechend pastichisierend den visuellen und narrativen Stil des TimeNewsreels bis ins Kleinste nach: »Welles copies The March of Time well. He includes its misguided passive-voice grammar; silent film-esque inter­­ titles, or text on a black screen marking transitions; and maps that look almost identical to those in its counterpart«.34 Was den sprachlichen Duktus anbelangt, so verwendet News on the March den als Timespeak bezeichneten Stil des Time Magazine, der auch in The March of Time als pompöses Voiceover Anwendung fand. Die Grundzüge dieser Schreibweise waren schon früh erkannt und persif lierend analysiert worden, etwa 1936 von Wolcott Gibbs: »Yet to suggest itself as a rational method of communication, of infuriating readers into buying the magazine, was strange inverted Timestyle. (…) Backward ran senten-

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ces until reeled the mind.«35 Ganz zu Beginn gilt die intertextuelle Referenz so zwar Coleridge, der Stil ahmt aber unverkennbar Timespeak nach: »Legendary was the Xanadu where Kubla Khan decreed his stately pleasure dome. Today, almost as legendary is Florida’s Xanadu.«36 Dies zieht sich formelhaft durch die Zwischentitel (»In Xanadu last week was held 1941’s biggest, strangest funeral«37) und gipfelt in komplexeren Beispielen syntaktischen Salats im weiteren Verlauf (»An empire through which for forty years, f lowed in an unending stream, the wealth of the earth’s third-richest gold mine«38). Die Funktion der zitierenden Verwendung der Form des Newsreels besteht nun darin, deren mitgeführten Anspruch auf autoritative Darstellung39 zu unterlaufen, indem diese Version des Lebens Kanes als unzulänglich kritisiert wird: »(…) what is being questioned satirically is the idea that it is possible to collect bits and pieces of old films, paste them together in a certain manner, and have the result make some meaningful statement about human experience or existence.«40 Diese Kritik erfolgt zunächst ganz explizit in der sich unmittelbar anschließenden Diskussion im Newsroom,41 die nach einer tentativen Befragung der Adäquatheit der Form für diesen Zweck (»70 years in a man’s life… That’s a lot to try to get into a newsreel«) in der Eröffnung der quest durch den Chefredakteur Mr. Rawlston nach der Bedeutung von Rosebud und damit nach Kanes Charakter gipfelt (»It isn’t enough to tell us what a man did, you’ve got to tell us who he was«). Und insofern der Rest des Films genau den Versuch darstellt, dem Geheimnis von Kanes Leben derart auf die Spur zu kommen, stellen die folgenden fast 100 Minuten einen Gegenentwurf zur Wochenschau-Fassung42 dar: »Citizen Kane and the short film-within-film thus become doubles of each other.«43 Diese Gegenüberstellung von zwei Weisen, das Leben eines großen Mannes zu erzählen, sichert Welles jedoch noch zusätzlich durch eine Reihe von innerfilmischen (intratextuellen) Bezugnahmen ab. Dabei lassen sich zumindest drei Arten von Binnenbezügen unterscheiden: Erstens werden im Verlauf des Films Zeitungscovers und Plakate, die schon im News on the March erschienen, zur Gliederung des Erzählf lusses eingesetzt (etwa die Titelseite des Daily Chronicle, »Candidate Kane Caught in Love Nest with ›Singer‹«);44 zweitens werden Fotografien aus dem Newsreel in Spielhandlungen belebt (so das Foto von Mrs. Kanes Boarding House,45 das zum Schauplatz der Übergabe des jungen Kane an seinen Ziehvater Thatcher wird);46 drittens werden Filmsequenzen variierend wiederaufgenommen, wie etwa die Bilder von Kanes zweiter Hochzeit,47 wobei am gleichen Schauplatz mit identischem Personal, je-

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doch mit leicht veränderter Kameraeinstellung und -führung gedreht wurde, vermutlich in zwei aufeinander folgenden Takes, die freilich sehr unterschiedliche Effekte zeitigen.48 Diese Doppelung, die durch die fortlaufenden interpiktorialen und/ oder interfilmischen Verweise auf die Bilder der jeweils anderen Erzählweise abgesichert wird, führt somit zu einer intertextuellen Binnenverfasstheit des Films, die sich als eine Strategie der Hermetisierung gegenüber externen Bezugnahmen verstehen lässt. Sofern diese nämlich eines der gedoppelten Einzelbilder und/oder eine entsprechende Filmsequenz adressieren wollen, haben sie es immer schon mit zwei alternativen, stilistisch sehr unterschiedlichen Darstellungsweisen zu tun, die zueinander in einem engen dialogischen Verhältnis stehen und denen gegenüber sie sich stets jeweils als bedeutungsvolle Referenz positionieren müssten. Ausgeprägte Selbstreferenzialität führt damit zu einer gewissen Geschlossenheit, die der Offenheit für externe Bezüge zuwiderläuft.

II. Interfilmische Bezüge auf Citizen Kane als intertextueller Polylog

Die so umrissene Strategie der Hermetisierung dürfte einer der Gründe dafür sein, warum es vergleichsweise wenige (zumal filmische) Bezugnahmen auf Citizen Kane gibt, die sowohl ausführlich (über das Schlitten-/Schneekugel-Paradigma hinaus) als auch spezifisch sind (im Vergleich zum Muster der retrospektiven Citizen-X-Erzählung). Wenn Einstellungen oder Sequenzen aus Welles’ Film von anderen Filmen reinszeniert werden, dann im Kontext eines ohnehin hohen Grades interund architextueller Sättigung. So findet sich etwa in Steven Spielbergs Raiders of the Lost Ark ( Jäger des verlorenen Schatzes, 1981) eine Sequenz in einer mit Holzkisten vollgestellten Lagerhalle, die an die Räumung Xanadus nach Kanes Tod erinnert, nebst zahlreichen mehr oder weniger getreuen Rearrangements von Filmszenen vor allem aus dem Abenteuer-Genre.49 Und in Michel Hazanavicius’ schon medial-formal als Tribut an den klassischen (Stumm-)Film angelegten The Artist (2011) begegnet zwischen unzähligen Referenzen auf Filme von Metropolis (1927) bis Vertigo (Aus dem Reich der Toten, 1958) auch eine Frühstücks-Montage im Stile Welles’.50 In solchen Beispielen steht das Verhältnis zum Bezugsfilm meist unter dem funktionalen Vorzeichen der Hommage (an einen der größten Filme aller Zeiten) und droht zudem im dichten Gewebe von Verweisen auf viele andere Filme unterzugehen.

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So scheint es nur folgerichtig, dass eines der wenigen Beispiele interfilmischer Bezugnahme auf Citizen Kane, die in ein beidseits produktives Verhältnis der Interrelation zu treten vermag, in einem Film anzutreffen ist, der nicht nur eine einzeln herausgerissene Szene, sondern gleich die Doppelstruktur von Welles’ Biopic aufnimmt – Oliver Stones Nixon von 1995. Dort findet sich, etwas später als bei Welles und ohne die sprachlichen Extravaganzen des Timestyle, ein Newsreel-Segment (March of Time),51 das eine in vergleichbarer Weise scheiternde Kurzbiografie des Protagonisten zum Besten gibt, mit dem Unterschied, dass Nixon eben zu diesem Zeitpunkt (1962, also elf Jahre nach dem letzten March of Time) nur politisch tot zu sein schien: »The newsreel is remarkably similar in tone to the one in Citizen Kane because it treats Richard Nixon as political history, someone in the past who is ›dead‹.«52 Funktional handelt es sich bei Stone wie bei Welles beim Newsreel um das Gegenstück zur ihn umgebenden und zuwiderlaufenden cineastischen Erzählung, was sich auch in präzisen formalen Entsprechungen widerspiegelt: »The Nixon newsreel fades out with the same distorted, interrupted projector sound employed by Welles in Citizen Kane. This sound in both instances suggests, appropriately, that the neatly arranged documentary compilations are not yet final accounts of the men whose lives they have so glibly summarized.«53 Diese Wiederaufnahme der filminternen Doppelungsstruktur mittels eines Newsreel-Segments macht die enge Beziehung zwischen beiden Filmen plausibel und ist bisweilen als Suchauftrag für weitere Parallelen begriffen worden, die meist weniger augenfällig und überzeugend geblieben sind. Singer nennt unter anderem: »(…) a film-within-the-film initiates the narrative« (allerdings handelt es sich um einen Schulungsfilm für Hausierer, den die Watergate-Einbrecher vor ihrer Tat aus Gründen der Tarnung anschauen); »(…) a scene of marital difficulty unfolds across a long dinner table, à la Kane’s famed breakfast montage« (nur ohne die zeitliche Kondensierung bei Welles, also letztlich ohne die Montage).54 Oder dieser intertextuelle Anker diente gleich als Grundlage des Versuchs, das Citizen-X-Erzählschema anzuwenden, wobei die Ähnlichkeiten in schon bekannter Weise vage in der achronologischen Behandlung des Stoffs Citizen Nixon liegen: »(…) both Citizen Kane and Nixon are structured around sequences of f lashbacks that disorder and reassemble the films’ timelines, forgoing linear chronology to chronicle the lives of their characters.«55 Eine ausführliche und spezifische interfilmische Beziehung auf der Ebene der Sequenz oder der Einstellung scheint sich jedoch auch hier nicht zu finden. Frank E. Beaver schlägt als Kandidaten eine Einstellung

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in Nixon vor, die direkt auf die Eröffnungssequenz um den WatergateEinbruch folgt: »(…) reminiscent of the opening of Citizen Kane, scene two of Nixon begins with a dark, ominous shot of the White House, dated by subtitle as November 1973 and framed through the iron bars of the fence that looks toward the Executive Mansion’s facade. This composition not only resembles the opening shot of Xanadu in detail and in tone, but a light in an upstairs room of the White House correlates Richard Nixon’s impending political death with Kane’s death in a lonely upstairs room of his Gothic mansion.«56 Das Problem an der Behauptung der intertextuellen Beziehung ist zum einen, dass sie sich auf die problematische Rede von der Ähnlichkeit der Bilder zurückzieht (»reminiscent of«, »resembles«), was fast immer einen evidentiellen Mangel, eine allzu freizügige Herstellung von Bezügen zwischen Bildern anzeigt.57 Zum anderen ist diese Ähnlichkeit bis hin zu den Details (»a light in an upstairs room of the White House«) so nicht gegeben. Selbst in der Nebeneinanderstellung, die im vergleichenden Sehen (und zudem durch die Stillstellung der Bewegtbilder im Screenshot) stets eher Ähnlichkeiten als Unterschiede betont, erscheinen die beiden Bildkompositionen als sehr verschieden.58 ((Abb. 1 +2)) Bemerkenswerter Weise lässt sich die so bestenfalls auf der Ebene des Sujets erkennbare Ähnlichkeit (Prachtbau hinter Zaun) durch Hinzuziehung eines weiteren Films retten, der häufig als Bezugspunkt für die Auftaktsequenz von Citizen Kane genannt wurde: Alfred Hitchcocks Rebecca (1940). Edgar, Marland und Rawle deuten die Referenz an, bevor sie nachfolgend dem Citizen-de-Winter-Narrativ verfallen: »The first scene (of Citizen Kane) may have been directly inf luenced by the famous opening of Hitchcock’s Rebecca (1940), where the camera seems to pass magically through the iron gates of Manderley, another ›haunted‹

Oliver Stone, Nixon, USA 1995, Tor zum Weißen Haus

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Orson Welles, Citizen Kane, USA 1942, Tor zu Xanadu

house. (…) What the two films do share is a retrospective narration orien­ tated around the task of uncovering the truth behind the public image of the elusive central figure.«59 Wiederum fällt die Ähnlichkeit (ob zu Welles oder Stone) nicht direkt ins Auge. Die Kameraarbeit (im bewegten Bild) erscheint jedoch bei Hitchcock und Stone durchaus ähnlich: Dem establishing shot folgt jeweils eine Kamerafahrt durch (und nicht wie bei Welles, noch dazu mit Hilfe von Überblendungen, über) das Tor bzw. den Zaun, so dass das, was hinter der Barriere liegt, zunächst gerahmt von einem metallenen Zaunsegment erscheint60 und schließlich den Blick auf den Weg nach Manderley bzw. das beleuchtete Fenster des Weißen Hauses (hinter der Wasserfontäne, im Erdgeschoss) freigibt. Auf diese Weise entfaltet sich zwischen den drei Zaun-Sequenzen ein intertextueller Polylog, bei dem jeder Film den anderen Filmen Bedeutung verleiht. In dem Maße, in dem die Kameraführung in diesen Sequenzen (zusammen mit weniger subtilen Zeichen wie dem »No Trespassing«-Schild an Kanes Zaun) bereits andeutet, wie sich der Film zu den jeweils zu entdeckenden Geheimnissen im Leben des nur bei Hitchcock nicht titelgebenden Mannes verhalten wird, verdichten sie die jeweilige investigative Haltung des Films. In Rebecca lässt uns das Tor auf magische Weise ein, im Voiceover begleitet von der Stimme der zweiten Mrs. de Winter, aus deren Perspektive wir das Innenleben von Mander((Abb. 3))

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Alfred Hitchcock, Rebecca, USA 1940, Tor zu Manderley

ley im Folgenden erkunden (»I was possessed of a sudden with super­ natural powers and passed like a spirit through the barrier before me«). Citizen Kane hingegen eröffnet mit Einstellungen eines visuell nicht durchdringbaren Zauns und wird uns den vermeintlichen Schlüssel zu Kane bis zum Ende vorenthalten.61 Und Nixon bezieht sich auf beide, indem er einerseits das Weiße Haus als »Xanadu-like fortress, isolated behind its imposing fence« 62 präsentiert, andererseits mit der Durchdringung des Zauns Auf klärung verspricht, die Möglichkeit, Einblick in das Intimwissen der Macht zu erlangen. Citizen Kane jedenfalls stünde in diesem Trialog in der Mitte, als Glied einer interfilmischen Kette, die durch ihn hindurch verläuft. Statt auf dem Podest der Meisterschaft befände sich Welles’ Film damit dort, wo er hingehört – eingef lochten in das intertextuelle Gewebe der (Film-)Kultur.

1 Vgl. unter vielen anderen Beispielen Tony Licari, »Through the Eyes of a Poet. Samuel Taylor Coleridge and the Dinosaurs of Citizen Kane«, in: Medium, 09.10.2020, https://medium.com/@ tslicari/through-the-eyes-of-a-poet-samuel-taylor-coleridge-and-the-dinosaurs-of-citizenkane-8 f.028fa4 f.79 (letzter Zugriff für alle URLs am 30.06.2022): »Near the end of Orson Welles’ 1941 classic Citizen Kane, …«; sowie Marc Singer, »Making History. Cinematic Time and the Powers of Retrospection in Citizen Kane and Nixon«, in: Journal of Narrative Theory 38/2 (2008), S. 177–197, hier S. 177: »Like its predecessor JFK, Oliver Stone’s Nixon owes an obvious debt to Orson Welles’s masterpiece Citizen Kane.« — 2 Vgl. https://www.afi.com/afis-100years-100-movies-10th-anniversary-edition/. In der Umfrage zu den 100 Greatest Films of All Time des British Film Institute 2012 landete Citizen Kane, der die Liste seit 1962 anführte, auf

38 · Guido Isekenmeier Rang zwei hinter Hitchcocks Vertigo (Vertigo – Aus dem Reich der Toten, 1958); seit der letzten Umfrage 2022 führt Chantal Akermans Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles (1975) die Liste an, mit Vertigo auf dem zweiten und Citizen Kane auf dem dritten Platz; vgl. https://www.bfi.org.uk/sight-and-sound/greatest-films-all-time. Siehe dazu auch den Aufsatz von Tanja Prokić in diesem Band. — 3 Leon Miller, »Citizen Kane isn’t the greatest movie ever – but it IS the most inf luential«, in: The Pop Culture Studio, 17.10.2014, https://thepopculturestudio.com/2014/10/17/review-citizen-kane/. — 4 Zu einem Verständnis von Einfluss als Einschreibung ins Gedächtnis einer Kultur vermittels intertextueller Bezüge vgl. Guido Isekenmeier/Andreas Böhn/Dominik Schrey, Intertextualität und Intermedialität. Theoretische Grundlagen  – Exemplarische Analysen, Stuttgart 2021, S. 35–38, 40–44. — 5 Miller, »Citizen Kane« (s. Anm. 3), o. S. — 6 Vgl. https://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/ReferencedBy/CitizenKane für den Großteil der folgenden Beispiele. — 7 Vgl. Lanin A. Gyurko, »La Muerte de Artemio Cruz and Citizen Kane. A Comparative Analysis«, in: Carlos Fuentes. A Critical View, hg. von Robert Brody und Charles Rossman, Austin 1982, S. 64–94. — 8 Zur intertextuellen Sinnkomplexion und der Doppeltgerichtetheit intertextueller Bezüglichkeit vgl. Isekenmeier/Böhn/Schrey, Intertextualität und Intermedialität (s. Anm. 4), S. 29–35. — 9 Vgl. Olivia Singh, »10 Details You Probably Missed in Season 3 of The Umbrella Academy«, 29.06.2022, https://www.yahoo.com/entertainment/10-details-probably-missed-season-211525921. html. — 10 Frank Brady, Citizen Welles. A Biography of Orson Welles, New York 1990. — 11 Robert Orlando, Citizen Trump. A One Man Show, New York 2021. Zu Trumps Verhältnis zu Welles’ Film vgl. Benjamin Huf bauer, »How Trump’s Favorite Movie Explains Him«, in: Politico Magazine, 06.06.2016, https://www.politico.com/magazine/story/2016/06/donaldtrump-2016-citizen-kane-213943/. — 12 John Thurman, »Citizen Bickle, or the Allusive Taxi Driver. Uses of Intertextuality«, in: Senses of Cinema 37 (2005), http://www.sensesofcinema. com/2005/american-cinema-the-1970s/taxi_driver/. — 13 Anamik Saha, »Citizen Smith more than Citizen Kane? Genres-in-Progress and the Cultural Politics of Difference«, in: South Asian Popular Culture 11/1 (2013), S. 97–102. — 14 Pablo A. J. Brescia, »Citizen Borges«, in: Colmena 24 (1999), S. 13–24. — 15 Für diese und etliche weitere Beispiele interfilmischer Referenzen auf die Eisenstein-Sequenz vgl. den Zusammenschnitt von barthesian, »The Odessa Steps and Its Descendants«, 14.08.2008, https://www.youtube.com/watch?v=yH1tO2D3LCI&ab_channel= barthesian. Der Bezug von Brazil auf Panzerkreuzer Potemkin wird von Robert Edgar/ John Marland/Steven Rawle, The Language of Film, 2. Auf l., London 2015, S. 82 erwähnt. — 16 Hubert Cohen, »The Heart of Darkness in Citizen Kane«, in: Cinema Journal 12/1 (1972), S. 11–25. — 17 Edgar/Marland/Rawle, The Language of Film (s. Anm. 15), S. 92–97, hier S. 94 und 96. — 18 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Turner 2011, 00:11:56–00:12:00. — 19 Ziwei Chen, »Meta-Cine­m atic Kane.« How Films Think Response 26.01.2020, https://sites.tufts.edu/ simonchen/2020/01/26/citizen-kane-1-26/. — 20 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Turner 2011, 01:38:04. — 21 Charles Higham, The Films of Orson Welles, Berkeley 1970, S. 14. — 22 Licari, »Through the Eyes of a Poet« (s. Anm. 1), o. S. — 23 Coleridge veröffentlichte das zwischen 1797 und 1798 vollendete Gedicht 1816. — 24 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Turner 2011, 00:03:15. — 25 Z. B. in Lawrence J. Clipper, »Art and Nature in Welles’ Xanadu«, in: Film Criticism 5/3 (1981), S. 12–20. — 26 Licari, »Through the Eyes of a Poet« (s. Anm. 1), o. S. — 27 Samuel Taylor Coleridge, »Kubla Khan, or, A Vision in a Dream. A Fragment (1798)«, in: The Portable Coleridge, hg. von Ivor Armstrong Richards, Harmondsworth 1950, S. 156–158, hier Z. 37–41.  — 28 Licari, »Through the Eyes of a Poet« (s. Anm. 1), o. S. — 29 Coleridge, »Kubla Khan« (s. Anm. 27), Z. 42–47. — 30 Ebd., Z. 14–16. — 31 Ebd., Z. 46. — 32 Pauline Kael, The Citizen Kane Book, Boston 1971, S. 55. — 33 Raymond Fielding, The March of Time. 1935–1951, New York 1978, S. 53. — 34 Mary Wood, »Citizen Kane and Other Imitators«, in: The March Toward War. The March of Time as Documentary and Propaganda, 2004, https:// xroads.virginia.edu/~MA04/wood/mot/html/kane.htm. Dort findet sich auch eine aus Fieldings The March of Time (s. Anm. 33), S. 258 übernommene direkte Gegenüberstellung einer Karte aus dem The-March-of-Time-Segment »Germany« vom 08.03.1935 mit der in News on the March verwendeten Karte von Kanes Medienimperium (00:05:44). Fielding (S. 156–157) hatte auch die Möglichkeit ins Spiel gebracht, dass die Paparazzi-Bilder von Kane im Rollstuhl (0:011:43) auf die heimlichen Aufnahmen des Waffenhändlers Basil Zaharoff rekurrierten, die The March of Time am 19.04.1935 in »Munitions« veröffentlicht hatte. Wood reproduziert auch hier nebeneinandergestellte Screenshots. — 35 Wolcott Gibbs, »Time… Fortune… Life… Luce«, in: The New Yorker, 28.11.1936, https://www.newyorker.com/magazine/1936/11/28/

Intertextuelle und interfilmische Bezüge · 39 time-fortune-life-luce. Vgl. Fielding, The March of Time (s. Anm. 33), S. 8–9: »a preposterous kind of sentence structure in which subjects, predicates, adjectives, and other components of the English language all ended up in unpredictable and grammatically unauthorized positions«. — 36 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Turner 2011, 00:03:24–00:03:32. — 37 Ebd., 00:04:29. — 38 Ebd., 00:05:55–00:06:04. — 39 Vgl. James Damico, »News Marches in Place. Kane’s Newsreel as a Cutting Critique«, in: Cinema Journal 16/2 (1977), S. 51–58, hier S. 52: »Almost from their inception, the newsreel and the newsreel essay were rigidly conventionalized forms of film making. Their devices (…) were directed towards composing a definitive statement on, and a final and conclusive understanding of, the subject under examination«. — 40 Ebd., S. 55. — 41 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Turner 2011, 00:12:01–00:13:47. — 42 Die deutsche Bezeichnung ist irreführend, da der Time-Newsreel im Monats-Rhythmus erschien. — 43 Chen, »Meta-Cinematic Kane« (s. Anm. 19), o. S. — 44 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Turner 2011, 00:09:56 und 01:07:17. — 45 Ebd., 00:06:15. — 46 Ebd., 00:21:02. Zur Funktion solcher Übergänge vom Stand- zum Bewegtbild vgl. Damico, »News Marches in Place« (s. Anm. 39), S. 57–58: »It is as if Welles (…) were making the point that these frozen images constitute only the departure point of true cinema«. — 47 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Turner 2011, um 00:08:49 und um 01:12:32. — 48 Dazu ausführlich Damico, »News Marches in Place« (s. Anm. 39), S. 54, der den Eindruck der zweiten Fassung im Vergleich zur ersten wie folgt resümiert: »the text (sic!) considerably humanizes and complicates the publisher (…as) the figures of Kane and Susan are seen moving from the deep background to the near foreground, and in the process becoming for us much less the remote and literally distant figures of the newsreel’s shots«. — 49 Vgl. H. Perry Horton, »Unearthing History. The Visual Echoes of Raiders of the Lost Ark«, in: Film School Rejects, 18.08.2017, https://filmschoolrejects.com/unearthing-history-visual-echoes-raiders-lost-ark/: »George Lucas and Steven Spielberg set out (…) to create a cinematic environment, atmosphere, and tone that hearkened back to the days of adventure serials, the very kind of stories that had helped to shape their imagination as children«. Dort findet sich auch ein Link zu einem Video, das Sequenzen aus dem ersten Indiana-Jones-Film deren Bezugsszenen gegenüberstellt. — 50 Vgl. Benjamin Merger, »A Cinematic Cheat Sheet for The Artist. Decoding the References to Film History in a Movie in Love with Film History«, in: The Atlantic, 19.01.2012, https://www.theatlantic.com/ entertainment/archive/2012/01/a-cinematic-cheat-sheet-for-the-artist/251577/: »The film mostly expresses its love for movies by channeling well-known silent-era tropes (…). But, as many critics have noted, the film also contains a smattering of more specific cinematic references«. — 51 Oliver Stone, Nixon, DVD, Cinergi, 2008, 00:37:40–00:41:23. — 52 Frank E. Beaver, »›Citizen Nixon‹. Oliver Stone’s Wellesian View of a Failed Public Figure«, in: The Films of Oliver Stone, hg. von Don Kunz, Lanham 1997, S. 275–284, hier S. 279. — 53 Ebd., S. 280. — 54 Singer, »Making History« (s. Anm. 1), S. 177. Der Verweis auf die Frühstücks-Szene f ällt ohne den Montage-Aspekt ziemlich unspezifisch aus; »a scene of marital difficulty (that) unfolds across a long dinner table« findet sich, zum Beispiel, auch in Hitchcocks Rebecca, das im Folgenden noch ins (intertextuelle) Spiel kommt. — 55 Ebd. — 56 Beaver, »›Citizen Nixon‹« (s. Anm. 52), S. 278. — 57 Vgl. dazu Guido Isekenmeier, »In Richtung einer Theorie der Interpiktorialität«, in: Interpiktorialität. Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge, hg. von dems., Bielefeld 2013, S. 11–86, hier S. 12–15. — 58 Ähnliches gilt für das stilisierte Ornament zu Beginn von Baz Luhrmanns The Great Gatsby (Der grosse Gatsby, 2013), das zwar an das Tor von Gatsbys Anwesen, das später im Film zu sehen ist, erinnert, und  – wie der Zaun um Xanadu  – die Initiale(n) des Besitzers trägt, dann jedoch den Blick nicht auf Gatsbys Haus, sondern auf das grüne Licht vor dem Haus der Buchanans freigibt. Der mögliche intertextuelle Bezug auf den Auftakt zu Citizen Kane wird von William H. Mooney, »Citizen Kane (1941) and Baz Luhrmann’s The Great Gatsby (2013)«, in: Adaptation and the New Art Film. Remaking the Classics in the Twilight of Cinema, hg. von dems., London 2021, S. 237–268, hier S. 255 betont, der eine Reihe von weiteren (oft zweifelhaften) Bezugnahmen ausführt. — 59 Edgar/Marland/Rawle, The Language of Film (s. Anm. 15), S. 92–93. Laura Mulvey, Citizen Kane, 2. Auf l., London 2019 (BFI Film Classics), S. 22, verweist in einer ähnlich tentativen Formulierung ohne genauere Angabe auf Richard Carringer, The Making of Citizen Kane, London 1985 (»according to Carringer, the opening may have been inf luenced by the first shot of Hitchcock’s Rebecca, just premiered in Hollywood, which also sets up a mysterious space and an investigative cameraeye«). — 60 Alfred Hitchcock, Rebecca, DVD, Eurovideo, 2008, 00:01:42–00:02:01; Oliver Stone, Nixon, DVD, Cinergi, 2008, 00:03:45. — 61 Vgl. Tony Jackson, »Prime Time. Visual

40 · Guido Isekenmeier Cognition in the Prelude to Citizen Kane«, in: Style 49/4 (2015), S. 494–511, hier S. 499: »The camera climbs slowly upward, leaving the sign behind in order to concentrate our eyes on the fence. The shot, an extreme close-up, is in shallow focus, so that only the fence wiring is clear. This automatically causes us to do what we would not do in the usual case of encountering a fence: look at the fence itself, rather than through it«. Die Implikationen von Hitchcocks Behandlung des Tors von Manderley als nicht nur im Traum der Protagonistin, sondern auch für die Kamera durchlässige Barriere für die folgende filmische Erzählung wird dabei im Vergleich mit Welles’ Festung Xanadu, also im Rahmen des Rückbezugs auf Hitchcock, klar erkennbar. — 62 Singer, »Making History« (s. Anm. 1), S. 177.

Peter Moormann

Bernard Herrmanns klangliches Kaleidoskop für Citizen Kane Zur Übertragung von Kompositionstechniken aus dem Hörspiel auf den Film

I. Vorbemerkungen

Dürfte die filmwissenschaftliche Literatur zu Citizen Kane ganze Regalwände füllen, so fällt die Auseinandersetzung mit der Musik Bernard Herrmanns doch vergleichsweise schmal aus – wenngleich es diverse Arbeiten gibt, die sich in unterschiedlicher Ausführlichkeit mit der Komposition beschäftigt haben.1 Das Anliegen dieses Artikels ist es nicht, all jene Erkenntnisse – gerade zur Verwendung der Leitmotive – nochmals zusammenfassend darzustellen. Vielmehr sei einem Aspekt nachgegangen, den bereits Robert Kosovsky in seiner Arbeit über Herrmanns Musik für die Columbia-Workshop-Hörspielreihe als Forschungsdesiderat identifizierte: »Building upon Rick Altman’s article on the use of radio sound inf luencing Citizen Kane, studies could examine Herrmann’s film scores as outgrowths of his radio technique, which was transformed gradually into film composing technique.«2 Während sich Altman in seinem ausführlichen Artikel ausschließlich auf die Nähe des Sounds in Citizen Kane zum Hörspiel konzentriert und die Musik bewusst ausspart,3 bildet gerade der Hörspielbezug der Musik den Mittelpunkt dieses Beitrags.4 Eruiert wird, inwiefern Herrmann für das Hörspiel entwickelte Kompositionstechniken und klangliche Stilistika auf seine Arbeit für Citizen Kane überträgt. Hierbei erscheint die Kollaboration zwischen Orson Welles und Herrmann von besonderem Interesse. Denn schon vor ihrem fulminanten HollywoodDebüt mit Citizen Kane verband Welles und Herrmann eine mehrjährige künstlerische Zusammenarbeit – und zwar im Bereich des Hörspiels. Am Beispiel der CBS-Produktion Dracula aus dem Jahr 1938 seien kompositionstechnische Parallelen, aber auch Unterschiede, zwischen Hörspiel und Film verdeutlicht.

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II. Das Hörspiel Macbeth – erste Zusammenarbeit von Herrmann und Welles

Zunächst erscheint jedoch ein Blick auf die erste Kooperation zwischen Welles und Herrmann aufschlussreich. Hierbei handelt es sich um die Macbeth-Produktion für die Hörspielreihe Columbia-Workshop, die 1936 von dem Radio- und Filmemacher Irving Reis begründet worden war und bei CBS bis 1943 und nach einer Unterbrechung nochmals von 1946 bis 1947 lief.5 In dem halbstündigen experimentellen Format wurden unterschiedlichste Stoffe als Hörspiel für das noch junge Medium Radio auf bereitet. Herrmann stand bereits seit 1934 bei Columbia Broadcasting unter Vertrag und war mit der musikalischen Ausgestaltung der Columbia-Workshop-­ Reihe betraut worden. Es war die erste Hörspielreihe, für die er konti­ nuierlich Musik komponierte. Als der damals erst 21-jährige Orson Welles als Regisseur für jene Macbeth-Produktion verpf lichtet wurde (live ausgestrahlt am 28. Februar 1937), traf er auf den 25-jährigen Komponisten Herrmann, der mit den klanglichen und dramaturgischen Erfordernissen von Hörspielen inzwischen bestens vertraut und für seine Schnelligkeit und ungewöhnliche kompositorische Lösungen bekannt war.6 Allein für die Columbia-Workshop-Reihe hatte Herrmann zu jenem Zeitpunkt bereits für sechs Produktionen die Musik komponiert – 58 weitere sollten folgen. Umso erstaunlicher mutet jene Anekdote von Simon Callow über das Aufeinandertreffen von Herrmann und Welles an: »Welles insisted on bring­ ing into the studio a Highland bagpipe (…), leaving Herrmann fuming at his podium in front of a redundant studio orchestra; the production as a whole was further vitiated by such musical cues as Herrmann was able to add to the all-pervading drone of the bagpipes being one behind through­ out the programme. This chaos was, of course, transmitted live.«7 Das Zitat mag dreierlei verdeutlichen: Erstens, dass Welles von Anfang an die Relevanz der Musik für die Narration bewusst war und er sie als integralen Bestandteil seiner Dramaturgie ansah. Zweitens, dass Welles – erfolgreich und selbstbewusst – sogleich auf durchaus provokante Weise mit Herrmann die künstlerische Auseinandersetzung suchte, die darin mündete, dass jener seine kompositorische Arbeit anpassen musste (dieser Umstand erscheint gerade mit Blick auf die eigenwillige Instrumentation bei nachfolgenden Hörspielen und schließlich für die kompositorische Arbeit für Citizen Kane relevant). Und drittens: Beide haben die Zusammenarbeit trotz des Desasters offenbar als durchaus produktiv empfunden. Denn weder Welles noch Herrmann verweigerten die weitere Kooperation, sondern intensivierten sie vielmehr.

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Leider sind nur wenige Informationen zur Musik für Macbeth verfügbar. So ließ sich sowohl die Existenz einer Partitur als auch die einer Aufnahme der Musik nicht verifizieren.8 Und selbst Robert Kosovskys detaillierter Dissertation über Bernard Herrmann’s Radio Music for the Columbia Workshop ist lediglich folgender Hinweis zu entnehmen: »Although Herrmann created an extensive score for Orson Welles’s thirty minute adaptation of Macbeth, their first collaboration for the Columbia Workshop, existing transcription disks reveal that only a small portion of this music was used.«9 Und später: »Though Herrmann’s collaboration with Welles is certainly very important, it must be bypassed for this study, since the amount of original music composed for Welles’s programs is very small. Of the two programs Herrmann scored, Macbeth and Dra­ cula (it is possible that other works have not survived), only the first was written for the Workshop.«10 Sollte Welles den Dudelsack tatsächlich so prominent in Macbeth zum Einsatz gebracht haben, stellt sich die Frage, welche funktionale Bedeutung der Klang für die Erzählung gehabt haben mag – unter anderem sicher als Lokalkolorit für den Ort der Handlung Schottland. .

III. Kompositionstechnische Parallelen zwischen Dracula und Citizen Kane

Weitaus ergiebiger stellt sich die Quellenlage zur nächsten Zusammenarbeit zwischen Welles und Herrmann dar, die 1938 im Rahmen der Hörspiel-Serie Mercury Theatre on the Air erfolgte. Zwischen dem 11. Juli und 4. Dezember wurden in wöchentlichem Turnus insgesamt 22 Folgen von jeweils einer Stunde zunächst montags um 21 Uhr und später dann sonntags um 20 Uhr zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Hierbei handelte es sich um literarische Klassiker aus unterschiedlichen Genres.11 Der Ablauf einer Folge war dabei immer gleich strukturiert: Als Titelmelodie der Reihe diente am Anfang und Ende jeder Folge der Beginn des 1. Klavierkonzerts von Peter Tschaikowsky, der von Herrmann in einer Fassung für Streichorchester (ohne Klavier) präsentiert worden war. An diesen äußeren musikalischen Rahmen schloss sich eine kurze Einführung von Welles an, bei der er den jeweiligen Stoff der Folge und die Mitwirkenden vorstellte. Den Beginn der eigentlichen Erzählung kündigte ein weiterer, jeweils eigens für jede Folge komponierter Abschnitt an, mit dem Herrmann zugleich den atmosphärischen Rahmen für die Erzählung setzte. Auch das Ende der Handlung wurde von Herrmann musikalisch

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gerahmt  – manchmal, aber nicht immer, mit der gleichen Musik, die auch den Beginn markierte. Am Ende jeder Folge dankte Welles den Mitwirkenden und kündigte bereits den Stoff der nächsten Woche an. Auf seine Abschiedsf loskel »Obediently yours« folgte zum Abschluss der Folge noch einmal der Tschaikowsky-Ausschnitt. Es lässt sich also von einer Art doppelten musikalischen Rahmung sprechen, die für die Hörer:innen einen Wiedererkennungswert in Bezug auf die übergeordnete Radio-Reihe und atmosphärisch für die einzelne Folge schaffen sollte. 1. Recyclen musikalischer Materialien und Genrevielfalt Für die erste Folge der Reihe, die am 11. Juli 1938 ausgestrahlt wurde, hatte Welles Bram Stokers Dracula-Erzählung gewählt. Auffällig an Herrmanns Dracula-Musik ist, dass er hierfür auf verschiedene musikalische Materialien zurückgriff, die er bereits im Rahmen der ColumbiaWorkshop-Programme komponiert hatte. Hierzu Kosovsky: »With the exception of the ›Dracula chord,‹ (…) no new music seems to have been composed for any of these presentations. As mentioned in the discussion of Green Goddess. Herrmann skillfully created scores based on existing music, his own as well as that of other composers.«12 Angesichts des enormen Arbeitspensums klingt diese Strategie allein schon aus zeitlichen Gründen nachvollziehbar, bei Herrmann scheint zugleich aber auch eine kompositionsästhetische Strategie auf,13 die in Citizen Kane ebenfalls zum Tragen kommt: Durch das Einbinden unterschiedlichster musikalischer (Fremd-)Materialien lässt Herrmann ein klangliches Kaleidoskop entstehen, das unterschiedlichste musikalische Stile zusammenbringt. Gerade dieser Stilpluralismus und die damit verbundenen Bedeutungshorizonte sind für die Musik zu Citizen Kane von zentraler Bedeutung. Mit seiner musikalischen Vielfalt begegnet Herrmann der komplexen Struktur des Films und den harten Schnitten, die Welles hinsichtlich der verschiedenen Zeitebenen setzt. So montiert Herrmann etwa zu der Wochenschau über Kanes Aufstieg und Untergang verschiedene Scores aus früheren RKO-Filmen. Der »Belgian March« von Anthony Collins stammt aus dem Film Nurse Edith Cavell (1939) und begleitet die Titel. Zu den Aufnahmen aus Xanadu ist ein Ausschnitt aus Alfred Newmans Komposition für Gunga Din (Aufstand in Sidi Hakim, 1939) zu hören. Es folgt ein Ausschnitt aus Roy Webbs Musik für Reno (1939) zu Kanes Aufstieg. Thatcher wird mit einem musikalischen Fragment aus Five Came back (1939, Musik ebenfalls von Webb) als Figur eingeführt. Kanes Frau Susan Alexander beglei-

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tet das bluesige Jazzstück In the Mizz (1933) von Charles Berrett und Haven Johnson.14 Zur musikalischen Genrevielfalt tragen jedoch auch Herrmanns eigene Kompositionen bei. In der Szene über Kanes Karriere als Zeitungsmogul greift Herrmann auf verschiedene Tanzformen wie Can-Can oder Polka zurück. Zur berühmten Frühstücksszene, in der im Zeitraffer der Niedergang von Kanes erster Ehe geschildert wird, ertönen ein Walzer und dessen Variationen, die das jeweilige emotionale Befinden – von verliebt bis zornig – schildern und das Ende der Beziehung schließlich besiegeln. Ein weiteres Mal wird das musikalische Genre in jener Opernszene gewechselt, für die Herrmann im Stile von Richard Strauss eine Opernarie komponiert, mit der das gesangliche Unvermögen von Kanes zweiter Frau Susan Alexander dadurch unterstrichen wird, dass für die kleine Stimme mit mittlerer Stimmlage die bewusst sehr hoch gesetzten Spitzentöne kaum zu erreichen sind.15 2. Dramaturgisch motivierte musikalische Mikrozellen Zurück zu Dracula. Laut Kosovsky hatte Herrmann für die Dracula-Folge lediglich eine einzige musikalische Zelle neu komponiert  – und zwar jenes prägnante kurze Glockenschlag-Motiv, das mit der Figur Dracula verbunden ist. Auch im weiteren Verlauf der Geschichte taucht das Motiv immer wieder auf. So etwa, als der Erzähler mehrere Zeitungsschlagzeilen zitiert, in denen von mysteriösen Angriffen auf Menschen berichtet wird. Jede Schlagzeile wird von der Dracula-Glocke eingeleitet, wodurch zum einen der Täter markiert und zum anderen das Vergehen der Zeit akzentuiert wird, die zwischen den Attacken Draculas liegt. Durch die Montage von Sprache und Musik gelingt hier bei gleichzeitiger Spannungssteigerung eine geschickte zeitliche Raffung. Diese Montagetechnik wirkt wiederum wie ein Vorbote für jene bereits erwähnte Szene aus Citizen Kane, in der ebenfalls zeitlich gerafft über Kanes Zeitungs­ imperium berichtet wird und Herrmann mit kurzen Musikeinsprenklern die zeitlichen Sprünge verklammert. Bemerkenswert ist auch der Einsatz des Glockenschlag-Motivs auf dem Höhepunkt der Geschichte. Nach einer tagelangen Jagd durch Transsilvanien gelingt es den Hauptfiguren endlich, Draculas Sarg aufzuspüren. Kurz vor Sonnenuntergang bleiben ihnen nur noch wenige Sekunden, um dem Vampir einen Pf lock durchs Herz zu treiben. Die von Dracula gebissene Minna steht noch immer unter seinem Bann. Und auch Minnas Mann Jonathan und van Helsing sind gelähmt, sobald die Sonne verschwunden und Dracula erwacht ist. Dieser fordert Minna auf,

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ihm als Untote in ewiger Liebe zu folgen. Minna nimmt Jonathan den Pfahl aus der Hand, der verzweifelt aufschreit, als er erkennt, dass er seine Frau verloren hat und im Begriff ist, selbst zu sterben. Als Dracula Minna auffordert, ein Teil von ihm zu werden, schreit diese auf. Das Dracula-Motiv ertönt, das durch verschärfte Artikulation und Dynamik noch furchteinf lößender als zuvor wirkt. Jonathan liest mit ruhiger Stimme aus seinem Tagebuch vor und erklärt, dass Minna in dem Moment, als Dracula sie herbeirief, ihren eigenen Willen wiedererlangte und dem Vampir den Pf lock entschlossen durchs Herz sticht. Das Motiv ist dramaturgisch äußerst raffiniert platziert. Denn zunächst scheint es ihren Tod und damit Draculas Sieg zu markieren. Erst als Jonathan aus seinem Tagebuch vorliest, klärt sich auf, dass Minna mit dem Pfahl das Herz des Vampirs durchbohrt und ihre Liebe zu Jonathan gesiegt hat. Gleichzeitig bildet das Motiv eine narrative Zäsur und leitet zur Schlussszene über. Herrmann arbeitete also bereits im Hörspiel auf dramaturgisch geschickte Weise mit stark komprimierten, jedoch in sich komplexen oder vom Ausdruckscharakter her ambivalenten musikalischen Zellen, die sich so funktional auf vielfältige Weise platzieren ließen.16 Er etabliert damit bereits im Hörspielbereich eine kompositorische Technik, die auch für seine filmmusikalische Arbeit zentral erscheint. So folgen die musikalisch wie narrativ eng verbundenen beiden zentralen Leitmotive in Citizen Kane, die dem machtbesessenen Magnaten und dem Geheimnis seines letzten Wortes »Rosebud« zugeordnet werden, einer ganz ähnlichen Logik. Auch hier setzt Herrmann die leitmotivisch angelegten musikalischen Zellen funktional variabel ein, wobei er motivisch auf das Dies Irae aus der Totenmesse rekurriert und somit von Beginn der Narration an auch die Tragik der Kane’schen Existenz vorausahnen lässt.17 Beide miteinander verbundenen Motive werden ganz oder teilweise in einer Vielzahl von Variationen wiederholt und folgen dabei stets dem Verlauf der Handlung. Zunächst vom Ausdruckscharakter in den frühen Teilen von Kanes Leben eindeutiger gehalten, werden sie – parallel zur Entwicklung des Hauptcharakters – im Laufe des Films zunehmend ambivalenter, indem die Instrumentation abgedunkelt wird und die Dissonanzen zunehmen. Ebenso wie bei Dracula bereits in Miniaturform entwickelt, erfahren die musikalischen Zellen auch in Citizen Kane eine klangliche Entwicklung bei gleichzeitiger dramatischer Zuspitzung. Herrmann selbst hob kurz nach der Premiere von Citizen Kane die Nähe dieser Kompositionstechnik zu seiner Hörspielmusik hervor: »I used a great deal of what might be termed ›radio scoring‹. The movies frequently

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overlook opportunities for musical cues which last only a few seconds – that is, from five to fifteen seconds at the most – the reason being that the eye usually covers the transition. On the other hand, in radio drama, every scene must be bridged by some sort of sound device, so that even five seconds of music becomes a vital instrument in telling the ear that the scene is shifting. I felt in film, where the photographic contrast were often so sharp and sudden, a brief cue – even two or three chords – might heighten the effect immeasurably.«18 3. Ungewöhnliche Instrumentation und Harmonik Als weiteres stilistisches Charakteristikum erscheint Herrmanns ungewöhnliche Instrumentation und Harmonik, die bereits für seine Hörspiele auffällig ist. Ebenso wie auch in anderen Kompositionen verzichtet er in Dracula auf die volle Orchesterstärke. Stattdessen werden die Klangfarben einzelner Instrumente gezielt miteinander kombiniert, um einen transparenten, kammermusikalisch anmutenden Klang zu kreieren. In einem Zeitungsinterview aus dem Jahr 1938 begründet Herrmann seine ausgedünnte Instrumentation im Rahmen der Columbia-Workshop-Reihe wie folgt: »When the audience says ›The orchestra is playing‹, the music director has failed of his purpose. Attention is distracted from the drama, and the whole aim of the cue music is defeated. That is why I rarely use a symphony orchestra for the Workshop, but employ a mixture instead, going easy on the strings. My idea is to disassociate in the minds of the audience from the thought of an orchestral accompaniment, so they can fix all their attention on the drama itself.«19 Für diese Konzentration auf das Drama erscheint das GlockenschlagMotiv geradezu emblematisch. Bei seinem ersten Erklingen intensivieren Streicher, Holzbläser, Blechbläser, Tam-Tam und Klavier den Obertonreichtum der Glockenschläge. Wie dem Notenbeispiel bei Kosovsky zu entnehmen ist,20 handelt es sich dabei um einen Undezimakkord, der durch Terzschichtung die Obertöne der Glocke nachahmt und daher auch f und a viel schwächer instrumentiert. Darüber hinaus ist die Quinte tiefalteriert, wahrscheinlich, um die tonale Unsauberkeit von Glocken zu imitieren. Die Betonung von d und e liefert ein leicht bitonales Element, denn Undezimakkorde können als Addition zweier Dreiklänge aufgefasst werden. D und e wären ihre Grundtöne. Heraus kommt ein kurzes, in sich mysteriös anmutendes Klanggebilde, das die Zuhörer:innen unmittelbar auf den Kern der Geschichte lenkt: Dracula. Herrmann gelingt mit einem Akkord die atmosphärische und damit auch genrespezifische Verortung der Geschichte, die er klanglich als horribel ausweist.

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Ganz ähnlich verfährt Herrmann auch zu Beginn von Citizen Kane. Während das pompöse Anwesen Xanadu bei Nacht präsentiert wird, lässt Herrmann ein Vibraphon mit Bassf löten, Klarinetten, Bassklarinetten, Fagotte, Kontrafagott, Hörner, Trompeten, Posaunen, Pauke, Gong, Basstrommel sowie Bassgamben erklingen.21 Auch hier verzichtet Herrmann auf klangliche Opulenz und intensiviert stattdessen die düstere Grundstimmung der Nachtszene mit entsprechend undurchsichtigen Klängen, die das Mysterium Rosebud motivisch bereits in sich tragen. Herrmann selbst sprach 1973 davon, dass er mit dem unkonventionellen Ensemble eine »subterranean, strange heaviness of death und futility«22 erzeugen wollte. Dass für ihn die spezifischen dramaturgischen Anforderungen der jeweiligen Produktion stets ausschlaggebend für die Instrumentation waren und diese entsprechend variabel gehalten wurde, verdeutlicht auch ein Zitat von ihm aus dem Jahr 1971: »Since the middle of the eighteenth century, the symphony orchestra has always been an ­agreed body of men performing a repertoire of music. But since a film score is only written for one performance, I could never see the logic in making a rule of the standard symphony Orchestra. A film score can be made up of different fantastic groupings of instruments, as I’ve done throughout my entire career.«23 4. Mut zur musikalischen Lücke Des Weiteren erscheint bei der musikalischen Gestaltung von Dracula auffällig, dass Herrmann auf fortwährende musikalische Begleitung verzichtet und stattdessen ganz gezielt kurze musikalische Akzente setzt, wohl auch, um – angesichts der klangtechnischen Limitationen zu jener Zeit – den Dialog nicht mit der Musik zu überlagern. Der sparsame Einsatz von Musik ist ebenso in Citizen Kane zu beobachten. Auch hier werden vor allem kurze musikalische Passagen präsentiert. Robert Carringer weist darauf hin, dass sich Herrmann dieser ästhetischen Übertragung vom Hörspiel auf den Film sehr bewusst war, mit der er von den durchgehend komponierten Partituren, die gerade für die Warner-Filme jener Zeit so typisch waren,24 abweicht: »The avoidance of underscoring is probably a sign of Herrmann’s long experience in radio, where music played as background to dialogue was distractive. Herrmann himself was very aware of the inf luence of radio on his work, particularly in the use of musical cues to announce scene transitions. Another radio practice in the use of lively, upbeat musical interludes to indicate the passage of time. Equivalents are the series of spirited musical forms accompanying the running-a-newspaper montages – a galop with ›Traction Trust Exposed,‹

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a cancan Scherzo with the circulation buildup, and so on. Herrmann came up with the idea for these from reading the script and, in another departure from Hollywood tradition, convinced Welles to let him write the music first and edit the images to it.«25

IV. Schlussbemerkungen

Offenbar haben Herrmann und Welles diverse Kompositionsstrategien, die sie in ihren Hörspiel-Produktionen erprobt hatten, für Citizen Kane adaptiert. Doch bei allen gestalterischen Parallelen zwischen Herrmanns Arbeiten für Hörspiel und Film sei abschließend auf einen Unterschied hingewiesen. Herrmann startete seine Arbeit an Citizen Kane vertraglich am 21. Oktober 1938 und arbeitete daran 14 Wochen lang (inklusive zwei Wochen für die Mischung).26 Eine für damalige Verhältnisse ausgesprochen lange Zeit, wie Herrmann selbst betonte: »I had heard of the many handicaps that exist for a composer in Hollywood. One was the great speed with which scores often had to be written – some­ times in as little as two or three weeks (…). I was given (…) ample time to think about the film and to work out a general artistic plan for the score (…) (and) to do my own orchestration and conducting. I worked on the film, reel by reel, as it was being shot and cut. In this way I had a sense of the picture being built, and of my own music being a part of that building.«27 Dass der in Hollywood noch weitgehend unbekannte Bernard Herrmann auf Insistieren von Welles hin das gleiche Honorar von 10.000 Dollar wie Max Steiner erhielt,28 dass er bereits zu Beginn der Dreharbeiten eingebunden war und dass er dazu noch mehr als drei Monate an der Komposition für Citizen Kane arbeiten durfte, verdeutlicht noch einmal, welchen Stellenwert Welles der musikalischen Ebene und Herrmanns Kreativität beimaß – offenbar im Wissen um die Potenziale, die sich musikalisch bei einer zeitlich wie narrativ verschachtelten filmischen Struktur entfalten lassen sollten. Denn während die strukturelle und narrative Komplexität der Musik in den Hörspielen  – auch aufgrund des geringeren zeitlichen Umfangs der einzelnen Folgen (30 bzw. 60 Min.) – überschaubar bleibt, entwickelt Herrmann in Citizen Kane (119 Min.) ein dicht gewobenes musikalisches Verweissystem, das eine eigenständige narrative Qualität entfaltet. Denn das filmisch kaum aufgelöste Mysterium um Rosebud und die damit verbundene menschliche Tragödie wird vor allem musikalisch enthüllt, wenn Herrmann in der Schlussszene –

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parallel zum Verbrennen des Schlittens mit der Aufschrift »Rosebud« – das entsprechende Motiv in gleißenden Streichern mit größter Vehemenz platziert. Denn was einst unbeschwert in jener Winterszene zu Beginn erstmals erklang, markiert nun in seiner klanglichen und harmonischen Weiterentwicklung Kanes seelisches Leiden durch den Verlust der Eltern und seiner Kindheit als Ausgangspunkt aller Tragik. Hiermit endet ein musikalischer Bogen, der schicksalshaft über den gesamten Film gespannt ist. Herrmann selbst betonte die Funktion seiner Musik innerhalb dieses komplexen narrativen Puzzles: »The real reason for music is that a piece of film, by its nature, lacks a certain ability to convey emotional overtones. Many times in many films, dialogue may not give a clue to the feelings of a character. It’s the music or the lighting or camera movement. When a film is well made, the music’s function is to fuse a piece of film so that it has an inevitable beginning and end. (…) Music essentially proved an unconscious series of anchors for the viewer. It isn’t always apparent and you don’t have to know but it serves its function.«29 Die genauere Betrachtung der Zusammenarbeit von Herrmann und Welles für das Hörspiel Dracula verdeutlicht, wie eng die dafür entwickelten Gestaltungsstrategien mit jenen für Citizen Kane verbunden sind. Gerade durch ihre Nähe zur Hörspielästhetik erscheint die filmmusikalische – wie auch filmische – Faktur von Citizen Kane zu jener Zeit äußerst unkonventionell, in der ansonsten die opulenten großorchestralen Scores im spätromantischen Klanggewand von Erich Wolfgang Korngold, Max Steiner und anderen den kompositorischen Standard bildeten. Ebenso bemerkenswert ist, dass Citizen Kane die einzige filmische Zusammenarbeit zwischen Welles und Herrmann blieb – und das, obwohl Herrmann Welles, im Gegensatz zu Alfred Hitchcock, als »a man of great musical culture«30 beschrieb. Herrmann grenzte sich nicht nur durch seinen eigenwilligen unmelodiö­ sen Stil, sondern auch durch seine Arbeitsweise von seinen Zeitgenossen ab. Gerade dadurch, dass Welles Herrmann von Anfang an bei der Entwicklung der Stoffe für Hörspiel und Film künstlerisch einbezog und ihm für Citizen Kane deutlich mehr Zeit für musikalische Realisierung einräumte als damals üblich, schuf er entsprechende Rahmenbedingungen für kreative und komplexe Lösungen. Hinzu kommt, dass Herrmann auch bei der Musikproduktion alle Fäden in der Hand behielt, indem er nicht nur selbst dirigierte, sondern auch selbst orchestrierte. Das Ergebnis sind außergewöhnliche Partituren, die sich durch ihre stilistische Vielfalt, dramaturgische Raffinesse, Expressivität, den Einsatz musikalischer Mikrozellen, ungewöhnliche Instrumentationen sowie den

Bernard Herrmanns klangliches Kaleidoskop für Citizen Kane · 51

Mut zur musikalischen Lücke auszeichnen und als eine Art zweiter Erzähler Hörspiele wie Filme entscheidend bereichern.

1 Vgl. etwa Jay Bartush, »Citizen Kane. The Music«, in: Film Reader 1 (1975), S. 50–54; Charles Higham, The Films of Orson Welles, Berkeley (CA) 1970; Roger Manvell und John Huntley, The Technique of Film Music, London 1975; Graham Bruce, Bernard Herrmann. Film Music and Narrative, Ann Arbor (MI) 1985, hier insb. S. 43–57; William Darby und Jack Du Bois, American Film Music. Major Composers, Techniques, Trends, 1915–1990, Jefferson (NC)/London 1990; Hansjörg Pauli, »Bernard Herrmanns Musik Citizen Kane«, in: Dissonanz 26 (1990), S. 12–18; Roy M. Prendergast, Film Music. A Neglected Art, 2. Auf l., New York 1992, hier insb. S. 53–57; Eva Rieger, »Citizen Kane. Eine Fälschung?«, in: Beiträge zur Musikwissenschaft und Musikpädagogik, Festschrift für Rudolf Weber zum 60. Geburtstag, hg. von Hans J. Erwe u. a., Hildesheim 1997, S. 213–226; William H. Rosar, »The Dies Irae in Citizen Kane. Musical Hermeneutics Applied to Film Music«, in: Film Music. Critical Approaches, hg. von Kevin J. Donelly, New York 2001, S. 103–116; Thomas Krettenauer, »Im Labyrinth der Erinnerungen. Bild- und musiksprachliche Gestaltungsmittel in Orson Welles’ Filmklassiker Citizen Kane«, in: Musik und Unterricht, Zeitschrift für Musikpädagogik 65 (2001), S. 50–59; Steven C. Smith, A Heart at Fire’s Center. The Life and Music of Bernard Herrmann, Berkeley/Los Angeles/London 2002, hier insb. S. 71–84. — 2 Robert Kosovsky, Bernard Herrmann’s Radio Music for the Columbia Workshop, City University of New York 2001, S. 199. — 3 Rick Altman, »Deep-Focus Sound. Citizen Kane and the Radio Aesthetic«, in: Quarterly Review of Film and Video 15/3 (1994), S. 1–33. — 4 Die Perspektive knüpft in gewisser Weise an die Studie von Tanja Prokić an, in der sie Citizen Kane als »first radiophonic film« diskutiert. Vgl. Tanja Prokić, »Von Medien und Mogulen. Citizen Kane ›as the first radiophonic film‹«, in: Orson Welles’ »Citizen Kane« und die Filmtheorie. 16 Modellanalysen, hg. von Tanja Prokić und Oliver Jahraus, Stuttgart 2017, S. 205–224. — 5 Sämtliche Basisinformationen zur Columbia-Workshop-Reihe sind der ausführlichen Dissertation entnommen von Kosovsky, Bernard Herrmann’s Radio Music for the Columbia Workshop (s. Anm. 2). — 6 Vgl. hierzu Smith, A Heart at Fire’s Center (s. Anm. 1), S. 59. — 7 Simon Callow, Orson Welles. The Road to Xanadu, London 1996, S. 304. — 8 Eine entsprechende Anfrage bei der Bernard Herrmann Society blieb leider unbeantwortet. — 9 Kosovsky, Bernard Herrmann’s Radio Music for the Columbia Workshop (s. Anm. 2), S. 6. — 10 Ebd., S. 199. — 11 Die einzelnen Folgen sind abruf bar auf folgender Webseite: https://www.mercurytheatre.info/ (letzter Zugriff am 25.09.2022). — 12 Kosovsky, Bernard Herrmann’s Radio Music for the Columbia Workshop (s. Anm. 2), S. 201. — 13 Zu musikalischen Selbstzitaten in den Werken von Herrmann siehe William Wrobel, »SelfBorrowing in the Music of Bernard Herrmann«, in: Journal of Film Music 2 (2003), S. 249–271. — 14 Vgl. Smith, A Heart at Fire’s Center (s. Anm. 1), S. 79. — 15 Vgl. Ebd., S. 80 f. — 16 Zur modularen Form von Herrmanns Filmmusik siehe Tom Schneller, »East o Cut. Modular Film in the Film Scores of Bernard Herrmann«, in: Journal of Film Music 5/1–2 (2012), S. 127–151. — 17 Für eine ausführliche Auseinandersetzung zur Gestaltung und Bedeutung des Motivs siehe Rosar, »The Dies Irae in Citizen Kane« (s. Anm. 1). — 18 Herrmann zit. aus »Score for a film«, in: New York Times, 25.05.1941, hier zit. nach Smith, A Heart at Fire’s Center (s. Anm. 1), S. 77 f. — 19 Herrmann zit. aus »If the Background Stays in Back, Just Thank Cue«, in: New York Herald Tribune, 17.07.1938, hier zit. nach Smith, A Heart at Fire’s Center (s. Anm. 1), S. 61 f. — 20 Kosovsky, Bernard Herrmann’s Radio Music for the Columbia Workshop (s. Anm. 2), S. 194. — 21 Zur Instrumentation von Citizen Kane vgl. Robert Carringer, The Making of Citizen Kane. Revised and updated version, Berkeley 1996, S. 106. Leider konnte kein Einblick in eine Kopie der Partitur in der Library of Congress (ML96H4717CASE) genommen werden. — 22 Herrmann in einem Radiointerview mit Misha Donat vom Februar 1973, zit. nach Smith, A Heart at Fire’s Center (s. Anm. 1), S. 78. — 23 Herrmann zit. nach Ted Gilling, »The colour of Music. An Interview with Bernhard Herrmann«, in: Sight and Sound (Winter 1971–72), S. 36–39, hier S. 37. — 24 Vgl. Smith, A Heart at Fire’s Center (s. Anm. 1), S. 77. — 25 Carringer, The making of Citizen Kane (s. Anm. 21), S. 106 f. — 26 Vgl. ebd., S. 107. — 27 Herrmann zit. aus »Score for a film« (s. Anm. 18), S. 106. — 28 Vgl. Smith, A Heart at Fire’s Center (s. Anm. 1), S. 76. — 29 Herrmann zit. aus »Score for a film« (s. Anm. 18), S. 76. — 30 Herrmann zit. nach Gilling, »The Colour of Music« (s. Anm. 23), S. 38.

Alf Gerlach

Citizen Kane – psychoanalytische Perspektiven zum Film »No trespassing« – mit der Aufnahme eines solchen Verbotsschildes beginnt und endet der Film. Das Schild sieht verschmutzt und mitgenommen aus, hat wohl schon einige Jahre an einem nun alten Metallzaun gehangen und signalisiert dem Publikum dennoch weiterhin, dass hier kein Weiterkommen erlaubt ist. Die beiden Szenen rahmen den Film ein, so dass der gesamte Inhalt zwischen ihnen gehalten scheint. In mir als Betrachter evoziert es das Gefühl, dass jeder Versuch eines Eindringens vergeblich bleiben müsse, keine neue Erkenntnis vermitteln kann. Aber ich kann auch die Herausforderung annehmen, mich der Wirkung des Films überlassen, die Gefahr eines Scheiterns meines Eindringens oder einer Bestrafung auf mich nehmen. Schließlich wurde der Film gedreht, um von einem möglichst großen Publikum gesehen zu werden, und seine Komposition verführt nicht nur zum Anschauen, sondern auch dazu, sich seiner suggestiven Wirkung zu überlassen. Diese Wirkung in uns können wir betrachten, die dabei erfahrbaren subjektiven Gefühle und Eindrücke festhalten und zu analysieren versuchen. Psychoanalytisch bezeichnen wir dies als Analyse der Gegenübertragung, die seit einem bedeutenden Aufsatz der Psychoanalytikerin Paula Heimann 19501 als wichtiges Erkenntnisinstrument des Psychoanalytikers gelten darf. Die aktuelle psychoanalytische Filminterpretation folgt dieser Orientierung am subjektiven Erleben der Betrachterin und des Betrachters, das allerdings einer sorgfältigen Analyse bedarf.2 Damit haben die psychoanalytische Filmtheorie und Filminterpretation ihre Anfangszeit weit hinter sich gelassen, in der psychoanalytische Autor:innen einen Film in Gesamtheit oder einen der Protagonist:innen des Films auf die Couch zu legen versuchten. Dann müsste die filmische Darstellung gleichsam dem zu erschließenden Unbewussten der Protagonist:innen folgen, wäre als ein von diesen gesteuertes Werk zu verstehen. Dies entsprach einem Verständnis der Psychoanalyse selbst, in dem die Psyche des und der Einzelnen im Mittelpunkt der Betrachtung und Aufmerksamkeit stand, die man wie aus einer objektiven Perspektive heraus zu erforschen versuchte. Inzwischen ist diese Haltung des wissenden Psychoanalytikers und der Psychoanalytikerin, die dem Patienten mit ihrem Verständnis der seelischen Regungen voraus sind und ihm interpretierend gegenübertreten,

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weitgehend verschwunden zugunsten einer aufmerksamen Beobachtung des unbewussten Inter­a ktionsgeschehens zwischen den beiden Pro­ta­go­ nist:innen im psychoanalytischen Feld. Hierbei wird der psychoanalytische Prozess als ein Geschehen verstanden, an dem Patient:in wie Analytiker:in gleichermaßen beteiligt sind, die sich aufeinander einlassen und gemeinsam den psychoanalytischen Prozess erschaffen, mit seinen vielen Facetten der verbalen wie averbalen Begegnung, mit seinen Themen und unerwarteten Wendungen, mit dem Neuen, was in der psychoanalytischen Situation entsteht. Dem folgend hat sich auch der Schwerpunkt der psychoanalytischen Filminterpretation verschoben hin auf die psychischen Prozesse, die ein Film im Betrachter anregt, auf das Wechselverhältnis zwischen Film und Zuschauer, so dass die Interpretation eines Films unweigerlich eine sehr subjektive Note bekommt: »Diese subjektive Erfahrung in einer analytischen Haltung zuzulassen, sich oszillierend zwischen Ref lexion und Teilhabe dem Film zu überlassen, ist das, was ein Psychoanalytiker im Kino tun kann.«3 Analytiker:innen versuchen also zu erfassen, wie die spezifische Filmkunst eines Regisseurs und einer Regisseurin bei ihnen als Betrachter:innen eine Filmerfahrung hervorruft, in der die aufgenommenen Bilder einen vorbewussten Assoziationsstrom wecken, der wiederum auf unbewusste innere Szenen verweist. Dabei gehen wir davon aus, dass wir die filmischen Bilder und Töne nicht nur bewusst wahrnehmen, sondern schon unsere Wahrnehmung ein Prozess ist, der unbewusste Vorgänge einschließt, wie wir es aus den Untersuchungen zur subliminalen Wahrnehmung, also der Wahrnehmung von Reizen unterhalb der Bewusstseinsschwelle, wissen.4 Die experimentelle psychoanalytische Traumforschung zeigt uns, dass Bildinhalte, die nur wenige Millisekunden gezeigt werden, also unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle bleiben, bevorzugt in nächtlichen Träumen und auch in Wachträumen wieder auftauchen, nach einer innerpsychischen Umarbeitung mit Hilfe von Dissoziation, Verschiebung und Verdichtung. Es geht also um ein aktuelles Erleben, aber auch einen länger anhaltenden Verarbeitungsprozess. Wir können dieses Erleben als Kunsterfahrung verstehen und konzeptualisieren. Psychoanalytiker:innen fragen sich also, welche Gedanken, Gefühle, Assoziationen und Bilder in ihm und ihr evoziert werden, während sie den Film auf sich wirken lassen, je nach Film sich sogar in explosiver Weise in das filmische Geschehen hineingezogen fühlen. Hier können wir die Frage folgendermaßen formulieren: Wie behandelt der Film uns? Wir können diese Frage auch auf einen fiktiven interaktionellen Prozess zwischen Regisseur:in und Zuschauer:in ausdehnen: Wie will die Regis-

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seurin oder der Regisseur uns behandeln? Welche Gefühle will sie oder er in uns ansprechen? Was hat sie oder er sich, in Identifikation mit einem fiktiven Publikum, vorgestellt, das in diesem freigesetzt werden könnte, während es dem Erleben des Films ausgesetzt ist? Dabei behandeln wir diese Fragen nicht als faktische, gehen also nicht von der Voraussetzung aus, die Regisseur:innen eines Films hätten tatsächlich so oder so gedacht, sondern verstehen die Frage als eine fiktionale. Wir versuchen zu ergründen, was eine fiktive Regisseurin und ein fiktiver Regisseur im Publikum hätte evozieren wollen, wenn das deren Absicht gewesen wäre: Wir verwenden also eine Als-ob-Perspektive. Dazu kommen aber spezifische Faktoren, die eine Regression der Filmbetrachter:innen im Kinosaal nach sich ziehen: Die Dunkelheit des Kinosaals, die Passivität und Bewegungslosigkeit der Zuschauer:innen, die körperlich-stille Präsenz der Mit-Zuschauer:innen. Wir geraten in eine passive Körper- und Seelenverfassung, ähnlich dem Übergangszustand vom Wachsein zum Einschlafen. Das Zeitgefühl verändert sich, bewusste Wahrnehmungen des eigenen Körpers treten zurück. Wenn der Film beginnt, geraten wir auf eine eigenartige Weise in den Film, ein Teil von uns scheint sich mit den Bildern zu verbinden. Wir können von einem Film-Ich sprechen, das die Bilder des Films als Angebote nimmt, sie mit archaischen Sehnsüchten der Zuschauer:innen zu verknüpfen. Wir verwickeln uns identifikatorisch mit bestimmten Protagonist:innen des Films, verlieren unseren Bezug zur Wirklichkeit. In der Regel erleben wir diesen Prozess nicht als Zwang, sondern überlassen uns ihm. Es geht dabei nicht nur um Schaulust, sondern um einen umfassenderen regressiven Prozess.

I.  Bisherige psychoanalytische Interpretationsversuche

Melanie Klein, eine in Wien geborene Psychoanalytikerin, die seit 1926 in London arbeitete, hat in ihrem Nachlass einige Notizen hinterlassen, in denen sie einen psychoanalytischen Zugang zu Citizen Kane (1941) zu finden versuchte. Ihre Überlegungen wurden nie in die Veröffentlichung ihrer Werke einbezogen, weil es sich ganz offensichtlich um vorläufige Gedanken handelte, die nicht ausgearbeitet sind. Dennoch zeigen sie uns den Blick einer bedeutenden Psychoanalytikerin auf diesen Film. Sie spürt der Todesszene nach, in der Charles Foster Kane das Wort »Rose­ bud« ausspricht und ihm dabei die Schneekugel aus der Hand fällt und in Stücke bricht. An der Suche nach der Bedeutung dieses Wortes ist die

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Orson Welles, Citizen Kane, USA 1942, die Schneekugel

Entwicklung des gesamten Films verankert, der die Zuschauer:innen mitnimmt bei dem Versuch, das Rätsel dieses letzten Wortes des Sterbenden zu lösen. Klein macht es sich hier, so lautet auch ein später hier diskutierter Vorwurf aus der Filmwissenschaft, einfach, indem sie mit Entschiedenheit behauptet: »It is obvious for us that Kane’s dying word refers to the breast, the last thing he carries with him, cherished, and which as the picture shows drops when dying while he speaks the word ›Rosebud.‹«5 ((Abb. 1)) Um Kleins Verweis auf die mütterliche Brust zu verstehen, muss man wissen, dass sie der Abhängigkeit des Säuglings von der mütterlichen Brust als erstem Objekt des Neugeborenen besondere Bedeutung zuweist, ein Objekt, das zunächst vom Säugling wie ein Teil des eigenen Selbst erlebt wird. Erst langsam wachsen ihm über das Erleben von dessen Nicht-Anwesenheit, der Wahrnehmung einer Versagung, Objekt­ eigen­ schaften zu. Die notwendige, erzwungene Anerkennung, dass etwas außerhalb des eigenen Selbst existiert, führt nach Klein zu einem Erleben von Liebe zu diesem Objekt wie auch zu Hass auf es, und treibt somit psychische Entwicklung voran. Klein folgert in ihren weitergehenden Notizen zum Film, dass die dem Jungen von der Mutter aufgezwungene Trennung seine Einstellung anderen Menschen gegenüber entscheidend prägt: »As he says, he is going to

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Orson Welles, Citizen Kane, USA 1942, die Übergabe

make them think the way he wants. It suggests itself that the fact that Susan is poor, needs protection stirs his feelings of a loving kind. Possibly also that Susan’s mother will never allow her to become a singer strikes a chord in him, since his own mother so willfully shaped his life away from her and his father, and with the design that he should be rich and powerful.« 6 In Kleins Auffassung wiederholt der schmerzhaft erlebte Verlust der Eltern das erste Trennungstrauma, das Realisieren des Nicht-Verfügens über die mütterliche Brust. So versteht sie auch die Bedeutung, welche die Schneekugel unbewusst für Kane gewinnt, als seine zweite Frau Susan ihn verlässt: »Susan leaves Kane. The reaction to her is the Rosebud parting. The only object he preserves from her room, which he picks up, obviously unconscious of his motives for his picking it up and keeping it. The only references to his mother are when he got to know and like Susan, that he had been on a journey to visit his mother’s grave and the ) place where she lived and where he lived in his childhood.«7 Wir sollten nicht vergessen, dass Kane alles andere in Susans Raum zuvor in einer rauschhaften Wut zerschlagen hat, bevor er die Schneekugel als einziges Objekt aus ihrem Raum mit sich nimmt. Wenn wir Klein folgen, würden wir diese Szene als ein Ausagieren seiner Wut und seines Hasses verstehen, gefolgt von einer besitzergreifenden Zuwendung zu einem zerbrechlichen Objekt, das für ihn eine Erinnerung bewahren soll. ((Abb. 2)

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Albert Mason, der Melanie Kleins Notizen herausgegeben hat, kommentiert: »Rosebud clearly seemed to symbolize little Kane’s mother (or home, or breast, depending on which level one chooses to interpret), whom he longed for when he was dying and lonely and had been displaced from the happiness he felt as a child, always longed for and never found again.«8 Kleins Interpretation erinnert ihn an eine späte Bemerkung von Sigmund Freud, der 1938 schrieb: »Haben und Sein beim Kind. Das Kind drückt die Objektbeziehung gern durch die Identifizierung aus: ich bin das Objekt. Das Haben ist die spätere, fällt nach Objektverlust ins Sein zurück. Muster: Brust. Die Brust ist ein Stück von mir, ich bin die Brust. Später nur: ich habe sie, d. h. ich bin sie nicht (…)«9. In diesem Sinne wäre die Glaskugel zu einem Teil des Selbst von Kane geworden, er wäre mit ihr in einem regressiven Versuch verschmolzen, hätte im Moment des Sterbens zu einem anfänglichen symbiotischen Glück zurückgefunden, die schmerzhafte Trennung von den Eltern in seiner Kindheit hinter sich lassen können. In eine gänzlich andere Richtung als diese Deutung Melanie Kleins weist Sulgi Lie in seinem 2017 veröffentlichten Essay zu Citizen Kane.10 Er bezeichnet den Deutungsversuch Kleins als »(vulgär-)psychoanalytische Interpretation.«11 Danach würde sich ein Verständnis von Rosebud als »das verlorene Objekt der Kindheit, ein metonymisches Substitut des geliebten mütterlichen Körpers, das Kane in seinem Erwachsenenleben trotz aller Anhäufung von Macht und Reichtum niemals wiederfinden wird«12, zwar aufdrängen. Lie stellt aber gerade diese Deutung aus einer an der Psychoanalyse Jacques Lacans orientierten Perspektive in Frage. Er besteht darauf, dass das Wort »Rosebud« weder als Referent (der Schlitten mit dem darauf verzeichneten Namen »Rosebud«, den Kane als Kind benutzt und der in einer der letzten Einstellungen im Feuer landet) noch als Signifikat im Sinne eines Verlustes der Kindheit verstanden werden dürfe. Vielmehr sei die Bedeutung gemäß Lacan, der hier der strukturalen Linguistik folge, am Signifikanten als Lautträger festzumachen, der bewusst nicht zugänglich sei. Lie versucht nun, der audiovisuellen Signifikantenkette des Films zu folgen. Während er Rosebud (Rosenknospe) als Sinnbild »blühender Lebendigkeit und Naturschönheit«13 übersetzt, konfrontiert er sie mit den ersten Einstellungen der Anfangssequenz des Films: »Einer gigantischen Krypta gleich ist Xanadu eine hochgradig künstliche Ruine, in der Lebendigkeit und Naturhaftigkeit gänzlich abwesend sind«. Er folgert, dass die »visuellen Signifikanten den verbalen Signifikaten entgegen(-arbeiten) anstatt ihnen zuzuarbeiten.«14 Ich kann ihm allerdings nicht zustimmen, dass es hierbei um eine »Absorption der

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Natur durch die Kultur, des Lebendigen durch das Tote«15 gehe. Diese Gegenüberstellung berücksichtigt nicht, dass Natur wie Kultur die Lebendigkeit wie den Tod kennen. Auch die Natur strebt dem Tode zu, bevor sie wieder Neues hervorbringen kann, und die kulturellen Leistungen der Menschheit sind in sich ambivalent, können lebendige Schöpfungen hervorbringen ebenso wie sie Zerstörung und Tod beinhalten können. Sulgi Lies Interpretation folgt der einmal eingeschlagenen Linie und orientiert sich weiterhin an der Dichotomie von Leben und Tod, wenn er z. B. den Wortlaut »Rosebud« als »Rose, but« hört und liest: »Im Signifikanten steckt anders gelesen bereits die Infragestellung, die Verneinung der schönen Rose.«16 Aber auf welches innere Erleben beziehen sich Lebensund Todeswünsche beim Protagonisten des Films, wie sind sie lebensgeschichtlich in seiner Entwicklung verankert? – so würde ich in klassischpsychoanalytischer Haltung fragen. Welche Identifikationsspuren werden in mir als Zuschauer:in berührt, wenn ich mich dem eigenen Erleben beim Zuschauen und Zuhören aussetze? Dem möchte ich nun folgen.

II. Subjektives Wirkungsgeschehen im Zuschauer und der Zuschauerin

Nach dem anfänglichen Blick der Filmkamera auf das »No trespassing«Schild tauchen wir ein in eine düstere Welt, in der verloren wirkende Affen in einem Käfig, auch ein einsamer Leopard, vor der Kulisse eines dunklen Schlosses erscheinen. Dort liegt ein Sterbender in seinem Bett. Plötzlich ist die gesamte Leinwand von einem Schneegestöber erfüllt, bis die veränderte Perspektive der Kamera uns glauben lässt, dass es im Zimmer schneit, bis derselbe Schnee im Inneren der Glaskugel auftaucht, mitsamt einer schneebedeckten Hütte. Diese fällt dem Sterbenden aus der Hand, begleitet von einem einzigen Wort: »Rosebud«.17 Die Kameraführung macht also etwas Unmögliches möglich, wie in einem Traumgeschehen, das sich um die Realität nicht scheren muss, weil es dem primärprozesshaften Fühlen und Denken folgt, in dem keine Widersprüche existieren. Damit tritt im Publikum eine magische Wirkung ein, das Erleben verdichtet sich, als wären wir selbst in der Szene. Wir sind Zeug:innen eines einsamen Todes, noch verschreckt von der Düsternis der Atmosphäre des Schlosses. Der Sterbende hält keine tröstende Hand, sondern ein lebloses Objekt, das im Moment seines Todes auch selbst stirbt, seine Kohärenz verliert, wohl auch die Bedeutung, die es für den Besitzer hatte.

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Der Film nimmt uns dann mit auf die Recherche seines Journalisten, der dem letzten Wort von Kane, »Rosebud«, nachgehen und dazu noch lebende Zeitzeug:innen befragen soll. Antoine Corel, ein französischer Psychoanalytiker, hat darauf aufmerksam gemacht, dass im Moment von Kanes Tod keine andere Person im Zimmer zugegen war, also auch niemand dieses letzte Wort bezeugen könne – außer wir als Zuschauer:innen des Films, die nun auch auf diese Weise in den Ablauf einbezogen werden.18 Auch am Ende des Films könnten nur wir Zuschauer:innen, die den brennenden Schlitten mit dem Wort »Rosebud« darauf sehen, nun von dort aus einen neuen Sinn im Ablauf der vorangehenden Szenen zu entdecken versuchen. Dem Journalisten und seinen Kolleg:innen, die ihre Suche eingestellt hätten, bliebe dieser Schlüssel zum Verständnis verborgen. Dabei stößt der Journalist auf die Aufzeichnungen eines Mr. Thompson, des Vormundes des jungen Kane, nachdem ihn seine Eltern in die Obhut einer Vermögensverwaltungsgesellschaft gegeben hatten. Hier springt der Film plötzlich in die Vergangenheit jenes Moments, als der Junge sich, für ihn überraschend, von seinen Eltern trennen muss. Sein Vater protestiert gegen die Wegnahme, kann sich aber weder gegen seine Frau noch gegen den Bankier, der die Gesellschaft repräsentiert, durchsetzen. Während der Vertrag unterschrieben wird, spielt der Junge draußen im Schnee, fährt mit seinem Schlitten, wirft Schneebälle, baut einen Schneemann. Die Mutter wirkt streng, geschäftlich, der Vater hilf los, bald zu jeder Anpassung und Unterwerfung bereit. Die Bank soll ab sofort für den Jungen Verantwortung tragen, bis er zu seinem 25. Lebensjahr das gesamte aufgelaufene Vermögen erben soll. Als der Junge übergeben werden soll, setzt er seinen Schlitten ein, um sich zu wehren. Sein Blick zeigt Wut und trotzige Entschlossenheit, keine Trauer, keine Tränen. Nun empfiehlt der Vater eine Tracht Prügel, um seinen Widerstand zu brechen, worauf hin die Mutter antwortet: »That’s why he’s going to be brought up where you can’t get at him.«19 Der Schlitten bleibt allein zurück im Schneetreiben. In der nächsten Szene erhält der junge Charles einen Metallschlitten unter dem Weihnachtsbaum. Der zurückgelassene Schlitten ist aber nicht verloren. Er taucht in einer der letzten Szenen des Films wieder auf, wandert zusammen mit anderen Hinterlassenschaften des Verstorbenen ins Feuer, wobei auf ihm das Wort »Rosebud« und eine Rosenknospe sichtbar werden.20 An der hier geschilderten Szene hatte Melanie Klein ihre Interpretation orientiert, die das verlorene Objekt Mutter, Zuhause, Brust in den Mittelpunkt stellt. Die geschilderte Szene ist aber eine Familienszene, in der

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im Betrachter und der Betrachterin sehr differenzierte Gefühle in Identifikation mit dem Jungen, der Mutter und dem Vater geweckt werden. Vater und Mutter wirken dem Geschehen gegenüber ambivalent, die Identifikation mit ihnen weckt Gefühle der Abneigung, der Wut über ihren Verrat am Kind und seinen Bedürfnissen, aber auch der Trauer, der Hilf losigkeit. Vater und Mutter stehen in einer tiefen Spannung sich gegenüber: Zunächst überwiegt beim Vater Zuneigung und Einsatz für seinen Jungen, während die Mutter kaltherzig und uneinfühlsam scheint. Dann wird der Vater mit seiner Bereitschaft zur Gewalt gegen den Jungen sichtbar, während die Mutter ihn davor beschützen will. Letztlich wird der Junge zum Objekt, mit dem etwas geschieht, was er nicht verstehen kann. Der zurückgebliebene, nutzlose Schlitten scheint Einsamkeit, eine stille Verzweif lung auszudrücken. Der Junge hat seine Eltern verloren, nicht nur die Mutter, sondern das elterliche Paar. Dieses könnte gerade in seiner Eigenschaft als Paar, einer Beziehung von zwei Individuen, garantieren, dass das Kind nicht einseitig nur einem anderen Menschen ausgeliefert wäre, sondern sich in einer Triangulierung Raum für eigene Entwicklung nehmen könnte. In ähnlicher Weise hat Antoine Corel die Szene aus der Vergangenheit verstanden: »We have thus a pattern of seduction and betrayal whereby the boy is suddenly and simultaneously dispossessed of any sense of trust, of a father figure, of real contact with his parents, or of any acknowledgment of psychic pain. The mother’s ruthlessness and ambition foreshadow the similar traits Kane will display when building his empire. The main transgressive structure consists of the boy being assigned to the role of completely satisfying his mother’s desires, while the father is castrated. The child’s momentary rebellion and the father’s threat to punish him only serve to provoke the mother’s absolute power and her final verdict: ›You are to leave!‹ This structure, transgressive of the Oedipus, provides the basis for Kane’s narcissism and megalomania: his mother’s project has to be accomplished; otherwise, sorrow and pain would arise, and nothing would justify the separation in retrospect.«21 Es geht also um eine absolute Abwehr von Trennungsschmerz und Vernichtungsgefühlen und um das Erlangen absoluter Macht, nicht nur über andere Menschen, sondern auch über alle auf der Welt erreichbaren Objekte, wie Gemälde, Gobelins, Statuen, Tiere, Zeitungen, Rundfunkanstalten, Unternehmen. Nachdem Kane 25 Jahre alt geworden ist und entgegen den Vorschlägen seines Vormundes Thatcher sich für die Herausgabe einer Zeitung entschieden hat, statt seinen Reichtum in andere Projekte zu investieren, setzt er seinen Aufstand gegen die Vaterfiguren fort. Es findet Erwäh-

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nung, dass er oft aus der Schule gef logen war, und er setzt seine Macht in der Zeitung ein, um die Geschäftspraktiken der Unternehmen anzuprangern, die ihm mit gehören. Er kämpft für die Minderbemittelten, gegen die Kapitalbesitzer. Auf Thatchers Frage, was er sein möchte, antwortet er: »Everything you hate.«22 Den Chefredakteur einer Zeitung, die er kauft, wirft er ohne weitere Begründung aus seinem Büro und erklärt ihm, er werde nun dort wohnen.23 Wenn ich mich nun beobachte, wie ich auf diese Szenen reagiere, so ist meine emotionale Antwort eine ambivalente. Auf der einen Seite identifiziere ich mich mit dem kleinen Jungen in Kane, den der Vater nicht vor dem Machtanspruch der Mutter geschützt hat und der nun in einem Akt der Rache seine Macht gegen die Vaterfiguren wendet. Das, was ihnen wert ist, verachtet er und ist sogar bereit, es zu zerstören. Es ist, als sollten die älteren Männer nun an sich selbst erleben und spüren, was Machtlosigkeit bedeutet. Vom Standpunkt eines Interesses an Kapitalverwertung her widersetzt er sich, kann Geld auch für Projekte ausgeben, die das Missfallen seines Finanzberaters auslösen, und sich in diesem Akt der Abgrenzung und des Widerspruchs triumphierend wohlfühlen. Andererseits kann ich eine Trauer um sein Scheitern spüren, vor allem in seinen Liebesbeziehungen, die ihm nicht gelingen können. In seiner Egomanie lässt Kane sogar seinen Sohn fallen und wiederholt damit das eigene Scheitern in seiner Vaterbeziehung. So wie der Vater nicht bereit war, wirklich um ihn zu kämpfen, so opfert Kane seinen Sohn in einem Machtkampf mit seinem politischen Gegner, wohl ahnend, dass er diesen Kampf verloren hat. Der Film vermittelt dem Zuschauer also nicht nur ein Verlassenheitstrauma in der frühen Beziehung zur Mutter, sondern auch ein traumatisches Scheitern im positiven wie negativen Ödipuskomplex.24 Neben der Beziehung zur kalt und uneinfühlsam dargestellten Mutter ist sein Werdegang auch von der Zurückweisung seiner Liebe zum Vater und seinen unbewussten Rachewünschen an Vaterfiguren bestimmt. Auch eine eigene Väterlichkeit als innere Haltung mit überwiegend liebevollen und sorgenden Einstellungen seinem Sohn gegenüber hat er nicht entwickeln können. An die Stelle seiner Liebe zu lebenden Objekten ist die rastlose Suche nach unbelebten Gegenständen getreten, die Kane in seinem schlossähnlichen, kalt wirkenden Palast um sich herum versammelt. Schon der Beginn des Films führt uns ein in seine schier unendliche Sammlung von Gemälden, Gobelins, Statuen. Der New Yorker Psychoanalytiker Werner Muensterberger hat die Sammelleidenschaft psychoanalytisch unter-

62 · Alf Gerlach

Orson Welles, Citizen Kane, USA 1942, die Schatzsammlung

sucht: »Das fortwährende Suchen (…) erweist sich als Neigung, die aus einer nicht sofort erkennbaren Erinnerung an Entbehrung, Verlust oder Verletzung und einem sich daraus ergebenden Verlangen nach Ersatz herrührt und die eng mit Verstimmung und einer Neigung zu Depressionen verbunden ist.«25 Muensterberger versteht die Objekte des Sammlers als Hilfen, um andrängende Ängste und Gefühle der Unsicherheit in Schach zu halten: »Man kann es auch als den augenblickshaften symbolischen Versuch der Selbstheilung einer immer gegenwärtigen Enttäuschung verstehen.«26 Bei den meisten der von ihm analysierten Sammler fand er eine phallisch-narzisstische Persönlichkeitsstruktur, die ein tiefes Bedürfnis nach ständiger Bestätigung von eigener Macht und Potenz trotz tiefgreifender Enttäuschungen beinhaltet, eine selbstbezogene Kompensation für wirklich oder vermeintlich erlittenes Unrecht. ((Abb. 3)) Am Ende des Films sehen wir uns konfrontiert mit ungewöhnlich langen Einstellungen, in denen uns die gesammelten Objekte vor Augen geführt werden. In der begleitenden Diskussion der Gutachter wird von »the junk as well as the art« gesprochen,27 ein Verweis darauf, dass für den Sammler der subjektive Bezug zu seinen Objekten viel wichtiger ist als deren objektiver Wert. Wenn wir dem Blick der Kamera über die Gegenstände folgen, mögen viele von uns sich erinnert fühlen an die geheimen Schätze, die sie im Keller oder Abstellraum lagern, von denen sie

Citizen Kane – psychoanalytische Perspektiven zum Film · 63

sich nicht trennen können. Teilweise wirkt das riesige Lager für die gesammelten Objekte wie die Wohnung eines Messies, in der nur noch schmale Bahnen zwischen den aufgehäuften Gegenständen einen Zugang erlauben. Wir schauen in diesen Momenten also auch in Abgründe der eigenen Seele, in die traumatischen Fixierungen, von denen wir uns nicht lösen können. Die unendliche Zahl der Objekte, über welche die Kamera fährt, verweist auf die Unerschöpf lichkeit der Sehnsucht, aus der heraus die Gier nach den Objekten sich speist. Es fällt die Frage, was dabei herauskomme, wenn man alles zusammennehme, und jemand schlägt vor: »Charles Foster Kane?« Und ein weiterer wirft ein: »Or Rosebud?«28 Seine Identität, das, was ihn wesentlich ausmachte, wird hier also mit seinem Sehnen und Sammeln gleichgesetzt. Muensterberger hat in seiner Publikation das Sammeln als »persönliche und zumeist einsame Angelegenheit«29 charakterisiert und Walter Benjamin aus dessen Rede über das Sammeln von 1931 zitiert: »(…) für den Sammler (ist) der Besitz das allertiefste Verhältnis (…), das man zu Dingen überhaupt haben kann: nicht daß sie in ihm lebendig wären, er selber ist es, der in ihnen wohnt.«30 Die Sehnsucht nach einem verlorenen Objekt soll also im Sammeln seine Erfüllung finden und bleibt doch ewig ungestillt, weil der ursprüngliche Verlust nicht betrauert werden kann. Kane und sein Verhältnis zu den Dingen, über die er endlos zu verfügen versuchte, konfrontiert uns also mit der physischen und emotionalen Verletzbarkeit als Kind, in der jede Trennung die Gefahr eines traumatischen Erlebens beinhaltet. Die Möglichkeit, einem anderen Menschen zu vertrauen, sich bei ihm sicher und geborgen zu fühlen, kann dann verloren gehen, und es beginnt die Suche nach einer Kompensation, manchmal verknüpft mit einem Wunsch nach Rache über eine fantasierte oder tatsächliche Machtfülle.

1 Paula Heimann, »On countertransference«, in: International Journal of Psychoanalysis 31 (1950), S. 81–84. — 2 Vgl. Andreas Hamburger, Filmpsychoanalyse. Das Unbewusste im Kino – das Kino im Unbewussten, Gießen 2018, Kap. 3. — 3 Ebd., S. 66. — 4 Vgl. Wolfgang Leuschner, »Zerhackte Wahrnehmungen. Zur technischen Produktion suggestiver Wirkungen des Films«, in: Psyche. Z Psychoanal 58 (2004), S. 649–659, und Ders., »Was uns süchtig nach Filmbildern macht«, in: Psyche. Z Psychoanal 61 (2004), S. 1189–1210. — 5 Melanie Klein, zit. nach Albert Mason, »Melanie Klein’s Notes on Citizen Kane with Commentary«, in: Psychoanalytic Inquiry 18 (1998), S. 148. — 6 Ebd., S. 149. — 7 Ebd. — 8 Ebd., S. 152. — 9 Sigmund Freud, »Ergebnisse, Ideen Probleme«, in: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. 17, hg. von Anna Freud, London 1941 (original London 1938), S. 299. — 10 Sulgie Lie, »Rosebud ist nicht Rosebud. Zur filmischen Psychoanalyse von Citizen Kane«, in: Orson Welles’ »Citizen Kane« und die Filmtheorie. 16 Modellanalysen, hg. von Tanja Prokic und Oliver Jahraus, Stuttgart 2017. — 11 Ebd., S. 262. — 12 Ebd. — 13 Ebd., S. 266. — 14 Ebd., S. 267. — 15 Ebd. — 16 Ebd., S. 268. — 17 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Turner 2011, 00:02:27. — 18 Antoine Corel, »Language and Time in Citizen Kane«, in: Psychoanalytic Inquiry 18 (1998), S. 154–160. — 19 Orson Welles,

64 · Alf Gerlach Citizen Kane, DVD, Turner 2011, 00:21:51–00:21:54. — 20 Ebd., 01:51:10–01:51:39. — 21 ­Corel, »Language and Time in Citizen Kane« (s. Anm. 18), S. 157. — 22 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Turner 2011, 00:28:28. — 23 Ebd., 00:33:45–00:33:49 sowie 00:35:41. — 24 Als positiven Ödipuskomplex verstehen wir in der Psychoanalyse die Gesamtheit der liebevollen Gefühle gegenüber dem gegengeschlechtlichen Elternteil und der feindseligen gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, als negativen Ödipuskomplex die entgegengesetzte Konstellation. Vgl. Wolfgang Mertens, »Ödipuskomplex«, in: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, hg. von dems., Stuttgart 2014. — 25 Werner Muensterberger, Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft, Berlin 1995, S. 19. — 26 Ebd., S. 32. — 27 Orson Welles, Citizen Kane, DVD, Turner 2011, 01:48:28 — 28 Ebd., 01:48:55–01:48:57. — 29 Muensterberger, Sammeln (s. Anm. 25), S. 39. — 30 Walter Benjamin, »Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln«, in: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a. M. 1966, S. 177 f.

Fabienne Liptay

Hinterlassenschaft und Unvollendung Von Citizen Kane zu The Other Side of the Wind

Als Charles Foster Kane stirbt, hinterlässt er ein Rätsel, eine enigmatische Formel, über deren Bedeutung die Journalisten spekulieren, wenn sie dahinter den Namen eines Rennpferdes oder einer Liebschaft wähnen: »Rosebud«. Kane f lüstert dieses Wort auf dem Sterbebett, in einer vielsagenden Großaufnahme seiner Lippen. Als im Augenblick des Todes eine Schneekugel aus seiner Hand rollt, scheint es, als sei das Geheimnis darin geborgen, in einer Sprechblase, in der das gef lüsterte Wort bildhaft kristallisiert, um augenblicklich wieder zu zerschellen. Als eine Krankenschwester das Totenzimmer betritt, blickt die Kamera, in optischer Verzeichnung, durch das zersplitterte Glas der Kugel am Boden und veranschaulicht damit ein übergeordnetes Prinzip des Films, der immer nur Facetten der Geschichte von Kane präsentiert, ohne jemals ein vollständiges Bild zu rekonstruieren. In der Schlusssequenz des Films wird

Orson Welles, Citizen Kane, USA 1941, Rosebud inmitten von Charles Foster Kanes Nachlass

66 · Fabienne Liptay

das ins Grab genommene Geheimnis, als eine dieser unzähligen Facetten, exklusiv für den Blick der Zuschauer:innen enthüllt, als Hilfsarbeiter bei der Entrümpelung des Hausrats von Xanadu einen Kinderschlitten achtlos ins Feuer werfen, auf den der Name »Rosebud« über einer Rosenknospe gemalt ist. ((Abb. 1)) Welles fasste seinen Film so zusammen: »It is the story of a search by a man named Thompson, the editor of a news digest (similar to the March of Time), for the meaning of Kane’s dying words. He hopes they’ll give the short the angle it needs. He decides that a man’s dying words ought to explain his life. Maybe they do. He never discovers what Kane’s mean, but the audience does. His researches take him to five people who know Kane well—people who liked him or loved him or hated his guts. They tell five different stories, each biased, so that the truth about Kane, like the truth about any man, can only be calculated, by the sum of everything that has been said about him.«1 Rosebud ist damit auch eine Einladung an die Zuschauer:innen, in die Legenden und Spekulationen, die Gerüchte und Geständnisse, die Lügen und Geheimnisse zu investieren, die sich um das Leben Kanes ranken – eine Formel für die Unabschließbarkeit des Films, die schier unerschöpf liche Bedeutung von Rosebud (einschließlich der Fähigkeit, nichts zu bedeuten). Wir müssen jedenfalls bezweifeln, dass uns die Summe dieses Lebens mit der Gewährung des exklusiven Blicks auf den Namen des Schlittens gegeben wird. Welles räumte ein, dass Rosebud – eine Erfindung des Drehbuchautors Herman Mankiewicz – lediglich ein billiger dramaturgischer Kniff zur Erklärung der Psyche des Mannes gewesen sei: »dollar-book Freud«2. Die Berühmtheit, die Rosebud in der kollektiven Erinnerung des Films genießt, und die Beachtung, die ihm im filmwissenschaftlichen Diskurs zuteilwird, lassen sich mit diesem Geständnis jedenfalls kaum erklären. Sie sind vielmehr an der Tatsache zu bemessen, dass Rosebud pars pro toto für den gesamten Film zu stehen vermag, für alle Wissens- und Mythenbestände, die mit der Geschichte seiner Produktion und Rezeption verbunden sind.3 Schließlich handelt es sich um eine Formel, in der sich sämtliche Vorstellungen von Glanz und Größe Hollywoods verdichten konnten.

I.  »Flying apart, becoming disorderly«

Für Steven Spielberg, der den Schlitten auf einer Auktion des Hauses Sotheby’s in New York im Jahr 1982 für 55.000 Dollar erstand (er stammte aus dem Besitz von John Hall, RKOs Archivleiter, dieser hatte ihn

Von Citizen Kane zu The Other Side of the Wind · 67

einem Studiowächter abgekauft, der den Schlitten auf einem Müllhaufen vor dem Requisitenfundus des alten RKO Studios in Hollywood fand; Spielberg verwahrte den Schlitten in seinem Büro, bis er ihn dem neuen Academy Museum of Motion Pictures in Los Angeles spendete), repräsentierte er nicht weniger als ein Symbol des klassischen Hollywoods: »Citizen Kane is to me the American style. (…) It’s the most audacious, purely American movie we have.«4 Rosebud steht damit rückblickend auch für den Film in seiner kultischen Verehrung: Alle werden ihm immer alles schulden, schrieb JeanLuc Godard;5 und Jacques Rivette bezeichnete die Vertreter seiner Generation als Söhne von Orson Welles, der als erster den Mut hatte, des Regisseurs egozentrische Sicht der Dinge herauszustellen.6 Die Filmkritikerin Pauline Kael hatte Citizen Kane in einem umstrittenen zweiteiligen Aufsatz für den New Yorker gerade dafür angeklagt, diese Verehrung unrechtmäßig zu genießen.7 Citizen Kane sei nicht dem Genie eines Debüttanten in Hollywood zu verdanken, sondern der Mitwirkung anderer, vor allem des nahezu vergessenen Drehbuchautors Herman Mankiewicz, der seinen Credit mit Welles teilte. Pauline Kael argumentierte in ihrem Essay Raising Kane (1971) mit einiger Polemik gegen diejenigen, die den Film als Ausdruck des künstlerischen Talents des Regisseurs deuteten, jenem damals erst 25-jährigen wonder boy, dem das Studio RKO bei der Produktion seines Debütfilms uneingeschränkte künstlerische Freiheit gewährt hatte.8 Ihre Polemik stand im Kontext eines Methodenstreits, den sie öffentlich mit Andrew Sarris austrug, einem Vertreter der Autorentheorie, der diese in einer Weise auf die amerikanische Filmgeschichte übertragen hatte,9 die ihr als männlich adoleszenter Personenkult erschien.10 Dabei ging es ihr darum, jenen Kultstatus in der Rekonstruktion verteilter Autorschaft zu widerlegen und diese über die Regie hinaus auch für die anderen Gewerke in Anspruch zu nehmen. Die Größe, die sie Orson Welles schließlich zugesteht, sei die seiner nicht realisierten Potenziale: Nach Kane, schreibt sie, »(…) he f lew apart, became disorderly«.11 »It is in his inability to realize all his artistic potentialities that he is the greatest symbolic figure in American film history since Griffith.«12 Anfang der 1970er Jahre, als Kael ihre Polemik schrieb, zählte das Werk von Welles bereits etliche nicht realisierte und unvollendet gebliebene Projekte.13 Der Zustand, in dem sich Orson Welles’ Schaffen nach Citizen Kane präsentiert, lässt sich vielleicht mit dem Begriff des désœuvrement beschreiben,14 einer Werklosigkeit, die der italienische Philosoph Giorgio Agamben im Anschluss an Maurice Blanchot eine »unbestimmte

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Existenz der Potenz« nennt.15 In diesem Sinn meint die Werklosigkeit nicht das bloße Fehlen eines Werks, sondern die Suche nach dem, was ihm als uneingelöste Möglichkeit vorausgeht. In einem Textfragment, das kaum mehr als eine Druckseite umfasst, kürt Agamben dementsprechend eine Szene aus Orson Welles’ Don Quixote zu den »schönsten sechs Minuten der Filmgeschichte«.16 Darin zieht Quixote während einer Kinovorführung sein Schwert, um die bedrohte Filmheldin gegen Angreifer zu Pferd zu verteidigen. Der »schwarze Riß«, den Don Quixote der Leinwand mit dem Schwert zufügt, schreibt Agamben, »verschlingt unerbittlich die Bilder«.17 Als Bilderstürmerei muss sein Text nicht allein deshalb verstanden werden, weil er eine Szene der Zerstörung filmischer Illusion zur schönsten der Filmgeschichte erklärt, sondern auch, weil diese Szene ausgerechnet einem Film entstammt, der niemals fertiggestellt wurde. Welles hätte ihm den Titel »When Are You Going to Finish Don Quixote?« gegeben, wie er selbst in Filming The Trial (1981) – einem ebenfalls unfertig gebliebenen Making-of zu einem anderen seiner Filme – ironisch bemerkte.18 Die Szene, die Don Quixote im Kino zeigt, ist nicht einmal in der postum erstellten und vielfach gescholtenen Schnittfassung enthalten, die der italienische Regisseur Jess Franco 1992 für die Weltausstellung von Sevilla anfertigte und die den gescheiterten Versuch darstellt, aus dem überlieferten Rohmaterial einen Film zu rekonstruieren, dessen Fertigstellung Welles unendlich aufschob und noch über seinen Tod hinaus vereitelte, indem er sämtliche Routinen (wie die Nummerierung von Takes und Szenen) unterließ, die Aufschluss über die von ihm intendierte Ordnung der Szenen hätten geben können. Mauro Bonanni, den Welles mit dem Schnitt des gedrehten Materials betraut hatte, hatte die in seinem Besitz befindliche Szene im offenen Protest gegen Jess Francos Rekonstruktionsfassung zurückgehalten, sie aber zur Ausstrahlung im italienischen Fernsehen freigegeben, wo Agamben vermutlich auf sie aufmerksam wurde, noch bevor sie in den Blick der Welles-Forschung rückte. Die Geste der Bildzerstörung sollte nach Agamben die Bilder ihrer bloßen Zurschaustellung auf der Projektionsleinwand entreißen, die Sphäre des Ästhetischen hin zur Sphäre der Ethik und der Politik öffnen. Aus filmhistorischer Perspektive wäre das Bild allerdings unbedingt gegen diese Geste zu verteidigen. Es wäre zu sammeln, zu bewahren und auszustellen, und zwar vor allem dann, wenn es einem unfertigen Film angehört. Die Unfertigkeit ist eine Schwester der Zerstörung, der Prozesse des Verfalls, der Vernichtung oder des Verlusts, die das filmhistorische Erbe gefährden und seine Sicherung, d. h. seine Konservie-

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rung, Restaurierung und Rekonstruktion verlangen, und als solche ist sie ein Kernbereich filmarchivarischer Arbeit. Das Fehlen einer Originalfassung stellt die filmarchivarische Arbeit dabei vor die Herausforderung, eine Balance zwischen der Überwindung und der Erhaltung des unfertigen Zustands zu finden. Denn aus dem vorhandenen Material muss nicht ein Werk, sondern seine Konzeption rekonstruiert werden. Dies verlangt eine ebenso quellenkritische wie hypothesengeleitete Investigation in die Prozesse der suspendierten Fertigstellung, mithin in das Spannungsverhältnis zwischen den meist erheblichen äußeren Zwängen der Produktion und den sich ihnen entwindenden oder den sich in ihnen windenden Verfahren künstlerischer Kreativität. Auf die Herausforderungen, die sich hiermit stellen, lassen die »schönsten sechs Minuten der Filmgeschichte« blicken, wenn in ihnen über die Verteidigung der Unfertigkeit der Filme hinaus auch die Sorge um ihren Erhalt zum Tragen kommt.

II.  »Just talking about making the picture«

Wim Wenders träumte davon, ein imaginäres Museum für den unfertigen Film zu errichten, für all die vergessenen und verworfenen Bilder, die sich niemals gänzlich materialisierten. Der Katalog für dieses imaginäre Museum ist das vierhundertste Heft der Cahiers du cinéma, das Wenders als Chefredakteur konzipierte; es könnte, wie er im Vorwort schreibt, »der Beginn einer Geschichte des imaginären Films sein, parallel zur Geschichte all der verlorengegangenen Filme«.19 Darin abgedruckt sind die ersten Seiten eines Drehbuchs von Welles, The Cradle Will Rock, das nie verfilmt wurde, eine autobiografische Erzählung über seine Bühneninszenierung von Marc Blitzsteins gleichnamigem Theaterstück von 1937, in der Rupert Everett den damals 21-jährigen Welles spielen sollte.20 Aus den abweisenden Berichten der Studios, denen das Drehbuch vorlag, geht hervor, dass sie das Interesse am frühen Leben von Welles nicht teilten. 1984, als Welles das Drehbuch schrieb, lag seine Karriere darnieder; die Studios interessierten sich für sein Frühwerk wohl vor allem deshalb nicht, weil sie sich schon längst nicht mehr für seine aktuellen Arbeiten interessierten. The Magnificent Ambersons (Der Glanz des Hauses Amberson, 1942), der Film, den Welles im Anschluss an Citizen Kane drehte, wurde nach einem Testscreening mit überwiegend negativen Publikumsreaktionen durch das Studio RKO massiv gekürzt, umgeschnitten und mit einem hinter seinem Rücken nachgedrehten ver-

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söhnlichen Schluss versehen, während sich Welles in Brasilien auf Dreharbeiten zu seinem Folgeprojekt It’s All True befand.21 Die Kopie des Rohschnitts, die sich Welles nach Brasilien schicken ließ, gilt als verschollen; das aus der Studiofassung herausgeschnittene Filmmaterial wurde vernichtet, um Lagerplatz zu schaffen. Nachdem der Film an den Kinokassen einen Verlust einspielte, kündigte das Studio den Vertrag mit Welles. It’s All True, der Film, den Welles als Botschafter des guten Willens im Auftrag von Nelson Rockefeller als Beitrag zu Roosevelts Good Neighbor Policy für RKO drehte, wurde folglich suspendiert und blieb unvollendet.22 Welles versuchte vergeblich, als er nach über sechs Monaten aus Lateinamerika in die USA zurückkehrte, den Film zu retten, kaufte Teile des gedrehten Rohmaterials, das er schließlich in den Besitz von RKO zurückgeben musste, weil er die Lager- und Schnittkosten nicht tragen konnte; etwas von diesem gedrehten Material ist in Bill Krohn, Myron Meisel und Richard Wilsons Film It’s All True: Based on an Unfinished Film by Orson Welles (It’s All True – Orson Welles auf einer Reise durch Brasilien, 1993) zu sehen, einer filmischen Dokumentation der Produktionsgeschichte des Films und der Anstrengungen, ihn aus dem Zustand der Unvollendung zu bergen, aus dem noch vorhandenen Filmmaterial, das in anderen Produktionen verwendet und verkauft, gelagert und umgelagert, zurückgehalten und weggeworfen, dem Verfall überlassen, vergessen und wiedergefunden

Orson Welles, F for Fake, USA 1973, Orson Welles als investigative Instanz vor dem Material seiner Dokumentation

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wurde.23 Die Dokumentation beginnt mit einem Ausschnitt aus der zweiten Episode von Welles’ BBC-Reihe Orson Welles’ Sketchbook (1955), in der er dem Begehren nach Einsicht in die wahren Gründe der eingestellten Produktion deren Fiktionalisierung entgegensetzt: Das Drehbuch sei verf lucht gewesen, von einem seiner Protagonisten, einem »voodoo witch doctor« aus Rio de Janeiro, nachdem er ihm mitteilen musste, dass das Studio die Dreharbeiten nicht weiter finanzieren würde.24 Welles, der in F for Fake (F für Fälschung, 1973) eine genuin eigene Form für die Investigation in Originalität und Autorschaft finden sollte, betätigt sich hier als »Fälscher« der Produktionsgeschichten seiner eigenen Filme. ((Abb. 2)) Der sich oftmals über Jahre und Jahrzehnte streckende Prozess der vereitelten oder suspendierten Fertigstellung kommt bei Welles einem Unmaking-of gleich, dessen Spielarten von der Verweigerung der Abschließung bis zum Aufschub des Beginns reichen. Die Faszination, die von unfertigen Werken ausgeht, ist mit dieser Fähigkeit verbunden, an die Stelle des Gegebenen das endlose Spiel des Möglichen zu setzen. Eben dies kommt zum Ausdruck, wenn man – wie James Naremore – von Welles’ unfertigen Filmen sagt, sie seien in einer provisorischen Zone zwischen Theater, Filmfragment und Archivmaterial verortet, worin die dramatischen Konzeptionen und politischen Haltungen ständig in Be­ wegung gewesen seien, ohne jemals eine definitive Gestalt anzunehmen.25 Das Verständnis der Unfertigkeit bleibt so nicht auf die Rekon­ struktion der Gründe beschränkt, warum Filme vorzeitig abgebrochen, niemals abgeschlossen oder ewig aufgeschoben wurden,26 sondern denkt ihr ästhe­tische Strategien hinzu, die die Abschließbarkeit in materialer oder textueller Hinsicht suspendieren. An die Stelle der Filme tritt bei Welles zunehmend die Suche nach einer geeigneten Form, von ihrem Fehlen zu erzählen, sie im Prozess des Filmemachens selbst zu suchen. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist ein gefilmtes Pressegespräch, das als Archivmaterial Eingang in Morgan Nevilles Dokumentation They’ll Love Me When I’m Dead (2018) fand, die die Geschichte der Entstehung von The Other Side of the Wind erzählt. Auf die Frage, ob er sich nicht sorge, dass das Resultat seiner Improvisation unfertig bleiben könnte, entgegnet Welles, dass dieses vielleicht gar kein Film sei: »Maybe it isn’t even the picture, maybe it’s just talking about making the picture.«27 Welles hatte das Sprechen über Filme, das diese zunehmend substituiert, längst zu einer eigenen essayistischen Kunstform entwickelt. In diesem Sinn kann Filming Othello (1978) – der einzige Film, den Welles

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nach F for Fake fertigstellte  – als modellbildend für die lange letzte Schaffensphase gelten. An der Moviola, neben aufgetürmten Filmdosen, erzählt Welles von den unglücklichen Dreharbeiten, während er Aufnahmen eines Publikumsgesprächs im Kino zeigt, das 1977 nach einem Screening von Othello (Orson Welles’ Othello, 1952) in Boston gefilmt wurde. »I started by calling this a conversation, but I’m afraid what you’ve had is mostly a scrambled, disjointed series of notes. (…) Now, let’s try to sum it up. First, how the picture was made. That story you remember. An Italian producer dreaming of Verdi’s Otello, and neglecting to mention that he was about to go into bankruptcy, stranded our whole company in a small town off the coast of Africa. With a little money of my own, all I had and absolutely no costumes whatsoever, we improvised our way for a while, then stopped for a while and I had to go to work as an actor in other films, to earn enough to continue with my own. That went on and on, and repeated itself several times, and it meant that Othello was made so to speak, on the installment plan. This and other circumstances did impose a method and style of shooting, which was contrary to what had been carefully planned. (…) I’ll leave you with a confession: This hasn’t been as easy as I could have wished. There are too many regrets, too many things I wish I could have done over again. If it wasn’t a memory, if it was a project for the future, talking about Othello would have been nothing but delight. Promises are more fun than explanations. In all my heart, I wish that I wasn’t looking back on Othello, but looking forward to it. That Othello would be one hell of a picture.«28 Vielleicht können seine folgenden unvollendeten Projekte als Manifestationen dieses Wunschdenkens verstanden werden, als Versuch, die eigenen Filme in Zeugnisse ihrer zukünftigen Möglichkeiten zu verwandeln.

III.  »Making it up as he goes along«

Mit der postumen Fertigstellung von The Other Side of the Wind, gedreht zwischen 1970 und 1976, kam jüngst ein weiterer der unvollendeten Filme von Orson Welles zur Uraufführung,29 nachdem erst 2013 die restaurierte Arbeitskopie seines verloren geglaubten Frühwerks Too Much Johnson (abgebrochen 1938) auf dem Stummfilm-Festival in Pordenone zu bestaunen war.30 Es sollte sein Comeback werden, als er nach zwei Jahrzehnten im Exil nach Hollywood zurückkehrte. Die Dreharbeiten begannen 1970, Welles verstarb 1985 über den Schnittarbei-

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ten. 2017 erwarb Netf lix die Rechte am Film, um diesen unter der Mitwirkung von Frank Marshall und Peter Bogdanovich postum fertigzustellen, er wurde 2018 auf den Filmfestspielen von Venedig uraufgeführt. The Other Side of the Wind erzählt die Geschichte von Jake Hannaford  – einem Filmemacher mit deutlich autobiografischen Zügen, den John Huston nach dem Vorbild von Ernest Hemingway gibt –, der am Morgen nach der Feier seines 70. Geburtstags bei einem Autounfall ums Leben kommt. Hannaford, als Regisseur in Hollywood einst gefeiert, plant sein Comeback mit einem experimentellen Werk, das er ohne Drehbuch realisiert: »(…) making it up as he goes along«.31 Dieser Film, den er unvollendet hinterlässt und als Fragment auf der Geburtstagsfeier vorführt, trägt denselben Titel wie Orson Welles’ Film selbst, The Other Side of the Wind. Er ist damit als Fiktionalisierung (oder »Fälschung«) seiner eigenen Entstehungsgeschichte markiert, eben nicht als Inszenierung nach einem vorgeschriebenen Drehbuch, sondern als experimentelle Recherche in die komplexen Dynamiken und Konf likte der eigenen Produktion.32 Alle Mitwirkenden spielen sich selbst oder sind mehr oder weniger deutlich als Personen erkennbar, die in Welles’ Leben eine Rolle spielten, als Freunde, Mitstreiter, Bewunderer, Kritiker, Ver-

Orson Welles, The Other Side of the Wind, USA 2018, »Well, here it is – if anybody wants to see it« – Jake Hannafords Film wird auf der Geburtstagsfeier zu seinen Ehren vorgeführt

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räter, Rivalen: Peter Bogdanovich spielt den Protegé Brooks Otterlake, eine fiktionale Version von Bogdanovich selbst, der Welles verehren und übertrumpfen sollte; Susan Strasberg spielt die Filmkritikerin Juliette Rich, eine kaum verhüllte Parodie auf Pauline Kael; Howard Grossman spielt Hannafords Biografen, eine Version von Charles Higham, der eine Biografie von Welles geschrieben hatte, worin er ihm eine unbewusste Angst vor der Fertigstellung seiner Filme attestierte;33 Dennis Hopper, Henry Jaglom, Claude Chabrol spielen sich selbst, etc. Als Protagonistin des Films-im-Film, einer Parodie auf das von Welles als prätentiös empfundene europäische Autorenkino, figuriert Oja Kodar, seine langjährige Lebensgefährtin, Geliebte und Mitarbeiterin, der er sämtliche unvollendete Filmprojekte sowie die künstlerische Kontrolle darüber testamentarisch vermachte. Als Welles, nach Unterbrechungen der Dreharbeiten, Umbesetzungen und Nachdrehs, Rechtstreits und Schwierigkeiten der Finanzierung, die Schnittarbeiten begann,34 verlagerten sich die Anstrengungen der Fertigstellung in die Montage, die immer komplexere Formen annahm. ((Abb. 3)) Der Film präsentiert die Geschichte rückblickend auf den letzten Tag im Leben des Regisseurs, zusammengesetzt aus den Splittern unterschiedlicher Perspektiven derjenigen, die bei der Feier mit ihren Kameras anwesend waren, als sei der Film – »this little historical document«35 – in seiner ganzen stilistischen Heterogenität montiert aus den Filmaufnahmen, die an diesem Abend entstanden. Citizen Kane stellt dabei das Modell, um das eigene Leben zu erzählen, es unter den Zugriffen derjenigen, die es zu deuten versuchen, zunehmend zu fragmentieren. James Hoberman bezeichnete The Other Side of the Wind sogar als ein Sequel von Citizen Kane,36 einen Film, der das eigene Œuvre, als unvollendetes, rückblickend zusammenfasst. The Other Side of the Wind ist zugleich die Suche nach einer ästhetischen Form für die Unvollendung, in der sich das von Welles hinterlassene filmische Werk präsentiert. Es ist dieses »f lying apart, becoming disorderly«,37 von dem Pauline Kael noch despektierlich sprach, das »maybe not even making the picture but just talking about making the picture«, wie es Welles selbst nannte.38 In diesem Zuge oder Prozess schreibt Orson Welles das Narrativ um, das die öffentliche Debatte und filmhistorische Bewertung seines Werks begleitete, oder besser gesagt: Er schreibt es neu, indem er es einer Überprüfung, einer experimentellen Erforschung im improvisierenden Kollektiv unterzieht. Citizen Kane wird in diese nachträgliche Umschrift eingefügt, nicht als das verehrte und verf luchte Meisterwerk, an dem alles Folgende in übersteigerter Erwartung bemessen werden und

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folglich unvollendet bleiben sollte, sondern als Film, in dem die Unvollendung, die multiperspektivische Zergliederung und unabschließbare Offenheit bereits angelegt war. Ein »endloses Puzzle«39 nannten Archivare und Restauratoren, was sie im Nachlass von Welles fanden. Stefan Drößler, der Leiter des Filmmuseums München, dem Oja Kodar die unvollendeten Filme von Welles 1995 übergab, schreibt: »Da liegen ungeschnittene Negative, Probekopierungen, Arbeitskopien in unterschiedlichen Schnitt­ varianten vor, wir finden O-Töne wie spätere Tonstudioaufnahmen, die nur teilweise ans Bild angelegt wurden, und es ist oft kaum möglich, aussortierte outtakes oder verworfene Versuche als solche zu identifizieren. Viele Materialien lassen sich kaum einem bestimmten Projekt zuordnen. Andere Aufnahmen wurden dagegen gleich in verschiedenen Filmen verwendet. Das Schlimmste: viele Materialien sind unvollständig, oft fehlt das Negativ zur Arbeitskopie, der Ton zum Bild oder – seltener – das Bild zum Ton. Der Nachlass wirkt wie ein riesiges Vorratslager oder eine Werkstatt, in der sich der Filmemacher seine Filme patchworkartig zusammenbauen konnte. Nichts wurde weggeworfen, sondern alles aufgehoben, weil es bei irgendeinem späteren Projekt vielleicht noch einmal von Nutzen sein konnte.«40 Das verstreute und unvollständige Konvolut an Filmrollen, Drehbüchern, Notizen und Zeugnissen erinnert noch

Orson Welles’ Nachlass, Filmnegative zu The Other Side of the Wind bei ihrer Ankunft aus Paris in Los Angeles

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entfernt an den Hausrat von Xanadu, in dem das Geheimnis von Rosebud verschüttet war. ((Abb. 4))

1 Orson Welles, »Citizen Kane is NOT about Louella Parsons’ boss«, in: Friday, 14.02.1941, S. 9. — 2 Orson Welles zit. nach Frank Brady, Citizen Welles. A Biography of Orson Welles, London 1990, S. 285. — 3 Siehe hierzu Fabienne Liptay, »A Rosebud Is… Citizen Kane aus bildtheoretischer Perspektive«, in: Orson Welles’ »Citizen Kane« und die Filmtheorie. 16 Modellanalysen, hg. von Tanja Prokić und Oliver Jahraus, Stuttgart 2017, S. 225–243. Teile daraus wurden in diesem Aufsatz übernommen. — 4 Steven Spielberg zit. nach Peter W. Kaplan, »The Rosebud Legacy«, in: The Washington Post, 10.06.1982, https://www.washingtonpost.com/archive/lifestyle/1982/06/10/the-rosebud-legacy/51a53 f.08-1a5e-4e44-81e5-0099 f.1af7c3d/ (letzter Zugriff am 04.08.2022). — 5 »Tous les cinéastes, toujours, lui devront tout.« Jean-Luc Godard zit. nach Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard. Bd. 1: 1950–1984, hg. von Alain Bergala, Paris 1998, S. 251 (eigene Übers.). — 6 »(…) ils sont tous les fils d’Orson Welles qui, le premier, osa remettre en evidence une conception égocentrique du metteur en scene.« Jacques Rivette, »Notes sur une revolution«, in: Cahiers du cinéma 54 (Weihnachten 1955), S. 17–21, hier S. 19 (eigene Übers.). — 7 Pauline Kael, »Raising Kane – I. Orson Welles’s Citizen Kane«, in: The New Yorker, 12.02.1971, https://www.newyorker.com/magazine/1971/02/20/raising-kane-i (letzter Zugriff am 04.08.2022); Pauline Kael, »Raising Kane – II. Orson Welles’s Citizen Kane«, in: The New Yorker, 19.02.1971, https://www.newyorker.com/magazine/1971/02/27/raising-kane-ii (letzter Zugriff am 04.08.2022); wieder abgedruckt zusammen mit dem illustrierten Drehbuch von Herman J. Mankiewicz und Orson Welles in: Pauline Kael, The Citizen Kane Book, New York 1984, S. 1–84. — 8 Kael, The Citizen Kane Book (s. Anm. 7), S. 3. — 9 Siehe Andrew Sarris, The American Cinema. Directors and Directions, 1925–1968, New York 1968. — 10 »Can we conclude that, in England and the United States, the auteur theory is an attempt by adult males to justify staying inside the small range of experience of their boyhood and adolescence – that period when masculinity looked so great and important but art was something talked about by poseurs and phonies and sensitive-feminine types?« Pauline Kael, »Circles and Squares«, in: Film Quarterly 16/3 (Frühjahr 1963), S. 12–26, hier S. 26. Zur Antwort auf diesen Artikel siehe Andrew Sarris, »The Auteur Theory and the Perils of Pauline«, in: Film Quarterly 16/4 (Sommer 1963), S. 26–33. — 11 Kael, The Citizen Kane Book (s. Anm. 7), S. 84. — 12 Ebd., S. 49. — 13 In einer »partial list« nicht fertiggestellter Projekte von Orson Welles führt James Naremore 37 Titel auf. James Naremore, The Magic World of Orson Welles, Dallas 1989, S. 198–199. Siehe zu den unvollendeten Filmen von Welles außerdem Jonathan Rosenbaum, »The Invisible Orson Welles. A First Inventory«, in: Sight and Sound 55/3 (1986), S. 167–168; Harry Waldman, Scenes Unseen. Unreleased and Uncompleted Films from the World’s Master Filmmakers, 1912–1990, Jefferson (NC)/London 1991, S. 60–70; Stefan Drössler (Hg.), The Unknown Orson Welles, München 2004; Marguerite H. Rippy, Orson Welles and the Unfinished RKO Projects. A Postmodern Perspective, Carbondale 2009. Einen Versuch, Welles’ umfangreiches unvollendetes Werk sichtbar zu machen, stellt der Dokumentarfilm von Oja Kodar und Vassili Silovic Orson Welles – The One-Man Band (1995) dar, der Fragmente nicht fertiggestellter oder unveröffentlichter Filme aus dem Nachlass enthält, darunter Churchill, The Deep, The Dreamers, Filming The Trial, The Magic Show, The Merchant of Venice, Moby Dick, The Other Side of the Wind, Stately Homes, Tailors sowie die titelgebende Episode One-Man Band. — 14 Vgl. Maurice Blanchot, Der literarische Raum, hg. von Marco Gutjahr, Zürich 2012. — 15 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 73. Siehe außerdem Giorgio Agamben, »Über negative Potentialität«, in: Nicht(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, hg. von Emmanuel Alloa und Alice Lagaay, Bielefeld 2008, S. 285–298. — 16 Giorgio Agamben, »Die schönsten sechs Minuten der Filmgeschichte«, in: Ders., Profanierungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 92–93. — 17 Ebd., S. 92. — 18 Filming The Trial sollte ein bereits in Filming Othello angewendetes Konstruktionsprinzip des Filmgesprächs variieren. Mit einer einzigen Kamera dokumentierte Gary Graver ein Q&A mit Studierenden der University of Southern California im Anschluss an eine Filmvorführung von The Trial (1962) im Jahr 1981. Das Rohmaterial wurde später vom Filmmuseum München

Von Citizen Kane zu The Other Side of the Wind · 77 bearbeitet und zu einem Film montiert. Siehe zu diesem Prozess Stefan Drössler, »(Re-)constitutions. Comment aborder les films inachevés«, in: »The Other Side of the Wind«. Scénario/ Screenplay, hg. von Giorgio Gosetti, Locarno/Paris 2005, S. 76. — 19 »(…) le début d’une histoire du cinéma imaginaire, parallèle à celle de tous les films perdus«. Wim Wenders in einem Brief an Alain Bergala und Serge Toubiana, abgedruckt im Editorial der von ihm herausgegebenen Jubiläumsausgabe: Cahiers du cinéma 400 (Oktober 1987), o. S.; zit. nach der dt. Übersetzung: Wim Wenders, »Eine Geschichte des imaginären Films. Brief an die Redaktion von Cahiers du cinéma«, in: Ders., Die Logik der Bilder. Essays und Gespräche, hg. von Michael Töteberg, Frankfurt a. M. 1988, S. 107–109, hier S. 107. — 20 Orson Welles, »The Cradle Will Rock«, in: Cahiers du cinéma 400 (Oktober 1987), o. S. — 21 Das illustrierte Originaldrehbuch des Films wurde veröffentlicht von Robert L. Carringer, »The Magnificent Ambersons«. A Reconstruction, Berkeley/ Los Angeles 1993. — 22 Zur Produktionsgeschichte dieses Films siehe Catherine L. Benamou, »It’s All True«. Orson Welles’ Pan-American Odyssey, Berkeley/Los Angeles 2007. — 23 Die überlieferten Nitratnegative, die Paramount an das American Film Institute spendete, wurden dem UCLA Film and Television Archive zur Bewahrung übergeben, das zusammen mit dem Natio­ nal Center for Film and Video Preservation des AFI an der Erhaltung des Filmmaterials arbeitet. — 24 Gegen Ende der zweiten Episode (30.04.1955) von Orson Welles’ Sketchbook, siehe die »Transcripts« auf http://www.wellesnet.com/Sketchbook_episode2.htm (letzter Zugriff am 04.08.2022). — 25 »It (Welles’s artistic activity) operated instead in the ›provisional‹ zone of theatre, cinematic fragment, and archival material – a zone where, with varying degrees of success, he established an unorthodox way of speaking.« James Naremore, The Magic World of Orson Welles, Dallas 1989, S. 268 f. — 26 Siehe hierzu den Vorschlag, die Erforschung politischer, sozialer und ökonomischer Kontexte der Filmproduktion um den mitunter enormen Archivbestand nicht realisierter Filme zu erweitern: Dan North (Hg.), Sights Unseen. Unfinished British Films, Newcastle 2008; James Fenwick, Unproduction Studies and the American Film Industry, London/New York 2022; James Fenwick / Kieran Foster / David Eld­r idge (Hg.), Shadow Cinema. The Historical and Production Contexts of Unmade Films, New York 2021. — 27 Morgan Neville, They’ll Love Me When I’m Dead, Netf lix, 2018, 01:35:30–01:53:35. — 28 »Filming Othello. A complete transcription of Welles’ last finished film: Filming Othello and an interview with cinematographer Gary Graver by Lawrence French. All material courtesy of Lawrence French«, in: Wellesnet. Orson Welles Web Resource, https://www.wellesnet.com/filming_othello.htm (letzter Zugriff am 04.08.2022). — 29 Siehe Josh Karp, The Making of The Other Side of the Wind. Orson Welles’s Last Movie, New York 2015; Massimiliano Studer, Orson Welles e la New Hollywood. Il caso di The Other Side of the Wind, Milano 2021. — 30 Siehe Massimiliano Studer, Alle origini di Quarto potere. Too Much Johnson: il film perduto di Orson Welles, Milano 2018. — 31 Orson Welles (Schnitt: Bob Murawski), The Other Side of the Wind, 2018, Netf lix, 00:23:01.  — 32 Etwas Ähnliches hatte Rainer Werner Fassbinder mit Warnung vor einer heiligen Nutte (1971) versucht, einer filmischen Rekapitulation der Dreharbeiten zu Whity (1971), die Fassbinder, in einem Brief an die »lieben Freunde oder Genossen oder so«, als Recherche in die Gründe für das Scheitern ausweist, »als letzte Möglichkeit (…) zu überprüfen, warum es so gelaufen ist und nicht anders«. Rainer Werner Fassbinder in einem Brief an das Filmteam zum Drehbeginn, als Faksimile abgedruckt in: Michael Töteberg (Hg.), Fassbinders Filme 2, Frankfurt a. M. 1990, S. 240. — 33 Zur »fear of completion« siehe Charles Higham, The Films of Orson Welles, Berkeley 1970, S. 170. — 34 Die Fördermittel der Produktionsfirma Les Films de l’Astrophore stammten von Mehdi Boushehri, dem Schwager des 1979, während der Produktion, gestürzten Schahs von Iran. Als Welles im Februar 1975 mit dem AFI Lifetime Achievement Award ausgezeichnet wurde, nutzte er die von Stars und Presse besuchte Zeremonie, um für die Finanzierung der Fertigstellung des Films zu werben. — 35 Orson Welles (Schnitt: Bob Murawski), The Other Side of the Wind, 2018, Netf lix, 00:02:17. — 36 James Hoberman, »A Sequel to Citizen Kane«, in: Harper’s Magazine, 01.12.2018, https://harpers. org/archive/2018/12/orson-welles-the-other-side-of-the-wind-theyll-love-me-when-imdead/ (letzter Zugriff am 04.08.2022).  — 37 Nach Kael, The Citizen Kane Book (s. Anm. 7), S. 84.  — 38 Nach Welles in Neville, They’ll Love Me When I’m Dead (s. Anm. 27). — 39 Siehe Esteve Riambau, »Reconstructing Welles. An Endless Puzzle«, in: Journal of Film Preservation 92 (April 2015), S. 87–94. — 40 Stefan Drössler, »(Re-)Konstruktionen. Zum Umgang mit unvollendeten Filmen«, in: Ders., The Unknown Orson Welles (s. Anm. 13), S. 84–88, hier S. 84.

Eva Schmiedeberg

Biografie Der 1915 in Kenosha (Wisconsin) geborene George Orson Welles betätigte sich bereits in seiner Kindheit als Regisseur, Darsteller und Bühnenbildner. Berühmt machte ihn die 1938 gesendete Rundfunkadaption von H. G. Wells’ Roman The War of The Worlds. Die von Welles gemeinsam mit dem von ihm gegründeten Mercury Theatre realistisch inszenierte Landung von Marsmenschen auf der Erde löste angeblich eine Massen­ panik aus. 1941 holte ihn RKO nach Hollywood, wo er als Produzent, Regisseur, Autor und Schauspieler tätig werden konnte. Gleich im selben Jahr führte er Regie bei seinem Meisterwerk Citizen Kane, das bis heute zu den zehn besten Filmen aller Zeiten zählt. Der Film war dennoch kein Kassenerfolg und wurde – nach neun Nominierungen – lediglich mit einem einzigen Oscar ausgezeichnet. Gleich danach folgte der zweite Hollywood-Film The Magnificent Ambersons (Der Glanz des Hauses Amberson, 1942). Nach seinem vorübergehenden Bruch mit den Hollywood-Studios finanzierte Welles seine Filme aus eigener Tasche und übernahm als Schauspieler auch weniger anspruchsvolle Rollen oder realisierte Auftragsarbeiten, um sich die Budgets für eigene Filmprojekte zu verdienen, so z. B. als Darsteller in The Third Man (Der Dritte Mann, 1949) oder A Man for All Seasons (Ein Mann zu jeder Jahreszeit, 1966). Zahlreiche, nun in Europa verfolgte Projekte blieben dennoch aus finanziellen Gründen entweder unveröffentlicht oder unvollendet. So inszenierte und produzierte Welles Shakespeare-Adaptionen wie Macbeth (1948), Othello (1951) und Falstaff (1965), deren Dreharbeiten aus Geldmangel immer wieder unterbrochen werden mussten. Einige Produktionen, die zu Lebenszeiten von Welles unvollendet blieben, wurden postum geschnitten und uraufgeführt. Nach seiner Rückkehr nach Hollywood entstand unter seiner Regie 1958 Touch of Evil (Im Zeichen des Bösen) als künstlerisch innovativer Film noir. In formaler Hinsicht experimentell operierte Welles demgegenüber in dem die Frage nach der Wahrheit der Kunst stellenden Dokumentarfilm F for Fake (F wie Fälschung, 1973). Orson Welles starb am 10. Oktober 1985 im Alter von 70 Jahren in Los Angeles.

Eva Schmiedeberg

Filmografie (Vollendete Werke sind gefettet. Postum uraufgeführte Werke wurden mit »gedreht 19XX, 20XX« gekennzeichnet) The Hearts of Age (Kurzfilm, 1934) Too Much Johnson (gedreht 1938, 2013) The Green Goddess (Kurzfilm, 1939) Heart of Darkness (1939, Script, nicht produzierter Film) Citizen K ane (Bürger Kane / Citizen Kane, 1941) The M agnificent A mbersons (Der Glanz des Hauses Amberson, 1942) Journey into Fear (Von Agenten gejagt, 1943) The Stranger (Die Spur des Fremden, 1946) The L ady from Shanghai (Die Lady von Shanghai, 1948) M acbeth (Macbeth – Der Königsmörder, 1948) Le Miracle de Sainte Anne (Kurzfilm, 1950) Othello (Orson Welles’ Othello, 1952) M r. A rkadin / Confidential R eport (Herr Satan persönlich, 1955) Around the World with Orson Welles (TV, 1955) The Orson Welles Sketchbook (TV, 1955) Camille, the Naked Lady and the Musketeers (nicht gesendeter Pilotfilm, gedreht 1955) Moby Dick – Rehearsed (unvollendet, 1955) The Fountain of Youth (Pilotfilm TV, 1958) Touch of Evil (Im Zeichen des Bösen, 1958) Portrait of Gina (Viva Italia, nicht gesendeter Pilotfilm TV, gedreht 1958) The Trial / L e P rocès (Der Prozess nach dem Roman von Franz Kafka, 1962) Campanadas a M edianoche / Chimes at M idnight / Falstaff (Falstaff / Glocken um Mitternacht, 1966) Vienna (unvollendet, gedreht 1967) One Man Band (Churchill, Swinging London, Tailors, Stately Homes, unvollendet, gedreht 1967–1971) The Deep (unvollendet, gedreht 1967–1969)

80 · Eva Schmiedeberg

Une histoire immortelle / The I mmortal Story (Stunde der Wahrheit, 1968) Orson’s Bag (gedreht 1968–1970) F for Fake / Nothing but the Truth / Vérités et mensonges (F wie Fälschung, 1973) The Magic Show (gedreht 1976–1985) Filming Othello (Erinnerungen an Othello, 1978) The Orson Welles Show (gedreht 1978) The Dreamers (gedreht 1978–1985) Don Quixote (unvollendet, gedreht 1955–1985, 1992) It’s all true – Based on an Unfinished Film By Orson Welles (unvollendet, gedreht 1941–1942, 1993) Moby Dick (unvollendet, gedreht 1971, 1999) The Merchant of Venice (Der Kaufmann von Venedig, gedreht 1969, 2015) The Other Side of the Wind (gedreht 1970–1976, 2018)

Autor:innen Alf Gerlach, Dr. med. habil. Dipl.-Soz., arbeitet in eigener psychoanalytischer Praxis in Saarbrücken. Zahlreiche Veröffentlichungen in klinischer Psychoanalyse, Ethnopsychoanalyse und psychoanalytischer Filminterpretation. Mit Christine Pop Herausgeber des Buchs Filmräume – Kino­ träume. Psychoanalytische Filminterpretationen (Gießen 2012) sowie mit Uschi Schmidt-Lenhard Herausgeber des Bandes Wolfgang Staudte – »…nachdenken, warum das alles so ist« (Marburg 2017). Guido Isekenmeier, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Literaturwissenschaft, Abteilung Amerikanische Literatur und Kultur, Universität Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: Literatur und visuelle Kultur; Intertextualität, Intermedialität und Interpiktorialität (dazu zuletzt, zusammen mit Andreas Böhn und Dominik Schrey, Intertextualität und Intermedialität. Theoretische Grundlagen  – Exemplarische Analysen, Stuttgart 2021). Henry Keazor, Prof. Dr., ist Professor für Neuere und Neueste Kunstgeschichte am Institut für Europäische Kunstgeschichte, Universität Heidelberg. Seine Forschungen umfassen französische und italienische Barockmalerei, zeitgenössische Architektur, Film und Musikvideos. Zudem beschäftigt er sich mit der Rezeption von Kunst in Literatur und (Populär-)Medien sowie dem Phänomen der Kunstfälschung. Zuletzt erschienen: Raffaels »Schule von Athen«: Von der Philosophenakademie zur Hall of Fame, Berlin 2021. Fabienne Liptay, Prof. Dr., ist Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Gemeinsam mit Kristina Köhler und Jörg Schweinitz gibt sie die Reihe Film-Konzepte heraus. Forschungsschwerpunkte: Bildlichkeit des Films, Verhältnis zwischen den Künsten und Medien, Modelle ästhetischer Produktion, Theorien des Formats und Praktiken des Ausstellens von Filmen. Aktuell leitet sie das vom Schweizerischen Natio­ nalfonds geförderte Forschungsprojekt »Exhibiting Film: Challenges of Format« (2017–2026). Sie hat zahlreiche Bücher und Aufsätze publiziert, darunter die Monografie Telling Images. Studien zur Bildlichkeit des Films (Zürich 2016).

82 · Autor:innen

Peter Moormann, Dr. phil. habil., ist Akademischer Oberrat am Department Kunst und Musik der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Musik und Sounddesign in Film, Fernsehen und Computerspielen; Aufführungs- und Interpretationsanalyse; digitale populäre Musikkulturen – dazu zuletzt, zusammen mit Nicolas Ruth (Hg.), Musik und Internet. Aktuelle Phänomene populärer Kulturen, Wiesbaden 2023. Tanja Prokic´, Dr. phil. habil., ist Vertretungsprofessorin für Neuere deutsche Literatur und Medien an der LMU München. Von 2017 bis 2022 war sie Teilprojektleiterin im SFB 1285 »Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung« an der TU Dresden. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Theorie des Digitalen, Literatur der (Postpost-)Moderne, Visual Culture. Alexandra Vinzenz, Dr. phil., ist Margarete von Wrangell-Fellow und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Kunstgeschichte, Universität Heidelberg. Sie wurde mit ihrer Dissertation Vision ›Gesamtkunstwerk‹. Performative Interaktion als künstlerische Form promoviert, 2018 im transcript Verlag erschienen. Aktuell habilitiert sie sich zur Ikonologie des (Stumm-)Films. Forschungsschwerpunkte: Kunst und Kunsttheorie der Moderne sowie interdisziplinäre Forschungsfelder zwischen Film, Kunst, Musik, Theater und digitalen Medien.

Abbildungsnachweise S. 3: https://hmv.com/store/film-tv/4k-ultra-hd-blu-ray/citizen-kane (letzter Zugriff am 11.2.2023) S. 5: Aus: Eckhard Weise: Orson Welles, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 54 S. 11: 80th Anniversary Ultimate Collector’s Edition, Warner 2021 S. 75: The official Twitter profile of cinema legend Orson Welles, OrsonWelles@Orson Welles, 18.3.2017, #OrsonsLastFilm: https://twitter.com/OrsonWelles/status/842903855557828608?ref_ src=twsrc%5Etfw%22%3EMarch%2018,%202017 (letzter Zugriff am 11.2.2023) Bei den übrigen Abbildungen handelt es sich um Screenshots aus den jeweils besprochenen Filmen.



F I LM-KONZ E PTE Begründet von Thomas Koebner Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz (Hefte 1–28 herausgegeben von Thomas Koebner und Fabienne Liptay, Hefte 29–52 von Michaela Krützen, Fabienne Liptay und Johannes Wende)

Heft 1/2006 Komödiantinnen 173 Seiten, € 14,– ISBN 978-3-88377-821-1 Heft 2/2006 Chaplin – Keaton. Verlierer und ­Gewinner der Moderne 108 Seiten, € 14,– ISBN 978-3-88377-822-8 Heft 3/2006 Nicolas Roeg Gastherausgeber: Marcus Stiglegger und Carsten Bergemann 112 Seiten, € 14,– ISBN 978-3-88377-836-5 Heft 4/2006 Indien Gastherausgeberin: Susanne Marschall 97 Seiten, € 14,– ISBN 978-3-88377-837-2 Heft 5/2007 Ang Lee Gastherausgeber: Matthias Bauer 104 Seiten, € 14,– ISBN 978-3-88377-861-7 Heft 6/2007 Superhelden zwischen Comic und Film Gastherausgeber: Andreas Friedrich und Andreas Rauscher 125 Seiten, € 14,– ISBN 978-3-88377-862-4 Heft 7/2007 3 Frauen: Moreau, Deneuve, Huppert 107 Seiten, € 14,– ISBN 978-3-88377-891-4

Heft 8/2007 Clint Eastwood Gastherausgeber: Roman Mauer 118 Seiten, € 14,– ISBN 978-3-88377-892-1 Heft 9/2007 Pedro Almodóvar Gastherausgeber: Hermann Kappelhoff und Daniel Illger 119 Seiten, € 17,– ISBN 978-3-88377-921-8 Heft 10/2008 David Lean Gastherausgeber: Matthias Bauer 105 Seiten, € 17,– ISBN 978-3-88377-922-5 Heft 11/2008 Helmut Käutner Gastherausgeber: Claudia Mehlinger und René Ruppert 115 Seiten, € 17,– ISBN 978-3-88377-943-0 Heft 12/2008 Wong Kar-wai Gastherausgeber: Roman Mauer 105 Seiten, € 17,– ISBN 978-3-88377-944-7 Heft 13/2009 Romy Schneider Gastherausgeber: Armin Jäger 107 Seiten, € 19,80 ISBN 978-3-86916-001-6 Heft 14/2009 Hollywoods Rebellen Marlon Brando, Jack Nicholson, Sean Penn Gastherausgeberin: Felicitas Kleiner 111 Seiten, € 17,80 ISBN 978-3-86916-002-3



Heft 15/2009 Die jungen Mexikaner Gastherausgeberin: Ursula Vossen 111 Seiten, € 17,80 ISBN 978-3-86916-025-2

Heft 24/2011 Max Ophüls Gastherausgeber: Ronny Loewy 92 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-134-1

Heft 16/2009 Neil Jordan 117 Seiten, € 19,– ISBN 978-3-86916-026-9

Heft 25/2012 Bertrand Tavernier Gastherausgeber: Karl Prümm 132 Seiten, € 26,– ISBN 978-3-86916-177-8

Heft 17/2010 Eric Rohmer Gastherausgeberin: Uta Felten 117 Seiten, € 19,– ISBN 978-3-86916-052-8 Heft 18/2010 Junges Kino in Lateinamerika Gastherausgeber: Peter W. Schulze 116 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-053-5 Heft 19/2010 Roman Polanski 140 Seiten, € 23,– ISBN 978-3-86916-070-2 Heft 20/2010 Jean-Luc Godard Gastherausgeber: Bernd Kiefer 116 Seiten, € 22,– ISBN 978-3-86916-071-9 Heft 21/2011 Michael Haneke Gastherausgeberin: Daniela Sannwald 100 Seiten, € 21,– ISBN 978-3-86916-114-3 Heft 22/2011 Gus Van Sant Gastherausgeber: Manuel Koch 124 Seiten, € 22,– ISBN 978-3-86916-115-0 Heft 23/2011 Ettore Scola Gastherausgeberin: Marisa Buovolo 106 Seiten, € 22,– ISBN 978-3-86916-135-8

Heft 26/2012 Alan J. Pakula Gastherausgeberin: Claudia Mehlinger 112 Seiten, € 25,– ISBN 978-3-86916-178-5 Heft 27/2012 Rouben Mamoulian und Frank Borzage Gastherausgeber: Armin Jäger 148 Seiten, € 28,– ISBN 978-3-86916-205-8 Heft 28/2012 Edgar Reitz 103 Seiten, € 26,– ISBN 978-3-86916-206-5 Heft 29/2013 Sofia Coppola Herausgegeben von Johannes Wende 112 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-247-8 Heft 30/2013 Michael Ballhaus Herausgegeben von Fabienne Liptay 123 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-245-5 Heft 31/2013 Jean-Pierre und Luc Dardenne Herausgegeben von Johannes Wende 117 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-264-5 Heft 32/2013 Ousmane Sembène Herausgegeben von Johannes Rosenstein 117 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-265-2



Heft 33/2014 John Lasseter Herausgegeben von Johannes Wende 104 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-333-8 Heft 34/2014 Takashi Miike Herausgegeben von Tanja Prokic´ 138 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-334-5 Heft 35/2014 Jean Renoir Herausgegeben von Lisa Gotto 110 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-367-3 Heft 36/2014 Doris Dörrie Herausgegeben von Fabienne Liptay 106 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-369-7 Heft 37/2015 Spike Jonze Herausgegeben von Johannes Wende 110 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-400-7 Heft 38/2015 Dominik Graf Herausgegeben von Jörn Glasenapp 116 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-402-1 Heft 39/2015 Satyajit Ray Herausgegeben von Susanne Marschall 113 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-446-5 Heft 40/2015 Milena Canonero Herausgegeben von Fabienne Liptay 114 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-448-9

Heft 41/2016 Pedro Costa Herausgegeben von Malte Hagener und Tina Kaiser 112 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-478-6 Heft 42/2016 Caroline Link Herausgegeben von Jörn Glasenapp 90 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-482-3 Heft 43/2016 François Ozon Herausgegeben von Johannes Wende 105 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-511-0 Heft 44/2016 Leni Riefenstahl Herausgegeben von Jörg von Brincken 140 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-515-8 Heft 45/2016 Stanley Kwan Herausgegeben von Johannes Rosenstein 118 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-553-0 Heft 46/2017 Bernd Eichinger Herausgegeben von Judith Früh 137 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-580-6 Heft 47/2017 Chantal Akerman Herausgegeben von Fabienne Liptay und Margrit Tröhler 103 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-589-9 Heft 48/2017 Luchino Visconti Herausgegeben von Jörn Glasenapp 112 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-640-7



Heft 49/2018 Ken Loach Herausgegeben von Claudia Lillge 106 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-651-3

Heft 58/2020 Veˇra Chytilová Herausgegeben von Margarete Wach 114 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-96707-087-3

Heft 50/2018 Wim Wenders Herausgegeben von Jörn Glasenapp 126 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-655-1

Heft 59/2020 Ulrich Seidl Herausgegeben von Corina Erk und Brad Prager 108 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-96707-425-3

Heft 51/2018 Rudolf Thome Herausgegeben von Tobias Haupts 121 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-731-2 Heft 52/2018 Woody Allen Herausgegeben von Johannes Wende 98 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-767-1 Heft 53/2019 Ula Stöckl Herausgegeben von Claudia Lenssen 123 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-801-2 Heft 54/2019 Nicolas Winding Refn Herausgegeben von Jörg von Brincken 112 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-805-0 Heft 55/2019 Asghar Farhadi Herausgegeben von Jörn Glasenapp 108 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-859-3 Heft 56/2020 Jacques Demy Herausgegeben von Kristina Köhler 112 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-869-2 Heft 57/2020 Quentin Tarantino Herausgegeben von Jörg Helbig 113 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-86916-069-9

Heft 60/2021 Roy Andersson Herausgegeben von Fabienne Liptay 86 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-96707-433-8 Heft 61/2021 Jonas Mekas Herausgegeben von Ann-Christin ­Eikenbusch und Philipp Scheid 110 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-96707-482-6 Heft 62/2021 Christopher Nolan Herausgegeben von Jörg Helbig 117 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-96707-468-0 Heft 63/2021 Alain Resnais Herausgegeben von Sophie Rudolph 102 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-96707-576-2 Heft 64/2021 Andreas Dresen Herausgegeben von Jörg Schweinitz 113 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-96707-580-9 Heft 65/2022 Christian Petzold Herausgegeben von Andreas Becker 95 Seiten, € 20,– ISBN 978-3-96707-641-7