Ordnungsmuster und Deutungskämpfe: Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts [1 ed.] 9783666370649, 9783525370643

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Ordnungsmuster und Deutungskämpfe: Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783666370649, 9783525370643

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Lutz Raphael

Ordnungsmuster und Deutungskämpfe Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)

Band 227

Vandenhoeck & Ruprecht

Lutz Raphael

Ordnungsmuster und Deutungskämpfe Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 13 Tabellen Umschlagabbildung: Musterung für die Deutsche Volksliste, 1942 © SZ Photo / Süddeutsche Zeitung Photo Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-297X ISBN 978-3-666-37064-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Vorwort: Wissenspraktiken und Ordnungsmuster im Europa des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Verwissenschaftlichung des Sozialen 1. Die Verwissenschaftlichung des Sozialen – Wissens- und Sozialordnungen im Europa des 20. Jahrhunderts . . . 13 2. Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3. Experten im Sozialstaat: Statuswechsel und Funktionsdifferenzen in Demokratie und Diktaturen in Deutschland 1933–1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Strukturprobleme der Moderne 4. Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5. Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation: Ein Deutungsmuster für die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts . 155 6. Nach dem Boom: Neue Einsichten und Erklärungsversuche (zus. mit Anselm Doering-Manteuffel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Geschichte der modernen Sozialgeschichte 7. »Experiments in Modernization« Social and Economic History in Europe and the USA 1880 to 1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5

8. The Idea and Practice of World Historiography in France: The Annales Legacy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 9. Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht: Die Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 1974–1999 . . . . . . . . . . . . . . 237 10. Aktualität als Herausforderung für den Historiker. Die Gegenwart in den Annales d’histoire économique et sociale und den Annales Economies. Sociétés. Civilisations (1929–1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Französisch-deutsche Spannungsfelder 11. Vom Sozialphilosophen zum Sozialingenieur? Die Position der anwendungsorientierten Sozialwissenschaften in der französischen Wissenschaftskultur der Jahrhundertwende . . . 295 12. Die Pariser Universität unter deutscher Besatzung (1940–1944) . . . 319 13. Praktiken der Einbürgerung und Wandel der Sozialstrukturen: Eine Fallstudie zum Industrierevier von Longwy (Meurthe-et-Moselle) 1946–1990 (zus. mit Sarah Vanessa Losego) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

Verzeichnis der ersten Druckorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

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Vorwort: Wissenspraktiken und Ordnungsmuster im Europa des 20. Jahrhunderts

In Zeiten beschleunigter Themenwechsel und Moden in der Geschichtswissenschaft Aufsätze zu publizieren, die älter als zehn Jahre, in einigen Fällen sogar mehr als 25 Jahre alt sind, grenzt an Torheit. Die Relevanz solcher Texte für die aktuelle Forschung und Lehre im Bereich der Neuesten Geschichte muss jedenfalls kritisch geprüft werden. Die Leserin wird letztlich selbst entscheiden müssen, ob die hier versammelten Aufsätze Anregungen für aktuelle Debatten und offene Fragestellungen enthalten, also mehr bieten als Forschungsergebnisse zu Spezialthemen, die nur die Spezialistinnen interessieren werden. Wenn im Titel von Wissenspraktiken und Ordnungsmustern die Rede ist, wird eine solche Relevanz behauptet: Die Beiträge dieses Bandes stecken jedenfalls ein Forschungsterrain ab, das sich seit nunmehr gut zwei Jahrzehnten immer größerer Aufmerksamkeit erfreut. Es liegt am Kreuzungspunkt von drei Richtungen bzw. Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft, denn es verbindet Methoden und Perspektiven von Sozialgeschichte, Wissenschafts- und Ideengeschichte. Es geht um die Gestaltung des Sozialen durch Expertenwissen und Deutungsmuster sozialer Ordnung. Dramatik und Relevanz bekommt dieses Forschungsfeld insbesondere für die Geschichte des 20. Jahrhunderts, weil humanwissenschaftliches Wissen in immer mehr Bereichen des sozialen Lebens eingesetzt wurde und dabei ganz enge Verbindungen mit den unterschiedlichsten politisch-moralischen Deutungsmustern sozialer Ordnung einging. Die vielfältigen Ideenverbindungen und Interventionsformen, die daraus entstanden, sprengten die Grenzen zwischen den politischen Ideologien, die im 19. Jahrhundert Gestalt angenommen hatten. Sozialismus und Liberalismus, Konservatismus und Nationalismus behaupteten sich in den Umbrüchen und Dynamiken des 20. Jahrhunderts nur, indem ihre politischen Vertreter sich die neuen Wissensformen und Wissenspraktiken zu eigen machten, sie in die eigene politische Praxis und Sprache aufnahmen. Ideologische Neubildungen, wie Nationalsozialismus und Faschismus eigneten sich bereits in ihrer Entstehungsphase sozial- bzw. humanwissenschaftliche Expertisen an, vor allem sozialbiologische Argumentationen und Metaphern fanden Eingang in diese ideologischen Neuschöpfungen. Der Begriff »Ordnungsmuster« ist der Versuch, die sozialen und symbolischen Strukturbildungen zu benennen, die aus diesen vielfältigen Aneignungsprozessen wissenschaftlicher Erkenntnisse und Verfahren in Politik und Gesellschaft und umgekehrt aus der politisch-ideologischen Imprägnierung von Wissenspraktiken resultieren. 7

Eine solche Forschungsperspektive steht einigen Aufmerksamkeitsregeln und Denkgewohnheiten in der Zeitgeschichte kritisch gegenüber. Sie hinterfragt die enge Verknüpfung von Politik- und Sozialgeschichte in nationalzentrierter Engführung, die sich zumal in der bundesrepublikanischen Variante einer kritischen Gesellschaftsgeschichte seit den 1960er Jahren ausgebreitet hat. Gleichzeitig formuliert sie einen deutlichen Vorbehalt gegen Engführungen von Diskursanalyse und Kulturgeschichte und beharrt auf dem Gewicht sozialer Strukturen. Zeitgleich mit der kulturgeschichtlichen Erweiterung der Sozialgeschichte vollzog sie die Hinwendung zur Wissenschaftsgeschichte und plädierte für eine systematische Einbeziehung des Faktors »Wissen« und »Expertise« in die Forschungsagenda einer kritischen Geschichtswissenschaft der Neuesten Zeit. Mit den kulturgeschichtlichen Aufbrüchen der achtziger und neunziger Jahre teilt diese Perspektive einige Vorlieben: die konstruktivistische Grundposition, die Rezeption anthropologischer und wissenssoziologischer Perspektiven und die wachsende Skepsis, ja allergische Abwehrreaktion gegenüber einer modernisierungstheoretisch fundierten Großerzählung sozialen Wandels im langen 20. Jahrhundert. Die theoretischen Gewährsleute dieser Neuorientierung waren und sind vielfältig, die Spuren der soziologischen Klassikertexte von Weber, Durkheim, Simmel bis Bourdieu sind ebenso deutlich wie die fachpolitische und politisch-ideologische Orientierung am Vorbild der französischen Aufbrüche von den sechziger in die achtziger Jahre. Während sich aus dieser Ausgangslage seit den späten neunziger Jahren eine breite, vor allem an Foucaults Begriffsapparat und Ansätzen orientierte jüngere Generation von Historikern die verschiedensten Themenfelder einer Wissensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erschlossen hat, halten die hier versammelten Beiträge an älteren bzw. alternativen Theoriebezügen und Begriffsoptionen fest, um Grenzüberschreitungen zwischen Politik-, Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte zu ermöglichen. »Verwissenschaftlichung des Sozialen« und »radikales Ordnungsdenken«, zwei Aufsätze dieses Bandes, stehen exemplarisch für den doppelten Anspruch dieser Forschungsperspektive, sowohl für die Makroebene der großen Entwicklungslinien einer Geschichte des 20. Jahrhunderts als auch für die Mikroebene der nationalen Vergangenheitsbewältigung, also die zwölfjährige NS-Diktatur, neue Einsichten und Forschungsperspektiven zu eröffnen. Eine Zeitgeschichte von »Wissenspraktiken« und »Ordnungsmustern« hat sich auch den Debatten darüber zu stellen, was an die Stelle von modernisierungstheoretisch und marxistisch inspirierten Erklärungsmustern treten könnte, wenn es um das lange oder kurze 20. Jahrhundert geht. Theorien der »Moderne« haben in den letzten beiden Jahrzehnten in der deutschen Geschichtswissenschaft genau diesen Platz eingenommen und mehrere Aufsätze in diesem Band formulieren Vorschläge, wie die Beobachtungen und Einsichten der Wissensgeschichte und Ideengeschichte in eine solche historische Theorie der Moderne integriert werden können. Sie nehmen eine Forschungsrichtung auf, die sich in ständigem Rückbezug auf die Einsichten und Anregungen 8

Reinhart Kosellecks zu einer begriffs- und diskursgeschichtlichen Erweiterung der Sozialgeschichte entwickelt hat. Dessen Vorbehalte gegen eine objektivistische und häufig genug auch lineare Lesart sozialer Strukturbildungen bilden die Grundlage dafür, dass die Offenheit historischer Entwicklungsmöglichkeiten betont und die Pluralisierung von Ordnungsmustern als Erklärungsansatz für die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert vorgeschlagen werden. Mit Europa ist auch der geographische und intellektuelle Horizont abgesteckt, in dem sich dieser Band bewegt. Im Mittelpunkt stehen dabei, geschuldet den begrenzten sprachlichen Möglichkeiten des Autors, westeuropäische Verbindungen, aber Fragestellung und Argumentation zielen immer wieder auf Zusammenhänge und Spezifika einer europäischen Geschichte im langen 20. Jahrhundert. Sie ist mehr als die vergleichende Addition europäischer Nationalgeschichten und die Beiträge zu deutsch-französischen Beziehungen und bilaterale Vergleichsperspektiven zeigen eine markante Facette dieses Forschungsfeldes: die komplexen Nachbarschaftsverhältnisse dieses Kontinents im 20. Jahrhundert. Von den großen Vernetzungen, welche Europa als Weltregion mit den übrigen Kontinenten untrennbar verknüpft, kommen in diesem Band vor allem die wissenschaftlichen und politischen Verbindungen in den Blick. Imperiale Machtentfaltung und internationale Expertennetzwerke sind die beiden Seiten, auf die immer wieder Bezug genommen wird. Die ökonomische Dimension, aber auch die koloniale Erfahrung spielen dabei nur am Rande eine Rolle, auch die heute zum Goldstandard erhobenen globalgeschichtlichen Ambitionen sind dem Band fremd. Immer wieder diskutieren die hier versammelten Beiträge Fragen der Periodisierung. Der Verdacht, dass es sich dabei um die Spuren einer unter Historikern weit verbreiteten Berufskrankheit handelt, lässt sich nicht von der Hand weisen. Relevanz können sie auch für die allgemeine Leserin beanspruchen, insofern diese Debatten darum kreisen, welche Zeitbezüge und Zeithorizonte eigentlich hergestellt werden müssen, um gute historische Erklärungen entwickeln zu können. Wieviel Einsichten gewinne ich daraus, die Geschichte Deutschlands in den Zeithorizont der »Hochmoderne«, also von 1880 bis 1970 einzuordnen, was ändert sich, wenn ich die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert in eine weltgeschichtliche Perspektive der Weltkriege einrücke? Die Zeit der Weltkriege erweist sich dann als dramatischer Höhe- und Schlusspunkt machtpolitischer Entfaltung und Konfrontation in Europa, Prozesse, die zugleich von Nationalisierung und Verwissenschaftlichung befeuert und überformt worden sind und relativiert zugleich die Erkenntnisgewinne, die sich aus der Periodisierung 1880 bis 1970 ergeben. Die Beiträge zum Aufstieg der Sozialexperten wiederum zeigen, dass mit solchen Periodisierungen auf der Makroebene nicht das letzte Wort gesprochen ist und andere Zäsuren und Kontinuitäten, wie etwa die des social engineering zwischen 1920 und 1960 hervortreten. Die Beiträge durchzieht also eine Grundspannung, der sich die Zeitgeschichte nicht so schnell entziehen kann: Einerseits plädieren sie dafür, die Pluralisierung historischer Zeiten auch in Geschichtsdarstellungen der Neuesten Geschichte 9

zu beachten. Andererseits halten sie daran fest, dass die Deutungskompetenz historischer Forschung gerade darin besteht, die Zusammenhänge, die Schussfäden, welche das Gewebe der Zeit zusammenhalten, deutlich zu machen, also übergreifende Epochenzäsuren zu identifizieren, die Voraussetzungen für Zeitgenossenschaft und Zeitgeist zu erkunden. »Nach dem Boom« ist ein solcher integrativer Interpretationsversuch und konkretes Forschungsvorhaben. Beides unternimmt der Autor zusammen mit Anselm Doering-Manteuffel seit nunmehr einem Jahrzehnt, um die Spezifika unserer jüngsten Zeitgeschichte besser zu verstehen. Schließlich gehört die Selbstreflexion zu den wichtigsten Instrumenten der Geistes- und Sozialwissenschaften, um sich vor den Risiken akademischer Selbstüberschätzung und den blinden Flecken der Zeitgenossenschaft zu schützen. Die kritische Wissenschaftsgeschichte der modernen Sozialgeschichte dient diesem Zweck, die historische Genese leitender Interpretamente und Forschungsinteressen aufzuklären. Von den Aufbrüchen des späten 19. Jahrhunderts bis zur Sozialgeschichte Bielefelder Prägung reicht das Spektrum der Untersuchungsobjekte. Sie zeigen die Einbettung des Faches in die Wissenspraktiken der eigenen Zeit, loten aber auch die Möglichkeiten kritischer Forschung und Gegenwartsbezüge einer solchen Sozialgeschichte aus. Dieser Band geht auf eine Einladung zurück, die das Herausgebergremium der Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft dem Autor gemacht hat. Besonderer Dank gilt Paul Nolte, der mit seinen Vorschlägen und Kommentaren die Auswahl der Beiträge erleichtert und mit dazu beigetragen hat, das Profil dieses Bandes zu schärfen. Bedanken möchte ich mich auch bei Anselm Doering-Manteuffel und Sarah Vanessa Losego, die beide als Ko-Autoren bereitwillig ihre Einwilligung gaben, die beiden gemeinsam verfassten Aufsätze in überarbeiteter bzw. deutscher Originalfassung neu zu publizieren. Den Weg von alten und anders formatierten Textdateien bzw. Vorlagen zum Manuskript haben vor allem Silvia Carlitz und Waltraud Collet geöffnet. Ihnen sei an dieser Stelle ganz besonders gedankt. Niklas Penth sorgte dafür, dass Literaturverzeichnisse am Ende jedes Aufsatzes und ein Register am Ende der Leserin schnelle Orientierung und gezieltes Suchen ermöglichen. Für alle Fehler, die am Ende übrig geblieben sind, ist allein der Autor verantwortlich.

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Verwissenschaftlichung des Sozialen

1. Die Verwissenschaftlichung des Sozialen – Wissens- und Sozialordnungen im Europa des 20. Jahrhunderts1

Die »Entzauberung der Welt« ist einer der meistzitierten Topoi, um jene Modernität zu charakterisieren, die zum Signum der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert geworden ist. Einer der Basisprozesse dieser Entzauberung war und ist die säkulare Entwicklungsdynamik der Wissenschaften. Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind zahllose Gegenwartsprobleme weltweite Folgen einer permanenten wissenschaftlich-technischen Revolution und ihrer Anwendungen in den verschiedensten Wirtschaftsordnungen, Gesellschaftssystemen, politischen Regimen und kulturellen Traditionen. Diese von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung immer wieder beschleunigte Rückkopplung wissenschaftlicher Forschung an die Gesellschaft betrifft nicht allein die Naturwissenschaften, sondern – wenn auch lange Zeit weniger handgreiflich – ebenfalls die Humanwissenschaften. Die öffentliche Diskussion über »soziale Probleme« ist zu einem allgegenwärtigen Topos geworden, an dessen Entstehung, Bearbeitung und Fortdauer die unterschiedlichsten humanwissenschaftlichen Disziplinen spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts massiv beteiligt waren. Wenn im Titel von »Sozialem« die Rede ist, so geschieht dies zunächst einmal in der Absicht, einen möglichst weiten Horizont abzustecken, der es erlaubt, Anwendungsfelder so unterschiedlicher Wissenschaften wie Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Pädagogik, Politikwissenschaft oder Soziologie einzubeziehen, das Beobachtungsfeld also nicht vorschnell auf eine Leitdisziplin oder einen Wissenschaftstypus einzuschränken. Anders formuliert: In den Blick genommen werden die vielfältigen Anwendungsformen von Humanwissenschaften, die jene Abgründe rational zu ergründen suchten, die sich zwischen der sozialen Wirklichkeit und den Grundannahmen bürgerlicher Gesellschaftsmodelle des 19. Jahrhunderts auftaten. Deren theoretische Ausgangspunkte kann man in den drei Leitideen vom liberalen Wirtschaftsbürger, vom rechtskundigen und gesetzestreuen Staatsbürger sowie vom zivilisierten Bildungsbürger zusammenfassen.2 Die Grenzen eines solchen Begriffes von »Sozialem« schieben 1 Der folgende Beitrag ist eine erweiterte, überarbeitete und aktualisierte Fassung des Aufsatzes »Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts«, in: GG, Jg. 22, 1996, S. 165–193. 2 So haben sich die Humanwissenschaften des 20. Jahrhunderts in ihrer Mehrzahl aus anderen Denkmodellen und häufig in kritischer Distanz bzw. als reformerische Ergänzung zu diesen theoretischen Leitkonstruktionen der bürgerlichen Rechts- und Verfassungsordnungen entwickelt. Die älteren Leitmodelle haben jedoch das Feld der Humanwissenschaften nicht ein-

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sich notgedrungen weit in Bereiche vor, die seit dem 19. Jahrhundert auch unter Kategorien wie Ökonomie, Kultur, Moral oder Politik klassifiziert worden sind. Eine trennscharfe Definition ist nicht zuletzt deshalb für den Zeithistoriker irrelevant, weil gerade der Streit um die Abgrenzung von Kompetenzbereichen, die Zuordnung sozialer Phänomene oder individueller Krankheitssymptome unter diese Leitkategorien einen ganz wesentlichen Aspekt des Untersuchungsgegenstandes selbst darstellt. »Gesellschaft« ist zwar in vielen Sprachen zum Schlüsselbegriff sozialwissenschaftlicher Expertise aufgestiegen, wenn es darum geht einen Oberbegriff für »Soziales« zu finden, er blieb jedoch politisch umstritten3 und ist letztlich zu eng, um die verschiedenen Perspektiven der beteiligten Wissenschaften zusammenzufassen. Das Feld der Disziplinen, die hier in den Blick genommen werden, reicht von der Medizin und den Rechtswissenschaften bis zu Ökonomie, Psychologie und den Sozialwissenschaften im engeren Sinne. Der Terminus »Humanwissenschaften« bietet sich als Sammelbegriff an, um die unterschiedlichen Fächer unbeschadet ihres spezifischen Zugriffs auf den gemeinsamen Gegenstand, nämlich »den Menschen in seinen gegenwärtigen Lebenszusammenhängen«, zusammenfassen. Insbesondere kommen damit neben der Medizin und ihren Teildisziplinen all jene Richtungen und Disziplinen in den Blick, die sich – etwa unter dem Leitbild der »behavioral sciences« – an Wissensmodellen und Forschungsverfahren der Naturwissenschaften orientiert haben. »Verwissenschaftlichung« des Sozialen bezeichnet also konkret die dauerhafte Präsenz humanwissenschaftlicher Experten, ihrer Argumente und Forschungsergebnisse, ihrer Wissenstechniken, Fragebögen und Tests in Verwaltungen und Betrieben, in Parteien und Parlamenten, bis hin zu den alltäglichen Sinnwelten sozialer Gruppen, Klassen oder Milieus. Unsere Alltagskonversation bietet zahlreiche Hinweise darauf, in welchem Maß wissenschaftliche Erkenntnisse als ein zwar fremdes, aber einbaufähiges Wissen in unsere Lebenswelten eingesickert sind und dort bisweilen zu common sense trivialisiert wurden.4 Gerade die Leichtigkeit, mit der dies geschieht und als unproblematisch angesehen wird, zeigt, dass wir bereits auf einen langanhaltenden Prozess der »Verwissen-

fach kampflos verlassen. Wie ein Blick in die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften, aber auch der Soziologie und der Politikwissenschaften lehrt, haben vor allem die stärker an formalisierbarer, mathematischer Modellbildung orientierten Strömungen dieses intellektuelle Erbe des 18. und 19. Jahrhunderts weiterentwickelt. 3 Vgl. für die deutschen Diskussionen: P. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000. 4 Vgl. als Überblick: K. Brückweh u. a. (Hg.), Engineering Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880–1980, Basingstoke 2012; Die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich seit den siebziger Jahren diesen Spuren eigener Wirksamkeit zugewandt: B. Badura (Hg.), Seminar: Angewandte Sozialforschung, Frankfurt a. M. 1976; U. Deck (Hg.), Soziologie und Praxis (= SW Sbd. l), Göttingen 1981; ders. u. W. Bonß (Hg.), Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens, Frankfurt a. M. 1989.

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schaftlichung« zwischenmenschlicher Beziehungen und individueller Befindlichkeiten zurückblicken.

I. Verbreitungswege Wie gestaltete sich konkret die Beteiligung von Humanwissenschaftlern an der Erfassung, Verwaltung und Veränderung sozialer Handlungsfelder? Wie entwickelte sich der intensive Austausch zwischen Humanwissenschaftlern und ihren »Kunden«, Gesprächspartnern und Auftraggebern außerhalb der Universitäten und Forschungsinstitute? Wie ist ihr Wissen in die sozialen, politischen und kulturellen Welten ihrer Zeit eingebaut worden? Die Wege waren und sind offensichtlich vielfältig und sie aufzuspüren, bedarf es der unterschiedlichsten Forschungsmethoden – von der politischen Ideengeschichte über die Sozialgeschichte von Berufsfeldern bis zur Geschichte der Wissensproduktion und Wissenskommunikation. Aber mit Blick auf das 20. Jahrhundert und bei einer Beschränkung auf europäische bzw. nordatlantische Entwicklungen lassen sich mindestens vier unterschiedliche Wege der Verbreitung bzw. der Transformation idealtypisch unterscheiden, auf denen humanwissenschaftliches Wissen in politisch-administratives Wissen, in soziale Handlungsorientierung oder kollektive Deutungsmuster Eingang fand und damit in jeweils spezifische Wissensformate umgewandelt worden ist. Ideen, Metaphern und Diskurse Wissenschafts- und Ideengeschichte haben eine Vielzahl von Belegen dafür erbracht, wie humanwissenschaftliche Begriffe und Argumente, die zunächst nur Bestandteil der esoterischen Fachsprache der jeweiligen Wissenschaften waren, in die politischen, religiösen und Alltagssprachen integriert worden sind, sich dort mit weiteren und anderen Bedeutungen anreicherten. Metaphern spielen bei diesem Verbreitungspfad eine ganz wichtige Rolle. Sie sind flexibel genug, um enge fachspezifische Bedeutungshorizonte zu überschreiten, sie verbinden vielfach gleich mehrere Wissenschaftsfelder oder können in ganz andere Argumentationszusammenhänge eingebaut werden.5 Einige Beispiele mögen genügen, um die großen Potentiale dieses Verbreitungspfades anzudeuten: im französischen und im englischsprachigen Raum wurde »Degeneration« zu einer solchen Idee und Metapher, welche sich aus ihren medizinischen Erstkontexten löste, um in zahlreiche sozialwissenschaftliche, psychologische und schließ-

5 S. Maasen u. P. Weingart, Metaphors and the Dynamics of Knowledge, London 2000; D. E. Leary (Hg.), Metaphors in the History of Psychology, Cambridge 1995.

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lich politische Diskurse als Schlüsselbegriff integriert zu werden.6 Die Rede vom »Bevölkerungstod« hatte im deutschsprachigen Raum einen vergleichbaren Erfolg.7 »Adaptation« und »Assimilation« wiederum sind zwei im Englischen wie im Französischen erfolgreiche Konzepte, die zu Schlüsselbegriffen von Sozialberichterstattung, Sozialplanung und Einbürgerungspolitik geworden sind. Metaphern bahnten vielen humanwissenschaftlichen Ideen und Argumenten den Weg in die soziale Welt und auf die politische Agenda. Angesichts der Häufigkeit, aber auch der Leichtigkeit dieses Ideenverkehrs stellt sich das methodische Problem, wie spezifische intellektuelle Moden oder gar Wirkungszyklen identifiziert werden können, spezifische »Sprachen« oder »Diskurse« ein­gegrenzt werden können, deren sich unterschiedliche soziale und politische Akteure bedienten. Die vielfältigen Spielarten sozialdarwinistischer bzw. sozialbiologischer Programme und Theorien liefern ein spektakuläres Beispiel für eine solche Verbreitungsform zwischen Mode und Tiefenwirkung. Rückgriffe auf Darwin und Analogien zwischen Sozialem und Biologischem gehören zu den erfolgreichsten und folgenschwersten Denkprodukten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgebracht worden sind.8 Peter Wagners Konzept der Diskurskoalitionen bietet einen vielversprechenden Ansatz, um solche Verdichtungen von Begriffen, Argumenten und Rhetoriken genauer zu erfassen, indem man sie als doppeltes Netzwerk von Ideen oder Diskursen einerseits, Akteuren in unterschiedlichen sozialen Positionen, politischen Zusammenhängen und Gestaltungsspielräumen andererseits interpretiert.9 Dabei dienen Metaphern oder ›Ideen‹ oft als Bindeglieder und Mobilisierungsfaktor in solchen Koalitionen. So haben viele Beobachter für die Jahrzehnte zwischen 1880 und 1910 eine solche Diskurskoalition verschiedener Akteure in den Staatsverwaltungen identifiziert, die sich aus den Reihen der sich neu bildenden Sozialwissenschaften und politischen Reformerzirkeln gebildet hatten. Diese Koalition wurde zusammengehalten durch einen Diskurs, der »Socialreform« bzw. die »Arbeiterfrage« als Dreh- und Angelpunkt hatte. In ihm kamen konservative, liberale und sozialistische Ideen und Tendenzen zusammen. Etwa seit der Jahrhundertwende spaltete sich diese breite Diskurs­koalition in unterschiedliche Lager und es bildeten sich neue Gruppierungen von Ideen 6 D. Pick, Faces of Degeneration. A European Disorder, 1848–1918, Cambridge 1989. 7 T. Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007. 8 H. L. Kaye, The Social Meaning of Biology, New Haven 1986; H.-G. Marten, Sozialbiologismus. Biologische Grundpositionen der politischen Ideengeschichte, Frankfurt a. M. 1983; Pick, Faces; zu Deutschland insbesondere P. Weindling, Health, Race and German Politics between Unification and Nazism 1870–1945, Cambridge 1989; T. Etzemüller, Auf der Suche nach dem nordischen Menschen. Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt, Berlin 2015. 9 P. Wagner, Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien und Deutschland 1870–1980, Frankfurt a. M. 1990.

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und Akteuren. Im Schatten dieser Auflösungstendenzen lässt sich der Aufstieg einer anderen Diskurskoalition beobachten, in deren Mittelpunkt die Sorge um die demographische Entwicklung und die politische Biologie der Nation stand. Eugeniker und Rassenanthropologen, Sozialdarwinisten und Rassetheoretiker, aber auch Familiensoziologen und Gesundheitsreformer fanden hier zusammen.10 Dieser Diskurskoalition wiederum war in den verschiedenen Ländern ein unterschiedlich langes und erfolgreiches Leben vergönnt. Metaphern und Argumente sozialdarwinistischer Provenienz und sozialbiologische Analogien lieferten den diskursiven Kitt dieser Koalition. Die praktischen Folgen solcher Diskurskoalitionen, erst recht der Zirkulation modischer Leitbegriffe oder Metaphern sind nicht immer leicht zu ermitteln, wenn man auf der Diskursebene der Texte verharrt. Durchschlagskraft erhielten sie in der Regel erst dann, wenn sie die anderen Verbreitungskänale und Austauschwege des Wissens nutzten. Expertenwissen Die handgreiflichste Form der »Verwissenschaftlichung« des Sozialen war und ist das machtgeschützte, mit rechtlicher Sanktionsgewalt verbundene Eingreifen von »Experten«, denen unsere modernen Gesellschaften auf Grund ihres Fachwissens Entscheidungsbefugnis bzw. eine gutachterliche Urteilskompetenz über andere zubilligen, manchmal sogar zuweisen. In der Beurteilung abweichenden Verhaltens haben die Humanwissenschaften im Verlauf der letzten hundert Jahre alle anderen Wissensformen nach und nach verdrängt und sich einen festen Platz in den zuständigen Behörden neben der dort tonangebenden Gruppe wissenschaftlich ausgebildeter Experten, den Juristen, erkämpft. Den Anfang machten bereits im 19. Jahrhundert Mediziner und Psychiater, die vor allem bei der Frage der Zurechnungsfähigkeit vor Gericht als Gutachter hinzugezogen wurden;11 ihnen folgten in unserem Jahrhundert Kriminologen und Psychologen.12 Die Urteilskompetenz der unterschiedlichen Experten wurde 10 R. Mackensen (Hg.), Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006; Etzemüller, Nordischer Mensch. 11 Vgl. D. Kaufmann, Psychiatrie und Strafjustiz im 19. Jh. Die gerichtsmedizinischen Gutachten der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen 1770–1860, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Jg. 10, 1991, S. 23–39; R. Castel, Die psychiatrische Ordnung. Das goldene Zeitalter des Irrenwesens, Frankfurt a. M. 1983, S. 183 ff.; vgl. auch die älteren Übersichten: A. Langelüddeke, Gerichtliche Psychiatrie, Berlin 1950; U. Undeutsch, Die Entwicklung der gerichtspsychologischen Gutachtertätigkeit, Göttingen 1954. Zur Gerichtsmedizin allgemein: J. Maschka (Hg.), Handbuch der gerichtlichen Medicin, Bd. 1: Geschichte der gerichtlichen Medizin, Tübingen 1881. 12 P. Becker u. R. Wetzell (Hg.), Criminals and their Scientists. The History of Criminology in International Perspective, Cambridge 2004; S. Galassi, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Stuttgart 2004; R. Wetzell, Inventing the Criminal. A History of German Criminology, Chapel Hill 2000.

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im Zuge der Ausweitung und Ausdifferenzierung wissenschaftsförmigen Wissens über Menschen immer wieder zum Gegenstand des Streits der beteiligten Wissenschaften um die richtige Konstruktion der sozialen Welt. Exemplarisch für diesen Aspekt war bereits der »Streit der Fakultäten«, der in den Strafrechtsdebatten am Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachten war: Die traditionellen Verwalter der vernünftigen Rede über Verbrechen und Strafe, die Strafrechtler, sahen sich der aggressiven Kritik und Konkurrenz von medizinisch ausgebildeten, sozialwissenschaftlich bzw. anthropologisch forschenden und argumentierenden Kriminologen ausgesetzt. Voran die positivistische Schule um Lombroso entzog dem alten juristischen Diskurs die Grundlage und entwarf eine ganz neuartige Definition sozialer Devianz mit Reformvorschlägen für die strafrechtliche Praxis.13 Am Ende setzten sich Humanwissenschaftler sowohl als Gutachter wie auch als Berater und Diskussionspartner ihrer juristischen Kollegen in den staatlichen Behörden durch. Dort errangen sie nach und nach wichtige Positionen in den einschlägigen Fachbehörden und waren federführend daran beteiligt, soziale Probleme mit den Mitteln des Verwaltungshandelns zu bearbeiten. Vor allem dort, wo die staatliche Bürokratie bereits im 19. Jahrhundert stark ausgebaut worden und fest in Juristenhand war, dauerte es aber sehr lange, bis der Weg frei war für die Verankerung des neuen Expertenwissens in eigenen Laufbahnen und in Leitungspositionen. Die Vorreiter waren hier die Mediziner, die sich bereits im 19. Jahrhundert gegen die Alleinvertretungsansprüche der Juristen in der Verwaltung hatten behaupten können.14 Vor allem in den Anfängen der modernen Sozialverwaltungen verdankten prominente »sozialwissenschaftliche« Experten ihre einflussreiche Stellung der Tatsache, dass sie Juristen oder Mediziner waren. Solche direkten institutionellen Einbindungen in Verwaltungshandeln und Rechtsprechung gingen einher mit der wachsenden Beteiligung von Vertretern der entsprechenden Fachdisziplinen an der Gesetzgebung, sei es, dass sie als Parlamentarier direkt daran beteiligt waren, sei es, dass sie die öffentliche Wahrnehmung und Rede über »soziale Probleme« entscheidend beeinflussten.15 Mit 13 R. A. Nye, Crime, Madness and Politics in Modern France, Princeton 1984, S. 97–131; Zu Lombroso vgl. auch S. J. Gould, Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt a. M. 1988, S. ­129–156. 14 Zum Aufstieg der Medizin vgl. G. Göckenjan, Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt 1985; C. Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jh., Göttingen 1985; für Frankreich: J. Leonhard, La médecine entre les savoirs et les­ pouvoirs, Paris 1981. 15 Zu Frankreich vgl. Nye und Leonhard; zu Deutschland: R. vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980; D. Krüger, Nationalökonomen im Wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1983; R. vom Bruch, Gesellschaftliche Funktionen und politische Rollen des Bildungs­ bürgertums im Wilhelminischen Reich, in: J. Kocka (Hg.), Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 146–179.

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ihrer Beteiligung am politischen Willensbildungsprozess entfalteten die neuen Humanwissenschaften jedenfalls eine Breitenwirkung, die ihre Einflussnahme auf die Konstruktion sozialer Wirklichkeiten in Rechtsprechung und Verwaltung ganz wesentlich ergänzte. Auch in diesem Fall war der Kampf um die Benennungsmacht über die soziale Welt zugleich ein ideologischer Streit in der Arena der Politik und ein Streit zwischen den Disziplinen und Fakultäten um die Grundsätze staatlicher Gesundheits-, Bevölkerungs- und Sozialpolitik.16 Zwar blieben Praxisprobleme und Anwendungsfragen Themen minderen Ranges in der intellektuellen Werteskala der akademischen Milieus Europas, doch mit der öffentlichen Anerkennung und gesellschaftlichen Nutzung seines universitär beglaubigten Leistungswissens etablierte sich allmählich der praxisbezogene Sozialwissenschaftler als eigenständiger Gelehrtentypus neben den reinen Universitätsgelehrten und den politisch bzw. gesellschaftskritisch engagierten Intellektuellen.17 Techniken und Technologien Schließlich drangen humanwissenschaftliche Kategorien und Denkformen über spezifische Techniken und Verfahren in die Gesellschaft ein. So wurde zum Beispiel die »Psychophysik der industriellen Arbeit«18 zu einem für Psychologen und Nationalökonomen, aber auch für Unternehmer und Gewerkschaften gleichermaßen attraktiven Arbeitsgegenstand. Die Anpassung des Menschen an die Bedingungen industrieller Produktion erfolgte nun nicht mehr allein auf dem Weg der naturwüchsigen Anpassung, der moralischen Belehrung und des ökonomischen Zwangs. Die Messung von Arbeitsleistung, die Prognose von Leistungsfähigkeit und die Anpassung an veränderte Arbeitsbedingungen wurden 16 »Tout problème est biologique: place à la république des savants!« – In diese griffige Formel fasst z. B. J. Leonard den Deutungsimperialismus der Medizin in der Dritten Republik vor 1914, Leonard, Médicine, S. 258; siehe auch den vergleichenden Überblick bei Wagner, Sozial­w issenschaften. 17 Vgl. W. Lepenies, Aufstieg und Fall der europäischen Intellektuellen, Frankfurt a. M. 1992; Für Frankreich: L. Raphael, Vom Sozialphilosophen zum Sozialingenieur? Die Position der anwendungsorientierten Sozialwissenschaften in der französischen Wissenschaftskultur der Jahrhundertwende in diesem Band S. 295–318. 18 So der Titel des Beitrags von Max Weber zur Enquête des Vereins für Socialpolitik »Auslese und Anpassung der Arbeiter in verschiedenen Zweigen der Großindustrie«, in: M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 19882, S. 61–255. Unter der Bezeichnung »Psychotechnik« entwickelte sich unabhängig und z. T. kritisch zu Taylor die Arbeits- bzw. Wirtschaftspsychologie im Deutschen Reich. Vgl. H. Münsterberg, Grundsätze der Psychotechnik, Leipzig 1913, sowie M. Moede, Psychophysik der Arbeit, in: Archiv für Pädagogik, Jg. 2, 1914, S. 66–79 u. S. 189–200; E. Walter-Busch, Faktor Mensch. Formen angewandter Sozialforschung der Wirtschaft in Europa und den USA 1890–1950, Konstanz 2006; T. Luks, Der Betrieb als Ort der Moderne. Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010.

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seit der Jahrhundertwende zu Problemen, die die neue experimentelle Psychologie rasch aus dem Elfenbeinturm der universitären Labors herausführten. Es entstanden standardisierte Messverfahren, Testroutinen und Erfassungsformulare menschlichen Verhaltens. Diese Bemühungen um wissenschaftliche Arbeitsbewertung, Arbeitsgestaltung und Organisationsplanung wurden zu einem Arbeitsfeld, das zwischen Medizinern, Psychologen, Soziologen, Ökonomen und Ingenieuren heftig umkämpft blieb. Die Geschichte humanwissenschaftlicher Techniken: testen, interviewen, Sozialdaten erheben und auszählen, Stichproben ziehen, Skalen definieren und soziale Einheiten klassifizieren ist gut erforscht, wenn wir auf die Seite der universitären Wissenschaften schauen. Die Geschichte ihrer Methoden ist fester Bestandteil der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte. Die Untersuchung ihres praktischen Gebrauchs, ihrer Verbreitung und Anpassung an konkrete Bedürfnisse und lokale Situationen – also der Weg vom wissenschaftlichen zum praktischen Wissen – steht noch am Anfang.19 Viele humanwissenschaftliche Verfahren wurden nicht »streng wissenschaftlich« gebraucht, sie produzierten vielfach Evidenzen, die keineswegs den selbstformulierten Ansprüchen gerecht wurden, reproduzierbar zu sein, Objektivitätsstandards zu erfüllen und für eine definierte Problemlage und entsprechende Zahl von Fällen valide zu sein. Immer wieder dienten sie primär der zusätzlichen Legitimation bereits bestehender moralischer oder politischer Beurteilungen. Die Anwendung humanwissenschaftlicher Techniken lag wiederum lange Zeit vornehmlich in den Händen von Experten, war Bestandteil ihrer Wissensordnungen und lässt sich zusammen mit entsprechenden Expertendiskursen und organisatorischen bzw. rechtlichen Rahmenbedingungen als ein festes Gefüge interpretieren, das praxisrelevantes Wissen in routinisierter und standardisierter Form hervorbringt. Der »Intelligenz-Test« mag hier als bekanntestes Beispiel genügen. Der französische Psychologe Alfred Binet entwickelte das später als »Stanford-BinetTest« so erfolgreiche Messverfahren auf Anfrage des Erziehungsministeriums für den konkreten und ausschließlichen Zweck, frühzeitig Kinder zu ermitteln, deren schlechtes Abschneiden im Normalunterricht irgendeine Form besonderer Förderung und gesonderter Schulung erforderlich machte. Zwischen 1904 und 1911 gestaltete Binet seinen Test aus, der erlaubte, Kindern unabhängig vom Stand des erworbenen schulischen Wissens ein »Intelligenzalter« zuzuweisen, aus dem dann als Quotient von geistigem und Lebensalter berechnet, eben der berühmte IQ wurde. Die pädagogische Diagnostik hat dieses Mess­ instrument umgehend angenommen, verfeinert und in der Praxis vielfältig eingesetzt.20 Doch die Geschichte des IQs hörte an diesem Punkt nicht auf. Um19 Z. B. K. Brückweh, Menschen zählen, Berlin 2015; B. Bernet, Schizophrenie. Entstehung und Geschichte eines psychiatrischen Krankheitsbildes um 1900, Zürich 2013. 20 Die Literatur zu »Binet und den Folgen« ist angesichts der zentralen Bedeutung von Tests für die Herausbildung des Berufsbildes »Psychologe« immens. Sozialgeschichtliche Untersuchungen zu Form und Umfang der Testanwendungen sind jedoch nach wie vor selten.

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gehend bemächtigten sich andere Wissenschaftler und Interessenten dieses Messinstrumentes, um daraus ein generelles Verfahren zur Messung von Leistungsfähigkeiten zu machen. Bereits im Ersten Weltkrieg kamen Intelligenztests in der amerikanischen Armee zum Einsatz; nach diesen Erfolgen entwickelte sich in den zwanziger Jahren ein Markt für das neue Testverfahren. Dabei wurde das pragmatische Verfahren, ein Ensemble unterschiedlicher Fähigkeiten und Kenntnisse in einer Zahl zusammenzufassen, weiterentwickelt bis hin zu der Vorstellung einer dahinterliegenden Substanz, eben unserer Intelligenz, die es so bekanntlich nicht gibt, aber als humanwissenschaftlich legitimierte, weil gemessene Eigenschaft nun jedem von uns anhaftet. Gould hat in seiner Studie »Der falsch vermessene Mensch« die rasche Karriere des Intelligenzkonzeptes im Amerika der zwanziger und dreißiger Jahre aufgezeigt und die rasche Aufladung mit sozialdarwinistischen Erblichkeits- und Rassetheorien untersucht.21 Klienten und Kunden Ein weiterer Pfad der Ausdehnung humanwissenschaftlichen Wissens war und ist der Weg über zahlungskräftige Nachfrage, also in der Form spezifischer Dienstleistungs- bzw. Produktmärkte. Die Entstehung eines eigenen Buchsegments für psychologische Ratgeberliteratur ist ein erstes Beispiel für diesen Verbreitungspfad. Es hat sich vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert immer weiter ausgedehnt und sich aufs engste mit der Entstehung eines Marktes für therapeutische Dienstleistungen bzw. Angebote aller Art verknüpft. Ratgeberliteratur und Therapieangebote sind Begleiterscheinungen gleich mehrerer langfristiger Trends, die im langen 20. Jahrhundert zu beobachten sind: zum einen die Pluralisierung religiös-therapeutischer Sinnstiftung und Lebensführung, zum andern die wachsenden Ansprüche an die bewusste Gestaltung individueller Lebenszusammenhänge bei einem größer werdenden Anteil der Bevölkerung in den westlichen Ländern. Diese Trends sorgten jedenfalls für eine langfristig wachsende Nachfrage für eine breite Palette von anwendungsspezifischen Angeboten psychologisch-therapeutischen Wissens für ganz unterschiedliche Lebenslagen und soziale Kundenkreise.22 Einen ganz anderen Markt hat Vgl. für die USA: M. M. Sokal (Hg.), Psychological Testing and the American Society, New Brunswick 1987. Zu Frankreich: W. H. Schneider, After Binet: French Intelligence Testing, 1900–1950, in: Journal of the Behavioral Sciences, Jg. 28, 1992, S. 111–132; Deutschland: K. Ingenkamp u. H. Laux, Pädagogische Diagnostik im Nationalsozialismus 1933–1945 (= Geschichte der Pädagogischen Diagnostik, Bd. 2), Weinheim 1990. 21 Gould, Mensch. 22 Allgemein: N. Rose, Our Selves. Psychology, Power, and Personhood, Cambridge 1998; Vorbild und Vorläufer auf dem Gebiet therapeutischer Anwendungen blieben bis weit in die siebziger Jahre die USA. Vgl. hierzu N. G. Haie, Freud and the Americans. The Beginning of Psychoanalysis in the United States 1876–1917, New York 1971; F. Castel u. a., Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA, Paris 1979, S. 38–94.

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die Markt- und Meinungsforschung für ihre Dienste erschlossen: hier traten und treten vor allem Unternehmen aller Art, aber auch Verbände, Kirchen, politische Parteien und Verbände, aber auch Regierungen und Parlamente als Auftraggeber und Kunden auf.23 Häufiger traten ihre Kunden den Humanwissenschaftlern und Experten aber als dauerhafte Auftrag- und Arbeitgeber gegenüber, integrierten sie in Verwaltungen und Führungsstäbe. Vor allem staatliche Behörden, aber auch kirchliche Institutionen, politische Parteien, Wirtschaftsverbände und Unternehmen wurden in zunehmendem Maße Dauerkunden humanwissenschaftlicher Expertise und Anwender ihrer Technologien.24 Dabei besaßen sie ein hohes Maß an Gestaltungsmacht und Kontrolle über die Produkte dieses neuen Wissens. Vielfach waren diese Kunden auch Partner in Diskurskoalitionen, pflegten Verwaltungsspitzen und Unternehmer enge Verbindungen mit Wissenschaftlern und Experten. Häufig ganz andere Formen nahm diese Verbindung an, wenn es sich dagegen um Kunden handelte, die von Dritten zu Objekten humanwissenschaftlicher Expertise gemacht wurden. Die kritische Geschichte der Eugenik, der Kriminologie, der Arbeitswissenschaften oder der Psychiatrie haben vielfältige Belege für die Grenzüberschreitungen erbracht, die zu beobachten waren, wenn sozial oder politisch exkludierte bzw. marginalisierte Gruppen bzw. Individuen zwangsweise zu Objekten humanwissenschaftlicher Expertise und Verfahren gemacht worden sind.25 Von der Fürsorge über die Sozialarbeit zur Psychotherapie reicht der Bogen unterschiedlichster Anwendungsgebiete eines neuartigen humanwissenschaftlichen Wissens, das nach dem Vorbild der Medizin sein Zentrum in der rationalen Konstruktion therapeutischer Interventionen besitzt. Der Übergang von einer verwahrenden Anstaltspsychiatrie zur therapieorientierten Neuorientierung des psychiatrisch-tiefenpsychologischen Wissens markiert um die Jahrhundertwende den Beginn einer mehr oder weniger kontinuierlichen Entfaltung neuer therapieorientierter Wissenschaftsansätze, die nach 1914 rasch auf weitere Bereiche professioneller Hilfe wie die Jugendhilfe, die Familienfürsorge und nicht zuletzt die Kriegsverletztentherapie ausstrahlte.26 23 F. Keller, Archäologie der Meinungsforschung. Mathematik und die Erzählbarkeit des Politischen, Konstanz 2001; A. Kruke, Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949–1990, Düsseldorf 2007; S. E. Igo, The ­Averaged American. Surveys, Citizens, and the Making of  a Mass Public, Cambridge, Mass. 2007; B. Fulda, The Market Place of Political Opinions. Public Opinion Polling and its Publics in Transnational Perspective, 1930–1950, in: Comparativ, Jg. 21, 2011, S. 13–28. 24 B. Ziemann, Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975, Göttingen 2007; Walter-Busch, Faktor Mensch. 25 T. Huonker, Diagnose »moralisch defekt«. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890–1970, Zürich 2003. 26 Zur Veränderung der Anstalts- und Universitätspsychiatrie seit 1900: Bernet, ­Schizophrenie; C. Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1­ 869–1980, Göttingen 2010; B. Bernet u. a., Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich ­1870–1970, Zürich 2007; E. J. Engstrom, Clinical Psychiatry in Imperial Germany. A History of Psychiatric

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Als Gerichtsgutachter, als Fachbeamten und Regierungsberater, als Wortführer sozialpolitischer Gesetzesinitiativen und Stichwortgeber in Reformdebatten, schließlich als professionelle Helfer und Therapeuten in individuellen Notlagen bahnten die Humanwissenschaftler ihrem disziplinspezifischen Wissen einen Weg in die unterschiedlichsten Lebenswelten. Dabei muss betont werden, dass erst die praktischen Erfolge, das Effizienzkriterium also, den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen und ihren in der Regel selbstbewussten Ansprüchen und Versprechungen die Türen zu diesen Handlungsfeldern geöffnet haben. Es war dementsprechend auch der am Leitbild zweckrationaler Verfügbarkeit von »Sozialem« orientierte Wissenschaftstypus, der sich an dem erfolgreichen Modell der experimentellen Naturwissenschaften ausrichtete, von dem die wichtigsten Impulse für die »Verwissenschaftlichung« des Sozialen ausgingen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren dies stärker Medizin und Psychologie als etwa Nationalökonomie oder Soziologie.

II. Trends und Entwicklungsphasen Für den Zeithistoriker ist es nun von besonderem Interesse, die Entwicklungsdynamik ausfindig zu machen, die diesen ganz unterschiedlichen Anwendungsfeldern und Interventionsformen gemeinsam ist. Bis zur Gegenwart lassen sich m. E. vier Phasen unterscheiden, wobei die Datierung je nach Land durchaus unterschiedlich ist. Ich werde mich im Folgenden hauptsächlich auf die Entwicklungen im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik konzentrieren. Die Anfänge kann man wohl in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen, als sich unter dem Eindruck der neuartigen sozialen Krisen­ phänomene der wirtschaftlich, sozial und politisch in Bewegung geratenen Gesellschaften Europas die Bemühungen intensivierten, eine den Widersprüchen der Empirie Rechnung tragende »Staatswissenschaft«, eine »science sociale« oder eine »political science« zu entwickeln.27 In Deutschland sind die Kontinuitäten zur praxisorientierten Kameralistik besonders markant. Dennoch bedurfte es erst der methodischen Weiterentwicklung der Statistik und der intellektuellen Impulse aus dem Bereich der Medizin und den Naturwissenschaften, bis sich gegen dominante sozialphilosophische Deutungsentwürfe und herrschaftskritische sozialutopische Lösungsansätze empirieorientierte Modelle zur Practice, London 2003; zur Entwicklung der klinischen Psychologie: J. M. Reisman, A History of Clinical Psychology, New York 1976. 27 Vgl. S. Collini u. a., That Science of Politics. A Study in Nineteenth Century Intellectual History, Cambridge 1983; G. Gusdorf, La conscience révolutionnaire. Les idéologues, Paris 1978; S. Moravia, Il pensiero degli idéologues. Scienza e filosofia in Francia 1780–1815, Florenz 1979; K. Tribe, Governing Economy. The Reformation of German Economic Discourse 1750–1840, Cambridge 1988; P. Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jh., Frankfurt a. M. 1992, S. 136–173.

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Beschäftigung mit sozialen Phänomenen durchgesetzt haben. Die Krise des Pauperismus hatte jedenfalls ihren Höhepunkt längst überschritten, als sich »Tatsachenblick«28 und »Faktenorientierung« als leitende Kriterien für die Behandlung der »sozialen Frage« durchsetzten und als die Situation eintrat, dass von den Wissenschaften die entscheidende Hilfe bei der Erfassung und Lösung dieser Frage erwartet wurde. Die Erhebung von Sozialdaten über Enqueten und die amtliche Statistik gehörten daher auch zu den auffälligsten wissenschaftsgeschichtlichen Ergebnissen dieser ersten Phase, deren Anfänge man in die Jahrzehnte zwischen 1830 und 1860 datieren kann. Quetelets Überlegungen zum »homme moyen«, die Erhebungen der neugeschaffenen statistischen Ämter und Le Plays Familienmonographien markieren wichtige Anfangsschritte, die mit unterschiedlichem Tempo in den einzelnen europäischen Ländern nachvollzogen wurden.29 Die großen Armutsenqueten von Booth und Rowntree in England, die Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik zur Lage der Landarbeiter oder auch zur Psychophysik der industriellen Arbeit markieren bis heute wichtige Ereignisse in der methodischen Weiterentwicklung in dieser Anfangsphase empirischer Sozialforschung.30 Parallel dazu machte die amtliche Statistik ebenfalls energische Anstrengungen, den Datenbestand über die wirtschaftlichen, demographischen und sozialmoralischen Grundlagen staatlichen Handelns zu vergrößern.31 Als wissenschaftsinternes Ereignis gehört auch der Einzug der experimentellen Methode in die Medizin und Psychologie in diesen Entstehungszusammenhang. Sie gab wichtige Impulse für die Entwicklung und Erprobung neuer Verfahren zur Diagnose und Therapie sozialer Probleme. Sozialreform Die Gründung des Vereins für Sozialpolitik 1872/1873 mag für das Deutsche Reich als der Beginn einer erfolgreichen Einflussnahme der neuen wissenschaftlichen Experten auf die Definition und Bearbeitung der »sozialen Frage« 28 W. Bonß, Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt a. M. 1982. 29 Vgl. die Überblicke in: H. Kern, Empirische Sozialforschung. Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien, München 1982; A. Desrosieres, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin 2005. 30 Zu Großbritannien vgl. M. Bulmer u. a. (Hg.), The Social Survey in Historical Perspective. 1880–1940, Cambridge 1991; zu Deutschland: A. Oberschall, Empirical Social Research in Germany 1848–1914, Paris 1965; I. Gorges, Sozialforschung in Deutschland 1872–1914, Frankfurt a. M. 1986; USA: J. Converse, Survey Research in the United States: Roots and Emergence, Berkeley 1987. 31 Neben Desrosieres, der die Entwicklung der amtlichen Statistik in Frankreich, England, Deutschland und den Vereinigten Staaten untersucht, vgl. für die deutschen Staaten und das Deutsche Reich: M. C. Schneider, Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a. M. 2003. Als zeitgenössischen Überblick: F. Zahn (Hg.), Die Statistik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand, 2 Bde., München 1911.

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gelten. Untersucht man die gesellschaftlichen Zielperspektiven in dieser Anfangsphase, stellt man fest, dass häufig sozialkonservative moralisch begründete Reformabsichten im Mittelpunkt standen. In diesem älteren Begriff der »Sozialreform«32 ist jedoch das zentrale Motiv erkennbar, die entstehende Industriearbeiterschaft ökonomisch, sozial und politisch in Staat und Gesellschaft zu integrieren. Politik- und sozialgeschichtlich gehört diese Anfangsphase der »Verwissenschaftlichung« des Sozialen zur Entstehungsgeschichte des modernen Wohlfahrtsstaats. Spätestens seit der Einführung des Versicherungsprinzips in das alte Armen- und Fürsorgewesen war die präzise quantifizierbare Kenntnis über die Entwicklungstendenzen von Gesellschaft und Wirtschaft zu einer Grundvoraussetzung des Sozialstaats geworden. Die versicherungsmathematische Kalkulation von Unfall- und Gesundheitsrisiken, von Beitragshöhe und Deckungssummen machte eine sozialstatistische Buchführung auf wissenschaftlicher Grundlage zu einer zwingenden Notwendigkeit für den Auf- und Ausbau der neuartigen Organisationen des Sozialstaats.33 Dabei bildete der Nationalismus eine zentrale Motivationskraft für die Verknüpfung von sozialreformerischen Integrationsprogrammen und wissenschaft­ lichen Forschungsinteressen. In der Vorstellung der wissenschaftlichen Experten wie der politischen Öffentlichkeit war ihr Einsatz in erster Linie ein Dienst an der Nation, deren Einheit und Stärke es zu bewahren bzw. erst einmal herzustellen galt.34 Diese Phase lässt sich als Etablierung der Wissenschaften in den Arbeitsund Handlungsfeldern der Wohlfahrtsstaaten beschreiben. Dies betraf sowohl den Bereich der Sozialversicherungen wie das gesamte Fürsorgewesen.35 Alle oben idealtypisch unterschiedenen vier Verbindungswege von der Wissenschaft 32 Vgl. hierzu C. Dipper, Sozialreform. Geschichte eines umstrittenen Begriffs, in: AfS, Jg. 32, 1992, S. 323–351. 33 L. Krüger u. a. (Hg.), The Probabilistic Revolution, 2 Bde., Cambridge, Mass. 1987; G. Gige­ renzer u. a., The Empire of Chance. How Probability Changed Society and Everyday Life, Cambridge 1989; I. Hacking, The Taming of Chance, Cambridge 1990; vgl. Die Fallstudie von M. Lengwiler, Risikopolitik im Sozialstaat. Die Schweizerische Unfallversicherung 1870–1970, Köln 2006. 34 Vgl. S. Patriarca, Numbers and Nationhood. Writing Statistics in Nineteenth-Century Italy, Cambridge 2003; L. Schweber, Discipling Statistics. Demography and Vital Statistics in France and England, 1830–1885, Durham 2006. Die pointierte Synthese von Schiera, Laboratorium. 35 Vgl. P. A. Köhler u. H. F. Zacher (Hg.), Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundes­ republik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz, Berlin 1981; J. Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat, Frankfurt a. M. 1982; G. A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989. Zum Wohlfahrtswesen vgl. C. Sachße u. F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929, Stuttgart 1988. Für die Bereiche kommunaler, unternehmerischer und kirchlicher Sozialpolitik vgl. die Übersichten in: H. Pohl (Hg.), Staatliche, städtische und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1991.

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in die soziale Welt wurden genutzt, aber vor allem die Verbindung zwischen Staatsverwaltung und Experten wurde ausgebaut. In Deutschland lässt sich zwischen 1880 und 1930 der Aufbau einer vielseitigen Sozialverwaltung auf der Ebene der Kommunen, der Länder und des Reiches beobachten, in der eine wachsende Zahl von Sozialwissenschaftlern, Psychiatern oder Medizinern tätig war und Methoden und Verfahren der neuen Humanwissenschaften erprobt wurden. Die drei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg können in Deutschland, aber auch in England und Frankreich als Höhepunkt dieser Phase angesehen werden. Die neuen Sozialwissenschaften etablierten sich mehr oder weniger erfolgreich im Wissenschaftsbetrieb, gleichzeitig engagierten sich immer mehr ihrer Vertreter dauerhaft in der Verwaltung sozialer Probleme bzw. der Beratung und Ausbildung der neuen Sozialexperten. Blickt man auf die Diskurskoalitionen, so wird erkennbar, dass nach 1910 die »Sozialreformer« an Einfluss und Überzeugungskraft verloren: sie hatten vor allem auf Inklusion gesetzt, wenn es darum ging, die »soziale Frage« in Folge von Industrialisierung und Urbanisierung zu lösen. Dies betraf Industriearbeiter ebenso wie umherziehende Vagabunden oder Obdachlose bzw. Wohnungslose in den Großstädten und die wachsende Zahl der Patienten in den neu gebauten psychiatrischen Anstalten. Die Gegenstimmen sozialdarwinistischer bzw. eugenisch-rassenhygienischer Prägung wurden nun lauter und gewannen an Einfluss, zumal die Kosten dieser Inklusionspolitik angesichts ausbleibender schneller Erfolge zu einem politischen Thema wurden.36 Social Engineering Der Erste Weltkrieg und seine Folgen sorgten dafür, dass humanwissenschaftliche Expertise auf immer größeres Interesse stieß und im Zuge der allgemeinen Kriegsmobilisierung vor allem von staatlicher Seite in Anspruch genommen wurde. Psychoanalytiker und Psychiater wurden eingesetzt, um Frontsoldaten zu behandeln, die Wohlfahrtspflege musste sich um mehr und ganz andere Klienten als bisher kümmern. Eine Zahl aus der kommunalen Ebene der Sozialpolitik mag die Gesamttendenz illustrieren: 1924 waren in rund 50 deutschen Städten zweieinhalbmal so viel Personen in der Wohlfahrtspflege beschäftigt wie 1913.37 Kriegsversehrte und Kriegsopfer waren auch dauerhaft zu versorgen bzw. zu behandeln, die sozialen und mentalen Spuren des Ersten Weltkrieges destabilisierten die soziale Ordnung der Nachkriegsgesellschaften erheblich und ließen eine neue Konstellation entstehen, die in Anschluss an Thomas Etzemüller als 36 Vgl. B. Althammer u. a. (Hg.), The Welfare State and the ›Deviant Poor‹ in Europe 1870–1933, Basingstoke 2014; B. Althammer, Pathologische Vagabunden. Psychiatrische Grenzziehungen um 1900, in: GG, Jg. 39, 2013, S. 309–337. 37 Sachße u. Tennstedt, Armenfürsorge, Bd. 2, S. 86.

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Phase des »social engineering« bezeichnet werden soll.38 Übergreifendes Ziel humanwissenschaftlicher Interventionen war nunmehr die Stabilisierung sozialer Ordnung. Im Mittelpunkt standen wissenschaftsbasierte Programme, die dafür sorgen sollten, die Nation wieder aufzubauen bzw. ihren durch Krieg und / oder Niederlage geschwächten Zusammenhalt zu stärken. Die Metapher vom demographischen Niedergang der eigenen Nation oder der »weißen Rasse« im Allgemeinen fand unter einer wachsenden Zahl von Politikern Anhänger. Gleichzeitig wurde das Leitbild der »Gemeinschaft« für die anwendungsorientierten Sozialwissenschaftler zur dringlichen Handlungsaufforderung. Es ging darum, durch gezielte Interventionen Vergemeinschaftungsprozesse anzustoßen bzw. bestehende Gemeinschaften zu stabilisieren. Dies galt als übergreifende Therapie gegen die im Krieg und Nachkriegszeit so deutlich gewordene Instabilität der sozialen Ordnung, die Vehemenz des industriellen Klassenkampfes und die schiere Menge der psychischen und sozialen Schäden, mit denen zusehends überforderte Sozialbehörden und Sozialdienste zu tun hatten. »Individualismus« und »Entwurzelung« rückten bei der Suche nach Ursachen ganz weit nach oben. Gemeinschaft war nicht allein die Obsession deutschsprachiger Sozialexperten auf den Spuren von F. Tönnies, sondern genauso präsent in die Plänen und Vorschlägen schwedischer oder amerikanischer Kollegen.39 Zusätzlich steigerte die Denkfigur krisenhafter Problemzuspitzung Dringlichkeit und Zugriffstiefe sozialwissenschaftlicher Expertise. Ob in Städten, Familien oder Betrieben, wo immer Experten auf den Plan traten, beschworen sie die Gefahr irreparabler Schädigungen für Nation und Gemeinschaft und so legitimierte sich social engineering immer wieder als Notstandsmaßnahme und nutzte die Rhetorik heroischer Rettung. Im Zuge dieser Entwicklung rückten anwendungsbezogene Sozialwissenschaften immer näher an die Verwaltungsroutinen und die praktische Berufsarbeit auf dem Feld »sozialer Probleme« heran. Das Modell der »Sozialtechnik«, des »naturwissenschaftlich« objektiv und sachlich kühl operierenden Experteneingriffs in Sozialverhalten bzw. soziale Umgebungen wurde zum Leitbild im Feld der anwendungsbezogenen Humanwissenschaften. Den Sozialverwaltungen schien dies Garantien für Erfolgskontrolle und Effizienz zu bieten. Vor allem die Psychologie entfaltete sich nicht zuletzt dank ihres methodischen Vorsprungs gegenüber der Soziologie auf dem Praxisfeld der Arbeits- und Militärpsychologie sowie im Bereich der pädagogischen Diagnostik.40 Volkswirtschafts38 T. Etzemüller, Social Engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes, in: ders., Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 1–39. 39 Y. Hirdmann, Social Planning Under Rational Control. Social Engineering in Sweden in the 1930s and 1940s, in: P. Kettunen u. H. Eskola (Hg.), Models, Modernity and the Myrdals, Helsinki 1997, S. 55–80; J. M. Jordan, Machine-Age Ideology. Social Engineering and American Liberalism, 1911–1939, Chapel Hill 1994. 40 Vgl. D. Dorsch, Geschichte und Probleme der angewandten Psychologie, Bern 1963; USA: D. S. Napoli, Architects of Adjustment, Port Washington 1981; Großbritannien: N. Rose, The Psychological Complex. Psychology, Politics and Society in England, 1869–1939, London

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lehre, Psychologie und Pädagogik wurden zu Fächern im Ausbildungsgang von Fürsorgerinnen und Fürsorgern, soziale Hygiene und schließlich »Rassen­ hygiene« wurden Teil der medizinischen Ausbildung. Die Professionalisierung der »Wohlfahrtsdamen« zu »Fürsorgerinnen« erfolgte in dieser Phase.41 Die humanwissenschaftlichen Technologien wurden in dieser Zeit weiterentwickelt, Tests und Beobachtungs- bzw. Erhebungsmethoden verfeinert und die Möglichkeiten kartographischer bzw. visueller Analyse vor allem für Planung und Soziale Interventionen entwickelt. Die Raummetapher erlebte eine erste Hoch­ konjunktur.42 Viele der neuen Erkenntnisse von Psychologen, Soziologen oder Medizinern betrafen Menschen in Ausnahmesituationen oder Randpositionen. Die anwendungsorientierten Fachrichtungen etablierten sich primär in der Auseinandersetzung und Bewältigung sozialer Devianz, entwickelten den disziplinspezifischen Tatsachenblick in der Beschäftigung mit stigmatisierten Randgruppen. Ordnung und Auslese wurden zwei Leitwerte, die sich vor allem im Deutschen Reich im Zeichen eines autoritär obrigkeitsstaatlichen Verständnisses des Wohlfahrtsstaates zwischen 1900 und 1945 entfalten konnten. Unter diesen Bedingungen geriet auch der Umgang mit Forschungsergebnissen in eine markante Schieflage, in der methodische Vorsicht und theoretische Präzision häufig auf der Strecke blieben. Peukerts Studie über den sozialpädagogischen Blick auf verhaltensauffällige Jungen in der Weimarer Republik zeigt deutlich, in welchem Maß die »Menschen der Unordnung«, wie es zeitgenössisch hieß, den Ordnungswillen der professionellen Helfer und Experten hervorriefen.43 Es hat den Anschein, als ob an diesem Punkt etablierte Muster obrigkeitlichen Verwaltungshandelns, szientistisches Sendungsbewusstsein der neuen Experten und berufsständische Profilierungsinteressen der neuen Sozialberufe zusammenwirkten. Dieser »Pannwitzblick«44 auf Leistungsfähigkeit, Integra­ tionswilligkeit und schließlich sogar auf Zeugungs- und Lebenswürdigkeit wurde zu einem zentralen Aspekt der »Verwissenschaftlichung« des Sozialen in dieser zweiten Phase. Wohlgemerkt, die letzte Konsequenz technisch-rationaler Verfügungsgewalt – die Entscheidung über Leben und Tod wissenschaft1985; Zur Entwicklung im Schul- u. Jugendbereich vgl. K. Ingenkamp, Pädagogische Diagnostik in Deutschland 1885–1932 (= Geschichte der Pädagogischen Diagnostik, Bd. l), Weinheim 1990; G. Sutherland, Ability, Merit and Measurement, Oxford 1984. 41 C. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung ­1871–1929, Frankfurt 1986; ders. u. F. Tennstedt, Armenfürsorge, soziale Fürsorge, Sozialarbeit, in: C. Berg (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4: 1870–1918, München 1991, S. 411–440; C. W. Müller, Wie Helfen zum Beruf wurde, Bd. l: Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit 1883–1945, Weinheim 1988. 42 U. Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012; A. Leendertz, Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008. 43 D. J. K. Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge 1878–1932, Köln 1986, S. 151–174. 44 P. Levi, Se questo è un uomo, Turin 1958, S. 95.

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lich »Selektierter« – ist nur unter den spezifischen Handlungsbedingungen totaler Institutionen wie psychiatrischen Anstalten und Konzentrationslagern unter den politischen Rahmenbedingungen diktatorialer Regime eingetreten, hier aber je nach Dauer und Radikalität des Regimes vielfältig zu beobachten. Das Bündnis zwischen Arbeiterbewegung und angewandter Sozialforschung, das gewissermaßen die wichtigste Erbschaft der Integrationsperspektive der ersten Phase war, wurde jedoch bereits im Ersten Weltkrieg, zunehmend jedoch in den Krisen der Zwischenkriegszeit durch gegenläufige Ideen und Interessenkonstellationen in den Hintergrund gedrängt. Die Spaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung einerseits, die nationalistische Mobilisierung der bürgerlichen Expertenkreise andererseits schwächten die sozialreformerische Grundkomponente gerade in einer Phase, als der nationale Wohlfahrtsstaat weiter ausgebaut wurde. Aber in Schweden entwickelte sich eine solche sozialdemokratische Variante des social engineering und beeinflusste wiederum die weiteren Entwicklungen in den liberalen westlichen Demokratien.45 Wie auch immer die Ergebnisse wohlfahrtsstaatlicher Politik, die politischen Interessenkoalitionen und Kräfteverhältnisse in den einzelnen Ländern aussahen, so zeigte sich doch im Verlauf der Zwischenkriegszeit immer deutlicher, dass die Humanwissenschaften in der Sozialpolitik sich in gleicher Weise sowohl für demokratische wie für autoritäre Sozialstaatsmodelle mobilisieren und nutzen ließen.46 Im Nationalsozialismus profitierten wissenschaftsbasierte Strategien der Exklusion von der ideologischen Rückendeckung und administrativ-politischen Unterstützung durch das rassistische Regime und ließ die mörderischen Potentiale des social engineering in aller Deutlichkeit zu Tage treten.47 Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass diese Interventionsform im Kern auf eine Stabilisierung konformer Mehrheiten zielte, also Inklusionsprogramme die Kehrseite dieser Exklusionspraktiken darstellten. Vergemeinschaftungsprogramme verbanden sich mit einem breiten Spektrum politischer Überzeugungen und Ideologienvom Sozialkatholizismus und Sozialismus bis hin zu Konservatismus, Faschismus und Nationalsozialismus.

45 P. Kettunen u. H. Eskola (Hg.), Models, Modernity and the Myrdals, Helsinki 1997; T. Etzemüller, Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal, Social engineering in Schweden, Bielefeld 2010; D. Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure – Detuschland und Schweden im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010. 46 Zur Wohlfahrts- und Sozialpolitik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich vgl. neben den in Anm. 22 genannten Überblicksdarstellungen: L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1949; W. Abelshauser (Hg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, Stuttgart 1987; M. H. Geyer, Soziale Rechte im Sozialstaat. Wiederaufbau, Krise und konservative Stabilisierung der deutschen Rentenversicherung 1924–1937, in: K. Tenfelde (Hg.), Arbeiter im 20. Jh., Stuttgart 1991, S. 406–434; C. Sachße u. F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 3: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, Stuttgart 1992. 47 Vgl. den Beitrag »Radikales Ordnungsdenken« in diesem Band, S. 51–94.

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Geplante Modernisierung Eine neue Konstellation entwickelte sich, wiederum beflügelt durch die politischmilitärische Ausnahmesituation des Zweiten Weltkrieges, in den westlichen Ländern nach 1940. Die Anfänge dieses neuen Kapitels lassen sich am besten in den Vereinigten Staaten beobachten. Dort verfeinerte die empirische Sozialforschung in den dreißiger Jahren ihre Forschungsmethoden, erweiterte vor allem den Bereich des wissenschaftlich Messbaren und damit gesellschaftlich Verfügbzw. Prognostizierbaren um das weite Feld sozialer Einstellungen, politischer Meinungen und Konsumwünsche.48 »The American Soldier«, die sozialforscherische Begleitung der amerikanischen Truppen im Zweiten Weltkrieg, mag als das Symbol für den Durchbruch der »social research«, als Instrument staatlicher Sozialplanung und gesellschaftlicher Informationsbeschaffung gelten.49 Dieser Durchbruch wurde in einem Bereich realisiert, der bis zu diesem Zeitpunkt der Logik herrschaftlicher Geheimhaltung und kritikloser Unterordnung folgte. Entsprechend galt die sozialwissenschaftliche Thematisierung militärischer Interna in führenden Kreisen nordamerikanischer Regierungsmitglieder und Militärs bis 1941 als wehrkraftzersetzend. Sucht man nach einem Schlüsselbegriff, bietet sich »Assimilation / adaptation« an. Es ging darum, Menschen die Einpassung in moderne Organisationen und Funktionszusammenhänge zu erleichtern, die Modernisierung der Gesellschaft konfliktfreier zu gestalten und planbar zu machen. Voraussetzung für die Erweiterung des Forschungsfeldes war die Weiterentwicklung des mathematischen Instrumentariums der Statistik in einem solchen Maße, dass die sozialwissenschaftliche Informationsbeschaffung in Form der Sichtprobenerhebung kostengünstiger und gleichzeitig vielfältiger und flexibler wurde.50 Die Jahre 1940 bis 1970 wurden in den Vereinigten Staaten zum goldenen Zeitalter der empirischen Sozialforschung im Dienst des sozialen Fortschrittes, eine Epoche, die in den Hoffnungen, aber auch Enttäuschungen der »Great Society« der sechziger Jahre kulminierte. Die Bundesrepublik erreichte diese nunmehr dezidiert kapitalistisch-demokratisch orientierte Sozialforschung dann in den fünfziger, mit größerer Breitenwirkung erst in den sechziger und in den siebziger Jahren.51 Auch hier gab die sozialstaatliche Reformpolitik der empirischen

48 Igo, Averaged Man; Kruke, Meinungsforschung; Keller, Archäologie. 49 S. A. Stouffer u. a., The American Soldier. Studies in Social Psychology in World War II, 4 Bde., Princeton 1949. 50 Desrosieres, Politik; C. O’Muircheartaigh u. T. Wong, The Impact of Sampling Theory on Survey Sampling Practice: A Review, in: Bulletin de l’Institut International de Statistique, Jg. 49, 1981, S. 465–493. 51 C. Weischer, Das Unternehmen ›Empirische Sozialforschung‹. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, München 2004; zur Psychologie in Westdeutschland vgl. H. E. Lück u. a., Sozialgeschichte der Psychologie, Opladen 1987, S. 141–224.

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Sozialforschung entscheidende Impulse. Eindeutig stand diese dritte Phase – die ersten drei Jahrzehnte der Nachkriegszeit  – gesellschaftspolitisch im Zeichen von drei grundlegenden Prozessen: dem spektakulären Anstieg des Massenkonsums, dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der Entwicklung der neuen parlamentarischen Demokratie.52 Neben den Sozialverwaltungen waren es jetzt Industrieunternehmen, Interessenverbände und politische Organisationen, die die Vorteile empirischer Sozialforschung für sich zu nutzen suchten. Waren bislang vor allem die sogenannten »Randgruppen« Fürsorgezöglinge, psychisch Kranke, Arme und Asoziale mit den Mitteln empirischer Sozialforschung untersucht und definiert worden, so weitete sich nun auch sozial das Beobachtungsfeld Wahlbürger und Konsumenten, Jugendliche und Rentner, Partei- und Gewerkschaftsmitglieder wurden Objekte von Untersuchungen, die immer häufiger von den für sie zuständigen Institutionen und Organisationen in Auftrag gegeben wurden. »Planung« wurde zu einem neuen Leitbegriff angesichts hoher Verteilungsmargen in der Politik. Politische Bemühungen um die Durchsetzung »sozialer Bürgerrechte« fanden in den Sozialwissenschaften ihre »natürlichen« Bundesgenossen. Letztere errangen dabei einen festen Platz in den institutionellen Arrangements des »demokratischen Klassenkampfes«, die alle mehr oder weniger erfolgreich dazu beitrugen, soziale Konflikte zu entschärfen bzw. zu sozialplanerischen »Restproblemen« umzuwandeln.53 Die Modernisierungstheorie avancierte nach 1945 zu einer Art lingua franca anwendungsorientierter Humanwissenschaftler im Westen und diente als ideo­logische Klammer im Kalten Krieg und im politisch-ideologischen Wettlauf um die Gunst der dekolonisierten »Dritten Welt«.54 Vor allem in den fünf­ziger Jahren überlappten sich die Diskurskoalitionen, die den Konstellationen des social engineering und der Modernisierung zugrunde lagen, je nach den Kräfteverhältnissen vor Ort. In der Bundesrepublik verschwand trotz des Zusammenbruchs des NS-Regimes und der Beteiligung von Humanwissenschaftlern an den Verbrechen des Regimes der Denkstil gemeinschaftszentrier-

52 Die Literatur zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaats nach 1945 ist kaum noch zu über­ blicken. Grundlegend: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 11 Bde., Baden-Baden 2001–2008; H. G. Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998; H. G.  Hockerts, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2010; Ältere Studien s. M. G. Schmidt, Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1988; die theoretischen Deutungsmuster und politischen Grund­probleme beleuchtet R. Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, Stuttgart 1992. 53 Vgl. Dahrendorf, Konflikt, S. 161–176. 54 E. Latham, Modernization as Ideology. American Social Science and ›Nation-building‹ in the Kennedy Era. Chapel Hill 2000; D. C. Engerman (Hg.), Staging Growth. Modernization, Development, and the Global Cold War, Amherst, MA 2003.

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ter Sozialplanung und exkludierender Sozialpolitik keineswegs sofort. Neuere Konzepte und andere Akteure setzten sich hier vielfach erst in den sechziger Jahren durch. Am Ende dieser spektakulären Wachstumsphase war die empirische Sozialforschung zu einem weithin geläufigen Medium der Selbstbeobachtung und der Thematisierung von Gesellschaft und Staat geworden. Damit trat die »Verwissenschaftlichung« des Sozialen aber auch in eine neue Phase ein. Der lange Prozess »primärer« Verwissenschaftlichung (Beck) – das Vordringen der Humanwissenschaften in fremde Sozialwelten – kam weitgehend zum Abschluss, die sozialwissenschaftliche Beobachtung und Erforschung traf immer häufiger auf die Spuren und Folgen früherer humanwissenschaftlicher Interventionen. Der Streit sozialwissenschaftlicher Experten, die Kultur der Gutachten und Gegengutachten markieren nach den Befunden soziologischer Selbstbeobachtung den Eintritt in eine neue Phase »entzauberter Wissenschaft«. Dies scheint der Punkt zu sein, an dem wir heute stehen. Denn rasch erwiesen sich die sozialplanerischen Versprechungen via soziologischer Aufklärung, Gesellschaft transparenter, konfliktfreier und gerechter zu gestalten, eine »wissenschaftliche« Politik zu betreiben, als Illusionen, die an den Grenzen sozialstaatlicher Gestaltungsspielräume, den Interessenkollisionen betroffener sozialer Gruppen sowie der Beharrungskraft etablierter Strukturen scheiterten. Generell gilt, dass nach dem Ende der langen Phase wirtschaftlichen Wachstums deutlich wurde, dass sowohl sozialwissenschaftliche Forschergruppen wie die wissenschaftlich aus­ gebildeten Sozialexperten die Gestaltungskraft und Realitätstüchtigkeit ihres wissenschaftlichen Wissens überschätzt hatten. Therapiezeitalter Veränderungen der wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen legen nahe, die Jahrzehnte nach 1970 als Beginn einer neuen Phase im Progress der »Verwissenschaftlichung« anzusehen. Die Krisen und Unsicherheiten »nach dem Boom« entzogen dem Modernisierungsmodell Plausibilität und Finanzierbarkeit. Die Kritik an den sozialtechnokratischen Planungsfantasien brachte Intellektuelle, soziale Bewegungen und humanwissenschaftliche Gegenexperten in neuen Diskurskoalitionen zusammen. Ausschlaggebend für die Verschiebungen waren aber sicherlich die Veränderungen, die im Bereich der sozialen Dienste und der Organisation von Wohlfahrtsleistungen insgesamt zu beobachten waren. Sparzwang angesichts steigender Haushaltsdefizite und neoliberale Kritik am Wohlfahrtsstaat führten dazu, dass der »Umbau« der Wohlfahrtsaufgaben die internationale sozialpolitische Agenda seit den 1980er Jahren prägte. Jetzt erst setzte sich das therapeutische Interventionsmodell, das sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in bescheidenem Umfang an den Rändern des Wohlfahrtsstaats entwickelt hatte, in traditionellen Arbeitsfeldern des Wohlfahrtsstaates wie auch in vielen anderen 32

Lebensbereichen durch.55 Es färbte auch auf andere Bereiche wie die Arbeitswelt ab und drang vor allem in die Gestaltung der Alltagswelten vor.56 Für die zeithistorische Forschung wichtig, sich auch die Ambivalenzen gegenwärtiger Entwicklungen vor Augen zu führen, wenn es darum geht, die säkulare Entwicklungsdynamik zu rekonstruieren, deren »Ende« zweifellos noch nicht abzusehen ist.

III. Verbindungen und Rückkoppelungen Dieser knappe Überblick über die Entwicklungstendenzen hat bereits erkennen lassen, dass eine historische Analyse von »Verwissenschaftlichungsprozessen« mehr ist als die Wissenschaftsgeschichte einzelner humanwissenschaftlicher Disziplinen oder ihrer jeweiligen Anwendungsfelder. Es ist bereits deutlich geworden, dass dieses Thema aufs engste mit der Geschichte des Wohlfahrtswesens und des Sozialstaats verknüpft ist. Seine Erforschung berührt darüber hinaus weitere Basisprozesse gesamtgesellschaftlicher Reichweite. Hier sind insbesondere jene Phänomene zu nennen, die man den Prozessbegriffen Bürokra­tisierung, Professionalisierung, Nationenbildung, Säkularisierung und Sozialdisziplinierung zuordnen kann. Alle Begriffe stehen in einem mehr oder weniger engen Zusammenhang mit Theorien von »Modernisierung« bzw. der »Moderne«.57 Nun sind Erklärungsanspruch und Deutungsansatz dieser Begriffe leider nicht auf umgrenzte gesellschaftliche Teilbereiche, etwa bestimmte Organisationen und Berufsgruppen begrenzbar, sondern sie unterstellen langfristige, sozial weit streuende und vielfältig wirksame Basisprozesse. Auf sie ist bereits bei der Konstruktion der unterschiedlichen Entwicklungsphasen von »Verwissenschaftlichung« eher beiläufig Bezug genommen worden, so dass es angebracht erscheint, noch einmal präziser die grundlegenden Annahmen über Zusammenhänge und Abhängigkeiten zu formulieren, die dabei unterstellt worden sind. Faktisch muss, wer von »Verwissenschaftlichung des Sozialen« spricht, bei aller Skepsis gegenüber makrosoziologischen Großtheorien, sich auf einige 55 Das betrifft natürlich vor allem die Geschichte der Psychoanalyse sowie der verschiedenen Schulen der humanistischen Psychologie. Wiederum führt deren Erfolgsgeschichte nach 1945 im Wesentlichen über die Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Vgl. hierzu Castel u. a. Zu Frankreich: S. Moscovici, La psychanalyse, son image, son public, Paris 1976. 56 S. Maasen u. a. (Hg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den »langen« Siebzigern, Bielefeld 2011; M. Tändler, Therapeutische Vergemeinschaftung. Demokratisierung, Emanzipation und Emotionalisierung in der ›Gruppe‹, 1963–1976, in: ders. u. U. Jensen (Hg.), Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 144–154; S. Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014. 57 C. Dipper, Moderne, Version 1.0, Dokupedia-Zeitgeschichte, 25.8.2010; vgl. auch den Beitrag »Ordnungsmuster der Hochmoderne« in diesem Band, S. 133–154.

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der Kontroversen um zentrale Leitideen einer gesellschaftsgeschichtlichen Gesamtdeutung der Zeitgeschichte einlassen. Die folgenden Bemerkungen skizzieren erste Überlegungen zu diesem weiten Forschungsfeld und zu den theoretischen Schwierigkeiten bei der forschungsleitenden Modellbildung. Bürokratisierung und Professionalisierung Da ist zunächst einmal der Prozess der Bürokratisierung zu betrachten. Der Ausbau des modernen Verwaltungsstaates ist im 19. Jahrhundert rascher vorangeschritten als die »Verwissenschaftlichungsprozesse«, doch bestärkten sich von Anfang an beide Prozesse wechselseitig. Vor allem die Ausdehnung staatlicher Regelungskompetenz auf Gesundheit, schließlich Wohlfahrt und vor allem in den sozialistischen Staaten auf die Wirtschaft vollzog sich in direktem Zusammenspiel mit der Entwicklung anwendungsfähigen Sozialwissens. Die Humanwissenschaften fanden in den öffentlichen Verwaltungen ihren solventesten und treuesten Kunden, der neue Arbeitsplätze für ihr Expertenwissen schuf, ohne die ihre Forschungsaktivitäten kaum in die skizzierten Richtungen gegangen wären. Die Skizze der Entwicklungsphasen im vorigen Abschnitt hat gezeigt, dass dabei typisch verwaltungskonforme Anforderungsprofile und Effizienzkriterien die anwendungsorientierten Humanwissenschaften beeinflusst haben und umgekehrt die Problemsicht der neuen Experten Einfluss auf die Gestaltung der neuen öffentlichen Dienstleistungen gewann. So ergeben sich direkte Berührungspunkte zum ebenfalls weiter gesteckten Forschungsfeld zu den »bürgerlichen Berufen« oder den angelsächsischen »professions«.58 Das im 19. Jahrhundert auf dem europäischen Kontinent so erfolgreiche Modell der »Amtsprofession« hat als Leitbild und Organisationsmodell die Strategien beeinflusst, mit denen die unterschiedlichen neuen bürgerlichen Berufe, die sich auf der Grundlage des neuen humanwissenschaftlichen Wissens im 20. Jahrhundert entwickelten, Ansehen, Einfluss und Auskommen in der Gesellschaft zu gewinnen suchten. Als genereller Trend lässt sich festhalten: Für die Mehrheit der neuen »Experten«, seien es nun Sozialarbeiter, Psychologen, Soziologen oder Psychiater wurde nicht so sehr das marktorientierte Modell der »freien Berufe« berufsprägend, sondern das staatszentrierte Konzept des »öffentlichen Dienstes«. Berufspolitische sowie wissenschaftlich-ideologische Stellungnahmen und interne Kontroversen dieser Berufsgruppen sind vor dem Hintergrund der Professionalisierungswege zu sehen. Die hier eingenommene Perspektive interessiert sich vor allem für die Wirkungen, die sich aus dem 58 H. Siegrist (Hg.), Bürgerliche Berufe, Göttingen 1988; dort v. a. die Einleitung: Die Professionen und das Bürgertum, S. 11–48; A. Abbott, The System of Professions. An Essay on the Division of Expert Labor, Chicago 1988; zur Kritik am Konzept der »Profession« s. C. Charle, Intellectuels, Bildungsbürgertum et professions au XIXe siècle, in: Actes de la recherche en sciences sociales, Jg. 106–07, 1995, S. 85–95.

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Zusammentreffen der Perspektiven von professionellen Anwendern und den Sichtweisen, Absichten und Erkenntnisinteressen von Wissenschaftlern ergeben. Sie fragt also, ob und gegebenenfalls wie »Professionalität« und »Wissenschaft« aufeinander bezogen sind. Leider haben sich die meisten der historischen Studien über Professionen auf die sozialen und politischen Aspekte der Berufsfelder beschränkt; Untersuchungen zu den vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den beiden Polen »Wissenschaft« und »Berufspraxis« sind noch seltener. Zwei Aspekte möchte ich nur in Erinnerung rufen: Zum einen hat das soziologische Modell der »profession«, so wie es von Parsons und seinen Nachfolgern entwickelt wurde, als Norm und Leitbild für spätere »Professionalisierungsstrategien« von Soziologen, Psychologen und Sozialarbeitern bis in die Gegenwart gewirkt. Als »self-fulfilling prophecy« hat diese Theorie selbst Geschichte gemacht.59 Wissenschaftsbezug wurde zu einem wichtigen Einsatz im Kampf um die Durchsetzung von Bildungstiteln auf den Arbeitsmärkten. Solange ihre gesellschaftliche Rolle und praktische Effektivität unumstritten waren, lieferten die Humanwissenschaften interessierten Berufsgruppen eine solide Legitimationsgrundlage für Lohnforderungen und Statusverbesserungen. Das hat den de­ klamatorischen Wissenschaftsbezug vieler Berufsgruppen zweifellos gesteigert, im Gegenzug aber auch die Gegenstandskonstruktionen und Methoden der beteiligten Wissenschaften verändert. Neben dieser Anpassungsdynamik darf jedoch nicht die autonome Entwicklungsdynamik der Wissenschaften vernachlässigt werden, die sich nach wie vor in universitären Kontexten entwickeln. Dies kann sie in ein deutliches Spannungsverhältnis zur Orientierung der Professionen bringen, die zunächst einmal an stabilen Verwertungsbedingungen für die eigene Berufsqualifikation interessiert sind. Vor allem die Tendenz der Professionen, sich durch Abschließungen vor externer Konkurrenz zu schützen, steht in einem deutlichen Spannungsverhältnis zur Wissenschaftsdynamik. Das mag auch erklären, warum im Verlauf dieses Jahrhunderts auch das »bürgerlichegalitäre Laienmodell«60 immer wieder als Gegenbewegung zu Professionalisierungsbestrebungen zu beobachten ist. Es zieht seine Kraft nicht nur aus einer grundsätzlichen Wissenschaftskritik, sondern auch aus den Weiterentwicklungen der Wissenschaften und der immer größer werdenden Verbreitung wissenschaftlicher Informationen. Er setzt tendenziell die ständischen bzw. korporativen Tendenzen der Fachberufe unter Druck. Der letztgenannte Prozess verweist auf den Hintergrund der Entzauberung von Wissenschaft in der vierten Phase,

59 Dies ist ein erstes Beispiel für jene »Theorieeffekte«, die auch konzeptionell den Zeithistoriker herausfordern; vgl. J. Heilbron, La »professionnalisation« comme concept sociologique et comme stratégie des sociologues, in: Historiens et sociologues aujourd’hui. Journées d’Etudes annuelles de la Société Française de Sociologie Université de Lille 1, 14–15 juin 1984, Paris 1986, S. 61–73. 60 Siegrist, Berufe, S. 23.

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hinter der wiederum der spektakuläre Ausbau des Bildungssystems in den letzten vier Jahrzehnten unseres Jahrhunderts zu erkennen ist. Die Professionalisierungsforschung hat zudem deutlich gemacht, dass diejenigen, die im Namen der Humanwissenschaften neue Berufsfelder erfanden bzw. alte Tätigkeitsfelder umwandelten, eine ganz wesentliche Rolle für den Umfang und die Ausgestaltung des Wohlfahrtstaates übernommen haben. Neben dem Expansionsdrang der Verwaltung im engeren Sinn sorgten die Arbeitsmarktstrategien der neuen »Experten« seit der zweiten Phase für beständigen Druck hin zur Ausweitung sozialer Dienstleistungen, therapeutischer Angebote oder sozialpolitischer Kontrollen.61 Die Kluft zwischen Ausbildung und Berufspraxis, zwischen wissenschaftsorientierter Selbstdarstellung und Deutungsmustern des Berufsalltags ist jedenfalls nach den Einsichten der Professionalisierungsforschung in Rechnung zu stellen, wenn man sich der nur wenig erforschten Frage zuwendet, wie das erlernte wissenschaftliche Wissen, also methodische Verfahren, Fachbegriffe und Theorien in der Berufswelt zur Anwendung kamen. Nationalisierung Schließlich sind die Verwissenschaftlichungsprozesse des Sozialen aufs engste mit der »Nationalisierung« von Gesellschaften verknüpft.62 Das gilt insbesondere für die Entstehungs- und Etablierungsphase, also den Zeitraum zwischen 1850 und 1950, aber selbst der Aufschwung der Sozialwissenschaften in den Nachkriegsjahrzehnten vollzog sich in allen europäischen Ländern im Rahmen von Politikmodellen, die alte Partizipationsversprechungen und neue Integrationsleistungen des Nationalstaats einzulösen suchten. Es ist wohl zu früh, aus gesicherter historischer Erkenntnis darüber zu urteilen, ob sich seitdem der enge Nexus zwischen »Nation« und »Wissenschaft« aufgelöst hat. Zweifellos stellt sich das Vordringen wissenschaftlicher Rationalität bei der Gestaltung sozialer Lebensbedingungen als ein umfassender Prozess dar, der die Prozesse von Nationenbildung überwölbt. In der Konkurrenzsituation der europäischen Staaten blieb die Anwendung humanwissenschaftlichen Wissens aufs engste mit den nationalstaatlichen Integrationsprozessen und nationalen Politikmodellen verbunden. Die Akteure waren nicht nur in ihrer Mehrzahl Staatsbedienstete, sondern auch eifrige Vertreter nationaler Interessen. Wissenschaftshisto61 G. André, Die Professionalisierung in der öffentlichen Sozial- und Altenfürsorge zwischen 1933 und 1989, Diss. Konstanz 1993; Exemplarisch scheint die erfolgreiche Strategie arbeitsloser Psychologie-Absolventen in den Vereinigten Staaten der dreißiger Jahre, neue Arbeitsfelder zu entdecken und in der politisch-sozialen Auseinandersetzung durchzusetzen. Vgl. L. J. Finison, Unemployment, Politics, and the History of Organized Psychology, in: American Psychologist, Jg. 31, 1976, S. 747–755 und Jg. 33, 1978, S. 471–477. 62 D. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; G. Noiriel, État, nation et immigration, Paris 2001.

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risch ist dies deshalb von Bedeutung, weil die Berufung auf die Interessen der »Nation« im Fall der neuen Humanwissenschaften mehr als eine zeittypische Begleitmusik war, die bisweilen besonders laut und schrill wurde, im Übrigen aber ein weitgehend äußerliches Begleitphänomen bei der Entwicklung einer fachspezifischen »wissenschaftlichen Vernunft« geblieben wäre. Innere Staatsbildung und »nation building« haben auch die kategorialen Grundmuster geprägt, in denen die angewandten Sozialwissenschaften ihre Gegenstände konstruiert und ihre Problemlösungen entwickelt haben. Hier sei verwiesen auf die immer bereits zirkuläre Konstruktion nationaler Durchschnittswerte und nationaler Sozialkategorien als den selbstverständlichen Bezugspunkten von Sozialpolitik, Sozialstatistik und Sozialforschung, aber auch der lange Zeit zu beobachtende Vorrang dieser nationalen Durchschnittswerte bei internationalen Vergleichen. Die »Nation« als elementare Form sozialer Kategorienbildung und wichtigste Zwischenstufe zur Formulierung universeller »Gesetzmäßigkeiten« stellt jedenfalls eine jener zählebigen Selbstverständlichkeiten dar, deren Existenz nur aus der Kombination der Deutungsmacht und der Realität von »Nationalstaaten« zu verstehen ist. Der Problemhorizont nationaler Politik lenkte die Erkenntnisinteressen der Wissenschaftler und bildete vor allem die Grenze ihrer universellen Wirkungsabsichten. Das allgemeine Gute, das sie praktisch zu befördern suchten, war selbstverständlich nationenbezogen, ja nationalspezifisch. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass die im Namen dieses nationalen Grundkonsenses geführten beiden Weltkriege Zeiten waren, in denen das Engagement der anwendungsorientierten Wissenschaftler besonders hoch und die Fortschritte in der gesellschaftlichen Nutzung ihrer Fähigkeiten besonders groß waren. Wissenschaftsglauben Gleichzeitig ist festzustellen, dass die »Verwissenschaftlichungsprozesse« des Sozialen nicht nur über die Verknüpfung mit dem »Nationalen«, sondern auch dann, wenn sie sich allein auf Kompetenzansprüche von »Wissenschaft« gründeten, mit säkularisierten Glaubensphänomenen verknüpft waren. Das langsame Absterben religiöser und moralischer Werthorizonte bei der Bewertung sozialwissenschaftlicher Tatsachenbehauptungen hat die Anwendung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse in komplexer Weise begleitet. Dabei ist zu beobachten, dass die Wissenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Zukunftshoffnungen, Glückserwartungen und Sicherheitswünsche beerbt haben, die vorher religiös artikuliert worden sind. Hinter dem pragmatisch-zweckrationalen Einsatz humanwissenschaftlicher Erkenntnisse als Technik sozialer Reform und Mittel der Sozialverwaltung darf die Funktion der Humanwissenschaften als Religionsersatz und Gegenreligion nicht vergessen werden. In der doppelten Figur, Verheißung eines irdischen Paradieses und Schaffung neuer Gewissheiten, haftete dem konkreten Einsatz der Wissenschaften auch immer 37

ein zusätzliches symbolisches Kapital an, das vor allem außerhalb des Wissenschaftsbetriebs in politischen Einfluss und Macht umgewandelt werden konnte. Man denke nur kurz an die »wissenschaftliche Prognostik« als modernes Pendant zur Prophetie. Dieser fundamental religiöse Charakter, der den Anwendungen der Humanwissenschaften zumindest solange anhaften musste, wie sie in die politisch-religiösen Menschen- und Weltbilder ihrer Benutzer und Klienten affirmativ eingebunden waren, wird deutlich, wenn man seine manipulative Nutzung – im Sinne der politischen Ideologisierung – durch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts bedenkt oder die missionarischen Hoffnungen beachtet, die Sozialreformer und Sozialwissenschaftler in den westlichen Demokratien mit den neuen Erkenntnismitteln und Einsichten der sozialwissenschaftlichen Vernunft verknüpften.63 Sozial- und Selbstdisziplinierung Es liegt auf der Hand, dass die hier zur Diskussion gestellte Zusammenschau von »Verwissenschaftlichungsprozessen« einer zivilisationshistorischen Perspek­ tive folgt. Sie fragt nach den Veränderungen sozialer Verhaltensmuster zwischen den Polen Fremd- und Selbststeuerung und den Polen Habitus und Selbstreflexion, aber auch nach dem Wandel von Verhaltenscodes und Selbstthematisierungen unter dem Einfluss wissenschaftlichen Wissens. Eher fanden sie Beachtung bei Forschern, die das Konzept der »Sozialdisziplinierung« aus der Frühen Neuzeit in die Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts übertrugen. Vor allem Foucault hat eine Perspektive entwickelt, die direkt die Mikrogeschichten von wissenschaftsgestützten Machtarrangements mit den Makroebenen intellektueller Rahmendiskurse und den Grundlagen zeitgenössischer Wissensformen, also klassischen Themen der Ideengeschichte und der Philosophiegeschichte verknüpft.64 Diskurs, Dispositiv und Macht sind bei ihm Schlüsselkonzepte, mit denen die vielfältigen Beiträge der Humanwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert besser verstanden und analysiert werden können. Die Macht durch Zähmungsleistungen ist jedoch, wie Foucault deutlich sieht, in den westlichen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts grundsätzlich begrenzt durch das Recht.65 Diese Regelungsform sichert immer wieder subjektive

63 Gerade für die in der dritten Phase so einflussreich gewordenen nordamerikanischen Sozialwissenschaften ist dieser Zusammenhang wieder von großer Bedeutung geworden. Vgl. B. Pie, Wissenschaft und säkulare Mission. Amerikanische Sozialwissenschaften im politischen Sendungsbewußtsein der USA und im geistigen Aufbau der Bundesrepublik, Stuttgart 1990. 64 M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt 1976; ders., Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Frankfurt a. M. 1980. 65 J. Goldstein, Framing Discipline with Law. Problems and Promises of the Liberal State, in: AHR, Jg. 98, 1993, S. 364–375.

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Rechte und individuelle Freiheit gegen den Zugriff wissensgestützter, rationaler Disziplinierungsapparate. Entsprechend relevanter sind die vielfältigen Formen der Selbstregulierung und -disziplinierung geworden, denen der Historiker des 20. Jahrhunderts begegnet. Mit beiden Strategien der Verhaltenssteuerung war und ist Verwissenschaftlichung eng verbunden, weil Humanwissenschaftler Techniken und Arrangements ersonnen haben und weiter ersinnen, wie Selbstoder Fremdkontrolle zu optimieren, Verhalten durch äußeren Druck bzw. Stimuli oder inneren Zwang und Selbstmobilisierung verändert werden kann. Bei all den hier skizzierten Problemformulierungen kehrt immer wieder die Fortschrittsproblematik zurück, die etwa in Konzepten wie »Modernisierung« oder »Moderne« mitschwingt. In den Auseinandersetzungen um die Rolle der Wissenschaften im Nationalsozialismus wurde z. B. deutlich, dass es häufig um mehr und anderes ging als die präzise Bestimmung von Beteiligungsformen und Wirksamkeiten. Die Polarisierung zwischen Dämonisierung und Verharmlosung der Wissenschaften zeigt an, dass bei diesem Thema die beteiligten Historiker gleichzeitig Stellung beziehen zu ihrem wichtigsten Arbeitsinstrument, der wissenschaftlichen Vernunft. Die sozialgeschichtliche Erforschung dieses Themas erweist sich bei näherem Hinsehen als eine spezifische Form historischer Selbstreflexion sozialwissenschaftlicher Vernunft. Der sozial- oder gesellschaftshistorische Ansatz setzt stillschweigend voraus, dass wissenschaftliche Vernunft eine ebenso kontingente und vergängliche Errungenschaft darstellt wie die Sozialversicherung oder die Menschenrechte. Die Forschungsdiskussion über die Humanwissenschaften im NS-Regime haben meines Erachtens aber auch exemplarisch gezeigt, dass jene Ansätze bislang am erfolgversprechendsten den Widersprüchen Rechnung tragen konnten, die von der grundlegenden Offenheit, ja, Ambivalenz in der gesellschaftlichen Entwicklung und Nutzung wissenschaftlicher Rationalität ausgehen. Bezeichnenderweise sind die wichtigen Impulse zur Erforschung der nationalsozialistischen Sozialpolitik von jenen Untersuchungen ausgegangen, die die Verbindungen herstellten zwischen autoritären Tendenzen in den Verwaltungen des Wohlfahrtsstaates, den politischen Zielen und Strukturen des nationalsozialistischen Regimes und den wissenschaftsinternen Voraussetzungen für die Integration der Humanwissenschaften in eine rassistische Vernichtungspolitik. Sie wurde so als Kehrseite eines autoritären Wohlfahrtsstaates erkennbar, der auf modernste Sozialtechniken zurückgriff, die ihm ein Teil der Humanwissenschaften zur Verfügung stellte.66

66 G. Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauen­ politik, Opladen 1986; P. Weingart u. a., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 367–561; D. J. K. Peukert, Die Genesis der Endlösung aus dem Geiste der Wissenschaft, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins – Chance und Gefährdung?, Frankfurt a. M. 1988, S. 24–48. Vgl. auch die Beiträge in F. Bajohr u. a. (Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Hamburg 1991.

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IV. Von der Gesellschafts- zur Wissensgeschichte? Methodische und theoretische Schlussfolgerungen Dieser Überblick zu Ausbreitung und Ursachen des Phänomens hat hoffentlich deutlich gemacht, dass es sich um mehr handelt als um die Geschichte einzelner anwendungsorientierter Humanwissenschaften und kleiner, ja, marginaler Gruppen, die von solchen »Verwissenschaftlichungseffekten« betroffen sind. Betrachtet man die Phänomene im Zusammenhang, so stellen sich dem Zeithistoriker einige Fragen hinsichtlich seiner eigenen Konzepte und Methoden. Mir erscheinen drei Problemfelder besonders wichtig: Das erste Problemfeld betrifft die Zäsuren, die sinnvolle Eckdaten für sozialgeschichtliche Forschungen im Bereich der Zeitgeschichte anbieten. Nach dem bisher Entwickelten liegt es nahe, als kleinste Zeiteinheit einer Zeitgeschichte, die gesellschaftsgeschichtlichen Fragestellungen folgt, ein langes 20. Jahrhundert zu wählen, dessen Anfänge in den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und intellektuellen Entwicklungsschüben und Aufbrüchen der letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts liegen. Alle wesentlichen Basisprozesse, die bei unserem Thema in den Blick gelangten, lassen sich in diese Phase zurückverfolgen. Erst wenn man diese Konstitutionsphase einbezieht, werden die vielfältigen Verschränkungen deutlich, die vor allem die Entwicklungsdynamik späterer Phasen geprägt haben. Damit wiederholt sich bei der Betrachtung dieses Aspekts nur, was bereits in zahlreichen anderen Forschungsfeldern der Sozialgeschichte, etwa den Forschungen zum Wohlfahrtswesen oder zur Modernisierung des Alltagslebens bzw. zur Erfahrungsgeschichte erkennbar geworden ist: Hinter den scharfen Brüchen der politisch-militärischen Ereignisgeschichte tauchen Kontinuitäten auf, die auf andere Zeitspannen und Entwicklungstempi verweisen. Die neueren zeitgeschichtlichen Forschungen zur Sozial- und Alltagsgeschichte in den vier Jahrzehnten zwischen 1920 und 1960 haben die Aussagekraft der traditionellen Eckdaten der deutschen Zeitgeschichte 1933, 1945, 1949 relativiert.67 Es geht vor allem darum, erneut in die Diskussion darüber einzutreten, wann die unterschiedlichen Entwicklungstempi gesellschaftlicher Handlungsfelder synchronisiert worden sind, ob die politischen Ereignisse bzw. gesellschaftliche Umbrüche eine derartige Durchschlagskraft entwickelt haben, dass für gewisse Zeiten die Eigenzeitlichkeit anderer Bereiche unterbrochen worden ist. Es ist zum Beispiel nicht von der Hand zu weisen, dass die »Verwissenschaftlichung« des Sozialen ganz wichtige Beschleunigungseffekte und Richtungsimpulse durch die beiden Weltkriege erhalten hat. Der Erste Weltkrieg spielte eine ganz wesentliche Rolle für die Durchsetzung der neuen Humanwissenschaften auf dem Feld der Wohlfahrtspflege, der leistungsbezogenen Ausleseverfahren sowie als 67 Vgl. Doering-Manteuffel, Zeitgeschichte, S. 24–27; Erker, Zeitgeschichte, S. 217–221.

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Grundlagenwissen für die gesamte Sozialpolitik.68 Der Zweite Weltkrieg wirkte in Deutschland gewissermaßen in doppelter Weise, zunächst indem er in der Vorbereitungsphase und dann während seines Verlaufs Nachfrage und Angebot auf dem Gebiet angewandter Humanwissenschaften steigerte, dann aber auch, als er nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes den Import der angewandten amerikanischen Humanwissenschaften förderte, die ihrerseits durch die erfolgreiche Beteiligung am alliierten Sieg enorm an gesellschaftlicher Anerkennung und lebensweltlicher Anwendung gewonnen hatten. Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts hat aufgehört, ein esoterisches Spezialgebiet fern der allgemeinen Geschichte zu sein. Konzeptionell und methodisch ist ein Brückenschlag zwischen dieser Disziplin und der Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte dringend nötig. Methodisch bedeuten diese gegenüber früheren Gesellschaften komplexeren und pluraleren Formen der Selbstthematisierung gerade für eine moderne Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts zunächst einmal, dass sie ihre hermeneutischen Traditionen weiterentwickeln und stärker die Begriffs- und Ideengeschichte in die Sozialgeschichte einbeziehen muss. Gerade für die Fortsetzung der Begriffsgeschichte ins lange 20. Jahrhundert bietet die »Verwissenschaftlichung« des Sozialen ein weites Untersuchungsfeld. Hier wären wohl am ehesten jene Übersetzungen und Umdeutungen von Interesse, die mit der alltagspraktischen Verwendung humanwissenschaftlicher Konzepte auf dem langen Weg aus den Forschungszusammenhängen ihrer wissenschaftlichen Entstehungsorte hin zu ihrem Gebrauch in den unterschiedlichen Kontexten anderer Wissenschaften, dem Sprachgebrauch der Sozialexperten und Sozialverwaltern, schließlich der öffentlichen Meinung und dem privaten Alltagsgespräch verbunden sind. Die subtilen semantischen Bedeutungswechsel von »Normalität«69 von der Beschreibung einer statistischen Verteilung zur Konstruktion von Durchschnittstypen bis hin zur Normierung abweichenden Verhaltens lassen die Spuren dieser Einprägungsarbeit erkennen. Auch die ambivalente, in ihrer alltagspraktischen Tiefenwirkung noch gar nicht ausgelotete Geschichte von wissenschaftlichen Konzepten wie »Intelligenz« oder »Leistung« liefern weitere prominente Beispiele für eine solche historische Semantik. Ein zweites Beispiel liefern die »Theorieeffekte«70 Damit meine ich mit Bourdieu jene sozialen Sachverhalte und Handlungsfelder, die durch die Problemdefinitionen sozialwissenschaftlicher Beobachter entstanden oder geformt worden sind. Gerade ihre Verbindung mit den Verwaltern der sozialen Welt hat anwendungsorientierte Sozialwissenschaftler immer wieder das Ihre dazu beitragen lassen, sozialen Gruppen zu dauerhafter 68 Zur Therapie im Ersten Weltkrieg: M. Stone, Shellshock and the Psychologists, in: W. F. Byrnum u. a. (Hg.), The Anatomy of Madness, Bd. 2, London 1985, S. 243–252; M. Nonne, Therapeutische Erfahrungen an den Kriegsneurosen in den Jahren 1914–1918, in: O. von Schjerning (Hg.), Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918, Bd. 4: K. Bonhoeffer (Hg.), Geistes- u. Nervenkrankheiten, Leipzig 1922–1934, S. 102–121. 69 J. Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997. 70 P. Bourdieu, Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la leçon, Frankfurt a. M. 1985, S. 42.

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Existenz zu verhelfen, Stigmata aufzulösen oder zu verfestigen, vor allem jedoch Definitionen für jene zahlreichen Grenzlinien vorzuschlagen, die der Wohlfahrtsstaat im sozialen Raum gezogen hat. Solche »Theorieeffekte« springen ins Auge, wenn man an die Durchsetzung von Fragen zu Ethnizität und Herkunft71 in Volkszählungen und amtlichen Statistiken oder die Kontroversen um Armutsdefinitionen72 denkt. Der weitestreichende »Theorieeffekt« ist natürlich im marxistischen Klassenbegriff zu beobachten. Die Existenzweise der »Arbeiterklasse« in Deutschland ist ohne die theorieorientierte politische Organisationsarbeit der marxistischen Arbeiterbewegung, aber auch ohne die Grenzziehungen und Einprägungen eines so nicht gewollten, dann aber angeeigneten Wohlfahrtsstaates nicht zu verstehen. Vor allem in den sozialistischen Ländern diente die Marxsche Theorie dazu, eindeutige soziale Großgliederungen in einer vom Staat mobilisierten Gesellschaft zu schaffen, in der fließende Übergänge zwischen sozialen Lagen vorherrschten und die Entwicklungsdynamik ältere soziale Bindungskräfte aufgelöst hatte. Die »Arbeiterklasse« unter Stalin und seinen Nachfolgern ist also ebenso sehr ein Stück Ideen- oder Wissenschafts-, wie Wirtschafts- und Politikgeschichte.73 Die Herstellung bzw. Stabilisierung sozialer Identitätsmuster durch den Staat und seine Verwaltungsinstanzen mit Hilfe angewandter Sozialforschung hat in jedem Fall im 20. Jahrhundert ein solches Ausmaß erreicht, dass die durch soziale Emanzipationsbewegungen geschaffenen Identitätsmuster deutlich an Prägekraft und Bedeutung verloren haben. Fürsorgeempfänger, Jugendliche, Rentner – solche Gruppen, die ihre Existenz im Wesentlichen den Anspruchsdefinitionen und Bearbeitungsroutinen des Wohlfahrtsstaates verdanken, haben sich zu Kollektiven entwickelt, die sozialgeschichtlich realer geworden sind als die uns so vertrauten Klassen des 19. Jahrhunderts. Am weitreichendsten ist der Vorschlag, Wissensgeschichte als integratives Konzept für eine solche Perspektive zu wählen und damit als Nachfolgerin der Gesellschaftsgeschichte zu etablieren.74 Manches spricht dafür: die beliebte Gliederung der gesellschaftsgeschichtlichen Teilbereiche in Form des Viererschemas Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, wie sie nicht zuletzt in den großen Gesamtdarstellungen der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts dominiert, scheint mir völlig unzureichend, um die neuen Konstel71 Brückweh, Menschen, S. 277–318; D. I. Kertzer u. D. Arel (Hg.), Census and Identity. The­ Politics of Race, Ethnicity and Language in National Census, Cambridge 2002. 72 S. Leibfried u. W. Voges (Hg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, Opladen 1991; H. Nowotny, Vom Definieren, vom Lösen und vom Verwalten sozialer Probleme. Der Beitrag der Armutsforschung, in: U. Beck (Hg.), Soziologie und Praxis. Soziale Welt, Sonderband 1, Göttingen 1982, S. 115–134. 73 S. Fitzpatrick, Ascribing Class: The Construction of Social Identity in Soviet Russia, in: JMH, Jg. 65, 1993, S. 745–770. 74 P. Sarrasin, Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 36, 2011, S. 159–172.

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lationen zu erfassen. Die direkte Verzahnung und strukturelle Verkoppelung der Bereiche wird interpretatorisch unterschätzt und in der eigenen Systematik quasi ausgeschlossen. Eine umfassende Geschichte des Wohlfahrtsstaates, seiner Konzepte, Interventionsformen, seiner Klienten und seines Personals muss sich zum Beispiel mit den Wirkungen der fachwissenschaftlichen Kontroversen und Sichtweisen auseinandersetzen. Um dieses »›Gewusel‹ von semiotischen Strukturen, Prozessen und Diskursen«75 geht es der Wissensgeschichte. Sie rückt die Zirkulation des Wissens bzw. der Diskurse in den Mittelpunkt, betont die Prägekraft der vielen sprachlichen und anderen Konstruktionsleistungen für die Aufrechterhaltung und Veränderung der sozialen Welt. Ihr kritisches Potential hat sie bislang aber gerade dort entfalten können, wo das Grundprinzip des Sozialkonstruktivismus auf Widerspruch und Widerstand stieß: im engeren Bereich der Wissenschaftsgeschichte. Die üblichen sozialgeschichtlichen Fragen nach sozialer Herkunft, politischen und sozialen Verbindungen von Intellektuellen oder Experten will sie ersetzen durch Fragen nach ihren Rollen und Funktionen in Wissenssystemen und nach der in ihnen eingeschriebenen Macht der Diskurse. Als Ergänzung kennt sie nur »eine Geschichte der Praktiken«, die in nicht näher bezeichneter Weise von »Aktanten« des Wissens vollzogen werden.76 In dieser starken Version entwirft Wissensgeschichte ein poststrukturalistisches Gesamttableau, dessen Eleganz aber um den Preis weitreichender Ausschließungen errungen wird. Viele der Unterscheidungen, die in der hier vorgestellten Problemskizze relevant waren, drohen zu verschwinden oder als marginal an den Rand der Aufmerksamkeit zu rücken. Dies betrifft zum Beispiel die vielfältigen Transformationen, die vom wissenschaftlichen Wissen zum Meinungswissen (doxa) politischer und anderer Medienöffentlichkeiten oder zum Alltagswissen von Gruppen führen. Auch die Existenz verschwiegener, wenn auch keineswegs diskurs- und wissensfreier Strukturen und Basisprozesse ist für die Wissensgeschichte von Interesse und methodisch bleibt hier eine Öffnung zu sozialgeschichtlichen Perspektiven fruchtbar, wie nicht zuletzt neuere empirische Arbeiten gezeigt haben.77 Die sozial- und politikgeschichtliche Analyse von Herkunft, sozial-ökonomischen Lagen und wirtschaftlichen Interessen von Personen und Gruppen, die zum Beispiel als Akteure in Diskurskoalitionen identifiziert werden können, erscheint als sinnvolle Ergänzung einer wissenshistorischen Perspektive, die aus meiner Sicht großen Gewinn daraus ziehen kann, Ludwiks Flecks Konzept vom »Denkkollektiv«78 weiterzuentwickeln. Sozial- und Wissensordnungen sind zweifellos als dynamisches Feld der Produktion von Wissen ernst zu nehmen. Aber dabei 75 Ebd., S. 164. 76 Ebd., S. 168. 77 Brückweh, Menschen; M. Savage, Identities and Social Change in Britain since 1940. The Politics of Method, Oxford 2010; Bernet, Schizophrenie. 78 L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt a. M. 1980.

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sollte das »Soziale« nicht nur als Produkt dieser Ordnungsmuster, sondern auch als »Störfaktor«, als Ort der Irritation dieser Muster in Rechnung gestellt werden. Jedenfalls sind Sozialität, Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsprozesse, also das Soziale in Bewegung, als Beobachtungsräume neuartiger Konstellationen und emergenter Sozial- und Sinnstrukturen doch zu wichtig, um als Epiphänomene von Wissen kategorisiert zu werden. Sozialgeschichtliche Neugierde kann hier als nützliches Korrektiv wissensgeschichtlicher Genügsamkeit genutzt werden.

V. Webers Diktum von der »Entzauberung der Welt« haben wir eingangs bemüht; seine Irritation über die subjektiven Folgen, »die Veränderungen des geistigen Antlitzes des Menschengeschlechts« wie es bei ihm heißt, mag am Ende stehen. Denn die zeithistorische Beschäftigung mit der Verwissenschaftlichung des Sozialen als eines säkularen Prozesses führt zwangsläufig dahin, die Veränderungen, die Kriminologie, Psychologie und Soziologie in der sozialen Welt hervorgerufen oder mitgestaltet haben, auf einen gemeinsamen Punkt zu beziehen: den Menschen in der Gesellschaft. Nach und nach sind im Zuge seiner Individualisierung immer mehr Bereiche in den Handlungszugriff und Diskussionszusammenhang von Wissenschaften geraten. Nach der Rechtsfähigkeit rückten unsere Entwicklungsfähigkeit, unsere Leistungs- und schließlich unsere Glücksfähigkeit in diesem Jahrhundert unter die fürsorgliche Beobachtung und zuweilen strenge Selbst- bzw. Fremdkontrolle durch ein humanwissenschaftliches Expertenwissen. Wir sind es anders als Max Weber gewohnt, pragmatisch damit zu leben  – haben damit aber vielleicht weniger als er und seine Zeitgenossen die Fähigkeit bewahrt, die grundlegenden kulturellen Entscheidungen und die kleinen und großen sozialen Veränderungen, die mit diesen Arrangements verbunden sind, zu erkennen. Hier vermag der verfremdende Blick des Zeithistorikers vielleicht jene therapeutischen Wirkungen der Selbstaufklärung entfalten, ohne die unsere Berufsarbeit zwangsläufig antiquarisch wird.

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2. Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime1 I. Die intensiven Forschungen der letzten fünfzehn Jahre haben die Frage nach der Relevanz ideengeschichtlicher Erklärungsmodelle für die Analyse von Gesellschaft und Politik der NS-Zeit erneut aufgeworfen. Die Radikalität, mit der Hitler und seine Gefolgsleute ihre zentralen weltanschaulichen Zielvorstellungen wie die »Lösung der Judenfrage« und die »Schaffung von Lebensraum« verfolgt haben, hat zwar frühzeitig ideengeschichtliche Untersuchungen angeregt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit dominierten dabei holistische Ansätze im Stil der älteren Geistesgeschichte, die entweder die vermeintlichen Langzeitwirkungen religiöser und politischer Ideenkonstellationen in der deutschen Geschichte (»Von Luther zu Hitler«) oder aber die kognitiven Folgen von Aufklärung und Französischer Revolution mit den Stichworten Säkularisierung, Traditionsbruch, Demokratisierung und Nationalismus (der Nationalsozialismus als »Krankheitssymptom der Moderne«) als Erklärungskategorien für den »Zivilisationsbruch« des NS-Regimes benutzten.2 Vor allem von politikwissenschaftlicher Seite sind dann genauere Studien über die politische Ideenkonstellation der Zwischenkriegszeit vorgelegt worden, die den Nationalsozialismus in die ideologische Konfrontation zwischen Demokratie, Faschismus und Kommunismus einzuordnen suchten.3 Die bald einsetzenden Kontroversen über Totalitarismus und Faschismus als den zentralen Bezugspunkten ideengeschichtlicher Vergleichsperspektiven haben weitere empirische Studien über lange Zeit eher behindert. Ein Teil der zeithistorischen Forschung hat sich von diesem hochgradig politisierten und mit geschichtsphilosophischen Gesamtdeutungen verknüpften Themenfeld auf begrenztere Fragestellungen zurückgezogen. Daraus 1 Die ursprüngliche Fassung dieses Aufsatzes erschien 2000; die Literaturhinweise sind aktualisiert worden, auf eine Diskussion der neuesten Forschungstendenzen ist aber verzichtet worden. 2 Vgl. J. Solchany, Comprendre le nazisme dans l’Allemagne des années zéro (1945–1949), ­Paris 1997. 3 K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962; K. D. Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982; C. H. Werth, Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945, Opladen 1996.

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sind ideengeschichtliche Untersuchungen entstanden, die die Wirkungskraft von Antisemitismus und Sozialdarwinismus im innersten Kreis der NS-Führung hervorgehoben haben. Doch dieser älteren ideengeschichtlichen Deutung lag ein betont personenzentrierter Ansatz zugrunde, der dann über die entscheidende Figur im Regime, nämlich Hitler, eine direkte Verbindung zwischen politischem Handeln, voran Krieg und Völkermord, und Weltanschauung herstellte.4 Die monokratische und intentionalistische Interpretation des NS-Herrschaftssystems und die Betonung ideeller Motive gingen im Fall der westdeutschen Kontroversen um die Deutung des NS-Regimes und seiner Verbrechen fast zwei Jahrzehnte lang eine ganz enge Verbindung ein. Die sozialgeschichtlich ausgerichtete Gegenposition konnte anknüpfen an die vielfach belegte Diskrepanz zwischen Hitlers Weltanschauung und den gesellschaftlichen und politischen Handlungsmotiven und Ordnungsvorstellungen der vielen Deutschen, die in den Jahren zwischen 1933 und 1945 der nationalsozialistischen Politik konkrete Gestalt, enorme Dynamik und unerwartete organisatorische, soziale und schließlich zwischen 1939 und 1942 militärische Durchsetzungskraft verliehen. Für diesen weiten Bereich entwickelten die neueren sozialhistorischen Studien auf den Spuren von Hans Mommsen und Martin Broszat funktionalistische Erklärungsmodelle, in denen ideelle Motive oder weltanschauliche Überzeugungen als legitimatorisches Beiwerk oder gar als propagandistische Verbrämung konkreter Gruppeninteressen bzw. individuellen Machtstrebens gedeutet wurden. Materielle Vorteile, Gruppenzwänge, Standesegoismen oder aber die Konkurrenz von Organisationen und Institutionen galten als die entscheidenden Faktoren, die für die Durchsetzung des NS-Regimes in der deutschen Gesellschaft sorgten. Sowohl das regimetypische Blendwerk weltanschaulicher Geschlossenheit als auch das ältere historiographische Gegenbild umfassender totalitärer Manipulation ist dabei zerstört worden; am Ende dieser Forschungen über die sozialen und ökonomischen Triebkräfte des NS-Regimes steht Hans Mommsens Deutungsmuster einer herrschaftsinduzierten situativen Dynamik radikaler Zerstörung und Vernichtung, in der die NS-Ideologie5 4 E. Jäckel, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Stuttgart 19914; K. Hildebrand, Nationalsozialismus oder Hitlerismus?, in: M. Bosch (Hg.), Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte, Düsseldorf 1977, S. 55–61; W. Wippermann, Der konsequente Wahn. Ideologie und Politik Adolf Hitlers, Gütersloh 1989. 5 Im Folgenden werden »Ideologie« und »Weltanschauung« synonym gebraucht, um das Ensemble der von der NSDAP propagierten Begriffe und Argumente zu bezeichnen, die nach Einschätzung ihrer Vertreter in den engeren Bereich leitender Werte und gültiger Wahrheiten des Nationalsozialismus eingereiht werden konnten. Über die besondere Existenzund Funktionsweise dieses Ideenkonglomerats siehe weiter unten. Der Diskussionsstand und die Begrifflichkeit sind in der Forschung sehr disparat: vgl. T. Klepsch, Nationalsozialistische Ideologie. Eine Beschreibung ihrer Struktur vor 1933, Münster 1990; siehe auch M. Broszat, Der Nationalsozialismus. Weltanschauung, Programm und Wirklichkeit, Stuttgart 1960; L. Raphael, Die nationalsozialistische Weltanschauung. Profil, Verbreitungsformen und Nachleben, in: G. Gehl (Hg.), Kriegsende 1945. Befreiung oder Niederlage für die Deutschen?, Weimar 2006, S. 27–42.

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bestenfalls ein nachgeordnetes Element der Legitimation und Loyalitätssicherung darstellt  – eine streng politikgeschichtliche bzw. sozialhistorische Variante von Hannah Arendts »Banalität des Bösen« gewissermaßen.6 Gerade die sozialhistorische Beschäftigung mit der Rolle intellektueller Berufsgruppen im NS-Regime rückte jedoch in den letzten 15 Jahren nach und nach die ideengeschichtlichen Konstellationen in und hinter den sozialen und institutionellen Einflussfaktoren erneut in das Blickfeld der Forschung. Diese Studien haben eine Fülle von Belegen dafür gebracht, dass zudem die Verbindungen zwischen NS-Ideologie und zeitgenössischer »seriöser« Wissenschaft enger waren, als es das tradierte Klischee vom wahnhaften nationalsozialistischen Weltanschauungssyndrom aus Judenhass, dumpfem Germanenkult und rückwärtsgewandtem Blut- und Bodenkult suggerierte. Inzwischen liegt bereits eine kaum noch zu überblickende Fülle an neuen Forschungsergebnissen zu allen wesentlichen Aspekten der Wissenschaftsgeschichte des NS-Regimes vor.7 Neben der fachlichen Entwicklung der einzelnen Disziplinen sind vor allem die unterschiedlichen Arbeitsfelder akademischer Berufsgruppen, aber auch ihre gemeinsame universitäre Sozialisationsinstanz eingehender untersucht worden.8 Vor allem 6 H. Mommsen, Die Realisierung des Utopischen. Die »Endlösung der Judenfrage« im »Dritten Reich«, in: GG, Jg. 9, 1983, S. 381–420 und in zugespitzter Form ders., NS-Ideologie – Der Nationalsozialismus – eine ideologische Simulation?, in: H. Hoffmann u. H. Klotz (Hg.), Die Kultur unseres Jahrhunderts. Ein ECON Epochenbuch, Düsseldorf 1991, S. 3–54. 7 Wie bei fast jedem Thema der NS-Geschichte ist die Forschungsliteratur kaum noch zu überblicken. Den besten Überblick bieten aktuell M. Hanel, Normalität unter Ausnahmebedingungen. Die TH Darmstadt im Nationalsozialismus, Darmstadt 2014, S. 9–23; N. Dinçkal u. D. Mares, Selbstmobilisierung und Forschungsnetzwerke, in: N. Dinçkal, C. Dipper u. D. Mares (Hg.), Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hochschulen im »Dritten Reich«, Darmstadt 2010, S. 9–21; vgl. auch: ASTA der Universität Mannheim (Hg.), Hochschulen 1933–1945 (Bibliographie), Mannheim 1998; und die älteren Forschungsberichte von C. Jansen, Die Hochschule zwischen angefeindeter Demokratie und nationalsozialistischer Politisierung, in: NPL, Jg. 38, 1993, S. 179–210; ders., Mehr Masse als Klasse – mehr Dokumentation denn Analyse, in: ebd., Jg. 43, 1998, S. 398–440. 8 Zu den neueren Forschungstendenzen s. die beiden großen Reihen: R. von Bruch u. U. Herbert (Hg.), Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, bisher 10 Bde., Stuttgart 2010 ff.; R. Rürup u. W. Schieder (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, 17 Bde., Göttingen 2000–2008; Den Stand der Debatten geben folgende Aufsatzbände wieder: Dinçkal u. a., Selbstmobilisierung; M. Szöllösi-Janze (Hg.), Science in the Third Reich, Oxford 2001; D. Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-WilhelmGesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, 2 Bde., Göttingen 2000; P. Lundgreen (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1985; J. Tröger (Hg.), Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1986; L. Siegele-Wenschkewitz u. G. Stuchlik (Hg.), Hochschule und Nationalsozialismus. Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsbetrieb als Thema der Zeitgeschichte, Frankfurt a. M. 1990; M. Tschirner (Hg.), Wissenschaft im Krieg – Krieg in der Wissenschaft, Marburg 1991; C. Meinel (Hg.), Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus, Stuttgart 1994; M. Grüttner (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010; Für Studien zu den einzelnen Humanwissenschaften siehe Anm. 14, zu einzelnen Hochschulen Anm. 17.

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die Integration von Wissenschaftlern in die Machtapparate des NS-Regimes hat besondere Aufmerksamkeit gefunden.9 In dem Maße, in dem sichtbar wurde, welches Gewicht die Eigeninitiative dieser Experten für das Zustandekommen und den Erfolg zahlreicher Verbrechen und Gewaltmaßnahmen des Regimes besaß, hat die Annahme an Plausibilität verloren, dass diese Berufsgruppen der akademischen Intelligenz und ihr berufliches Selbstverständnis, die Vernunft ihres Fachwissens und ihre spezifische Deutung der sozialen Welt keine Spuren in den regimekonformen bzw. offiziellen Deutungsmustern der nationalsozialistischen Diktatur hinterlassen hätten. Ein gesichertes Zwischenergebnis dieser Studien ist, dass der Kreis der Schreibtischtäter, der Mitplaner und Vordenker von Vernichtungsmaßnahmen gegen »Fremdrassige«, »Minderwertige« oder »Asoziale« viel größer geworden ist und dass die Rolle wissenschaftlicher Argumente, Vorgehensweisen und Deutungsmuster im Gesamtkomplex nationalsozialistischer Weltanschauung oder Ideologie neu überdacht werden muss. Detlev Peukert und Gisela Bock haben in den achtziger Jahren ein weiterführendes, integrierendes Modell entwickelt, das die Begriffe »Rassismus« und »Rassenpolitik« als Erklärungskategorie in den Mittelpunkt stellt.10 G. Bock formulierte: »Der gemeinsame Nenner aller Formen von Rassismus ist die Klassifikation und Behandlung bestimmter Menschengruppen als ›Minderwertige‹ … Rassismus bedeutet die Diskriminierung ethnischer Gruppen, oft Minderheiten, aber auch anderer Gruppen bzw. Minderheiten, die nach Kriterien ihres Wertes für die ›Rasse‹ oder das ›Volk‹ bestimmt und zum Zweck ›rassischer Ausartung‹ diskriminiert werden«.11 Das NS-Regime erhob Rassismus in dieser umfassenden Definition zum prägenden Element staatlicher Politik, die

9 R. Knigge-Tesche (Hg.), Berater der braunen Macht. Wissenschaft und Wissenschaftler im NS-Staat, Frankfurt a. M. 1999; M. Rössler, »Wissenschaft und Lebensraum«. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Berlin 1990; G. Aly u. S. Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991; K. H. Roth, Intelligenz und Sozialpolitik im ›Dritten Reich‹. Eine methodisch-historische Studie am Beispiel des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront, München 1993; J. Gutberger, Volk, Raum und Sozialstruktur. Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im Dritten Reich, Münster 1996; F.-R. Hausmann, »Deutsche Geisteswissenschaft« im Zweiten Weltkrieg. Die »Aktion Ritterbusch« (1940–1945), Dresden 1998; M. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« von 1931–1945, Baden-Baden 1999. 10 G. Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986; dies., Krankenmord, Judenmord und nationalsozialistische Rassenpolitik. Überlegungen zu einigen neueren Forschungshypothesen, in: F. Bajohr u. a. (Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 285–306; D. J. K. Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982. 11 Bock, Krankenmord, S. 301 f.

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deshalb in den unterschiedlichsten Arenen intentional und funktional »Rassen­ politik« war. Die Fruchtbarkeit dieses Neuansatzes liegt darin, dass er die NS-Ideologie als politische Sprache und Propaganda, aber auch als Deutung der sozialen Welt in den Reihen der NSDAP einordnet in einen auch ideengeschichtlich relevanten Zusammenhang, der von der »Alltagsgeschichte« diskriminierender Vorurteile bis hin zum institutionalisierten Rassismus staatlicher Verordnungen, juristischer Urteile und wissenschaftlicher Gutachten reicht. In diesem Erklärungsansatz rückte der wissenschaftlich begründete Rassismus in seinen beiden zeitgenössischen Varianten des ethnischen und eugenischen Rassismus in den Vordergrund, er bleibt aber verklammert mit den diskriminierenden Vorstellungen und Gewohnheiten des sozialen Alltags und den rechtsförmigen und verwaltungsgestützten Praktiken des staatlich organisierten Rassismus: Dies ist eine grundlegende Voraussetzung für eine wissenssoziologische Neudeutung der NS-Ideologie. Diesen Argumentationsstrang hat Ulrich Herbert mit dem Begriff »Weltanschauungselite« weiter vertieft: Er konnte in seinen Studien zeigen, dass, zumindest für den Kreis der Akademiker im Führungsstab von SS und SD, ideologische Gründe eine ganz wesentliche Motivationsgrundlage dafür waren, dass sie so effektiv und radikal die rassistischen Ziele des Regimes verfolgten. Medizin und Biologie wurden Leitwissenschaften des Regimes, und die Rassenhygiene lieferte die zentralen Argumente für ein sozialbiologisches Weltbild, das gerade in den akademischen Berufsgruppen als bildungs- und statusgemäße Variante der NS-Weltanschauung Verbreitung fand. Rassenhygienische Theorien zu Minderwertigkeit, Auslese und Ausmerze, ergänzt durch sozialdarwinistische Ideen über Rassen- bzw. Völkerkämpfe um Lebensraum, sowie ein radikalisierter Kultur- und Wertrelativismus bildeten denn auch den Kernbestand weltanschaulicher Überzeugungen dieser selbsternannten »Weltanschauungselite«, die in exponierter Form von SS-Führern wie Best, Ohlendorf, Höhn oder Six verkörpert wurde.12 Ich knüpfe an die Interpretationslinie dieser Arbeiten an, um auf der Grundlage der zahlreichen Einzelforschungen zu den Verwicklungen einer zahlenmäßig und funktional sehr wichtigen Teilgruppe von Wissenschaftlern und akademischen Berufsgruppen, nämlich den humanwissenschaftlichen Experten, das ideengeschichtliche Profil des Regimes und den Beitrag dieser »Expertenkulturen« neu zu diskutieren. Konkret geht es im Folgenden um all jene, die an deutschen Hochschulen vor und nach 1933 ein Expertenwissen über Menschen, ihre Konstitution, ihre Gesellschaft, Geschichte und Kultur erhalten hatten 12 U. Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Bonn 1996; L. Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998. M. Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; E. Piper u. A. Rosenberg, Hitlers Chefideologe, München 2005.

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und damit als Berater, Planer und Ideologen nationalsozialistischer Eingriffe in die Lebensverhältnisse der unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen in Frage kamen. »Bevölkerungspolitik«13 ist der umfassende Begriff, mit dem die Maßnahmen und Vorhaben des Regimes auf den unterschiedlichen Teilgebieten von Gesundheits-, Familien­- und Sozialpolitik am besten in ihrem Zusammenhang erfasst werden.14 Der großen Reichweite dieser nationalsozialistischen »Bevölkerungspolitik« entspricht eigentlich nur der bei uns eher selten gebrauchte Terminus »Humanwissenschaften«. Er erlaubt es, den Kreis der im Folgenden betrachteten Experten entsprechend den realen Vernetzungen der Zeit weit genug zu fassen und die fächerübergreifenden Kooperationen zwischen Sozialforschern, Geisteswissenschaftlern, Juristen und Medizinern in den Blick zu nehmen. Gerade die neuesten Studien haben zahlreiche Belege dafür erbracht, dass ein bloß disziplin- oder berufsgruppenzentrierter Ansatz15 für dieses weite 13 H. Kaupen-Haas, Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, Nördlingen 1986. 14 C. Sachße u. F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 3: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, Stuttgart 1992; W. Süß, Der »Volkskörper« im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003; F. Wimmer, Die völkische Ordnung von Armut. Kommunale Sozialpolitik im nationalsozialistischen München, Göttingen 2014; N. Kramer, Welfare, Mobilization and the Nazi Society, in: L. Raphael (Hg.), Poverty and Welfare in­ Modern German History, New York 2016, S. 137–171. 15 Einem solchen Ansatz folgen zunächst einmal die zahlreichen Studien zu den hier behandelten Professionen und Disziplinen im Nationalsozialismus: Psychologie: C. F. Graumann (Hg.), Psychologie im Nationalsozialismus, Heidelberg 1985; U. Geuter, Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1988; Psychiatrie / Medizin: H. Fangerau u. a. (Hg.), Kinder- und Jugendpsychiatrie im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, Berlin 2017; F. Kudlien (Hg.), Ärzte im Nationalsozialismus, Köln 1985; R. N. Proctor, Racial Hygiene. Medicine under the Nazis, Cambridge, Mass. 1988; M. H. Kater, Doctors under Hitler, Chapel Hill 1989; N. Frei (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991; J. Peiffer (Hg.), Menschenverachtung und Opportunismus. Zur Medizin im Dritten Reich, Tübingen 1992; H.-L. Siemen, Menschen blieben auf der Strecke. Psychiatrie zwischen Reform und Nationalsozialismus, Gütersloh 1987; H.-W. Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, Göttingen 1987; F.-W. Kersting u. a. (Hg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993; B. Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996; C. Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1869–1980, Göttingen 2010; Wirtschaftswissenschaften: H. Janssen, Nationalökonomie und Nationalsozialismus. Die deutsche Volkswirtschaftslehre in den dreißiger Jahren, Marburg 1998; Rechtswissenschaften und Justiz: O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus, München 1994; I. Müller, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1987; L. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 1988; B. Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 19892; R. Angermund, Deutsche Richterschaft 1919–1945. Krisen­

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Politik­feld unangemessen war, weil er die Zirkulation gemeinsamer Denkmuster ausblendete und in der Regel auch die institutionellen Verankerungen dieser Kooperationen unterschätzte. Die folgende Untersuchung konzentriert sich dabei auf den erstgenannten wissenssoziologischen oder ideengeschichtlichen Aspekt; sie kann dabei anknüpfen an die großen Fortschritte in der Erforschung der institutionellen und personellen Verflechtungen. Folgende Leitfragen sollen dabei im Mittelpunkt stehen: 1. Welche intellektuellen Verbindungen sorgten für das Einverständnis zwischen der vor allem in der SS organisierten hochpolitisierten Weltanschauungselite und der ungleich größeren Zahl weniger exponierter, aber loyaler Humanwissenschaftler, die direkt oder indirekt an der Planung oder Gestaltung von Bevölkerungspolitik in Deutschland beteiligt waren? 2. Welches Gewicht hatten die zeitgenössischen wissenschaftsgestützten Expertenmeinungen für die Weiterentwicklung der 1933 noch sehr diffusen NS-Ideologie? Welche wissenschaftsförmig artikulierten Konzepte sozialer, rechtlicher und politischer Ordnung stützten die zentralen Aspekte dieser Weltanschauung, sorgten also im Fall von Rassismus, Expansionspolitik und Volksgemeinschaftsrhetorik für wissenschaftliche Akzeptanz und Plausibilität? 3. Welche Bedeutung hatte die wissenschaftliche Expertise bzw. Auftragsforschung für die Radikalisierung nationalsozialistischer Gewalt? 4. Welchen Platz fand die »normale« Wissenschaft im Gefüge der mit totalitärem Anspruch auftretenden NS-Weltanschauung?

erfahrung, Illusion, politische Rechtsprechung, Frankfurt a. M. 1991; M. Stolleis, Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1994; J. Rückert (Hg.), Die deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit. Ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen, Tübingen 1995; Soziologie: S. Papcke (Hg.), Ordnung und Theorie. Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland, Darmstadt 1986; O. Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933–1945. Die Normalität einer Anpassung, Frankfurt a. M. 1986; C. Klingemann (Hg.), Rassenmythos und Sozialwissenschaften in Deutschland, Opladen 1987; ders., Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996; Geowissenschaften: A. Leendertz, Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008; M. Fahlbusch u. a., Geographie und Nationalsozialismus. Drei Fallstudien zur Institution Geographie im Deutschen Reich und der Schweiz, Kassel 1989; Geschichtswissenschaft: K. Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1992; W. Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993; U. Wolf, Litteris et ­patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996; P. Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 1997; W. Schulze u. O. G. Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999.

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II. Einen konkreten Ausgangspunkt für die Untersuchung der personellen und institutionellen Beziehungen zwischen NS-Regime und den Humanwissenschaftlern können die hochschul- und wissenschaftspolitischen Maßnahmen der Jahre 1933/1934 bilden, auch wenn die Vorgeschichte der politischen und intellektuellen Affinitäten der hier betrachteten Wissenschaftler zum Nationalsozialismus weiter zurückreicht in die Weimarer Republik und den Ersten Weltkrieg. Die rasche Ausschaltung jeder offenen politischen Opposition an den Hochschulen und die umstandslose Durchsetzung des antisemitischen Programms zum Ausschluss aller jüdischen Wissenschaftler aus dem öffentlichen Lehrbetrieb markierten eine scharfe Zäsur. Parallel zum Ausschluss von etwa fünfzehn Prozent des wissenschaftlichen Personals aus den Hochschulen kam es zu einer Welle der Selbstmobilisierung der übrigen Wissenschaftler im Sinne und im Interesse der sogenannten »Nationalen Revolution«.16 Die Nationalsozialisten ernteten 1933 zunächst einmal, was die unterschiedlichen Strömungen der völkischen, nationalkonservativen und der neuen nationalistischen Rechten in ihrem erbitterten Kampf gegen die Weimarer Republik an Ressentiments gegen die politischen Ordnungsideen des Liberalismus und der westlichen Demokratien an den Hochschulen gesät hatten.17 Sie griffen dabei all jene Stichworte und Leitideen für ein anderes Deutschland, d. h. aber damals in akademischen Kreisen: ein autoritär geführtes, militärisch erstarktes und national geeintes Deutsches Reich, auf, mit denen große Teile der nationalkonservativen, aber auch Teile der nationalliberalen Professorenschaft ebenso wie die radikaleren Studenten ihren politischen Standpunkt vor 1933 zu bestimmen versucht hatten. Der diffuse Salonantisemitismus des akademischen Milieus verhinderte im Zusammenspiel mit dem aggressiveren Judenhass nationalsozialistischer Aktivisten eine Solidarisierung mit den ersten Opfern des neuen amtlichen Rassismus in den eigenen Reihen. Gegenüber dem heute dominierenden Interesse an der 16 K. Orth, Die NS-Vertreibung der jüdischen Gelehrten. Die Politik der Deutschen Forschungsgemeinschaft und die Reaktionen der Betroffenen, Göttingen 2016; W. Fischer (Hg.), Exodus von Wissenschaften aus Berlin, Berlin 1994; H. A. Strauss (Hg.), Die Emigration der Wissenschaften nach 1933, München 1991; K. Fischer, Die Emigration von Wissenschaftlern nach 1933. Möglichkeiten und Grenzen einer Bilanzierung, in: VfZ, Jg. 38, 1991, S. 535–549; Namenslisten in: S. Gerstengarbe, Die erste Entlassungswelle von Hochschullehrern deutscher Hochschulen aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Jg. 17, 1994, S. 17–39. 17 Vgl. Sontheimer, Antidemokratisches Denken; M. H. Kater, Studentenschaft und Rechts­ radikalismus in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1975; G. J. Giles, Students and National Socialism in Germany, Princeton 1985; C. Jansen, Professoren und Politik, Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914–1935, Göttingen 1992; M. Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995; J.  Scholtysek u. C. Studt (Hg.), Universitäten und Studenten im Dritten Reich. Bejahung, Anpassung, Widerstand, Berlin 2008.

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unmittelbaren Beteiligung von Experten an Massenmorden und anderen Verbrechen des NS-Regimes in den Kriegsjahren ist daran zu erinnern, dass bereits bei den Ereignissen des Jahres 1933 (Beamtengesetz) und dann wieder 1935 (Nürnberger Rassengesetze)  die Wissenschaftsmoral und die Berufsethik der meisten versagt haben.18 Die bereitwillige Teilnahme breiter Mehrheiten in den akademischen Professionen und im universitären Milieu an der »nationalen Revolution« war eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass das Regime sich nach der Ausschaltung grundsätzlicher Kritik seinerseits rasch an die bestehenden Kräfteverhältnisse an den Universitäten anpasste und einen begrenzten intellektuellen Meinungsspielraum zuließ, der einen Pluralismus fachspezifischer Theorien und Schulen für all jene etablierte, die die offizielle Sprache des neuen Regimes und vor allem seinen politischen Anspruch auf eine verbindliche Deutung und Benennung der sozialen Welt akzeptierten. Es ist daran zu erinnern, dass dieser pragmatische Kurs innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung keineswegs auf ungeteilte Zustimmung stieß. Nachdem Liberale, Demokraten und Marxisten zusammen mit den »Nicht-Ariern« entlassen, ins Ausland vertrieben oder auf anderem Weg von den Hochschulen verdrängt worden waren, forderten die Aktivisten aus dem universitären Umfeld und die Parteiideologen beharrlich, aber letztlich erfolglos eine schärfere Abgrenzung und einen radikalen Bruch auch mit den etablierten nationalkonservativen Mehrheiten im akademischen Feld. Bekanntlich entwickelte sich die Wissenschaftspolitik zu einem besonders krassen Fall von Kompetenzgerangel unterschiedlicher Dienststellen des Regimes.19 Im Ergeb18 Zu einzelnen Hochschulen liegen v. a. jüngere Studien vor: H.-E. Tenorth (Hg.), Geschichte der Universität unter den Linden, Bd. 2: Die Berliner Universität zwischen den Weltkriegen 1918–1945, Berlin 2012; C. Cornelißen u. C. Mish (Hg.), Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, Essen 2009; U. Wiesing (Hg.), Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010; W. Eckart u. a. (Hg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Berlin 2006; E. Kraus (Hg.), Die Universität München im Dritten Reich, 2 Bde., München 2006–2008; H.-U. Thamer u. a. (Hg.), Die Universität Münster in der Zeit des Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, 2 Bde., Münster 2012; H. Becker u. a., Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250-jährigen Geschichte, München 1987; P. Chroust, Gießener Universität und Faschismus. Studenten und Hochschullehrer 1918–1945, 2 Bde., Münster 1994; D. Krause u. a., Hochschulalltag im »Dritten Reich«. Die Hamburger Universität 1933–1945, 3 Bde., Berlin 1991; E. John u. a. (Hg.), Die Freiburger Universität im Nationalsozialismus, Freiburg i. Br. 1991; N. Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule, Bd. 1: 1914–1950, Neuwied 1989. 19 R. Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970; A. F. Kleinberger, Gab es eine nationalsozialistische Hochschulpolitik?, in: M. Heinemann (Hg.), Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Teil 2: Hochschule und Erwachsenenbildung, Stuttgart 1980, S. 9–30; R. Bollmus, Zum Projekt einer nationalsozialistischen Alternativ-Universität: Alfred Rosenbergs »Hohe Schule«, in: ebd., S. 125–152; H. Seier, Universität und Hochschulpolitik im nationalsozialis-

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nis schuf dies seinerseits Platz für die unterschiedlichsten Strömungen und Personennetzwerke aus dem Hochschulbereich, die sich den beteiligten Instanzen des Regimes  – voran Reichserziehungsministerium, NS-Dozentenbund, Amt Rosenberg, dem SD-SS-Komplex unter Heydrich und Himmler, der Deutschen Arbeitsfront, schließlich noch der Parteikanzlei – andienten bzw. sie für eigene Forschungsziele und Vorhaben instrumentalisierten.20 Die bald nach 1933 einsetzenden Angebote aus Partei und Regime zur Förderung wissenschaftlicher Forschung und individueller Karrieren beschleunigten noch die bereits angestoßenen Prozesse der ideologischen Einordnung und Anpassung.21 Für viele Humanwissenschaftler erschien das neue weltanschauliche und politische Programm des Regimes als »ein Bündel noch offener Möglichkeiten«.22 Das NS-Regime entwickelte seinerseits einen ausgesprochenen Heißhunger nach ›verlässlichen‹ Daten über Wirtschafts- und Sozialstrukturen in seinem Herrschafts- und Expansionsbereich. Wichtig für unsere Fragestellung wurde der Aufbau neuer Forschungsstätten für anwendungsorientierte Humanwissenschaften. Sowohl staatliche Verwaltungen wie neue Parteidienststellen suchten die Kooperation mit den unterschiedlichen Fachdisziplinen dieses Wissenschaftsbereiches. Der Aufbau des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der DAF (AwI) seit 1935/1936 ist das spektakulärste Beispiel für diese Prozesse. 1940 waren hier allein 418 Statistiker, Ökonomen, Psychologen, Arbeitswissenschaftler, Agrarexperten, Raumplaner damit beschäftigt, forschend, beratend und planend die Sozialpolitik der DAF zu begleiten.23 Selten erreichten die neuartigen Dienststellen politikberatender Sozialwissenschaft eine solche Größe. Das Bild der anwendungsorientierten human- und sozialwissenschaftlichen Institute im Nationalsozialismus ist ausgesprochen unübersichtlich. Für den Gesamtprozess typischer als Großinstitute wie das AwI, das Reichsamt für Statistik oder das Berliner Institut für Konjunkturforschung sind die vielen kleineren Dienststellen, Universitätsinstitute oder Forschungseinrichtungen geworden, in denen die zahlreichen Verbindungen zwischen Hochschuldozenten und Parteiämtern bzw. staatlichen Verwaltungen auf der Basis von Honorarverträgen, Fortischen Staat, in: K. Malettke (Hg.), Der Nationalsozialismus an der Macht, Göttingen 1984, S. 143–165; P. Chroust, Deutsche Universitäten und Nationalsozialismus, in: J. Schriewer u. a. (Hg.), Sozialer Raum und akademische Kulturen, Frankfurt a. M. 1993, S. 61–112; V. Losemann, Reformprojekte der NS-Hochschulpolitik, in: K. Strobel (Hg.), Die deutsche Universität im 20. Jahrhundert, Schernfeld 1995, S. 97–115; M. Grüttner, Art. »Wissenschaft«, in: W. Benz u. a. (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997, S. 135–153. 20 Reiches Material bietet: H. Heiber, Universitäten unterm Hakenkreuz, Teil 1: Der Professor im Dritten Reich, München 1991. 21 A. C. Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934–1945, Frankfurt a. M. 2012; S. Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Stuttgart 2008. 22 Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 7. 23 Roth, Intelligenz, S. 133.

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schungsaufträgen und gutachterlicher Tätigkeit geknüpft wurden.24 Die Jahre 1933–1945 waren in gewisser Hinsicht goldene Zeiten für staatlich finanzierte anwendungsorientierte Forschung, die sich in zahlreichen Neugründungen von Forschungsstellen niedergeschlagen hat. Und wenn nicht bereits die skizzierte ideologische Gesamtkonstellation grundsätzliche Übereinstimmung zwischen den Kooperationspartnern aus Wissenschaft und Politik herstellte, so gelang dies in der projektbezogenen Feinabstimmung zwischen Auftraggeber und Forscher. Rasch war ein engmaschiges Netz von Kooperationen zwischen Verwaltung und Wissenschaft gesponnen.25 Für viele Wissenschaftler wurde dabei der Machtkomplex von SD und SS ein zunehmend wichtiger Partner, um eigene Forschungsabsichten und Zielsetzungen zu schützen oder gar erst gegen fachliche Konkurrenz oder welt­ anschauliche Eiferer in anderen Kontrollapparaten des Regimes durchzusetzen. In dem Maße, in dem Himmlers Herrschaftsapparat sich immer weiter ausbreitete, erweiterte sich auch sein Interesse an der Kooperation mit den Humanwissenschaften. Zunächst waren Medizin und Rechtswissenschaften die beiden wichtigsten Bereiche, in denen die Verwicklungen der Humanwissenschaften mit dem Apparat Himmlers Gestalt annahmen. Seit 1938 erweiterte sich vor allem im Rahmen von Volkstumspolitik und Ostexpansion die Zahl eigener Forschungseinrichtungen bzw. geförderter Wissenschaftler enorm.26 Welche Bedeutung die SS-Mitgliedschaft einzelner Humanwissenschaftler, ihre Einbindung in die Loyalitäten und Kontakte dieses elitären Ordens insgesamt für die enge Kooperation von Verwaltung und Humanwissenschaften hatte, ist meines Wissens noch nicht abschließend untersucht worden. Eines aber wird nach Sichtung vieler Einzelstudien deutlich: Die SS-Netzwerke verstärkten ganz erheblich Einflusschancen und fachinterne Durchsetzungskraft von Wissenschaftlern, die radikale, d. h. aber häufig antisemitische oder sonstige radikalrassistische Positionen auf der Basis des oben kurz skizzierten sozialbiologischen Denkmus24 Vgl. die Studien von Fahlbusch, Wissenschaft; Gutberger, Volk; Oberkrome, Volksgeschichte; Klingemann, Soziologie; Aly u. Heim, Vordenker; Roth, Intelligenz; M. Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988; Heinemann, Rasse; I. Heinemann u. P. Wagner (Hg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungs- und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006. 25 Die Genese dieser Netzwerke wird vor allem in den biographischen Studien zu einzelnen Wissenschaftlern und ihren Karrieren deutlich: vgl. z. B. die biographischen Anhänge in: Roth, Intelligenz, S. 189–229; Gutberger, Volk, S. 485–551; K. H. Roth, Heydrichs Professor. Historiographie des ›Volkstums‹ und der Massenvernichtungen: Der Fall Hans Joachim Beyer, in: Schöttler (Hg.), S. 262–342; Hachmeister, Six; Klingemann, Soziologie; S. Heim u. G. Aly, Ein Berater der Macht. Helmut Meinhold oder der Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Judenvernichtung, Hamburg 1986; M. Fahlbusch u. I. Haar (Hg.), Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Expertise und »Neuordnung« Europas, Paderborn 2010. 26 Vgl. hierzu: Burleigh, Ostforschung; Gutberger, Volk; M. Rössler u. S. Schleiermacher (Hg.), Der »Generalplan Ost«. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993; Fahlbusch, Wissenschaft.

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ters vertraten. Dies gilt insbesondere, wenn sie gleichzeitig fachinterne Anerkennung genossen.27Darüber sollte auch nicht hinwegtäuschen, dass gleichzeitig in den Forschungsabteilungen von SS / SD und DAF Experten unterkommen konnten, deren weltanschauliche Verlässlichkeit bezweifelt wurde oder die aus dem Lager dezidierter NS-Gegner stammten.28 Um das intellektuelle Profil der spezifischen Beiträge genauer zu fassen, den die einzelnen humanwissenschaftlichen Fachrichtungen für das Regime leisteten, ist es zweckmäßig, kurz einige typische Tätigkeitsfelder dieser Professionen zu mustern. Juristen haben als Professoren, Richter und Verwaltungsbeamte zentrale Funktionen bei der Umgestaltung des überkommenen Privat- und Staatsrechts im Sinne der politischen Ziele des Regimes übernommen und mit ihren Kommentaren und Entscheidungen fortlaufend die Unrechtspraxis des Regimes legitimiert.29 Gerade die Bedeutung des institutionalisierten Rassismus legt es nahe, den Beitrag der juristischen Experten mit zu berücksichtigen, wenn man die angewandten Humanwissenschaften in den Blick nimmt. Die juristische Expertise war unabdingbare Voraussetzung dafür, dass aus der diffamierenden Propaganda des Regimes oder aus den diskriminierenden Tatsachenbehauptungen der Wissenschaftler die amtliche Sprache rechtsrelevanter Klassifizierungen und Unterschiede wurde. Der Beitrag der Rechtswissenschaften muss deshalb in dieser genuin »politischen Arbeit«30 gesehen werden: »Die juristischen Fakten bestärkten den Glauben an die Wissenschaftlichkeit der Rassentheorie sowie der eugenischen Praxis. Diese wiederum wurden an den Universitäten zu Arbeitsschwerpunkten befördert. Umgekehrt trugen diese Wissenschaften dazu bei, die Verhältnisse zu legitimieren, die durch den neuen juristischen Rahmen geschaffen worden waren.«31 Alle rassistischen Maßnahmen und Gestaltungen vollzogen sich auf der Grundlage wichtiger Umorientierungen im Rechtsdenken, deren Wurzeln in die Weimarer Zeit zurückreichen. Gerade in den Rechtswissenschaften lässt sich sehr gut die Selbstmobilisierung in der nationalen Aufbruchstimmung nach dem 30. Januar 1933 nachzeichnen. Die »völkische Rechtserneuerung«, wie es zeitgenössisch hieß, wurde von prominenten Rechtswissenschaftlern wie Carl Schmitt und jungen Nachwuchswissenschaftlern 27 Dass auch diese zweite Bedingung selbst für die protegierten, radikalen Nachwuchswissenschaftler des SD / SS-Apparats keineswegs ohne Bedeutung war, zeigen zum Beispiel die Laufbahnen von exponierten Regimeanhängern wie Six oder Beyer; vgl. Hachmeister, Six; Roth, Heydrichs Professor. 28 Zur Rolle früherer Gewerkschaftsexperten im AwI der DAF siehe Roth, Intelligenz, S. 187; weitere exponierte Beispiele sind W. Christaller oder L. Neundörfer; siehe Gutberger, Volk, S. ­245–249, 495–498; Klingemann, Soziologie, S. 87–102. 29 Vgl. Gruchmann u. Rilthers, Entartetes Recht; Müller, Juristen; Angermund, Richterschaft; Stolleis, Recht; R. Dreier u. W. Sellert (Hg.), Recht und Justiz im »Dritten Reich«, Frankfurt a. M. 1989. 30 M. Pollak, Rassenwahn und Wissenschaft. Anthropologie, Biologie, Justiz und die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik, Frankfurt a. M. 1990, S. 25. 31 Ebd.

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wie Karl Larenz oder Ernst Rudolf Huber vorangetrieben.32 Das »konkrete Ordnungsdenken« bzw. das Denken in »konkret-allgemeinen Begriffen«, das diese Autoren als Konzeption der neuen Rechtswissenschaften entwarfen, fand auch in anderen Humanwissenschaften Resonanz.33 Die dort zutage tretende Grundstruktur scheint mir insgesamt typisch für die Art und Weise zu sein, in der die Humanwissenschaftler ihre Gestaltungsaufgaben im Nationalsozialismus angingen. Gegensatzaufhebende Begriffsbildung war die Formel, mit der die neuen Situationen in der Rechtspraxis bewältigt wurden: Der Gegensatz zwischen juristischer Norm und gesellschaftlichem Faktum sollte überwunden, Sollen und Sein, Normebene und Wirklichkeit miteinander begrifflich verknüpft werden. Bei der Suche nach Phänomenen, die den Anspruch rechtlicher Substanz im Sinne sowohl normativer Geltung als auch von Realitätsgehalt im sozialen Leben beanspruchen konnten, stießen die nationalsozialistischen Rechtstheoretiker auf soziale Wirklichkeiten wie die Familie, den Betrieb, das Militär, das Beamtentum und vieles andere mehr. Diese Wirklichkeiten wurden nun als Ordnungsgefüge definiert, deren »Wesen« und damit auch deren »rechtsrelevante Aspekte« durch die nationalsozialistische Weltanschauung und Volksordnung aufgedeckt, gewissermaßen freigelegt wurde. In Schmitts Worten: »Überall schafft der Nationalsozialismus eine andere Ordnung, von der NSDAP angefangen bis zu den zahlreichen neuen Ordnungen, die wir vor uns wachsen sehen: Alle diese Ordnungen bringen ihr inneres Recht mit sich. Unser Streben hat die Richtung lebendigen Wachstums auf seiner Seite und unsere neue Ordnung kommt aus uns selber.«34 Schmitt, Larenz und mit ihnen viele andere Juristen vermengten systematisch Sollen und Sein, überhöhten Volk, Gemeinschaft und Führer zu »normativen Wirklichkeiten«, die nun ihrerseits für die politisch gewünschte Ausgestaltung der darunter fallenden Lebensverhältnisse im Sinne stilisierter konkreter Ordnungen herangezogen werden konnten. Die Frage nach der Legitimität der neuen politischen Ordnung verlor mit dem Erfolg dieser Umdeutungsarbeit jeden Sinn, da ein Vergleich zwischen allgemeinen Rechtsnormen bzw. einzelnen Rechtssätzen und konkreten Rechtsfällen nicht mehr zu eindeutigen Ergebnissen kam. »Endlich bindet den Gesetzgeber auch keine abstrakte Rechtsidee im Sinne einer zeitlos und für alle gültigen Norm. Solche Freiheit von normativen Bindungen vor- oder überstaatlicher Art bedeutet aber für den völkischen Gesetzgeber, wie nunmehr klar sein dürfte, das Gegenteil von Willkür, denn stärker als alle Schranken solcher Art bindet diesen Gesetzgeber sein eigenes Wesensgesetz, seine Verwurzelung in der Sub32 Vgl. hierzu M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974; Rüthers, Entartetes Recht; ders., Wir denken die Rechtsbegriffe um. Weltanschauung als Auslegungsprinzip, Zürich 1987; O. Lepsius, Begriffsbildung. 33 G. Algazi, Otto Brunner  – ›konkrete Ordnung‹ und Sprache der Zeit, in: Schöttler (Hg.), S. 166–203. 34 C. Schmitt, Nationalsozialistisches Rechtsdenken, in: Deutsches Recht 1933, S. 225–229, hier S. 228.

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stanz, im Volksgeist.«35 Faktisch höhlte diese neue Rechtsauffassung die Autonomie der gesamten Rechtssphäre gegenüber dem politischen Willen aus, dem in den unterschiedlichen Rechtskonstruktionen eines »Führerwillens« Letzt­ entscheidungskompetenz zuerkannt wurde. Das neue Rechtsverständnis erhöhte einerseits die Interpretationsmacht und die Gestaltungsfreiheit des regimetreuen Richters, sie war andererseits Grundlage für weitreichende Eingriffe des Gesetzgebers in die Lebenswelten und Privatsphären.36 Mit dieser Hinwendung zu den als Gemeinschaft stilisierten sozialen Teilordnungen war das nationalsozialistische Rechtsdenken Vorbild für andere Wissenschaften. Was die Rechtswissenschaft als theoretisch-metho­ disches Problem beschäftigte, interessierte andere Wissenschaftler, wie etwa Arbeitswissenschaftler, Agrarexperten oder Ökonomen, als Planungsaufgabe. Die Hinwendung zum »Wesen« der konkreten Ordnungen bedeutete nämlich praktisch die genaue wissenschaftliche Bestandsaufnahme und die planerische Umgestaltung dieser sozialen Gebilde besonderer Art. Die Forschungsarbeiten des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der DAF kreisten z. B. um die Ausgestaltung von Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik im Nationalsozialismus.37 Die Untersuchungsgegenstände waren ebenso vielfältig wie die Tätigkeitsbereiche, denen sich die DAF zuwandte. Freizeitverhalten, Konsumwünsche und Lohnsysteme, Rationalisierungsprozesse und betriebliche Sozialpolitik, schließlich das Wohnungswesen und der gesamte Bereich der Sozialversicherungssysteme.38 Während des Krieges kamen Planungen für die Gestaltung der eroberten Ostgebiete hinzu. Zielsetzung der Politikberatung war dabei, einen »Generalstabsplan der sozialen Neuordnung«39 auszuarbeiten. In seinen konkreten Forschungsarbeiten legte das AwI Wert darauf, die gesellschaftlichen Verhältnisse umfassend zu beschreiben und nahm für sich in Anspruch, bestehende Widersprüche schonungslos zu schildern. Typisch für die Arbeitsweise des Instituts war die mikroanalytische Verfeinerung statistischer Erhebungsverfahren. Die konkreten Einheiten wie Haushalte, Dörfer, Stadtteile 35 K. Larenz, Volksgeist und Recht, in: Zs. für Deutsche Kulturphilosophie, 1935, S. 60, zit. in: J. Kokert, Briefe, die Geschichte schreiben – Karl Larenz und die nationalsozialistische Zeit, in: Zs. für neuere Rechtsgeschichte, Jg. 18, 1996, S. 23–43, hier S. 34. 36 Vgl. B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Tübingen 1968; R. Schröder, Der zivilrechtliche Alltag des Volksgenossen. Beispiele aus der Praxis des Oberlandesgerichts Celle im Dritten Reich, in: B. Diestelkamp u. M. Stolleis (Hg.), Justizalltag im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1988, S. 39–62. 37 Grundlegend mit umfassender Behandlung der einschlägigen Forschungsliteratur Roth, Intelligenz; siehe auch H. Schuster u. M. Schuster, Industriesoziologie im Nationalsozialismus, in: SW, Jg. 35, 1984, S. 94–123; U. Geuter, Das Institut für Arbeitspsychologie und Arbeitspädagogik der Deutschen Arbeitsfront. Eine Forschungsnotiz, in: 1999. Zs. für Sozial­ geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Jg. 1, 1987, S. 87–95. 38 Vgl. Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jh. (Hg.), Sozialstrategien der Deutschen Arbeitsfront, Teil B: Periodika, Denkschriften, Gutachten und Veröffentlichungen des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront, München 1987–1992. 39 Roth, Intelligenz, S. 141.

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und Betriebe sollten in der Vielfalt ihrer Strukturen analysiert werden. Das Ziel solcher Detailstudien war die gläserne, transparente Volksgemeinschaft.40 So interessierte man sich z. B. für Daten über Einkünfte und Konsum konkreter Haushalte, um Risiken, aber auch noch ungenutzte Möglichkeiten der konsumbeschränkenden Rüstungspolitik auszuloten und eine klientelangepasste Feinsteuerung kommunaler Fürsorgepolitik planen zu können. Doch solche Anpassungsleistungen im Detail wurden überragt durch den Ehrgeiz des gesamten Instituts, gestützt auf eine realitätstüchtige Sozialberichterstattung, Entwürfe für eine radikale Umformung der Sozial- und Wirtschaftsverhältnisse in der deutschen Gesellschaft auszuarbeiten. Dabei stand die Überwindung der alten Klassengegensätze und die durchgreifende Rationalisierung der vielen »konkreten Ordnungen« im Sinne einer völkischen Leistungsgesellschaft im Zentrum der Planungen. Diesem umfassenden Ziel entsprach die breite Definition von Sozialpolitik als gestaltender »Volksstrukturpolitik«.41 Deren Ziele wurden mit den außenpolitischen und militärischen Erfolgen des Deutschen Reiches immer phantastischer und ehrgeiziger, wie nicht zuletzt das »Sozialwerk des Deutschen Volkes« von 1940/41 zeigte.42 Das Beispiel des Arbeitswissenschaftlichen Instituts ist insofern aufschlussreich, als es Humanwissenschaftler zeigt, denen es vorrangig um soziale Verbesserungen und Integrationsleistungen innerhalb der neuen Volksgemeinschaft ging. Dennoch waren diese Experten weit davon entfernt, einer sozialkonservativen Romantik zu frönen. Auch das »bäuerliche Sozialleben« sollte tiefgreifend umgestaltet, Besitzgrößen beträchtlich erweitert, landwirtschaftliche Erträge deutlich gesteigert und Industriebetriebe neu angesiedelt werden.43 Die Formierung einer neuen Leistungsgesellschaft mit Aufstiegschancen für alle anpassungsfähigen und loyalen Volksgenossen dominierte die Planungsutopien dieses nach außen hin in anonymen Denkschriften geschlossen auftretenden Großforschungsapparats. Die Studien von K. H. Roth haben deutlich gemacht, dass an diesem Kollektivunternehmen neben den überzeugten Parteigängern der NSDAP und SS auch ehemalige Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionäre sowie wissenschaftliche Experten aus den 40 Dies hatte eine enge Kooperation mit amtlichen Stellen zur Voraussetzung und mit polizeilichen Instanzen des Regimes zur Folge. So kooperierte das AwI mit dem Reichsamt für Statistik bei der Erhebung von Daten zu Arbeitereinkommen und überließ dem SD einschlägige Datensammlungen zu »jüdischen Gewerbebetrieben« bzw. »jüdischen Soziologen«. Roth, Intelligenz, S. 130. 41 R. Cramer, zit. in Roth, Intelligenz, S. 295. 42 Vgl. hierzu: M. L. Recker, Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg, München 1985; M. H. Geyer, Soziale Sicherheit und wirtschaftlicher Fortschritt. Überlegungen zum Verhältnis von Arbeitsideologie und Sozialpolitik im »Dritten Reich«, in: GG, Jg. 15, 1989, S. 382–406; Roth, Intelligenz, S. 99–103. 43 Siehe Klingemann, Soziologie, S. 90–92; Gutberger, Volk, S. 339–349; W. Oberkrome, Ordnung und Autarkie. Die Geschichte der deutschen Landbauforschung, Agrarökonomie und ländlichen Sozialwissenschaft. Im Spiegel von Forschungsdienst und DFG (1920–1970), Stuttgart 2009.

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Beratungsstäben der Ministerialbürokratie beteiligt waren.44 Der Führung des Instituts reichte das patriotische Engagement für die »nationale Dynamik«45 als gemeinsame Wertorientierung des brain trusts, wie dies einer seiner Leiter, der überzeugte Nationalsozialist Th. Bühler, formulierte. Eine solche breite Grundlegung hinderte das AwI aber keineswegs daran, als Basis ihrer sozialpolitischen Einfriedungsprogramme eine rigorose Apartheidspolitik in einer künftigen deutschen Großraumwirtschaft und eine ebenso rigide Verfolgung sogenannter »gemeinschaftsfremder« oder »asozialer« Elemente zu konzipieren. Hier wird bereits die Bereitschaft der beteiligten Wissenschaftler deutlich, die Volksgemeinschaft vor den vermeintlichen Bedrohungen und Belastungen durch deviante Randgruppen in Schutz zu nehmen. Ausgrenzung und Ausschluss gehörten als negatives Begleitprogramm fest zu den Integrationsplanungen der Arbeitswissenschaftler im AwI. Diesem Ziel widmeten sich vor allem die Humanwissenschaftler, die sich als Experten mit verhaltensauffälligen Jugendlichen, psychisch Kranken, Kriminellen, Zigeunern oder Fürsorgeempfängern beschäftigten.46 Ärzte, Juristen, Pädagogen und Sozialwissenschaftler waren in diesen Sektoren besonders aktiv bei der wissenschaftlichen Begleitung, aber auch der praktischen Durchführung der zahlreichen Ausgrenzungsprogramme, mit denen sich diese Gruppen seit 1933 konfrontiert sahen. Im Kreis der Mediziner fanden sich viele, die die rassenhygienische Ausrichtung der neuen Machthaber als Triumph der eigenen wissenschaftlichen Überzeugungen empfanden und das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 als Resultat eigener rassenhygienischer Politikberatung bewerteten.47 Die Umwertung der Medizin zur zentralen Disziplin im Umfeld einer rassenhygienischen Bevölkerungspolitik mag die Eilfertigkeit zahlreicher Ärzte mit beeinflusst haben, sich den Instanzen des Regimes als Forscher, Gutachter und Experten bei der Prüfung psychiatrischer, sozialpflegerischer und dann rassenpolitischer Probleme und Einzelfälle bereitwillig zur Verfügung zu stellen. Generell radikalisierte sich unter den neuen Freiheiten des autoritären Regimes der sozialdisziplinierende Zugriff dieser Expertengruppe auf die »Menschen der Unordnung«, wie es zeitgenössisch hieß. Der Selektionsblick auf Leistungsfähigkeit 44 Roth, Intelligenz, S. 189–229. 45 So der Leitbegriff bei T. Bühler, Deutsche Sozialwissenschaft, Stuttgart 1940, S. 7. 46 Schmuhl, Rassenhygiene; Walter, Geisteskrankenfürsorge; A. Ebbinghaus u. a. (Hg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Sozialpolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984; C. Kuhlmann, Erbkrank oder erziehbar? Jugendhilfe als Vorsorge und Aussonderung in der Fürsorgeerziehung in Westfalen 1933–1945, Weinheim 1989; W. Ayaß, »Asoziale« im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; M. Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische »Lösung der Zigeunerfrage«, Hamburg 1996; P. Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzep­t ionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996. 47 P. Weingart u. a., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 381–395; P. Weindling, Health, Race and German­ Politics between National Unification and Nazism 1870–1945, Cambridge 1989, S. 493–503.

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und Integrationswilligkeit weitete sich bis hin zur Zeugungs- und Lebenswürdigkeit. Kriminologie, nun als »Kriminalbiologie«, aber auch Sozialforschung zu Obdachlosigkeit und Randgruppen (Sinti und Roma)  erlangten im neuen rassenhygienischen Politikfeld besondere Förderungswürdigkeit und verwaltungspraktische Relevanz. In den meisten Fällen lässt sich beobachten, wie verbreitete sozial-kulturelle Ressentiments und Vorurteile in wissenschaftliche Kategorien transformiert wurden und dabei die Standards von Genauigkeit und Kontrolle bei der Prüfung von Forschungsartefakten und Hypothesen deutlich abgesenkt worden sind. Der Verlust innerwissenschaftlicher Kontrolle und der Wegfall externer, administrativer, richterlicher oder gesetzgeberischer Hindernisse förderten die Radikalisierung rassenhygienischer Programme und einen wachsenden Rationalitätsverlust zahlreicher beteiligter Forschergruppen. Ein Teil der Wissenschaftler, die als Experten an den rassenhygienischen Programmen und Politikansätzen der Friedensjahre (von Zwangssterilisationen von Anstaltsinsassen und psychisch Kranken über die Einweisung von »Kriminellen« und »Asozialen« in KZs) mitgearbeitet hatten, gerieten seit 1939 auch in den Sog der immer schnelleren Radikalisierung der Ausgrenzungs- zur Vernichtungspolitik.48 Dabei arbeiteten Mediziner, Sozialpfleger und Juristen eng und in der Regel sehr kooperativ zusammen, wenn es im Zuge der Umsetzung rassenhygienischer Ziele darum ging, durch klare, eindeutige Trennungen zwischen Minderwertigen und Hilfsbedürftigen, aber in die Normalität Rückführbaren, ihrem Kampf gegen »Gemeinschaftsfremde« und »Fremdrassige« eine positive Vision einer »geheilten« Volksgemeinschaft zur Seite zu stellen. Arbeitstherapie und Erziehungslager auf der einen Seite, Sterilisation und Konzentrationslager auf der anderen Seite waren die Verfahren, die generelle Verbreitung fanden. Vielfach knüpften die Experten dabei an Konzepte an, die bereits in der Weimarer Zeit entwickelt worden waren. In der Weimarer Republik waren die Konflikte und Spannungen zwischen sozialintegrativen und repressiv-ausgrenzenden Konzepten im Kreis der Experten niemals zur Ruhe gekommen. Mit dem Ausschluss liberaler und sozialistischer Reformkonzepte und unter dem bereits seit 1930 sich durchsetzenden Diktat von Sparmaßnahmen setzten sich aggressive Ausgrenzungspolitiken durch.49Ein besonderes Feld sozialwissenschaftlicher Expertise im Spannungsfeld positiver und negativer Maßnahmen der »Bevölkerungspolitik« stellte die Raumplanung dar.50 Dieses Arbeitsfeld integrierte 48 Vgl. E. Klee, »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt a. M. 1983; Ayaß, Asoziale; Schmuhl, Rassenhygiene; Kersting, Nach Hadamar; R. J. Lifton, Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart 1988. 49 Vgl. Sachße u. Tennstedt, Armenfürsorge, Bd. 3 S. 46–49. 50 Aly u. Heim, Vordenker; Burleigh, Ostforschung; Rössler, Geographische Ostforschung; Gutberger, Volk; Fahlbusch, Wissenschaft; Rössler u. Schleiermacher, Generalplan Ost; I. Heinemann, ›Rasse, Siedlung, deutsches Blut‹. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003; C. Madaj­czyk (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1995; G. Aly, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1995; H. Momm-

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in regimetypischer Weise eine Vielzahl von Disziplinen und Forschungsansät­ zen. In den neugegründeten bzw. umorganisierten Forschungsinstitutionen arbeiteten Soziologen, Juristen, Geographen, Agrarwissenschaftler und Historiker eng zusammen. Fachlicher Koordinationspunkt der in einer Vielzahl von Arbeitsstellen und Trägern verstreuten Raumforscher war seit 1936 die »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung«.51 Gemeinsamer Nenner der Forschungsarbeit war die Untersuchung und Veränderung der sozialräumlichen Gegebenheiten im Herrschafts- und Interessenbereich des National­ sozialismus. Als inhaltliche Schwerpunkte lassen sich die Stadt- und Siedlungsforschung, die Agrar- und Regionalforschung sowie schließlich als besonderer Typus die Großraumforschung im Kontext des rassistischen Eroberungskriegs seit 1939 unterscheiden.52 Personell und methodisch bestanden vielfältige Verflechtungen und Kontinuitäten zwischen den ersten beiden und dem letztgenannten und jüngsten Arbeitsgebiet. Während für die Zeit von 1933 bis 1938 zunächst noch großangelegte Konzepte einer neuartigen Sozialraumplanung und empirische Studien zu lokalen und regionalen Sozialräumen recht unverbunden nebeneinander existierten, setzte sich mit dem Beginn der Expansion 1938 eine immer stärkere Verzahnung beider Ansätze durch. Die Großraum­ planung gewann in engster Verbindung mit dem Lebensraum-Konzept der politisch Verantwortlichen dabei immer mehr an Bedeutung. Auf diesen Schauplatz traten dann schließlich auch die seit 1931, also bereits vor der NS-Machtübernahme, immer effizienter vernetzten und mit dem Staatsapparat verknüpften Volkstumsforscher, vor allem aus den Fächern Volkskunde, Geschichte und Geographie, die sich in den »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« organisiert hatten.53 Nachdem zunächst noch die Traditionen der volksdeutschen bzw. auslandsdeutschen Arbeitsvorhaben der Weimarer Zeit mit ihrem markant völkisch-großdeutschen Ansatz weitergeführt wurden, um die Ansprüche des Deutschen Reiches auf die Revision der Grenzen durch kulturgeographische, siedlungshistorische und volkskundliche Studien zu untermauern und die längst feststehenden Ostexpansionspläne des NS-Regimes zu legitimieren, rückten nach 1936 mit Vierjahresplan, Anschluss Österreichs und dann im Krieg konkrete Umsiedlungs- und Sanierungsplanungen in den Vordergrund.54 Sowohl im »Altreich« als auch in den angeschlossenen Reichsgebieten schlug die Stunde der Raumplaner und Raumforscher, die im Auftrag der konkurrierenden NS-Größen und ihrer Apparate, Rosenberg, Frank und Himmler, aber in enger Kooperation miteinander daran gingen, mit Hilfe von soziogra­phischen Studien die Aussiedlungsprogramme in den ländlichen Zonen des »Altreiches« sen, Der faustische Pakt der Ostforschung mit dem NS-Regime, in: Schulze u. Oexle, Historiker, S. 265–273. 51 Gutberger, Volk, S. 58–60. 52 Vgl. die Aufteilungen bei Gutberger, Volk, und bei Klingemann, Soziologie, S. 290–316. 53 Vgl. hierzu jetzt ausführlich Fahlbusch, Wissenschaft. 54 Zu dem Perspektivwechsel siehe W. J. Mommsen, Vom »Volkstumskampf« zur national­ sozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa, in: Schulze u. Oexle, Historiker, S. 183–214.

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sowie die Verlagerung von Industrie und Gewerbe in die neuen Ostgebiete vorzubereiten. Zugleich engagierten sich die Raumforscher in zahlreichen Gutachten und Expertisen dabei, in den annektierten Ostgebieten zumindest auf dem Papier Ordnung und Plan in die faktisch ebenso hektisch wie brutal und unkoordiniert durchgeführten Vertreibungen, Umsiedlungen und Ermordungen ganzer Bevölkerungsgruppen zu bringen.55 Trauriger Höhepunkt dieser noch bis 1943 fieberhaft verfolgten Planungsaktivitäten war bekanntlich der »Generalplan Ost«, der unter Leitung des Agrarwissenschaftlers Konrad Meyer in Berlin von seinem Mitarbeiterstab für Himmlers »Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums« entwickelt wurde, um die »germanische« Zukunft dieses Raumes zeitlich parallel zur Ermordung aller Juden und auf der Grundlage der Vertreibung großer Teile der noch ansässigen übrigen Bevölkerung in eine feste Raumordnung zu bringen.56 Zwei Phänomene sind im Zusammenhang dieser Forschungen zur Raum- und Sozialplanung der eroberten Ostgebiete von besonderem Gewicht: Zum einen rückte die Praxis angesichts der rasanten politisch-militärischen Entwicklungen zwischen 1939 und 1942 für die Planer und Sozialforscher immer näher. Entsprechend enger wurde der Bezug auf Vorgaben und Handlungsprobleme der Verwaltungen. Zum anderen beteiligte sich eine wachsende Zahl der Wissenschaftler unmittelbar an der deutschen Okkupationsverwaltung, erstellte Namenslisten, Räumungs- bzw. Ansiedlungspläne und entschied mit über Leben und Tod vieler Bewohner dieser Regionen.

III. Welchen spezifischen Beitrag leisteten nun diese humanwissenschaftlichen Planungsideen und Forschungsvorhaben? Zu Recht wird in der Forschung auf die elementare Gemeinsamkeit all dieser Wissensformen und Zugriffsweisen verwiesen, die in ihrem technisch-zweckrationalen Zugriff gesehen wird.57 Zweifellos haben diese Experten jenseits der politischen Propaganda mit ihren vieldeutigen Schlagwörtern und wechselnden Feindbildern Begriffe und Verfahren bereitgestellt, die in Arbeitsroutinen von Verwaltungen oder Gerichten umzusetzen waren. In diesem elementaren Sinn stellten Forscher wie Planer Sozialtechniken bereit, die sowohl mit den politischen Leitideen als auch mit den konkreten Handlungsprioritäten des Regimes vereinbar waren. Immer wieder 55 Aly u. Heim, Vordenker; Aly, Endlösung; zu den Realitäten siehe exemplarisch: T. Sandkühler, Endlösung in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941–1944, Bonn 1996. 56 Madajczyk, Generalsiedlungsplan; Rössler u. Schleiermacher, Generalplan Ost. 57 Klingemann, Soziologie; Pollak, Rassenwahn; Bock, Zwangssterilisation; vergleichend: L. Raphael, Experten im Sozialstaat, in diesem Band S. 95–129.

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ist darauf hingewiesen worden, dass der Einsatz der Humanwissenschaftler im Nationalsozialismus in der Kontinuität wachsender Staatsintervention im Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft stand, viele administrativ-politische Praxisfelder nur ausgebaut wurden, laufende Tendenzen zur anwendungsorien­ tierten, d. h. aber in der Regel verwaltungskonformen Professionalisierung weiterliefen.58 Die Diktatur setzte jedoch besondere Rahmenbedingungen und ließ allein technokratisch-autoritäre Formen der Sozialexpertise zu; gleich­zeitig institutionalisierte sie frühzeitig die rassenpolitischen Ziele künftiger »Bevölkerungspolitik«. Die so veränderten Arbeitsbedingungen nach 1933 erlaubten eine ungleich vollständigere Erfassungs- und Erhebungstätigkeit, die auch Informationen aus der Privatsphäre des Einzelnen den staatlichen Behörden zugänglich machte und damit die Zugriffschancen wie Gestaltungsmöglichkeiten der jeweiligen Experten enorm erhöhte, wenn sie in die weitere politisch­ administrative Arbeit eingebunden waren. Dies war, wie wir sahen, bei vielen und tendenziell bei immer mehr Vertretern dieser Berufsgruppen der Fall. In diesem Sinn leisteten alle diese Berufsgruppen unersetzliche Arbeit als Spezialisten für die Weiterentwicklung, Verfeinerung und situative Anpassung von »Technologien des Rassismus«.59 Sie gaben der Willkür des politischen Willens, der polizeilich-militärischen Gewalt die Autorität des Rechts, des richterlichen oder medizinischen Urteils und der wissenschaftlichen Tatsachenbehauptung. Gerade die enge Kooperation zwischen den unterschiedlichen Humanwissenschaftlern ließ ein Verweissystem der Begründungen entstehen, das zu einem hochgradig selbstreferentiellen Teilsystem eines wissenschaftsförmigen Rassismus zusammenwuchs. Klassischen Ausdruck fand dieser Beitrag der Humanwissenschaften in den vielen umfangreichen Personenkarteien und Bevölkerungslisten, die auf der Basis ihres Wissens bzw. ihrer Gutachten angelegt wurden und die Grundlage der weiteren administrativen bzw. polizeilichen Zugriffe des Regimes waren. Dieses sozialtechnokratische Muster restloser Erfassung und administrativer Klassifikation betraf nicht nur die jüdische Bevölkerung, sondern wurde im Zuge der rassenhygienischen, gesundheitspolitischen und volkstumspolitischen Pläne auch für die gesamte Bevölkerung des Reiches angestrebt.60 Gerade hieran beteiligten sich die verschiedensten wissenschaftlichen Institute und Forschergruppen mit besonderem Eifer, ohne dass jedoch der Alptraum einer »transparenten« Volksgemeinschaft realisiert worden wäre. Lassen sich weitere Elemente ausfindig machen, die es nahelegen, von einem gleichartigen Denkstil im Feld der angewandten Humanwissenschaften zu sprechen?

58 Zusammenfassend: Klingemann, Soziologie, S. 277–290. 59 A. Beyerchen, Rational Means and Irrational Ends. Thoughts on the Technology of Racism in the Third Reich, in: CEH, Jg. 30, 1997, S. 386–402. 60 Siehe hierzu G. Aly u. K. H. Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, Berlin 1984.

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Ich nehme an diesem Punkt den Begriff von Ludwik Fleck auf, da er mit der systematischen Verknüpfung von »Denkstil« und »Denkkollektiv« einen Ansatz verfolgt, der das Gewicht der intellektuellen Bindungen ernst nimmt, die sich aus der beruflichen Zugehörigkeit und fachlichen bzw. generations­ spezifischen Sozialisation ergeben.61Vor allem das Konzept der »aktiven Koppelungen« erlaubt, in den beteiligten Wissenschaftlergruppen und Fachdisziplinen solche stabilen intellektuellen Konstellationen, die die Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Welt steuern, präziser einzugrenzen. Die richtungweisenden Elemente können aus ganz heterogenem Material bestehen, das von sozialen Vorurteilen bis zu elaborierten theoretischen Modellen reicht. Gerade diese irritierende Mischung diffuser Leitideen über die soziale Welt mit massiven Ressentiments gegen bestimmte Gruppen oder Völker und rationalen wissenschaftlichen Erklärungsansätzen und Forschungsverfahren in Gestalt wissenschaftlicher Expertise tritt uns im Fall der Humanwissenschaftler zwischen 1933 und 1945 in aller Schärfe immer wieder entgegen. Als erstes Stilelement, das für diese ›Koppelungen‹ konstitutiv ist, kann das Denken in Kategorien vermeintlicher sozialer Pathologien bezeichnet werden. Die Metaphernwelt von Sozialhygiene und Eugenik, aber auch die zeitgenössischer und älterer organizistischer Sozialtheorien floss zusammen in Kategorien von »Heilung«, »Krankheit« und »Gesundheit«. Der »Gesundheitszustand« von Institutionen und sozialen Konstellationen wurde in der Regel anhand von »Indikatoren« überprüft, die häufig Übereinstimmung mit gesetzten Durchschnitts- oder Normwerten suggerierten, aber auch ebensogut rein intuitiv als Erscheinungsformen vermeintlicher »Wesenheiten«, eben jener »konkreten Ordnungen« postuliert wurden. Ein wesentlicher Effekt dieses Stilelements ist, dass selbst gewaltförmige politisch­administrative Interventionen als bloß unterstützende Eingriffe in einen selbstlaufenden »Heilungsprozess« oder aber als schützende Vorbeugungsmaßnahmen gegen soziale »Krankheiten« und Gefährdungen von »Volkskörpern«, »Gemeinschaften« und »Ordnungen« erschienen. Auch wenn unterschiedliche berufsspezifische Affinitäten zu sozialmedizinischen, eugenischen oder organizistischen Redeweisen und Metaphern zu beobachten sind, so lässt sich doch generell feststellen, dass sie miteinander kombinierbar und gegeneinander austauschbar waren. Zweitens fällt auf, dass die Ausrichtung auf konkrete Ziele der NS-Bevölkerungspolitik, der direkte Bezug auf Probleme der Verwaltungen und der politischen Führungsgruppen die Art und Weise beeinflussten, in der die Experten ihre Tatsachen erzeugten, ihre Untersuchungsobjekte konstruierten. Zum einen bemühten sich alle Experten, statistische Evidenzen zu erzeugen. Die Auswahl 61 »Denkstil ist nicht nur diese oder jene Färbung der Begriffe und diese oder jene Art sie zu verbinden. Er ist bestimmter Denkzwang und noch mehr, die Gesamtheit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln.« L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1980, S. 85.

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und Interpretation von »Sozialstrukturdaten« war ein wichtiger Beitrag dieser Gruppen bei der Konstruktion einer rassisch definierten Volksgemeinschaft. Typische Verfahren der Aggregation und Deutung der untersuchten Phänomene waren die sozialräumliche und die demographisch-genealogische Abbildung. Karten, d. h. die räumliche Verteilung, und Stammbäume, d. h. die Generationsfolge, waren die Interpretationsschlüssel zum Verständnis der meisten sozialen und kulturellen Differenzen, mit denen sich die Experten beschäftigten. Morphologische und kartographische Verfahren gewannen gerade bei der zusammenfassenden Bewertung der Erhebungsdaten über kleinere Personengruppen und Räume entscheidendes Gewicht. Zusammen mit dem ersten Element ergab sich hieraus ein markanter Trend zur Hypostasierung von selbsterzeugten Kollektivgebilden. Die erkannten und konstruierten »Ordnungen« oder »Strukturen« wurden in diesem Denkstil zu Substanzen und Wesenskräften hinter den Erscheinungen; der ständige Einfluss der politischen Sprache des Regimes verstärkte noch diese Tendenz zu einem substantialistischen Denken sozialer Konstellationen. Drittens standen diese Techniken der Erfassung sozialer und individueller Phänomene in enger Beziehung zu den Wunschbildern und Planungszielen sozialer Ordnung. Das weltanschaulich vorgegebene, aber wissenschaftsgestützte Modell eines rassenhygienisch »gereinigten« Volkskörpers, dessen Leistungsfähigkeit auch intern auf Konkurrenz und Auslese beruhte, koexistierte mit dem Modell einer im Innern pazifizierten Volksgemeinschaft, deren wirtschaftliche und soziale Dynamik politisch gebändigt und kontrolliert werden sollte. In diesen Planungsentwürfen wird ein Widerspruch deutlich: Zum einen strebten die humanwissenschaftlichen Expertisen eine ausgesprochen dynamische Zukunftsgesellschaft an, zum anderen sollten die Marktkräfte durch einen starken Staat gebändigt und der beschleunigte soziale Wandel durch permanente Sozialbetreuung und weitsichtige Sozialplanung eingehegt werden. Gerade im Hinblick auf die Leitideen für eine nationalsozialistische Wirtschaftsordnung resultierten daraus Ambivalenzen, die deutliche Parallelen zur nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik aufweisen. »Die mit der kapitalistischen Ökonomie einhergehende soziale Dynamik stand quer zum Wunsch nach Stabilität in einer ›organischen‹ Sozialordnung, eine Stabilität, die auf klaren (gleichwohl nicht ›ständischen‹) und handhabbaren Abgrenzungen und Ordnungsprinzipien zwischen Schichten beruhen sollte.«62 Organizistische und sozialdarwinistische Varianten sind keineswegs zu konkurrierenden Großmodellen ausgebaut worden, sie markieren eher die zwei Pole, zwischen denen sich die theoretischen Entwürfe und Debatten immer wieder hin und her bewegten. Viertens ergänzte die kleinräumige, gemeinschaftsbezogene Steuerung, die personenbezogene Betreuung bei den positiven Zielprogrammen die Großplanungen. Die indirekte Gestaltung der »konkreten Ordnungen« des Nationalsozialismus durch die sozialplanerische Veränderung von Umwelt (v. a. 62 Gutberger, Volk, S. 210.

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Lebensraum) und Deutungsmustern gehörte zu den Spezifika der humanwissenschaftlichen Empfehlungen an die NS-Politiker. Überzeugung der meisten Planer war: Letzten Endes werde sich immer »die Politik am erfolgreichsten erweisen, die durch eine sorgfältige Planung der äußeren Umstände den einzelnen Volksgenossen gewissermaßen zwangsläufig dazu bringt, den im politischen Interesse gewünschten Entschluss zu fassen. Das gilt für die Raumbesiedlung im gleichen Sinn, wie es bei der Erörterung der Lohnfragen für den Arbeitseinsatz festgestellt worden ist.«63 Stabilität und Entwicklungsfähigkeit solcher kleinräumigen lebensweltlichen »konkreten Ordnungen« waren jedoch in den Denkmodellen der Experten aufs engste verknüpft mit Kontrolle und Ausgrenzung. Dem sozialwissenschaftlichen Denken in »Milieus« oder den kriminalbiologischen Vermutungen über »Sippen« entsprachen die korrespondierenden Argumente und Begriffe aus dem Repertoire der Rassenhygiene. »Soweit nicht bereits die biologische Vermehrung der völlig Minderwertigen durch ihre biologische Ausmerze (Sterilisation) unterbunden wird«, so proklamierte ein Sozialforscher 1941, »erscheint daher geboten, die nachweisbar wertvollen Volksglieder unter den Hilfsarbeitern, ungelernten Arbeitern und Bergarbeitern von ihrer erdrückenden sozialen Last zu befreien und sie vermittels einer vorsichtigen sozialen Betreuung wieder in dem natürlichen und kultürlichen Boden unseres Volkes zu verwurzeln.«64 Im »Minderwertigen«, »Fremdrassigen« wie im »Gemeinschaftsfremden« fanden die Humanwissenschaftler des Regimes die geeigneten Verkörperungen der zahlreichen Gefährdungen, die sie halbwegs realistisch auch bei den Entwürfen ihrer eigenen Sozialutopien in Rechnung stellten. »Auslese« und »Ausmerze« waren denn auch die Standardformeln für die repressiv-terroristische Seite dieser Ordnungsentwürfe für Siedlungsräume, Industrieorte und Regionen. Fünftens steht das Nebeneinander dieser Zielvorstellungen in engstem Zusammenhang mit der Verzahnung von positiver und negativer, produktiver und destruktiver Zwecksetzung der Zukunftsplanungen. Neubau und Vernichtung sind in der Tat die zwei Seiten der NS-Bevölkerungspolitik. Spätestens seit dem Kriegsbeginn waren auch zahlreiche Wissenschaftler, zumindest in ihren fachlichen Kontexten, mit beiden Aspekten konfrontiert, wenn sie nicht in unmittelbarem Bezug aufeinander an beiden Aspekten mitarbeiteten, also deutsche Volkstumspolitik und Umsiedlungsplanung bzw. Hungerprogramme für slawische Bevölkerungsgruppen im Rahmen der Ostpläne erstellten. Konzeption, Umfang und sprachliche Präsentation der wissenschaftlichen Planungen tendierten – vor allem im Krieg – immer mehr dazu, umfassende und dauerhafte Lösungen vorzuschlagen. Dies galt sowohl für die negativen Maßnahmen­ kataloge, die alle unter der Zielvorstellung der Verhütung von Gefahren, der Prävention standen, und die nun in größerem Umfang, in schnellerem Zugriff 63 Bühler, Deutsche Sozialwissenschaft, S. 403, zit. in: Roth, Intelligenz, S. 145. 64 E. Donay, Die Beziehungen zwischen Herkunft und Beruf auf Grund einer statistischen Erhebung der Dortmunder Bevölkerung, Essen 1941, S. 88, zit. in: Gutberger, Volk, S. 292.

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und in radikalerer Weise umgesetzt werden sollten, als auch für die positiven Sozialprogramme, die umfassender, kostenaufwändiger und radikaler entworfen wurden als in den Anfangsjahren. In beiden Varianten nahm das sozialuto­ pische Moment in den Denkschriften, Memoranden und Planungen der Experten deutlich zu. Aus technokratischen Sozialplanern wurden zusehends terroristische Sozialordner, deren »Endlösungen« wohl auch als Flucht aus den Realitäten ungezähmter sozialer Konflikte und unkontrollierbarer sozialer Entwicklungen zu interpretieren sind. Auf dem Höhepunkt der militärischen Erfolge des Regimes entfaltete sich eine uns heute unheimlich erscheinende Planungseuphorie unter den deutschen Humanwissenschaftlern. In ihren Augen bildeten die militärischen Erfolge der Wehrmacht den Auftakt zu einem bizarren Sanierungswerk der sozialen und biologischen Konstitution der Deutschen, für manchen sogar der Menschheit.65

IV. Diese Befunde neuerer und älterer Studien fordern dazu auf, den Interpreta­ tionsrahmen zu überprüfen, in den man diese Einsichten in Denkstil und Handlungsfeld angewandter Humanwissenschaften im NS-Regime einordnen kann. Mehrfach habe ich bereits von dem Erklärungsmodell des Rassismus Gebrauch gemacht; in der Tat haben gerade die neueren Studien zu Genese und Umfeld der NS-Vernichtungs- und -Umsiedlungspolitik während des Zweiten Weltkriegs eindringlich die Bedeutung der rassistischen Gesamtmotivation, ihrer wissenschaftsförmigen Rationalisierung und ihrer verwaltungskonformen Ordnungsraster hervorgehoben. Aus der erneuten Einsicht in die Relevanz zweckrationaler Verfahren und wertrationaler Begründungen sind in der jüngsten Zeit wiederum Debatten um die Affinitäten zwischen moderner wissenschaftsförmiger Rationalität, ihren professionellen Vertretern und den terroristischen Herrschaftsentwürfen des NS-Regimes entstanden.66 Diese Kontroversen reihen sich ein in die Debatten um Modernität und Holocaust, die in ihrer grundlegenden Frageperspektive anknüpfen an die geschichtsphilosophischen Standortbestimmungen unmittelbar nach dem Ende des NS-Regimes. Meines Erachtens kann eine ideengeschichtliche Perspektive in dieser Debatte 65 Vgl. C. Klingemann, Ein Kapitel aus der ungeliebten Wirkungsgeschichte der Sozialwissen­ schaften. Sozialutopien als sozialhygienische Ordnungsmodelle, in: ders., Rassenmythos, S. 10–48; D. J. K. Peukert, Die Genesis der Endlösung aus dem Geist der Wissenschaft, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins. Chance oder Gefährdung? Praktische Philosophie in Deutschland nach dem Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1988, S. 24–48. 66 Z. Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992; M. Schäfer, Die »Rationalität« des Nationalsozialismus. Zur Kritik philosophischer Faschismustheorien am Beispiel der Kritischen Theorie, Weinheim 1994.

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dazu beitragen, die spezifischen historischen Rahmenbedingungen präziser zu bestimmen, in denen die herausgearbeiteten Affinitäten zwischen Sozialexperten und NS-Politikern, zwischen Sozialtechnologien und staatlichem Rassismus sich entfalten konnten. Solche Wahrnehmungen, Energien und Emotionen der regimeloyalen Humanwissenschaftler sind von folgenden zeittypischen ideellen Konstellationen in Richtung auf Selbstmobilisierung und Engagement für das Regime gelenkt worden. Die Existenz weiter Deutungsspielräume innerhalb der NS-Weltanschauung, die Befriedigung eigener Weltanschauungsbedürfnisse, der generationsspezifische Denkstil rechtsradikaler »Sachlichkeit«, schließlich die Dramatisierung der Historismuskrise und die Aufwertung der Expertenrolle als Gegentyp zum kritischen Intellektuellen und akademischen Gelehrten. Zum ersten Aspekt: Abweichend von den Interpretationen der NS-Welt­ anschauung, die sie als »propagandistische Simulation« begreifen oder in Hitlers Weltbild personifiziert sehen, legen die Befunde zum Ordnungsdenken der Humanwissenschaftler nahe, diese Weltanschauung als ein politisch kontrolliertes, aber intellektuell offenes Meinungsfeld aufzufassen, das bloß auf einige Begriffshülsen verbindlich festgelegt war, in dem aber die unterschiedlichen Elemente rassistischer Bewertungsschemata einen zentralen Platz einnahmen. Grundsätzlich kam es nach 1933 nicht zu einer Kanonisierung der parteieigenen Ideologie. Ganz im Gegenteil blieben Leitbegriffe der NS-Weltanschauung wie Volk, Gemeinschaft, Führer und Rasse offen für jeden Interpreten. Oliver­ Lepsius hat für den Bereich der Rechtswissenschaften zeigen können, dass die Konturlosigkeit selbst dieser zentralen Begriffe der NS-Weltanschauung keineswegs zur Distanzierung der Rechtswissenschaftler und Philosophen führte, sondern geradezu als Einladung verstanden wurde, den Spielraum schöpferisch auszugestalten, um eigene Wunschvorstellungen und Leitideen in das neue Begriffssystem einzuschleusen.67 Insbesondere bestand zu keinem Zeitpunkt eine inhaltliche Grenze zwischen den unterschiedlichen völkischen, nationalistischen und jungkonservativen Strömungen der Weimarer Zeit und dem Nationalsozialismus. Selbst die große Gruppe der »orthodoxen« Mandarine nationalkonservativer Prägung, wie sie Fritz K. Ringer definiert hat,68 konnte noch einen Platz im sich rasch etablierenden neuen Weltanschauungsfeld erobern, wenn sie zu einigen Neuarrangements in der Rangordnung ihrer Argumentationen und zu einem Aggiornamento ihrer Begriffe bereit war. Der National­sozialismus lud zur Beteiligung aller nationalen Kräfte ein: »Die NS-Ideologie ist inhaltlich und strukturell für die neuen Begriffe und Wertvorstellungen aus der Weimarer Republik ein ideales Sammelbecken gewesen.«69 Selbst der antisemitische Kern des amtlichen Rassismus, dessen zentrale Bedeutung für die »Weltanschauungselite« der SS unbestreitbar ist, trat in zahlreichen theoretischen Beiträgen zur Rassenhygiene, zu Gemeinschaft und Volk ganz in den Hintergrund, 67 Lepsius, Begriffsbildung, S. 13–218. 68 Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, Stuttgart 1983. 69 Lepsius, Begriffsbildung, S. 116.

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ohne dass daraus gefolgert werden kann, dass solche Texte bereits zum geistigen Widerstand gehörten. Verbindlichkeit erlangte letztlich allein die Loyalität zur politischen Führung der eigenen Nation. Die NS-Ideologie entwickelte sich damit nach 1933 zum nominellen Rahmen für ein breites Spektrum politischer, philosophischer und wissenschaftlicher Ideen. Typischerweise kam es in den ersten drei Jahren zu einer Welle programmatischer Stellungnahmen im akademischen Feld, die alle das Ziel hatten, als autoritative Auslegung der neuen Weltsicht anerkannt zu werden. Alle Virtuosen dieser Interpretationsarbeit, von den Parteigängern Krieck, Rein oder ­Baeumler bis hin zu den begeisterten Mitläufern Freyer, Heidegger oder Schmitt, sahen sich um die Früchte ihres intellektuellen Einsatzes betrogen. Die Konflikte wurden zwar mit großem Einsatz politischer Protektion und persönlicher Denunziation geführt, endeten jedoch in Pattsituationen. Keine der Deutungsvarianten setzte sich durch, selbst die machtstärkste Fraktion der SS / SDIdeologen musste ihren Traum aufschieben, das Interpretationsmonopol einer synthetischen NS-Weltanschauung zu gewinnen.70 Es gab keine »Orthodoxie«, die den unterschiedlichen weltanschaulichen Kontrollinstanzen Beurteilungskriterien und Entscheidungskompetenz übertragen hätte. Hitler selbst hatte grundsätzliche Vorbehalte gegen eine dogmatische Fixierung der nationalsozialistischen Weltanschauung. Antiintellektualistische Vorurteile, Primat der Politik, schließlich aber auch autodidaktische Wissenschaftsgläubigkeit mischten sich nicht nur bei ihm, sondern auch in der engeren Führungsclique. Die Ideologen der Bewegung wähnten sich im Einklang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und erwarteten von der Förderung einschlägiger Forschungen in Eugenik, Genetik, Biologie, aber auch in Ökonomie, Geschichte und Soziologie eine Bestätigung und Weiterentwicklung der eigenen Weltanschauung. Zweifellos erhoben die nach 1933 etablierten ideologischen Kontrollinstanzen des Regimes einen totalitären Anspruch, aber ihre Schwäche resultierte nicht allein aus dem bekannten Konkurrenzkampf der Führungsgruppen, sondern ergab sich aus dieser besonderen Struktur des Weltanschauungsfeldes. Ihre Macht reichte in der Regel nicht bis zur polizeilichen Verfolgung abweichender Lehrmeinungen innerhalb des geduldeten Meinungsfeldes, sondern bestenfalls dazu, als politische Instanzen den Konkurrenten um akademische Positionen und intellektuellen Einfluss Karrierechancen und Zugang zu Ressourcen von Staat und Partei zu verweigern. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Praxis der parteiamtlichen Kontrolle und staatlichen Zensur wissenschaftlicher Publikationen. Bis 1938 war im Amt Rosenberg allein Baeumler für die Wissenschaften zuständig, auch nach dem Ausbau 1938 waren maximal sechs Personen beschäftigt. In der Praxis verwickelte man sich stärker in Kontroversen im engeren Umfeld der »Weltanschauungseliten« des Regimes, als dass man eine wirksame ideologische Kontrolle oder zielgerichtete politische Steuerung des Wissenschaftsfeldes ent70 Zu den entsprechenden Ambitionen siehe Hachmeister, Six; Herbert, Best.

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wickelt hätte.71 Im Gegenzug fachte die Existenz politisch kontrollierter Ressourcen für die wissenschaftliche Forschung und die akademischen Karrieren die Konkurrenz der verbliebenen Schulen und Forschungsansätze an, die sich alle des neuen Zauberworts »nationalsozialistisch« zu bemächtigen suchten. Im Ergebnis existierten so im Nationalsozialismus unterschiedlichste wissenschaftliche Ansätze und Strömungen weiter, die im Rahmen der politisch beaufsichtigten Meinungsvielfalt recht frei agierten. Die Tatsache, dass dieser Freiraum ohne institutionelle Sicherungen, gewissermaßen auf Widerruf, existierte, hat zweifellos ihre untergründige Wirkung gezeigt. Die Selbstmobilisierung der vielen deutschen Wissenschaftler sicherte die professionellen Spielräume um den Preis zunehmender Einpassung in den weltanschaulichen Rahmen. Entsprechend breit ist das Spektrum individueller Reaktionsweisen innerhalb des neuen Weltanschauungsfeldes, ohne dass dies bereits als Indiz für eine erfolgreiche »Selbstbehauptung« der Wissenschaft genommen werden kann. Die Gefahren lagen nicht bloß im affirmativen Bekenntnis, sondern bereits im Wegfall gesicherter Grenzen zwischen Wissenschaft, Politik und Weltanschauung. Diese Besonderheit des nationalsozialistischen Weltanschauungskomplexes ist bis heute sowohl in der zeitgeschichtlichen Forschung als auch in den Studien der einzelnen Wissenschaften zu ihrer NS-Vergangenheit übersehen worden. Trotz der Radikalisierungstendenzen seit 1938 lässt sich auch unter den Bedingungen des Krieges kein qualitativ neuer Schritt zur totalitären Durchdringung des Wissenschaftsfeldes beobachten. Das Fatale der Konstellation lag in der Zustimmung der meisten zur Konstitution des neuen Meinungsfeldes, das die notorisch unklaren Grenzziehungen zwischen Weltanschauung und Wissenschaftssystem immer mehr verwischte und mit Führerwillen und Volksgemeinschaft ein wissenschaftsexternes Kriterium letzter Instanz etablierte. Diese singuläre Rückkoppelung wissenschaftlicher Denkstile an ein politisch kontrolliertes Deutungsspektrum der sozialen Welt, als dessen Kern man den Rassismus ausmachen kann, wirkte als Katalysator für die oben skizzierten Stilelemente »konkreten Ordnungsdenkens«. Die daraus hervorgegangenen neuartigen Institutionen von Forschung und Fachkommunikation bestärkten dann ihrerseits diese aktiven Koppelungen des rassistischen Denkstils. Schließlich ist auch daran zu erinnern, dass die Etablierung des neuen nationalsozialistischen Weltanschauungsfeldes, das selbst von seinen offiziellen Wächtern als zukunftsoffen und wandelbar definiert wurde, einherging mit einer scharfen Abgrenzung nach innen und vor allem nach außen. Bereits die Zäsur 1933 war symbolträchtig und praktisch mit der Vertreibung der weltanschaulichen Gegner eingeleitet worden. Liberalismus, Bolschewismus und dahinter dann, als vermeintliche Quelle allen Übels, das »Weltjudentum«. Diese intellektuellen Abgrenzungen wurden zugleich als Bestätigung der kulturellen Eigenart, der intellektuellen Sonderrolle sowie des wissenschaftlichen Vorranges Deutschlands inszeniert und darin anschlussfähig. Der Germanozentrismus 71 Klingemann, Soziologie, S. 232 ff.

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der deutschen Humanwissenschaften, der bereits durch die Zäsuren von 1914 und 1918 eine enorme Verstärkung erfahren hatte, herrschte nach 1933 und verstärkt noch nach 1939 in bornierter Unumschränktheit. So ist es auch verständlich, dass trotz der technokratischen Züge alle beteiligten Disziplinen und Institutionen sich intensiv darum bemühten, eigenständige ideengeschichtliche Traditionen zu pflegen oder neu zu erfinden. Es verwundert nicht, dass in den verschiedenen Aufgabenfeldern (von den Ämtern der Ostforschung bis hin zu den Reichsuniversitäten und dem AwI der Deutschen Arbeitsfront) immer wieder Historiker bzw. ganze historische Abteilungen zu finden sind, deren Aufgabe darin bestand, Kontinuitäten und Vorläufer zu konstruieren, um die aktuellen Ansprüche zu rechtfertigen bzw. laufende Gewaltpolitik in das rosige Licht der eigenen Kulturtraditionen zu stellen. Der strikten Abgrenzung nach außen, die sich praktisch im geschlossenen Auftreten deutscher Wissenschaftler bei internationalen Tagungen äußerte, entsprach die Ausgrenzung der Entlassenen und Emigrierten. Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass die Mehrheit der Wissenschaftler diesen Akt innerlich ratifizierte, weil er mit den diffusen Ausgrenzungsmechanismen übereinstimmte, mit denen bereits vor 1914 die akademische Welt sich unerwünschter intellektueller Konkurrenz und abweichender politischer Haltungen erwehrt hatte. Der Verlust akademischer Liberalität im Zeitalter bedrohter Privilegien gehört jedenfalls zur unmittelbaren Vorgeschichte dieser internen Abkehr von den Standards wissenschaftlicher Konkurrenz. Eine zweite Überlegung betrifft die Energien, die in dieses so weite wie disparate Weltanschauungsfeld geflossen sind. Vergegenwärtigt man sich die schwachen intellektuellen Ressourcen, über die die NSDAP noch im Januar 1933 verfügte, so stellt sich die umfassende Mobilisierung der akademischen Berufsgruppen als ein ausgesprochener Überraschungserfolg für die NS-Bewegung dar. Diese Integration versteht man nur, wenn man die neue amtliche »Weltanschauung« selbst als Kind eines ebenso diffusen wie weitverbreiteten Bedürfnisses nach umfassender und zugleich öffentlich verbindlicher Deutung der sozialen Welt interpretiert. Auch in diesem Fall steht die Forschung erst am Anfang. Offensichtlich ist seit der Jahrhundertwende im deutschsprachigen Kontext der Bedarf nach holistischen Weltdeutungen, »Weltbildern«, gerade im Kreis der akademischen Berufsgruppen gewachsen; dabei verbanden sich diese Ganzheitsansprüche mit der Artikulation eines ausgeprägten Krisenbewusstseins, dem vielbeschworenen Unbehagen an der modernen Kultur.72 Davon profitierten sowohl naturwissenschaftlich als auch geisteswissenschaftlich ausgerichtete Deutungsangebote. Die Traditionsschwäche des älteren Positivismus, aber auch des einheitswissenschaftlich ausgerichteten Rationalismus haben sicherlich mit dazu beigetragen, dass diese kognitiven Dissonanzen par72 Vgl. P. Gay, Der Hunger nach Ganzheit. Erprobung der Moderne, in: ders., Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–1933, Frankfurt a. M. 1970, S. 99–137; als exemplarische Fallstudie: S. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995.

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tieller Weltsichten hierzulande schärfer wahrgenommen und als bedrohlicher empfunden worden sind als etwa in Großbritannien, den Vereinigten Staaten oder in Frankreich. Dieses Weltanschauungsbedürfnis für die eigenen politischen Ziele zu organisieren, nicht es in dogmatischer Form zu fixieren, war das Hauptinteresse Hitlers. Zahlreiche Intellektuelle erlebten die Einschränkungen der Deutungs­ sprachen und die Erhebung einiger Schlüsselbegriffe zu verbindlichen Leit­ werten des NS-Regimes als Befriedung eines von ihnen als bedrohliche Entzweiung und relativistische Verunsicherung empfundenen Ideenpluralismus der Weimarer Zeit. Symptomatisch ist hierfür die Feststellung des Juristen Karl Larenz über die neue Rolle des Richters: »Während er in der Zeit der weltanschaulichen Zerrissenheit durch jede entschiedene Stellungnahme einen Teil des Volkes gegen sich aufbrachte, kann er sich heute auf eine in den entscheidenden Grundlagen einheitliche Rechts­- und Staatsauffassung des ganzen Volkes stützen.«73 Die Begriffshülsen der offiziellen Weltanschauung kamen offensichtlich den fundamentalen Wünschen zahlreicher Intellektueller entgegen, die eigenen Kulturwerte und Sichtweisen der sozialen Welt durch staatliche Autorität geschützt zu sehen. Sie begrüßten ausdrücklich die autoritäre Fixierung verbindlicher Werte und Begriffe von Staats wegen bzw. aus Gründen nationaler Einheit und Stärke. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass die Wissenschaften schon im Deutschland des 19. Jahrhunderts ein für sie insgesamt erfolgreiches Bündnis mit autoritären Staatsführungen eingegangen waren und diese Tradition auch im kollektiven Erinnerungsbild präsent war. Gerade diese Bedürfnisse sind aber auch charakteristisch für die Gruppe der sogenannten Pragmatiker und »Technokraten«, die erst nach dem Debakel von 1945 die Krücken weltanschaulicher Leitideen von sich warfen, den neuen Nachkriegsregimen als bloße Experten technischer Vernunft dienten und sich selbst nachträglich zu Männern des Krisenmanagements im Kriegschaos stilisierten. Solche intellektuellen Affinitäten wurden schließlich drittens noch verstärkt durch einige generationsspezifische Faktoren, die die Sozialgeschichte der Intellektuellen herausgearbeitet hat. Vor allem in den anwendungsorientierten, politikberatenden Funktionen treffen wir nach 1933 häufiger auf jüngere Wissenschaftler, für die der politische Machtwechsel gleichbedeutend war mit dem Beginn der eigenen Karriere und Aufbrüchen im eigenen Fach. Zentrale Bedeutung kam dabei den Mitgliedern der Weimarer Studentengeneration zu, die im Anschluss entweder an eigene Fronterfahrungen oder aber jugendliches Kriegserlebnis in der Heimat im Oppositionsmilieu der radikalen Rechten oder völ­ kischer Jugendbünde sozialisiert worden waren.74 Der Kreis derer, die dabei 73 K. Larenz, Rezension zu Justus Wilhelm Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, in: Zs. für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht, Jg. 100, 1934, S. 378–382, hier S. 381. 74 I. Haar, ›Revisionistische‹ Historiker und Jugendbewegung: Das Königsberger Beispiel, in: Schöttler (Hg.), S. 52–103; Herbert, Best; Hachmeister, Six; J. Z. Muller, The Other God That Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton 1987;

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bereits vor 1933 zur NSDAP gestoßen waren, ist eher klein; häufiger anzutreffen sind Prägungen durch die unterschiedlichen Gruppierungen der völkischen Rechten bzw. der sogenannten nationalen Opposition. Diese Generationsgruppe hatte dabei in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren lebenspraktisch das Ende bürgerlicher Sicherheiten und die Risiken des akademischen Arbeitsmarkts erfahren. Der gruppenspezifische Gegenentwurf zu solchen Erfahrungen war gekennzeichnet von elitärem Selbstbewusstsein, Kult der Sachlichkeit, Bewunderung militärischer Ordnung und Bereitschaft zu gewaltsamen und radikalen Problemlösungen. Ganz stark war in dieser Kerngruppe die emotionale Bindung an die Ziel- und Wertvorstellungen eines radikalen Nationalismus. Hier lässt sich die religiöse Fundierung dieses Denkstils erkennen: Gerade unter den extremen Bedingungen der Zwischenkriegszeit wurden religiöse Sinn­ erwartungen an das Schicksal der eigenen Nation gebunden. Der Dienst für Volk und Vaterland war eine wichtige Brücke zum Rassismus der NS-Weltanschauung. Der Leitspruch »Deutsch! Wehrhaft! Fromm!« der Deutschen Akademischen Gildenschaft steht exemplarisch für die Gefühlslage und den Denkstil zahlreicher akademischer Männerbünde der zwanziger und frühen dreißiger Jahre.75 Vor allem die Orientierung dieser männerbündisch sozialisierten Akademiker an soldatischen Werten zeigte nach 1933 und verstärkt noch nach 1939 seine Wirkung und beeinflusste den Denkstil der untersuchten Berufsgruppen tiefgreifend. Gerade die neueren biographischen Studien haben die habituellen Prägungen dieser Alterskohorten durch das positiv besetzte Leitbild des modernen technischen Kriegs mit seinen Zwängen zu realitätstüchtiger Fachkompetenz, charakterlicher Härte und handlungsbereiter Entschlossenheit deutlich gemacht.76 Diese Einstellungen und Haltungen haben im Nationalsozialismus vielfältige Unterstützung und allseitige Förderung erfahren. Ohne dass dies hier tiefenpsychologisch begründet oder kollektivbiographisch vertieft werden kann, lassen sich die Spuren dieser Prägungen im Sprachduktus der Denkschriften und Aufsätze, aber auch in den Rigiditäten selektiver Raster und vereinfachender Ordnungsmodelle verfolgen. Übereinstimmung in Haltung und Emotionalität trugen wohl dazu bei, den skizzierten Denkstil des »Ordnungsdenkens« beim einzelnen Experten wie in den vielfältigen Kommunikationsprozessen untereinander, aber auch mit Verwaltern, Militärs und Politikern des

U. Herbert, »Generation der Sachlichkeit«  – Die völkische Studentenbewegung der 20er Jahre, in: ders., Arbeit, Volkstum, Weltanschauung, Frankfurt a. M. 1995, S. 31–58; G. von Olenhusen, Vom Jungstahlhelm zur SA. Die junge Nachkriegsgeneration in den paramilitärischen Verbänden der Weimarer Republik, in: W. R. Krabbe (Hg.), Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 146–183. 75 Zit. in: Haar, Revisionistische Historiker, S. 55. 76 Vgl. die Überlegungen zur Relevanz der Charakterbilder von »Heldentum«, »Gesundheit« und »Stärke« bei A. Lüdtke, Funktionseliten. Täter, Mit-Täter, Opfer? Zu den Bedingungen des deutschen Faschismus, in: ders., Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial­ anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 559–590.

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Regimes immer wieder von neuem zu bestärken, ihm kollektive Geschlossenheit und Stabilität zu verleihen. Generationsspezifische Differenzen zwischen älteren Gelehrten bzw. Intellektuellen und dieser studentischen Nachwuchsgeneration der zwanziger Jahre wurden denn auch in den verschiedensten Arbeitsfeldern in den frühen vierziger Jahren sichtbar. Elitärer Führungsanspruch und rassistisches Weltbild waren bei den Jüngeren enger verzahnt, die Identifikation mit dem politischen Regime vollständiger und auch in den persönlichen Handlungsfolgen radikaler. Wiederum waren es die SS-Organisationen, in denen diese Orientierungen eingeschmolzen wurden in den oben bereits skizzierten Weltanschauungs­nexus des gesellschaftsbiologischen Denkens. Der Führungsanspruch von SS-Intellektuellen, wie Best oder Ohlendorf, beruhte darauf, dass sie sich als »Idealisten« verstanden, die bereit waren, aus den weltanschaulichen Überzeugungen die notwendigen radikalen politischen Handlungskonsequenzen zu ziehen. Hierin sind ihnen nun längst nicht alle Humanwissenschaftler gefolgt, aber nur wenige verweigerten dem sich heroisch gebärdenden »Idealismus« dieses radikalen Flügels die Anerkennung. Viertens führen die ideengeschichtlichen Spuren dieser Konstellation über die Zäsuren von 1914/1918 zurück in die besonders intensiv geführten Debatten um die Folgen der fundamentalen Historisierung aller wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die unterschiedlichen Kontroversen in den Humanwissenschaften wurden in Deutschland und Österreich unter dem Eindruck der politisch-militärischen Katastrophen nach 1918 aktualisiert und zugleich lebensweltlich dramatisiert. Gerade die Bereitschaft zu radikalen Neuentwürfen in den sozialen Ordnungssystemen, denen wir bei der Musterung der unterschiedlichen Handlungsfelder mehrfach begegnet sind, findet ein intellektuelles Fundament in den Antworten, die die unterschiedlichen sozialphilosophischen Entwürfe des NS-Weltanschauungsfeldes auf die scharf diskutierte und als handlungsrelevant erlebte Krise des überkommenen Historismus ge­geben haben. Die politische Entscheidung wurde von vielen Gebildeten vor dem Hintergrund dieser »Krisenwahrnehmung« als »Ende des lebensweltlichen und des wissenschaftlichen Relativismus«77 begrüßt. Von der Theologie bis zur Anthropologie finden sich Entwürfe, die jenseits der Relativität der historischen Formen neue Substanzen entdecken, von denen aus eine radikale Neugestaltung der zeitgenössischen Sozialwelten denkbar erscheint. Volk, Nation oder Rasse werden in diesem Sinne zu Kategorien, die einerseits den Relativismus der historischen Vernunft weiterführen, andererseits aber als neue gültige Fundamente für Moral und Wissenschaft gelten können. In diesem Ideenkontext lässt sich auch verstehen, warum zahlreiche theoretische Ansätze in Philosophie, Rechtswissenschaft oder Wirtschaftswissenschaften einen deutlichen Trend hin zur Soziologisierung bzw. zur anthropologisch-kulturellen Neuformulierung systematischer, ahistorischer Theorieansätze verzeichnen. Gehlens 77 O. G. Oexle, Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition, in: ders. u. J. Rüsen (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, Köln 1996, S. 139–200, hier S. 165.

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Anthropologie oder Rothackers kulturwissenschaftliche Fundierung der Philosophie sind Beispiele für solche Entwicklungen, die parallel und komplementär zur politischen Umwertung der Historismus-Debatte nach 1933 verliefen. Generell radikalisierten diese Ansätze die Einsichten in die Standort- und Zeitgebundenheit wissenschaftlicher Vernunft zum Bruch mit universalistischen Modellen und setzten diesen die intellektuelle Geschlossenheit der politisch geeinten, kulturell homogenen Volksgemeinschaft als neue Letztbegründung eigener Rationalität entgegen. Es sind wiederum ideengeschichtliche Konstellationen, die der ebenso brutalen wie einfachen nationalsozialistischen Lösung breite Zustimmung verschafften, durch autoritäre Setzung kollektive Verbindlichkeit zu erzeugen. Auch in diesem Fall ließen sich jenseits des Kreises intellektuell anspruchsloser Opportunisten zahlreiche Geisteswissenschaftler darauf ein, dieses Modell auszugestalten und weiterzudenken. Schließlich ist fünftens nicht von der Hand zu weisen, dass der National­ sozialismus die Stunde der Experten einläutete. Dies gilt in zweifachem Sinne: Zum einen beseitigten die Maßnahmen des Jahres 1933 die autonome Position des Intellektuellen. In der Weimarer Republik hatte Karl Mannheim im Kontext der Historismusdebatten mit der Denkfigur des »freischwebenden Intellektuellen« genau jenen Denkhabitus umschrieben, der anknüpfte an die politischen Mandatsansprüche des modernen Intellektuellen, wie sie in der Dreyfus-Affäre in Frankreich ihre klassische Gestalt angenommen hatten.78 Der Anti-Intellektualismus der Nationalsozialisten stigmatisierte diese Position als Inbegriff »jüdischen«, artfremden Geistes und fand bei diesem Angriff breiteste Unterstützung bei den akademischen Berufen und an der Universität. Die übergroße Mehrzahl der im Lande Gebliebenen definierte sich selbst als »Gelehrte« oder »Experten«, die in enger Solidarität mit den politischen und ökonomischen Eliten Deutschlands zu agieren wünschten. Entsprechend laut und überschwänglich waren die Lobesworte, die die Einschränkung der Freiheiten gegenrechneten mit der gesteigerten Einflussnahme und größeren Wertschätzung der professionellen Expertise im neuen Führerstaat. Auch hier siegte das Bild hierarchischer Ordnung und abgestufter Machtteilhabe. Dieser intellektuellen Konstellation entsprach wiederum sozial der Aufstieg von akademisch ausgebildeten Experten in der wuchernden Verwaltungs- und Planungsbürokratie des NS-Systems. Bereits in der Weimarer Zeit hatte sich die Zahl derer vermehrt, die als universitär gebildete Experten Leitungs- und Planungsfunktionen in der Arbeits-, Sozial- und Gesundheitsverwaltung innehatten. Im NS-System wurden ihre Aufgaben, aber auch ihre Gestaltungsspielräume in der Regel erweitert. Im Prozess der Meinungsbildung und der Umsetzung von politischen Entscheidungen gewannen sie entsprechendes Gewicht als Berater der vielen großen und kleinen Führer. Die passende Führerideologie des Regimes tat ein Übriges, um dem Sozialingenieur weitere Verantwortung bei der Gestaltung der Volksge78 C. Charle, Naissance des »intellectuels«, Paris 1990.

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meinschaft zuzuweisen. Damit verstärkte die politische und weltanschauliche Konstellation der Jahre 1933 bis 1945 einen Trend, der ganz unabhängig von der politischen Verfassung sich in den sozialstaatlichen Verwaltungen der meisten kapitalistischen Industrieländer Europas etwa seit der Jahrhundertwende, beschleunigt dann seit dem Ersten Weltkrieg beobachten lässt. Im Fall des NSRegimes war die Stunde der Experten zugleich auch verbunden mit Angriffen auf die ältere Rolle nationalgesinnter, loyaler »Gelehrter«, die auf ihrer Distanz zu den »Massen« und zu den populären und propagandistischen Varianten der NS-Weltanschauung bestanden. Sie gerieten unter wachsenden Druck, im Gegenzug war ihre Enttäuschung über die wachsende Marginalisierung unverkennbar.79 Typisch für das Regime war, dass es keine eigenen heroischen Intellektuellen schuf. Figuren wie Jünger, Freyer, Schmitt oder Heidegger mussten erfahren, dass erst der anwendungsbereite und beflissene Experte zum Mit­ gestalter und Vordenker im neuen Regime taugte, nicht der überzeugte, aber individualistisch auf Originalität setzende Rechtsintellektuelle.

VI. Abschließend stellt sich noch einmal die Frage nach der Verzahnung der Humanwissenschaften mit »totalitärer Herrschaft«. Sie lässt sich nach den vorangehenden Überlegungen präzisieren. Wir haben eingangs darauf hingewiesen, dass das Regime kooperationsbereiten Wissenschaftlern attraktive Angebote machte. Ein Ergebnis war, dass das Regime zumindest im Bereich der Humanwissenschaften schon bald nach der Phase der Machteroberung über einen einsatzfähigen Stab an praxisorientierten Forschern verfügte, die eine Vielzahl ganz konkreter Pläne zur Bewältigung der zahlreichen Konflikte und Zwangslagen bereitstellten, mit denen sich das Regime bis zum Ausbruch des Kriegs konfrontiert sah. Das Regime konnte die intellektuellen Ressourcen des sozialtechnokratischen Expertentums nutzen, weil es auf eine ideologische Nahkontrolle der entsprechenden Berufsfelder verzichtete und sich auf die Selbstgleichschaltung und Selbstmobilisierung der Wissenschaftler weitgehend verließ. Während somit auf konzeptioneller Ebene meines Erachtens kein Zweifel daran bestehen kann, dass die Sozialplaner immer wichtiger für die Ausgestaltung der vagen nationalsozialistischen Ziele wurden, sah es auf der Ebene konkreter Politik doch anders aus. Die politischen Führungsgruppen der Partei gaben ebenso wenig wie die älteren Eliten in Wehrmacht und Wirtschaft die zentrale Entscheidungsgewalt an irgendwelche »Technokraten« oder wissenschaftliche »Experten« ab. Zahlreiche politische Entscheidungen und Initiativen wurden nach wie vor ohne Rücksprache mit den Fachleuten getroffen. Gerade im 79 J. Z. Muller, Enttäuschung und Zweideutigkeit. Zur Geschichte rechter Sozialwissenschaftler im »Dritten Reich«, in: GG, Jg. 12, 1986, S. 289–316.

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Schlachthaus der besetzten Ostgebiete waren die wissenschaftlichen Experten keineswegs die allgewaltigen Lenker der Vernichtung, sondern – aus ihrer Perspektive formuliert – »mussten« sich häufig mit der Rolle der Mitdenker, Begleiter oder Nachplaner bereits beschlossener oder dezentral vorangetriebener Maßnahmen begnügen. Richtig aber ist, dass auch die politisch Verantwortlichen nicht ohne wissenschaftliche Vernunft auskommen wollten. Das große Morden und Rauben wurde nicht zuletzt durch die SS-Stäbe und ihre Experten in den Bann humanwissenschaftlich beglaubigter Programme geschlagen. Für die Zukunftspläne, die Entwürfe künftiger totalitärer Herrschaft, waren die Experten sogar unentbehrlich, und legt man die seit 1939 ins Kraut schießenden Großplanungen und Denkschriften zugrunde, so kann man nicht umhin festzustellen, dass in diesem Sinn zahlreiche Experten die bestehenden Ansätze in der Führungsclique des Regimes zu beängstigenden, totalitären Sozialutopien weiter steigerten. Es sieht so aus, als habe das radikale Ordnungsdenken die tota­litäre Dynamik des Regimes unterstützt. Den Endsiegphantasien der Politiker entsprachen die Allmachtsphantasien und Ordnungsutopien der Humanwissenschaftler. Beide trafen sich in der Leitvorstellung einer endgültig in Ordnung gebrachten Sozialwelt im Rahmen imperialer Herrschaft auf rassistischer Grundlage. Zwar ist nüchtern in Rechnung zu stellen, dass zumal in den Jahren der Blitzsiege und des scheinbar so nahen Endsiegs sich nur der bei den Führern Gehör zu verschaffen vermochte, der Riesiges plante und Radikales wagte. Doch es ist auffällig, dass die Zahl enttäuschter und ernüchterter Sozialingenieure vor dem Zusammenbruch 1945 klein blieb. Zweifellos erbrachten damit die Planer in Berlin, Krakau, Posen, Prag und anderswo Rationalisierungsleistungen, aber vorrangig in dem Sinne, dass sie Entscheidungen legitimierten und regimeproduzierte Zwangslagen und Unklarheiten zu ordnen suchten. Damit lieferten sie den politisch verantwortlichen Tätern Rationalisierungsformeln, die mit ihren weltanschaulichen Vorgaben übereinstimmten. Die Bereitschaft und die (häufig vermeintliche)  Fähigkeit dieser Experten zur Auslese, zur Selektion waren wesentliche Bestandteile der vielen totalen Institutionen, mit denen das Regime »Ordnung« und »Sicherheit« herstellte. So scheint mir der Einfluss humanwissenschaftlicher Spezialisten gerade in den institutionellen Arrangements auf mittlerer Ebene von hoher praktischer Relevanz. Hier sind auch die praktischen Zugriffe spürbarer.80 Typischerweise handelt es sich in diesen Fällen um jene »konkreten Ordnungen«, die geschaffen werden sollten, um im

80 Belege dafür finden sich immer wieder: E. Pahl-Weber u. D. Schubert, Großstadtsanierung im Nationalsozialismus: Andreas Walthers Sozialkartographie von Hamburg, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 16, 1987, Jg. 2, S. 108–117; Aly, Endlösung; Kaupen-Haas, Bevölkerungspolitik; Aly u. Roth, Restlose Erfassung; Ayaß, Asoziale; H.-W. Schmuhl, Kontinuität oder Diskontinuität? Zum epochalen Charakter der Psychiatrie im Nationalsozialismus, in: Kersting u. a., Nach Hadamar, S. 112–137.

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Betrieb, in Anstalten oder in den Gemeinden die neue nationalsozialistische Ordnung zu realisieren. Es ist evident, dass die hier skizzierten Phänomene ideengeschichtlich einzuordnen sind in die Krise liberaler Ordnungsmodelle im Europa der Zwischenkriegszeit. Ins Weltanschauungsfeld des Nationalsozialismus ließen sich zahlreiche Ordnungsentwürfe integrieren, die seit der Jahrhundertwende eine direktere und feinere Steuerung von sozialen Prozessen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und unter Einschränkung individueller Freiheiten sowie rechtsförmiger Regulierungen anstrebten. Die Parallelen einzelner nationalsozialistischer Forschungs- und Planungsvorhaben zu ähnlichen Projekten des »social engineering« in den Nachbarländern sind offensichtlich. Bekanntlich reichten die eugenischen Planungsideen bis in die sozialistischen Arbeiterbewegungen hinein, wie die neueren Forschungen in Skandinavien gezeigt haben.81 Auch die sozialutopischen Versprechungen einer besseren Zukunft sind keineswegs eine Besonderheit nationalsozialistischer Humanwissenschaftler. Selbst rassistische Schlussfolgerungen sozialbiologischer Denkmodelle lassen sich auch im übrigen Europa der zwanziger und dreißiger Jahre beobachten. Auch anderswo haben die angewandten Humanwissenschaften ohne Verbindung mit starken politischen Gegenwerten und Gegenkräften jedenfalls keine Abwehrkräfte gegen autoritäres Ordnungsdenken entwickelt; vor allem die Affinität zu radikalen Durchgriffen gegen Randgruppen war weit verbreitet. Historische Skepsis gegenüber der Selbstgewissheit sozialwissenschaftlicher Vernunft ist also angebracht. Diese Grundströmung gehört zu den generellen, zeitspezifischen Voraussetzungen des Bündnisses von Sozialingenieuren und Nationalsozialisten, die die neueren ideengeschichtlichen Forschungen klar herausgearbeitet haben. Die einzigartige Dynamik dieses Bündnisses war jedoch gebunden an die Bündelung und einseitige Ausrichtung aller Zielvorstellungen durch die konsequente Rassenpolitik und das rassistische Weltanschauungsfeld des Nationalsozialismus. Seine Ausstrahlung auf die älteren und jüngeren Vertreter der deutschen Humanwissenschaften war ihrerseits abhängig von Bedingungen, die vor allem aus nationalen Ideenkonstellationen zu erklären sind. Mit Recht sind seit Kriegsende die zahlreichen Affinitäten der deutschen akademischen Welt zu autoritären Herrschaftsformen hervorgehoben worden; sie können als Hintergrund und zusätzliche Motivationsquellen gelten, reichen aber meines Erachtens zur Erklärung der Dynamik und Energie überzeugter und fachlich motivierter Teilnahme gerade auch an den radikalen Gestaltungsprogrammen des NS-Regimes auf dem Feld der »Bevölkerungspolitik« nicht aus. Der Rassismus der deutschen Intellektuellen wurde auch nicht nur genährt durch die vielen 81 G. Broberg u. N. Roll-Hansen, Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway and Finland, East Lansing 1996; P. Zylberman, Les damnés de la démocratie puritaine: stérilisations en Scandinavie, 1929–1977, in: le Mouvement Social, Jg. 187, 1999, S. 99–125.

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materiellen und ideellen Prämien, die das Regime vergab, sondern gewann seine Kraft aus dem diffusen Weltanschauungsbedürfnis, das sich aus den Katastrophenerfahrungen seit dem Ersten Weltkrieg speiste und im extremen Nationalismus seinen Nährboden gefunden hatte. Erst diese Rückbindung von Krisenwahrnehmungen im intellektuellen Feld an die politisch-militärischen Niederlagen der eigenen Nation ermöglichte es den radikalen Weltanschauungseliten des NS-Regimes, die übrigen Humanwissenschaftler auch innerlich zu gewinnen für die übergreifenden rassistischen Ziele. Der extreme Nationalismus gehörte ins Zentrum des 1933 neu etablierten Deutungsfeldes, er bildete den gemeinsamen Nenner aller Selbstmobilisierungen. Sie vollzogen sich im Dämmerlicht einer akademischen Kultur, die sich frühzeitig in den Dienst dieses extremen Nationalismus gestellt und im Gegenzug die Sicherheit kompakter Weltsichten und staatlich befestigter Weltanschauungen gesucht hatte. Die terroristische Dynamik der Humanwissenschaftler liegt meines Erachtens in der Verbindung dieses Bedürfnisses nach verbindlicher Sinnstiftung mit dem Expertenanspruch auf Gestaltungskompetenz der sozialen Welt. Hannah Arendt spürte sie bereits 1933 voller Unbehagen im Umkreis ihres akademischen Milieus. Sie ahnte bereits, dass vor den Verwicklungen nach 1933 offensichtlich nur sicher war, wem in äußerster Distanz – wie Karl Kraus zeitgleich formulierte – »zu Hitler nichts einfiel«.82 Literaturverzeichnis Algazi, G., Otto Brunner – ›konkrete Ordnung‹ und Sprache der Zeit, in: P. Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 166–203. Aly, G. u. K. H. Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, Berlin 1984. Aly, G. u. S. Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991. Aly, G., »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1995. Angermund, R., Deutsche Richterschaft 1919–1945. Krisenerfahrung, Illusion, politische Rechtsprechung, Frankfurt a. M. 1991. ASTA der Universität Mannheim (Hg.), Hochschulen 1933–1945 (Bibliographie), Mannheim 1998. Ayaß, W., »Asoziale« im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995. 82 »Mir fällt zu Hitler nichts ein.« So Karl Kraus’ lakonischer Kommentar 1933 in der Fackel, in: Die dritte Walpurgisnacht, München 1967, S. 9. H. Arendt hat im Gespräch mit G. Gaus 1964 von ihren Erfahrungen im Marburger akademischen Milieu berichtet: »Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das habe ich nie vergessen.« Zit. in: E. Young-Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 167.

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3. Experten im Sozialstaat: Statuswechsel und Funktionsdifferenzen in Demokratie und Diktaturen in Deutschland 1933–1990

Sozialreform war im Kaiserreich ein klassisches Thema von Gelehrtenpolitik. Das fachkompetente Engagement von Akademikern aus Wissenschaft und Verwaltung für soziale Ordnung und Gerechtigkeit war ein Leitmotiv in der Gründungsphase des deutschen Sozialstaats. Die Erben dieser bürgerlichen Sozialreformbewegung, die Fachleute der Wohlfahrtsverbände, die höheren Beamten der Sozialministerien, schließlich die Sozialmediziner, Volkswirte und Juristen, die qua Beruf zu Experten des Sozialstaats wurden, sind aus der weiteren Geschichte des Sozialstaats seit dem Ende des Kaiserreichs nicht wegzudenken. Als Kenner von Rechtsfragen oder Sachproblemen, als Spezialisten für verlässliche »Sozialdaten« haben sie die Lösungswege sozialer Umverteilung und Versorgung zum Teil entworfen, häufig mitgestaltet, aber immer mitverwaltet. Die umfangreiche Forschungsliteratur über die Sozialpolitik und den Sozialstaat in Deutschland seit 1933 hat den Erben der bürgerlichen Sozialreformer eigentlich nur für die Phase des Nationalsozialismus größere Aufmerksamkeit geschenkt, wohl nicht zuletzt deshalb, weil sich hier statt des gewohnten menschenfreundlichen Antlitzes sozialer Reformer plötzlich das hässliche Profil rassistischer Sozialingenieure zeigte. Doch auch nach 1945 verschwinden sie nicht aus der Geschichte deutscher Sozialstaatlichkeit, ganz im Gegenteil, der säkulare Ausbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme hat ihre Zahl weiter anwachsen lassen. Sie sind immer stärker in die sozialstaatlichen Institutionen integriert worden. Gleichzeitig übernehmen Gesellschaft und Politik mehr und mehr Deutungsschemata und Begriffe der Humanwissenschaften. Verwaltungen, Unternehmen und Verbände nutzen in wachsendem Maße auch humanwissenschaftliche Verfahren, um Probleme in ihrem Geschäftsbereich zu bewältigen. Infolgedessen hat sich das Gewicht der Experten verstärkt. In zeithistorischer Perspektive steht das Thema in engstem Zusammenhang mit Phänomenen, die zusammenfassend als »Verwissenschaftlichung des Sozialen« bezeichnet werden können.1

1 Siehe zu diesem Konzept den Beitrag »Die Verwissenschaftlichung des Sozialen: Wissensund Sozialordnungen im Europa des 20. Jahrhunderts« in diesem Band, S. 13–50.

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Experten im Vergleich: Leitfragen und Begrifflichkeit Einige Bemerkungen zur begrifflichen Klärung und zur Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands sind notwendig: Unter »Experten« werden im folgenden Träger eines verwissenschaftlichten Fach- und Bereichswissens verstanden. Als Abgrenzungskriterium gegenüber den drei sich überlappenden, umfassenderen Handlungsfeldern von Politik, öffentlicher Verwaltung und Wissenschaft soll die bereichsbezogene Spezifik des Expertenstatus gelten. Wir werden also im Folgenden nicht pauschal Juristen, Mediziner oder Soziologen als Experten behandeln, sondern uns auf Arbeits- und Sozialrechtler, Sozialwirte und empirische Sozialforscher des Sozialwesens beziehen und dabei immer zugrunde legen, dass die politische Öffentlichkeit sie in dieser Rolle anerkannt hat. In der Regel sind Experten Wissenschaftler oder akademisch ausgebildete Praktiker (Juristen, Mediziner, Ökonomen) des Sozialwesens. Das zugrunde gelegte Kriterium ist primär funktional. Damit werden alle Träger eines Spezialwissens erfasst, das als relevant für die Gestaltung sozialer Sicherungssysteme anerkannt worden ist. Dabei ist zu beachten, dass diese Anerkennung wiederum nicht allein Sache der Wissenschaften war und ist, sondern die Entscheidung der politischen Instanzen ausschlaggebend ist, dieses Fachwissen als bedeutsam anzuerkennen. Dies allein macht bereits verständlich, warum das Merkmal der wissenschaftlichen Ausbildung, Qualifikation oder Position nicht als alleiniges oder gar entscheidendes Kriterium herangezogen worden ist. Schwierigkeiten bereitet dabei der Bereich des Gesundheitswesens; bei ihm lässt sich mit diesen Unterscheidungen keine zufriedenstellende Eingrenzung von medizinischen »Sozialexperten« im engeren Sinne aus der gesamten Ärzteschaft vornehmen. Institutionelle und konzeptionelle Unterschiede der Gesundheitsversorgung in den drei Regimen verhindern eine klare Abgrenzung, die für Vergleichsperspektiven offenbleibt: Pragmatisch wurden also medizinische Experten verglichen, die über ihre unmittelbar individualmedizinische Kompetenz hinaus spezifisches Wissen für das öffentliche Gesundheitswesen besaßen oder als Verbandslobbyisten in die sozialpolitischen Ordnungsdebatten eingriffen. Sozialgeschichtlich sind diese Experten zugleich auch als eine besondere Gruppe aus dem Kreis all derer zu betrachten, deren Beruf der Sozialstaat ist. Dies trifft vor allem für die Mitarbeiter von öffentlichen Verwaltungen zu, die soziale Dienstleistungen erbringen. Neben dem Verwaltungspersonal ist der Kreis medizinischer Berufe im Sozialwesen und schließlich als dritte große Gruppe die sozialpflegerischen Berufsgruppen zu nennen. Aus allen drei Bereichen haben Praktiker als Sachverständige Einfluss auf die administrative Gestaltung ihrer jeweiligen Arbeitsfelder genommen, und sie haben auch durch öffentliche oder verwaltungsinterne Stellungnahmen die gesetzgeberischen Aktivitäten beeinflusst. Wie offen der Kreis der akademisch ausgebildeten Sach­ verständigen und Experten für Praktiker aus diesen Berufsfeldern war, ist eine 96

interessante Fragestellung für eine vergleichende Sozialgeschichte der modernen Sozialbürokratie. Ein prominentes Beispiel hierfür liefern die aus der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen stammenden sozialpolitischen Experten in den Reihen der Gewerkschaften, Arbeiterparteien und sonstigen Arbeiterorganisationen. In welchem Maß Sachverständige die Institutionen des Sozialsystems repräsentieren und die Selbsterhaltungsinteressen etablierter Sozialverwaltungen und deren Alltagsroutinen verteidigen, muss erst noch einmal genau untersucht werden. Man darf dabei nicht vergessen, dass der säkulare Ausbau sozialstaatlicher Leistungen zugleich auch den Kreis der hauptberuflichen Verwalter und Helfer stark vergrößert hat. Die Differenz der sozialen Sicherungssysteme erlaubt keinen präzisen statistischen Vergleich, auch liegen keine Vergleichszahlen vor, die über einzelne Sektoren hinausgehen.2 Ausschlaggebend für die hier untersuchte Problematik ist jedoch weniger die bloße Zunahme der Beschäftigtenzahlen im Bereich sozialer Dienstleistungen, sondern deren wachsende Professionalisierung. Dieser Begriff wird im Folgenden ganz pragmatisch als Kürzel verwendet, um die Veränderungen zusammenzufassen, die sich aus der Verwissenschaftlichung der Ausbildungsinhalte, der Akademisierung der Berufsabschlüsse und der Veränderung von Berufsverständnis und Berufspraxis ergeben.3 Eine letzte Vorbemerkung gilt der Auswahl der hier betrachteten Teilbereiche von Sozialpolitik. Allein schon wegen der gerade in Vergleichsperspektive überaus schwierigen Abgrenzungsprobleme sind die »Experten« der Sektoren Gesundheitswesen und Wohnungsbau nicht systematisch einbezogen worden. Der Schwerpunkt liegt also auf den klassischen Bereichen des Sozialversicherungswesens sowie der Wohlfahrtspflege. Deren Entwicklung im Untersuchungszeitraum ist in den letzten zwanzig Jahren intensiv wissenschaftlich erforscht worden, so dass wir über viele Details der »Wohlfahrtsproduktion«4 in den

2 Auffälligerweise vernachlässigen die amtlichen Statistiken und Leistungsbilanzen der Sozialpolitik systematisch die Statistik der Leistungsanbieter und des Verwaltungspersonals, so dass für den gesamten hier untersuchten Zeitraum immer wieder erheblich divergierendes Zahlenmaterial in den Publikationen auftaucht. Am besten erforscht ist die Berufsentwicklung im Bereich der Sozialarbeit und Sozialpädagogik: vgl. U. Lange-Appel, Von der allgemeinen Kulturaufgabe zur Berufskarriere im Lebenslauf. Eine bildungshistorische Untersuchung zur Professionalisierung der Sozialarbeit, Frankfurt 1993. Dort die weitere Literatur; zur Problematik der Berufsstatistiken in der Bundesrepublik siehe S. 247 f. 3 V.a. in den Bereichen Sozialarbeit / Sozialpädagogik hat dies seit den siebziger Jahren eine umfangreiche Fachdebatte und Begleitforschung ausgelöst: H.-U. Otto u. a. (Hg.), Zeit-Zeichen so­zialer Arbeit. Entwürfe einer neuen Praxis, Neuwied 1992; J. Pundt (Hg.), Professiona­ lisierung im Gesundheitswesens, Bern 2006; G. André, Die Professionalisierung in der öffentlichen Sozial- und Altenfürsorge zwischen 1933 und 1989, Diss. Konstanz 1993. 4 F.-X. Kaufmann, Staat und Wohlfahrtsproduktion, in: ders., Sozialpolitik und Sozialstaat: Soziologische Analysen, 2002, 197–220.

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drei hier untersuchten Regimen sehr gut informiert sind.5 Auch die ideengeschichtlichen Grundlagen der jüngeren deutschen Sozialpolitik sind wieder genauer in den Blick genommen worden. Dennoch betritt der Beitrag an vielen Stellen empirisch noch ungesichertes Gelände, da die Akteure sozialer Expertise nach wie vor seltener die Aufmerksamkeit der Historiker auf sich gezogen haben. Ein Vergleich erscheint nur dann sinnvoll, wenn es gelingt, einige zentrale Probleme zu isolieren, die in den drei untersuchten politischen Regimen durchgängig relevant sind. Folgende vier Fragen sollen dabei im Mittelpunkt stehen: 1. Welches Gewicht haben die politischen Umwälzungen (1933, 1945 bzw. 1949) für die Auswahl des relevanten Expertenwissens und konkret für das entsprechende Personal gehabt? Die Frage nach den politischen Auswahl­k riterien des Fachwissens ist faktisch aufs engste verknüpft mit der Frage nach den personellen Kontinuitäten der »Sachverständigen«: Sie konnten als anerkannte Experten nur die Umbrüche überleben, wenn ihr Fachwissen weiter Anerkennung fand. Dies beinhaltet aber auch die Frage nach Ausmaß und Rhythmus von Professionalisierungs- und Bürokratisierungsprozessen. 2. Welche Zusammenhänge lassen sich zwischen dem spezifischen Expertenwissen und den sozialpolitischen Leitbildern beobachten? Welche Bedeutung haben Fachwissen und wissenschaftliche Theorien für die Ausgestaltung der sozialen Systeme in den drei politischen Regimen gehabt? 3. Welchen konkreten Einfluss haben Experten auf sozialpolitische Entscheidungen genommen, welche die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme grundlegend und mittelfristig festlegten? 4. Welches Selbstverständnis entwickelten die Experten in den drei Regimen und welche sozialen Beziehungen entstanden typischerweise zwischen Experten und den jeweiligen politischen Eliten bzw. sozialpolitischen Interessen- bzw. Klientelgruppen? Um die unterschiedlichen Kontexte zu verdeutlichen, in denen Experten im NS-Regime, in der DDR und in der Bundesrepublik agierten, sollen zunächst ausgehend von der Situation der Experten in der Weimarer Republik die Haupt­merkmale der drei Entwicklungspfade sozialpolitischer Expertise in Deutschland zwischen 1930 und 1990 resümiert werden.

5 C. Sachße und F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Stuttgart ­1988–2012; H. G. Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998; H.  G. ­Hockerts, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2010; Grundlegend für die Zeit 1945–1990: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 11 Bde., Baden-Baden ­2001–2008.

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Professionalisierung, Verwissenschaftlichung und Konkurrenz der Experten in der Weimarer Republik6 Für die vergleichende Analyse empfiehlt es sich, einen Blick auf die Situation der Experten in der Weimarer Republik zu werfen. Drei Tendenzen sind hier hervorzuheben: Erstens: Mit der Ausweitung der Sozialleistungen und dem Auftauchen neuer Problemfelder und Personenkreise in der Sozialpolitik seit dem Ersten Weltkrieg wuchsen auch die Ansprüche an Fachlichkeit und Berufskompetenz. Zwischen 1918 und 1933 kam es zu einem Schub in der Verberuflichung der sozialen Dienste.7 Es etablierten sich feste Ausbildungsgänge im Bereich der Wohlfahrtspflege. Prägend wirkten hier die preußischen Ausbildungsordnungen von 1920 für Sozialpflegerinnen, von 1927 für Sozialarbeiter.8 In der Weimarer Republik vollzog sich der Wandel der ehrenamtlichen Wohlfahrtshilfe zum Frauenberuf (nur etwa zehn Prozent der in diesem Bereich Tätigen waren Männer), gleichzeitig setzten sich mit dieser Verberuflichung auch geschlechtsspezifische Hierarchien innerhalb des gesamten Berufsfeldes sozialer Dienstleistungen durch. Die leitenden Positionen blieben Männern vorbehalten. Nicht zuletzt sorgte das faktische Männermonopol in den einschlägigen akademischen Studiengängen Jura, Staatswissenschaften oder Nationalökonomie ähnlich wie im Gesundheitswesen dafür, dass insbesondere die Experten mit Gestaltungsaufgaben weiterhin fast ausschließlich Männer waren.9 Dieses Muster sollte bis an das Ende des Jahrhunderts in seinen Grundzügen Bestand haben. Die Kommunen blieben wie schon im Kaiserreich die wichtigsten Träger dieser Verberuf­lichung des Sozialwesens. Hier bildete sich nun vor allem im Bereich von Jugendhilfe, Gesundheitsdienst und Fürsorge das Profil einer neuartigen öffentlichen Leistungsverwaltung deutlich heraus.10 6 Y.-S. Hong, Welfare, Modernity, and the Weimar State, 1919–1933, Princeton 1998; Sachße u. Tennstedt, Armenfürsorge, Bd. 2 und Bd. 3; D. F. Crew, Germans on Welfare. From Weimar to Hitler, Oxford 1998; C. Berringer, Sozialpolitik in der Weltwirtschaftskrise. Die Arbeitslosenversicherung in Deutschland und Großbritannien im Vergleich 1928–1934, Berlin 1999. 7 W. Rudloff, Das Wissen der kommunalen Sozialverwaltung in Deutschland, Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 15, 2003, S. 59–88; W. Rudloff, The Welfare State and Poverty in the Weimar Republic, in: L. Raphael (Hg.), Poverty and Welfare in Modern German History, New York 2016, S. 105–136. 8 C. Sachße u. F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2, Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Stuttgart 1988, S. 202–211. 9 Ebd., S. 62–75. 10 Zu den Anfängen im Kaiserreich s. C. Sachße, Frühformen der Leistungsverwaltung. Die kommunale Armenfürsorge im deutschen Kaiserreich, in: E. V. Heyen (Hg.), Bürokratisierung und Professionalisierung der Sozialpolitik in Europa (1870–1918), BadenBaden 1995; zu Weimar: Sachße u. Tennstedt, Fürsorge, S. 184–202; zur kommunalen Wohlfahrtsproduktion in Weimar s. W. Rudloff, Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernäh-

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Zweitens ist zu beobachten, dass öffentliche wie private Träger von sozialen Diensten das insgesamt erweiterte Tätigkeitsfeld der Sozialversorgung nutzten, um neue Formen sozialer Intervention zu erproben. Damit stieg auch die Nachfrage nach dem Wissen anwendungsorientierter Humanwissenschaftler. Vor allem Sozialmediziner, aber auch Psychologen, Psychiater oder Soziologen beteiligten sich an der empirischen Fundierung und methodischen Weiterentwicklung der Wohlfahrtspflege.11 Pointiert kann man es so ausdrücken: Erst in der Weimarer Republik wurde der wissenschaftlich qualifizierte »Experte« auf dem Feld der Sozialpolitik zum Spezialisten, zum »Sachverständigen« im eingangs definierten Sinne, während im Kaiserreich die akademischen Mitglieder der einschlägigen Verbände (wie dem Verein für Socialpolitik) als Generalisten für die Leitidee der sozialen Sicherung tätig waren. Dieser Trend lässt sich in der Gründung bereichsspezifischer Fachorgane und Fachvereine nachvollziehen. Der »Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge« z. B. entwickelte sich in der Weimarer Zeit zu einem wichtigen Fachverband mit einem eigenen Informationsdienst für den gesamten Bereich der Fürsorge. Drittens: Dass Kräftespiel der »Sachverständigen« veränderte sich tiefgreifend dadurch, dass die Hauptadressaten bisheriger Sozialpolitik, nämlich die armutsgefährdeten Arbeiterschichten über ihre Partei- und Gewerkschaftsvertreter in einflussreiche Positionen des Weimarer Wohlfahrtsstaates einrückten. Vor allem die ältere Fachelite in der Ministerialbürokratie und Sozialverwaltung, aber auch die Vertreter der bürgerlichen Trägervereine freier Wohlfahrtspflege empfanden die neuen Sachverständigen als Konkurrenz.12 Die Rivalitäten wurden noch verschärft dadurch, dass die Expertengruppen unterschiedliche fachliche Voraussetzungen mitbrachten und anderen politischen Leitbildern verpflichtet waren. Die mehrheitlich juristisch bzw. medizinisch ausgebildeten Fachbeamten blieben dem Leitbild einer autonom gestaltenden, fachlich kompetenten, autoritär agierenden starken Exekutivgewalt verbunden, während die sozialdemokratischen Sachverständigen die demokratischen Gestaltungsrechte gewählter Selbstverwaltungsgremien und Parlamente betonten, eng ihren sozialpolitischen Interessenmilieus verpflichtet waren und außerdem vorrangig im öffentlichen Sektor tätig wurden. Alle drei Aspekte, Verberuflichung der Sozialen Dienstleistungen, Kooperation mit wissenschaftlichen Spezialisten und die Formierung neuer Sachverrungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910–1933, Göttingen 1998; D. Marquardt, Sozialpolitik und Sozialfürsorge der Stadt Hannover in der Weimarer Republik, Hannover 1994; G. Bußmann-Strelow, Kommunale Politik im Sozialstaat. Nürnberger Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik, Nürnberg 1997; K. Matron, Kommunale ­Jugendfürsorge in Frankfurt am Main in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2012. 11 S. P. Schad, Empirical Social Research in Weimar-Germany, Paris 1972. 12 Vgl. Sachße u. Tennstedt, Armenfürsorge, Bd. 2, S. 168 f.; F. Tennstedt, Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege im dualen Wohlfahrtsstaat. Ein historischer Rückblick auf die Entwicklung in Deutschland, in: Soziale Arbeit, Deutsches Zentralinstitut für Soziale Fragen 41, Heft 10/11, 1992, S. 347 ff.

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ständigenrollen, gerieten während der politischen Krise seit 1930, die zugleich auch eine tiefgreifende Krise des gerade ausgebauten Netzes sozialer Sicherung war, in die politisch-weltanschaulichen Auseinandersetzungen der sozialen Gruppen und politischen Parteien. Umfang wie Formen von Sozialleistungen waren ebenso der Kritik ausgesetzt wie die beteiligten Gruppen (Kunden wie Dienstleister): Die politische Polemik wirkte im Kreis der Fachexperten pola­ risierend und vertiefte die Kluft zwischen bestimmten Gruppen der Sachverständigen in den Sozialverwaltungen und den politischen Parteien.

Technokratische Sozialplaner und terroristische Sozialordner im NS-Regime13 Die NSDAP hatte sich in der Weimarer Zeit an dieser Sozialstaatskritik eifrig beteiligt, jedoch eine Konkretisierung ihrer rassenhygienischen Leitideen weitgehend vermieden. Die seit Herbst 1933 geschickt inszenierte direkte Hilfe der »Volksgemeinschaft« via Winterhilfswerk wurde propagandistisch gegen überkommene Formen öffentlicher Sozialhilfe ausgespielt. Gleichzeitig schaltete das Regime den Kreis sozialdemokratischer bzw. liberaler Fachleute in den Verwaltungen aus und beseitigte zudem mit der Einführung des Führerprinzips anstelle der Selbstverwaltung in den Sozialkassen auch die Gestaltungsmöglichkeiten fachkompetenter Kontrolleure. Die NSDAP verfügte 1933/34 nur über eine ausgesprochen kleine Zahl von Sachverständigen in den beiden klassischen Bereichen der Sozialpolitik, der Sozialversicherung und der Fürsorge. So konnten die im Amt verbliebenen Fachbeamten in den zuständigen Verwaltungen zunächst einmal ihren während der Präsidialkabinette seit 1930 gestiegenen Einfluss behaupten. Vor allem die Fachbürokratie des Reichsarbeitsministeriums nutzte bis 1936 die Handlungsspielräume, um ihre auf organisationspolitische Bewahrung und sozialkonservative Beschränkung der etablierten Einrichtungen gerichteten Gestaltungsideen durchzusetzen.14 Den aus der Weimarer Zeit verbliebenen Experten machten dann seit 1934 zunehmend die parteipoliti13 Sachße u. Tennstedt, Armenfürsorge, Bd. 3; W. Gruner, Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkungen lokaler und zentraler Politik im NS-Staat 1933–1942, München 2002; W. Süß, Der »Volkskörper« im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003; U. Lohalm, Völkische Wohlfahrtsdiktatur. Öffentliche Wohlfahrtspolitik im nationalsozialistischen Hamburg, Hamburg 2010; F. Wimmer, Die völkische Ordnung von Armut. Kommunale Sozialpolitik im nationalsozialistischen München, Göttingen 2014; N. Kramer, Welfare, Mobilization and the Nazi Society, in: Raphael, Poverty, S. 137–171. 14 Zum zentrumsnahen Personalstamm des Reichsarbeitsministeriums: Sachße u. Tennstedt, Fürsorge, S. 169; dies., Wohlfahrtsstaat, S. 29; M. Geyer, Soziale Rechte im Sozialstaat. Wiederaufbau, Krise und konservative Stabilisierung der deutschen Rentenversicherung ­1924–1937, in: K. Tenfelde (Hg.), Arbeiter, S. 428 ff.

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schen Funktionäre von DAF und NS-Volkswohlfahrt Konkurrenz. An die Stelle der sozialpolitischen Experten der Weimarer Parteien traten aber die Funktionäre der NSV.15 Im Fall der NSV verfügten diese neuen Partei»experten« bis auf wenige Ausnahmen über keinerlei fachliche Vorkenntnisse oder praktische Erfahrungen im Bereich der Sozialverwaltung und der Sozialpolitik, sondern stammten zu zwei Dritteln aus dem Kreis verdienter »Kämpfer« der Jahre 1929–1933.16 An der Professionalisierung des gesamten Sozialwesens änderte das Regime trotz der anfangs betriebenen Verdrängung von Frauen aus dem Berufsleben aber nichts, ganz im Gegenteil, die politische Zielsetzung, die kirchlichen Träger der Wohlfahrtspflege möglichst rasch auszuschalten, steigerte das Interesse des Regimes an der Ausbildung weiterer Fachkräfte für die eigenen Trägerorganisationen. Ideologische Absichten und pragmatische Rückansichten führten dazu, dass die Ausbildungsstandards nach 1933 eher wieder sanken.17 Vor allem kam es zu einer Umschichtung der Ausbildungsinhalte und einer Neugewichtung der Wissensbestandteile. Die Rassenhygiene wurde zur Leit­w issenschaft des gesamten Sozialbereiches: Ärzte, Heimleiter und Fürsorgerinnen hatten sich mehr oder weniger umfangreiches Wissen aus dieser neuen medizinischen Teildisziplin anzueignen. Spätestens seit 1936 stieg die Nachfrage von Parteiämtern wie staatlichen Einrichtungen nach wissenschaftlichen Experten im Sozialwesen. Kriegsvorbereitung und Rüstungskonjunktur verlangten sozialplanerisches Wissen und sozialpolitische Politikberatung. Gestaltungswünsche und Entscheidungsprobleme der vielen konkurrierenden Ämter und Stellen im nationalsozialistischen Wohlfahrtssystem schufen günstige Bedingungen für die humanwissenschaftlichen Experten, die in großer Zahl bereitstanden, ihr reales oder fiktives Spezialwissen zur Lösung sozialer Probleme einzusetzen. Die neueren Studien zur Situation der Sozialwissenschaften im NS-Regime zeigen jedenfalls, dass die akademischen Expertengruppen es geschickt verstanden, ihre eigene Position im Kompetenzgerangel und in der Ämterkonkurrenz zu verstärken, während umgekehrt die großen Machtapparate des Regimes, SS, Partei und Staatsapparat Expertenstäbe mobilisierten, um eigene Machtansprüche durch Gestaltungsideen und Planvorgaben durchzusetzen.18 15 E. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Motivation, Konflikte und Machtstrukturen im »Sozialismus der Tat« des Dritten Reiches, in: Beiträge zur Sozialpolitik-Forschung, Bd. 6, Augsburg 1991; Vorländer, NSV; Sachße u. Tennstedt, Armenfürsorge, Bd. 3, S. 132–150. 16 Hansen entdeckte bei seinen kollektivbiographischen Untersuchungen nur zwei (von 71) Gauamtsleiter der NSV, die über einschlägige Berufserfahrungen im Sozialwesen verfügten: Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 377. 17 Lange-Appel, Berufskarriere, S. 175–216; G. André, SozialAmt. Eine historisch-systematische Einführung in seine Entwicklung, Weinheim 1994, S. 92–95. 18 C. Klingemann, Angewandte Soziologie im Nationalsozialismus, in: 1999, Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Jg.4/1, 1989, S. 10–34; K. H. Roth, Intelligenz und Sozialpolitik im ›Dritten Reich‹. Eine methodisch-historische Studie am Beispiel des

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Zentrale Bedeutung bei der Umgestaltung des überkommenen Sozialrechts im Sinne der rassenhygienischen Ziele des Regimes kam den Juristen zu. Professoren, Richter und Verwaltungsjuristen legitimierten mit ihren Kommentaren und Entscheidungen fortlaufend die Einschränkung sozialer Leistungen entsprechend den Leitideen dieser Politik. Die Definitionsleistungen der juristischen Experten spielten zudem eine wesentliche Rolle bei der Übersetzung der rassistischen Ziele des Regimes in die Routinen von Verwaltungshandeln; in dieser Funktion mussten sie jedoch seit 1933 die besondere Fachkompetenz der medizinischen Sachverständigen anerkennen.19 Gemeinsam definierten sie die Gruppen, die aus dem Sozialrecht ausgegrenzt wurden bzw. in neuer repressiver Weise von den Maßnahmen der Bevölkerungspolitik erfasst werden sollten. Der Kreis der Betroffenen reichte von »Juden« und »Erbkranken« bis hin zu »Zigeunern«, »Asozialen« bzw. »Gemeinschaftsfremden«, während des Krieges dann den »Fremdrassigen«.20 Waren Juristen und Mediziner von entscheidender Bedeutung bei der Umsetzung der rassenpolitischen Ziele in konkrete Maßnahmen, so spielten Sozialwissenschaftler eine wichtige Rolle bei der Planung und Vorbereitung sozialpolitischer Neuordnungen. Hier sind vor allem die Forschungsarbeiten des arbeitswissenschaftlichen Instituts der DAF zu nennen.21 Sie kreisten um die beiden zentralen Themen Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik. Die Untersuchungsgegenstände waren ebenso vielfältig wie die Tätigkeitsbereiche, denen sich die DAF zuwandte: Freizeitverhalten, Konsumwünsche und Lohnsysteme, Rationalisierungsprozesse und betriebliche Sozialpolitik, schließlich das Wohnungswesen und der gesamte Bereich der Sozialversicherungssysteme. Während des Krieges kamen Planungen für die sozialpolitische Gestaltung der eroberten Ostgebiete hinzu. Ziel der Politikberatung war ein »Generalstabsplan der sozialen Neuordnung«.22 Die Planungen wurden mit den außenpolitischen und militärischen Erfolgen des Deutschen Reiches immer phantastischer und ehrgeiziger, was schließlich im Entwurf eines »Sozialwerkes des Deutschen VolArbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront, München 1993; J. Gutberger, Volk, Raum und Sozialstruktur. Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im »Dritten Reich«, in: Beiträge zur Geschichte der Soziologie, Bd. 8, 1996; O. Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933–1945. Die Normalität einer Anpassung, Frankfurt a. M. 1986. 19 M. Pollak, Rassenwahn und Wissenschaft. Anthropologie, Biologie, Justiz und die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik, Frankfurt a. M. 1990. 20 Für den Bereich der sogenannten »Asozialen« siehe W. Ayaß, »Asoziale« im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; E. Lehnert, Die Beteiligung von Fürsorgerinnen an der Bildung und Umsetzung der Kategorie »minderwertig« im Nationalsozialismus. Öffentliche Fürsorgerinnen in Berlin und Hamburg im Spannungsfeld von Auslese und »Ausmerze«, Frankfurt a. M. 2003. 21 M. Hepp u. K. H. Roth, Sozialstrategien der Deutschen Arbeitsfront. Teil A: Jahrbücher des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront 1936–1940/41. Reprint­ ausgabe, 6 Bde., München u. a. 1986–1992; Roth, Intelligenz. 22 Zitiert in: Roth, Intelligenz, Anm. 631, S. 139.

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kes« von 1940/41 gipfelte.23 Die biographischen Studien von K. H. Roth haben deutlich gemacht, dass an diesem Kollektivunternehmen neben den überzeug­ ten Parteigängern der NSDAP und SS auch ehemalige Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionäre sowie wissenschaftliche Experten aus den Beratungs­ stäben der Ministerialbürokratie beteiligt waren.24 Auffällig ist die Bereitschaft fast aller Experten in der NS-Zeit, die Volksgemeinschaft vor den vermeintlichen Bedrohungen und Belastungen durch deviante Randgruppen in Schutz zu nehmen. Diesem Ziel widmeten sich fast alle Ärzte, Juristen oder Sozialwissenschaftler, die sich mit psychisch Kranken, Kriminellen, Zigeunern oder Fürsorgeempfängern beschäftigten. »Die Vernichtung von ›Asozialen‹ und ›Minderwertigen‹ konnte sich vor dem Hintergrund einer Kollektivmentalität von Fürsorgeexperten und Kommunalpolitikern entfalten, deren Aufräum- und Ausmerzphantasien im Nationalsozialismus ungehindert Wirklichkeit werden konnten und sich überraschend schnell kumulativ radikalisierten.«25 Gleichzeitig arbeiteten alle beteiligten Wissenschaftler an dem Ziel, durch klare, eindeutige Trennungen zwischen »Minderwertigen« und solchen »Hilfsbedürftigen«, die in die Normalität rückführbar erschienen ihrem Kampf gegen »Gemeinschaftsfremden« und »Fremdrassigen« eine positive Vision einer »geheilten« Volksgemeinschaft zur Seite zu stellen.

Professionelle Dienstleister und Legitimationsbeschaffer im paternalistischen Sozialversorgungsstaat der DDR26 Das Ende des NS-Regimes bewirkte auf der Ebene des Leitungspersonals der Sozialverwaltungen und der sozialpolitischen Experten einen markanten Einschnitt. Die »politische Quarantäne« der Entnazifizierungsverfahren blieb in den Sektoren öffentliches Gesundheitswesen, Sozialversicherung und Wohlfahrtspflege jedoch allein in der SBZ / DDR von Dauer. Weder leitende Staatsbeamte noch Spitzenfunktionäre von DAF oder NSV kehrten soweit bekannt in einflussreiche Positionen in der Sozialverwaltung in der DDR zurück. Stattdessen läutete die Stunde der 1933 verdrängten Sozialpolitiker von KPD und SPD. Diese Gruppe von Experten, die praktischen Erfahrungen in den Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherungen bzw. in den kommunalen Sozialverwal­ tungen gesammelt hatten, setzte zentrale sozialpolitische Leitideen der sozialis­ 23 M.-L. Recker, Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg, München 1985; Roth, Intelligenz. 24 Roth, Intelligenz, S. 186–197. 25 Ayaß, Asoziale, S. 222. 26 Grundlegend zur Wohlfahrtsproduktion der DDR: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv, Sozialpolitik, Bd. 8–10; M. Willing, »Sozialistische Wohlfahrt«. Die staatliche Sozialfürsorge in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR (1945–1990), Tübingen 2008.

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tischen Arbeiterbewegung aus der Weimarer Zeit nun in die Tat um: Der Ausbau des öffentlichen Gesundheitsdienstes, die Einführung einer Einheitsversicherung für Arbeiter und Angestellte sowie die Wiedereinführung der Selbstverwaltung unter maßgeblicher Beteiligung der Gewerkschaften waren maß­geblich getragen von diesem Expertenkreis. Anders als in den Westzonen gewannen sie in der SBZ durch Rückendeckung der SMAD das Gestaltungsmonopol in der Sozialpolitik.27 Die Funktionstüchtigkeit der neuen Sozialverwaltungen und Dienstleistungen beruhte darauf, dass neben den alten Parteiexperten von SPD und KPD jüngere Verwaltungskräfte aus der NS-Zeit übernommen und Nachwuchs aus den Mitgliedern von FDGB und SED gesucht wurde.28 Die Auswechselung der Experten wurde nach 1948 dadurch beschleunigt, dass sich die politischen Ziele des Regimes radikalisierten. Schon bald nach der Etablierung der neuen Institutionen verlor der gesamte Bereich der Sozialpolitik im Zeichen des sozialistischen Aufbaus und der Sowjetisierung an Bedeutung. Die noch 1947 bis 1949 zu beobachtenden Initiativen zur Etablierung sozialpolitischer Forschungsinstitute verliefen im Sande,29 das Wort »Sozialpolitik« verschwand aus dem Politikvokabular der Parteiführung30 und allein Arbeits­ wissenschaftler und Sozialmediziner wurden als unabhängige Experten geduldet. Die offizielle Parteilinie drängte ganz auf eine Entbürokratisierung der Sozialverwaltungen und propagierte im Zuge der Stalinisierung 1951 den Einsatz »zuverlässiger Arbeiter« und »fähiger Gewerkschaftsfunktionäre« in der Verwaltung der Sozialversicherung.31 Machtpolitisch ging es dabei um die Ausschaltung zahlreicher sozialdemokratischer Kader aus dieser Verwaltung. Im Ergebnis kam es zu einer weiteren Entprofessionalisierung der Sozialverwaltungen. In der Folge wurden an den Verwaltungsakademien vor allem Gewerk27 Vgl. D. Hoffmann, Sozialpolitische Neuordnung in der SBZ / DDR. Der Umbau der Sozialversicherung 1945–1956, München 1996. 28 So waren Anfang 1948 von den 21 Direktoren der Kreisämter und Gruppenleiter der Deutschen Verwaltung Arbeit und Sozialfürsorge in Sachsen und Thüringen zehn ehemalige Mitglieder der SPD, nur zwei hatten der KPD angehört, fünf hatten Berufserfahrung in den Sozialverwaltungen der Weimarer Republik, weitere fünf in der des NS-Regimes gesammelt; Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung (1945–58), Charakteristiken leitender An­gestellter in Ämtern für Arbeit und Sozialforschung (Mai 48); BAB DQ 2/1263. 29 So etwa die Gründungsinitiative zu einem »Institut für Sozialpolitik« in der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig, an der leitende Kader der SED, die Experten der Zentralverwaltung Arbeit und Sozialfürsorge sowie Vertreter des FDGB beteiligt waren: SAPMO-BA DY 30/IV 2/2.027/24. 30 »Sozialpolitik« galt bis Ende der fünfziger Jahre als Relikt der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Dabei spielte sicherlich auch die anfängliche Programmnähe und Konkurrenz der noch »sozialistischen Sozialpolitik« der SPD eine Rolle. Erst nach Mauerbau und Godesberger Programm konnte der Begriff durch die SED neu besetzt werden. W.-R. Leenen, Sozialpolitik in der DDR, in: Deutschland-Archiv 8 (1975), S. 254–270 u. S. 512–523, hier S. 256–259; zur Sozialpolitik der SPD vgl. H.-J. v. Berlepsch, »Sozialistische Sozialpolitik?« Zur sozialpolitischen Konzeption und Strategie der SPD in den Jahren 1949 bis 1966, in: K. Tenfelde, Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 461–482. 31 Hoffmann, Neuordnung, S. 217.

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schaftler und jüngere Verwaltungsangestellte mit Parteimitgliedschaft nachqualifiziert.32 Ein wesentliches Erbe dieser Anfangsphase blieb der hohe Anteil ehrenamtlicher Tätigkeiten im gesamten Sozialwesen der DDR. Für unser Thema werden dann erst wieder die sechziger Jahre von Bedeutung. Zwei Aspekte sind hier besonders hervorzuheben: Zum einen wurde das Politikfeld »Sozialpolitik« nun erst wieder gesondert aufgegriffen, in breitester Zielsetzung neu definiert und die konkrete Ausgestaltung dieses umfassenden Zukunftsprogramms vorrangig den Betrieben zugewiesen.33 Zum andern förderte die politische Führung die wissenschaftliche Beschäftigung mit sozialpolitischen Fragestellungen. 1965 kam es zur Gründung der Abteilung Sozialpolitik an der Hochschule des FDGB in Bernau.34 Zudem schufen die Dezentralisierungspläne des »Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Lenkung« eine spezifische Nachfrage nach neuen ökonomischen, organisationswissenschaftlichen und soziologischen Kompetenzen in den Sozialverwaltungen. Parallel dazu wurden Ökonomen, Arbeitswissenschaftler und Soziologen zusammen mit den Sachverständigen der Ministerialbürokratie herangezogen, um Reformpläne in der Rentenversicherung, in der betrieblichen Sozialpolitik und im Gesundheitswesen zu erarbeiten.35 Die Reformpläne zur verbesserten Wirtschaftlichkeit der Sozialversicherung führten im Anschluss an einen entsprechenden Beschluss des Politbüros der SED vom 1.8.1967 zu weitreichenden Professionalisierungsplänen im FDGB.36 Während solche weitreichenden Reformpläne mit dem Sturz Ulbrichts endgültig zu den Akten gelegt wurden, so blieb jedoch das Thema Verwissenschaftlichung der Sozialpolitik generell auf der Tagesordnung. Organisatorisch und 32 An den zentralen Fachschulen für Arbeit und Sozialwesen Neuenhagen sowie an der Zentralschule für Arbeit in Halle, vgl. BAB DQ 2/901; DQ 1/2317. Umfang und Folgen dieser Personalpolitik sind meines Wissens noch nicht untersucht worden. 33 Vgl. P. Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiss. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ / DDR 1945–1970, Berlin 1995, S. 168 f.; G. Winkler (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik der DDR 1945–1985, Berlin 1989. 34 Im Mittelpunkt von Forschung und Lehrprogramm des neuen Instituts standen denn Fragen betrieblicher Sozialpolitik, insbesondere die »Entwicklung von Methoden zur besseren Nut­zung und der ökonomischen Stimulierung von Maßnahmen des Gesundheits- und Arbeits­schutzes«: SAPMO-BA DY 34/Büro Heintze / Lehmann 228. 35 Vgl. Arbeitsgruppe Sozialpolitik SAPMO-BA, J IV 2/202/448. 36 Anlage 1 zum Protokoll Nr. 18/67 des Politbüros der SED vom 1.8.1967: Hier wurde unter anderem als Planziel formuliert: »In der ersten Etappe wird die bisherige einseitige Fi­ nanzplanung überwunden, und es erfolgt der Übergang zur wissenschaftlichen Planung und Leitung der Sozialversicherung«, »…alle in diesen Etappen durchzuführenden neuen Maßnahmen sind durch wissenschaftliche Untersuchungen und durch Experimente in Gemeinschaftsarbeit zu erproben und vorzubereiten«, weiter wurden Aufgaben für die »prognos­tische Arbeit der Sozialversicherung« formuliert zur Senkung des Krankenstandes und der Frühinvalidität, zu Rehabilitationsmaßnahmen und zur sozialen Betreuung der Rentner sowie zur Senkung des Verwaltungsaufwands; SAPMO-BA, DY 30/ J IV 2/2/1128. Zur Umsetzung innerhalb des FDGB siehe: Präsidiumsvorlage der Abteilung Sozialpolitik des Bundesvorstandes vom 19.6.1968 in: SAPMO-BA, DY 34/6768.

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personell entwickelten sich aus den verschiedenen Instituten und Expertengremien in Partei und Gewerkschaft die wissenschaftlichen Beiräte und Forschungseinrichtungen, die die Sozialpolitik der siebziger und achtziger Jahre begleitet haben.37 Seit den frühen siebziger Jahren vergrößerte sich denn auch der Kreis wissenschaftlicher Experten, die sich mit der planerischen Begleitung und laufenden Verwaltung der Sozialleistungen beschäftigten. Gleichzeitig setzte in dieser Zeit auch eine Professionalisierung der bislang eher vernachlässigten sozialfürsorgerischen Berufsfelder ein; 1966 wurde als zentrale Einrichtung der Ausbildungsgang Sozialpädagogik an der HU Berlin eingerichtet.38 Politisch setzten die siebziger und achtziger Jahre jedoch keineswegs die Entwicklungen der späten Ulbricht-Zeit fort. Vieles deutet darauf hin, dass der reale Einfluss der neuen sozialpolitischen Experten mit dem Abbruch der Wirtschaftsreformen nach 1968 deutlich zurückging, die neue Parteiführung unter Honecker seit 1971 die Gestaltung der Sozialpolitik nach genuin machtpolitischen Gesichtspunkten vornahm und die Beiräte nun vorrangig der Aufgabe gegenüber standen, den sozialpolitischen Kurs nach innen wie außen zu legitimieren. Die Mitte der sechziger Jahre in den Mittelpunkt gerückte Forderung nach einer empirischen Kontrolle von Planzielen und Planrealisierungen trat immer mehr in den Hintergrund. Das Auseinanderdriften sozialpolitischer Programme und volkswirtschaftlicher Leistungskraft wurde den Blicken der Sozialplaner entzogen. So blieb der Einfluss der sozialwissenschaftlichen Experten im Zeichen der neuen »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« äußerst bescheiden. Das politisch-ideologische Deutungsmonopol der politischen Machtelite verhinderte, dass die Experteninformationen die Fiktionen der offiziellen Sprache durchbrachen. Zahlreiche empirische Studien erreichten ihre Adressaten offensichtlich nicht, ohne dass sich nennenswerte Ansätze zu einer Fronde der Experten und Wissenschaftler beobachten lassen.39 Erst spät wurde die Professionalisierung sozialer Dienstleister, vor allem angesichts des wachsenden Bedarfs in der Altenpflege, vorangetrieben und durch die Einrichtung eines Fernstudiengangs »Sozialfürsorger« an der Fachschule für Gesundheit und Soziales in Potsdam verstetigt.40 37 In diesen Zusammenhang gehörte der 1974 gegründete »wissenschaftliche Rat für Sozialpolitik und Demographie« sowie die 1968 neugegründete Sektion »Wirtschafts- und Sozial­politik« an der FDGB-Hochschule in Bernau und das 1978 gegründete »Institut für Sozio­logie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR, das 1980–90 das »Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik« herausgab. 38 E. Mannschatz, Jugendhilfe in der DDR. Autobiographische Skizzen aus meinem Berufs­ leben, Münster 1994, S. 21. 39 H. Meyer, Soziologie in der DDR. Erfahrungen mit einer erodierten Disziplin, in: WZBMitteilungen 65, 1994, S. 27–31; L. Peter, Legitimationsbeschaffung oder »machtkritische Subkultur«? Marxistisch-leninistische Soziologie und Systemverfall in der DDR, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 42, 1990, S. 611–641. 40 M. Boldorf, Sozialfürsorge, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundes­ archiv, Sozialpolitik, Bd. 10, S. 461.

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Korporativ eingebundene Experten und professionelle Dienstleister in der Bundesrepublik41 Auch in den westlichen Besatzungszonen und später dann in der Bundesrepublik spielte der Rückbezug auf Weimarer Traditionen eine wichtige Rolle. Sozialpolitische Leitideen und Organisationsprinzipien aus der Zeit vor 1933 bildeten auch hier die Grundlagen für den neuen Konsens der Experten, die jedoch anders als in der DDR in ihrer Mehrheit auch in der NS-Zeit einflussreiche Positionen im Sozialwesen innegehabt hatten. Vor allem Verwaltungsjuristen, Mediziner und Ökonomen wurden als sachverständige Experten weiterbeschäftigt. Allein die Sozialexperten der Partei im engeren Sinne – voran die Vertreter der NSV und DAF – kehrten nicht mehr in ihre Arbeitsfelder zurück. Zentrale Bedeutung erlangten in dieser Konstellation Experten, die die Kontinuität der Fachleute von der Weimarer Zeit über die NS-Diktatur bis in die Bundesrepublik repräsentieren konnten. Hinter Namen und Persönlichkeiten wie Bogs, Krohn, Muthesius oder Polligkeit, die die Kontinuität fachlicher Arbeit im Sozialbereich vom Kaiserreich bis in die neue Bonner Republik verkörperten, fanden auch die zahlreichen jüngeren, im Nationalsozialismus in verantwortliche Positionen aufgerückten Experten rasch wieder einen festen Platz in den sozialstaatlichen Institutionen: Sie verstärkten die organisatorischen, rechtlichen und konzeptionellen Kontinuitäten unterhalb der veränderten sozialpolitischen Leitideen. Eine öffentliche Auseinandersetzung über die eigenen Verstrickungen und Verantwortlichkeiten fand nicht statt.42 Besonders auffällig war die Präsenz von Experten aus dem ehemaligen Reichsarbeitsministerium. Sie bestimmten neben einigen wenigen profilierten Weimarer Sozialexperten den zunächst einmal kleinen Kreis der in der Politikberatung aktiven Fachleute. Im Übrigen bot das Weimarer Verbandsmodell den formalen Rahmen für ein Neuarrangement aller öffentlichen und privaten Wohlfahrtsträger. Man darf auch 41 Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv, Sozialpolitik, Bde. 3–7; C. Kuller, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1975, München 2004; F. Föcking, Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961, München 2007; H. G. Hockerts (Hg.), Soziale Ungleichheit im Sozialstaat. Die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien im Vergleich, München 2010; C. Torp, Cornelius, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen 2015. 42 Ergebnis dieser bis in die achtziger Jahre fortwirkenden Konstellation war, dass die aktive Rolle zahlreicher exponierter Experten für die rassistischen Ziele der NS-Bevölkerungspolitik erst in der neueren Forschung aufgedeckt worden ist. Für den Fürsorgebereich exemplarisch sind die Karrieren von Hans Muthesius und Käthe Petersen; vgl. hierzu Schrapper, Muthesius, S. 85–170; Rothmaler, Sozialpolitikerin, S. 75–90; sowie die Kurzbiographien weiterer Experten im Fürsorge- und Gesundheitswesen bei Hansen, Wohlfahrtspolitik, S. 384 f. (Fischer-Defoy), S. 394 f. (Kracht), S. 407 (Roestel), S. 419 (Wallraf), S. 420 (Webler) und v. a. in Heisig, Armenpolitik, S. 523–603.

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nicht vergessen, dass in den Notlagen der Nachkriegsjahre zunächst einmal nicht die Stunde der Gestalter, sondern der Helfer und Praktiker schlug. Die Beseitigung unmittelbarer Notlagen und Gefährdungen stand in allen Bereichen der Sozialpolitik an erster Stelle. Hilfe spielte eine ganz wichtige Rolle als Leitbild in den öffentlichen Diskussionen und die Knappheit der zur Verfügung gestellten Mittel tat ein übriges, dass in der Praxis die bewährten Methoden der Fürsorge und Sozialhilfe weitergeführt, aber ehrgeizigere Ziele wie Prävention und Integration eher in den Hintergrund traten. Auf politischer Ebene etablierte sich bald wieder die Tradition kooperativer Einbindung verbandsorientierter Sachverständiger in Gesetzgebung und Exekutive. Beiräte und Sachverständigenkommissionen entstanden auf den drei politischen Ebenen von Bund, Ländern und Gemeinden. Die Kontroversen der wissenschaftlichen Experten und die abweichenden Gutachten der Sachverständigen in der langen Vorgeschichte der Reformbestrebungen bis hin zur großen Rentenreform von 1957 wurden in der politischen Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit registriert.43 Die sozialpolitische Expertenlandschaft veränderte sich nennenswert erst seit den späten sechziger Jahren im Gefolge der gesellschaftlichen Umstrukturierungen, die der langanhaltende Wirtschaftsboom hervorrief. Im Zuge der Bildungsreformen kam es zu einem Professionalisierungsschub im Sozialwesen. Lehrpläne und Selbstverständnis der neugegründeten Fachhochschulen für Sozialpädagogik und Sozialarbeit unterschieden sich deutlich von ihren Vorgängern. Die nun stärker theoretisch ausgebildeten Absolventen lösten in einem raschen Generationswechsel die noch verbliebenen Vertreter einer ganz anders ausgebildeten und orientierten älteren Generation von Sozialpflegerinnen und Sozialarbeitern ab. Zugleich verschoben sich mit dem Ausbau kommunaler Sozialleistungen (wachsende Bedeutung zum Beispiel der Jugendarbeit) und dem weiteren Ausbau der medizinischen Versorgung (Drogen / Suchtberatung, sozialpsychiatrische Dienste)  auch die Arbeitsfelder und Problemwahrnehmungen sozialer Hilfe. Parallel und häufig auch in direktem Kontakt zu diesen Veränderungen in den Sozialstaatsberufen etablierten sich jüngere, nunmehr stärker sozialwissenschaftlich orientierte Experten des Sozialstaats. Zum einen entwickelte sich seit den siebziger Jahren eine breite akademische Forschung in den Fächern Soziologie und Politikwissenschaften, die sich unter systematischen Gesichtspunkten mit aktueller und vergangener Sozialpolitik beschäftigte.44 Ein Ergebnis dieser Veränderungen im Berufsfeld und Wissenschafts43 Grundlegend hierzu H. G. Hockerts u. H. F. Zacher, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945–1957, in: Vierteljahresschrift für Sozialrecht, Jg. 11, 1980, S. 209–211. 44 Den späten Anfang markiert die Einrichtung einer Sektion »Soziologie und Sozialpolitik« auf dem Soziologentag von 1976: C. von Ferber u. F.-X. Kaufmann, Soziologie und Sozialpolitik, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 19, Wiesbaden 1977, S. 11–34; zur weiteren soziologischen Diskussion siehe: F.-X. Kaufmann, Staat und Wohlfahrtsproduktion, in: ders., Sozialpolitik und Sozialstaat. Soziologische Analysen, 2002,

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betrieb war, dass sich der in der deutschen Tradition bis dahin marginale Typus des verbands- und politikdistanzierten Sozialexperten herausbildete, der als Kritiker der etablierten Träger und Verbände und als Tribun vernachlässigter Klienteninteressen auftrat.45 Parallel zu diesen Entwicklungen kam es jedoch auch in den Entscheidungszentren und Verwaltungen des Bonner Sozialstaats zu einem Verwissenschaftlichungsschub. Alle beteiligten Institutionen, von den Ministerien über die Parteien bis hin zu den Interessenverbänden und Trägern der Sozialleistungen, versuchten in den siebziger Jahren ihre Fachkompetenz unter Beweis zu stellen, indem sie vermehrt wissenschaftliche Experten einstellten, eigene Forschungsabteilungen gründeten bzw. Forschungsaufträge vergaben oder enge Verbindungen zu Forschungsinstituten herstellten. Seit dieser Zeit ist jedenfalls der Trend unübersehbar, dass sich alle unmittelbar an sozialpolitischen Entscheidungen beteiligten Institutionen eigene wissenschaftlich qualifizierte Experten heranzogen, um eigene Planungsvorschläge entwickeln und fremde Planungsvorgaben kritisieren bzw. beeinflussen zu können. Im Fall der Renten- und der Krankenversicherung sind denn auch politikwissenschaftliche Untersuchungen über die Entscheidungsprozesse der achtziger Jahre zu dem Schluss gekommen, dass eine »Expertisierung« des gesamten Politikfeldes zu beobachten sei – und dass diese engere Verbindung wissenschaftlicher Beratung und politischer Entscheidung letztlich auf der institutionellen und personellen Ausweitung der Verwaltungen hin zur sozialwissenschaftlichen Planung und Kontrolle der eigenen Tätigkeiten beruhte.46

Expertenwissen und sozialpolitische Leitbilder Eine Kardinalfrage stellt natürlich die Beziehung zwischen dem spezifischen Fachwissen der Experten und den dominierenden Leitideen, den zu Schlagwörtern der politischen Diskussion geronnenen »Prinzipien« der Sozialpolitik dar. S. 197–220; U. Beck u. W. Bonß (Hg.), Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens, Frankfurt a. M. 1989. 45 Diese Neuorientierungen haben ihrerseits der Geschichte der Sozialpolitik neue Impulse gegeben: vgl. die zahlreichen Studien von Tennstedt oder die Studien von Hansen, Wohlfahrtspolitik oder Leibfried u. a., Richtsatzpolitik; M. Heisig, Armenpolitik im Nachkriegsdeutschland (1945–1964). Die Entwicklung der Fürsorgeunterstützungsätze im Kontext allgemeiner Sozial- und Fürsorgereform, Stuttgart 1995. 46 M. Döhler u. Ph. Manow, Strukturbildung von Politikfeldern. Das Beispiel bundesdeutscher Gesundheitspolitik seit den fünfziger Jahren, Opladen 1997, S. 145–154; F. Nullmeier u. F. W. Rüb, Die Transformation der Sozialpolitik. Vom Sozialstaat zum Sicherungsstaat, Frankfurt 1993; J. Krüger, Wissenschaftliche Beratung und sozialpolitische Praxis. Die Relevanz wissenschaftlicher Politikberatung für die Reformversuche um die Gesetzliche Krankenversicherung, Stuttgart 1975.

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In vergleichender Perspektive ist ein klarer Trennschnitt zwischen der Bundesrepublik und den beiden Diktaturen im Zeichen von NSDAP und SED zu ziehen. Wie bereits in der Weimarer Zeit blieb der Streit um die Benennungsmacht der sozialen Welt eine ganz wesentliche Dimension auch der bundesrepublikanischen Sozialpolitik – auch wenn der weltanschauliche Pluralismus in der langen Phase des Wirtschaftswachstums und des Ausbaus sozialstaatlicher Leistungen deutlich an Bedeutung verlor. Der Streit der Experten blieb jenseits verbandspolitischer Bindungen und direkter Interessenvertretung immer eingebettet in kontroverse Deutungen gesellschaftspolitischer Ziele und Leitideen. So steht gerade die korporative Einbindung wissenschaftlicher Expertise, wie sie seit den siebziger Jahren angesichts wachsenden Kostendrucks und damit Veränderungsbedarfs in den Sozialleistungssystemen zu beobachten ist, in einem auffälligen Kontrast zur Wiederbelebung sozialpolitischer Grundsatzdiskussionen, die ihrerseits maßgeblich von Experten angestoßen worden sind, die außerhalb der älteren Netzwerke von Verbandsinteressen und Parteibindungen stehen. In der unter Sachgesichtspunkten ungleich dramatischeren, aber systematisch verleugneten Krise des Sozialversorgungssystems der DDR findet man dagegen nur die institutionelle Einbindung und ideologische Unterordnung der Expertenmeinungen. Für die NS-Zeit wiederum ist eine Konstellation charakteristisch, in der die Experten im Rahmen der vorgegebenen Sprachregelungen und im Schutz konkurrierender Machtträger die sozialpolitischen Grundsatzdebatten führten. Jenseits solcher elementarer Differenzen sind jedoch einige Übereinstimmungen zu entdecken: So beruhte die Beteiligung der Sozialexperten an der rassenhygienischen Gesellschaftspolitik des Nationalsozialismus nicht allein auf machtpolitischer Gleichschaltung, sondern die Sozialpolitik nach 1933 wurde von vielen Experten als Fortführung eigener Bestrebungen und Chance zur Realisierung eigener Gestaltungsvorschläge ohne das Veto politischer Gegenkräfte und Kontrollinstanzen wahrgenommen. Ein wesentliches Fundament hierzu lieferte das rassenhygienische bzw. eugenische Erklärungsmodell, das seit dem Ersten Weltkrieg zu einer radikalen Umdeutung traditioneller Problemfelder der Sozialpolitik führte und sich gerade als neue Verständigungsbrücke zwischen Bürokratie und Wissenschaft anbot.47 Die rasche Verabschiedung und vor allem Umsetzung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« war nur möglich, weil in Expertenkreisen über die politischen Gegensätze hinweg breite Zustimmung vorherrschte. Die Affinität sozialtechnischer Sichtweisen zu biologistischen Deutungsmustern konnte sich dann in den weiteren Jahren der Führerdiktatur in zahllosen Expertenvorschlägen und Fürsorgemaßnahmen immer wieder bestätigen. Auch die Medikalisierung der sozialpolitischen 47 Zur Verbindung von Bürokratie und Rassenhygiene siehe P. Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870–1945, Cambridge 1989, S. 399–488; P. Weingart u. a., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassen­ hygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 254–273.

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Schlagwörter wie »Ausmerze«, »Verhütung«, »Vorsorge« oder »Pflege des Volkskörpers« wurde nicht zuletzt von den Experten vorangetrieben. Aus deren Sicht war denn auch die nationalsozialistische Ideologie ein Bezugsrahmen,48 der zwar das Feld erlaubter Deutungen eingrenzte, der aber auch Spielraum ließ, unterschiedliche Erklärungsmuster weiterzuentwickeln. Zwar gab es immer wieder Eingriffe von Instanzen des Regimes in wissenschaftliche Kontroversen, aber eine ideologische Nahkontrolle der Fachdiskurse wurde teilweise angestrebt, stieß aber auch auf Ablehnung innerhalb der weltanschaulichen Kerngruppen des NS-Regimes, nicht zuletzt bei Hitler selbst. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass alle jene, die die vagen Prämissen der NS-Politik und Weltanschauung akzeptierten  – und dies war die große Mehrheit der nach 1933 zur Verfügung stehenden akademischen Sachverständigen, die Jahre der NSDiktatur als Zeit relativ großer Gestaltungsspielräume und Zukunftsentwürfe erlebten. Das Regime honorierte die Loyalität der Experten, indem es dem wissenschaftlichen Fachwissen den weltlichen Arm politisch-ideologischer Propaganda, aber auch polizeilich-autoritärer Gewalt lieh. Erst diese Koalition von Parteielite und Fachexperten ermöglichte es dem Regime, über den Rahmen konservativer Stabilisierung und autoritärer Rückbildung der bestehenden Einrichtungen hinauszugehen, mit dem es im Bündnis mit der Ministerialbürokratie 1933–1936 gestartet war. Im Vergleich der Diktaturen ergeben sich dementsprechend tiefgreifende Differenzen. Nicht nur die sozialpolitischen Zielvorstellungen waren, wie immer wieder mit Recht betont wird, andere, sondern das SED-Regime war weit entfernt von den wissenschaftspolitischen und ideologischen Spielräumen des NS-Regimes. Die akademischen Experten sahen sich nach kurzer Zeit pragmatischer Duldung 1945–1949 einer sowohl klassenpolitisch wie ideologisch motivierten Kritik und Kontrolle ausgesetzt. Früher und entschiedener als das NS-Regime begann die SED mit der Heranbildung einer neuen loyalen universitären Elite, die vor allem aus den traditionell bildungsfernen Unterschichten rekrutiert wurde. Doch auch nach dem Auszug bzw. der Ablösung der »bürgerlichen« Experten in den ersten zehn Jahren der DDR blieben die Spielräume der neuen Sachverständigen kleiner als die ihrer Kollegen in den zwölf Jahren der NS-Diktatur. Das Monopol über die Deutungsmuster der sozialen Welt galt der politischen Machtelite während der gesamten Dauer ihrer Herrschaft als notwendige Voraussetzung für die Stabilität des Regimes. Damit war aber sozialpolitisches Expertenwissen nur als fachlich streng eingegrenztes, anwendungs48 Zu dieser Konzeption der NS-Ideologie als verbindlicher, aber interpretationsoffener Bezugsrahmen, der nur einige wenige Kernelemente, Führerprinzip, Volksgemeinschaft, Lebensraum oder Volkskörper enthielt, ansonsten den Wissenschaftlern bei Hinnahme des politischen Herrschaftssystems freie Hand gewährte, siehe den Beitrag Radikales Ordnungsdenken in diesem Band, sowie: L. Raphael, Pluralities of National Socialist Ideology. New Perspectives on the Production and Diffusion of National Socialist Weltanschauung, in: M. Steber u. a. (Hg.), Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014, S. 73–86.

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bezogenes oder aber als in der Sprache der offiziellen Ideologie formuliertes Wissen akzeptiert. Unter diesen Rahmenbedingungen verfügten vor allem jene Humanwissenschaftler über Freiräume, die sich jenseits der marxistisch-leninistischen Deutungsmuster auf autonome, und dies hieß in der Regel naturwissenschaftliche Wissensbestände und Verfahren berufen konnten. Die Chancen zur Distanzierung von den Sprachregelungen und Denkverboten der offiziellen Deutungsmuster waren denn auch für Mediziner, Mathematiker oder Psychologen größer als für Ökonomen, Soziologen oder Pädagogen. Diese wissenschaftspolitischen und wissenssoziologischen Voraussetzungen setzten dem in der Regel auf soziale und wirtschaftliche Tatbestände bezogenen Expertenwissen im Bereich der Sozialpolitik enge Grenzen. Imme wieder lässt sich beobachten, dass die politischen Kader Ansprüche zurückwiesen, gängige Problemwahrnehmungen in der Sozialpolitik wissenschaftlich zu überprüfen oder gar unabhängige fachspezifische Ansätze für die Behandlung der zugrundeliegenden Tatbestände zu entwickeln. Forscher und Forschungsrichtungen, die solche Ansätze betrieben, wurden immer wieder an ihrer Weiterentwicklung gehindert und fristeten häufig eine Randexistenz als Lieferanten eines zwar gedul­deten, aber misstrauisch kontrollierten Spezialwissens. Dies galt etwa für die Sozial­ pädagogik oder die Sozialpsychologie.49 Die wohl nicht zuletzt aus Gründen der Systemkonkurrenz gesteigerten Ansprüche auf empirisch-prognostische Fundierung der sozialpolitischen Expertise, also die Steigerung des technischen Elements im Expertenwissen, hat für die Entwicklung des Selbstverständnisses der Experten eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Gerade in den sechziger Jahren  – ganz parallel zu den Vorstellungen ihrer westlichen Kollegen – erlebten auch die sozialwissenschaftlichen Experten der DDR ihre Planungseuphorie. In der Phase des »Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Lenkung« empfahlen sich Soziologen und Ökonomen als unentbehrliche Berater für die Planungs- und Führungsarbeit der politischen Führungskader. Doch die Erwartungen wurden enttäuscht und der Handlungsspielraum für die selbsternannten Sozialingenieure blieb gering. Die strenge Monopolisierung aller Informationen, die Zusammenhänge aufzeigten, und die ideologiegestützte Ausblendung relevanten Wissens führten seit den siebziger Jahren dazu, dass systematisch das reale Ausmaß der ökonomischen Krise und damit das Fehlen jeglichen Fundaments einer erweiterten Sozialpolitik von den Experten in den sozialpolitischen Abteilungen und von den Politkadern der SED negiert wurden. Unter den Bedingungen eines zentralistischen Informations- und Entscheidungssystems produzierten die inzwischen zahlreich vorhandenen Experten einen ständig wachsenden Überschuss praktisch unbeachteter, prinzipiell aber planungs- und entscheidungsrelevanter Daten im gesamten Bereich von Sozialverwaltung und Sozialpolitik. Das

49 Mannschatz, Jugendhilfe; S. Busse, Psychologie im Real-Sozialismus. DDR-Psychologen im Interview, Pfaffenweiler 1996.

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Zahlen­werk der amtlichen Statistik mit ihren Kennziffern wurde schließlich zum eindrucksvollen Symbol dieser Wahrnehmungsblockaden. Statt der technischen Kompetenz des sozialistischen Sozialingenieurs wurde immer stärker die rhetorische Kompetenz des harmonisierenden Sozialberichterstatters gefördert. In dem Maße, in dem die Sozialpolitik in der Ära ­Honecker zur zentralen Legitimationsinstanz der wirtschaftlich zurückbleibenden SEDDiktatur aufstieg, diente auch der Ausbau dieser Expertenwelt vor allem dazu, die Modernität des paternalistischen Versorgungssystems zu beweisen.50 Die Sprache der sozialwissenschaftlichen Experten blieb eng verbunden mit der offiziellen Herrschaftssprache.51 »Versorgung« und »Betreuung«, »Sicherheit« und »Geborgenheit« waren jedenfalls Konzepte, die in den Studien immer wiederkehren und die zunächst einmal die paternalistische Sichtweise der Machtelite um Honecker reproduzieren. Auch die Orientierung an den »Bedürfnissen« enthielt per se kein kritisches Element, denn das Leitbild der sozialistischen Gesellschaftsgestaltung legte die Macht, diese Bedürfnisse zu definieren, zu bewerten und auszuwählen, eindeutig in die Hände der politischen Kader.52 Aber die Experten rückten immer stärker in eine ambivalente Lage: Einerseits spielten sie eine wichtige Rolle als Übersetzer konkreter Ansprüche gesellschaftlicher Gruppen in legitime Bedürfnisse und damit in mögliche Ziele künftiger Sozialpolitik, andererseits waren sie aber auch die Anwälte und Propagandisten amtlicher Prioritäten in der immer prekären Befriedigung materieller Bedürfnisse im DDR-Sozialismus. In der Bundesrepublik sind, wie bereits angedeutet, Expertenwissen und politische Ordnungsideen in eine spannungsvolle Beziehung zueinander getreten. Bis in die frühen siebziger Jahre lässt sich eine Rückkehr zur älteren Tradi­ tion des Expertenwissens, nämlich zur wissenschaftlichen Begründung von sozialpolitischen Normen und Ordnungsvorstellungen feststellen, wie sie etwa im »Verein für Socialpolitik« bis in die Weimarer Zeit hinein gepflegt worden war. Ungebrochen blieb in dieser Phase noch der selbstbewusste Anspruch der Wissenschaftler, die »großen Leitgedanken« für den künftigen »Sozialplan«53 zu liefern, wie dies etwa Mackenroth 1952 formulierte. Vor dem Hintergrund 50 Zur Situation der Soziologie vgl. Meyer, Soziologie; Peter, Legitimationsbeschaffung; D. Simon u. V. Sparschuh, Der Nachlaß der DDR-Soziologie – bloßes Archivmaterial oder soziologisches Forschungsfeld, WZB-Papers 92–001, Berlin 1992. Die folgenden Bemerkungen stehen alle unter dem Vorbehalt weiterer Forschungen zur Rolle der Sozialwissenschaften in der Sozialpolitik der DDR. 51 Vgl. die Einführungen und Übersichten von G. Manz u. G. Winkler (Hg.), Theorie und Praxis der Sozialpolitik in der DDR, Berlin 1979; dies. (Hg.), Sozialpolitik, Berlin 19882. 52 Dies macht verständlich, warum empirische Studien zu »Lebensweise« und »Bedürfnissen« immer weniger Beachtung fanden bzw. in immer größerer Zahl »Nur für den Dienstgebrauch« bzw. zur »vertraulichen Dienstsache« abgestempelt wurden; vgl. Simon u. Sparschuh, Nachlaß, S. 1. 53 G. Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, Berlin 1952, S. 72.

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solcher Erwartungen müssen die bald einsetzenden Klagen der wissenschaftlichen Experten über die Missachtung ihrer Konzepte durch die Politiker gelesen werden.54 Angesichts der noch offenen Gestaltungschancen und der zunächst großen Spannweite sozialpolitischer Leitideen auch in Westdeutschland dominierten de facto die politischen Grundoptionen. Sie hatten zumal angesichts der markanten Systemkonkurrenz häufig mehr Gewicht als Zweckmäßigkeitserwägungen und Kostenanalysen von Experten. Rasch bildete sich jedenfalls ein fester Bestand von »Prinzipien« bzw. Schlagwörtern aus, der die sozialpolitischen Debatten in der Bundesrepublik lange Zeit bestimmen sollte: soziale Marktwirtschaft, das Versicherungsprinzip, die Prinzipien von Äquivalenz, Solidarität und Subsidiarität. Von Seiten der Experten haben eigentlich nur Juristen und Ökonomen in den ersten 25 Jahren der Bundesrepublik mit ihren fachspezifischen Deutungsansätzen die öffentliche Wahrnehmung sozialpolitischer Problemstellungen nachhaltig beeinflusst. Zum einen hat die Einrichtung der gesonderten Sozialgerichtsbarkeit die ursprünglich schwache verfassungsrechtliche Verankerung des Sozialstaatsprinzips ganz wesentlich ergänzt und seit den sechziger Jahren haben dann auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die sozialstaatliche Dimension der Grundrechte immer stärker herausgearbeitet. Deren Inter­pretation als Teilhaberechte in den frühen siebziger Jahren markiert zweifellos den Abschluss dieser Entwicklungen.55 Von ökonomischer Seite ist zum anderen der Gesichtspunkt der Umverteilung und normativ die Verteidigung leistungsorientierter Gestaltungsprinzipien im Einklang mit marktwirtschaftlichen Prinzipien sehr erfolgreich in die öffentliche Debatte eingebracht worden. Insgesamt haben sozialrechtliche und volkswirtschaftliche Denkmuster in erheblichem Maße das Problemverständnis der sozialadministrativen Elite bis in die Gegenwart geprägt. Sicherlich hat diese konsensfähige Expertenkultur mit das Ihre dazu beigetragen, dass die sozialpolitischen Deutungskämpfe in den sechziger und auch noch in den siebziger Jahren an Heftigkeit verloren. Die »Versachlichung« konnte sich teilweise sogar bis zur »Entpolitisierung« fortentwickeln. Das änderte sich jedoch Mitte der 1970er Jahre. Die von Heiner Geisler, dem Generalsekretär der CDU lancierte politische Debatte um die »neue soziale Frage« öffnete das Meinungsfeld und leitete eine langfristige Pluralisierung der Expertisen auf dem Feld der Sozialpolitik, speziell der Armutsbekämpfung ein.56 Expertenmeinung stützte nunmehr unterschiedliche sozialpolitische Leitbilder in der Sozialpolitik, eine Konstellation, die angesichts der wachsenden Komplexität der Sachfragen, steigender Kosten und unüberschaubarer Nebenfolgen 54 Krüger, Beratung, S. 11. 55 H. Zacher, Sozialpolitik, Verfassung und Sozialrecht im Nachkriegsdeutschland, in: K. Schenke u. W. Schmähl (Hg.), Alterssicherung als Aufgabe für Wissenschaft und Politik, Stuttgart 1980, S. 123–171. 56 Vgl. W. Süß, A ›New Social Question‹? Politics, Social Sciences and the Rediscovery of­ Poverty in Post-Boom Western Germany, in: Raphael, Poverty, S. 197–224; O. SambergGroh, The New Poverty, in: ebd., S. 225–250.

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öffentlicher Wohlfahrtsproduktion die Regel wurde. Die Abschottung der Expertendebatten in hochsensiblen Reformvorhaben etwa im Bereich der Kranken- und Rentenversicherung von politischen Grundsatzdebatten ließ sich in der Folgezeit nur noch in selteneren Fällen beobachten. Die »konzertierte Aktion« zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen etwa beruhte im Wesentlichen auf dem Konsens im kleinen Kreis der beteiligten Experten.57 »Technokratisch« geprägte Konstellationen wurden seltener, aber die politischen Entscheider suchten mehr denn je eine empirisch-statistische und prognostische Absicherung ihrer Lösungsvorschläge und Reformvorhaben durch Expertenstäbe. Höhepunkt erreichte dieser Trend erst nach 1998 in der rot-grünen Koalition, als Expertenkommissionen die geplanten sozialpolitischen Reformen »absicherten«.58 »Verwissenschaftlichung« und »Expertisierung« sind aufs engste miteinander verflochten. Die akademische Politikforschung jedenfalls hat in neueren Studien die Folgen in den Blick genommen, die solche dauerhaften korporativen Arrangements für die Filterung kritischer Informationen und die Wahrnehmung von Problemfeldern auch bei den Sachverständigen mit sich bringen.59

Sozialpolitische Entscheidung und Expertise Die Zusammenhänge zwischen politischen Leitbildern und sozialpolitischer Expertise haben den weiteren Rahmen abgesteckt für den dritten Problemkomplex des Vergleichs, die Frage nach dem konkreten Einfluss von Experten auf wegweisende sozialpolitische Entscheidungen.60 Wiederum ist an den fundamentalen Gegensatz zwischen Diktatur und demokratischer Verfassungsordnung zu erinnern. Dennoch zeigt sich bei der vergleichenden Betrachtung einiger Entscheidungsprozesse ein deutlicher Gegensatz zwischen der Einbeziehung und Handlungsfreiheit von Sachverständigen im NS-Regime und der Unterordnung und Missachtung von Sozialstaatsexperten im SED-Staat. In der Ämter- und Instanzenkonkurrenz des Führerstaats wuchsen den systemkonformen Experten erhebliche Gestaltungsfreiräume zu. Das Spiel von Expertise und Gegenexpertise, die Gründung von Sachverständigenbeiräten und Arbeitskreisen gehörte zum Alltag der wuchernden NS-Bürokratie. Angesichts der vagen sozialpolitischen Programmatik der NSDAP war dabei gerade in der Sozialpoli57 Döhler u. Manow, Strukturbildung, S. 145–153. 58 S. T. Siefken, Politikberatung durch Expertenkommissionen – Chance oder Risiko für die Inklusion schwacher Interessen? in: M. Linden u. W. Thaa (Hg.), Die politische Repräsentation von Fremden und Armen, Baden-Baden 2009, S. 99–118. 59 Döhler u. Manow, Strukturbildung, S. 153; Nullmeier u. Rüb, Transformation, S. 64, S. 69, S. 320 f. 60 Ein systematischer Vergleich unter Einbeziehung aller sozialpolitischen Handlungsarenen ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht möglich. Die Beispiele wurden vor allem dem am besten erforschten Bereich der Sozialversicherung entnommen.

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tik viel Platz für die Entwürfe von Experten aus Verwaltung und Wissenschaft. Die zu­gespitzte Kontroverse zwischen den Verfechtern einer grundlegenden Umstellung des gesamten Systems sozialer Sicherung in der DAF und den Anhängern einer Teilreform des bestehenden Systems wurde im Wesentlichen von Experten getragen. Hitler selbst behielt sich das Letztentscheidungsrecht vor, beschränkte sich de facto aber auf wenige Einzelentscheidungen und pauschale Gestaltungsaufträge. Im Bereich der Sozialversicherung konnten die Experten des Reichsarbeitsministeriums in den ersten drei Jahren wichtige Entscheidungen gegen den Druck der parteipolitischen Kräfte  – allen voran der DAF – durchsetzen und letztlich auch in den Kriegsjahren die bestehenden Institutionen erfolgreich verteidigen.61 In der DDR ist eine viel stärkere Abhängigkeit der Experten von den detaillierteren Vorgaben der politischen Machtelite zu beobachten. Der ideologische Führungsanspruch der Parteiführung mündete in eine Art Allzuständigkeitsanspruch in sozialpolitischen Fragen. Bloß technische Aspekte und Durchführungsprobleme verblieben im Gestaltungsbereich der Experten. Die Differenz zwischen NS- und SED-Diktatur ist insofern auch nicht allein aus der unterschiedlichen Herrschaftsstruktur beider Regime zu erklären, sondern verweist auf ein weltanschauliches Element: Der Sozialbiologismus der NS-Ideologie naturalisierte Soziales in extremen Maße und schuf damit aber auch Freiraum für den als sachkompetent anerkannten Sozialingenieur, solange er rassenhygienisch oder sozialbiologisch argumentierte. Die Gestaltungsfreiräume der Sozialexperten der SBZ / DDR in der unmittelbaren Nachkriegszeit beruhten nicht zuletzt darauf, dass dieser Kreis gleich­ zeitig auch Teil der neuen politischen Entscheidungselite war. Nur in dieser Doppelrolle übten sie ihren Einfluss aus. Als sich in den sechziger Jahren erstmals wieder eine vergleichbare Situation sozialpolitischer Gestaltungsspielräume ergab, nämlich in der Phase des »Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Lenkung«, mobilisierte die Parteiführung, allen voran Ulbricht selbst, die inzwischen herangezogene parteiloyale jüngere Generation von Ökonomen, Sozialwissenschaftlern und Verwaltungswissenschaftlern zur Mitgestaltung der Reformvorhaben: Die wichtigsten Aufgaben betrafen die Durchführung der Rentenreform und darüberhinausgehend die Neugestaltung der gesamten Sozialversicherung.62 Der Verlauf der Beratungen und Entscheidungsprozesse war komplex und verworren, eigene archivalische Stichproben zur Frage der Rentenreform 1968–1972 zeigen jedoch, dass spätestens seit der Machtübernahme durch U. Honecker die Pläne und Prognosen der Experten beiseitegeschoben und eine rein politische Entscheidung zugunsten einer kostenintensiveren Lösung getroffen wurde.63 Diese letztendlich an einer populistischen Machterhal61 Geyer, Rechte; Teppe, Sozialpolitik, S. 209 ff., S. 237–248. 62 Arbeitsgruppe Sozialpolitik zur Vorbereitung des VII. Parteitages der SED: SAPMO-BA DY 34/5033. 63 Vgl. »Konzeption für die Durchführung von Rentenmaßnahmen im Fünfjahrplan bis 1975« vom 1.10.1971, die von Experten aus dem Staatlichen Amt für Arbeit und Löhne sowie der

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tung und Legitimationssicherung orientierte Entscheidungslogik64 dominierte in der Folgezeit eindeutig. Dieses Schema muss unter Umständen differenziert werden in den Sektoren, in denen die demographischen Engpässe der DDR-Arbeitsgesellschaft als quasi »naturwüchsige« Faktoren von den Deutungsmonopolisten im Politbüro und ihren parteipolitischen Gefolgsleuten hingenommen wurden. Damit gewannen die Vorschläge und Prognosen der wissenschaftlichen Experten an Gewicht.65 Die bundesrepublikanische Situation unterscheidet sich scharf von der Konstellation in der DDR, zeigte aber anfangs durchaus noch Kontinuitäten zur NS-Zeit. Es mag auch an den politischen Bedingungen der Besatzungszeit gelegen haben, dass Expertenstäbe aus den Sozialverwaltungen und Ministerien der NS-Zeit zusammen mit einigen zurückkehrenden Experten aus der Weimarer Republik die sozialpolitischen Weichenstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit wesentlich mitbestimmten. In mancher Hinsicht konnten sie sogar die internen Kontroversen aus der NS-Zeit nun als Expertenstreit von Anhängern einer Einheitsversicherung und von Verteidigern des überkommenen Systems fortsetzen. Drei typische Entscheidungssituationen lassen sich dann in der frühen Bundesrepublik beobachten: Zum einen übten die mit den etablierten Trägern der Sozialversicherungen verbundenen Expertenstäbe eine wirkungsvolle Vetomacht gegen bestandsbedrohende Strukturreformen aus. Dies war so 1946/47, als der Kreis ehemaliger Ministerialbeamter des Reichsarbeitsministeriums unter Führung der ehemaligen Leiter der Abteilung Sozialversicherung A. Grieser und J. Krohn eine äußerst erfolgreiche Lobby aufbauten.66 In etwas anderer Weise war dies aber auch nach 1959 zu beobachten, als eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung die Besitzstände der Mediziner bedrohte.67 In beiden Fällen standen den erfolgreichen Verbandsexperten andere Experten gegenüber, die aus den Reihen der Ministerialbürokratie, den Trägerverbänden der Sozialleistungen oder der Wissenschaft kamen. Verwaltung der Sozialversicherung des FDGB-Bundesvorstands erstellt wurde, sowie die Protokolle der weiteren Beratungen bis zur Beschlusssache Politbüro am 7.3.1972. Der Beschluss überschritt die Expertenvorschläge in allen Punkten erheblich, der weitere Mehraufwand aufgrund zusätzlicher Mietsenkungen wurde offensichtlich erst nach dem Beschluss im Rechenzentrum der Sozialversicherungen errechnet: SAPMO-BA DY 30 vorl. SED 32416/1 u. 2. 64 Hauptadressat waren die unteren und mittleren Schichten der Industriearbeiterschaft: Hübner, Konsens, S. 171. 65 So diskutierten die Experten auf der 9. Tagung des »wissenschaftlichen Rates für Sozial­ politik und Demographie« im Februar 1976 sehr kritisch über »Faktoren der Familien- und Bevölkerungsentwicklung in der DDR – Anforderungen an die wissenschaftliche Arbeit« und kritisierten insbesondere das Fehlen von Familienerziehung, die Doppelbelastung der berufstätigen Frauen und betonten, dass das Leitbild der Mehrkinderfamilie de facto nicht in der Gesellschaft verankert sei: SAPMO-BA DY 34/9802. 66 Hockerts, Entscheidungen, S. 47–50. 67 Krüger, Beratung, S. 102–108.

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Eine andere Konstellation ergab sich bei den langdauernden Debatten um die »Sozialreform«, die in die Entscheidung zur Rentenreform von 1957 einmündete. Experten waren an dem gewundenen Weg zur Dynamisierung der Renten an hervorragender Stelle beteiligt, die Pläne der Bundesregierung und die Debatten im Bundestag hatten unter anderem zur Folge, dass die Beteiligung wissenschaftlicher Experten an der Sozialpolitik dauerhaft institutionalisiert wurde. Doch der konkrete Entscheidungsprozess selbst lässt sich am ehesten als überraschungsreiche Dynamik von politischer Dezision und Expertenvorschlägen interpretieren, bei dem nicht zuletzt der Kanzler selbst eine wesentliche Rolle spielte, indem er seine eigenen politischen Gestaltungsspielräume mit Hilfe unabhängiger Sachverständiger vor allem auch gegen die ministerielle Expertenmeinung offenhielt. Mit der Auswahl des vierköpfigen Expertengremiums von 1955 – zusammengesetzt aus den Professoren Achinger, Neundörfer, Höffner und Muthesius – machte Adenauer deutlich, dass er eine Beratung auf der Grundlage der eigenen sozialpolitischen Grundpositionen wünschte, also den Gestaltungsspielraum der wissenschaftlichen Experten ganz bewusst durch sozialpolitische Ordnungsvorstellungen eingrenzen wollte. Mit der Aufnahme des »Schreiber-Plans«, einer neuen Rentenbemessungsformel, kam es dann auch in der konkreten Entscheidungsphase der Rentenreform zu einer direkten Verbindung zwischen Kanzleramt und einer noch nicht ministeriell abgesegneten wissenschaftlichen Expertenmeinung.68 Wenn der Weg von diesen punktuellen Experteninterventionen bis zur Verabschiedung des Gesetzes auch noch weit war und zahlreiche weitere politische Akteure  – nicht zuletzt die regierungsinternen Sozialexperten  – Einfluss nahmen, so bleibt doch für unsere Fragestellung der wichtige Tatbestand festzuhalten, dass hier die Rolle verbandlich bzw. ministeriell nicht gebundener Experten äußerst wichtig für die Entwicklung einer neuartigen, die bisherigen Debatten überwindenen Gestaltungsformel ge­worden ist. Diametral entgegengesetzt verlief die ebenfalls im Kontext der Sozialreformpläne der fünfziger Jahre getroffene Entscheidung, durch die Definition des sogenannten Warenkorbs eine einheitliche Bemessungsgrundlage für die Richtsätze der Fürsorge zu schaffen. Hier handelt es sich um einen geradezu klassischen Fall im Spannungsfeld zwischen politischer Entscheidung und wissenschaftlicher Beratung. Der parteipolitische Dauerstreit um die Festsetzung der Regelsätze in der Sozialhilfe wurde dadurch neutralisiert, dass ein Expertengremium, hier eine Arbeitsgruppe des »Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge«, dieses Minimum nach wissenschaftlichen Kriterien definierte und gleichzeitig ein konkretes Berechnungsverfahren entwickelte, um den Warenkorb in der Zukunft zur bloß noch technisch fortzuschreibenden Bemessungsgrundlage öffentlicher Fürsorgeleistungen zu machen. Die Sozialwissenschaftler und Verwaltungsexperten des Arbeitsausschusses taten dies ihrerseits wieder mit Rückgriff auf ernährungsphysiologische Studien. Mit Annahme 68 Zum gesamten Prozess ausführlich Hockerts, Entscheidungen, S. 309–312.

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dieses Bemessungsverfahrens entwickelte sich im Lauf der nächsten 30 Jahre ein »Wall von naturwissenschaftlichen Fakten und sozialwissenschaftlichem Fachwissen«,69 den weder Politiker noch Experten erneut abzutragen wünschten. Hier haben wir ein recht frühes und besonders spektakuläres Beispiel für eine Form »apolitischer Verwissenschaftlichung«70 sozialpolitischer Entscheidungen vor uns. Die Beispiele aus den Anfängen bundesrepublikanischer Sozialpolitik stehen paradigmatisch für einige Tendenzen, die sich aus der im vorigen Abschnitt geschilderten Spannung zwischen Expertise und sozialpolitischen Leitbildern entwickelt haben. Zunächst einmal stellten diese Erfahrungen und Entscheidungen ihrerseits einige Weichen für die Einbindung von Experten in die sozialpolitischen Entscheidungsprozesse in Bonn: Mit der Rentenreform von 1957 etablierte sich der Sozialbeirat, dessen Hauptaufgabe es war, ein Votum zur Höhe der Rentenanpassung abzugeben, der aber unter Leitung seines langjährigen Vorsitzenden Meinhold auch zu einem informellen Beratungskreis der wichtigsten beteiligten Interessengruppen wurde.71 Insgesamt verstetigte sich der Rückbezug auf Expertenmeinungen als unabdingbaren Bestandteils kompetenter sozialpolitischer Meinungsbildung. Mit der bereits skizzierten Verwissenschaft­ lichung haben sich jedoch zwangsläufig die Rahmenbedingungen für die Kooperation zwischen Politikern und Experten weitgehend verändert: Spätestens seit den frühen siebziger Jahren vollzogen sich solche öffentlichkeitsscheuen, parlamentsfernen Entscheidungen und Beratungen im Rahmen der oben bereits skizzierten korporativen Arrangements, im Kontext der Netzwerke von Beiräten, Sachverständigenkommissionen und Forschungseinrichtungen, mit denen sich in der Zwischenzeit Verbände und Verwaltungen im Sozial- und Gesundheitswesen ausgestattet haben. Daraus entstanden jene relativ stabilen Entscheidungskartelle, in denen die verbandsgebundenen Experten eine wichtige Rolle übernahmen. Im Fall des Gesundheitswesens wird das Gewicht dieser Gruppe von Akteuren, die über die einschlägigen Daten verfügten, sich über lange Jahre als Gesprächs- und Beratungspartner kannten und einen Grundkonsens in der Wahrnehmung der Probleme erzielt haben, sehr hoch eingeschätzt.72 Hier ließe sich also von einer Präformierung der politischen Entscheidungen durch einen spezifischen, nämlich den verbandlich und ministeriell gebundenen Expertentyp sprechen. An diesem Punkt stellt sich nun wiederum in historischer Rückschau die Frage nach den Kontinuitäten solcher Einbindungen über die NS-Zeit zurück bis zu den Anfängen staatlicher Sozialpolitik im Kaiserreich. 69 M. Stolleis, Die Rechtsgrundlage der Regelsätze unter besonderer Berücksichtigung verfassungsrechtlicher und sozialrechtlicher Grundsätze, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Jg. 61/4, 1981, S. 101. 70 Leibfried u. a., Sozialpolitik, S. 62. 71 K. Jantz, Zur Struktur und Wirkungsweise des Sozialbeirats, in: Schenke u. Schmähl (Hg.), Alterssicherung als Aufgabe für Wissenschaft und Politik, Stuttgart u. a. 1980, S. 285–298. 72 Döhler u. Manow, Strukturbildung.

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Sachverständige zwischen Wissenschaft, Verwaltung und Öffentlichkeit Hinter dem Votum einzelner Sachverständiger in konkreten Gesetzgebungsverfahren bzw. Reformplanungen liegt das weitere Feld wechselseitiger Beeinflussung in der Wahrnehmung der Probleme, Ziele und Methoden von Sozialpolitik zwischen Politikern, Verwaltungspraktikern und wissenschaftlichen Experten. Ein Beobachter der bundesrepublikanischen Situation in den siebziger Jahren ging so weit, von einer einheitlichen »sozialpolitischen Machtelite« zu sprechen, und darunter die »sozialpolitischen Experten der Bundestagsparteien, der Tarifparteien, die Geschäftsführer und Vorstände der Spitzenverbände, die Richter am Bundessozialgericht«73 zu fassen, um lakonisch zu schließen: »Sie machen Sozialpolitik.« Die Geschichte der Kommunikationsprozesse, Personengruppen und leitenden Deutungsmuster in den unterschiedlichen Handlungsfeldern der deutschen Sozialpolitik seit 1930 ist erst in Ansätzen erkennbar, vor allem die sozialgeschichtliche Erforschung der entsprechenden Personenkreise steckt noch in den Anfängen,74 so dass hier nur einige wenige Bemerkungen möglich sind. Eine ganz wesentliche Rolle bei der Verbreitung von Expertenmeinungen spielten Gremien und Fachorgane, die als »neutrale Orte« zwischen Verwaltung, Wissenschaft und Politik fungierten. Angesichts der traditionellen organisatorischen und weltanschaulichen Vielfalt öffentlicher wie privater Träger sowie der regionalen bzw. kommunalen Trägerschaft staatlicher Sozialleistungen haben die Fachverbände und dort wiederum die Experten dabei eine ganz wichtige Koordinationsaufgabe übernommen. Hier ist nochmals an den »Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge« zu erinnern, der zwischen 1919 und 1970 wohl der wichtigste Fachverband auf dem Gebiet der gesamten Wohlfahrtspflege war.75 Zwischen 1933 und 1945 verlor er zwar an Einfluss, aber er überdauerte typischerweise auch die Gleichschaltung der unabhängigen Trägerorganisationen, bevor er dann in der Bundesrepublik wieder eine ähnlich einflussreiche Stellung wie in der Weimarer Zeit einnahm. Grundlage seines Erfolges war, dass er Politiker und Spitzenbeamte der öffentlichen Wohlfahrtspflege, die Verantwortlichen der freien Trägerverbände sowie Wissenschaftler und exponierte Berufsvertreter dieser Arbeitsfelder zusammenbrachte.76 Daneben 73 von Ferber, Soziologie, S. 19. 74 Am besten ist die NS-Zeit erforscht: Roth, Intelligenz; Hansen, Wohlfahrtspolitik; Gutberger, Volk. 75 Vgl. aus offizieller Sicht: E. Orthbandt, Der Deutsche Verein in der deutschen Fürsorge 1880–1980, Frankfurt a. M. 1980; Schrapper, Muthesius, S. 90–100, 182–189. 76 Eine Momentaufnahme aus dem Jahr 1955 veranschaulicht die relative Gewichtsverteilung im »Deutschen Verein«. Im Hauptausschuss waren vertreten: 14 Vertreter der Wissenschaften, 6 Vertreter der Ausbildungsstätten und Berufsverbände, 36 Vertreter der Wohlfahrtsverbände sowie vier Vertreter der Wirtschaft; ihnen gegenüber stehen die Vertreter der öffentlichen Wohlfahrt: 28 Spitzenvertreter der städtischen Kommunen, 15 Vertreter länd-

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existierten und existieren eine Vielzahl sachlich enger umgrenzter Arbeitsfelder und Fachverbände mit ihren eigenen Fachorganen und personellen Netzwerken. Eine besondere Form der Verknüpfung von wissenschaftlicher Expertise und administrativer Kompetenz stellen die Beiräte dar, die vom Ministerium bis zur städtischen Kommune das Organisationsmodell für die loyale Einbindung der Fachvertreter in die staatliche Sozialpolitik abgaben und heute noch abgeben. Ihnen sind wir in allen drei Wegen deutscher Sozialstaatlichkeit begegnet, die Spuren ihres Wirkens in der Verwaltung und Gesetzgebung sind meines Wissens bislang für die Zeit nach 1945 kaum verfolgt worden, generelle Aussagen sind beim jetzigen Stand der Forschungen unmöglich. Es ist immerhin festzuhalten, dass bis in die siebziger Jahre hinein zusammen mit den großen Fachverbänden de facto die überwältigende Mehrheit der wissenschaftlichen Experten auf den Feldern der Sozialpolitik in diese bestehenden Institutionen eingebunden war. Der Kreis der wissenschaftlichen Experten war damit zugleich aufs engste verbunden mit dem Kreis der praxisorientierten Verwaltungsexperten. Dies mag mit dazu beigetragen haben, dass der Typus des pragmatischen Reformers mit festen sozialpolitischen Idealen über lange Zeit Erscheinungsformen und Umgangsformen dieser Gremien geprägt hat. Man kann angesichts der starken Prägungen durch Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit hier auch von einem spezifischen Generationszusammenhang sprechen, der seinerseits die internen Verständigungsprozesse über die Interessengegensätze hinweg erleichtert hat. Mehrere Elemente fügen sich hierbei zusammen: Viele sozialpolitische Experten mit Sitz in den Beiräten und Sachverständigenkommissionen bzw. im Bundesministerium für Arbeit (und Sozialordnung) wurden in den zwanziger Jahren geboren, rückten in den frühen fünfziger Jahren auf verantwortliche Posten und waren in ihrer großen Mehrheit entweder Juristen oder Ökonomen. Diese Generation hat jedenfalls die sozialpolitische Expertise über die parteipolitische Zäsur von 1969 hinaus bis in die späten siebziger Jahre geprägt. Zudem blieb dieser Kreis von politikberatenden Experten bis zum Beginn der siebziger Jahre überschaubar. Persönliche Kontakte konnten eine entsprechend große Bedeutung gewinnen. Die wichtigen Querverbindungen sind nicht zuletzt durch profilierte Einzelpersönlichkeiten zustande gekommen. Hier sind vor allem exponierte Sachverständige wie Walter Bogs oder Helmut Meinhold zu nennen, die sich durch ihre vielfältigen Ämter und Aufgaben einen breiten persönlichen Einflussbereich in Wissenschaft, Politik und Verwaltung erwarben und damit zu wichtigen Mittlern in dem Netzwerk dieser Expertenkreise wurden. Der dann einsetzende Stellenausbau in Fachverwaltung und Wissenlicher Wohlfahrtsbereiche, sowie schließlich 24 Ministerialbeamte aus Bund und Ländern, sowie 12 Politiker im engeren Sinne. Fachlich dominieren unter diesen Experten die Juristen (allein 22 promovierte Juristen), neben 7 promovierten Medizinern, 14 Staatswissenschaftlern und elf Sozialwissenschaftlern (Dr. phil.): Verzeichnis der Mitglieder des Hauptausschusses in: Fürsorge und Sozialreform. Gesamtbericht über den Deutschen Fürsorgetag 1955, Köln 1956, S. 590–598.

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schaft hat zu einer Verjüngung geführt, die gleichzeitig auch einen Wechsel in den Problemwahrnehmungen und internen Kommunikationsnetzen mit sich brachte. Für die DDR-Experten lässt sich ein vergleichbarer Generationseffekt beobachten: Hier bestimmten die seit Mitte der sechziger Jahre mit Themen der Sozialpolitik beschäftigten Sozialwissenschaftler wie Winkler, Tietze oder Manz bis zum Ende der DDR den Kreis der politikberatenden Sachverständigen und die in den Instituten betriebene akademische Begleitforschung. Erst spät entstand in der Bundesrepublik der Typus des akademischen Kritikers, der zugleich auch aufgrund eigener Forschungen als Experte und Sachverständiger auftreten konnte und der über andere Verbindungen zur sozialstaatlichen Praxis verfügte als die verbandsgebundenen bzw. politiknahen Experten. Die Ausweitung sozialwissenschaftlicher Lehre und Forschung an den Hochschulen in den siebziger Jahren schuf erst die Existenzbedingungen für diesen Expertentypus des »Grenzgängers«. Seit dieser Zeit haben gleichzeitig Umfang und Methodenvielfalt universitärer Begleitforschung zu allen Aspekten sozialstaatlicher Interventionen enorm zugenommen, ohne dass sich eindeutige Rückbezüge zwischen Praxis und Forschung hergestellt hätten. Deutlicher hingegen ist zu erkennen, dass die neuen universitären Sozialstaatsexperten mehr oder weniger eng verbunden sind mit dem Professionalisierungsschub der sozialen Dienstleistungsberufe in den sechziger und siebziger Jahren. Sie haben seitdem entweder den Kontakt zu den Berufsgruppen und Berufsorganisationen des Sozialwesens aufrechterhalten oder aber sie sind mit den neuartigen Selbsthilfegruppen aus dem Kreis der Klientengruppen des Sozialstaats liiert.77 Die universitäre Beschäftigung mit den Problemen des Sozialstaats hat seit den siebziger Jahren auch die Internationalität der fachlichen Kommunikation erheblich verstärkt. Trotz institutioneller Präsenz in internationalen Gremien war der sozialpolitische Expertendiskurs bis dahin ausgesprochen deutsch. Nun erst importierten Politikwissenschaftler und Soziologen amerikanische und britische Konzepte der Sozialstaatsanalyse. Der internationale Vergleich erreichte dann in den achtziger Jahren auch die Ebene der Politikberatung. In sozialgeschichtlicher Perspektive besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen DDR und Bundesrepublik. In der DDR-Gesellschaft blieben die Netzwerke und Kommunikationssysteme sozialpolitischer Fachleute viel fragmentierter und kleiner. Die zentralistische Steuerung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik erwies sich als unüberwindliches Hindernis bei den Versuchen, den Informationsfluss der Experten quer zu den Hierarchien zu vernetzen. So sind jedenfalls die Befunde auf nationaler Ebene. Dass dies auf Bezirks- oder Betriebsebene anders aussah, ist anzunehmen, nur fehlte hier häufig die Vernetzung mit überlokalen Diskussionszusammenhängen außerhalb der Partei- und Verwaltungsinstanzen. Die Fragmentierung der Horizonte gerade auch der

77 L. Leisering, Zwischen Verdrängung und Dramatisierung. Zur Wissenssoziologie der Armut in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, in: Soziale Welt, Jg. 44, 1993, S. 486–511.

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wissen­schaftlichen Experten gehört denn auch zu den vielfach bestätigten Ergebnissen zur Sozialgeschichte der »Intelligenz« in der DDR.

Kontinuitäten und Brüche Wir haben eingangs nach der Bedeutung der politischen Zäsuren gefragt. Am Ende dieses Vergleichs kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die politisch-ideologischen Rahmenordnungen die jeweilige sozialpolitische Expertenkultur tiefgreifend geprägt haben. Dies gilt insbesondere für die Phase zwischen 1930 und 1960. Die politischen Zäsuren von 1933 und 1945/49 führten vor allem in den Diktaturen zu scharfen personellen Einschnitten und konzeptionellen Umorientierungen. Die politische Festlegung ideologischer Leitideen erfolgte in ganz unterschiedlicher Weise. Im Ergebnis blieben jedoch die sozialpolitischen Experten des NS-Regimes ebenso wie die der DDR Gefangene dieser Vorgaben. Die größere Dynamik der sozialwissenschaftlichen Forschung im Fall des Nationalsozialismus hängt damit zusammen, dass das Regime anpassungsbereiten Experten ganz bewusst Gestaltungsraum für sozialplanerische Utopien anbot. Die in anderen politischen Regimen kontrollierten Planungsund Machbarkeitsphantasien der »Sozialingenieure« konnten sich ungehemmt entfalten, allein der rasche Zusammenbruch des NS-Staats brachte dann auch zahlreichen sozialpolitischen Experten die Ernüchterung. Die Rückkehr elementarer Notlagen nach dem Kriegsende tat ein Übriges, das Gewicht der Experten einzuschränken. In beiden deutschen Staaten knüpften nun die konkreten Gestaltungsideen zunächst einmal an die Weimarer Zeit an. Die Sozialexpertise in der DDR verließ nach kurzer Zeit mit der Hinwendung zum sowjetischen Leitmodell des sozialistischen Aufbaus und dem praktischen Verzicht auf sozialpolitisches Expertenwissen in dieser Hinsicht Weimarer Traditionen. In der Bundesrepublik entstand auf dem Fundus von deren Wiederbelebung sowie stillschweigenden personellen Kontinuitäten zum NS-Regime allmählich ein neuartiges Modell der sozialpolitischen Expertise. Die parteipolitischen Generalisten der Sozialpolitik verbanden sich mit einem recht kleinen Kreis verbandlich und administrativ eingebundener Sozialökonomen und Sozialrechtler, die allmählich einen stabilen Bezugsrahmen sozialpolitischer Expertise herstellten. Die mit dem Ausbau des Sozialstaats in der langen Prosperitätsphase der Nachkriegszeit eng verbundenen Prozesse von Bürokratisierung und Professionalisierung entfalteten erst seit Mitte der sechziger Jahre deutlichere Wirkungen: Die Zahl und institutionelle Einbindung der Sachverständigen nahm zu, und jenseits der markanten Unterschiede in den politischen Verfassungen lässt sich eine »Versozialwissenschaftlichung« der Sozialpolitik in beiden Staaten beobachten. Entgegen der optimistischen Sicht zeitgenössischer »Sozialplanung«, deren Gestaltungsziele deutlich über die Leitideen von Umverteilung und materieller 124

Versorgung hinausgingen, waren die politischen Ergebnisse dieser Prozesse keineswegs eindeutig. Die Gestaltungsspielräume der Sachverständigen waren kleiner als angenommen. Im Fall der DDR verhinderte die politische Diktatur eine selbstständige Rolle der wissenschaftlichen Experten, in der Bundesrepublik entfaltete die korporative Einbindung der Experten in die bestehenden Interessenkoalitionen der Verbände und Trägerorganisationen beträchtliche Wirkung. Angesichts der wachsenden Finanzprobleme sozialstaatlicher Leistungssysteme und gleichzeitiger Bestandsinteressen der Sozialstaatsträger stieß auch die sozialwissenschaftliche Politikberatung in der Bundesrepublik rasch an ihre Grenzen. Doch im Unterschied zur DDR entwickelten sich parallel zur stärker technokratischen Expertenkultur in den sozialpolitischen Entscheidungszentren auch andere Formen politikorientierter Expertise, so dass uns seit 1990 eine vielfältiger gewordene und alternativenreichere Expertenwelt begegnet. Nicht nur der Meinungsstreit und die Vielfalt der fachlichen Ansätze suggerieren dem Zeithistoriker den Vergleich mit der Weimarer Ausgangssituation: Auch die Krise der Institutionen und die Kritik der Konzeptionen öffentlicher Wohlfahrtsproduktion seit den 1990er Jahren erinnern an die tiefgreifende Krise der sozialen Sicherungssysteme Anfang der dreißiger Jahre. Der kurze Traum eines sozialpolitischen Konsenses, wie er im Umfeld der HartzKommissionen aufblitzte, erwies sich schon recht schnell als Illusion. Zu deutlich wurden Nebenfolgen und soziale Kosten der Reformen, aber auch Differenzen der Werturteile und der Faktenerhebung unter Experten, Politikern und Bürgern. Literaturverzeichnis André, G., SozialAmt. Eine historisch-systematische Einführung in seine Entwicklung, Weinheim 1994. Ayaß, W., »Asoziale« im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995. Beck, U. u. W. Bonß, (Hg.), Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Ver­wen­dung sozialwissenschaftlichen Wissens, Frankfurt a. M. 1989. von Berlepsch, H.-J., »Sozialistische Sozialpolitik?«. Zur sozialpolitischen Konzeption und Strategie der SPD in den Jahren 1949 bis 1966, in: K. Tenfelde (Hg.), Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 461–482. Berringer, C., Sozialpolitik in der Weltwirtschaftskrise. Die Arbeitslosenversicherung in Deutschland und Großbritannien im Vergleich 1928–1934, Berlin 1999. Boldorf, M., Sozialfürsorge, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 10,­ Baden-Baden 2007, 20 S. 453–469. Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 11 Bde., Baden-Baden 2001–2008. Busse, S., Psychologie im Real-Sozialismus. DDR-Psychologen im Interview, Pfaffenweiler 1996. Crew, D. F., Germans on Welfare. From Weimar to Hitler, Oxford 1998.

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Strukturprobleme der Moderne

4. Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert I. Ansätze für die Geschichte europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert In der deutschen Geschichtswissenschaft hält das Interesse für Europa an, auch wenn die aktuelle Mode eher globale bzw. »transnationale« Themen und Ansätze bevorzugt. Dies hat innerfachlich zum Teil auch die Vorherrschaft national­ geschichtlicher Perspektiven abgeschwächt. Die Einrichtung von Professuren, neuen Forschungszentren, die Gründung von Zeitschriften, Internetportalen und schließlich die Publikation eigener Buchreihen und Monographien zur europäischen Geschichte deuten jedenfalls im Bereich der Neueren und Neuesten Geschichte darauf hin, dass die europäische Geschichte die Chance hat, sich als eigenes Teilfach innerhalb der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Damit stünde die europäische Geschichte als methodisch und konzeptionell eigenständiger Forschungszweig zwischen National- und Globalgeschichte und neben amerikanischer, asiatischer oder afrikanischer Geschichte. Ungeklärt ist ihr Verhältnis zu einem anderen dynamischen Forschungsfeld, der Geschichte der Transfers zwischen den großen Kulturräumen und Geschichtsregionen. Das 20. Jahrhundert – die Zeitgeschichte Europas – erfreut sich dabei besonderer Aufmerksamkeit. Während die zahlreichen vor allem politikgeschichtlich ausgerichteten Darstellungen zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert bereits ein reiches Repertoire spezifischer Erklärungsmodelle entwickelt haben,1 liegen für die sozialgeschichtlichen Forschungen und Darstellungen bislang nur einige wenige Ansätze vor: Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Bezugspunkte für eine Sozialgeschichte Europas, welche die Ambitionen einer Synthese aufrechterhält und sich nicht als Sammelstelle für Sektoralgeschichten (Geschichte der Familie, der Industriearbeit etc.) versteht, alles andere als klar sind. Es ist wohl kein Zufall, dass aktuelle Darstellungen der Sozialgeschichte Europas wie etwa Kaelbles jüngste Gesamtdarstellung2 bevorzugt die politisch ruhigere zweite Hälfte des Jahrhunderts in den Blick nehmen. Angesichts dieser komplexen Problemlage sind unterschiedliche Ansätze entwickelt worden. Man kann sie mit Jürgen Osterhammel danach unterschei1 J. Dülffer, Europäische Zeitgeschichte – narrative und historiographische Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen, Jg. 1, 2004, S. 51–71. 2 H. Kaelble, Sozialgeschichte Europas nach 1945, München 2006.

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den, welche »Grundmodelle« sie mit Blick auf ihre theoretische Orientierung bevorzugen: Die meisten Historiker greifen quasi professionell zu einem »induktiven Tendenz-Modell«,3 das in aller Vorsicht, die »elementarsten Gemein­ samkeiten« in den europäischen Gesellschaften herauszuarbeiten versucht. Dieses »Grundmodell« wird vor allem von jenen Sozialhistorikern bevorzugt, welche die europäische Sozialgeschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts als sozialstrukturell lose verknüpfte Geschichte nationaler Gesellschaften auffassen und darauf beharren, dass die nationalen Grenzen im 20. Jahrhundert ihre zentrale Bedeutung für die Ausgestaltung von Ungleichheitsstrukturen, von Partizipationschancen oder von kulturellen Werten behalten haben, ja sogar erst diese überragende Bedeutung gewonnen haben. Man kann jedoch auch in dieser Perspektive eine Sozialgeschichte der europäischen Nationalstaaten im 20. Jahrhundert als ein Ensemble nationaler »Sonderwege« eines universellen Typs moderner Industriegesellschaft oder moderner Gesellschaft überhaupt auffassen und folgt damit einem theoretisch ambitionierteren, stärker vereinheitlichten »deduktiven Tendenzmodell«4. Ihm sind zum Beispiel viele Ansätze verpflichtet, die eine Konvergenz in den langfristigen Tendenzen der europäischen Gesellschaften erkennen. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass am Ende des 20. Jahrhunderts angesichts vielfältiger Annäherungen von einem europäischen Gesellschaftstyp gesprochen werden kann. Getragen wird dieses Deutungsmuster von den konvergierenden Trendbeschreibungen ökonomischer, demographischer, sozialer und kultureller Basisprozesse, die in der Regel modernisierungstheoretisch interpretiert werden. Die Modernisierungsdynamik gibt gewissermaßen die Grundrichtung vor, die spezifischen Positionen der einzelnen europäischen Länder und Regionen im zeitlichen und räumlichen Gefüge (als Vorläufer oder Latecomer, als Zentren oder Peripherien) erklären einen Großteil der Unterschiede. In dieser Perspektive erscheint auch die Gesellschaft Europas (im Singular: als unterscheidbarer Typus »moderner« Gesellschaften neben der Amerikas, Japans usw.) als das Ergebnis sowohl von parallelen, transnationalen Grundtendenzen wie auch von spezifischen Integrations- oder Europäisierungsprozessen, die zweifellos seit den 50er Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen haben und über die institutionelle Ebene der europäischen Institutionen hinaus, ihre Spuren in Spezifika der europäischen Gesellschaft hinterlassen haben. Schließlich sind in den letzten Jahren zwei weitere Ansätze entwickelt worden, welche die Sozialgeschichte Europas in eine globalgeschichtliche Perspektive stellen. Erstens werden die imperialen Strukturelemente in vielen europäischen Gesellschaften der Neuzeit, insbesondere aber des 19. und 20. Jahrhunderts als gemeinsamer Nenner untersucht. Dieser imperiale Nexus betrifft natürlich nicht alle Regionen Europas, ist aber wegen seiner Ausstrahlung und vor allem 3 J. Osterhammel, Europamodelle und imperiale Kontexte, in: Journal of Modern European History, Jg. 2, 2004, S. 163. 4 Ebd., S. 164.

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der Entfesselung der imperialen Konkurrenz für die sozialen Realitäten auf dem gesamten Kontinent relevant geworden.5 Einem vierten Ansatz können jene Forschungen zugerechnet werden, welche den europäischen Kommunikationsnetzwerken, dem grenzüberschreitenden Verkehr von Waren, Personen, Ideen im Europa des 20. Jahrhunderts besondere Bedeutung zumessen und damit dem hohen Grad an Mobilität und Vernetzung dieser Weltregion besonders Rechnung tragen wollen. Notwendigerweise werden dabei die geographischen Grenzen Europas überschritten, mediterrane, atlantische oder eurasische Verbindungen gewinnen neben innereuropäischen Vernetzungen an Bedeutung und definieren jeweils unterschiedliche Teilräume Europas. Vor allem kulturgeschichtlich orientierte Studien haben in dieser Richtung geforscht. Europa lässt sich so als sozialer Kommunikationszusammenhang, als Repräsentationsort kollektiver Erinnerung und Zukunftserwartungen, als politisches Programm konstruieren. Der Gesellschaftsbegriff tritt bei diesem Typus eindeutig in den Hintergrund, zumal wenn die Kategorien der sozialwissenschaftlichen Makrotheorien mittels Maßstabsverkleinerung sich auflösen in unterschiedliche Handlungszusammenhänge, Vergesellschaftungsoder Vergemeinschaftungsformen, situative oder bestenfalls mittelfristig stabile Konfigurationen von Akteuren und Institutionen.

II. Die Wiederkehr des Verdrängten? Modernisierung und Moderne als Referenztheorien einer europäischen Gesellschaftsgeschichte Diese Perspektiven für eine Sozialgeschichte Europas werden zu einem Zeitpunkt entwickelt, an dem Vorbehalte gegen explizite Makrotheorien, welche größere Zeit-Räume in den Blick nehmen, weit verbreitet sind. Vor allem im deutschsprachigen Geschichtsdiskurs hat die Theorie der Moderne die Referenzgröße Modernisierungstheorie verdrängt: Erstere bot und bietet (noch) im Positionierungskampf der Alten und Jungen, der Etablierten und der Herausforderer einen idealen Anknüpfungspunkt für die Kritik an den teleologischen Überschüssen und den makrogeschichtlichen Konstruktionszwängen der Modernisierungstheorie, die zu so etwas wie der sozialliberalen Konsenstheorie der westdeutschen Sozialhistoriker der siebziger und achtziger Jahre avanciert war.6 5 C. Charle, La crise des sociétés impériales. Allemagne, France, Grande-Bretagne 1900–1940, Paris 2001; ders., »Les sociétés imperiales« d’hier à aujourd’hui. Quelques propositions pour repenser l’histoire du second XXe siècle en Europe, in: JMEH, Jg. 3, 2005, S. 123–139; Osterhammel, Europamodelle, S. 157–182. 6 T. Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: ders. u. T. Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, München 1997, S. 203–252; T. Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: GG, Jg. 24, 1998, S. 173–198.

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Diese Vorbehalte haben im theoretisch eher lose geknüpften bzw. explizit eklektisch operierenden kulturgeschichtlichen Ansatz ein Fundament gefunden.7 Innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Diskussion bleibt vielfach ganz ungeklärt, ob nur die geschichtstheoretischen Vorannahmen und Werturteile, also die Konstruktion einer Moderne verbunden mit der Zustimmung zu den kulturellen und politischen Werten dieses »Projekts der Moderne« Gegenstand der Kontroverse sind oder aber auch die Existenz großer Entwicklungszusammenhänge und säkularer Trends strittig ist. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich nicht zuletzt die postmoderne, kritische Theorie der Moderne gerade die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu Nutze gemacht, um die Ambivalenzen der Moderne als eines okzidentalen Projekts der Aufklärung hervorzukehren.8 Gern wird sie auch von Historikern bemüht, wenn es darum geht, die Gewaltexzesse und Katastrophen Europas im 20. Jahrhundert in ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit als Resultate der Moderne darzustellen, also eine skeptische Perspektive auf den Fortschrittsglauben der Zeitgenossen oder der Nachgeborenen zu richten, die davon überzeugt waren oder noch sind, dass die westliche Zivilisation bzw. die liberal-kapitalistische Gesellschaftsordnung in ihrer Substanz von diesen Gewaltexzessen in Mittel- und Osteuropa unberührt geblieben sei. Für den Sozialhistoriker wären solche geschichtsphilosophischen Schlussfolgerungen weniger interessant, wären sie nicht aufs engste mit handfesten Deutungen der großen Gewaltakte des 20. Jahrhunderts, von den Weltkriegen über den Holocaust bis zu den ethnischen Säuberungen und Lagerverbrechen verbunden. Im Folgenden wird die Debatte um das erste Problem, die normativen Grundlagen, ausgeklammert, es geht vorrangig darum, zu prüfen, welchen Beitrag eine Theorie der Moderne für die Weiterentwicklung von Tendenz-Modellen auf dem Feld der europäischen Geschichte der neuesten Zeit liefern kann. Diese Frageperspektive impliziert, dass ein Referenzrahmen als notwendig erachtet wird, um die europäische Geschichte in einen globalgeschichtlichen Rahmen zu stellen. Dafür, so wird im Folgenden argumentiert, bietet eine kulturwissenschaftliche oder kulturhistorische Lesart der Theorie der Moderne einen möglichen Ausgangspunkt. Sie teilt mit den modernisierungstheoretischen Makroansätzen die Grundannahme, dass es zu einer grundlegenden Umstellung in der Binnenstrukturierung von Gesellschaften gekommen sei, als sie »modern« wurden: Dazu wird vor allem die Dynamik der funktionalen Differenzierung gerechnet, welche funktional getrennte, sich autonom regulierende Teilsysteme »freisetzte«, welche nur noch durch rechtliche oder politische Rahmenordnungen gesichert, aber nicht mehr in ihren internen Abläufen gesteuert werden. Diese strukturgeschichtliche oder systemtheoretische Unterscheidung ist jedoch nicht 7 U. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2001. 8 T. W. Adorno u. M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947; Z. Bauman, Modernity and the Holocaust, Cambridge 1989.

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hinreichend, um irgend geartete »moderne« von anderen, dann üblicherweise als »vormodern« oder »traditional« bezeichnete Gesellschaften mit Ertrag für die historische Forschung zu unterscheiden. Strukturfunktionalistische, »objektivistische« Theorieentwürfe der »Moderne« scheitern immer wieder an der Uneindeutigkeit der historischen Befunde. Erst die Veränderung der historischen Semantik, die Umstellungen in der Selbstbeschreibung von Gesellschaften fügten hier ein weiteres Element ein, das dann eine zeitliche Periodisierung ermöglicht. Erst sie verleihen der Rede vom »Übergang zur Moderne« Sinn. Für die europäische Geschichte gehen Systemtheorie wie die Kulturtheorie der Moderne bekanntlich davon aus, dass es in einer längeren Umbruchsphase, Kosellecks »Sattelzeit«, zu einem solchen grundlegenden Sprach- und Diskurswandel kam, der in Wechselbeziehung mit den Umstellungen der Beziehungen zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Politik stand. Koselleck hat diese enge Verknüpfung von Ideen- bzw. Sprachentwicklung mit der politischen Sozialgeschichte an zahlreichen geschichtlichen Grundbegriffen vorgeführt. Offenheit oder Unbestimmtheit bei der Frage nach den Beziehungen zwischen sozialer »Realität« und sprachlicher »Repräsentation« und das besondere Interesse für die Wechselspiel dieser beiden Ebenen im Handeln, Verhalten und Wahrnehmen der historischen Akteure zeichnet Kosellecks kulturgeschichtlichen Begriff der Moderne gerade gegenüber den sozialgeschichtlichen Adaptationen der Modernisierungstheorien aus, bei denen Diskurse, Erfahrungen und Sprache zu nachgeordneten Epiphänomenen der Strukturgeschichte bzw. der Strukturveränderungen abgewertet werden. Für eine Gesellschaftsgeschichte Europas im 20. Jahrhundert bietet deshalb Kosellecks Entwurf einen hinreichend hypothesenoffenen Rahmen, um die rein empirisch feststellbaren sich verdichtenden Wechselwirkungen zwischen den symbolischen und den sozialen Strukturen angemessen im theoretischen Rahmen unterzubringen. Hierbei ist es vor allem von Bedeutung, dem Koselleckschen dialektischen Grundmodell von »Erfahrungswandel« und »Erwartungshorizont« eine realitätstüchtige, den sich wandelnden Beziehungsverhältnissen angemessene Aktualisierung / Konkretisierung für das 20. Jahrhundert zu geben.9 Auf dieses Modell wird im Folgenden mehrfach zurückgegriffen, um Spezifika der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert besser zu erfassen. In jüngster Zeit hat sich eine weitere Gebrauchsweise der Theorie der Moderne etabliert, wenn es um die Platzierung der europäischen Geschichte im internationalen Vergleich / Kontext geht. Hier hat sich allmählich das Konzept der multiple modernities etabliert. Auch hier handelt es sich um eine kulturgeschichtliche Reformulierung strukturfunktionalistischer Annahmen. Europas Weg in die Moderne lässt sich dann zum einen in vergleichender globalgeschichtlicher Perspektive als ein zivilisationsspezifischer Weg neben anderen 9 R. Koselleck, Vergangene Zukunft, Frankfurt a. M. 1979; ders., Zeitschichten, Frankfurt a. M. 2000.

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Wegen in die gegenwärtige globalisierte Welt auffassen und andererseits können seine internen Varianten stärker in ihrer Abhängigkeit von kulturellen bzw. politisch-religiösen Wertorientierungen begriffen werden.10

III. Der lange Schatten des 19. Jahrhunderts: Modernisierungstheoretische Wege in die Sozialgeschichte des 20. Jahrhundert Für eine europäische Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts scheint die Tatsache, dass es sich um »moderne« Gesellschaften handelt, auf den ersten Blick eine wenig erhellende Banalität zu sein. Dies unterscheidet die aktuelle Debatte ganz wesentlich von den Debatten der siebziger und achtziger Jahre, als die Modernisierungstheorie noch dafür genutzt wurde, um die Sonderentwicklungen Europas im 20. Jahrhundert als »Sonderwege«, »Katastrophen / Sackgassen« von Modernisierungsprozessen zu deuten. Bei dieser Deutung war nur der atlantische Weg nationaldemokratisch verfasster, kapitalistischer Klassengesellschaften gewissermaßen der direkte Weg in die Moderne gewesen. Während die Jahrhunderte zwischen 1500 und 1900 so etwas wie die gern benutzte Requisitenkammer zur Drapierung kühner Generalisierungen und kluger Universalisierungen geworden sind, dienen die Ereignisse und Trends des 20. Jahrhundert eher als Stolpersteine bzw. Irritationspunkte für Trendbehauptungen, Stufentheorien und Gesamtdeutungen. Für den strukturfunktionalistischen Typus eine Theorie der Moderne, die auf der Ebene hochaggregierter Daten und großer Trends verharrt, erweisen sich die Gesellschaften Europas im 20. Jahrhundert als permanente Ausnahmefälle, in denen vor allem zwischen 1914 und 1990 wenig von dem eintrat, was die idealtypische Modellbildung als wahrscheinlich erwartete. Zu notieren ist dabei insbesondere, dass die für die Übergangsgesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts so prägenden Dimensionen: Freisetzung des Marktmechanismus im Zeichen der Deregulierung in Verbindung mit der Etablierung eines autonomen Privatrechts in den Gesellschaften Europas in ihrer Wirkung erheblich eingeschränkt worden sind und dies nicht nur für die sozialistischen Länder gilt, sondern große Teile der Agrar- und Industrieproduktion sowie zahlreicher professionalisierter Dienstleistungen im Europa des ausgehenden 19. und dann des 20. Jahrhunderts dem autonomisierten Marktgeschehen entzogen worden sind und auch das autonome Recht durch politische Kontrolle und Manipulation wiederum in seiner Eigenständigkeit in Teilen Europas erheblich eingeschränkt worden ist.

10 S. N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000; ders., Die Antinomien der Moderne, Frankfurt a. M. 1998.

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Nach wie vor bleibt die Darstellung sozialer Prozesse und Konstellationen den Begriffen verhaftet, welche für die Dynamik der europäischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entwickelt worden sind. Die Liste dieser Basisprozesse ist unterschiedlich lang, genannt werden aber übereinstimmend immer wieder: auf der Ebene institutioneller Formenbildung: Bürokratisierung; ökonomisch: anhaltendes, in Konjunkturzyklen schwankendes Wachstum unter dem Primat der Industrialisierung, in Verbindung mit der Entfaltung von Wissenschaft und Technik; als damit verbundene Prozesse: Verstädterung, Alphabetisierung und Bildungsexpansion, schließlich Klassen bzw. Nationen als neuen Formen der politischen Vergemeinschaftung; auf der Ebene der Personen: Heraustreten der Individuen aus ihren primären Gruppenbindungen und Zugehörigkeiten. Die weitere Entwicklung im 20. Jahrhundert ist dann vielfach nur als Abweichung bzw. Auffächerung des gemeineuropäischen Entwicklungspfades aufgefasst worden; in jedem Fall führt eine vorurteilslose Bestandsaufnahme von Kontinuitäten zu dem Ergebnis, dass die genannten Basisprozesse bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bzw. durch das gesamte Jahrhundert hindurch ihre Dynamik bewahrt haben. Dies ist gewissermaßen der feste Boden, auf dem die strukturfunktionalistischen Tendenzdeuter ihre weiterreichenden Makrotheorien aufbauen. Aus der Perspektive einer kulturgeschichtlichen Theorie der Moderne enthalten diese Basisprozesse und die ihnen gemeinsame Dynamisierung des sozialen Wandels jedoch noch keinen Bauplan und, wie gleich zu zeigen sein wird, erweitern sie das Feld der historischen Möglichkeiten und konkret der Ordnungsmuster. Die meisten sozialgeschichtlichen Ansätze, welche Tendenzmodelle für eine europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts formulieren, versuchen dieser Verschränkung von Kontinuitäten und Bruch gerecht zu werden, indem sie die beiden letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts als Startphase für ein langes sozialgeschichtliches 20. Jahrhundert wählen. Damit steht faktisch in vielen Entwürfen die gesellschaftshistorische Periodisierung in dezidierter Spannung zur Periodisierung der europäischen Politikgeschichte. Hier scheint sich die Periodisierung 1914/1918–1989/90 mit plausiblen Gründen durchzusetzen: Die Epoche der Weltkriege und der Systemkonkurrenz bzw. Spaltung Europas schafft einen Fundus an gemeinsamen politisch-militärischen Problemlagen und Konstellationen. Eine sozialgeschichtliche Betrachtung muss hingegen die Kontinuität der Dynamiken, aber auch der Institutionen und Strukturen des 19. Jahrhunderts in Rechnung stellen, zumal für die große Gruppe der Nachzügler im Süden, Osten und in der Mitte Europas die atlantischen Revolutionen der Jahrzehnte 1780 bis 1820 erst am Ende des 19. Jahrhunderts wirtschaftliche, soziale und z. T. auch politische Realität wurden. Kurz: Die Sozialgeschichte Europas des 20. Jahrhunderts ist zugleich als Auslaufen der »Modernisierungsphase«, verstanden als Übergang vom »Ancien Régime« zur »modernen« Gesellschaftsformation, wie auch als Entfaltung »moderner Sozialformationen« zu lesen, welche nun nicht mehr oder nicht mehr primär durch die Konstellationen geprägt worden sind, welche in dieser Mobilisierungsphase des 19. Jahrhunderts­ 139

entstanden waren wie z. B. schwerindustrielle Industriezusammenballungen, Klassenbildungsprozesse und Nationbuilding. Gerade die neu entstehenden Phänomene: neue Massenmedien und Informationstechnologien, Erweiterungen des Konsums, Verwissenschaftlichung und Technisierung der Lebenswelten sperren sich einer schlichten Subsumierung unter die Leitbegriffe einer strukturfunktionalistischen Makrotheorie der Modernisierung, ohne dass die Basisannahmen dieser elaborierten Modernisierungstheorien, nämlich die Entstehung von Gesellschaften neuen Typs am Ende einer unterschiedlich langen und langsamen Transformationsphase durch die Eigendynamik dieser neuen Strukturbildungen des 20. Jahrhunderts widerlegt worden wäre.

IV. Integration der Perspektiven: Ulrich Herberts Theorie der Hochmoderne Ulrich Herbert hat einen Entwurf zur Diskussion gestellt, der für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive die Theorie der Moderne als konzeptionellen Ankerpunkt nutzt, um ein differenziertes Ablaufmodell für den Zeitraum 1880–1970 vorzuschlagen.11 Diese Epoche der »Hochmoderne« (High Modernity) wird als eine Teilepoche der europäischen Moderne konzipiert. Mit diesem Vorschlag knüpft Herbert zum einen an Periodisierungsvorschläge für das 19. Jahrhundert an, welche die letzten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts als Zeit der breitenwirksamen Entfaltung all jener Phänomene thematisieren, die »modern« sind und nicht mehr dem Übergang aus älteren Sozialstrukturen, Herrschaftsformen oder kulturellen Traditionen ursächlich zugerechnet werden können. Gleichzeitig greift dieser Vorschlag das Konzept der »klassischen Moderne« auf, wie es für den Zeitraum 1880–1930 entworfen wurde.12 Insbesondere Detlev Peukerts Überlegungen zur Janusköpfigkeit dieser Epoche haben bei Ulrich Herbert einen deutlichen Wider­hall gefunden.13 Wie er integriert Herbert die empirisch abgesicherten Elemente der älteren Modernisierungstheorie in sein idealtypisches Modell, verbindet die strukturgeschichtlichen Befunde der Makroebene systematisch mit einem erfahrungsgeschichtlichen Zugang, der die politischen Ideologien ebenso wie die lebensweltlichen Orientierungen der Akteure in den europäischen Gesellschaften als eigenständige Faktoren einbezieht. Dazu bedient er sich zweier robuster Metaphern bzw. Denkmodelle: Zum einen interpretiert er das Verhält11 U. Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History, Jg. 3, 2006, S. 5–21. 12 A. Nitschke u. a. (Hg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, Reinbek bei Hamburg 1990. 13 D. J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987; ders., Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989.

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nis zwischen dem Strukturwandel und den Werthaltungen und politischen Gestaltungsoptionen als challenge and response. Toynbees altes Schema ist inzwischen so selbstverständlich geworden, dass wir es eigentlich nicht mehr weiter hinterfragen: Die weitgehend autonom vom individuellen Willen, aber auch gegen die Absichten des Gesetzgebers und gegen die Ziele der politischen Akteure sich vollziehenden langfristigen Wandlungsprozesse (Herbert nennt hier die klassischen Aspekte wie Industrialisierung, Verstädterung, Massenauswanderung, umfassende Technisierung und Rationalisierung des Alltagslebens, die Anwendung der Naturwissenschaften auf alle Lebensbereiche)14 hatten zwei Merkmale, die eine »Antwort«, Reaktion der Zeitgenossen geradezu erzwangen. Erstens waren sie nicht mehr nur sektoral und regional, d. h. sie schufen so etwas wie einen gemeinsamen europäischen Problemhorizont für die Antworten, welche von den unterschiedlichsten Gruppen entwickelt worden sind. Die »Modernisierung« trat von der Phase, in der sie nur einige Vorreiter wie England oder nordwesteuropäische Regionen ganz erfasst hatte, in die Phase, in der dieser soziale Wandel ganz Europa erreichte – sei es in ihren direkten Auswirkungen oder aber in ihren antizipierten Folgen. Im Sinn einer Theorie der Moderne ist diese Beobachtung von einigem Gewicht; haben die Veränderungen die Schwelle unbeobachteter bzw. nur von wenigen wahrgenommene Prozesse hinter sich gelassen, entfalteten sie eine Eigendynamik auf der Ebene, die wir als Erfahrungsgeschichte bezeichnen wollen: Die soziale und moralische Gegenwart wird in allen ihren Aspekten zur Arena neu zu definierender Zukunfts­ erwartungen angesichts von Veränderungsdynamiken, welche die Vergangenheit für die Akteure immer weiter wegrücken. Erneut entfaltete sich eine Dialektik, welche Koselleck für die Geburtsstunde der europäischen Moderne entwickelt hatte: Erwartungshorizont und Erfahrungsgehalt treten auseinander – diesmal jedoch auf einer viel größeren internationalen Bühne, unter Beteiligung viel größerer Bevölkerungsgruppen. In den Strudel der beschleunigten Industrialisierungsprozesse werden gewissermaßen alle hineingerissen – sie werden alle zu Zeitgenossen einer »Krise« und die bis dahin nur schwach miteinander verkoppelten anonymen Prozesse werden jetzt in der gesellschaftlichen Kommunikation eng miteinander verknüpft. Für die Geschichte der europäischen Gesellschaften bedeutet dies, dass sie gewisser­maßen jetzt erst, vor dem Hintergrund einer weiteren Runde der Industrialisierung, die kulturelle Dynamik registriert, welche aus der Sattelzeit entsprungen ist. Ein zweites kommt in diesem challenge and response Modell jedoch noch hinzu und dient gewissermaßen zur Plausibilisierung der Krisen und Katastrophen, die sich in der europäischen Geschichte zwischen 1900 und 1950 ereignet haben: Der Handlungsspielraum der Akteure wird durch die Beschleunigung der sozialen Wandlungsprozesse enorm eingeschränkt. Das Tempo der Entwicklungen verkleinert gewissermaßen systematisch die Chancen kollektiver 14 U. Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History, Jg. 3, 2006, S. 10.

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trial-and-error-Verfahren: Die »Antworten« der kollektiven Akteure  – zumal auf politischer Ebene – erweisen sich in der Rückschau in vielfacher Hinsicht als unangemessen. Sie produzierten unabsehbare Nebenwirkungen mit verheerenden Auswirkungen – man denke an den Ersten Weltkrieg –, sie beschleunigten vielfach ungewollt, gegen den erklärten Willen der Entscheider die sozialen Prozesse, die sie einzudämmen beabsichtigten. Die wirtschaftliche, demographische und soziale Dynamik Europas seit den 1870er Jahren löst gewissermaßen eine »Anpassungskrise« aus, in deren Verlauf die europäischen Gesellschaften unterschiedliche und vor allem politisch verfeindete Antworten – Liberalismus – radikaler Nationalismus – Bolschewismus / Kommunismus  – formulierten, deren Konfrontation im Zweiten Weltkrieg ihren ersten Höhepunkt fand. Als Erfahrungsgeschichte ist diese Krisengeschichte jedoch zugleich auch eine Generationengeschichte: Drei Generationen durchleben die immer wiederkehrenden, quasi konstanten Herausforderungen. Auflösung der Tradition, Individualisierung, Entzauberung der Welt durch Wissenschaft und Technik, aber gleichzeitig auch die moralischen, politischen und sozialen Folgen der Antworten, die ihre Elterngeneration auf diese challenges formuliert hatte. Hier sieht Herbert die Triebfeder des kollektiven Lernens: Beim dritten Mal stellt sich Gelassenheit ein, wird die Unausweichlichkeit des sozialen Wandels akzeptiert, die Industriegesellschaften des Westens und Ostens Europas kommen in den ruhigen Hafen der Konsumgesellschaft, des Sozialstaats und des Wertewandels. Herberts Periodisierungsvorschlag gewinnt seine Eleganz nicht zuletzt, aber wohl ungewollt dadurch, dass das Ende dieser Phase gleichzeitig als Beginn eines neuen Zyklus von Beschleunigung und Strukturbruch beschrieben werden kann: Das Ende der industriellen Hochmoderne scheint wieder eine neue Dynamik in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur Europas auszulösen, welche die institutionellen Ordnungen erschüttert und aufzulösen droht. Vorboten dieses Umbruchs sind erneut die Künstler, Intellektuellen und Literaten. Sie betreiben diesmal postmoderne Radikalisierungen, so wie sie um 1900 die modernistischen Avantgarden kreiert hatten. Die Dynamik läuft nun mit ungebremster Kraft und unter Einbeziehung bislang nur am Rand erfasster Regionen und Sphären der Welt in eine ungeahnte Richtung weg von den Nationalstaaten und den etablierten Ordnungen der »Hochmoderne«. Hier gewinnt Herberts Modell das suggestive Potential einer Meistererzählung, wie sie Hayden White bei den Geschichtsdenkern und -schreibern des 19. Jahrhunderts offengelegt hat.15 Die Büchse der Pandora ist erneut geöffnet und folgerichtig kommt die Epoche der Hochmoderne an ihr Ende. Aus der Kombination der Modernisierungstheorie mit dem Modell der klassischen Moderne plus Toynbee und dem Drei-Generationen-Assimilationsmodell der Migrationssoziologie entsteht ein robustes Erklärungsmuster, das zahlreiche Phänomene der europäischen Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahr15 H. White, The Historical Imagination in 19th Century Europe, Baltimore 1973.

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hunderts in ein plausibles idealtypisches Beschreibungsmodell zu integrieren vermag. Vor allem die Dramatik und die »Tiefendimension« der Krisen sowie der daraus resultierenden weltanschaulich-politischen Konfrontationen werden in diesem Gesamtmodell nicht ausgeblendet. Trotz dieser Vorzüge ist kritisch nach seinen Schwächen zu fragen: Welche Befunde der sozialgeschichtlichen Forschung sperren sich einer solchen Gesamtdeutung, welche der theoretischen Grundannahmen des Modells sind kritikwürdig bzw. revisionsbedürftig? Sechs grundlegende Einwände möchte ich zur Diskussion stellen: 1. Als unterkomplex erscheint mir das Drei-Generationenmodell: Ursprünglich entwickelt, um ein Stufenmodell gesellschaftlicher und kultureller Assimilation von Zuwanderern in die amerikanische Gesellschaft zu liefern, naturalisiert es gewissermaßen eine ganz spezifische und, wie sich zeigt, auch gar nicht so einfach zu wiederholende historische Situation der Eingliederung in die USGesellschaft. Es gewinnt seine Plausibilität nicht zuletzt durch die ungleichen Machtverhältnisse zwischen der zuwandernden Minorität und ihrem kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapital auf der einen, den Gewohnheiten und Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite. Hier kann mit einer gewissen Plausibilität auch jenseits des Schematismus von einem mehr oder weniger konstanten Druck hin auf Annäherung, Übereinstimmung ausgegangen werden. Aber gerade diese Konstanz verliert an Plausibilität, wenn man das Verhältnis der Menschen zur Beschleunigung sozialer Prozesse und zu den eigenen Lebenserfahrungen in der Generationenfolge vergleicht. Die Hetero­genität der Erfahrungszumutungen kann kaum größer gedacht werden im Europa des 20. Jahrhunderts – dies gilt für die zeitgleichen Generationen der einzelnen europäischen Länder oder Regionen wie auch für die Generationenfolge. Die Leerformel der »Lern­prozesse« hilft hier jedenfalls nicht weiter. Alles deutet darauf hin, dass die Erfahrungsgeschichten der europäischen Gesellschaften gerade in hohem Maße nicht durch die Basisprozesse der Modernisierung, sondern durch die politisch-ideologischen Diskontinuitäten, kurz die Traumatisierungen und Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt wurden. Erst allmählich und dies auch nur in den westeuropäischen Ländern, wuchsen seit Kriegsende Alterskohorten heran, bei denen die Erfahrungen mit dem sozialen Wandel wieder ins Zentrum rücken konnten. 2. Ein zweiter kritischer Einwand gilt der Denkfigur der Beschleunigung. Empi­risch stützt sie sich im Wesentlichen, wenn nicht sogar ausschließlich, auf die sozial- und wahrnehmungsgeschichtlichen Befunde für das deutsche Kaiserreich. Wie kaum eine andere europäische Gesellschaft geriet die deutsche Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur seit der Reichsgründung in Bewegung. In dieser Dynamik ist sie jedoch exzeptionell – für europäische Verhältnisse geradezu »amerikanisch«. Danach zwischen 1918 und 1939 wiederum weisen die klassischen wachstumsgetriebenen Indikatoren des Wandels eher auf Verlang­ samung. Als schlicht empirische Frage: Welche Beschleunigungs­erfahrungen waren wie vielen Menschen in Europa eigentlich möglich, welche so aufwüh143

lend, das sie dann auch breitenwirksam dramatisiert worden sind? Hier wäre auf jeden Fall in europäisch vergleichender Ebene und mit Blick auf ein gern übersehenes kleinstädtisch-ländliches Mehrheitseuropa noch Forschungsarbeit zu leisten, bevor dieses Argument als Schlüssel­element einer Theorie genutzt werden sollte. 3. Wenn Herbert explizit davon spricht, die Beschleunigung sei »oft« wie eine »Schockwelle« erfahren worden, so suggeriert er ein recht schlichtes, aber empirisch durchaus unbewiesenes bzw. im Einzelnen sogar falsifiziertes Wahrnehmungsmodell sozialen Wandels. Die »Explosion der Moderne« um 1900 hat nun keineswegs jenes breite Echo erschrockener Desorientierung hervorgerufen, ganz im Gegenteil trat hier eine bemerkenswerte Vielfalt in den Aneignungsweisen der neuen Technologien (Unterhaltungsmedien, Verkehr, Kommunikation) ein, so dass selbst in den urbanen Zentren der Entwicklung die Spannweite der Wahrnehmungsmuster enorm war und selbst eine schlichte Zuordnung nach sozialen Klassen und Gruppen einige Schwierigkeiten bereitet. Jedenfalls ist die pragmatische Aneignung und sozialkulturelle Anverwandlung der neuen technischen Objekte und Prozesse ein Phänomen, das bereits in dieser Zeit verbreitet und über die Krisenjahre der Zwischenkriegszeit hinweg bis in die Nachkriegsphase des Wirtschafts- und Konsumwachstums hinein zu beobachten war. Offensichtlich muss die adaptive Fähigkeit im Umgang mit den technisch-industriellen Produkten und Verfahren der Moderne getrennt werden von den Schwierigkeiten, etablierte Weltbilder den neuen wirtschaftlichen oder sozialen Realitäten anzupassen. In beiden Bereichen sind andere Akteure und andere Einsätze im Spiel. In einem viel stärkeren Maße als es das Modell von challenge and response suggeriert, gaben auf der Ebene der kulturellen, politisch-religiösen Sinn­entwürfe die vielfältigen Beobachtungen über die laufenden technischen Innovationen wie deren sozial-adaptive Nutzung Gelegenheit, Entwürfe für die Gesamtsteuerung der Prozesse zu entwerfen und kontrovers zu diskutieren. Zugespitzt formuliert ist es generell nicht die Anhäufung der technischen Innovationen, auch nicht die quantitative Zunahme von Industriesiedlungen, Kaufhäusern und Kinosälen, welche Ursache für eine kollektive Wahr­ nehmungskrise der Zeitgenossen waren, sondern es sind die eigenständigen Prozesse kultureller und politischer Selbstbeobachtung und -Thematisierung der europäischen Gesellschaften, die eine Eigendynamik entfalten. Auch für die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert gilt, dass die Beschleunigung bzw. Fortdauer einiger Basisprozesse wohl die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass ihre Begleiterscheinungen als »soziale Probleme« und »kulturelle Krisenelemente« Eingang in die gesellschaftliche Kommunikation fanden. Aber mehr auch nicht. Zeitpunkt und Art der politischen, rechtlichen, kulturellen Behandlung von Geburtenquoten, Zuwachs und Gestalt industrieller Arbeitsplätze, Hygienefragen städtischer Quartiere variierten derart stark in den europäischen Regionen, dass es geraten erscheint, aus dem Modus der »objektiven« Datensätze der Basisprozesse überzuwechseln in die Welt der gedachten Ordnungen, der sozialen Kommunikation. 144

Herberts Modell der Moderne möchte gern ohne allzu viel Kulturalismus auskommen, dagegen wäre die These zu formulieren, dass die symbolischen Ordnungsentwürfe, die historischen Semantiken für die Gesellschaften Europas im 20. Jahrhundert von prägender Bedeutung waren. Mit Recht betonen alle neueren Forschungen die Relevanz von grenzüberschreitender internationaler Kommunikation und wechselseitiger Wahrnehmung zwischen den europäischen Ländern. Gerade dies spricht dafür, die Periode zwischen 1880 und 1914 als eine Umbruchphase in den Formen der Selbstbeobachtungen der euro­ päischen Gesellschaften (im doppelten Plural) zu verstehen und diese kulturbzw. wissenschaftshistorische Beobachtung systematisch für die Analyse der gesellschaftlichen Dynamik in den europäischen Ländern zu nutzen. 4. Der vierte Einwand betrifft die Idee der strukturellen Koppelungen, welche mit dem Krisenbegriff eng verbunden ist. Gewissermaßen aus dem common sense der sozialgeschichtlich erweiterten Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts stammt die Annahme, die unterschiedlichen Basisprozesse (Urbanisierung, Industrialisierung etc.) seien strukturell eng miteinander verkoppelt, sie entfalteten eine »Sog«wirkung, die andere, in ihren Strukturen »ältere«, vorsichtiger formuliert, anders organisierte Lebensbereiche mitreißt. Diese Sogwirkung unterstellt, dass die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, die gerade für das Europa der Phase 1880–1930 so typisch ist, als ein besonders labiler Zustand zu interpretieren sei, dessen Auflösung nicht zuletzt aufs engste strukturell mit der Entfesselung der Gewalt durch die alternativen Modernitätsentwürfe des Bolschewismus und des National­sozialismus verbunden ist. Nun bietet gerade die europäische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert vielfaches Anschauungsmaterial für den unerwarteten, funktionsgerechten Einbau älterer Institutionen, Gewohnheiten oder Statusgruppen in die Dynamik der Moderne. Die Liste der aus der Sicht einer linearen – am amerikanischen Fall orientierten  – Modernisierungstheorie »abzuwickelnden« Erscheinungen des Alten Europas, die sich zum Teil bis zur Gegenwart erhalten haben, ist lang. Sie reicht vom britischen Adel über die katholische Kirche bis zur Mafia. Gerade die Geschichtsträchtigkeit der europäischen Gesellschaften, deren Basisinstitutionen und damit verbunden kulturellen Traditionen / historischen Semantiken vielfach weit ins Mittelalter und darüber vermittelt bis in die Antike zurückreichen, hat die Kombination von Ordnungsmustern ganz unterschiedlicher zeitlicher Provenienz mit den neuen Elementen Bürokratie, Markt, Nation, Rechtsgleichheit nahegelegt. Statt von einer Sogwirkung wäre von den Effekten langer Dauer und vom Modell der erfolgreichen Anpassungen und Aggiornamentos von Institutionen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts zu sprechen. Dies wird vor allem dort erkennbar, wo die politisch-militärischen Ereignisse der beiden Weltkriege nicht jene zerstörerische Kraft entfalten konnten, welche traditionelle Einrichtungen mitsamt ihren Trägern buchstäblich ausradierte, vernichtete. Ein Blick auf die Gesellschaften der Schweiz, Großbritanniens, Schwedens, Portugals, aber auch Frankreichs, der Benelux-Staaten, Irlands und Norwegens konfrontiert uns mit zahlreichen Befunden für die These, 145

dass die Sozialordnung der europäischen Moderne nicht aus einem »Guss« ist, sondern permanent das Ergebnis paradoxer Koexistenz unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken darstellt. 5. Die beiden Weltkriege bleiben für eine Theorie der Hochmoderne eine theoretische Herausforderung, der sie nicht einfach Herr wird. Auf breitem Konsens unter den Historikern beruht die plausible Kategorisierung der Kriege als Faktoren der »Radikalisierung« in Hinsicht auf die ideologischen und politischen Konflikte. Der Aufstieg und die ideengeschichtliche Fundierung der radikalen Ordnungsalternativen zur liberaldemokratischen Ordnung der siegreichen Entente  – Nationalsozialismus und Bolschewismus  – ist auch in der Deutung von Herbert aufs engste mit Verlauf und Ausgang des Ersten Weltkrieges verknüpft. Die Zuspitzung des weltanschaulichen Antagonismus zwischen demokratisch-kapitalistischem Liberalismus und Kommunismus ist wiederum an den Ausgang des Zweiten Weltkrieges gebunden. Herberts Erklärungsmodell der »Hochmoderne« gewinnt seine Überzeugungskraft an diesem Punkt im Wesentlichen durch Beschreibung dieser weitgehend unbestrittenen Zusammenhänge; er stellt aber nicht die Frage, ob diese militärischen Großereignisse als externe Faktoren gewissermaßen das Erscheinungsbild der »Hochmoderne« in Europa so tiefgreifend »verzerrt« haben, dass bestenfalls für die Zeit nach 1945 wieder die Theorie der Moderne bemüht werden kann, um Entwicklungen in Politik, Kultur und Gesellschaft der europäischen Gesellschaften zu »erklären«. 6. Der letzte Einwand betrifft die Eckdaten des Periodisierungsvorschlags. Die symbolischen Eckjahre 1880 und 1970 sind überzeugend für die (west)deutsche Industriegesellschaft und auch benachbarte, durch die politischen Ereignisse und die sozio-ökonomischen Basisprozesse synchronisierte Länder (Belgien, die Niederlande, Skandinavien), aber viel weniger überzeugend, wenn man die agrarisch geprägten mediterranen Länder Südeuropas, die Balkanländer oder das östliche Mitteleuropa in seiner spezifischen Temporalität erfassen will. Letztlich geht es darum zu prüfen, ob eine Theorie der »Hochmoderne« ein solches in sich konsistentes Rahmenmodell für eine Gesellschaftsgeschichte Europas zwischen 1880 und 1970 liefern kann. Oder muss sich nicht der plausible Periodisierungsvorschlag, der damit ja auch fundiert wird, pragmatisch darauf beschränken, die Koexistenz ganz unterschiedlicher kulturräumlicher und nationalspezifischer Periodisierungen zu akzeptieren?

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V. Von der »Explosion der Modernität« zur Konkurrenz der Ordnungsmuster: Vorschläge zur Neuformulierung einiger Ausgangshypothesen für eine Gesellschaftsgeschichte Europas im 20. Jahrhundert Die »Explosion der Modernität« ist eine der zeitgenössischen Selbstbeschreibungen, die dem Konzept der »Hochmoderne« als Ausgangspunkt dienen, und vieles deutet aus ideengeschichtlicher Perspektive darauf hin, dass die Epoche um 1900 jene Phase ist, in der die Reflexivität der Moderne, welche die soziologische Theorie zur Besonderheit der Postmoderne machen will, an Dichte gewinnt, zu spezifischen Denkfiguren und Semantiken führt, deren Spuren für die politische und soziale Gestaltung der – dies sei betont – weitgehend autonom weiterlaufenden Basisprozesse im 20. Jahrhundert dann von ausschlaggebender Bedeutung wurden. Es ist nicht mehr das Problem der Beschleunigung an sich, wie es sich klassisch in Gegenüberstellung Liberalismus versus Konservatismus, Fortschritt versus Tradition im gesamten 19. Jahrhundert artikuliert, sondern das Problem der ständig mit dem Prozess der technisch-naturwissenschaftlichen Innovationen und der industriellen Produktionsdynamik mitwachsenden Gestaltungsoptionen. Spätestens seit den 1880er Jahren erscheint gerade die unaufhaltsame Modernität der Gegenwart als Chance, die unterschiedlichsten alternativen Ordnungsentwürfe zu realisieren: Die Breite der Optionen im Horizont des technischen »Fortschritts« lässt Liberalismus wie Konservatismus als die beiden richtigen Antworten rasch verblassen. Zu erinnern ist an dieser Stelle an den Hinweis von Gumbrecht, in seinem Artikel »Moderne, modern« in den Geschichtlichen Grundbegriffen.16 Schon früh hat er darauf hingewiesen, dass Luhmann ein interessantes, unter Umständen viel angemesseneres Beschreibungsmodell für diese kulturelle Besonderheit der Moderne geliefert habe, wenn er als Schlüsselproblem der Eigendynamiken in den autonomen Handlungsfeldern bzw. Systemen wie Wirtschaft, Politik, Kunst, Bildung, Wissenschaft das Problem der Selektionen benannt hat. Es ist nun nicht mehr die Anpassung an die Dynamik von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, sondern der »Möglichkeitsüberschuss« an Handlungsoptionen in der Moderne, welche die Zeitwahrnehmung und Gestaltung der Ordnungen prägt.17 Gerade eine Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts kommt nicht umhin, den strukturellen Wandel nach 1880 in der Vielfalt der Ordnungsentwürfe zu suchen, die auf Realisierung drängen. Planung und Utopie sind die beiden wichtigsten Formen, die aus dieser Konstellation hervorgehen. Beide antizipieren Zukünfte und sind ihrerseits nur lose bzw. ganz einseitig mit den vielen so16 H. U. Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: O. Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93–131. 17 Gumbrecht, Modern, S. 131.

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zio-ökonomischen Basisprozessen der »Moderne« verkoppelt.18 Hier kommt ein erstes Element von Kontingenz ins Spiel – noch vor der sozialen, politischen Durchsetzung der entsprechenden Ordnungsmuster. Aus all dem folgt, dass kein direkter Weg von Basisprozessen der Modernisierung und den Datensätzen der Wirtschafts-, Stadt- oder Migrationsgeschichte der Jahrzehnte 1870–1914 zu den Spezifika der europäischen Geschichte in der »Hochmoderne« führt. Die folgenden Vorschläge gehen von der These aus, dass die europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts in besonders eklatanter Weise aus der Wechselwirkung zwischen Ordnungsentwürfen und richtungs- und gestaltungsoffenen anonymen Veränderungsdynamiken zu verstehen und ihre unterschiedlichen Richtungen zu erklären sind. Über die bereits formulierten Einwände an einzelnen Elementen des ideal­ typischen Verlaufsmodells einer »Hochmoderne« ergeben sich aus einer kulturgeschichtlichen Lesart der Moderne (nicht nur in Europa) folgende Akzentuierungsvorschläge für eine Sozialgeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Es springt ins Auge, dass alle wichtigen politischen Großideologien des 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur ideengeschichtlich ihre Ursprünge in Europa haben, sondern dass auch die Versuche ihrer (Teil)Realisierung vor allem oder beispielgebend in europäischen Ländern anzutreffen sind. Europa ist gerade im 20. Jahrhundert deshalb für zahlreiche Institutionen der Moderne ein wichtiges Experimentierfeld geblieben. Zu denken wäre hier an die Sozialversicherungen und die an sie anknüpfenden Verteilungsformen gesellschaftlichen Reichtums und die Verbreitung von Sicherheitsstandards gegen die Risiken von Märkten, Krankheiten und Unfällen. Zu denken wäre auch an die Bildungseinrichtungen. Dabei veränderten sich aber deutlich die Modi, in der die gedachten Ordnungen für die offenen Zukünfte der europäischen Gesellschaften mit dem gleich­zeitig weiterlaufenden Strukturwandel in den sich autonomisierenden Handlungs­feldern und seinen Rückkoppelungen in Verbindung treten. Die Geschichte der europäischen Intellektuellen, Expertenkulturen und Professionen markiert eine Scharnierstelle und ein vergleichender Blick im Kreis der europäischen Länder, aber auch von ihnen zu den USA und Japan zeigt uns, dass bis weit ins 20. Jahrhundert die institutionelle Dichte der Arbeitsfelder dieser Experten des Sozialen und die institutionellen und personellen Verzahnungen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auf diesem Feld ein Spezifikum europäischer Gesellschaftsformationen geblieben sind. Dieses erste Argument betrifft also die institutionelle Dichte der Verwissenschaftlichung des Sozialen und die ideologische Vielfalt der dabei pro­pagierten Modernitätsentwürfe. Europas Gesellschaften sind also weniger als Varianten eines westlichen Modernitätswegs, sondern seit den 1880er Jahren als Experi-

18 W. Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003.

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mentierfelder unterschiedlicher Optionen für die Weiterentwicklung der Moderne zu untersuchen. In diesem Sinn ist vor allem eine globalgeschichtliche Komparatistik von Nöten, welche die vielfältigen internationalen Vernetzungen und Rückwirkungen der europäischen Wege in Hinblick auf die parallelen Wechselwirkungen in anderen Kontinenten und Gesellschaften verfolgt. Der lineare Fortschritt in den Bereichen Wissenschaft und Technik produziert ein ständig wachsendes Potential für die materielle Gestaltung und existentielle Bedrohung der modernen Zivilisationen. Industrie, Wirtschaft und Politik profitierten von diesem Sektor und seiner Entwicklungsdynamik in ständig wachsendem Maße, gerieten aber gleichzeitig auch in immer größere strukturelle Abhängigkeit vom Ressourcenpotential dieses Sektors. Die Erfahrung der Beschleunigung von Prozessen in Wissenschaft und Technik greift auf alle anderen Bereiche wie Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur aus, sie wird zu einem Bestandteil alltäglicher Erfahrung und gesellschaftlicher Selbstthematisierung. Das zweite Argument betrifft die Richtungen, in die sich die europäischen Ordnungsentwürfe seit den 1880er Jahren entwickelt haben. Offensichtlich gerieten Liberalismus und Konservatismus als dominante politische Ordnungsmuster für mehr als vier Jahrzehnte in Europa in die Defensive und auch nach 1945 entwickelte sich die Westernisierung auf der Grundlage eines Konsensliberalismus, dessen Ordnungsideen sich im Wesentlichen der Übernahme staatlichen Interventionismus in der Wirtschaft und von Sozialstaatskonzepten mit dezidiert antiliberaler Prägung und Tradition verdankten. Auch die Bereiche von Bildung sowie Rundfunk und Fernsehen blieben primär staatlich kontrollierte bzw. organisierte Sektoren. Zudem entwickelten sich mit Kommunismus und Faschismus / Nationalsozialismus zwei totalitäre Gegenmodelle, die sich als grundlegende Alternativen zum Liberalismus westlicher Provenienz verstanden. Schließlich sollte auch nicht vergessen werden, dass der katholische Korporatismus vor allem in den katholischen Ländern in Südeuropa, in Österreich und Irland tiefgreifende Spuren in den Institutionen und Gewohnheiten der Gesellschaften hinterlassen hat. Die totalitäre Dynamik der explizit wissenschaftsbasierten, den Kriterien rationaler Planung gerecht werdenden Ordnungsentwürfe für die industrielle Moderne muss in ihrer Eigenlogik ernst genommen werden. Lange Zeit ist diese Dimension primär von sozialphilosophischer Seite in der Tradition der kritischen Theorie vorgetragen worden, inzwischen haben aber zahl­reiche Forschungen zur Entfaltung der anwendungsorientierten Humanwissenschaften seit dem späten 19. Jahrhundert den Punkt erreicht, an dem der Übergang von Ordnungsentwürfen in Kategorien und Entscheidungen über soziale Exklusion bzw. Inklusion systematisch untersucht wird. Die Praktiken des social engineering gehören ganz wesentlich hierher und es zeigt sich, dass auf dem Feld der Familienpolitik, der Sozialarbeit, der Armen- oder Fürsorgepolitik diese interventionsfreudigen und repressionsbereiten Ordnungsmuster keineswegs Monopol der totalitären politischen Regime und ihrer radikalen Programme eindeutiger 149

und stabiler Zu- und Unterordnung blieben.19 Die sozialdemokratischen und sozialliberalen Varianten dieser Form der sozialen Regulierung sind allmählich in den Blick der kritischen Forschung gelangt, wenn sie sich mit Eugenik oder Familienpolitik beschäftigt. Der Formwandel des politischen und kulturellen Ordnungsmodells Nation und dessen Auswirkungen auf die Gestaltung der modernen europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts müssen stärker beachtet werden. In der sozialhistorischen Forschung gehört das Thema des Nationbuildung ein­deutig ins 19. Jahrhundert, das Repertoire der dort erfundenen kulturellen Formen politischer Vergemeinschaftung gilt bestenfalls als Traditions­bestand, der in den beiden Weltkriegen nochmals in aggressiver Weise zwischen den europäischen Nationen mobilisiert wurde, um dann allmählich an Relevanz zu verlieren. Der Nationalismus scheint insofern ein Thema der politischen Geschichte, aber sozialgeschichtlich kaum von Bedeutung, jedenfalls kein Charakteristikum der »Hochmoderne« des 20. Jahrhunderts. Dem entspricht die Vorliebe sowohl modernisierungstheoretischer wie systemtheoretischer Lesarten der Moderne für internationale bzw. transnationale Einheiten (Weltgesellschaft, die westlichen Industriegesellschaften, der Westen). Demgegenüber ist mit Gérard Noiriel nüchtern darauf hinzuweisen, dass die Nationalisierung der Gesellschaften in Europa im 20. Jahrhundert eher zu- als abgenommen hat, wenn man die Durchsetzung und Verankerung nationalstaatlicher Standards auf der Ebene von Bildung, Konsum, Kultur und als genuin neues Element der sozialen Sicherungssysteme anschaut.20 Pointiert kann man formulieren, dass die Nationalisierung der europäischen Gesellschaften von der Ebene des ideologischen immer stärker in die Strukturen und Institutionen der sozialen Welt gewechselt ist. Jenseits der Aufwallungen der innereuropäischen Konkurrenz und des nationalen Hasses ­1914–1945 blieben jedoch diese strukturellen Effekte wirksam, bestimmten auch nachhaltig die Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen. Die soziale und kulturelle Homogenisierung innerhalb der territorialen politischen Einheiten Europas hat zwischen 1880 und 1970 jedenfalls deutlich zugenommen. Erheblich dazu beigetragen haben natürlich die Vertreibungen und Massenmorde bis hin zum Völkermord, welche alle auf eine ethnische »Reinigung« und kulturell-sprachliche Homogenisierung weiter Teile Mittel-, Süd- und Osteuropas hinausliefen. Gerade die großen Migrationsbewegungen im Europa des 20. Jahrhunderts haben immer wieder von neuem nationale Ordnungsmuster irritiert, mit der Folge, dass die Identität der eigenen Gesellschaft bzw. Nation durch Zuwanderung als bedroht galt und in forcierter Integration bzw. Assimilation oder aber im Ausschluss der Ausländer und des kulturell, religiös, sprachlich Fremden die einzige Garantie für die Fortdauer der nationalen Gesellschaft gesehen worden 19 J. Baberowski u. A. Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror, Bonn 2006. 20 G. Noiriel, Nations, nationalités, nationalismes. Pour une socio-histoire comparée, in: ders., État, nation et immigration. Vers une histoire du pouvoir, Paris 2001, S. 87–144.

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ist. Jedenfalls kommt keine europäische Gesellschaftsgeschichte ohne vergleichende Studien über die symbolischen und administrativen Strukturen aus, welche dem »banalen« Nationalismus einen festen Platz im Alltags­leben der Europäer gesichert haben: von der Themen- und Sprachwahl in Presse, Rundfunk und Fernsehen über die Sportwelten bis hin zu den Militärdienst­zeiten und den nationalen Museen, Gedenktagen und Erinnerungsorten. Gerade die öffentliche Geschichtskultur der europäischen Länder stand im gesamten 20. Jahrhundert ganz im Zeichen nationaler Zeitgeschichte, ein Akzent der mit den beiden Weltkriegen nochmals verschärft wurde. Aber auch die Etablierung spezifischer nationaler Produktionsregime – gewissermaßen spezifische europäische Varianten des Fordismus – gehört in diesen Zusammenhang. Das Ordnungsmuster der Nation – so die These – muss jedenfalls als Wahrnehmungsfilter und Widerlager gegen all die gleichzeitig zu beobachtenden grenzüberschreitenden Transferprozesse in Ökonomie, Kultur, Politik und Wissenschaften analysiert werden, welche die europäischen Gesellschaften auch schon lange vor der zweiten Globalisierung erreicht hatten. Die Kulturgeschichte der Moderne schreibt der Tatsache der Beschleunigung historischen Wandels zentrale Bedeutung zu, insofern dies zu einem Erfahrungswandel und neuen Erwartungshorizonten führt. Hier besteht die größte Nähe zu Herberts dynamischem Modell der Hochmoderne. Welche Einsichten bietet sie an, um die erfahrungsgeschichtliche Dimension der europäischen Gesellschaften besser strukturieren zu können? Die Tiefenstruktur historischer Veränderungen selbst verändert sich, vor allem die veränderungsresistenten, quasi immobilen Strukturen, aber auch die mehrere Generationen umfassenden Konjunkturen werden beschleunigt, der zeitverkürzte Strukturwandel wird zu einem wesentlichen neuen Aspekt in der Schichtung historischer Zeiten. Damit wird (noch) nicht das Braudelsche Grundmodell der drei Zeiten21 außer Kraft gesetzt, aber selber gewissermaßen beschleunigt. Gerade die Kritik an dem Drei-Generationenmodell und dem Schockmodell der Beschleunigung provozieren berechtigterweise die Frage nach Alternativen: Zum einen wäre daran festzuhalten, dass die Dramatik der politisch-militärischen Ereignisgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dann die Spaltung zwischen West- und Osteuropa zwischen 1947 und 1989 zugleich ein Repertoire an Gemeinsamkeiten generationsspezifischer Erlebnisse, bei gleichzeitig polaren Gegensätzen in der Wahrnehmung und dann Deutung dieser Erlebnisse, also in der Erfahrungsbildung hervorgebracht haben. Demgegenüber bilden die Veränderungen in der Arbeitswelt, in Konsum, Urbanität und Verkehr eher schwache Anknüpfungspunkte für markante, generationsspezifische Erfahrungsbildung – diese Sektoren scheinen jedoch für die nachwachsenden Generationen der friedlichen Nachkriegsjahrzehnte deutlich wichtiger geworden zu sein. Die Taktung dieser kollektiven Wahrnehmungsmuster in Form von erfahrungsgeschichtlicher Generationenbildung ist jedenfalls zum jetzigen 21 F. Braudel, La longue durée, in: ders., Écrits sur l’histoire, Paris 1969, S. 41–84.

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Stand der Forschung noch nicht erkennbar – und schon gar nicht als europäisches Phänomen. Ganz im Gegenteil legt die Freisetzung der sektoral spezifischen Entwicklungsgeschwindigkeiten es nahe, eher von einer Pluralisierung und Fragmentierung der Zeitwahrnehmungen und Erfahrungsbildung und damit auch von einer Fortdauer der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen auszugehen. Für die Sozialgeschichte ergibt sich daraus der Zwang, sich von den naturalistischen Suggestionen der Alterskohortenabfolge, aber auch der mecha­ nischen Zeiteinteilungen in Jahrzehnte zu lösen, wenn es darum geht, die Pluralität der Veränderungstempi in den verschiedenen Bereichen des Sozialen zu erfassen und für eine europäische Vergleichsperspektive aufzubereiten. In Abänderung des Herbertschen Programms wäre also nach den unterschiedlichen Momenten der strukturellen Koppelung und Verdichtung von Veränderungen zu fragen, welche damit die Ebene der Wahrnehmung der Zeitgenossen erreichten, »Erfahrungsbildung« konstituierten. Hier liegt es nahe, die gesamteuropäische Ebene zu verlassen und sich daran zu erinnern, dass Europa in unterschiedliche historische Räume bzw. Kulturräume zerfällt, in denen auch die Basisprozesse, welche die Theorie der Modernisierung immer wieder anführt, zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Koppelungen die Wahrnehmungsschwelle der Zeitgenossen durchbrachen und die gesellschaftlichen Institutionen und Traditionen erschütterten bzw. merklich veränderten. In den mediterranen Ländern wie Italien, Spanien, Portugal ist offensichtlich die Periode 1965–1985 eine solche Phase der Verdichtung. Auch für Frankreich haben zeitgenössische Forscher auf die Umbrüche der Sozialstrukturen hingewiesen.22 Eine Sozialgeschichte Europas kann sich nicht nur auf jene Prozesse konzentrieren, die ihren Niederschlag im Erfahrungswandel der Zeitgenossen gefunden haben. Mit der Umstellung der Selbstbeobachtung aller europäischer Gesellschaften auf statistisch erhobene, sozialwissenschaftlichen Auswertungsverfahren zugängliche Indikatoren verfügt sie über ein breites Fundament von Sozialdaten, deren temporale Sequenzen es ermöglichen, die zahlreichen Basisprozesse in ihrer regionalen, nationalen, internationalen Spezifik darzustellen und komplexere Modelle für die zeitliche Tiefenschichtung des »sozialen Wandels« zu entwickeln. Statt metaphorisch von der Gleichzeitig des Ungleichzeitigen zu reden, eröffnet dies für eine Sozial­geschichte der europäischen Gesellschaften die Chance, aber auch die Herausforderung, sich aus den starren linearen Periodisierungsschemata zu lösen, welche die strukturfunktionalistischen Makromodelle der Moderne immer wieder von Neuem hervorbringen. Dabei wirkt die allgemeine Beschleunigung ihrerseits wiederum nicht vereinheitlichend, im Sinne eines jeweils zeitgleichen Phänomenen zugrunde liegende epochalen Wechseltempos, sondern die Gleichzeitigkeit / Simultaneität von Phänomenen / Ereignissen / Habitus unterschiedlichen »Alters« und »Tempos« nimmt zu. Die modernen Gesellschaften werden in diesem Sinn auch zu Ge22 H. Mendras, La Seconde Révolution française 1965–1984, Paris 1988.

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sellschaften, in denen die wachsende Komplexität der in ihnen hervorgebrachten Institutionen und Felder schließlich auch zur Koexistenz ganz unterschiedlicher Veränderungszeiten und Rhythmen nebeneinander führen. Es sind eher Ereignisse – sowohl die militärisch-politischen Großereignisse der Kriege, Bürgerkriege und Revolutionen als auch die neuen Medienevents –, welche kurzfristig Gleichzeitigkeit herstellen und die Eigenzeiten der Felder und Institutionen durchbrechen. Damit wäre aber auch ein gern gepflegter und verteidigter Gedanke der Zeitgeschichte für eine Gesellschaftsgeschichte Europas aufzugeben: nämlich die Vorstellung der Epochenzäsuren und der quasi substantiell gedachten Jahrzehnte oder Perioden mit ihren prägenden Merkmalen, die auf alles abfärbten. Der soziale Wandel mit den beiden Merkmalen Beschleunigung und Differenzierung wirkt aus sich heraus nicht in Richtung solcher Eindeutigkeit. Für die Sozialgeschichte bedeutet dies aber auch, dass sie auch in ihrer Darstellung evtl. zurückkehren muss zum Vorschlag Braudels, die historische Zeit als Sedimentierung unterschiedlicher Veränderungsstrukturen mit nur losen strukturellen Koppelungen zu begreifen.23 Das Problem der Periodisierung wird damit auf theoretischer Ebene verschärft, seine praktische Lösung in der Historiographie jedoch einfacher: Je nach Fragestellung und Handlungsfeld ergeben sich unterschiedliche Zäsuren und die Gesellschaftsgeschichte Europas wird sich mit fließenden Übergängen und regionalspezifischen Verschiebungen der Abläufe und Phänomene ge­ lassener abfinden, als es die Periodisierungsdebatten gemeinhin tun. Ein solches Vorgehen eröffnet zahlreiche neue Chancen für induktive Konzepte des sozialen Wandels der modernen Gesellschaften Europas im langen Zeithorizont seit dem 18. Jahrhundert. Aus dem je regional- bzw. nationalspezifischen Zusammentreffen langfristiger, langsamer Transformationsprozesse mit den kurzfristigen, synchronisierten Prozessen sowie den militärisch-politischen Ereignissen könnte dann ein auch in der Chronologie flexibleres Bild der europäischen Gesellschaften in ihrer Vielfalt entwickelt werden. Hier wäre dann in Übereinstimmung just mit der Theorie der Moderne nach den Eigendynamiken oder besser Eigenzeiten der unterschiedlichen »Teilsysteme« und Handlungsfelder zu fragen und die Kriegsjahre sowie die Weltwirtschaftskrise können dann als diejenigen Krisenjahre interpretiert werden, in denen diese Eigenzeitlichkeit z. T. außer Kraft gesetzt und dementsprechend strukturelle Verkoppelungen hergestellt wurden, die gerade mit Blick auf die Moderne eher unwahrscheinlich waren. Ob dabei die Doppelereignisse 1968 und 1973/74 – der Studentenprotest verstanden als Teil einer viel breiteren Kulturrevolution und die erste »Ölkrise« als Beginn einer neuen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung  – mit ihren Rückwirkungen auf andere Bereiche europaweit eine neue, damit gegenwärtige Phase der »Moderne« eingeleitet haben, werden künftige zeitgeschichtliche Studien zur europäischen Gesellschaftsgeschichte zu prüfen haben. 23 Braudel, Histoire et sciences sociales.

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5. Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation: Ein Deutungsmuster für die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

»Europäische Geschichte« hat in den letzten Jahrzehnten wachsende Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dieser Eindruck entsteht, wenn man den anhaltenden Strom von Übersichtsdarstellungen, Lehr- und Handbüchern auf dem deutschen Buchmarkt anschaut. Die Geschichte Europas scheint sich inzwischen auch in der universitären Lehre einen festen Platz erobert zu haben. Dabei erfreut sich die jüngste Geschichte, weit gefasst als Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, besonderen Zuspruchs unter Autoren wie Lesern. Doch deutet vieles darauf hin, dass diese Hochkonjunktur bereits ausklingt und dass die Schwierigkeiten und Probleme des Gegenstands und seiner historiographischen Behandlung nach der Phase euphorischer Entdeckung der europäischen Dimension deutlicher geworden sind. Das mag auch daran liegen, dass selbst unter deutschen Akademikern und Intellektuellen die Identifikation mit dem Projekt »Europa«, das immer mehr war als die Brüsseler Integration, aber hierzulande selten in Opposition zu deren Bemühungen um mehr europäische Gemeinsamkeiten stand, schwächer geworden ist. Die politische Euroskepsis wird gleichzeitig fachintern genährt durch den Aufstieg einer Globalgeschichte oder Internationalen Geschichte, deren Konturen hierzulande nicht zuletzt dank der inzwischen vorliegenden großen Synthesen immer deutlicher werden.1 Dagegen verblasst Europa als Gegenstand historiographischer Bemühungen und europäische Geschichte gerät zudem in den Verdacht, einem politischideologischen Artefakt die Weihen historiographischer Dignität zu verleihen, die es nicht verdient. Gleichzeitig erweist sich in der Konkurrenz um intellektuelle Aufmerksamkeit und Leserschaft die Nationalgeschichte zumindest für das 20. Jahrhundert als ein weitaus robusteres und attraktiveres Format, als es der hierzulande gerne beschworene Abschied von Nation und Nationalstaat erwarten ließ. Ein Gang durch die Regale selbst »großer« Buchhandlungen mit nennenswerten historiographischen Abteilungen belehrt uns darüber, was Fach­ autoren und Leserschaft vorrangig bewegt: die Geschichte eigener oder fremder

1 C. A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt a. M. 2008; J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahr­ hunderts, München 20105; E. S. Rosenberg (Hg.), 1870–1945. Weltmärkte und Weltkriege. Geschichte der Welt, hg. v. A. Iriye u. J. Osterhammel, Bd. 5, München 2012.

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Nationen.2 Jeder Versuch, historische Ereigniszusammenhänge und Veränderungsprozesse mit Bezug auf den geographischen Raum »Europa« zu analysieren und darzustellen, muss sich also sehr kritischen Fragen stellen. Diese intellektuelle Situation ist Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen, wie eine Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schreiben sei und welche Einsichten und Perspektiven ein solches Unter­ nehmen jenseits einer rein »regionalgeschichtlichen« Fragestellung zu bieten hat. Die Ausgangsfragen lauten dabei: Was prägte »Europa« als spezifischen Raum zwischen 1900 und 1945? Welche Grundmuster haben den Kontinent als Region einer Global- beziehungsweise Weltgeschichte in der Zeit der Weltkriege geprägt? Was bestimmte die großen »Trends«, aber auch die Erfahrungswelten der Menschen in diesem Kontinent? Damit ist eine Makroperspektive angesprochen, die keineswegs selbstverständlich ist: Europas Geschichte in der Zeit der Weltkriege, die jeweils als europäische Kriege begannen und dort  – trotz des pazifischen Kriegsschauplatzes während des Zweiten Weltkriegs  – ihren Hauptschauplatz hatten, ist nicht einfach Weltgeschichte. Die Ereignisse auf dem europäischen Kontinent waren aufs engste mit denen in anderen Weltregionen verbunden, doch lässt sich weder unter politisch-militärischer noch unter wirtschaftlich-sozialer oder kultureller Sicht irgendeine Dominanz oder gar Hegemonie europäischer Kräfte (seien es Armeen, Unternehmen, Wissenschaftler oder Künstler) im Weltmaßstab behaupten. Am Ausgang dieses Zeitraums steht eine weltgeschichtliche Konstellation, die den kapitalistischen Westen einem sozialistischen Osten gegenüberstellte, bei der Europa geteilt wurde und dauerhaft koloniale Machtpositionen, aber auch intellektuelle und kulturelle Ausstrahlungskraft verlor. Aus heutiger Sicht wird jedoch auch erkennbar, dass damit ein längerfristiger Prozess einsetzte, in dessen Verlauf zunächst westliche Regionen Europas, dann seit den 1970er Jahren der gesamte mediterrane Süden (und nicht nur wie bis dahin Italien) und seit 1989/1990 auch Mittelund Osteuropa Teil eines »Westens« beziehungsweise einer »westlichen Welt« wurden, deren geographischen und kulturellen Konturen dezidiert weltumspannend, deren machtpolitischen und wirtschaftlichen Grenzen jedoch viel enger gesteckt sind. Aus dieser Konstellation ergibt sich für den Geschichtsschreiber Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Aufforderung, leitende Kategorien der eigenen Analyse anschlussfähig zu halten für solche weltgeschichtlichen Entwicklungen. Grob lassen sich zwei typische Anknüpfungspunkte für eine Einbettung der europäischen Geschichte in weltgeschichtliche Zusammenhänge unterscheiden: 1. bietet der koloniale Nexus die Chance, die vielfältigen Wechselwirkungen und Verbindungen, die sich aus der Expansion europäischer Staaten, der Auswanderung europäischer Siedler und der weltweiten Ausdehnung europäischer 2 Hier seien nur die beiden auffälligsten Beiträge zur deutschen Nationalgeschichte genannt: H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, München 20025; H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, München 19963.

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Unternehmen ergeben haben, für die Geschichte des geographischen Raums »Europa« zwischen 1900 und 1945 systematisch einzubeziehen.3 2. bietet die Geschichte staatlicher Gewaltentfesselung vom »totalen Krieg« bis zu den vielfältigen Formen staatlicher Massengewalt von Deportation respektive Vertreibung bis zu staatlichem Massenmord und Genozid einen Zugang, der einen zentralen Aspekt der europäischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfasst und in eine universalhistorische Perspektive rückt.4 Beide Hinsichten sind aus meiner Sicht verbunden mit Perspektiven langer Dauer. Sie entfalten ihre Erklärungskraft gerade dann, wenn sie die Besonderheiten europäischer Gewaltentfesselung und Kolonialerfahrungen zwischen 1900 und 1950 einzuordnen vermögen in größere, das heißt aber auch zeitlich längere und räumlich beziehungsweise zivilisationsgeschichtlich übergreifende Fragestellungen. Damit sind zwei Leitthemen oder Problemstellungen benannt, auf die unten noch einmal zurückzukommen ist. Vorher muss jedoch noch einmal die Grundspannung analysiert werden, die in der Neuesten Geschichte Europas zwischen einer Geschichte der Region »Europa« und einer Geschichte beziehungsweise den Geschichten der europäischen Nationalstaaten besteht. Nach wie vor wird europäische Geschichte als Summe aller Nationalgeschichten dieses geographi­ schen Raums konzipiert und geschrieben. Intellektuell anspruchsvoller ist der Versuch, europäische Geschichte als eine Art Parallelgeschichte ausgewählter Nationen zu schreiben, um damit quasi im Vorbeigehen ein übergreifendes Entwicklungsmuster europäischer Nationalstaaten und ihrer jeweiligen Gesellschaften zu präsentieren.5 Dieses Panorama nationalspezifischer Sonderwege in den »Westen« führt nicht aus dem Horizont nationalzentrierter Geschichte heraus, deren Credo ja seit Herder ist, dass die endogenen Kräfte, wie sie sich in der konkreten Sozialordnung, Kultur, Sprache und Politikformen eines »Volkes« artikulieren, die prägenden Faktoren sind, auch wenn man die Dynamik exogener Faktoren (wie Industrialisierung oder »Modernisierung«) in Rechnung stellt. Europäische Geschichte bleibt in dieser Perspektive zwangsläufig ein Kunstprodukt historiographischer Abstraktion im ungemütlichen Zwischendeck zwischen National- und Weltgeschichte.

3 S. Conrad u. J. Osterhammel, Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1­ 871–1914, Göttingen 2004; S. Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 20102. 4 J. Zimmerer, Nationalsozialismus postkolonial. Plädoyer zur Globalisierung der deutschen Gewaltgeschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 57, 2009, S. 529–548; S. Audoin-Rouzeau u. A. Becker (Hg.), La violence de guerre: 1914–1945. Approches comparées des deux conflits mondiaux, Bruxelles 2002; N. M. Naimark, Flammender Haß. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008; J. Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Münster 2011. 5 U. Herbert (Hg.), Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert, München 2010 ff.

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Für die Geschichte der europäischen Nationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückten weltumspannende und internationale Zusammenhänge in der Gestalt von Kriegen, Revolutionen und Weltwirtschaftskrisen besonders bedrohlich und vielfach brutal in die Gemütlichkeit nationaler Traditionen und Trends ein. Dabei hat die deutsche Nationalgeschichte zugleich auch die Geschicke vieler anderer Nationalgeschichten nachhaltig beeinflusst. Diese »Übergriffe« oder Exporte sind zumal für einen deutschen Historiker alles andere als trivial, wenn es etwa darum geht, die nachhaltigen und vielfach tödlichen Spuren deutscher Besatzungspolitik in den beiden Weltkriegen als Teil einer europäischen Geschichte zu erfassen. Zur Zeit ist geschichtspolitisch zu beobachten, welche Effekte entstehen können, wenn etwa der nationalsozialistische Mord an den europäischen Juden »europäisiert« wird, also auch als Problem der Nationalgeschichten unserer Nachbarländer auftaucht. Dabei werden zuweilen Zusammenhänge der deutschen Geschichte auf eine europäische Ebene verschoben, auf der sie nur noch schwer angemessen verstehbar sind. Kurz gesagt: Das Spannungsverhältnis zwischen der besonderen Rolle der deutschen Nationalgeschichte mitsamt ihrer Deutungsmuster und einer europäischen Perspektive muss nicht nur reflektiert, sondern auch konkret in der historiographischen Praxis, also beim Schreiben einer europäischen Geschichte, beachtet werden. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Nationalgeschichte und europäischer Geschichte kann nicht einfach aufgelöst werden. Dazu sind die jeweiligen Perspektiven zu unterschiedlich. Vielmehr muss – so die These – eine Geschichte Europas die spezifischen Beziehungen zwischen den sich entwickelnden Nationen und Nationalstaaten als einen weiteren, dritten Ausgangspunkt für eine global- beziehungsweise weltgeschichtlich informierte und anschlussfähige Darstellung wählen. Was heißt dies konkret? Es führt wohl kein Weg daran vorbei, die fundamentale Differenz zwischen imperialen, kolonialen und »bloß« nationalen Kontexten nationalstaatlicher Entwicklung zu akzeptieren und zum Ausgangspunkt einer Beziehungs-, Transfer- und Konfliktgeschichte zu machen. Die Verbindungen mit anderen Regionen der Welt, aber auch die Reichweiten staatlichen Handelns, sind grundlegend anders zu beurteilen je nachdem, ob wir es mit Staaten oder Regionen in Europa zu tun haben, die selber als Kolonialmacht auftreten (1. Fall), zusätzlich oder davon unabhängig Großmachtstatus beanspruchen und imperialen Ambitionen auch in ihrer Gesellschaft und Kultur nachgehen (2. Fall) oder (3. Fall) nur als Nationen, d. h. als politische Gemeinschaften Souveränität besitzen oder (4. Fall) beanspruchen. Die folgende Übersicht mag dieses komplexe und spannungsreiche Neben­ einander für die Situation am Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlichen: Christophe Charle hat seine vergleichende Gesellschaftsgeschichte Großbritanniens, Frankreichs und des Deutschen Reiches als eine Krisengeschichte imperialer Gesellschaften entworfen. Damit weist er den Weg, wie man für den Zeitraum zwischen 1880 und 1945 Gemeinsamkeiten, wie Unterschiede des zweiten Typs national verfasster europäischer Gesellschaften herausarbeiten 158

Tab. 5.1: Staaten und Nationen in Europa 1900–1945 Imperien als Vielvölker­ staaten

Imperiale Nationen (Natio­ nalstaaten)

Koloniale National­ staaten

National­ staaten vor 1914

National­ staaten nach 1918

Osmanisches Reich

Großbritannien

Niederlande

Norwegen

Finnland

Zarenreich

Frankreich

Belgien

Dänemark

Estland

Habsburger

Deutsches Reich

Portugal

Schweden

Lettland

Monarchie

Italien

Spanien

Luxemburg

Litauen

Schweiz

Irland

Serbien

Türkei

Rumänien

Polen

Montenegro

Ungarn

Griechenland Albanien Bulgarien Multinationale Staaten nach 1918

Nationalbewegungen ohne Staat in der Zwischenkriegszeit

Tschechoslowakei

Katalanen

Basken

Jugoslawien

Ukrainer

Kroaten

Sowjetunion

Georgier

Armenier

kann.6 In jüngster Zeit wird freilich gerade unter deutschen Historikern ein Deutungsmuster gepflegt, das die Einheit des kurzen oder langen 20. Jahrhunderts betont und dementsprechend die Zeit der Weltkriege oder des europäischen Bürgerkrieges 1914–1945 als dramatische Episode in einen weiteren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stellt. Eric Hobsbawms erfolgreiche weltgeschichtliche Synthese eines kurzen 20. Jahrhunderts (1914–1989) als einer Epoche der Extreme, Marc Mazowers Geschichte Europas im 20. Jahrhunderts, schließlich die als Beitrag zur Geschichte Europas von Ulrich Herbert geplante und herausgegebene Serie von Nationalgeschichten in der Periode der Hochmoderne (1880–1970) stecken in jeweils unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen einen viel breiteren Horizont ab.7 Damit sind die Problemhorizonte und Begrifflichkeiten der Zeitgeschichte enorm ausgeweitet worden. In einer solchen Epochendeutung mittlerer Dauer, die mehr oder weniger 100 Jahre oder drei 6 C. Charle, La crise des sociétés impériales. Allemagne, France, Grande-Bretagne (1900–1940), Essai d’histoire sociale comparée, Paris 2001. 7 M. Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002; E. J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 19975.

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Generationsfolgen umfasst, kommt es zwangsläufig zu einer Einebnung der Besonderheiten der Weltkriegsepoche. Dies mag für eine gesellschafts- und kulturgeschichtliche Betrachtung ausgesprochen sinnvoll sein, die doch darauf angewiesen ist, hinreichend lange Zeiträume in den Blick zu nehmen, um die großen Trends sozialen und kulturellen Wandels jenseits der Moden und Ereignisse (den Schaumkronen der Ereignisgeschichte)  überhaupt wahrnehmen zu können. Eine solche Zeitperspektive ist auch vielversprechend im Fall von Nationalgeschichten, die nur indirekt durch die beiden Weltkriege und die politisch-sozialen Umbrüche in ihrem Gefolge betroffen waren – man denke etwa an neutrale oder nicht direkt am Krieg beteiligte Nationen wie die Schweiz, Portugal oder Schweden. Aus dem Blick gerät bei einer solchen Perspektive jedoch allzu leicht, dass ein ganzer Kontinent jenseits der eher kontinuierlich verlaufenden Basisprozesse wie Industrialisierung, Urbanisierung, Alphabetisierung einen grundlegenden machtpolitischen Rollen- und Positionswechsel erlebte: Die imperialen und nationalen Ambitionen, die Europa bis 1945 zu einem Treibhaus staatlicher Gewalt und militärischer Konflikte gemacht hatten, welkten nach dem Zweiten Weltkrieg rasch dahin. So traten Bellizismus, Zivilisierungsmissionen und Chauvinismus, wie sie die Befindlichkeiten Europas in der ersten Hälfte des Jahrhunderts nachhaltig geprägt hatten, deutlich in den Hintergrund mit dem Ergebnis, dass nicht nur das Europa der Gegenwart, sondern auch schon das geteilte Europa des Kalten Kriegs von 1970 eine Physiognomie entwickelt hat, die sich ganz deutlich von politischen Einstellungen um 1900, 1915 oder 1930 unterscheidet. Mentalitäten, Ordnungsmuster und die »Staatsräson« haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg und angesichts der Folgen der Epoche der Weltkriege signifikant verändert.

Die Konfrontation von Imperien und Nationen im Laboratorium der Moderne Es spricht also einiges dafür, die Welle der Zwangsmobilisierungen für nationale oder imperiale Macht, der Gewaltentfesselung, aber auch der Selbstmobilisie­ rungen und Partizipationsangebote zwischen 1900 und 1945 als Spezifika einer Situation zu begreifen, die nicht einfach als Nebenfolge der längerfristigen »Modernisierungen« oder der europäischen Modernen zu interpretieren sind. Man wird nicht daran vorbeikommen, dem Politischen für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts den Primat einzuräumen, wenn es darum geht, diese Besonderheiten zu erklären. Primat des Politischen meint an dieser Stelle das Gewicht machtpolitischer Ziele und zwischenstaatlicher Konflikte, die Politisierung von Alltag und Kultur sowie eine Hochkonjunktur für politische Ideologien und »Weltanschauungen«. Damit ist zugleich ein methodisches Problem angesprochen, das vor allem die Meistererzählungen der politischen Sozial- oder Gesellschaftsgeschichte betrifft: Sie hat die Prägekraft und die Eindringtiefe politischer 160

Ideologien, aber auch die Folgen politisch-militärischer Gewaltpraktiken (in Krieg und Bürgerkrieg) meist nur auf nationaler Ebene erforscht, seltener die internationale und europäische Ebene bedacht. Es ist aber gerade auf dieser Ebene viel besser möglich, die Grundmuster divergierender und konkurrierender Ordnungsentwürfe, die wechselseitigen Bezüge und übergreifenden Gemeinsamkeiten zwischen ihnen zu erkennen. Europa kann insofern bereits um 1900 als eines der »Laboratorien« der Moderne bezeichnet werden, weil in dieser Weltregion unterschiedliche, ideolo­gisch antagonistische Ordnungsentwürfe für die sich rasch wandelnden Gesellschaften in besonderer Verdichtung entwickelt worden sind. Dieses Laboratorium war jedoch nicht in einem politisch befriedeten Großraum lokalisiert, vielmehr fand sich alles, was dort entwickelt wurde, gleich in die politischen Großkonflikte der Staaten und Nationen eingespeist. Statt von einem »Labor« kann man deshalb auch von einem »Treibhaus« sprechen, so dass in thesenhafter Akzentuierung von einer wechselseitigen Verstärkung bei der Entwicklung konkurrie­ render Ordnungssysteme, imperialer Machtkonkurrenz und nationaler Dynamik gesprochen werden kann. Diese Trias, so die These, liefert ein halbwegs plausibles Erklärungsmodell für die Besonderheiten der europäischen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Andersherum heißt dies auch, vernachlässigt man eine der drei Seiten dieses Spannungsfeldes, wird es schwieriger, der Komplexität der Entwicklungen gerecht zu werden. 1. Das »Labor der Moderne«. Seit den 1880er Jahren wurden, wie bereits angedeutet, in den verschiedenen intellektuellen Zentren Europas ganz unterschiedliche Modelle für die Gestaltung der anhaltend dynamischen Zeiten konzipiert. Dabei variiert der Grad der grenzüberschreitenden Vernetzung unter den beteiligten Experten, Wissenschaftlern, Intellektuellen, Militärs und Politikern. Gleichwohl ist das Faktum der wechselseitigen Kenntnisnahmen ausgesprochen wichtig. Es hat die Herausbildung konkurrierender weltanschaulicher Ordnungskomplexe, die in jedem Fall von nationalspezifischen Akzenten und Schwerpunktsetzungen geprägt blieben, aber eine gemeinsame Handschrift erkennen ließen, ermöglicht. So ist Europa am Vorabend des Ersten Weltkriegs längst nicht mehr das Kraftzentrum liberaler Ordnungsmuster (das es noch um 1870 gewesen war!): revolutionär-sozialistische, reformsozialdemokratische, nationalistische, katholische und konservative Gegenentwürfe bestimmten die Debatten der Zeit und imprägnierten die konkreten Reformprogramme und Gestaltungsvorhaben, die in immer stärkeren Maße auch wissenschaftlich legitimiert oder generiert wurden. Zentralregierungen und kommunale Verwaltungen experimentierten mit den verschiedensten Modellen auf den Feldern von Bildung, Gesundheit, Armutsbekämpfung oder Sozialversicherung. Dabei waren sowohl national wie international Human- beziehungsweise Sozialwissenschaftler in vorderster Reihe engagiert, wenn es darum ging, praktische Lösungen für die vielen »Sozialprobleme« der Zeit, von der »Arbeiterfrage« bis zur »Ehekrise«, zu entwerfen. Alle ihre Interventionsangebote folgten der Gewissheit, dass die alten liberalen Vorannahmen über die Wirkmächtigkeit von 161

Markt, Rechtsstaatlichkeit und freiheitlicher Staatsverfassung allein nicht mehr ausreichten, um der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung, aber auch den kulturellen und machtpolitischen Herausforderungen der Gegenwart Genüge zu tun. Die Epoche der Weltkriege steht insofern europaweit auf den breiten ideengeschichtlichen Schultern der Jahrzehnte um 1900 (grob 1880–1914). Die Entfesselung des Krieges und dessen katastrophalen Folgen boten ihrerseits wiederum vielfältige Gelegenheiten für die Anwendung und Weiterentwicklung der Ordnungsideen aus dem »Labor« der Moderne. Vor allem sorgten die militärischen und sozialen Konfrontationen seit 1914 dafür, dass viele Ordnungsideen radikalisiert wurden. Aus dem Labor der Moderne ergaben sich die zahlreichen Baustellen des social engineering. Selbstverständlich ist der Aufstieg des social engineering zwischen 1910 und 1960 keineswegs ein nur europäisches Phänomen. Vielmehr ist ganz im Gegenteil an dieser Stelle die internationale und globalgeschichtliche Perspektive aufschlussreich, sollen die divergierenden Spiel­ arten dieser Form von Sozialintervention analysiert werden.8 2. Spezifika der europäischen Entwicklungen ergeben sich, auch darauf wurde bereits hingewiesen, aus dem Spannungsverhältnis zwischen imperialen und nationalen Kräften. Diese Grundspannung bestimmte die politischen Ordnungen Europas zwischen 1900 und 1945. Sie generierte die Konflikte und politischen Entscheidungen, die direkt in die beiden Weltkriege mündeten. Es ist allerdings fraglich, ob diesem Gegensatzpaar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der gleichen Gewissheit oder Prägnanz eine bestimmende Kraft für die europäische Staatenwelt zugeschrieben werden kann. Die vergleichenden Forschungen des letzten Jahrzehnts zu Imperien und Nation haben wichtige neue Erkenntnisse zu Tage gefördert. Doch sollte man nüchtern konstatieren, dass die Gesamtsicht auf das Europa der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts durch solche Studien keineswegs grundlegend verändert worden ist.9 Mit den Vielvölkerstaaten und Großreichen der Habsburger, R ­ omanows und Osmanen existierten drei imperiale Herrschaftsformationen, die bis 1917/1918 weite Teile Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie des östlichen Mittelmeerraums prägten. Sie bildeten Gegenpole und Beharrungskräfte gegen die vielfältigen Nationalbewegungen beherrschter Ethnien und Regionen, aber auch gegen die Nationalisierungsbestrebungen der in den Reichsverbünden dominierenden Völker oder Sprachgruppen (Russen, Deutschen, Ungarn und Türken). Mit der französischen Republik, dem Vereinigten Königreich und dem Deutschen Reich wiederum existierten drei Nationalstaaten, die zugleich imperiale Großmächte waren. Schließlich profilierte sich mit Italien am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein weiterer europäischer Nationalstaat, der koloniale Expansion mit 8 T. Etzemüller, Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009. 9 J. Leonhard u. U. von Hirschhausen (Hg.), Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2012; dies., Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, Göttingen 20112.

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weiterreichenden Großmachtambitionen verband. Damit existierten in Europa bereits sieben Herrschaftsverbände, denen ohne größere Schwierigkeit jene Kriterien imperialer Machtbildung zuzusprechen sind, wie sie idealtypisch Jürgen Osterhammel definiert hat. Gleichzeitig beteiligten sich alle sieben an der Machtdiplomatie innerhalb des internationalen Staatensystems. Außerhalb Europas waren auf internationaler Ebene nur noch Japan und die Vereinigten Staaten als neue imperiale Mächte am Ende des 19. Jahrhunderts hinzugekommen und spielten vor allem in Ostasien, im Pazifik und in Lateinamerika eine den europäischen Imperien ebenbürtige Rolle. Bekanntlich bestimmten Dynamik und Instabilität dieses internationalen Systems die daraus resultierenden Konflikte, dessen Epizentrum Europa bis 1945 blieb. Wesentlich ist, dass mit dieser Architektur nicht allein die außenpolitische Dimension bezeichnet ist. Die imperialistische Konkurrenz schuf jene Treibhausatmosphäre, die auch die innenpolitischen und sozialen Konflikte Europas affizierte. Folgt man dem Stand der Forschungen zur Geschichte des europäischen Staatensystems vor 1914 und in der Zwischenkriegszeit, so besteht kein Zweifel daran, dass Krieg aus imperialer Staatsräson und Expansion als letztes Ziel der Statussicherung oder Machtentfaltung in den Zentren politischer Entscheidungen sowohl 1914 und 1915 als auch 1935, 1939 und 1941 entscheidende Weichensteller waren. In dem hier vorgestellten Deutungsmuster spielt die imperialistische Normalität der Beziehungen zwischen den europäischen Großmächten eine bedeutsame Rolle als Brandbeschleuniger und Krisengenerator. Daraus ergeben sich in vergleichender Perspektive wiederum interessante Einsichten. Der Untergang der drei östlichen Imperien 1917/1918 bedeutete nicht einfach das Ende imperialer Gestaltungs- und Herrschaftsansprüche in dem von den drei Reichen beherrschten geographischen Raum. Stattdessen war bereits im Ersten Weltkrieg zu beobachten, wie angesichts der Krise der Habsburger Monarchie und des raschen Zusammenbruchs des Zarenreiches die politische und militärische Führung des Deutschen Reiches den »Osten« als Expansionsraum entdeckte.10 Auch nach Versailles betrieben die neu entstandenen Nationalstaaten in Ost- und Mitteleuropa ihre eigene Staatsgründung und Nationenbildung in ständiger Abwehr imperialer Revisionsansprüche. Im östlichen Mittelmeerraum wiederum beerbten Frankreich und Großbritannien das osmanische Reich, so dass hier die Bildung neuer Nationalstaaten (Libanon, Syrien, Palästina /  Transjordanien, Irak und Ägypten) nur gegen den Widerstand der neuen imperialen Zentralen durchzusetzen war. Mit der Sowjetunion und dem Deutschen Reich nahmen gleich zwei besiegte Mächte des Ersten Weltkriegs die imperialen Ambitionen ihrer Vorgängerregime auf und entwickelten sie in den 1930er Jahren weiter, hierin sekundiert von Italien, das seine eigenen Kriegsziele von 1915 unter faschistischer Führung und ab 10 V. G. Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002.

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1926 in einer Diktatur mit dem Ziel imperialer Großmachtbildung weiterverfolgte. Den zwei etablierten Imperialmächten Frankreich und Großbritannien standen damit drei expansionsbereite und revisionistische Konkurrenten gegenüber, eine Konstellation, die bekanntlich im August 1939 von Hitler zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs genutzt wurde. Mit Blick auf das übergreifende Deutungsmuster kommt es mir an dieser Stelle nur darauf an, die Kontinuitätslinien von 1880 beziehungsweise 1900 bis 1941/1945 aufzuzeigen, um die Differenz zur Situation nach 1945 hervorzu­ heben. Imperiale Konkurrenz hörte mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8./9. Mai 1945 auf, ein treibendes und gestaltendes Element der innereuropäischen Staatenbeziehungen zu sein. Mit der Sowjetunion und der USA waren zwei imperiale »Supermächte« aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen, die den verbliebenen imperialen Mächten Großbritannien und Frankreich nur noch einen Platz als Juniorpartner der USA zugestanden. Die Teilung Europas fror die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Supermächten für mehr als drei Jahrzehnte in dieser Weltregion ein. Französische und britische Politiker brauchten noch bis 1956, um auch diplomatisch und militärpolitisch den Zweiten Weltkrieg endgültig als fait accompli anzuerkennen. Auf die vielfältigen Erscheinungsweisen und Folgen dieser imperialen Grundspannung für Gesellschaften und Kultur Europas ist in einem nächsten Schritt einzugehen. Doch das ist erst möglich, nachdem man den Gegenpol imperialer Machtambitionen und Herrschaftsformen betrachtet hat. Denn die »Nation« war im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts die erfolgreichste politische und soziale Ordnungsidee. Entgegen der landläufigen Vorstellung vom 19. Jahrhundert als dem Jahrhundert des triumphierenden Nationalismus und des Nationalstaats setzten sich Nation und Nationalstaat in Europa erst im 20. Jahrhundert definitiv und allerorten durch. Bekanntlich gilt dieser Befund nicht nur für Europa, sondern erst recht für Asien und Afrika. Selbst in Lateinamerika beschleunigte sich der Prozess innerer Nationenbildung vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Nationalbewegungen und Nationalismus blieben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die stärksten Kräfte, soweit es um Bestrebungen ging, Menschen unterschiedlichster sozialer Lage für politische Ziele zu mobilisieren. Partizipationsversprechen im Namen künftiger oder auch im Rahmen bestehender politischer Nationen waren die breitenwirksamste Form, in der übergreifende Forderungen nach größerer sozialer Gleichheit und nach mehr politischer Teilhabe Ausdruck und Gehör fanden. In ihrer Mobilisierungskraft und ihrem Gestaltungspotential blieb die Nation als politisches Ordnungsmuster den Imperien oder Reichen in Europa haushoch überlegen. Auch die politischen Führungen der drei imperialen Nationen Deutschland, Frankreich und Großbritannien mobilisierten in beiden Weltkriegen die eigene Bevölkerung am wirkungsvollsten dadurch, dass sie diese Kriege als patriotische Kriege der Selbstbehauptung, Selbstverteidigung oder nationalen Revanche propagierten. Dies gilt selbst für das nationalsozialistische Deutschland, dessen politische Führung einen bereits verlorenen imperialen Eroberungskrieg in der Defensive 164

zwischen 1942 und 1945 als einen nationalen Überlebenskampf führte und damit die Mehrheit der Bevölkerung erfolgreich an das eigene Schicksal band. Auch die sowjetische Führung griff neben dem erprobten Mittel terroristischer Gewalt zur patriotischen Mobilisierung der Sowjetvölker, allen voran der russischen Nation. Übergänge und Verknüpfungen zwischen imperialistischen, nationalistischen und sozialpatriotischen Ideologien gehörten zu den typischen Erscheinungsformen der politischen Ideenwelt und der Parteienlandschaft Europas zwischen 1914 und 1915. Hagen Schulze hat mit Blick auf die Epoche von der Phase des »totalen Nationalstaats« gesprochen.11 Dies trifft meines Erachtens prägnant den Sachverhalt, um den es hier geht: Die Belastungen der Kriege, aber auch die Übersteigerungen imperialer Konkurrenz schufen einen spezifischen politischen Handlungsbedarf für radikale Ordnungsentwürfe, die den vielen »bedrohten« Nationen in der Zwischenkriegszeit die Sicherung der eigenen Existenz versprachen. Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges inspirierten insbesondere drei Leitkonzepte, welche die Stärkung der Nation angesichts der vielfältigen externen und internen Bedrohungen in den Mittelpunkt rückten: Dies waren erstens die Konzepte einer politischen Ordnung nach dem Vorbild der Nation in Waffen, also einer Gesellschaft mit autoritärer Führung, hierarchischer Ordnung und interner Geschlossenheit, zweitens die Idee einer ökonomisch-sozialen Ordnung der Nation nach dem Vorbild der staatsgelenkten Kriegswirtschaft und schließlich drittens die Idee einer kulturellen Ordnung, einer gegen äußere Feinde abgeschotteten, von inneren Feinden gereinigten, homogenen nationalen Volks- und Kulturgemeinschaft. Kombinationen dieser drei Ordnungsideen zur Stabilisierung und Mobilisierung »bedrohter« Nationen prägten die politischen Programme autoritärer und totalitärer Regime. Sie alle trachteten danach, die nationaldemokratischen Verfassungen und die liberalen Wirtschafts- und Sozialordnungen zu überwinden, die in ganz Europa gestärkt aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen waren, aber schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf vielfältige Schwierigkeiten stießen und in Krisensituationen gerieten.12 Diese bellizistisch-autoritäre Seite nationalstaatlicher Stabilisierung in der Kriegs- und Zwischenkriegszeit war zweifellos stark. Sie muss jedoch mit einer zweiten, nicht minder starken politisch-gesellschaftlichen Strömung zusammengesehen werden, die sowohl in der Schlussphase des Ersten wie auch derjenigen des Zweiten Weltkriegs große Mobilisierungskraft entfaltete: Demokra­ tische und egalitär-sozialistische Strömungen verbanden sich mit der Idee einer (Neu)Gründung der eigenen Nation. Sie konkretisierten das Partizipationsversprechen, wie es in die Idee der politischen Nation eingeschrieben ist, zu Forderungen nach umfassender Demokratisierung von Staat und Wirtschaft. Die Welle der Nationalstaatsgründungen zwischen 1917 und 1922 (von Finnland bis 11 H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, S. 278–317. 12 L. Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, S. 186–196.

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zur Türkei, von Irland bis Georgien) war mit einer noch viel größeren, auch die bereits etablierten Nationalstaaten erfassenden Demokratisierungswelle verbunden, bei der neue sozialpolitische Bürgerrechte und -ansprüche durchgesetzt wurden. Die breite Bewegung des politischen und militärischen Widerstands gegen die nationalsozialistische Besatzung, die sich im Zweiten Weltkriegs, vor allem seit 1943, formierte, führte ihrerseits zu einer Welle nationaldemokra­ tischer Erneuerung und zur Radikalisierung jener Partizipationsversprechen, die mit der Nationalidee in Europa untrennbar verbunden sind.13 Blickt man nicht von den imperialen Machtzentren, sondern von den vielen Zentren der übrigen europäischen Nationen auf die politische Gesellschaftsgeschichte Europas zwischen 1914 und 1945, schaut man also von Helsinki, Dublin oder Bukarest auf diese Epoche, so ist sie im Kern eine dramatische Phase der Verteidigung und Sicherung oder der Eroberung und des Verlusts nationaler Selbständigkeit und nationaldemokratischer Partizipation. Unter diesem Blickwinkel stellt der wirkliche oder vermeintliche Kampf gegen die nationalsozialistischen, faschistischen und sowjetischen Besatzer zwischen 1939 und 1947 (nicht nur bis 1945!) einen Höhepunkt nationaler Mobilisierung dar. Er ist typischerweise ein Kernelement der nationaldemokratischen Erinnerungskultur geblieben und seit 1990, also jenem Jahr, in dem die demokratische Nationalidee eine neue Welle der Mobilisierungen auslöste, in vielfacher Weise umgedeutet worden. Imperiale Konkurrenz und Expansion auf der einen und nationale (Gegen) Mobilisierung auf der anderen Seite steigerten sich wechselseitig. Sie ermöglichten die Gewaltentfesselung der zwei Weltkriege in Europa, doch stehen sie auch im Hintergrund der Bürgerkriege und sozialen Revolutionen, die sich in dieser Periode häuften. Vor allem lieferten sie jedoch die politischen Letztbegründungen für die vielfältigen kulturellen und sozialen Ordnungsideen, die im »Labor« der Moderne seit 1900 entwickelt und erprobt wurden. Eine solche Deutung hält daran fest, dass das Partizipationsversprechen der Nation in der Gesamtdynamik der Epoche keineswegs verschwand oder unter­ ging. Ganz im Gegenteil: Erst die Demokratisierungswelle nach dem Ersten Weltkrieg schuf die Voraussetzungen für die totalitäre Umformung demokratischer Partizipationsversprechen, wie sie im faschistischen Italien, dem nationalsozialistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion zu beobachten waren. Es lag in der Logik dieses Mobilisierungsdrucks und -potentials, dass die drei neuen imperialen Mächte Italien, Deutsches Reich und Sowjetunion im Zweiten Krieg auf die totalitäre Steigerung ihrer Herrschaft setzten, um im Kampf gegeneinander und gegen die liberal-demokratischen Westmächte zu bestehen. Typischerweise blieben die vielen autoritären Regime, die sich dem bescheideneren Ziel einer Stabilisierung oder Rettung ihrer Nation verschrieben, von diesem Schub totalitärer Radikalisierung weitgehend verschont. 13 Ebd., S. 82–93.

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Damit wird  – dies sei zugegeben  – die Geschichte Europas zwischen 1914 und 1945 natürlich nicht vollständig umgeschrieben. Es geht eher darum, diese Phase dramatischer ereignisgeschichtlicher Zuspitzungen erstens in größere weltgeschichtliche Zusammenhänge einzuordnen, zweitens darum, die besonders engen Wechselwirkungen zwischen Kultur, Politik und Gesellschaft in dieser Zeit besser zu verstehen und drittens darum, die Zusammenhänge und Berührungspunkte zwischen den politischen Extremen jenseits des Totalitarismuskonzepts nachzuvollziehen. Die weltgeschichtlichen und internationalen Bezüge dieses Deutungsmusters liegen auf der Hand: Zum einen gilt es, die kolonialen und imperialen Dimensionen der europäischen Geschichte ernst zu nehmen. Dass gleich mehrere westeuropäische Demokratien (Frankreich, Belgien, die Niederlande, Großbritannien) auch Kolonialmächte waren, zwei von ihnen als imperiale Mächte agierten und die Stabilisierung ihrer liberalen Ordnungen von der Sicherung sowie der Weiterentwicklung ihrer kolonialen Herrschaft und Wirtschaft profitierten, muss Berücksichtigung finden. So können etwa die 1930er Jahre als ein Höhepunkt kolonialwirtschaftlicher Verflechtung zwischen den Mutterländern und ihren Kolonien gelten und gleichzeitig auch als Hochzeit imperialer Propaganda betrachtet werden. Gerade die Weltwirtschaftskrise erhöhte den symbolischen und realen Wert der Kolonialwirtschaft für diese Demokratien. Die imperialgeschichtliche Perspektive zwingt zum anderen aber auch dazu, genauer nach dem Formwandel imperialer Herrschaft zu fragen. Mit der Übertragung kolonialer Methoden der Eroberung und Herrschaftssicherung auf Europa betraten die expansionistischen Imperien Neuland. Die Organisationsformen deutscher Okkupation, vor allem jedoch die Wahrnehmungsmuster deutscher Besatzer in den eroberten / besetzten russischen Gebieten im Ersten Weltkrieg belegen derartige Transfers. Die italienische Herrschaft in Albanien wie Griechenland, schließlich das Besatzungsregime des Deutschen Reichs in Polen und der Sowjetunion entwickelten erstmals Konzepte kolonialer Herrschaftsordnung innerhalb Europas, übrigens in Ergänzung respektive Fortführung geplanter oder realer Kolonialherrschaft in Übersee. Insbesondere die nationalsozialistische Germanisierungsvision negierte dabei die historische Wirkmächtigkeit der nationalen Idee in Europa. In ihrer Brutalität und Gewaltsamkeit übertraf diese Praxis innereuropäischer Kolonialherrschaft selbst die bereits niedrigen humanitären Standards europäischer Kolonialherrschaft in Afrika oder Asien.14

14 D. Beyrau, Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin, Göttingen 2000.

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Drei Beispiele: Politisierung des Alltags, Techniken der Vergemeinschaftung und Beschleunigungsdiktaturen Das Deutungsmuster »imperiale Gewalt und mobilisierte Nation« in Verbindung mit der Idee eines »Laboratoriums der Moderne« kann vor allem für zwei große Themenfelder der europäischen Sozial- und Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit fruchtbar gemacht werden. Zum einen geht es um die vielen Kulturkämpfe dieser Epoche.15 Europa erlebte eine enorme Politisierung von Fragen des Konsums, der Alltagskultur oder der Lebensführung breiter Bevölkerungsschichten. Etabliert ist das Konzept, die Deutungskämpfe der Zeit­ genossen etwa um das Auftreten junger Frauen (der »Bubikopf«), um Sport oder Leibesübungen, um amerikanisches Kino und amerikanischen Massenkonsum als Konflikte im Prozess der Ablösung »traditionaler« durch »moderne« Formen des Konsums und der Lebensführung zu beschreiben. Damit wird jedoch eine ganz wesentliche Dimension dieser Konflikte ausgeblendet oder zumindest unterschätzt: Überall handelte es sich bei diesen Konflikten um Fragen nationalkultureller Identitäten. Patriarchalisch fundierte Ordnungsmuster wurden nationalpolitisch aufgewertet und radikalisiert. Die Debatten um die Geschlechterordnung liefern vielfältige Zeugnisse für eine solche nationalpolitische Grundierung. Gerade die vielen seit den 1920er Jahren aufkommenden autoritären Regime profilierten sich als Gralshüter nationaler Traditionen. Das Überfremdungssyndrom verbreitete sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit über ganz Europa – ohne allerdings die Neugierde der Menschen angesichts der neuen kulturellen Attraktionen und ihre Aufgeschlossenheit für neue Konsumartikel und Moden ernsthaft von innen einzuschränken. Immer wieder galten dabei Amerika und mit deutlichem Abstand die Sowjetunion als Herkunftsorte besonders gefährdender Neuerungen. Verbote und Beschränkungen waren insofern eher Zeichen der Hilflosigkeit als wirksame Mittel im vermeintlichen Abwehrkampf bedrohter nationalkultureller Ordnungen. Dabei sollte freilich nicht vergessen werden, dass die Spielräume für die Verbreitung dieser neuen Kulturangebote von Einkommenslage und Zugänglichkeit abhingen. Die ländlichen Gesellschaften blieben in dieser Hinsicht vielfach sozialromantisch verklärte Horte »nationaler« Traditionen. Zum anderen hatte das social engineering in den Jahrzehnten zwischen 1920 und 1970 weltweit seine Hochzeit.16Seine Exponenten profitierten als Stadt­ entwickler, Raumplaner, Sozialexperten, Demographen und Familienplaner von 15 Raphael, Gewalt, S. 131–165. 16 D. Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010; T. Luks, Der Betrieb als Ort der Moderne, Bielefeld 2010; A. von Saldern, »Alles ist möglich« Fordismus – ein visionäres Ordnungsmodell des 20. Jahrhunderts, in: L. Raphael (Hg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln 2012, S. 155–192.

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dem einzigartigen Krisenszenario, das während der Epoche der Weltkriege in den meisten Ländern Europas vorherrschte. Es verschaffte ihren Interventions­ programmen jene Dringlichkeit entschiedenen Krisenhandelns, ja radikaler Lösung akuter sozialer Fragen, welche die eigene Nation zu destabilisieren drohten. Nationale Selbstbehauptung oder Effizienzsteigerung waren gängige Argumente für den Einsatz entsprechender Eingriffe. Die Zeitspanne für Interventionen und deren Wirksamkeit war, wie Thomas Etzemüller herausgearbeitet hat, in der Regel kurz bemessen – entsprechend groß fielen die Versprechen der Sozialingenieure aus.17 Typischerweise rückten die Sozialingenieure dieser Jahrzehnte die Dimension der Vergemeinschaftung (zentral für die nationale Ordnung!) immer wieder in den Mittelpunkt ihrer Programme. Politik und Öffentlichkeit waren – so meine These – in der Zwischenkriegszeit besonders anfällig für das Versprechen der Sozialexperten, neue Vergemeinschaftungs­ formen vom Reißbrett aus entwerfen und realisieren zu können. Schließlich zeigen sich drittens zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den drei radikalen Diktaturen, die Europa in den dreißiger und vierziger Jahren tiefgreifend verändert haben: Die vergleichende Diktaturforschung hat in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht, so dass wir heute Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Regimes Mussolinis, Hitlers und S­ talins nuancierter und präziser identifizieren können.18 Vor allem hat die Verlagerung der Perspektiven  – von den Intentionen der Regime zu den Folgen für die zahlreichen Opfer und zu den wechselseitigen Einflussnahmen – dazu geführt, dass die Radikalität staatlicher Gewaltentfesselung und der Grad der Mobilisierung von Menschen sowie aller symbolischen oder materiellen Ressourcen zu einem wesentlichen Bezugspunkt des historischen Vergleichs geworden sind.19 Das hier vorgestellte Deutungsmuster vermag meines Erachtens keineswegs eine umfassende »Erklärung« für die Gewaltexzesse und Mordprogramme zu liefern, die vor allem im nationalsozialistischen Deutschland und in der stalinistischen Sowjetunion befohlen und in die Tat umgesetzt worden sind. Doch ist andererseits unschwer zu erkennen, dass die imperialen Ambitionen der drei Diktaturen ein wesentliches Erklärungselement liefern für die Radikalisierung der drei Regimes: In allen drei Fällen war den Diktatoren und ihren Getreuen 17 T. Etzemüller, »Strukturierter Raum – integrierte Gemeinschaft. Auf den Spuren des social engineering in Europa im 20. Jahrhundert – eine Skizze«, in: Raphael, Theorien, S. 129–154. 18 R. Bessel (Hg.), Fascist Italy and Nazi Germany. Comparisons and Contrasts, Cambridge 1998; R. Overy, Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland, München 20062; L. Klinkhammer u. a. (Hg.), Die »Achse« im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung, 1939–1945, Paderborn 2010; S. Reichardt u. A. Nolzen (Hg.), Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen 2005; J. Zarusky (Hg.), Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge der Forschung, München 2006. 19 Beyrau, Schlachtfeld; D. Pohl, »Nationalsozialistische und stalinistische Massenverbrechen – Überlegungen zum wissenschaftlichen Vergleich«, in: Zarusky, Stalin, S. 253–264; jüngst T. Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 20124; vgl. dazu die Debatten in Journal of Modern European History, Jg. 10, 2012, S. 289–214.

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daran gelegen, einen expansionsfähigen Machtstaat aufzubauen. Und alle drei Diktatoren sahen in der Anwendung von Gewalt und der Mobilisierung ihrer Gesellschaften das probate Mittel, um dieses Ziel schneller erreichen zu können. Alle drei Diktaturen waren auf Grund ihrer Einschätzung der weltpolitischen, das heißt auch imperialen Konstellationen, Beschleunigungsdiktaturen: Sie glaubten nur über kurze Handlungsfristen zu verfügen, was die Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen und machtpolitischen Visionen anging. Der vermeintliche Kampf gegen den »Lauf der Zeit« kulminierte bekanntlich in der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs. Im Fall des nationalsozialistischen Deutschland und des faschistischen Italiens war auch die regimespezifische Utopie eines »Neuen Menschen« untrennbar mit dem Projekt verbunden, eine imperiale Gesellschaft auf rassistischer Grundlage zu schaffen.

Ausblick: Europa als Provinz west-östlicher Welten 1950 war in Europa das Ordnungsprinzip des Nationalstaats siegreich aus der Konfrontation zwischen den imperialen Mächten hervorgegangen. Genauer gesagt war der Nationalstaat nunmehr das einzige Ordnungsmuster, das die Siegermächte als Grundlage stabiler gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse in Europa akzeptierten. Insbesondere die Mordprogramme, Vertreibungen, Fluchtbewegungen und Umsiedlungen der Jahre 1940–1949 besiegelten eine Entwicklung, die bereits in den Balkankriegen 1912/1913 und im Ersten Weltkrieg begonnen, jedoch in der Germanisierungspolitik des Nationalsozialismus sowie den sowjetischen Zwangsdeportationen ethnischer Gruppen ihre gewalttätigen Höhepunkte gefunden hatte. Imperiale Ordnungen auf Abruf und im Prozess der Abwicklung waren das britische Empire und das französische Kolonialreich. Auf europäischem Boden existierte damit nur noch die Sowjetunion als ein Imperium mit Zukunft. Ihm wurden beim »brutalen Frieden« 1945 für weitere fünfundvierzig Jahre denn auch Nationen und Territorien einverleibt, die bereits 1918 ihr Recht auf nationalstaatliche Souveränität respektive Eigen­ existenz erkämpft hatten. Die sorgfältige Einteilung der europäischen Staaten in die beiden westlichen und östlichen Blöcke sowie die Gruppe der Neutralen fixierte für vierzig Jahre die politischen Spannungslinien und trug dazu bei, die nationalstaatliche Ordnung Europas weiter zu konsolidieren. Europa war kein Labor der Moderne mehr, jedenfalls nicht mehr in der exponierten Form, wie sie die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gekannt hatte. In der Nachkriegszeit orientierten sich die Sozialingenieure, aber auch die Intellektuellen und Wissenschaftler, nolens volens an den Modellen, die nun in den beiden Supermächten, in den USA und der Sowjetunion, entwickelt und propagiert wurden. Beide Imperien dehnten ihre Zivilisierungsmissionen und universalistischen Programme auf ihre jeweiligen Einflusssphären in Europa aus. Diese Exporte folgten bekanntlich ganz unterschiedlichen Methoden. Im Fall des atlantischen 170

Bündnisses kam es zu einer vergleichsweise komplexeren Konstellation wechselseitiger Beeinflussung, die am besten mit dem Konzept der »Westernisierung« für die besiegten Länder, insgesamt aber als Herausbildung eines neuen »Westen« zu bezeichnen ist. Diese westliche Welt entwickelte bald auch gemeinsame internationale Organisationsformen (wie UNO, UNESCO und OECD) für die neuen Labore der Moderne, die in den ersten beiden Jahrzehnten nach Kriegsende zunächst einmal als Programme und Experimentierfelder von »Modernisierung« und »Entwicklung« operierten. Der »westlichen Welt« ordneten sich dabei von Anfang an mehr europäische Nationen zu, als das militärisch-politische Bündnis der NATO einschloss. Freilich ragte die Anziehungskraft dieses demokratischen, sozialstaatlichen und kapitalistischen Modells weit in die Sphäre des sowjetischen Imperiums hinein. Es steckte damit den Rahmen ab, in dem sich der Prozess der Integration der europäischen Nationalstaaten seit den 1950er Jahren und über die Zäsur 1989/1990 hinaus vollzieht. Damit brach aber definitiv eine neue Phase in der Entwicklung der europäischen Nationen an. Sie ist nicht mehr aus jener Grundspannung zwischen Imperien und Nationen sowie widerstreitenden Ordnungsideen zu erklären, die zwischen 1900 und 1945 derart massiv die Geschichte des Kontinents geprägt hatte. Literaturverzeichnis Audoin-Rouzeau, S. u. A. Becker (Hg.), La violence de guerre: 1914–1945. Approches comparées des deux conflits mondiaux, Bruxelles 2002. Bayly, C. A., Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt a. M. 2008. Bessel, R. (Hg.), Fascist Italy and Nazi Germany. Comparisons and Contrasts, Cambridge 1998. Beyrau, D., Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin, Göttingen 2000. Charle, C., La crise des sociétés impériales. Allemagne, France, Grande-Bretagne (1900–1940), Essai d’histoire sociale comparée, Paris 2001. Conrad, S. u. J. Osterhammel, Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004. Conrad, S., Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 20102. Rosenberg, E. S. (Hg.), 1870–1945. Weltmärkte und Weltkriege. Geschichte der Welt, hg. v. A. Iriye u. J. Osterhammel, Bd. 5, München 2012. Etzemüller, T., Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009. Etzemüller, T., Strukturierter Raum – integrierte Gemeinschaft. Auf den Spuren des social engineering in Europa im 20. Jahrhundert – eine Skizze, in: L. Raphael (Hg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln 2012, S.129–154. Herbert, U.(Hg.), Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert, München 2010. Hobsbawm, E. J., Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 19975.

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6. Nach dem Boom: Neue Einsichten und Erklärungsversuche1 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael

I. Zeithorizonte Erstaunliches ist geschehen. Die Zeithistorie hat die gewohnten Pfade des beharrlichen Voranschreitens durch die Dekaden verlassen. Selbst die Sperrfrist der Archive, die berühmte Dreißig-Jahres-Frist, wird nicht mehr als Argument herhalten, um Forschungsfragen zu unterbinden und gegenwartsnahe Unter­ suchungen zu tabuisieren. Die Zeitgeschichte hat sich darauf eingelassen, eine Problemgeschichte der Gegenwart zu werden. Ein solcher Aufbruch aus liebgewonnenen, aber erkenntnisarmen Routinen war eines der Ziele, die wir in den Jahren 2007/2008 mit dem Forschungsprogramm in unserem knappen Aufriss »Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970« verbanden.2 Seither ist eine ganze Reihe von Beiträgen erschienen, die die empirischen Grundlagen der – wie wir sie nennen – gegenwartsnahen Zeitgeschichte erheblich erweitert haben. Diese Studien tragen dazu bei, die Eigenart der jüngsten Vergangenheit präzise und nuanciert erkennen zu können. Der Zeithorizont in den aktuellen Debatten ist zum Teil deutlich ausgeweitet worden und umfasst inzwischen gut und gerne ein halbes Jahrhundert, wenn es um Kontroversen über Theorien wie »Wertewandel«, Finanzmarktkapitalismus, zweite respektive Post- oder Spätmoderne geht oder um die Frage, welche sozialwissenschaftlichen Diagnosen und Daten für die historische Urteilsbildung verwendet werden können. Vor allem kulturhistorische beziehungsweise mentalitäts- und konsumhistorische Befunde datieren die Anfänge des Auf- und Umbruchs zu unserer Gegenwart auf die Mitte der 1960er Jahre, doch abgesehen davon wird inzwischen mehrheitlich die Zeit »um 1970/1975« mit der summarischen Bezeichnung »nach dem Boom« zur Markierung dieser Anfänge gewählt. In den einschlägigen Debatten beziehen sich viele Argumente auf heutige Befunde, nehmen also den Präsentismus der Zeitgeschichte als Möglichkeit heuristischen Fortschritts ganz ernst, wenn sie die Anfänge von 1 Aktualisierte und überarbeitete Fassung der Einleitung mit gleichem Titel zu dem Band: A. Doering-Manteuffel u. a. (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016. 2 Vgl. A. Doering-Manteuffel u. L. Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; die 3., ergänzte Auflage, nach der hier zitiert wird, datiert von 2012.

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aktuellen Gegebenheiten im Guten wie im Schlechten in den zurückliegenden fünf Jahrzehnten aufsuchen. Für die gegenwartsnahe Zeitgeschichte ist das ein ungewohnt langer Zeitraum, und er sollte auch nicht anders verstanden werden denn als Bestandteil der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt auch als Bestandteil der Moderne seit 1800. Die Zeitgeschichte umfasst das gesamte 20. Jahrhundert, wie die heftigen internationalen Debatten über die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für das Selbstverständnis der Zeitgenossen von 2013/2014 zeigen, und sie ist nur aus den Entwicklungslinien seit der Aufklärung, der Französischen Revolution und der Neuordnung Europas nach dem Wiener Kongress zu verstehen.3 Ohne Reflexion über diese weiteren Bezüge kommt auch die Debatte über die gegenwartsnahe Zeitgeschichte nicht aus. Diese Flexibilität der Zeithorizonte deckt unterschiedliche Sachverhalte auf. Sie verdeutlicht, dass es Problembezüge sind, welche die Zeithorizonte bestimmen und nicht umgekehrt. Die Pluralität von Zeitbegrenzungen, die in den Untersuchungen sichtbar wird, aber auch von Basisprozessen, Trends oder Ereigniskomplexen stiftet keine Verwirrung, sondern vertieft die Erkenntnis, auch wenn die Zeitgeschichte darüber in ein Nebeneinander, ein scheinbares Durcheinander, von Zeitbezügen hineingerät, das angesichts der Routine in dekadologischer Chronologie verwirrend sein mag. Die Debatte über die Frage, ob jenseits dieser Pluralität der Problem- oder Partialzeiten noch andere Epochengrenzen zu definieren sind, ist nach wie vor im Gang. Themen, Fragestellungen und Untersuchungsgegenstände definieren den spezifischen Horizont des Erkenntnisinteresses und können es nahelegen, andere historische Grenzlinien als die allseits gewohnten zu postulieren. Niemand wird widersprechen, wenn darauf hingewiesen wird, dass der eine oder andere Trend viel früher eingesetzt hat oder dass für eine bestimmte Fragestellung andere Zäsuren maßgeblich sind als jene, die wir seinerzeit aus unserem damaligen Erkenntnisinteresse postuliert haben. Die Periodisierungsdiskussion weiterzuführen, lohnt sich allemal. Dies bleibt aber an das gegenseitige Einverständnis gebunden, dass es nur darum gehen kann, jenseits der Kontinuitäten in den Basisprozessen und jenseits der spezifischen Veränderungsrhythmen in einzelnen Handlungsfeldern oder Institutionen über die übergeordneten Trends und Wechselwirkungen in ihrer zeitlichen Dimension zu diskutieren. Nur so lässt sich die Debatte auf den entscheidenden Punkt konzentrieren, denn es geht um die Frage, welche Zäsuren gleichermaßen bedeutungsvoll waren und erklärungsstark sind, wenn wir Historiker nach einem Epochenzusammenhang suchen. Das macht es auch erforderlich, weitaus offener als in der Vergangenheit über den Nutzen einer solchen narrativen Bündelung  – die ja keineswegs eine autoritative Homogenisierung 3 Als prominentes neues Beispiel für den Zusammenhang von »Ordnung« für Staaten und Gesellschaften vgl. H. Kissinger, World Order, London 2014, und die nachdenkliche Würdigung des Buchs durch N. Ferguson, K of the Castle. H. Kissinger’s guide to the confusions of foreign policy in a world without the old order, in: The Times Literary Supplement, 28.11.2014, S. 3 ff.

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sein soll – zu reden, weil von kulturhistorischer Seite nach wie vor grundsätzliche, in der Foucault-Orientierung verankerte Vorbehalte gegen eine solche »Meistererzählung« bestehen. Will die Zeitgeschichte sich nicht in ihre Teil­ disziplinen auflösen, bleibt ihr nicht viel anderes übrig, als diese Spannung zwischen der Eigenzeitlichkeit autonomer Handlungsfelder mit je spezifischen Pfadabhängigkeiten und Pfadwechseln einerseits und der Durchschlagskraft synchroner Trends und Umbrüche andererseits zur Kenntnis zu nehmen und produktiv auszugestalten. Ungeachtet einiger Polemiken und manchen Dissenses lässt sich aber ein stilles Einverständnis darüber feststellen, dass der Periodisierungsvorschlag »nach dem Boom« mit dem Postulat des Beginns »um 1970/1975« manch hilfreichen Anhaltspunkt für den Beginn einer neuen Ära liefert. Nur wenige Stimmen plädieren noch dafür, mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland die 1970er Jahre von den 1980er Jahren zu trennen und als Jahrzehnte mit je eigener historischer Signatur auszumalen. Darin unterscheidet sich die deutsche Zeitgeschichte ganz deutlich von ihren Schwestern bei einigen unserer europäischen Nachbarn. Auch ist der Kreis derjenigen kleiner geworden, die 1989/1990 zur zentralen Zäsur erklären und das Geschehen in die nationalhistorische Kontinuitätslinie der Schul- und Handbücher mit den üblichen Daten 1914/1918, 1933, 1945/1949 und 1989/1990 einordnen. Wenn man allerdings die Ebene wechselt und die Entwicklungen in Europa insgesamt oder vorrangig in Osteuropa in den Blick nimmt, spricht nach wie vor vieles für die Zäsur 1989/1990.4 Ganz anders sieht es aus, wenn man von der Gegenwart her fragt, welche Binnenzäsuren zu benennen wären, um die Epoche nach dem Boom genauer zu strukturieren. Ob die Finanzkrise von 2008 und die anschließende Eurokrise eine Schwelle zwischen der Vorgeschichte und unserer Gegenwart bilden, ist noch offen. So ist zum Beispiel der Anti-Inflationskonsens, der seit den frühen 1980er Jahren die internationale Währungspolitik bestimmt hat, inzwischen brüchig geworden. Damit ist aber auch jener Trend gebrochen worden, der auf eine Entpolitisierung der Wirtschaft und deren Loslösung von den Gestaltungsspielräumen demokratischer Politik hinauslief. Getragen wurde dieser Umbruch von einer breiten anti-inflationären Grundstimmung am Ende der »Großen Inflation« der siebziger Jahre. Sie sorgte für die Spielräume, die konservative Wortführer wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan für ihren wirtschaftsund gesellschaftspolitischen Kurswechsel benötigten. Die »Große Inflation« war ein genuiner Bestandteil des »Wandels revolutionärer Qualität« und muss daher in weit stärkerem Maß als bisher in die zeithistorische Urteilsbildung einbezogen werden.5 Der Vorschlag indes, die Jahre zwischen 1995 und 2000 als Binnenzäsur zumindest für die Geschichte der Bundesrepublik, aber mög­ 4 Vgl. A. Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012; P. Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 20142. 5 S. Eich u. A. Tooze, The Great Inflation, in: Doering-Manteuffel, Vorgeschichte, S. 173–196.

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licherweise auch für die westeuropäischen Länder insgesamt zu markieren, ist plausibel und hat weitere Unterstützung gewinnen können. Dafür spricht, dass auf der Ebene der internationalen Entwicklung die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation nach der Einführung des world wide web 1995 mit den neuen Regeln des Finanzmarktkapitalismus zusammenwuchsen und die daraus entstehenden globalen Märkte für Kapital, Dienstleistungen und Waren beflügelt haben. Auf der Ebene der Unternehmen konvergieren nach einer Phase vielfältiger Experimente seither Tendenzen in der Organisation von Arbeit und Produktion in Richtung einer Vermarktlichung und Beschleunigung. Politisch etablierte sich in diesen Jahren der neue neoliberale Konsens aller großen Parteien in der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialpolitik, und lebensweltlich fand die neue Welt digitaler Kommunikation über das Internet Eingang in den Alltag der meisten Westeuropäer. Eine Schwelle war überschritten, Weichen für den Weg in eine neoliberale Zukunft waren gestellt.

II. Interdisziplinäre Verbindungen und Theoriebezüge Ein wichtiges intellektuelles Ergebnis dieser doppelten Öffnung  – hin zu den Kontinuitätslinien aus der Nachkriegszeit und hin zu den Problemlagen unserer Gegenwart – ist die unerwartete Nähe der Zeithistorie zu den Sozialwissenschaften. In den letzten Jahren sind dort die Stimmen derer lauter geworden, die für die Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsperspektiven eine größere historische Tiefe fordern. Dies gilt sowohl für die Ebene der Theorie beziehungsweise Modellbildung als auch für das empirische Fundament. Damit formiert sich ein deutliches Gegengewicht gegen den Trend in den gegenwartszentrierten Sozialwissenschaften, Distanz zu halten zu historischen Erklärungsansätzen und Detailkritik. Die unvergleichlich leichtere Zugänglichkeit digital verfügbarer Datenreihen zur Gegenwart und bestenfalls zur allerjüngsten Vergangenheit6 setzt in der empirischen Forschung der Kooperation zwischen Sozial- und Geschichtswissenschaften enge Grenzen, aber nicht zuletzt dieser Band dokumentiert die Fortschritte im gemeinsamen Gespräch über die Vorgeschichte unserer Gegenwart. Das erfordert es, voneinander zu lernen, um die unterschiedlichen Methoden der beiden Disziplinen verstehen und in die Argumentation des eigenen Fachs integrieren zu können. Als wichtige Berührungspunkte oder Kontakt- und Austauschzonen haben sich die Themen Arbeitswelt, Biopolitik und Subjektivierungsformen sowie die Entwicklung der Sozialstaatlichkeit und des internationalen Finanzmarkts in seinem Verhältnis zur nationalen Demokratie herausgebildet.

6 Das sind in der Regel höchstens die letzten zehn Jahre.

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Ein gemeinsames Thema für Sozialwissenschaftler und Zeithistoriker ist die Gegenwartsgeschichte des Kapitalismus.7 Die neu belebte Kapitalismus-Diskussion in der Zeitgeschichte mag man als Überraschung betrachten. Dies gilt umso mehr, als sie keineswegs mit einem marxist turn verbunden ist. Beim Nachdenken über die Dynamiken des gegenwärtigen Kapitalismus haben auch Zeithistoriker Ansätze aufgenommen, die aus dem Umfeld einer kapitalismuskritischen Tradition stammen, wie die Regulations- oder Postfordismus-Schule oder die wirtschaftssoziologische Analyse des Finanzmarktkapitalismus. Die Wiederentdeckung wirtschaftsgeschichtlicher Themen nach der Krise 2008/2009 ist sicher­lich eine wichtige Erklärung für diese Entwicklung, aber die Öffnung der Zeitgeschichte für globalgeschichtliche Perspektiven dürfte der intellektuell entscheidende, eigentliche Grund sein. Die Debatte über den Finanzmarktkapitalismus verbindet beide Stränge miteinander.8 Die in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften beheimatete Regulationsschule9 ist mit ihren großflächigen Modellen zur Beschreibung einer fordistischen Phase des Industriekapitalismus zumal bei westdeutschen Wirtschaftshistorikern auf wenig Gegenliebe gestoßen. Vertreter der Regulationsschule haben sich aber frühzeitig mit der Erosion fordistischer Produktionsregime in Kernbereichen des Industriekapitalismus, voran der Automobilindustrie, seit den 1970er Jahren beschäftigt. Das hat seinen Niederschlag in der bereits in den 1980er Jahren formulierten These gefunden, es zeichne sich ein Übergang in eine »postfordistische« Phase ab. Diese Überlegungen zu einem epochalen Formwandel kapitalistischer Produktionsregime sowie wirtschafts- und sozialpolitischer Regulierungsmechanismen beruhen vor allem auf arbeitssoziologischen Studien aus den vergangenen vier Jahrzehnten. Sie präsentieren zwei komplementäre Erklärungsmodelle für die vielfältigen Umbrüche in der Welt der Arbeit und der Unternehmen seit 1970. Zum einen eröffnete die schrittweise Ausweitung der Computertechnologien eine neue Runde in der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, konkret in der kapitalkonformen Nutzung von Kopfarbeit via Datenspeicherung und digitaler Kommunikation.10 Zum ande-

7 Wie schreibt man die Geschichte des Kapitalismus? Beiträge von W. Plumpe, F. Lenger, J. ­Kocka, in: Journal of Modern European History, Jg. 15, 2017, S. 457–488. 8 Vgl. P. Windolf, Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus?; C. Deutschmann, Finanzmarkt-Kapita­ lismus und Wachstumskrise, beide Beiträge in: P. Windolf (Hg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden 2005, S. 20–57 und S. 58–84. 9 Vgl. R. Boyer u. Y. Saillard (Hg.), Regulation Theory. State of the Art, London 2002; J. Becker, Akkumulation, Regulation, Territorium. Zur kritischen Rekonstruktion der franzö­ sischen Regulationstheorie, Marburg 2002; B. Jesson u. N.-L. Sum, Beyond the Regulation Approach. Putting Capitalist Economies in their Place, Cheltenham 2006. 10 Vgl. A. Boes u. a., Von der »großen Industrie« zum »Informationsraum«. Informatisierung und der Umbruch in den Unternehmen in historischer Perspektive, in: Doering-Manteuffel, Vorgeschichte, S. 57–78.

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ren ebneten Finanzmarktkapitalismus und Digitalisierung zugleich auch den Weg zu einer Vermarktlichung des Unternehmens.11 Mit Wolfgang Streecks Buch »Gekaufte Zeit« liegt ein Essay vor, der aus polit­ ökonomischer Makroperspektive die Epoche nach dem Boom deutet und dezidiert für die historische Fundierung einer Theorie des gegenwärtigen Kapitalismus und seiner globalen Trends eintritt.12 Die Debatte um Streecks Thesen ist in vollem Gang und die Detailkritik hat bereits fruchtbare Korrekturen formuliert.13 Für die bundesdeutsche Zeitgeschichte sind Streeks Thesen von besonderem Interesse. Sie versuchen jene Besonderheiten der Jahrzehnte zwischen 1973 und der Jahrtausendwende aus den wirtschafts- und sozialpolitischen Gestaltungsspielräumen zu erklären, die es den demokratischen Parteien und den Sozialpartnern in der Bundesrepublik mittels wachsender Staatsverschuldung erlaubten, Zeit für notwendige Anpassungsprozesse zu gewinnen  – Anpassungsprozesse, die ausgehend von den angelsächsischen Ländern vom internationalen Finanzmarktkapitalismus erzwungen wurden. Streeck hat ganz bewusst ein vereinfachendes Erklärungs- und Ablaufschema vorgelegt, das die Epoche nach dem Boom zur letzten Etappe in der Geschichte des Rheinischen Kapitalismus und des westdeutschen Korporatismus erklärt. Aus der Perspektive einer Zeitgeschichte des Kapitalismus spannt er einen »Zeitbogen« von den 1970er Jahren bis zur Gegenwart, der politische Zäsuren überwölbt und die tiefgreifenden Veränderungen im europäischen Liberalismus vom Sozial- zum Neoliberalismus herausstellt.14 Dem Neoliberalismus wird mit guten, wenn auch nicht völlig überzeugenden Gründen die Qualität bestritten, ein demokratischer Liberalismus zu sein. Ideengeschichtliche Studien über diese Epoche dürften daraus fruchtbare An11 D. Sauer, Permanente Reorganisation. Unsicherheit und Überforderung in der Arbeitswelt, in: Doering-Manteuffel, Vorgeschichte, S. 37–56. 12 W. Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2014 4; vgl. auch W. Streeck, Re-forming Capitalism. Institutional Change in the German olitical Economy, Oxford 2010. 13 Vgl. die kritischen Stellungnahmen von C. Deutschmann, Warum tranken die Pferde nicht? Nach der Wahl ist vor der Wahl: Gibt es eine Alternative für Deutschland und lässt sie sich von links formulieren? W. Streecks »Gekaufte Zeit« über die Krise des demokratischen Kapitalismus ist das Buch zum politischen Streit um den Euro  – eine Kritik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.09.2013, S. N 4, und von H. Kundnani, Debt States, in: The­ Times Literary Supplement vom 28.11.2014, S. 31; vgl. Forum on the Crisis of Democratic Capitalism, in: JMEH, Jg. 12, 2014, S. 29–79 (mit Beiträgen von K. C. Priemel, L. Rischbieter, W. Plumpe, A. Tooze, L. Wingert und J. Tanner). Die Replik von W. Streeck, Aus der Krise nach »Europa«? Vergangenheit und Zukunft in Geschichte und politischer Ökonomie erschien im selben Jahrgang (S. 299–315) dieser Zeitschrift; vgl. auch Forum: W. Streeck, Gekaufte Zeit, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie, Jg. 3, 2014, S. 43–146 (mit Beiträgen von M. Bach, S. M. Büttner, C. Deutschmann, K. Dörre, K. Kraemer, A. Maurer, U. Vormbusch, C. Weischer, S. Lessenich und H. Ganßmann); die Erwiderung von W. Streeck, Politische Ökonomie als Soziologie: Kann das gutgehen?, findet sich ebenda, S. 147–166. 14 Vgl. dazu auch A. Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: VfZ, Jg. 62, 2014, S. 321–348.

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regungen erhalten. Allerdings sticht hier die Zurückhaltung ins Auge, mit der die deutsche Geschichtswissenschaft sich diesem Thema einer internationalen Intellectual History nähert. Während in Frankreich zahlreiche Studien von unterschiedlicher theoretischer Provenienz die verschiedenen Spielarten des Neoliberalismus behandeln und insbesondere Michel Foucault und Pierre Bourdieu als Stichwortgeber und Ideenspender ihre Spuren hinterlassen haben,15 während auch in den angelsächsischen Ländern die zeitgenössische Kritik am politisch so einflussreichen Neoliberalismus beziehungsweise Neokonservatismus eine breite auch ideengeschichtliche und politikgeschichtliche Aufarbeitung dieser Zusammenhänge angestoßen hat,16 fällt die Zurückhaltung deutscher Zeithistoriker markant ins Auge. Mit den Büchern von Bernhard Walpen, Jürgen Nordmann und Philip Plickert liegen aber inzwischen auf Deutsch drei ideengeschichtliche Studien über die vielen internationalen Spielarten und Kontroversen innerhalb des neoliberalen Meinungsfelds seit dem Zweiten Weltkrieg vor, die erheblich dazu beitragen könnten, auch hierzulande dem »Gespenst des Neo-Liberalismus« schärfere Konturen zu geben.17 Eine ideengeschichtliche Perspektive auf die Umbrüche nach dem Boom kann dann aufschlussreiche Verbindungen zur politikökonomischen Debatte herstellen, wenn sie die Verschiebungen in den zeitgenössischen Diskursfeldern in deren wechselseitigen Bezügen aufspürt und für die politischen und sozialen Anschlüsse der neuen neoliberalen Sprache sensibel ist. Der Aufstieg des human resource management zu einem Gemeinplatz betriebswirtschaftlicher Rhetorik, die praktischen Anwendungen des Humankapitalgedankens oder die politische Sprache der europäischen Union im sogenannten Lissabon-Prozess18 sind Beispiele für derartige Verbindungen. Eine solche Brücke von der politökonomischen Analyse des Kapitalismus nach der Krise der 1970er Jahre zu den kulturellen Veränderungen in der Gesellschaft hat das kanadische Forschungsprojekt Social Resilience in the Neo­liberal Era gebaut.19 Hier wird die Epoche nach dem Boom ebenfalls als neoliberale Ära verstanden, aber das verbindende Element Neoliberalismus wird differenziert als Ensemble einer spezifischen ökonomischen Theorie (Friedrich August von Hayek und Milton Friedman mit ihren Schulen unter Einschluss der Mont Pèlerin Society), einer neo-konservativen politischen Ideologie (Margaret ­Thatcher 15 Für die französische Debatte vgl. die fundierte ideengeschichtliche Studie von S. Audier, Néo-libéralisme(s). Une archéologie intellectuelle, Paris 2012. 16 Vgl. jüngst D. Stedman Jones, Masters of the Universe. Hayek, Friedmann and the Birth of Neo-liberal Politics. Princeton, N. J. 2012. 17 Vgl. J. Nordmann, Der lange Marsch zum Neoliberalismus, Hamburg 2005; B. Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004; P. Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der »Mont Pèlerin Society«, Stuttgart 2008. 18 Vgl. Wirsching, Preis, S. 236 ff. 19 P. A. Hall u. M. Lamont (Hg.), Social Resilience in the Neoliberal Era, Cambridge, Mass. 2013.

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und Ronald Reagan als Vorbilder), eines Regulierungsmodells auf nationaler und internationaler Ebene sowie schließlich eines bestimmten Menschen- und Gesellschaftsbilds. Nur in den angelsächsischen Ländern gelangten alle vier Elemente des neoliberalen Syndroms zu hegemonialer Geltung, aber selbst dort lösten sie starke, auch wirkungsvolle Gegenbewegungen aus. Der wesentliche Faktor für die breite internationale Wirkung bestand darin, dass neoliberale Politikmodelle wie die Deregulierung von Märkten, Privatisierungen oder der Freihandel vor allem über die internationalen beziehungsweise supranationalen Organisationen – in Westeuropa war das die EU-Kommission – durch­ gesetzt wurden und seit den 1990er Jahren einen parteiübergreifenden Konsens der politischen Klassen in den westlichen Demokratien formten.20 In globaler Perspektive beruhte der Erfolg zum Beispiel in Lateinamerika, Afrika oder Asien mehr auf Machtasymmetrie und Durchsetzungsvermögen der internationalen Geldgeber und Anleger und nicht auf der ideologischen oder sozialen Überzeugungskraft des neoliberalen Programms, sofern man dieses als politische Ideologie oder Weltsicht versteht.21 Über den gängigen Interpretationsrahmen liberaler Globalisierung geht dieser politökonomische Ansatz insofern weit hinaus, als er systematisch nach der globalen Verbreitung und dem jeweils national beziehungsweise regional spezifischen Echo des neo­ liberalen Welt- und Menschenbildes (social imaginary) fragt. Damit gibt es einen Analyserahmen, der es erlaubt, die ideengeschichtlichen und gesellschafts­ geschichtlichen Dimensionen der Veränderungen seit Mitte der 1970er Jahre in ein politökonomisches Modell des internationalen Kapitalismus zu integrieren. Die Nähe zu dem von uns vorgeschlagenen Erklärungsansatz ist offensichtlich, denn »Gesellschaftsmodell und Menschenbild« stellen auch für uns die dritte Komponente dar, die mitbedacht werden muss, wenn man die Erfolgsgeschichte der neoliberalen Weltordnung verstehen will.22 Die kanadischen Forschungen betonen insbesondere die auf den ersten Blick verwirrenden Erfolge neoliberal imprägnierter Menschenrechtspolitik und eines neoliberalen Multikulturalismus.23 Damit steckt dieser Ansatz einen Rahmen ab, auf den sich weitere Studien beziehen können, wenn sie nach den Verknüpfungen zwischen internationalen und nationalen Entwicklungen fragen. Das Problem veränderter Wertvorstellungen und sozialer Ordnungsmuster wird auch in den aktuellen zeitgeschichtlichen Kontroversen um den soge20 Vgl. Ther, Ordnung. 21 Vgl. P. B. Evans u. W. H. Sewell Jr., Neoliberalism. Policy Regimes, International Regimes, and Social Effects, in: Hall u. Lamont, Resilience, S. 35–68. 22 Doering-Manteuffel u. Raphael, Boom, S. 10 f. (Vorwort zur 2. Auflage). 23 Vgl. J. Jenson u. R. Levi, Narratives and Regimes of Social and Human Rights. The Jack ­Pines of the Neoliberal Era, und W. Kymlicka, Neoliberal Multiculturalism?, beide Beiträge in: Hall u. Lamont, Resilience, S. 69–98 und S. 99–125. Zur Konjunktur der Menschenrechtspolitik in den 1970er und 1980er Jahren ist grundlegend: J. Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940er Jahren, Göttingen 2014, S. 343–802.

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nannten Wertewandel greifbar – ein Thema, das in deutschsprachigen Studien zu den Jahren nach dem Boom einen prominenten Platz einnimmt.24 Inzwischen liegen erste empirische Ergebnisse aus zeitgeschichtlichen Untersuchungen vor, und auch die Theoriediskussion hat festere Grundlagen gewonnen.25 Im Zentrum der historischen Forschung stehen zum einen Arbeiten zu Konflikten über die Benennung und Auslegung normativer Orientierungen, zum zweiten Studien über die Wirksamkeit und den Wandel von Wertorientierungen in der sozialen Praxis und zum dritten Arbeiten über die sozialwissenschaftliche Forschung zum »Wertewandel« und deren zeitgeschichtliche Spuren. Während Untersuchungen, die man dem Pol der sozialen Praxis zuordnen könnte, vor allem die Janusköpfigkeit der 1960er und 1970er Jahre sowie die Ambivalenzen normativer Orientierungen betonen, zeichnen jene Arbeiten, die sich mit politischen beziehungsweise medialen Kontroversen im Umfeld des »Wertewandels« beschäftigen, ein schärferes Bild der Epoche. Sie entdecken das Thema »Wertewandel« als Produkt bereits laufender Konfrontationen um das gesellschaftliche Sag- und medial Zeigbare in den westlichen Demokratien. Aus den vorliegenden Untersuchungen wird erkennbar, dass »Wertewandel« als soziale Praxis ein keineswegs eindeutiges Phänomen vor allem der 1970er und 1980er Jahre war. Es bedarf dringend weiterer historischer Detailforschung über die Konturen des »Wertewandels«, der über Meinungsforschung, Politikberatung und Medien zu einem festen Bestandteil der bundesdeutschen Politik und Öffentlichkeit dieser Jahrzehnt geworden ist und als historische Tatsache gilt. Doch ist er es auch? Das Gespräch über den »Wertewandel« wurde so zu einer der bevorzugten Möglichkeiten, die irritierenden und unkontrollierbaren Folgen jenes »sozialen Wandels revolutionäre Qualität« einzuhegen welche in anderen Regionen der Welt, etwa den USA, zu regelrechten culture wars eskalierten.

24 Vgl. R. Graf u. K. C. Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ, Jh. 59, 2011, S. 479–508, insbesondere S. 486 ff.; B. Ziemann, Sozialgeschichte und empirische Sozialforschung, in: P. Maeder u. a. (Hg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch, Göttingen 2012, S. 131–149, hier S. 138; B. Dietz u. C. Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeit­ geschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: VfZ, Jg. 60, 2012, S. 293–304; J. Pleinen u. L. Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Er kenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: VfZ, Jg. 62, 2014, S. 173–196, insbesondere Abschnitt 2 (S. 176–184): Von der Historisierung eines sozialwissenschaftlichen Konstrukts zur Rekonstruktion eines zeitgeschichtlichen Forschungsproblems: der »Wertewandel«. 25 Vgl. B. Dietz u. a. (Hg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlichkulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014; zum folgenden vgl. insbesondere die in diesem Band enthaltenen Beiträge von J. Neuheiser, Der »Wertewandel« zwischen Diskurs und Praxis. Die Untersuchung von Wertvorstellungen zur Arbeit mit Hilfe von betrieblichen Fallstudien (S. 141–168), und B. Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft? Die leitenden Angestellten und die Konflikte um Mitbestimmung und Führungsstil in den siebziger Jahren (S. 169–197).

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Interdisziplinären Charakter haben auch die Debatten über die Veränderung von Zeitstrukturen und Zeitwahrnehmung während der letzten fünfzig Jahre. In Deutschland hat nicht zuletzt die einflussreiche Studie von Hartmut Rosa zu den jüngsten Folgen der epochalen Beschleunigung anstoßgebend gewirkt.26 Sie profitiert jedoch von den Debatten um Posthistoire und Postmoderne, die in den Kulturwissenschaften schon seit geraumer Zeit geführt werden, aber lange Zeit kaum Berührungspunkte mit der zeitgeschichtlichen Forschung aufwiesen. Welche Impulse enthalten diese neuen Debatten und Ansätze für den­ ursprünglich 2007 entworfenen Erklärungsansatz einer Epoche nach dem Boom? Drei Bemerkungen scheinen uns wichtig: Erstens bestätigen die aktuellen Debatten um einen geeigneten politökonomischen Erklärungsansatz die Ausgangs­hypothese, dass den Umbauten im internationalen ökonomischen Bezugsrahmen besondere Wirkungskraft zugeschrieben werden muss und den neuen Formen des Finanzmarktkapitalismus darin eine Schlüsselrolle zukommt. Offen und umstritten ist nach wie vor, wie groß die Spielräume für nationale Varian­ten in den Arrangements zwischen den organisierten Interessenvertretungen von Kapital, Arbeit und Staat in den westlichen Demokratien waren. Gab es eine Konvergenz der Entwicklungen unter dem Primat des anglo-amerikanischen neoliberalen Modells, oder handelte es sich um die Transformation der nationalen Varianten des Kapitalismus? Diese Frage bleibt aus unserer Sicht offen und steckt ein Feld gemeinsamer Forschungsinteressen von Historikern, Ökonomen und Sozialwissenschaftlern ab. Vor allem vergleichende Unter­suchungen dürften hier in den nächsten Jahren nützlich sein. Dass noch vieles der Klärung bedarf, zeigt unter anderem die Debatte um Streecks Thesen. Mit Blick auf die Arbeitswelt korrigieren die meisten Kritiker die primär fiskal­politischen und machtstrategischen Argumente. »Gekaufte Zeit« und »Vertragskündigung durch die Kapitalseite« werden hier ergänzt durch ein weiteres Argument, das den Charakter des Umbruchs deutlich macht und die experimentelle Seite dieser »Vertragskündigung« auf betrieblicher Ebene betont. Kapitalistische Unternehmen wurden neu erfunden. Die gekaufte Zeit erweist sich in dieser Perspektive als eine »Zeit der Experimente«, welche keineswegs zu so eindeutigen Ergebnissen führte, wie die währungs- und fiskalpolitischen Makrotrends der westlichen Länder zu suggerieren scheinen. Gerade die Veränderungen in den exportorientierten westdeutschen Unternehmen seit den 1980er Jahren verweisen darauf, dass es sich für die kapitalistischen Produktionsregime um eine Phase vielfältiger Versuche und Umbauten handelte. Zweitens bedarf die politökonomische Analyse der engeren Verknüpfung mit den zeitgenössischen Debatten um Gesellschaftsmodelle, denn sie stellen eine zentrale Komponente der politischen Sprache in den westeuropäischen Demokratien dar. Hier liegt unseres Erachtens auch der Schlüssel zum Erfolg neoliberaler Argumente und Sichtweisen. Die politökonomische Rahmenanalyse entwirft 26 Vgl. H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 201410.

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auf der Makroebene ein Konfliktmodell zwischen Kapital und Arbeit, zwischen unterschiedlichen Kapitaleignern und nationalstaatlich organisierten Kapitalinteressen, das der Konkretisierung und Ergänzung durch ideengeschichtliche beziehungsweise diskursanalytische Studien bedarf. Wie verbreiteten sich die neuen internationalen politischen Sprachen wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Expertise in den internationalen Organisationen, in den Firmen des Consulting und in Fachmedien, und welche Formen nationalsprachlicher Vulgarisierungen entwickelten sich daraus? Welche Gegenpositionen schwächten Durchsetzungskraft und Realisierungschancen der neuen neoliberalen Zukunftsentwürfe für die westeuropäischen Gesellschaften seit den 1980er Jahren? Drittens bestätigen die neuen Ansätze unsere Hypothese, dass den Verände­ rungen der Menschenbilder besondere und eigenständige Bedeutung zuzumessen sei. Hier ist die Grenze rein politökonomischer Erklärungsansätze erkennbar, denn die Geschichte der neueren Subjektivierungsformen in ihrem zeittypischen Dilemma zwischen Freiheitspotenzierung und Anpassungszumutung für den Einzelnen und in ihrem gesellschaftlichen Trend zur Steigerung sozialer Ungleichheit trotz egalitärer Versprechungen umfasst nicht bloß einen Komplex neoliberaler Ideologiefolgen. Vielmehr beschreibt sie einen Basis­ prozess der westeuropäischen Gesellschaften seit 1980. Freiheitsversprechen, Zuschreibungszwänge sozialer Folgen und Liberalisierungseffekte sind stärker als bisher in die Forschungsagenden einer Zeitgeschichte »nach dem Boom« aufzunehmen. Bei der Weiterentwicklung ihres Erklärungspotentials ist sie darauf angewiesen, die Wege zwischen der aktuellen Kulturgeschichte und der Wirtschafts- und Politikgeschichte knapp und klar auszumessen. Daran erinnert die zeitgenössische Debatte um Wertewandel beziehungsweise culture wars, ohne die die überraschenden Verbindungen und Mischungen libertärer, neo-konservativer und wirtschaftsliberaler Strömungen seit den 1980er Jahren kaum vorstellbar wären.

III. Forschungsthemen Der vielleicht überraschendste Trend der letzten Jahre besteht darin, dass die Geschichte der Arbeit von den Zeithistorikern neu entdeckt wird, nachdem zweieinhalb Jahrzehnte Desinteresse und kühle Distanz dominierten. Natürlich sorgten organisatorische und institutionelle Kontinuitätslinien dafür, dass Forschungen auf diesem Feld niemals vollständig abrissen, aber die intellektuelle Ausstrahlung der in den 1970er Jahren etablierten traditionellen Geschichte der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften war doch auf ein Mindestmaß geschrumpft. Für die Neukonzipierung der Zeitgeschichte nach dem Boom gingen von hier keine Impulse aus. Sie kamen vielmehr eindeutig aus der industrie- und wirtschaftssoziologischen Debatte um neuere Tendenzen in den Arbeitswelten, worin sich unzweifelhaft das ideologische Selbstverständnis des neoliberalen 183

Regimes der Markt- und Leistungsorientierung spiegelte. Aber gerade daraus resultierte der alarmistische Ton, der die Zeithistoriker wachrüttelte und sie veranlasste, die Probleme der sich wandelnden Arbeitswelten wahrzunehmen. Wer sich mit den Erscheinungsformen des industriellen »Wandels von revolutionärer Qualität«27 seit den 1980er Jahren beschäftigte, konnte an sozialem Aufruhr wie dem Miners’ Strike in Großbritannien 1984 oder dem Kampf der Rheinhausener Stahlwerker gegen die Schließung des dortigen Hüttenwerks 1988 nicht vorbeisehen.28 Auch die Globalisierung blieb nicht folgenlos. Die außereuro­ päische Geschichte der Arbeit unter dem Titel Global labour blühte nicht zuletzt dank der Initiativen des International Institute of Social History in Amsterdam auf und erhielt 2009 mit der Einrichtung des entsprechenden Forschungskollegs in Berlin einen deutschen Schwerpunkt, von dem vielfältige Anregungen ausgingen. Die Flexibilisierung von Arbeit, die Deregulierung standardisierter Arbeitszeitordnungen, die Veränderung industrieller Arbeitsprozesse und schließlich die Arbeitslosigkeit und der gesellschaftliche und politische Umgang damit sind Gegenstand aktueller Studien. Ein wichtiger Strang ist bereits jetzt in diesen Forschungen erkennbar: der veränderte Stellenwert von Subjektivierung in den verschiedensten Arbeits­ welten, der in der soziologischen Forschung bereits seit den 1980er Jahren diskutiert und in der deutschen Übersetzung von Richard Sennetts Buch »The Corrosion of Character« griffig auf die Formen »Der flexible Mensch« gebracht worden ist.29 Die Subjektivierung reicht von der industriellen Fertigung über industrienahe Dienstleistungen, öffentliche Dienstleistungen und Verwaltungen bis zu den neuen »kreativen« Berufswelten zwischen Kultur und Kommerz und gehört zu jenen Trends, die quer durch die verschiedenen Arbeitswelten verlaufen und als verbindendes Charakteristikum begriffen werden müssen. Auf diesem Feld sind die Berührungspunkte mit den Sozialwissenschaften besonders eng. Die Debatte um soziologische Zeitdiagnostik, aber auch die gemeinsame Arbeit in den sozialwissenschaftlichen Archiven und die Lektüre von Interviews und Gesprächen mit Beschäftigten und Arbeitslosen hat dieser Zeit­geschichte der Arbeit eine dezidiert andere Richtung gegeben als noch vor gut zehn Jahren.30 27 Doering-Manteuffel u. Raphael, Boom, S. 29. 28 Vgl. F. Beckett u. D. Hencke, Marching to the Fault Line. The Miners’ Strike and the Battle for Industrial Britain, London 2009; A. Hordt, Von Scargill zu Blair? Der britische Bergarbeiterstreik 1984/85 als Problem einer europäischen Zeitgeschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 2013; zum Umbruch im Ruhrgebiet und den Traditionsindustrien siehe W. Bierwirth u. O. König (Hg.), Schmelzpunkte. Stahlkrise und Widerstand im Revier, Essen 1988; A. Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: VfZ, Jg. 55, 2007, S. 559–581. 29 R. Sennett, Der flexible Mensch (1998), Berlin 2006; Ders., Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2007. 30 Vgl. K. Andresen u. a. (Hg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel der Arbeitswelten, Bonn 2011; M. Reitmayer (Hg.), Unternehmen am Ende des »goldenen Zeit­ alters«. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008; L. Raphael, Flexible Anpassungen und prekäre Sicherheiten. Industriearbeit(er) nach

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Zeithistorische Studien zu Formwandel und Strukturbrüchen der Arbeit zeigen, wie sich in den 1970er und 1980er Jahren der Arbeits-Begriff in Richtung größerer Entfaltungsspielräume, neuer Emanzipationsmöglichkeiten und alternativer Lebensentwürfe erweitert hat, um dann in den 1990er Jahren wieder auf die Lohnarbeit zurückzufallen. Die Debatten um »Flexibilisierung« und die realen Entwicklungen der Arbeitszeitgestaltung lassen ein ambivalentes Bild der Neuordnungsdynamiken entstehen und korrigieren vorsichtig die pessimistische Sicht, die Richard Sennett noch am Ende der neunziger Jahre publikumswirksam vertrat.31 Das betrifft auch die Arbeitslosigkeit als einen neuen, weit verbreiteten Erfahrungstatbestand in den westeuropäischen Ländern nach anderthalb Jahrzehnten der Vollbeschäftigung. Bei Studien zu den regierungsamtlichen Maßnahmen zur sozialen Regulierung und Subjektivierung von Arbeitslosigkeit, die an Überlegungen über Formen und Grenzen der Zumutbarkeit von Arbeit geknüpft waren, taucht erneut das Problem der Flexibilität auf, denn das Wochenendpendeln, Ortswechsel und Umziehen oder zusätzliche Bildungsanstrengungen wurden für zumutbar erklärt und sozialrechtlich geregelt.32 Inzwischen liegen auch stadtgeschichtliche Studien vor, die den Spuren des Strukturwandels industrieller Arbeit am Beispiel der Hafen- und Industriestädte Glasgow und Hamburg nachgehen und den Zyklus von Niedergang der alten Industriestrukturen, tiefgreifender Anpassungskrise und Neuausrichtung städtischer Arbeitswelten nachzeichnen, den diese Metropolen auf dem Weg zur Creative City des 21. Jahrhunderts zwischen den späten sechziger Jahren und dem Ende der neunziger Jahre erlebten.33 Eng verbunden mit der Geschichte der Arbeit seit den 1970er Jahren ist die der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Beide Felder sind in der gegenwartsnahen Zeitgeschichte breit vertreten, aber auch hier handelt es sich im Kern um ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das Soziologen, Politikwissenschaftler und Zeithistoriker gemeinsam bearbeiten. Die Wiederentdeckung der Armut, die sozialpolitische Verwaltung von Arbeitslosigkeit und die neuen Problemfelder dem Boom, und C. Marx, Die Manager und McKinsey. Der Aufstieg externer Beratung und die Vermarktlichung des Unternehmens am Beispiel Glanzstoff, beide Beiträge in: M. Reitmayer u. T. Schlemmer (Hg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 51–64 und S. 65–77; ders., Der Aufstieg multinationaler Konzerne, in: Doering-Manteuffel, Vorgeschichte, S. 197–216. 31 T. Schlemmer, Befreiung oder Kolonialisierung? Frauenarbeit und Frauenerwerbstätigkeit am Ende der Industriemoderne, in: Doering-Manteuffel, Vorgeschichte, S. 79–108; D. Süß, Der Sieg der grauen Herren? Flexibilisierung und der Kampf um Zeit in den 1970er und 1980er Jahren, in: ebd., S. 109–128. 32 W. Wiede, Zumutbarkeit von Arbeit. Zur Subjektivierung von Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik und in Großbritannien, in: Doering-Manteuffel, Vorgeschichte, S. 129–148; zur wachsenden Mobilität s. R. Dorn, Alle in Bewegung. Räumliche Mobilität in der Bundes­ republik Deutschland 1980–2010, Göttingen 2018. 33 T. Gerstung, Stapellauf für ein neues Zeitalter. Die Industriemetropole Glasgow im revolutionären Wandel nach dem Boom (1960–2000), Göttingen 2016; A. Neumann, Unternehmen Hamburg. Eine Geschichte der neoliberalen Stadt, Diss. Trier 2017.

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einer Sozialpolitik, die seit der Mitte der 1970er Jahre an die Grenzen ihrer finanziellen Möglichkeiten stieß, gehören zu den aktuellen Untersuchungsthemen.34 Naturgemäß nimmt die Geschichte des Konsums in den Forschungsdebatten über die Epoche nach dem Boom einen zentralen Platz ein. Während die Welt der Arbeit fraglos von Umbrüchen und Zäsuren geprägt war, liefern die Zahlen und Narrative der Konsumgeschichte Belege für ungebrochenes Wachstum über die vermeintliche Zäsur der Ölkrise von 1973 hinweg, aber auch für die Pluralisierung von Angebot und Nachfrage.35 Eine dezidiert konsumhistorische Epochendeutung ist angesichts der gemischten Befunde zu Kontinuitäten und Innovationen bisher ausgeblieben. Aus globalgeschichtlicher Perspektive einer Konsumgeschichte langer Dauer, wie sie jüngst Frank Trentmann vorgelegt hat, erweisen sich die Veränderungen in Konsummustern und Konsumniveaus »nach dem Boom« eher als unauffällig und Kontinuitäten über die Zäsuren 1973 oder 1968 hinweg bestimmen das Gesamtbild.36 Dennoch lassen sich jenseits der großen und längerfristigen Trends wachsenden Konsums spezifische Veränderungen in der Übergangsphase zwischen der Zeit des Booms und der Epoche nach dem Boom beobachten. Allein für die britische Sozialgeschichte hat ­Avner Offer eine Epochendeutung vorgelegt. Er verknüpft das Ende der britischen Industriearbeiterschaft als einer Größe von politischem und gesellschaftlichem Einfluss ganz eng mit der Durchsetzung privater, individualisierter Konsum­ orientierung gegen die klassenpolitisch fundierte Verteidigung kollektiver Güter in den 1970er und dann vor allem den 1980er Jahren.37 Ein solches an Streecks Thesen oder den Ansatz Social Resilience erinnerndes politökonomisches Interpretationsmodell findet sich weniger deutlich formuliert auch als Erklärungsschablone für die Geschichte Italiens. Hier ist von der Zäsur des sogenannten hedonistischen Jahrzehnts der 1980er Jahre die Rede. Dieses Modell wird jedoch für die übrigen westeuropäischen Länder kaum benutzt. Für die bundesdeutsche Debatte besitzt die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der These von der sich individualiserenden Konsumentengesellschaft viel größere Bedeutung. Frank Trentmann etwa ordnet die Trends des Konsumismus, den Zusammenhang von einer relativ homogenen Konsumgesellschaft und der sich pluralisierenden Konsumentengesellschaft in die Übergangsphase zwischen der Zeit des Booms und der Epoche nach dem Boom ein. Die Veränderung der Arbeits34 Vgl. W. Süß, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft? Armut als Problem der deutschen Sozialgeschichte 1961–1999, in: U. Becker (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 123–140; L. Leisering, Nach dem Boom. Die Evolution des bundesrepublikanischen Sozialstaats seit den 1970er Jahren, in: Doering-Manteuffel, Vor­ geschichte, S. 217–244. 35 Siehe S. Fabian, Boom in der Krise. Konsum, Tourismus, Autofahren in Westdeutschland und Großbritannien 1970–1990, Göttingen 2016. 36 F. Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, Stuttgart 2016. 37 A. Offer, British manual workers. From producers to consumers, c. 1950–2000, in: Contemporary British History, Jg. 22, 2008, S. 537–571.

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welt, der Verlust von Arbeitsplätzen in der Industrie und Anstieg von Arbeitslosigkeit verminderten zunächst die Spielräume für viele Menschen, in der seit den späten 1950er Jahren gewohnten Form am standardisierten Massen­konsum zu partizipieren. Dann aber, teils parallel dazu, teils zeitlich etwas verschoben, entfalteten sich die neuen Formen einer stärker pluralisierten Konsumenten­ gesellschaft, in der sich alle die einzurichten begannen, die wirtschaftlich etabliert (geblieben) waren oder durch Arbeitsplätze in den neuen Industrien des beginnenden digitalen Zeitalters zu Wohlstand kamen. Darüber gewann die Konsumgesellschaft eine neue, weitaus differenziertere Kontur und expandierte stark.38 Arbeitslosigkeit und Anstieg des Konsums schlossen sich nicht aus, sondern verkörperten gemeinsam den Wandel. Der Wandel der Esskultur, die Veränderungen in der Einstellung zur Ernährung und der ethnischen Pluralisierung der Restaurants und Fast Food-Läden in Deutschland zeigen dies in aller Deutlichkeit.39 Während McDonald’s und andere Ketten sich weltweit ausbreiteten und damit erheblich dazu beitrugen, die Produktion und den Konsum von Nahrungsmitteln zu standardisieren, blieb die Moralisierung und Politisierung des Essens über Bio-Läden und Fair Trade-Label ein westeuropäisches beziehungsweise atlantisches Phänomen. Der Fußballkonsum liefert ein weiteres Beispiel für die Veränderungen. Der Durchbruch zum globalisierten Markenprodukt »Profifußball« erfolgte erst, als die Privatisierung des Fernsehens die Märkte öffnete und die gesellschaftlichen Umbrüche die Traditionsbestände lokaler Vereinskulturen weggespült hatten. Dies war in Großbritannien und Deutschland am Beginn der achtziger Jahre der Fall.40 Je schneller die Transformation der Industriegesellschaft vonstatten ging und die technische Innovation der Informatik zum Durchbruch kam, desto weniger war vom Fortschritt die Rede. Das Tempo des Wandels begrub gewissermaßen das gewohnte Fortschrittsempfinden unter sich. Daher sind die Zeitdiagnosen in den ersten Jahren nach dem Boom von einer doppelten Herausforderung geprägt. Die Verflüssigung und Destabilisierung bestehender Strukturen lösten die Wahrnehmung von Zeit aus dem Empfinden eines stetigen Verlaufs der Geschichte heraus, und damit schwand auch das Empfinden, dass es einen stetigen Fortschritt gebe. Wer sich im Posthistoire wähnte, vermochte keine Zukunft mehr zu sehen: no future. Ein von Fernando Esposito herausgegebener Aufsatzband spürt diesen Verschiebungen in der Zeitwahrnehmung nach.41 In seinen eigenen Beiträgen 38 F. Trentmann, Unstoppable: the Resilience and Renewal of Consumption after the Boom, in: Doering-Manteuffel, Vorgeschichte, S. 293–308. 39 M. Möhring, Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012. 40 Vgl. H. Jonas, Vom Verlierer der Wohlstandsgesellschaft zum Vorreiter der Globalisierung. Fußball in England und Deutschland seit 1961, Diss. Tübingen 2017; dies., Fußballkonsum zwischen Kommerz und Kritik, in: Doering-Manteuffel, Vorgeschichte, S. 333–350. 41 F. Esposito (Hg.), Zeitenwandel. Transformation geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen 2017.

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knüpft Esposito an den Thesen von Hartmut Rosa und weiteren Zeitanalytikern zum Syndrom der Beschleunigung an und fragt nach den Konturen neuer Zeitregime nach dem Boom.42 Veränderungen der zugrunde liegenden Zukunfts-, Gegenwarts- und Vergangenheitsverständnisse werden sichtbar. Der schwindende Glaube an die Realisierbarkeit von Fortschrittserwartungen  – an die Realisierbarkeit der Projekte der Moderne und die Agency des modernen historischen Subjekts – ist nicht zuletzt in einer Historisierung des historischen Bewusstseins selbst zu verorten.

IV. Neue Problemfelder Es mangelt also nicht an Ideen, Kontroversen und neuen Forschungen in der gegenwartsnahen Zeitgeschichte nach dem Boom. Wo aber sind Lücken und blinde Flecken zu erkennen? Das Forschungsterrain ist offensichtlich noch so neu und die verschiedenen Ansätze befinden sich erst in der Erprobung, dass nach wie vor nur weniges vorliegt, womit man die verschiedenen Untersuchungsebenen und Konzepte miteinander kombinieren oder deren Beziehung zueinander klären könnte. Eine Zeitgeschichte nach dem Boom bedarf allerdings dringend verschiedener Erweiterungen, um die missing links ausfindig zu machen. Das ist die Unterstützung durch eine sowohl technikgeschichtlich als auch wissenschaftsgeschichtlich orientierte Erforschung der Digitalisierung. An der Schlüsselrolle des Computers für die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung Westeuropas spätestens seit den 1980er Jahren zweifelt niemand mehr, aber die Forschung steckt noch in den Anfängen. Während zur Geschichte der technischen Entwicklungen erste Studien vorliegen, sind die Verbindungen zur Gegenkultur, zur Technikkritik und zur Entstehung neuer Kommunikationsformen bislang kaum behandelt worden.43 Aussichtsreich erscheint die Verbindung zur Wissensgeschichte. Dieses neuartige Forschungsfeld liegt im Grenzland zwischen der Wissenschaftsgeschichte der Naturwissenschaften, einer interdisziplinären Kulturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft.44 In die Forschungsdebatten über die Epoche nach dem Boom greift die Wissensgeschichte vor allem mit Beiträgen zur Geschichte der Datenspeicherung ein, denn seit den 1970er Jahren veränderten die digitale Da42 F. Esposito, Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom – eine Einführung, in: ders., Zeitenwandel, S. 7–62; ders., Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Doering-Manteuffel, Vorgeschichte, S. 393–424. 43 Vgl. M. Bunz, Vom Speicher zum Verteiler. Geschichte des Internet, Berlin 2008; C. Pias, Die Zukünfte des Computers, Zürich 2005; P. P. Siegert, Die Geschichte der E-Mail. Erfolg und Krise eines Massenmediums, Bielefeld 2008. 44 Vgl. D. Speich Chassé u. D. Gugerli, Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung, in: Traverse: Zs. für Geschichte, Jg. 18, 2012, S. 85–100.

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tenspeicherung und Kommunikation die Grundlagen von Wissen und Information in den westlichen Gesellschaften fundamental.45 Ein zweiter Forschungsstrang beschäftigt sich mit dem Siegeszug des human capital-Konzepts und der dadurch beflügelten unternehmerischen Nutzung menschlichen Wissens und Erkenntnisvermögens. Ein dritter Forschungsbereich gilt der Etablierung und Ausbreitung von Kennziffern und Indikatoren im Zeichen einer mathema­ tisierten Naturwissenschaft des Sozialen mittels Ökonomie und Psychologie. Sie sind zur dominanten Form geworden, in der sich die »Verwissenschaftlichung des Sozialen« seit den 1970er Jahren artikuliert.46 Die bisherigen Ergebnisse zeigen deutlich, dass für die Epoche nach dem Boom die Forschungsansätze des historischen Vergleichs und der Transfer­ geschichte genutzt werden müssen, um über die nationalzentrierte Problem­ geschichte der Gegenwart hinauszugelangen. Streecks These, die Grundzüge der westdeutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik ließen sich nur vor dem Hintergrund der Umbrüche im angelsächsischen Kapitalismus erklären, deutet mit Recht in diese Richtung. Seine Aussagen beruhen auf vergleichenden Untersuchungen und erlauben es, die unterschiedlichen Entwicklungsrichtungen der westlichen Industrienationen nach dem Boom präziser zu beschreiben. Sie müssen jedoch weitergedacht werden: In Frankreich, Großbritannien, den USA und (West-)Deutschland wurde nicht nur unterschiedlich viel sozialpolitische Zeit »gekauft«, sondern diese Zeit sozialpolitischer Kompromisse wurde auch zu ganz unterschiedlichen Umbauten des eigenen Produktionsregimes genutzt. Der digitale Finanzmarktkapitalismus etablierte sich als globaler und internationaler Verwertungszusammenhang nur schrittweise und kam als internationales »System« erst im Sog der New Economy zum Durchbruch. Die alten Produktionsmodelle mit ihren Kapitalstrukturen und Arbeitswelten wurden in unterschiedlicher Geschwindigkeit durch neue Modelle abgelöst, zugleich aber entstanden unterschiedliche regionale beziehungsweise nationale Lösungen für die neuen Formen kapitalistischer Unternehmungen. Will die Zeitgeschichte diese doppelte Veränderungslogik verstehen, die verschiedene Tempi und qualitativ verschiedene Lösungen in den Blick nimmt, aber nicht bloß die frühere oder spätere Einführung eines bestimmten Modells, dann ist sie auf transferhistorische und komparative Untersuchungen angewiesen. Gerade für eine solche vergleichende Perspektive wird die Debatte über die womöglich wichtigste Zäsur nach dem Boom – die Zeit um 1995 – von besonderer Bedeutung sein. Des Weiteren rückt die Frage nach der Geschichte der westlichen Demokratien seit den 1970er Jahren in den Vordergrund. Gerade für die Bundesrepublik Deutschland ist das Faktum institutioneller Stabilität der überragende Befund sowohl zeitgeschichtlicher wie politikwissenschaftlicher Analysen. Diese Stabilität des institutionellen Fundaments teilt sie aber mit der Mehrzahl der west45 Vgl. etwa D. Gugerli, Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank, Frankfurt a. M. 2009. 46 Vgl. D. Speich Chassé, Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013, S. 210–278.

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europäischen Demokratien. Doch verdichten sich seit einiger Zeit die kritischen Analysen, die eine »Krise« der westlichen Demokratie beschreiben und die Symptome von Politikverdrossenheit, Populismus, aber auch Institutionenversagen zu einer Problemgeschichte in der Phase des größten Triumphs der Demokratie seit 1918 bündeln.47 Das steht im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Wandel der Staatsfunktion. Der Staat wurde zum Protagonisten einer Anpassung der politökono­ mischen Ordnung an die Bedingungen der Märkte. Nur so glaubten die Regierungen das Heft des politischen Handelns in der Hand halten zu können, nachdem sie ihre Währungspolitik und im zweiten Schrift ihre Finanzpolitik im Kampf gegen die »Großen Inflation« aus der Obhut der Regierungen und der nationalen Staatsbanken herausgelöst und im Zusammenwirken mit den Notenbanken in die Freiheit Finanzmarkts hineingestellt hatten. Daraus entwickelte sich zunächst ein autonomer Machtfaktor internationalen und seit 1985/2000 globalen Zuschnitts, in dessen Einflussbereich Bankenkonsortien, Consultingunternehmen, Investmentfonds florierten. Daraus entwickelte sich sodann die sogenannte Finanzindustrie, die in der medialen Rhetorik kurz mit dem Begriff »die Märkte« bezeichnet wird und zu einem global agierenden Machtfaktor im technisch-ökonomischen System des digitalen Finanzmarktkapitalismus aufstieg – zu einem Machtfaktor, der infolge seines Entstehungsprozesses weder staats- noch völkerrechtlich gebunden ist. Ganz gleich, ob es sich um konservative oder sozialdemokratische Regierungen handelt48, richten diese ihre Politik seit den 1990er Jahren immer deutlicher an den Erwartungen aus, welche »die Märkte« mittels Lobbygruppen, vermeintlich neutraler Expertengremien wie der OECD oder national agierender Stiftungen wie der Bertelsmann-Stiftung an die Politik richten. Der Staat – sei es im nationalen Gewand, sei es in der Gestalt etwa der EU-Kommission, die – wie Streeck mit Recht betont – von demokratischer Kontrolle weitestgehend ungebunden agieren kann,49 setzt solche Erwartungen aus der Sphäre des Finanzmarkt-Lobbyismus dann passgenau um. Dieser Wandel der Staatsfunktion, der als Preisgabe staatlicher Souveränität im nationalen oder im EU-europäischen Rahmen bezeichnet werden muss, ist in seiner Bedeutung und den bisherigen Wirkungen historisch noch überhaupt nicht erforscht. Daher sind es erst vorläufige Hypothesen, wenn die Legitima­ tionskrise der Demokratie und das nachlassende Interesse der Öffentlichkeit am Parlamentarismus und an staatlicher Politik mit der unsichtbaren Steuerung 47 Vgl. die beiden Bücher von P. Rosanvallon, Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit, Reflexivität, Nähe, Hamburg 2010 und Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013. 48 Die in Westeuropa einflussreichste zwischenstaatliche Koalition war in der Regierungszeit des britischen Premierministers Tony Blair und des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder in den Jahren um 2000 herum zu beobachten, zwei Sozialdemokraten, denen auf der Ebene der deutschen Länderpolitik mit Verve der streng konservative bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sekundierte. 49 Streeck, Zeit, S. 141–223.

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durch »die Märkte« in Verbindung gebracht werden. Doch diesen Hypothesen nachzugehen, dürfte eine der wichtigsten Aufgaben für die gegenwartsnahe Zeitgeschichte sein, eben weil es um die Zukunft von parlamentarischer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Übergang zum 21. Jahrhundert geht. Einzig die Politik der Deregulierung, die einen wichtigen, frühen Teilaspekt dieses Prozesses darstellt, ist bisher thematisiert worden.50 Eine Zeitgeschichte nach dem Boom ist gut beraten an diesen Problembefunden der Gegenwart anzuknüpfen, um die Wirkungen medialer Veränderungen, aber auch die Genese und Folgen der informationstechnologischen Verschiebungen und neuen medien- und finanzpolitischen Abhängigkeiten adäquat zu verstehen. Diese demokratie- und politikgeschichtliche Seite gilt es in Zukunft konsequent auszubauen. Forschungen zu Veränderungen der politischen Partizipation – von den sozialen Bewegungen, über neue Protestformen und Parteistrukturen – werden gewiss davon profitieren, wenn sie die atlantische oder globale Perspektive ernst nehmen. Nur so sind die voraussehbaren Folgen nationalzentrierter Selbstgenügsamkeit zu vermeiden. Nationale Entwicklungs­ logiken lassen sich angemessen am besten dann erfassen, wenn sie in die transnationalen Trends eingeordnet und ihre historischen Verlaufslinien unabhängig von der Standardisierung durch etablierte Chronologien der Politik- und Gesellschaftsgeschichte herauspräpariert haben. Erste Entwürfe und kritische Stellungnahmen hierzu liegen bereits vor.51 Zuletzt sind die Ambivalenzen der Umbrüche nach dem Boom stärker als bisher zu betonen. Kritiker unseres Forschungsprogramms von 2008 haben mit Recht darauf hingewiesen, dass die Gewinner und die Liste der Gewinne nicht vernachlässigt werden dürften. Konservative Zeitgeistkritik und sozialromantische Erinnerung an die Verlierer würde dem Charakter der Epoche als einer Umbruchphase überhaupt nicht gerecht. Dieser Einwand ist völlig berechtigt, denn wer denkt schon daran, eine Whig-history der neoliberal schönen neuen Konsum- und Lebenswelten im digitalen Finanzmarktkapitalismus schreiben, anstatt mit melancholischem Timbre die Untergänge der traditionellen Industrie­ kultur zu beklagen. Diese Variante der Zeitgeschichte wird sicherlich bald ihre Praktiker finden. Ratschläge werden sie nicht benötigen. Stattdessen ist es wichtig, die Anregungen nochmals in Erinnerung zu rufen, welche die Jahrzehnte zwischen 1970 und 2000 als Periode (un)erfüllter Hoffnungen, Experimente und Projekte, aber auch der Befreiungen und des weiter wachsenden Reichtums  – und nicht bloß wachsender Ungleichheit  – konzipieren. Morten Reitmayer hat an die historischen Erfahrungen der belle époque um 1900 erinnert,

50 Vgl. etwa M. Florio, The Great Divestiture. Evaluating the Welfare Impact of the British Privatizations, 1979–1997, Cambridge, Mass. 2004; E. Canedo, The Rise of the Deregulation Movement in Modern America, 1957–1980, New York 2008; J. Meek, Private Island. Why Britain now belongs to someone else, London 2014. 51 Vgl. dazu Wirsching, Preis; Doering-Manteuffel, Zeitbögen.

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ein Schweizer Tagungsprojekt nimmt das Stichwort in der englischen Variante »the good years« auf.52 Diese Vergleiche sprengen den viel zu engen Vergleichshorizont auf, den die Metapher nach dem Boom unfreiwillig gesetzt hat. Die historische Reflexion ist gut beraten, die Zeithorizonte weiter zu setzen, als es die Erwartungshorizonte der Zeitgenossen waren. Sie gerieten in die Krisen- und Umbruchphase der 1970er und 1980er Jahre mit Erwartungen hinein, die aus der Erfahrung von Stabilität und Wachstum in den Jahren des Booms stammten. Die Ambivalenzen der Epochen könnten mit dem Denkmodell sich öffnender und schließender Möglichkeitshorizonte systematisch erschlossen werden. Gerade die 1970er Jahre, aber auch die beiden folgenden Jahrzehnte waren geprägt von kollektiven Unternehmungen und individuellen Lebensverläufen, welche die Trägheitsgesetze etablierter Verhaltensroutinen und Organisationen durchbrachen. Materialien zu einer solchen Zeitgeschichte konkreter Möglichkeitsräume liegen ansatzweise bereits vor. Sven Reichardt bietet etwa eine Detailstudie des Alternativmilieus, für das die Generierung solcher Möglichkeitsräume Daseinsgrund und Mittel der Selbstrechtfertigung wurde,53 die Welt der Hacker und Computerfreaks in den 1980er und 1990er Jahren stellt eine zweites Milieu dar, das sich vor allem über den dort kollektiv greifbaren Möglichkeitssinn definierte. Doch auch die Unternehmenswelten in diesen Jahrzehnten mit ihren zahlreichen Umbauten und Neuerfindungen privater Unternehmungen als »bürgerschaftlichen Produktionsgenossenschaften« gehören in diesen Zusammenhang.54 Die vielfältigen Aufbrüche nach dem Kollaps der sozialistischen Diktaturen bilden einen ganz eigenen Untersuchungsbereich. Der Erweiterung der Möglichkeitsräume entsprach  – zwangsläufig angesichts der begrenzten Chancen dauerhafter Etablierung – auch ein Anwachsen sozialer bzw. individueller Illu­ sionen bzw. Sozialträume. Auch diese Dimension gehört mit zur Geschichte der Jahrzehnte nach dem Boom und ist keineswegs auf die kurze Zeit der 1968er Jahre beschränkt. Das seit dem Ende der 1970er Jahre so lauthals verkündete und dann alsbald zur politischen Maxime gewordene Prinzip mit dem schönen Namen »Tina« (There is no alternative) brauchte jedenfalls Zeit, um seine diszi­ plinierende Wirkung zu entfalten. Die westlichen Gesellschaften nach dem Boom lassen sich mit großem Gewinn auch daraufhin untersuchen, welche soziale Gruppen und Alterskohorten sich besonders schnell und besonders schmerzhaft von ihren kollektiven wie individuellen Aufbrüchen verabschieden mussten. Die britische Gesellschaft der Ära Thatcher ist ein besonders krasser, aber wohl auch bis zur Jahrtausendwende in Westeuropa einmaliger Fall des 52 Vgl. M. Reitmayer, Nach dem Boom  – eine neue belle époque? in: Reitmayer u. Schlemmer, Anfänge, S. 13–22; The good years! An International Conference on Recent History ­(1980–2010) www.tg.ethz.ch/de/projekte/details/the-good-years. 53 Vgl. S. Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 20142. 54 Vgl. H. Kotthoff, Betriebsräte und Bürgerstatus. Wandel und Kontinuität betrieblicher Mitbestimmung, München 1994.

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schnellen Niedergangs und rasanten Aufstiegs kollektiver Möglichkeitsräume. Der industriellen Arbeiterschaft wurden in kürzester Zeit nicht nur die Grenzen ihrer materiellen Begehrlichkeiten aufgezeigt, sondern man nötigte ihr auch den Abschied von kollektiven Emanzipationserwartungen auf, während für Teile der Mittelklasse der Weg der Bereicherung und der Befreiung von konventionellen Grenzziehungen durch das Establishment freigemacht wurde. Solche Ver­änderungsdramatik gab es in der alten Bundesrepublik nicht, aber sie kam nach 1990 in den neuen Bundesländern auf.55 Es lohnt sich, die Veränderungsdynamik im Guten wie im Schlechten sorgfältig zu erkunden, und es wird eine Aufgabe der zeithistorischen Forschung in den kommenden Jahren sein, in die ausdifferenzierte Analyse des gesellschaftlichen Wandels beim Übergang ins Zeitalter des digitalen Finanzmarktkapitalismus auch die Rechtsgeschichte und die Internationale Geschichte mit einzubeziehen. Die Binnenzäsur in der Epoche nach dem Boom in den Jahren um 1995/2000 schloss nicht nur den Durchbruch »der Märkte« als Machtfaktor in einem neu entstandenen rechtlosen Raum in sich, sondern mit dem Krieg in Jugoslawien auch ein Menetekel für den Umgang der Staatengemeinschaft mit dem internationalen Recht. Völkermord und kriegsbedingte Migrationsströme gehören ins Bild der Epoche nach dem Boom, bevor sich mit 9/11 die Feindschaft gegen die westliche Welt auf die Macht »der Märkte« konzentrierte; das World Trade Center war nicht zufällig das Ziel eines Terrorangriffs. Damit aber stehen wir am Beginn der Jetztzeit in der gegenwartsnahen Zeitgeschichte. Literaturverzeichnis Andresen, K. u. a. (Hg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel der Arbeitswelten, Bonn 2011. Audier, S., Néo-libéralisme(s). Une archéologie intellectuelle, Paris 2012. Becker, J., Akkumulation, Regulation, Territorium. Zur kritischen Rekonstruktion der französischen Regulationstheorie, Marburg 2002. Beckett, F. u. D. Hencke, Marching to the Fault Line. The Miners’ Strike and the Battle for Industrial Britain, London 2009. Bierwirth, W. u. O. König (Hg.), Schmelzpunkte. Stahl: Krise und Widerstand im Revier, Essen 1988. Boes, A. u. a., Von der »großen Industrie« zum »Informationsraum«. Informatisierung und der Umbruch in den Unternehmen in historischer Perspektive, in: A. DoeringManteuffel u. a. (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 57–78. Boyer, R. u. Y. Saillard (Hg.), Regulation Theory. State of the Art, London 2002. Bunz, M., Vom Speicher zum Verteiler. Geschichte des Internet, Berlin 2008. Canedo, E., The Rise of the Deregulation Movement in Modern America, 1957–1980, New York 2008. 55 Vgl. O. Jones, The Establishment. And how they get away with it, London 2014.

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Geschichte der modernen Sozialgeschichte

7. »Experiments in Modernization«1 Social and Economic History in Europe and the USA 1880 to 1940

In the shadow of the master narratives of national historiographies and of the triumph of the new »scientific« Rankean history of political events and institutions, the writing of social and economic history expanded steadily in the second half of the 19th century. The simple fact that both adjectives occur together is a first indicator of the ambivalent status of these new subfields of historiography in this time. Exploring new themes and unknown areas of the past, social and economic historians announced other approaches to the past, following other methods and using other concepts than the orthodox majorities of the early discipline. The recent historians of historiography tend to link the rise of economic and social history to the epistemic shift from the different national styles of the elitist and idealist, often whig, historiographies of the 19th century to the new »modern« historiographies of the 1960s and 1970s.2 Indeed, at the end of the 19th century, the study of social and economic themes was closely intertwined with the great debates about the general orientations of historiography. In the United States, the debate over the »New History«, in Germany the argument provoked by Karl Lamprecht and his proposals for a new direction in historiography, in France the controversies about the relationship between sociology and history – all these debates had to do with these new subjects and their place in historiography.3

1 The title refers to the subtitle of E. Breisach’s study American Progressive History. An Experiment in Modernization, Chicago 1993. 2 Breisach, History; M. Bentley, Modernizing England’s Past. English Historiography in the Age of Modernism 1870–1970, Cambridge 2005; F. Jaeger and J. Rüsen, Geschichte des Historismus, München 1992; G. Iggers, Geschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 1993. 3 In  a comparative view: G. Iggers, Geschichtswissenschaft und Sozialgeschichtsschreibung 1890–1914. Ein internationaler Vergleich, in: W. Küttler (ed.), Marxistische Typisierung und idealtypische Methode in der Geschichtswissenschaft, Berlin 1986, p. 234–244. L.  Schorn-Schütte, Karl Lamprecht und die Internationale Geschichtswissenschaft an der Jahrhundertwende, in: Archiv für Kulturgeschichte, vol. 67, 1985, p. 417–464; L. Raphael, Die »neue Geschichte«. Umbrüche und Neue Wege der Geschichtsschreibung in internationaler Perspektive (1880–1940), in: W. Küttler et al. (eds.)., Geschichtsdiskurs, vol. 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880–1945, Frankfurt a. M. 1997, p. 51–89. For the »new history« in the USA see: Breisach, History; for France: L. Allegra and A. Torre, La nascita della storia sociale in Francia dalla Commune alle »Annales«, Turin 1977.

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The modernizations in European and Western societies and the rise of new themes and new engagements for historians At the close of the 19th century, social and economic history had become attractive: the public was interested in reading books about the origins of capitalism, the history of the Industrial Revolution (both terms invented by authors of that time)4 and its many faces, the history of great merchants and commercial adventurers. In a period of Imperialism and Western Expansionism, social and economic history underpinned the master narrative of the »Rise of the West«, but in the same time participated in the intellectual debates about the cultural costs of Western modernity. With regard to the European countries and their colonies, the new historiographical themes seemed best suited to the challenges posed by the modernization in society and economy, politics and culture since the middle of the 19th century. The dynamics of industrialization, especially its social dilemmas – class conflict, unemployment, illness and poverty – and the fundamental democratization of society  – the empowerment of subordinate groups and classes formerly excluded from political participation  – created new demands for better knowledge about social and economic processes. Many themes of social and economic history were of clear political relevance: the history of mercantilism and the regulation of foreign trade had direct political implications in a period of free trade but of growing pressure for economic protectionism after 1880. The many contemporary historical studies on agriculture and land reform, on taxation and class conflict, were often read as scholarly contributions to contemporary controversies on social reform and social protection and their authors were often eager to contribute to the resolution of contemporary social and economic conflicts.5 Accordingly, the economic and social history had strong political biases and political engagement provided a strong link between modernization and democratization in society and the writing of social and economic history. Before 1914, it was social reform and the social question that mobilized many scholars in this subfield. Many German economists of the historical schools were engaged in the Verein für Sozialpolitik (Association for Social Politics) whose first aim was to propagate social reforms in favour of the labouring classes in the newly founded German Empire.6 The economic and social history produced there was typically a combination of social enquiry, political intervention, 4 W. Sombart, Der moderne Kapitalismus, 3 vols. München 1916, 1917, 1926; A. Toynbee, Lectures on the Industrial Revolution in England, London 1884. 5 R. vom Bruch, Nationalökonomie zwischen Wissenschaft und öffentlicher Meinung im Spiegel Gustav Schmollers, in: P. Schiera and F. Tenbruck (eds.), Gustav Schmoller in seiner Zeit, Berlin 1989, p. 153–180; Breisach, History, part 2, p. 41–114. 6 D. Lindenlaub, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des »Neuen Kurses« bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1890–1914), Wiesbaden 1967.

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and historical research. Scholars in other European countries did more or less the same. The group of social democrats and the Fabian society, together with the group around R. H. Tawney at the London School of Economics represent a similar kind of interventionist economic and social history.7 Another example may be found among the Progressive historians in the United States who saw their historical writing and teaching as part of  a larger civic engagement for social reform and democratization of their nation.8 For many decades, the simple occupation with social and economic history seemed to be linked to social liberal, social democratic or socialist politics, while conservatives tended to defend political history as the best form of historical legitimation of the ruling elites and the established social hierarchies. But a conservative tendency had always been present in this subdiscipline giving rise to  a nationalist and ethnocentric version of social and economic history under the heading of Volksgeschichte in the German speaking areas and its neighbouring countries in Europe after 1918.9 Alexis de Tocqueville’s distinction between democratic and aristocratic nations and their specific narratives of the past provides a deeper insight into the strategic position economic and social history held in this period.10 In the first case, the »people« are the heroes of  a collective past, while political and military events are minor elements in a much broader narrative of social, cultural and economic processes leading to the making of the modern nation. France is a classic example: with the rise of the republican bloc of liberals and reformist socialists at the end of the 19th century, the social and economic dimensions of the French Revolution received official consideration. The City council of Paris began by the funding of a special Chair for the history of the French Revolution at the Sorbonne and in 1903 Parliament voted the credits necessary for the foundation of a commission of the social and economic history of the French Revolution, thus starting a collective research programme to edit the cahiers de doléances. This treatment of social and economic facts of the Revolution was progressive in orientation and a similar impulse can be seen in the collective work organized by the socialist deputy and intellectual Jean Jaurès, 7 D. Rueschemeyer and R. van Rossem, The Verein für Socialpolitik and the Fabian Society. A Study in the Sociology of Policy-Relevant Knowledge, in: T. Skocpol and D. Rueschemeyer (ed.), States, Social Knowledge, and the Origins of Modern Social Policies, Princeton, N. J. 1996, p. 117–162; A. M. McBriar, Fabian Socialism and English Politics 1884–1918, Cambridge 1962. 8 Breisach, History; A. R. Schäfer, German historicism, progressive social thought, and the interventionist state in the United States since 1880s, in: M. Bevir and F. Trentmann (eds.), Markets in Historical Contexts. Ideas and Politics in the modern World, Cambridge 2004, p. 145–169. 9 W. Oberkrome, Volksgeschichte, Göttingen 1993; M. Hettling (ed.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2006. 10 F. Meyer, Social structure, state building and the fields of history in Scandinavia, in: id. and J. E. Myhre (ed.), Nordic Historiography in the 20th Century, Oslo 2000, p. 28–49.

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transforming his socialist history of the French Revolution into a narrative of continuing democratization and social reform in the French Republic.11 From then on, social history became the dominant approach to the history of French Revolution among the academic specialists.12 In countries where local dynasties or elites had created an autocratic state or an Empire (e.g. tsarist Russia) the aristocratic model had much greater support and often established itself as the orthodoxy with the professionalization of historical writing. In general, the aristocratic model rejected the notion that economic and social history should be regarded as important as political history in the national narrative. Typically, in Germany the conservative practitioners of this aristocratic model understood history as the rise and the construction of a unified nation state ruled by an enlightened bureaucracy in close association with a military dynasty. Countries with strong military dynasties became the sites of bitter controversies about the place of economic and social history for national historiography. The chronology of the transformations from one model to the other depended mainly on the political history of each country. Denmark and Sweden provide two instructive examples: in Sweden, the history of »everyday life« was under attack by professional historians and conservatives in the 1880s when the writer and amateur historian August Strindberg published a cultural history under the title »Svenska folket« (The Swedish People) – but in Denmark – a country with a comparable past of battles and kings but a ruling liberal elite that had yet abandoned the aristocratic model after the defeat of 1864  – there was  a ready acceptance of Troels Troels-Lund’s similar study »Dagligt Liv i Norden i det 16. Arhundrede« (Everyday Life in Scandinavia in the 16th century).13 Generally speaking, the democratization of constitutions, the extension of voting rights and finally the defeat of the four empires in Central and Eastern Europe 1918 pushed the academic world towards considering the »masses« or the »people«, and their participation in national history. As a result more scholars began to analyze economic and social phenomena. The »people« or the »nation« became the terms to mark the positive aspects of the new egalitarian epoch, in sharp contrast to the »masses«, who were associated by conservative academics with revolution and disorder. Thus Volksgeschichte became one of the key terms representing this new continental blend of national and often straightforwardly nationalist historiography and social, cultural and economic history. Its origins can be traced back to Romanticism but it incorporated both liberal and in some 11 On the socialist history of the French Revolution see: M. Rebérioux, Le livre et l’homme, in: J. Jaurès (ed.), L’histoire socialiste de la Révolution française, vol. 1, Paris 1969, p. 35–51. 12 See the works from J. Jaurès (ed.), Histoire socialiste de la Révolution française, Paris 1901–1904; A. Mathiez, La vie chère et le mouvement social sous la terreur, Paris 1927; G. Lefebvre, Les paysans du Nord, Lille 1924; id., La grande Peur, Paris 1932; see L. Allegra and A. Torre, La nascita della storia sociale in Francia dalla Commune alle »Annales«, Turin 1977, p. 155 ff. 13 Meyer, Structure, p. 36.

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countries democratic positions in favour of a new kind of holistic narrative of an ethnic unity called »people« whose material culture had to be studied by all the new methods the social sciences put at the historians’ disposal. Economic and social history did not escape the radicalization of nationalism brought about by the First World War. The shift towards new public and political mobilization in defence of national diasporas, and to affirm the cultural heritage and regional folklore, especially in borderlands, was closely linked to the post-war settlement. The lack of legitimacy of the new borders drawn at the Paris Peace conference in 1919–20 created a growing political demand for historical justification both for revision or defence of these borders and in both cases social, cultural and economic historians took up the task to legitimate these claims largely by using the new methods such as cartography, archaeology, onomastics or folklore. The topic of borders became one of the central issues of Volksgeschichte during the interwar years – written by historians often financed by new public foundations or directly by ministries.14 To summarize, economic and social history grew more important as a result of the transformations in economy, society and politics since 1850. The rise of nationalism, imperialism and the impulses of national politics were forces that stimulated early social and economic history. Both ideas and methods were strongly marked by national traditions, generating specific »experiments« in modernization of historiography in response to the changing economic and political situations of the different countries. These differences grew deeper after 1914.

The intellectual and institutional origins of social and economic history The intellectual roots of economic and social history lay within earlier understandings of the historical process. One starting point for social and economic history was the history of civilization written during the Enlightenment by historians like Voltaire. Such histories tended to include descriptions of the social and economic life, of arts and crafts, of moral and social manners. We can also find an early exploration of social and economic history in the history of law and legal institutions that often included the regulations of economic activities and the classification of social or professional groups. From the 1860s, the 14 The institutional ties are analysed for the German case by M. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik. Die ›volksdeutschen‹ Forschungsgemeinschaften von 1931–1945, Baden-Baden 1999 and I. Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der »Volkstumskampf« im Osten, Göttingen 2000. For a comparison between the German and the Polish case see J. Piskorski et al. (ed.), Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Osnabrück 2002.

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historical school of Roman and Germanic law became directly involved in social and economic history with authors such as Friedrich von Gierke and, in the 1880s, Frederic William Maitland writing about medieval institutions.15 A third place where economic and social phenomena of the past were treated in historical studies was in local and regional historical associations where gentleman historians reported them as evidence of the glory of their cities or counties. From the 1840s, in centres of trade such as Genoa or Hamburg, Augsburg or Venice, the local history of commerce became an essential part of civic pride and a kind of »myth«16. A fourth starting point was the discipline of political economy itself. From its intellectual beginnings in the 18th century, this discipline used the economic data of the past as part of the search for universal laws and general theories. The interest in economic history grew with the critical debates over the validity of the classical liberal political economy; an international debate gave birth to the so-called historical schools of national economy founded since the middle of the century by scholars such as Karl Knies, Wilhelm Roscher, and Bruno Hildebrand, later on continued by economists such as Gustav Schmoller, Karl Bücher, Werner Sombart, and Max Weber. They insisted on the historicity of economic ›laws‹ and on inductive instead of deductive methods in research. These ›schools‹ were very influential in Germany but also spread to other European countries such as Great Britain, Italy, Finland, Sweden, and Russia.17 Yet it was not until the 1880s before economic and social history became a historical subject in its own right. Thereafter it found a place in academic teaching and the first chairs for this new speciality were created. The institutionalization of social and economic history, however, followed different paths: in Germany and other countries such as Sweden or Finland where the historical approach to economic facts was firmly established at university level economic history was generally an integral part of economics and mainly taught by scholars belonging to its different ›historical schools‹. When these schools were marginalized in the 1920s, economic and social history lost its established institutional backing in these countries. It was partly compensated by the creation of new specialized chairs of economic and social history during the interwar period. In Britain, the Netherlands, Belgium and France, specialised chairs for economic history were created within the history departments and the subject became an integral part of the curriculum since the beginning of the 20th century. In many countries, 15 Very influential examples are O. von Gierke, Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, Berlin 1968 and F. W. Maitland, Domesday Book and Beyond. Three Essays in the Early History of England, Cambridge 1897. 16 See G. Clemens, Sanctus amor patriae. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004, p. 290–294. 17 K. Pribram, A History of Economic Reasoning, Baltimore 1983; K. Tribe, Strategies of Economic Order. German Economic Discourse, 1750–1950, Cambridge 1995; E. Grimmer-Solem and R. Romani, The Historical School, 1870–1900: A Cross-National Reassessment, in: History of European Ideas, vol. 24, 1998, p. 267–299; G. M. Hodgson, How Economics Forgot History. The Problem of Historical Specificity in Social Science, London 2001, p. 41–165.

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chairs for regional history became  a niche for social and economic history when such posts were founded in provincial towns or universities.18 In France, where a rigid centralistic system privileged mainstream political historiography, social history profited from new chairs in the provincial universities that took up social or economic themes as part of their regional studies, thus Henri Sée at the university of Rennes studied the rural classes in Brittany in the Ancien Régime.19 The number of chairs and teaching positions for the new subdiscipline grew after the First World War. In 1928, more than 50 chairs existed at 39 universities or institutions of higher education throughout Europe.20 The international rise of the subdiscipline continued till 1939, spreading from Germany and England to all European centres of historical research and learning, with new centres in the Soviet Union and France. It gave birth to a series of specialised journals for themes of social and economic history that had previously been more or less marginalized in the general historical reviews. The establishment of academic journals devoted to social and economic themes of history began in 1893 with the Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (since 1904 continued as the Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte) and the Zeitschrift für Kulturgeschichte (since 1904 as Archiv für Kulturgeschichte), followed in 1908 by La revue d’histoire économique et sociale and in 1926 the Economic History Review. The publication of handbooks of national or European economic history in the interwar period signals the end of  a first cycle of research activities in the field. .The most ambitious enterprise was the Handbuch der Wirtschaftsgeschichte edited by the editor Gustav Fischer at Leipzig and organized by the economist Georg Brodnitz.21 The foundation of the French Annales d’histoire économique et sociale in 1929 is perhaps the best symbolic date to mark the culmination point of this first period. What kind of social and economic history took shape before the Second World War? What kind of questions were asked? What kind of documents were searched for? What kind of methods were used by the early professionals and practitioners of this new field of research? It should be kept in mind that the 18 K.-G. Faber, Geschichtslandschaft – Région historique – Section in History. Ein Beitrag zur vergleichenden Wissenschaftsgeschichte, in: Saeculum, vol. 30, 1979, p. 4–21, I. Veit-Brause, The Place of Local and Regional History in German and French History. Some general reflections, in: Australian Journal of French Studies, vol. 16, 1979, p. 447–478. 19 H. Sée, Les classes rurales en Bretagne du XVIe siècle à la Révolution, Paris 1906; L. Febvre, Philippe II et la Franche-Comté, Paris 1911. 20 Database of I. Porciani a. L.Raphael (eds), Atlas of European Historiography: the Making of a Profession 1800-2005, Basingstoke 2011. Chairs in economy are not taken in consideration: France, United Kingdom: 11 positions, Soviet Union: 7, Poland: 5, Netherlands, Germany: 4, Belgium, Switzerland: 3, Austria, Italy: 1. 21 G. Brodnitz (ed.), Handbuch der Wirtschaftsgeschichte, Leipzig 1918–1936. 8 volumes have been published, dealing with the Netherlands, Denmark, Italy, France, Britain, Norway and Russia and one volume on European medieval Economic history.

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delimitation of what is called »historical sources« had been one of the basic innovations of the new »scientific« approach to the past in the 19th century – having many practical implications and consequences for the definition of legitimate, »critical« historiography.22 Unpublished documents in public archives – especially the remainders of legal transactions and public affairs  – became the new »database« of historiography. Social and economic historians followed specialists of political and legal history into the state archives. Their writings largely depended on legal or administrative sources and many early studies took up the history of institutions – the ties to legal history and constitutional history remained very strong – especially for the older periods such as the Middle Ages or early modern period. The great handbooks of economic history written during the interwar period clearly reveal an emphasis on qualitative description of institutional frameworks and of general trends, often using or refining the models of stages of economic development that the historical schools in economics had proposed. By these means they classified the highly divergent materials produced by the many regional or local studies or specialized monographs that formed the bulk of the professional production of economic and social historians between 1860 and the Second World War. Many historians in this field had  a special interest in the history of state activity and the regulations of social and economic life. This reflects the specificity of the sources – mostly produced by public authorities controlling or attempting to control markets and private enterprise in production, distribution or consumption. Thus kings and parliaments, city authorities and princes were prominent figures in these early versions of economic and social history, which often constructed rather anachronistic narratives of economic politics of medieval or early modern times as forerunners of contemporary national economies. Economists of the different historical schools emphasized the role of the state in the making of markets, in the creation of industries and the regulation of commerce. Social history, the other part of this sub-discipline in the making, lacked such unifying themes and concepts. The many faces of social life, the variety of groups, beliefs and social manners attracted the curiosity of cultural historians throughout the 19th century. Many of them were not professionals and wrote for  a greater public, disdaining the new rigours of »scientific« history. In the eyes of the professionals, this amateurism was the endemic weakness of early social and cultural history. The use of literary or narrative texts as »sources« was one topic of controversy. Most of the archival documentation for social history was still lying undiscovered and unclassified in the archives. Thus the decades after 1880 were a time of trial and error, of experimentation in methods, themes and models of explanation. The list of themes studied and of approaches grew very quickly, some famous titles of cultural or social historiography 22 D. Saxer, Die Erfindung des Quellenblicks, München 2009.

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of the time illustrate the variety of subjects. Johan Huizinga’s »Herfsttij der ­ iddeleeuwen« sides with Max Weber’s and Richard H. Tawney’s studies on M religion and capitalism or Werner Sombart’s »Moderner Kapitalismus«.23 Some themes attracted special interest. One of it was religion and its social effects in the past. Other themes included the origins of capitalism, city life in the middle ages, the condition of the labouring classes, and the activities of bourgeois merchants and entrepreneurs. Who were the new social and economic historians? Henri Pirenne, Frederic J. Turner, Johan Huizinga, Otto Hintze, Frederic William Maitland, Charles A. Beard, Marc Bloch, Lucien Febvre, Karl Lamprecht, Mikail I. Rostovtzeff, Albert Mathiez, George Lefebvre or Eileen Power are often cited as producing modern classics of historiography; We may add the names of economists writing about economic and social history such as Werner Sombart, Karl Marx, Max Weber, Gustav Schmoller or William Cunningham. On international level  a collective biography of the economic and social historians does not yet exist and the available information on their social and cultural background allows only some limited observations. Most of them, like their academic colleagues had middle class origins and a majority tended towards liberal or even (social) democratic leanings – a political position often combined with an optimistic view of contemporary society and civilization. The voices of cultural conservatism and elitism were rarer than in other fields of the historical profession but became more common after 1918. Within the profession, there were three main groups. The first was made up of professional historians who made their academic careers specializing in economic or social topics. From the 1880s, in Germany even earlier, economic or social history became an attractive new research area, even for those young scholars who had started with classics and came from aristocratic or bourgeois families. In their professional habits, these economic and social historians did not challenge the dominant patterns of the new scientific history. They exhibited the same attention to impartiality, eschewing literary or rhetorical style, in favour of meticulous documentation of archival research, sceptical about general theories and preferring empiricist or objectivist models of knowledge. However, as we shall see below, a minority of these practitioners took greater interest in social theory. The second group was formed by economists who specialized in empirical studies of economic phenomena in the past. Most of them gave lectures in general economics combining  a more theoretical or generalizing approach, drawing on the contemporary concerns of their discipline to guide their research 23 J. Huizinga, Herfsttij der Middeleeuwen. Studie over levens- en gedachtenvormen der veertiende en vijftiende eeuw in Frankrijk en de Nederlanden, Haarlem 1919; M. Weber, Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, vol. 20, 1905, p. 1–54; p. 21, 1906, p. 1–110; R. H. Tawney, Religion and the Rise of Capitalism, London 1926; Sombart, Kapitalismus.

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practice in economic history. This group of economists was most numerous in countries where a historical, inductive approach to economics was predominant at university level, as was the case in the German Empire, partly in Austria or in the Scandinavian countries in the second half of the 19th century. In Britain, the historical approach to economics lost ground after 1900 when Alfred Marshall at Cambridge imposed  a more theoretical approach, but the connection of economy and history remained strong at the London School of Economics, founded in 1895. The social background of this second group is more or less the same as that of the professional historians. The third category was comprised by marginal scholars, socialist autodidacts or intellectuals, who played an important role in early social and economic history. The most famous examples are the Webbs or the Hammonds in Britain, two intellectual couples engaged in the politics of British socialism whose works on the economic conditions of the English working classes and on the trade unions became classics in social history.24 Their background  – the men pursuing careers in the civil service, the women connected to leading left-wing intellectual circles – was quite different from that of their academic colleagues. Another example is the group of socialist intellectuals the French socialist politician and classics scholar Jean Jaurès gathered around himself for the writing of the Socialist history of the French Revolution published by him between 1901 and 1907. Where were the centres of economic and social history? Germany was one of the early strongholds. Russian, French and British historians often started their own research and wrote in confrontation with German scholars or they spent part of their studies at German universities like Berlin, Leipzig, Bonn or Heidelberg. The pre-eminence of Germany resulted from the existence of the »historical schools« of national economy well established at university level in the faculties of law and economics or »Staatswissenschaften« since the middle of the century. The transfer of practitioners and ideas contributed to the rich German and Austrian production in these fields.25 Thus in Germany, the rather small number of economic historians more than doubles once their colleagues in the other departments engaged in historical research are added. Well known economists such as Gustav Schmoller, Lujo Brentano or Karl Bücher published

24 B. Webb and S. Webb, History of Trade Unionism, London 1894; J. L. Hammond and B. Hammond, The Village Labourer, London 1911; id., The Town Labourer, London 1917; id., The skilled Labourer, London 1919; On the Hammonds see P. Clarke, Liberals and Social democrats, Cambridge 1979, p. 154–163, p. 243–252. 25 K. Tribe, Strategies of Economic Order. German Economic Discourse 1750–1950, Cambridge 1995; P. Koslowski (ed.), The Theory of Ethical Economy in the Historical School. Wilhelm Roscher, Lorenz von Stein, Gustav Schmoller, Wilhelm Dilthey and Contemporary Theory, Berlin 1995; Y. Shionoya (ed.), The German Historical School. The Historical and Ethical Approach to Economics, London 2000; H. Bruhns (ed.), Histoire et économie politique en Allemagne de Gustav Schmoller à Max Weber, Paris 2004.

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important studies on historical themes and historians like Eberhard Gothein combining economic and cultural history and history of art finished their career holding chairs of national economics.26 The German historical school gained an international reputation for its theories of the stages of economic development since antiquity and its methodological arguments against abstract theorizing.27 Great Britain became the second European centre of economic and social history. The rise and the institutional establishment of economic and social history started some twenty years later than in Germany and was less spectacular but its development was continuous and did not encounter the cultural and political resistance typical of conservative German historiography.28 From the 1880s, social and economic historians could be found in Oxford and Cambridge, and the new sub-discipline found its way to new universities like Birmingham or London. In the interwar years, the social and economic history represented and promoted by renowned scholars like Tawney, Clapham or Power established itself as an integral part of historical scholarship. With Namier, social history became a pivotal tool for the revisionist attack on the whig historiography of British parliamentary politics.29 Russia was the third European centre of social and economic history.30 There the Moscow School around V. O. Kliuchevskii established itself as a revisionist challenge to the dominant state-centred national historiography.31 More than other national schools, the Moscow school engaged in studies on foreign countries (especially France and Britain) or on European economic history.32 Prominent

26 G. von Schmoller, Die Straßburger Tucher- und Weberzunft, Leipzig 1879; id., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, Leipzig 1898; L. Brentano, Zur Geschichte der englischen Gewerkvereine, Leipzig 1871; id., Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands, 2 vols., Jena 1927–1929; K. Bücher, Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1922. 27 For the international context see: J. A. Schumpeter, History of Economic Analysis, New York 1954; Pribram, Economic Reasoning; Hodgson, Historical Specificity, p. 41–165. 28 M. Bentley, Modernizing England’s Past: English Historiography in the Age of Modernism 1870–1970, Cambridge 2005, p. 120–143; A. Kadish, Historians, Economists and Economic History, London 1989. 29 L. Namier, The Structure of Politics at the Accession of George III, London 1929; L. Colley, Namier, New York 1989. 30 See T. M. Bohn, Russische Geschichtswissenschaft von 1880 bis 1905. Pavel N. Miljukov und die Moskauer Schule, Köln 1998; A. G. Mazour, Modern Russian Historiography, Westport, Conn. 1975. 31 V. O. Kliuchevskii, Kurs russkoj istorii, 5 vols., Moscow 1904–1910, German: Russische Geschichte: von Peter dem Großen bis Nikolaus I., 2 vols., Zürich 1945, part. Engl: Course in Russian History: the 17th century, Chicago 1968; R. F. Byrnes, V. O. Kliuchevskii: Historian of Russia, Bloomington 1995. 32 J. Kulischer, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, 2 vols., München 1929.

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Russian scholars like Paul Vinogradoff or later, in the 20s, Mikhail Rostovtzeff continued their work at British and American universities.33 Compared with these three countries, the institutional situation and the intellectual outcome of economic and social history in France, Italy or the other European states was smaller, their place in the disciplines (history, economy or sociology) more marginal. But everywhere, specialists of these subjects existed and participated in the international debates. Authors such as Franciszek Bujak and Jan Rutkowski in Poland, Henri Pirenne in Belgium, Eli Heckscher in Sweden, the French historians Henri Hauser, Georges Lefebvre, Albert Mathiez, Lucien Febvre and Marc Bloch, the Italian Gino Luzzatto or Nicolaas W. Posthumus from the Netherlands were part of an international network of specialists established in the interwar period. Pirenne became one of the leading figures of this international network.34 But the still small group of mostly French historians around the new journal Annales d’histoire économique et sociale proved the most influential for social and economic history. Febvre and Bloch were its outstanding historians. The mediaevalist Bloch treated many social and economic themes in his studies, but his outstanding intellectual status stems from his contributions to comparative European history, the history of feudal society and his reflections on historical method.35 Strongly influenced by Emile Durkheim and the new social sciences, he combined an institutional and structural approach with a very close attention to collective representations and emotional ties between groups and individuals. Together, Lucien Febvre and Marc Bloch fought against the borders the established historical scholarship had erected against the new approaches and perspectives linked to social and economic history.36 Just like their forerunners around 1900 they wanted to create  a new kind of historiography but they preached by practice not by programs  –  a tactic that would be much more effective – as the broad international reception of their ideas after the Second World War should demonstrates.37

33 P. Vinogradoff, The Growth of the Manor, New York 1905; M. I. Rostovtzeff, The Social and Economic History of the Roman Empire, Oxford 1926; id., The Social and Economic History of the Hellenistic World, 3 vols., Oxford 1941. 34 On Pirenne see: B. Lyon, Henri Pirenne: A Biographical and Intellectual Study, Ghent 1974. 35 M. Bloch, La société féodale, 2 vols., Paris 1939, 1940; id., Mélanges historiques, 2 vols., Paris 1963. 36 P. Schöttler, Eine spezifische Neugierde: die frühen Annales als interdisziplinäres Projekt, in: Comparativ, vol. 4, 1992, p. 112–126; L. Raphael, The Present as Challenge for the Historian. The Contemporary World in the AESC, 1929–1949, in: Storia della storiografia, vol. 21, 1992, p. 25–44. (German version in this volume, p. 271–291.) 37 C. Fink, Marc Bloch: A Life in History, Cambridge 1989; U. Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt a. M. 1995.

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New concepts and methods Economic and social history and its topics cannot be subsumed in the established discipline of history during the 19th century. Paradoxically, the transformation of history into  a fully-fledged »scientific« enterprise became an obstacle to historians’ acceptance of the new approaches from the 1880s on. As long as economic and social themes simply enriched the older traditions of historical scholarship and writing, such as the history of dynasties, states or parliaments, mainstream historians were rather receptive and prepared to integrate economic and social material in their accounts of the past. But the logic of research in the field of social and economic history posed  a challenge to the epistemological rules and professional norms of the discipline. It generated concepts of collective behaviour and the quantitative data that could no longer be simply integrated in the individualistic narrative of historical writing. The challenge began with the historical method itself, for social and economic historians pushed further the new established standards of source criticism. They often had to cope with »a mass of indifferent trifles«38 in order to construct their »facts« and narratives about social and economic mass phenomena of the past. Statistical material was initially scarce even for those practicing social and economic history of the contemporary period. The breakthrough of official statistical services providing a comprehensive coverage of the hole economic and social life of  a nation was still in the making. The collection of economic data – prices, taxes, population tables – was one of the elementary tasks of early social and economic historians. Quite a number of these collections are still the backbone of more sophisticated and enlarged databases used in current research on the field.39 The construction of historical statistics was one of the basic methodological innovations of social and economic historians. These new approaches undermined the evidence of the philological approach; the new unifying idea for the different kinds of historical sources was that of »traces« of the past. They had to be transformed into »facts« and »data« by a complex work of theoretical and methodical construction. Together with statistics, new auxiliary sciences came to the fore: Archaeology, cartography, geography, linguistics. A look at one of the classic publications of early economic history  – for example Karl Lamprecht’s study about the economic life of the Rhineland in medieval Germany – reveals all these new elements: lists of place 38 Fritz Hartung in a comment on the sources edition of the »Acta borussica«, one of the largest collections of administrative documents concerning economic and social life in ancient Prussia. F. Hartung, Gustav von Schmoller und die preußische Geschichtsschreibung, in: A. Spiethoff (ed.), Gustav von Schmoller und die deutsche geschichtliche Volkswirtschaftslehre, Berlin 1938, p. 277–302, citation p. 299. 39 T. Rogers, History of Agriculture and Prices, Oxford 1866–1887; J. Beloch, Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt, Leipzig 1886.

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names, statistics, maps.40 Frederick Jackson Turner tried to found his »New History« on maps, statistics and the new geography of voting behaviour.41 Regional history turned out to be one of the most innovative research areas during the interwar years, especially under the impact of these new methods of research. Social and economic historians were confronted with at least two fundamental theoretical dilemmas that were at stake in the many controversies about methods between 1880 and 1910.42 The first concerned the nature of historical knowledge. Here the contemporary opposition was that between nomothetic and idiographic knowledge. The dominant philosophies of knowledge led to confusion in this particular question, because positivism and idealism were seen as defenders of the two different positions, the positivist searching for general laws on the one hand, the idealistic in defence of the understanding of the individuality and the particularity of past human life on the other hand. In many countries, historians saw themselves as defenders of  a »scientific« discipline in accordance with the positivism of the natural sciences, however, they did so by producing idiographic knowledge with their own scientific methods. But it soon became evident that the practice of social and economic history could not be subsumed under these categories. The economists of the different historical schools developed two procedures of theoretical generalizing as a compromise between purely deductive general theories as defended by the classic and neo-classic schools, and the simple collection of single data and facts, as defended by radical defenders of inductive methodology. The first procedure used general models of economic or social evolution: the theories of stages of economic development from Marx to Bücher are the classical versions of this kind of historical »laws«. The second employed ideal types, models that deliberately followed a deductive logic to expose the specificities of a whole class of comparable historical phenomena. Max Weber was the most outspoken theorist of this model but he simply generalized a practice widely used by the economists of the historical school. A second dilemma concerned the historicity of values in use by historians. A general debate in cultural studies and in the philosophy of knowledge under the impact of historicism was vital to social and economic historiography as many of their practitioners tried to legitimize their own moral judgments and political proposals for social reform by reference to history and laws of historical development. The relationship between political commitment and historical inquiries was discussed at great length – with no consensus, but most rejecting the risks of relativism.

40 K. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter, 3 vols., Leipzig 1885–1886, especially vol. 2. 41 See W. R. Jacobs, The historical world of Frederick Jackson Turner, New Haven 1968, p. 174 f. 42 See: P. Koslowski (ed.), Methodology of the Social Sciences, Ethics and Economics in the Newer Historical School. From Max Weber and Rickert to Sombart and Rothacker, Berlin 1997.

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Social and economic historians were divided in their answers to these dilemmas. The majority followed common sense empiricism and opted for ontological realism, idiographic practice and the defence of values by history. A minority opted for  a constructivist understanding of their own knowledge often in dialogue with the neighbouring social sciences where these positions were stronger and where theoretical debates had a deeper impact than in the historical discipline. Those social and economic historians who were more ambitious and tried to change their own discipline borrowed extensively from these neighbouring disciplines. Spencer’s organological evolutionism, Max Weber’s new categories for the dynamics of power, markets and sociability, Durkheim’s models of religion, division of labour and structure of societies were taken up by this group of economic and social historians in order to make sense of their material. But they encountered  a profound weakness of the new disciplines: there was no agreement on method, no established practice of research. Rather, alternative approaches coexisted with no resolution of the differences, so that programmatic claims and speculation replaced »positive« facts. The disciplines of anthropology and sociology were still in the making and the first systematic approaches to social facts largely depended on social philosophies as evolutionism, positivism, or idealism. Social psychology – especially its macro-theories about the psychic specificities of cultures, people or »masses« – attracted many social historians in the search of valuable »scientific« theories for their »positive facts«. Geography was also embraced. Historians such as Turner, Lamprecht and Febvre borrowed heavily from human geography and its concepts. When dealing with economic, social or cultural themes regional history largely turned to geography using the methods of cartography to classify its documents and taking up geographical theories about space and human behaviour. The Volksgeschichte of the interwar period further developed this »spatial turn«.43 Social and economic history had to wait for another generation, that of the interwar years, to establish  a practical cooperation and communication with the new social sciences. Here, the French Annales historians and the disciples of Durkheim took the lead, testing the »sociological idea« in confrontation with concrete themes and problems of empirical research.44 Social and economic history did inform the new »historical ideas« among historians. For Siegfried Kracauer »historical ideas« identify those general explanations that shape  a whole field of research by setting new agendas and 43 For the spatial turn see: J. Osterhammel, Raumerfassung und Universalgeschichte im 20. Jahrhundert, in: G. Hübinger et al. (ed.), Universalgeschichte und Nationalgeschichten, Freiburg 1994, p. 51–72; R. Chartier, Science sociale et découpage régional, in: Actes de la recherche en sciences sociales, vol. 35, 1980, p. 26–36; R. Chickering, Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856–1915), New Jersey 1993; R. A. Billington, The Genesis of the Frontier thesis. A Study in Historical Creativity, San Marino, Ca 1971. 44 Schöttler, Neugierde; Raphael, Present; J. Heilbron, Les métamorphoses du durkheimisme, 1920–1940, in: Revue française de sociologie, vol. 26, 1985, p. 203–237.

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generating new narratives.45 One such idea was the concept of nations or other political units as bundles of collective energies. Romanticism had spread the holistic idea of nation or people, giving it  a spiritual core and linking it to the idea of individuality and growth. The progress of the natural sciences pushed forward analogies between biological-organic evolution and historical development. Evolutionism inspired vitalistic and organic models for the understanding of collective phenomena in human history. Lamprecht tried to develop a holistic model of the collective making of the German nation where the anonymous forces and the people played an essential part. He transplanted the idea of individuality from the single person to the nation, defining it as a kind of collective actor. In  a period of nationalism and imperialism such a transfer was very successful and we can find many other examples of this kind of blending together of organicism, evolutionism and holism. Turner’s idea of the »frontier« followed the intuition that »behind institutions, behind constitutional forms and modifications, lie the vital forces that call these organs into life and shape them to meet changing conditions.«46 Another historical idea with strong ties to social and economic history was that of class conflict. The discovery and classification of class conflicts is not the work of economic or social historians, on the contrary they found it already well established in historiography. It was the French liberal school of historiography of the early 19th century that had invented the class conflict before Marx and his school took up the idea. The contemporary realities of growing class struggle – both as organized conflicts about material resources and as the political formation of social classes – gave further impact to this idea. But only the liberal and progressive wing of social and economic historians saw it as a positive fact. For them, class conflict was the driving force behind progress and freedom. This optimism was common to Marxists and to social liberals or democrats. Class struggle became the key to understanding the great political events and turning points of the past. In 1912 Lucien Febvre published his study about Burgundy in the second half of the 16th century.47 He interpreted the victory of the Spanish monarchy in direct connection to the internal class struggle in this province between nobility and bourgeoisie. Charles A. Beard’s famous study about the Economic foundations of the US Constitution was even more radical in adopting the idea of class interest and class struggle to a classical theme of American whig history.48 His key to the understanding of the Constitution was the prosopography of its defenders and protagonists that identified their economic interests. 45 S. Kracauer, History. The Last things before the Last, Oxford 1969, chapter IV. 46 F. J. Turner, Frontier in American history, New York 1920, p. 2, cited in Breisach, History, p. 78. 47 L. Febvre, Philippe II et la Franche-Comté, Paris 1912. 48 C. A. Beard, An Economic Interpretation of the Constitution of the United States, New York 1913.

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Thus, the variety of theoretical approaches to history widened under the rising impact of research on the social and economic aspects of the past, but no unified paradigm took shape before the Second World War that would bind together the different versions and visions of social and economic history. Possibly one of the lasting effects of this early work is that it largely contributed to the pluralism of approaches and currents that is one of the particularities of history in »modern« as well as in »postmodern« times.

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8. The Idea and Practice of World Historiography in France: The Annales Legacy

There are many French historians and they look back to a glorious past of world historiography before the days of the Enlightenment. A comprehensive view of this branch of French historiography, even just for the twentieth century,1 would require more space than is available here. This essay therefore has a more modest aim. It will concentrate on one movement, Annales historiography, and mainly on two people, Henri Berr and Fernand Braudel, and their attempts to write global history. From my point of view, this reduction in scope is justified because this legacy is more than pure tradition and memory; its idea and practice may be interesting for the writing of global history today. French world historiography received a new impetus from the reformers who criticized the somewhat narrow historical practice, centred on politics, biography, and political institutions, which French historians had established since the 1880s. Among the reformers was the philosopher Henri Berr (1863–1954).2 In 1900 he began his career as an influential broker of ideas among French intellectuals, and particularly among scholars in the humanities. He criticized the fragmentation of historical studies in the name of positivist specialization and proposed what he called  a new ›historical synthesis‹.3 In essence, this meant a new arrangement of accumulated knowledge about the past but also a new historical approach including the study of civilization, society, and the economy. It differed from earlier versions of a ›civilization‹ approach in that it started from a more solid scientific basis. Berr underpinned his approach with an eclectic philosophy of history that integrated 1 It should be noted that during the 20th century at least nine Universal History collections were published in France: Clio: Introduction aux études historiques, 13 vols., Paris 1934–1952; Nouvelle clio: L’histoire et ses problèmes, 45 vols., Paris since 1963; F. Braudel (ed.), Destins du Monde, 9 vols., Paris since 1957; H. Berr (ed.), L’évolution de l’humanité, today 98 vols. 61 vols. planned or published under Berr’s direction by 1961, Paris since 1920; E. Cavaignac (ed.), Histoire du monde, 13 vols., Paris 1922–1948; M. Crouzet (ed.), Histoire générale des civilisations, 7 vols., Paris 1953–1957; G.  Glotz (ed.), Histoire générale, 13 vols., Paris 1925–1947; R. Grousset and E. Léonard (eds.), Histoire universelle, 3 vols., Paris 1956–1958; L. Halphen (ed.), Peuples et civilisations: Histoire générale, Paris 1926–1969. 2 A. Biard et al. (ed.), H. Berr et la culture du XXe siècle, Paris 1977. 3 H. Berr, La synthèse en histoire. Essai critique et théorique, Paris 1911. His interest in the theoretical and methodological problems of historiography dates back to his thèse d’Etat: L’avenir de l’histoire: Esquisse d’une synthèse des connaissances fondée sur l’histoire, Paris 1899.

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the ideas of Bergson, Durkheim, and the contemporary neo-Kantians.4 But it was less the content of his programme that made Berr famous and influential than the fact that his programme could serve as a kind of platform to bring together the new currents emerging and diverging in the French humanities during the first three decades of the twentieth century. Durkheim and his students, the founders of the new Annales school in history, Abel Rey and Alexandre Koyré and their students in the field of the history of science and technology, and many specialists in non-European cultures and histories were all living and working in Paris, and they all met Henri Berr. In different ways they participated in his intellectual enterprises that included a review,5 a scientific foundation,6 an annual conference,7 and his great editorial programme of a world history in one hundred volumes.8 World historiography was one important pillar of Berr’s enterprise. In 1913 he launched his editorial project of a series on the ›Evolution of Mankind‹. At first glance, this project looked rather conventional. It imitated the many German universal histories that were contemporary bestsellers. It was equally conventional in its emphasis on intellectual independence from German models, on the ›Frenchness‹ of its own approach – whatever that meant. But within the French academic world dependence on German models was strongly resented, and the idea of emancipation became even more popular after the outbreak of the First World War.9 What made the project into more than just another of those conventional world historiographies that today gather dust in the corners of our libraries? There are probably at least three reasons. The first concerns the founding 4 E. Castelli Gattinara, L’idee de synthese: Henri Berr et les crises du savoir dans la première moitié du XXe siècle, in: Biard, Henri Berr, p. 21–38. 5 M. Siegel, Henri Berr et la Revue de synthèse historique, in: C.-O. Carbonell and G. Livet (eds.), Au berceau des Annales. Le milieu strasbourgeois, l’histoire en France au début du XXe siècle, Toulouse 1983, p. 205–218; M. Fugler, Fondateurs et collaborateurs, les débuts de la Revue de synthèse historique (1900–1910), in: Biard et al. (eds.), Henri Berr, p. 173–188. 6 The foundation ›pour la science‹, created in 1925, financed the ›Centre international de synthèse‹, which since 1927 has been located in the Hôtel de Nevers in the 2nd Arrondissement of Paris. Cf. G. Gemelli, Communauté intellectuelle et strategies institutionnelles: Henri Berr et la fondation du Centre International de Synthèse, in : Revue de Synthèse, vol. 108/4, 1987, p. 225–259. 7 M. Neri, Vers une histoire psychologique: Henri Berr et les Semaines internationale de synthèse (1929–1947), in: Biard, Henri Berr, p. 205–218; B. Bensaude-Vincent, Présences scientifiques aux Semaines de synthèse (1929–1939), ibid. p. 219–230. 8 J. Pluet-Despatin, Henri Berr éditeur. Elaboration et production de »L’Evolution de l’huma­ nité«, ibid. p. 241–268. In 1937 the editor A. Michel took responsibility for continuing the publication of Berr’s series after the death of the founder in 1954. Since the 1960s, many volumes in the original series have been reissued in paper­back. The collection itself still continues, but it has given up the systematical approach of the original programme. Non-European history plays only a marginal role in it. 9 C. Digeon, La crise allemande de la pensée française (1870–1914), Paris 1959; C. Charle, La République des universitaires 1870–1940, Paris 1994, p. 21–60.

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philosophy or the intellectual programme of the series. Berr’s philosophy of history was  a sophisticated version of evolutionism. For him, ›Mankind‹ was the emerging result of converging developments in religion, society, art, and science. This evolution can be observed in the different histories of civilizations and human groups across the globe, but it culminates in the making of Western civilization. This eclectic blend of contemporary Western ideas on progress and its causes encompassed ideas of vitalistic philosophy, classical idealism, and materialistic approaches. At its centre we find the idea of the growing unity of world history, interpreted as a process of integration in the making. Berr stressed the part that ›collective rational enterprises‹ (Toulmin) such as science and art on the one hand, and the emancipation of the individual on the other, played and continue to play in this process. He therefore insisted on the inner evolutionary dynamics of ›reason‹ or ›esprit‹, which turned this ›idealistic‹ argument against purely sociological models of development. Thus Berr wrote: ›Our ambition… will be to understand and explain by its causes and to follow the movement of progress – that is not cumulative continuously and absolutely, but overall and from certain view­points – that gives a sense to the life of mankind.‹10 To get an idea of the kind of ›evolutionism‹ that Berr’s series was inventing we must take  a closer look at the plan of 1913. It was divided into four large chronological sections.11 An introduction dealt with proto-history and the preconditions of history. The second part was devoted to Antiquity, the origins of Christianity, and the Middle Ages, and the two sections on modern history and the contemporary period respectively had not yet been conceived in detail when the plan was published before the First World War.12 This scheme was rather conventional; the new accents become visible when we look more closely at the 10 ›Cette ambition animera donc notre œuvre, de faire comprendre, par ses causes, et de suivre le mouvement progressif – non pas continûment et absolument, mais dans l’ensemble et à certains points de vue progressif – qui donne un sens à la vie de l’humanité.‹ Henri Berr, Introduction à une histoire universelle, in: Revue de synthèse historique, vol. 30/88, 1920, p. 26. 11 I. Introduction (Préhistoire, Protohistoire); Antiquité (6 vols.); II. Le monde antique – Les empires et les civilisations de l’Orient (3 vols.); III. Le monde antique  – La Grèce et la civilisation héllénique (6 vols.); IV. Le monde antique – Rome et la civilisation romaine (7 vols.); V. Le monde antique – en marge de l’Empire romain (4 vols.); 2nd section: Origines du christianisme et Moyen Age: I. Les Origines du christianisme et la crise morale du monde antique (4 vols.); II. L’Effondrement de l’Empire et l’affaiblissement de l’idée monarchique (5 vols.); III. L’impérialisme religieux (4 vols.); IV. L’art du Moyen Age et la civilisation française (1 vol.); V. La reconstitution du pouvoir monarchique (3 vols.); VI. L’évolution économique et la bourgeoisie (2 vols.); VII. L’évolution intellectuelle (3 vols.); VIII. Le passage du Moyen Age aux temps modernes (3 vols.). H. Berr, La »bibliothèque de synthèse historique«, in: Revue de synthèse historique, vol. 28/83–4, 1914, p. 337–342. 12 When these sections were planned after 1918 Berr gave up the detailed scheme he had proposed for the two other sections and merely listed 22 new titles for the period from 1500 to 1800. He gave priority to the history of science and ideas (7 vols.) but non­European history was dealt with only in the context of European expansion (2 vols.).

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main sections, where chronological order is completely abandoned. Instead, we find individual volumes devoted to an entire civilization – especially those outside the traditional European area – or to religion, law, political institutions, the economy, art, or science. The classical historiography of battles, conquests, treaties, and dynasties was drastically reduced in this world historiography. The whole series was a collection of monographs, and each book was to have a unity of its own. Each volume had only one author or one responsible editor who organized the collaboration of other specialists. Berr did everything to distinguish his undertaking from the usual practice of other world histories that were mere collections of independently conceived articles or chapters written by specialists. The second reason for Berr’s success was his idea to enlarge the circle of scholars and disciplines participating in the enterprise. In his view, the authors should have different horizons and integrate the different approaches relevant to their particular field of research. Alongside historians, we find sociologists, philosophers, orientalists, linguists, and so forth. Volumes one to six, comprising the introductory section, in particular, were written by specialists not in history, but in neighbouring disciplines. Here the public was exposed to new approaches to history. Thirdly, Berr’s programme was open to experimentation. He presented an integrative plan for the whole series. However, many titles in his list were merely programmes for new research. In contrast to other contemporary philosophers of history such as Spengler or Toynbee, he did not try to create a new system of his own, but conceived of his collection as an empirical testing ground for some of his main ideas. In his mind, the collection was a kind of work in progress in world history. Again and again he used his prefaces to redefine the whole programme and to integrate the new findings represented by the volume just published.13 But, as often happens with this kind of collective intellectual enterprise, intention and reality diverged. In fact, Berr maintained the direction of the series throughout his long life, and when he died in 1954, 52 of the 100 volumes had been published, while seven more volumes were in the making. Nevertheless, the programme as an identifiable whole did not survive the interwar period. The First World War had seriously undermined the beginning of the project. Authors and plans had to be revised in the 1920s and Berr had had to struggle hard against the conventionalism of the academic milieu.14 The collection became more traditional and conventional than Berr had originally intended. European history largely dominated, while the common perspectives for an integrative synthesis of global history faded away. Typically, the collective memory of the learned world has retained individual outstanding books more than the grand plan and the original programme. This is the case, for instance,

13 His prefaces are reprinted in: H. Berr, En marge de l’histoire universelle, 2 vols., Paris 1934, 1953. 14 Pluet-Despatin, Henri Berr éditeur, p. 252, 261.

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with such brilliant volumes as those by Marcel Granet on Chinese thought and society, Marc Bloch on feudal society, and Lucien Febvre’s study of religion at the time of Rabelais.15 They were all published in Berr’s collection. In some respects, however, we must speak of failure, mostly because Berr had no academic power to organize a school and to impose his ideas, in a practical way, on a more or less reluctant academic community. During his life he remained marginal to the academic establishment of the Sorbonne that rejected his heterodox ideas and his interdisciplinary approach. These difficulties may partly explain why there was no major engagement with universal historiography and its problems among the first generation of Annales historians. Lucien Febvre and, to  a minor degree, Marc Bloch, the founders of the new review in 1929 and leading figures of its first generation, both took part in the collective enterprise of Henri Berr’s review,16 and his editorial project.17 But both reformers in the field of historical practice were convinced that substantial changes within their discipline could not be achieved by engaging themselves in a field in which the risk of amateurish failure and vague generalization was disproportionally high,18 and which would not convince the orthodox majority of their colleagues. Both preferred to speak of new subjects and new methods in medieval and modern European history rather than of historical synthesis.19 It was here that Marc Bloch advocated the comparative method.20 His own contribution to Berr’s collection was a masterly integrative view of European medieval society. However, he did not engage in a systematic comparison with other societies and periods in which constellations similar to European feudalism could be found, merely dedicating some final remarks 15 M. Granet, La civilisation chinoise, Paris 1929; M. Granet, La pensée chinoise, Paris 1934; L. Febvre, Le problème de l’incroyance au XVle siècle: la religion de Rabelais, Paris 1942, English trans.: The Problem of Unbelief in the Sixteenth Century: the Religion of Rabelais, Cambridge, Mass. 1982; M. Bloch, La société féodale, Paris 1939–1940, English trans.: Feudal Society, London 1961. 16 J.-P. Aguet and B. Muller, »Combats pour l’histoire« de Lucien Febvre dans la Revue de synthèse historique (1905–1939), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, vol. 35, 1985, p. 389–448. 17 In addition to his study on Rabelais, Lucien Febvre wrote two other volumes in the series: La terre et l’évolution humaine, Paris 1922, English trans.: A Geographical Introduction to History, London1925; and with H.-J. Martin, L’apparition du livre, Paris 1958, English trans.: The Coming of the Book, London 1976. Lucien Febvre was still working on a third book for Berr’s collection when he died in 1956. Robert Mandrou completed it under the title Introduction à la France modern, Paris 1961, English trans.: Introduction to Modem France, London 1975. 18 Cf. Febvre’s critique, De Toynbee à Spengler: Deux philosophies opportunistes de l’histoire, in: id., Combats pour l’histoire, Paris 1953, p. 119–146. 19 B. Muller, Lucien Febvre et Henri Berr: De la synthèse a l’histoire-problème, in: Biard, Henri Berr, p. 39–60. 20 M. Bloch, Pour une histoire comparée des sociétés européennes, in: Revue de synthèse, vol. 46, 1928, p. 15–50.

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to the Japanese case.21 In fact, neither Febvre nor Bloch, by temperament or specialization, were global historians. Febvre confronted the problems of world history as one of the academic organizers of the new French encyclopedia in the 1930s and, after the Second World War, of the UNESCO history of mankind. In the last four years of his life he was co-editor of the newly created review Cahiers d’histoire du Monde. But in neither case did his activities have any direct impact on the practice of Annales historiography. Nor did they stimulate him to reflect on the problems of historical synthesis at this level. Febvre’s enthusiasm for coordinated research programmes in history, which had been intense before the Second World War, was renewed when he became president of the newly founded 6th Section of the École Pratique des Hautes Études in 1949. We shall see that this commitment to collective research laid the foundations for future initiatives in global history at this new school for the social sciences.22 The first era of Annales historiography between the wars represents an interlude, and, as far as the practice of world historiography is concerned, even  a step back from the large horizons which Berr’s synthèse historique had opened. None the less, it was fruitful in stimulating further developments. Bloch and Febvre with their collaborators introduced new methods and ideas into historical research in France. They pioneered an interdisciplinary approach that widened the horizons of historical practice in France.23 After the Second World War, while Fernand Braudel reigned as the intellectual leader and organizer of the Annales movement,24 world historiography was established as an integral part of the Annales programme. Unlike the founders of the Annales movement, Fernand Braudel always had great sympathy for a global view of the subjects of his own research.25 All his major contributions, especially his three books on the Mediterranean world, his study of the history of civilizations, and finally his work on capitalism and the economic history of the modern period, are partly or completely conceived as contributions to problems of world history. As in the case of Henri Berr, we may distinguish 21 But he was always strongly interested in comparative studies on the Mediterranean or East European area. For  a critical appraisal of Bloch’s comparative European approach see L. Valensi, Retour d’Orient: De quelques usages du comparatisme, in: H. Atsma and A. Burguière (eds.), Marc Bloch aujourd’hui: Histoire comparée et sciences sociales, Paris 1990, p. 307–316; E. Patlagean, Europe, seigneurie, féodalité: Marc Bloch et les limites orientales d’un espace de comparaison, ibid. p. 279–298. 22 L. Febvre, Pour une histoire dirigée: Les recherches collectives et l’avenir de l’histoire, in: id., Combats, p. 55–60. 23 P. Schöttler, Eine spezifische Neugierde: Die frühen Annales als interdisziplinäres Projekt, in: Comparativ, vol. 1/4, 1992, p. 112–126. 24 J. H. Hexter, Fernand Braudel and the Monde Braudellien, in: Journal of Modem History, vol. 44, 1972, p. 480–539. 25 This aspect of Braudel’s work is emphazised by C. A. Aguirre Rojas, Fernand Braudel und die modernen Sozialwissenschaften, Leipzig 1999, and G. Gemelli, Fernand Braudel e l’Europa universale, Venice 1990.

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between intellectual programme and practice. Early in his career Braudel had developed a global vision of history, a view that had unfolded since the 1940s. At the core of his global approach we find a geographical perspective on the past and great sensitivity for the importance of the spatial dimension of history. His own approach was clearly expressed for the first time in his study on the Mediterranean world during the reign of Philip II of Spain.26 Braudel profited from the strong intellectual ties between the French school of human geography and the Annales movement, but he was also influenced by Ratzel and the German school of historical geography.27 He strictly rejected the geo-political programme linked with the name of Ratzel and the generalizations put forward by his pupils. However, Braudel took some essential theoretical inspirations from both schools. Thus in all his books he underlined the impact of geographical forces such as topography or climate on the course of civilizations, politics, and economics throughout history. He did not hesitate to speak determining forces  – without adopting any monocausal explanation of historical events in terms of geography. Jürgen Osterhammel identifies four points where the geographical perspective is palpable in Braudel’s work: his sensitivity to historiographical representation of space; the search for geo-historical patterns in secular economic or cultural developments; attention to the basic facts of migration, including movements of animals, plants, and microbes; and, finally, an interest in phenomena linked to the frontier.28 There are many traces of this geo-historical view in Braudel’s later books but his sensitivity to the restrictions and possibilities which geography imposed on the course of human actions never became a closed system of geographical explanation. A second feature of Braudel’s view of global history is the attention he paid to cultural conflicts or transfers between civilizations. Aversions and affinities induced by secular habits, religious beliefs, and everyday practices are interpreted as vital forces shaping spatial borders and cultural transfers between neighbouring civilizations. In Braudel’s view there is  a long chain of hidden homologies from the material life directly influenced by climate, soil, and topography to the most sophisticated aspects of culture, religion, and philosophy, linking the geo­historical and cultural particularities of each civilization. In his History of Civilizations, written at the end of the 1950s and published in

26 F. Braudel, La méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, Paris 1949; 19662, English trans.: The Mediterranean and the Mediterranean World, in the Age of Philip II, London 1972–1973; cf. S. Kinser, Annaliste Paradigm? The Geohistorical Structuralism of Fernand Braudel, in: American Historical Review, vol. 86, 1981, p. 63–105. 27 P. Burke, The French Historical Revolution. The Annales School 1929–1989, London 1990, p. 37;  a more detailed view is found in: J. Osterhammel, Raumerfassung und Universalgeschichte im 20. Jahrhundert, in: G. Hübinger et al (eds.), Universalgeschichte und Nationalgeschichten, Freiburg 1994, p. 51–72. 28 Osterhammel, Raumerfassung, p. 70–72.

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1963, Braudel defined civilizations in terms of four dimensions: spaces, societies, economies, and collective mentalities.29 Thirdly, Braudel’s view of global history was deeply influenced by his conviction that we cannot explain the facts of the past or the present without looking at the effects of what he called the longue durée, of those structures that we find present for long periods of time.30 These effects become visible only when we separate ourselves from the normal temporality of political events, economic cycles, and cultural epochs. In this respect, Braudel never accepted the well-established chronological divisions of Western historiography. This distance enabled him to take a fresh look at different temporalities in all civilizations and histories he encountered during his investigations in global history. The fourth point concerns chronology. His specialization as  a historian of the long sixteenth century made Braudel  a historiographer of the process of globalization of history under the impact of European capitalism and colonial expansion.31 Here he was working in a well-established field of historical and sociological research. In some respects he took up the question which the ›younger German historical school‹ of national economy had formulated at the end of the nineteenth century and which outstanding works such as those of Werner Sombart and Max Weber had tried to answer. Like his German colleagues fifty years previously, Braudel started from economic facts but finished with society, culture, and science. Thus his book on the rise of Western capitalism became a kind of total history of all aspects with any relevance for an economic world history between the fourteenth and the nineteenth century.32 In his History of Civilizations Braudel identified civilizations as those units in which the effects of longue durée are the most visible and those realities that most obviously, even today, cannot be explained without history. He underlined the impact of the cultural background of all the economic and political problems dealt with by contemporary modernization theory or development schemes. Thus, when turning back to the classical problems of economic history in the 1960s, Braudel adopted the strong traditions of world historiography centred on the analysis of civilizations. He did not accept the impressionistic or purely 29 F. Braudel, La Grammaire des civilisations, Paris 1963, 1987, p. 40–54, English trans.: A History of Civilizations, London 1994. 30 F. Braudel, Histoire et sciences sociales: La longue durée, in: id., Écrits sur l’histoire, Paris 1969, p. 41–84; English trans.: On History, Chicago 1980. 31 F. Braudel, Civilisation matérielle, économie et capitalisme XVe-XVIlle siecle, vol. 1: Les structures du quotidien, Paris 19792, English trans.: The Structure of Everyday Life, London 1981; vol. 2: Les jeux de l’échange, Paris 1979, English trans.: The Wheels of Commerce, London 1982; vol. 3: Le temps du monde, English trans.: The Perspective of the World, London 1983. 32 The unexpected architecture of his trilogy was widely discussed and is still commented on by historians: S. Kinser, Capitalism Enshrined: Braudel’s Triptych of Modem Economic History, in: Journal of Modem History, vol. 53, 1981, p. 673–682; I. Wallerstein, Braudel on Capitalism, or Everything Upside Down, in: id., Unthinking Social Science, London 1991, p. 207–217.

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descriptive practice often linked to this cultural approach. He repeatedly suggested constructing concepts and models capable of explaining sequences and continuities in global history.33 Comparing different units in time and space, Braudel did not hesitate to go back to authors arguing from an evolutionary or Eurocentric point of view, but he always kept his distance from Eurocentric views. The fifth point concerns the way in which Braudel dealt with these problems of world history. While for many other historians world history was a suitable subject for  a lecture,  a mere question of intellectual pleasure, for Braudel it was a serious research activity and a matter of organization. He insisted on the necessity for further historical investigations in African, Asian, and American studies in order to provide a more solid basis of comparative practice that could dispense sufficient data and attain comparable standards of knowledge. Braudel was a convinced empiricist as far as the creation of sound historical models was concerned. In his view, inductive historical concepts should not be replaced by grand social theory or models imported from other human sciences. Thus there is  a much stronger link between theory and practice, between historiography and historical research in the case of Braudel than in the case of Berr. We must bear in mind that behind the author Braudel we find a staff of collaborators engaged in the research necessary for his books.34 Thus the second edition of The Mediterranean and The Mediterranean World in the Age of Philip II reflects the collective research programmes which the historical research centre at the 6th Section of the École Pratique des Hautes Études (EPHE) had developed since the early 1950s. In the case of the first volume of Braudel’s book on capitalism, the journal itself, the Annales ESC, and the CRH were involved, providing essential research, for example, for the project of the world atlas of plants and domestic animals or on enquiries about nutrition.35 Braudel’s engagement with global history is strongly linked to the institutional framework he tried to build up as president of the 6th Section of the EPHE (1956–1972). When creating the new departments of the ›aires culturelles‹ he voted for the establishment of  a completely new section.36 This adopted the US subject of area studies, but transformed it by increasing the number of disciplines involved. Between 1956 and 1960 the first four centres for area 33 F. Braudel, La dynamique du capitalisme, Paris 1985, English trans.: Afterthoughts on Material Civilisation, Baltimore 1977. 34 L. Raphael, Le Centre de recherches historiques de 1949 à 1975, in: Cahiers du Centre de Recherches Historiques, 10, Paris 1993. 35 In 1961 the journal introduced a special section for these enquêtes ouvertes: Vie matérielle et comportements biologiques, Bulletin 1 f., Annales ESC 1961, p. 545 ff., ibid.: 1962, p. 75 ff., p. 477 ff., p. 818 ff., p. 885 ff., p. 1141 ff., ibid.: 1963, p. 138 ff., p. 521 ff., p. 1133 ff., ibid. 1964, p. 467 f., p. 933 ff., ibid. 1966, p. 1026 ff.; Histoire de la vie matérielle, Bulletin p. 2 f., ibid. 1961, p. 723 ff., Pour un Atlas d’Histoire de la vie matérielle: Cartes historiques des cultures vivières, ibid.: 1966, p. 1012 ff. 36 B. Mazon, Aux origines de l’E. H. E. S.S., le rôle du mécénat américain, Paris 1988, p. 119–136.

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studies (Africa, India, China, and Russia / Eastern Europe) were created; in the next twenty years another twenty research units followed.37 The whole range of the humanities was to be present in the newly created departments, and history played an important part as the federating discipline. Typically the experts of the Rockefeller Foundation responsible for the first grants given for the new discipline of area studies in Paris in 1954 were reluctant to spend their dollars, intended to defend the West in the Cold War, on modernizing the world of historical research on such remote topics as, for example, the Sung era in China.38 Of course, there is no automatic link between the introduction of area studies and a turn towards global history. Nor was this the case among Annales historians. But during Braudel’s presidency of the 6th section of the EPHE, we can observe a growing interest in a comparative approach and in exchanging research results between the different disciplines and across the borders separating the different research units (namely, on Russia, Islam, Africa, East Asia, and India). Naturally, this practice was heavily centred on Braudel who, in this respect, ensured that his institutional tasks as the president of the EHESS coincided with his personal interests as  a historian of global ambitions and curiosities. The last point characterizing the particularities of Braudel’s approach concerns his theoretical ambitions. For him, world history was more than rearranging empirical data according to the classifications of Weber’s historical sociology or of the other classics of sociology. Braudel never accepted a simple adoption of modernization theory, not even of the models of Immanuel Wallerstein that were largely inspired by his own ideas. Instead he insisted on the necessity to approach the realities of the past more closely in proposing historiography as the best way of integrating the somewhat unilateral views and explanations of the other social sciences. In this respect, world history was to be the level at which mature historical models could be tested. The ongoing work for his study of the rise of Western capitalism in the later 1960s and 1970s led Braudel himself to formulate some general models to serve as guides for further investigations in global history. At the same time he insisted on the need for social theories to be subjected to rigorous empirical testing by historical investigation. Thus his own contribution in this field is not easy to sum up or to reduce to an abstract model. First, he developed the model of économie monde, a French neologism created to distinguish the two meanings of the German term Weltwirtschaft – the first referring to the world economy in the sense of an economy encompassing the globe (économie mondiale), and the second referring to an economic system structuring production, consumption, and distribution in one part of the globe (continent or region). Before the globalization of Western capitalism, all eco37 D. Lombard, De la vertu des »aires culturelles«, in: J. Revel and N. Wachtel (eds.), Une école pour les sciences sociales: De La VI Section à l’École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris 1996, p. 115–125. 38 Mazon, Aux origines, p. 123.

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nomic systems encompassed only parts of the globe. Therefore exchange and transfer between them, across their borders, and on their margins were essential to explain the dynamics of economic world history. In Braudel’s model, each regional system gained vitality and dynamics from strong internal hierarchizations between an organizing political, cultural, and economic centre whose economic and military power and cultural attraction penetrated the whole area covered by the system (until the creation of nation-states and national economies at the end of the eighteenth century, this centre was always a city), an intermediary zone of attraction, and a periphery where the negative consequences of an essentially unequal exchange of men, goods, and capital accumulated. Braudel’s idea was systematically developed and articulated by Wallerstein, but, as has just been mentioned, the French historian remained sceptical about the more schematical sociological models, without denying his fundamental agreement. Secondly, this model implies the coexistence of different modes of production and of different temporalities within each regional economic system. The unequal flow of capital between centre and periphery is based on the coexistence of technologically advanced forms of production with older, traditional, or even archaic forms. The idea of the coexistence of different temporalities, first expounded in Braudel’s book of 1949, gives way to a model of different economic spheres. Once again, there is a triad of everyday routines of consumption and the production needed for them, the market economy, and grand capitalism, whose essence lies in its capacity to monopolize the economic opportunities which large distances and different spheres of consumption and production offer for capital accumulation. Development within these world economies is mainly the result of a cyclical movement of centripetal and centrifugal flows of capital linked with political and cultural struggles for hegemony inside the regions included in the economic system. As Braudel showed in the third volume of his book on the rise of capitalism, spatial shifts in the centres of the European economy more or less followed the rhythm of long-term economic cycles. Phases of conjunctural baisse always exacerbated the struggle for domination between competing economic and military powers, and thus often prepared a shift in regional leadership. The globalization of the Western world economy is seen by Braudel as  a special case of expansion, and particularly of the successful penetration of other world economies by one economic system. He emphasized the importance of American resources for the success of European trade and colonial expansion in the Asian economies.39 Braudel risked formulating general models in economic history, but he was much more reluctant when cultural and political dimensions were at stake. He generally refused to give credit to any variety of cultural explanation for the rise of Western civilization. At the same time, he underlined the impact of differences between civilizations for the spatial structuring of 39 Cf. F. Braudel, L’expansion européenne et la longue durée, in: id. Les ambitions de l’histoire, Paris 1997, p. 468–483.

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economic areas and the formation of political or economic borderlands and peripheries.40 Braudel’s models were not intended to form  a comprehensive theory, but to sum up the results of historical research and to guide further studies. Braudel himself revisited his own ideas again and again, and confronted them with the views of economists and sociologists.41 If we compare what happened in Paris around Braudel during the 1960s and l970s with projects and activities in the academic world outside France, we suddenly see an important feature of the French way or the Braudelian approach. He did not relinquish the problems of global history and the grammar of civilizations to the social sciences or the historical sociology that was taking shape during the same period in other Western countries. Braudel defended his own discipline. He was convinced that there was a need for a genuinely historical approach to the current problems of world politics and that therefore historians had to defend their own area of research against the ›imperialism‹ of other disciplines through an all-embracing integrationism. It is fascinating to see that even Braudel, one of the great figures in the academic world of the French social sciences between 1956 and 1972, did not succeed in implementing  a coherent practice of world historiography based on empirical research. This invites further reflection on the institutional and intellectual preconditions and perspectives of any other global history project. The French case provides some elements for a debate on this question. First, we observe that the Braudelian commitment to world historiography was shared with enthusiasm by foreign scholars who went to Paris and worked with him.42 However, among French historians interest was much smaller. It was not Braudel’s global history of civilizations and economies that attracted the new Annales historians, but the programme of Labrousse, his colleague at the Sorbonne. Although strongly influenced by Marx, Labrousse’s approach was strictly national, not even European in scope and outlook.43 Thus the great majority of the books and articles written by Annales historians dealt with France. One cannot but see this as the revenge of the longue durée, when looking at all the great historians of this school writing about classical themes of French 40 This idea is strongly expressed in his books on the Mediterranean world and in his history of civilizations. 41 This dialogue can now easily be followed in the collection of his articles and conferences: F. Braudel, Écrits sur l’histoire; Les Dynamiques; Écrits sur l’histoire II, Paris 1990; and Les ambitions. 42 One of the most famous historians in this international group is Ruggero Romano who represented  a personal link between the research groups in Paris and the Geneva group around P. Bairoch, the other outstanding figure of Francophone world historiography in the 20th century. J.-F. Bergier et al. (eds.), Ruggiero Romano aux pays de l’histoire et des sciences sociales, in: Revue européenne des sciences sociales, vol. 31/64, 1983. 43 Burke, French Historical Revolution, p. 53–57, p. 74 f.; for a more detailed analysis see my own study, L. Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre. ›Annales‹-Historiographie und ›nouvelle histoire‹ in Frankreich 1945–1980, Stuttgart 1994, p. 137–147, p. 244–314.

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national history. Nation-centred school curricula and examination schemes had an impact, but perhaps we should pay attention to traditional and new public demands for national historiography that editors cannot avoid satisfying.44 We should not forget another effect, visible in the field of the area studies that developed quickly in the cosmopolitan world of Parisian scholarship. Scholars in the newly created centres of area studies followed the classical strategy of any specialized field of research: they did not waste time on questions concerning world history. They were reluctant to draw comparisons and strongly defended their own field of research against intruders from Europe or elsewhere. Thus the EHESS is still a vital centre for African, Asian, and Islamic studies, but it is not a booming centre of world historiography. The Annales tradition and the French approach to world history during the twentieth century must be placed in a broader context. It is evident that the Annales practice – and to a minor degree even its programme  – was centred on Europe and European history. This became clear in the case of Berr’s ›Evolution of Mankind‹ series, in which the highest intellectual values, like reason and science, were at stake and the Greek miracle was presented. It was obvious even in the case of Braudel when he clearly put the particularities and singularity of Europe at the centre of his third volume. The second point concerns the problem of the epistemological preconditions for these practices. Before the Second World War a universalistic interpretation of world history dominated. This rationalistic unitarian view of a single history of mankind in the making was strongly tied to an evolutionary vision of the past. After 1945 cultural relativism and a pluralistic view of civilizations predominated, but it was counterbalanced by an interest in universalistic categorization and comprehensive models at the level of historical explanation. Finally, the third point takes up a distinction made by the German scholar Ernst Schulin when he categorized the different approaches to world historiography during the twentieth century. In 1974 he distinguished between an analytic-structural approach and  a spatial-relational one centred on geography, migration, and cultural contact.45 In my view the French Annales legacy participates in both traditions and, at its best, the French way succeeded in combining the advantages of both in a special form of synthèse historique.

44 L. Raphael, Flexible Response? Strategies of Academic Historians Towards Larger Markets for National Historiographies and Increasing Scientific Standards, in: R. Torstendahl (ed.), An Assessment of Twentieth-Century Historiography, Stockholm 2000, p. 129–150. 45 E. Schulin, Einleitung, in: id. (ed.), Universalgeschichte, Cologne 1974, p. 11–65, at p. 42–44.

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9. Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht: Die Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 1974–1999

Geschichte und Gesellschaft ist zu einer Tradition geworden. Die Analyse der ersten 25 Jahrgänge der Zeitschrift bietet Gelegenheit, die Aneignung des Erbes der »Bielefelder Schule«1 und die gegenwartsbezogene Neuerfindung dieser Tradition im Licht einiger wissenschaftshistorischen Befunde zu spiegeln. Eine solche wissenschaftshistorische Skizze gerät leicht in die Gefahr, ihren Gegenstand aus den zeitgenössischen Kontexten zu lösen. Ähnlich wie im Fall ihrer Vorläufer und Vorbilder wie past and present oder den Annales E. S. C. taucht hinter und in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft zugleich auch eine historiographische Strömung auf.2 Eine gründliche wissenschaftshistorische Untersuchung setzte voraus, dass dieser Kontext in die Analyse von Funktionsweise, Kommunikationsformen und Wirkungen der Zeitschrift systematisch mit einbezogen würde; das kann im folgenden Beitrag nicht geleistet werden, die Analyse wird sich auf das Kommunikationsmedium Zeitschrift und die dort sich niederschlagenden Prozesse von Forschungsorientierung und Wissenschaftssteuerung konzentrieren.3 Zum anderen gerät eine Untersuchung über Geschichte und Gesellschaft auch leicht in den Verdacht, Partei zu ergreifen, pro oder contra Stellung zu beziehen 1 Vgl. T. Mergel u. T. Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, München 1997; T. Welskopp, Sozialgeschichte der Väter, in: GG, Jg. 24, 1998, S. 173–198. 2 Vgl. F. Lenger, »Historische Sozialwissenschaft«. Aufbruch oder Sackgasse? in: C. Cornelissen (Hg.), Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie. Wolfgang J. Mommsen und seine Generation, Berlin 2010, S. 115–132; B. Hitzer u. T. Welskopp, Die »Bielefelder Schule« der westdeutschen Sozialgeschichte. Karriere eines geplanten Paradigmas?, in: dies., Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen, Bielefeld 2010, S. 13–31; L. Raphael, Bielefeld School of History, in: J. D. Wright (Hg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Bd. 2, Oxford 2015, S. 553–558. 3 Zur Analyse herangezogen werden konnten außer der Zeitschrift selbst die Protokolle der ersten 17 Herausgeberkonferenzen, die über Entscheidungen und Beratungen im offiziellen Trägerkreis der Zeitschrift zwischen 1974 und 1997 berichten (im Folgenden zitiert als GG-Protokolle). Ich möchte ganz herzlich dem geschäftsführenden Herausgeber HansUlrich Wehler dafür danken, diese Unterlagen bereitgestellt zu haben. Der umfangreiche Briefwechsel der Geschäftsführung mit Autoren und Herausgebern ist leider der Aktenvernichtung zum Opfer gefallen.

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gegenüber einer »Schule«, die mit ihren wissenschaftlichen Leistungen zugleich auch akademische Machtpositionen und intellektuelle Standpunkte im (west) deutschen Historikerfeld innehat. Der Verfasser des folgenden Beitrags ist selbst Teil dieses Historikerfeldes.4 Verfahren teilnehmender Beobachtung sind notorisch unzuverlässig und erfordern ein hohes Maß an methodischer und theoretischer Aufmerksamkeit und Reflexion.5 Gerade angesichts der begrenzten Quellenbasis ist deshalb im Folgenden immer wieder auch das zwar in seiner interpretatorischen Durchdringung begrenzte, aber für eine erste Objektivierung von standortgebundenen Einsichten unumgängliche Verfahren quantifizierender Gewichtung von Inhalten und Beziehungsmustern gewählt worden.

I. Entstehung, Rahmenbedingungen und Position im Feld der Fachzeitschriften Die Zeitschriftengründung Geschichte und Gesellschaft ist die auffälligste und vielleicht bleibendste Spur der thematischen, methodischen und personellen Neuorientierung in der westdeutschen Geschichtswissenschaft am Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre. Als das erste Heft des ersten Jahrgangs 1975 erschien, konnte dies als letzte Bestätigung verstanden werden, dass nunmehr eine Gruppe jüngerer kritischer Neuzeithistoriker, die seit der Mitte der sechziger Jahre gegen den »mainstream« der traditionellen Politikgeschichte, ihre nationalkonservativen Wertorientierungen und ihr historistisches Selbstverständnis angetreten war, Sitz und Stimme innerhalb der westdeutschen Historikerzunft errungen hatte.6 Vorschnell wird denn auch bis heute die Zeitschrift selbst als Organ dieser Richtung, der »Bielefelder Schule«, identifiziert, obwohl, wie wir noch sehen werden, programmatische Ausrichtung und konkrete Gestaltung der Zeitschrift von Anfang an breiter angelegt waren. Für die rasche Durchsetzung innerhalb der wissenschaftlichen Fachkommunikation war jedoch zweifellos von großer Bedeutung, dass die Gründung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als die Protagonisten dieses wissenschaftlichen Vorhabens bereits fachliche Anerkennung und gesicherte akademische Positionen innerhalb des westdeutschen Historikerfeldes errungen hatten. 4 Zu dem von Bourdieu übernommenen Konzept und zur Anwendung auf die französische Historikerschaft siehe: L. Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre. »Annales«-Geschichtsschreibung und »nouvelle histoire« in Frankreich 1945–1980, Stuttgart 1994, S. 45–52. 5 Der Autor dieses Aufsatzes hat selbst seit 1996 immer wieder Beiträge in Geschichte und Gesellschaft publiziert. 6 Vgl. aus der rückschauenden Akteursperspektive: H.-U. Wehler, Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München 2006, S. 69–106; J. Kocka, D. Michelsen u. M. Micus, »Ein hohes Maß an Experimentierbereitschaft«. Die Bielefelder Schule und die günstige Gelegenheit der siebziger Jahre. Interview mit Jürgen Kocka, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 3, 2014, S. 95–108.

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Die Risiken zünftiger Boykottmaßnahmen waren zudem minimal: Der Ausbau von universitären Lehr- und Forschungsstellen für Historiker schuf zusammen mit dem Boom der Studentenzahlen im Fach Geschichte eine kaufbereite Leserschaft, die auch das verlegerische Risiko in den Anfangsjahren gering hielt.7 Einige Zahlen können dies verdeutlichen: Die Zahl der Studierenden im Fach Geschichte stieg zwischen 1975 und 1983 von 14.499 auf 23.341 und lag Ende der achtziger Jahre bei 21.278. Parallel dazu wuchs der Kreis universitärer Historiker von 1.054 auf 1.409. Insbesondere die neuere und neueste Geschichte profitierte vom Ausbau des Studienbetriebs.8 Die beim ersten Herausgebertreffen im Februar 1974 geäußerten Erwartungen (900 Abonnenten, 300 freiverkaufte Exemplare pro Heft) lagen nur knapp unterhalb der vom Verlag signalisierten Schwelle von 1500 Abonnenten, die für eine solide Eigenfinanzierung des Projektes als notwendig angesehen wurde. Bereits im zweiten Erscheinungsjahr konnte man dieses Ziel überschreiten; weitere zwei Jahre später wurde die Zeitschrift bereits in einer Auflage von 2000 Exemplaren gedruckt, zum 1.1.1980 hatten laut Verlegerbericht vor den Herausgebern 1841 Leser die Zeitschrift abonniert, und mit ca. 2000 Abonnenten wurde dann 1982 der vorläufige Höhepunkt dieser Aufwärtsentwicklung erreicht.9 Seitdem hat sich die Abonnentenzahl in der Regel unterhalb dieses Spitzenwertes gehalten, die Zeitschrift musste jedoch nicht wie viele andere geisteswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Fachzeitschriften in den späten achtziger und den neunziger Jahren einen spürbaren Rückgang in den Abonnements hinnehmen.10 Gerade die relative Stabilität der Absatzzahlen in einer insgesamt ungünstigeren Konjunktur kann als Indiz dafür gelten, dass Geschichte und Gesellschaft nach 25 Jahren einen festen und prominenten Platz in der Palette der histori7 Die Spuren dieser besonderen Leserkonstellation werden vor allem in den Überlegungen im Herausgeberkreis deutlich, dem wachsenden Kreis von Geschichtslehrern bzw. Historikern in anderen beruflichen Funktionen attraktive Angebote zu machen. So spricht das Vorwort von 1975 ausdrücklich als Ziel an, eine breitere Leserschaft über die Entwicklungen in den Nachbardisziplinen zu informieren, im Juli 1975 wurde auf dem vierten Herausgebertreffen erwogen, »eine didaktische ›Zubereitung‹ von Stoff und Thema (S. 10–12) experimentell zu erproben, um eventuell die Adressatengruppe der Lehrer besser zu erreichen«. Ähnliche Erwartungen formulierte in seiner kritischen Würdigung der neuen Zeitschrift W. Conze: »Dem in den letzten eineinhalb Jahrzehnten sprunghaft angestiegenen Autorenangebot dürfte eine ähnlich vermehrte Leserschaft entsprechen, umso mehr, als sich die Herausgeber im Untertitel der Zeitschrift als Vertreter einer ›Historischen Sozialwissenschaft‹ vorstellen, die für die Grund- und Leistungskurse im ›Gesellschaftlichen Aufgabenfeld‹ der Sekundarstufe II an den Gymnasien Beachtung wert sein könnte.« W. Conze, Zu den ersten drei Heften von »Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft«, in: AfS, Jg. 16, 1976, S. 622–624, hier S. 623. 8 P. Weingart u. a. (Hg.), Die sogenannten Geisteswissenschaften: Außenansichten, Frankfurt a. M. 1991, S. 114 f. 9 Vgl. GG-Protokolle: 6. Herausgeberkonferenz 1977, S. 1; 7. Konferenz 1978, S. 1; 8. Konferenz 1980, S. 1; 9. Konferenz 1981, S. 2; 10. Konferenz 1982, S. 1. 10 Vgl. ebd.: 11. Konferenz 1983, S. 1; 12. Konferenz 1984, S. 1; 13. Konferenz 1986, S. 3; 14. Konferenz, S. 1; 16. Konferenz 1993, S. l.

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schen Fachzeitschriften gewonnen hat und als unentbehrliche Informationsquelle über die neuere Forschung und den aktuellen Diskussionsstand der deutschen Sozialgeschichtsschreibung galt. Mit solchen Vertriebszahlen konnte die neugegründete Zeitschrift in kürzester Zeit zu einem der drei meistgekauften Fachorgane (neben der Historischen Zeitschrift und Geschichte in Wissenschaft und Unterricht) aufsteigen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich Geschichte und Gesellschaft faktisch nur an den Kreis der Neuzeithistoriker richtete, wobei sie mit der wachsenden Spezialisierung in den achtziger und neunziger Jahren auch für den Leserkreis der Frühneuzeithistoriker wohl eher randständig wurde, selbst wenn sie sich in den neunziger Jahren stärker Themen dieser Epoche öffnete. Die zeitliche Schwerpunktbildung stand jedoch im Kontrast zu dem dezidierten Anspruch der Zeitschrift, die fachliche Kommunikation über allgemeine Fragen und Belange des Faches über die Teilfachgrenzen hinweg zu befördern. Für den Untersuchungszeitraum der europäischen und atlantischen Geschichte seit etwa 1600 gingen und gehen die Beiträge in Geschichte und Gesellschaft denn auch thematisch weit über den Rahmen hinaus, den sich zum Beispiel die ältere Zeitschrift Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte abgesteckt hat. In typologischer Hinsicht ist demnach die Zeitschrift ein interessanter Zwitter zwischen dem älteren Typus des allgemeinen Fachorgans, wie er etwa von der Historischen Zeitschrift, der American Historical Review oder der Schweize­rischen Zeitschrift für Geschichte repräsentiert wird, und der epochen- bzw. teilfachspezifischen Spezialzeitschrift, die bei den Neugründungen der letzten zwanzig Jahre eindeutig dominiert hat. Im internationalen Vergleich fällt sie deshalb auch aus dem Rahmen: Die Mehrzahl der ebenfalls in den Expansionsjahren sozialhistorischer Forschung gegründeten Zeitschriften etablierte sich als dezidierte Spezialorgane, die ihre Nische neben den zahlreichen älteren Spezialzeitschriften fanden. Im deutschsprachigen Kontext wären als Beispiele dieses Typs die Neugründungen Quantum und Historische Anthropologie zu nennen. Eine weitere Besonderheit sind die Sonderhefte, die, häufig hervorgegangen aus Tagungen des Herausgeberkreises, erweiterte Themenhefte darstellen. Ursprünglich ergänzten sie jährlich mit einem weiteren Band, seit 1984 in zwei­jährigem Rhythmus, die vier Heftlieferungen der Zeitschrift.11

11 Liste der zwischen 1975 und 1999 erschienenen Bände 1–18. Diese Publikationen sind im Folgenden nicht berücksichtigt worden. Soh. 1: Wehler (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg, 1975; Soh. 2: Wehler (Hg.), 200 Jahre amerikanische Revolution und europäische Revolutionen, 1976; Soh. 3: Kocka (Hg.), Theorien in der Praxis des Historikers, 1977; Soh. 4: Wehler (Hg.), Die moderne deutsche Geschichte, 1978; Soh. 5: Winkler (Hg.), Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland (1945–1952), 1979; Soh. 6: Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, 1980; Soh. 7: Kocka (Hg.), Angestellte Mittelschichten im europäischen Vergleich, 1981; Soh. 8: Winkler (Hg.), Nationalismus in der Welt von heute, 1982; Soh. 9: Schieder (Hg.), Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs, 1983; Soh. 10: Berding (Hg.), Die wirtschaftliche Integration vom Zollverein bis zur EG, 1984; Soh. 11: Schieder

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II. Intentionen: Das redaktionelle Programm Profil besaß die Zeitschrift schon vor der Gründung: Das Programm einer »Historischen Sozialwissenschaft« war bereits in seinen theoretischen Umrissen, metho­dischen Leitlinien und thematischen Schwerpunkten in einer ganzen Reihe von Publikationen publik gemacht worden.12 Auch lag zum Zeitpunkt der Gründung in monographischer Form eine ganze Reihe konkreter Forschungsergebnisse vor, die aus den Neuansätzen hervorgegangen waren.13 Zu nennen ist vor allem auch die seit 1973 erscheinende Reihe »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft«, in der bei Gründung der Zeitschrift bereits 14 Bände erschienen waren, die allesamt die Forschungsarbeit der neuen sozialgeschichtlichen Ansätze dokumentierten. In den Protokollen der ersten Planungstreffen des Herausgeberkreises tauchen jedenfalls neue weiterreichende Diskussionen über solche Leitideen und theoretischen Grundlagen nicht mehr auf; das Vorwort der Herausgeber im ersten Heft formulierte offensichtlich einen Konsens, auf den sich der neue Kreis bereits vor der Gründungsphase geeinigt hatte:14 – Die neue Zeitschrift verstand sich als interdisziplinäre Zeitschrift. Sichtbar wurde dies konkret in der Mitarbeit von zunächst zwei (Sack, Lepenies), bald jedoch nur noch einem Soziologen (Lepenies), eines Volkswirtschaftlers (Jeck) und eines Politologen (v. Beyme)  im Herausgeberkreis. Methodisch schloss dies zudem die Offenheit für unterschiedliche Forschungsansätze ein. – Konzeptionelle Grundlage sollte die »Historische Sozialwissenschaft«15 bilden. In dieser Formulierung wurde die enge Verbindung historischer Forschung mit Ansätzen der systematischen Sozialwissenschaften herzustellen

(Hg.), Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, 1986; Soh. 12: Berding (Hg.), Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution, 1988; Soh. 13: ­Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750–1950, 1990; Soh. 14: Geyer (Hg.), Umwertung der sowjetischen Geschichte, 1991; Soh. 15: Abelshauser (Hg.), Umweltgeschichte, 1994; Soh. 16: Hardtwig u. Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute, 1996; Soh. 17: Gilcher-Holtey (Hg.), 1968  – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, 1998; Soh. 18: Frevert (Hg.), Das Neue Jahrhundert, 1999. 12 W. J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1972; H.-U. Wehler, Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. 1973; ders., Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. 13 Genannt seien an dieser Stelle stellvertretend: H.-U. Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 1969; ders., Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Frankfurt a. M. 1973; J. Kocka, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847–1914, Stuttgart 1969; ders., Klassengesellschaft im Krieg, Göttingen 1973; H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893–1914), Hannover 1967; W. J. Mommsen, Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt a. M. 1969; ders., Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 19742. 14 GG, Jg. 1, 1975, S. 5–7. 15 Ebd., S. 5.

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versucht, in denen die Gründer den wichtigsten Bruch mit den kritisierten Traditionen der (west)deutschen Geschichtswissenschaft sahen.16 – Thematisch wollte sich die Zeitschrift der »Gesellschaftsgeschichte« widmen: Sie vertrat, zweifellos auch mit einem Seitenblick auf bereits existierende Spezialzeitschriften, ein dezidiert integratives Verständnis von Sozialgeschichte, reklamierte also von Anfang an die gesamte Breite der »Allgemeinen Geschichte«17 als mögliche Themenschwerpunkte. – Zeitlicher Schwerpunkt sollten die industriellen und politischen Revolutionen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sein, wobei jedoch eine zeitliche und konzeptionelle Öffnung ganz gezielt mit Blick auf Strukturen langer Dauer, auf die langlebigen Entwicklungs- und Wandlungsprozesse reklamiert wurde. – Schließlich kündigte sich die neue Zeitschrift als Forum wissenschaftlicher Kontroversen an. Die für die konsensorientierte und eher konformistisch ausgerichtete Fachkultur der Historiker ungewöhnliche Streitkultur der zurückliegenden Jahre sollte mit der neuen Zeitschrift auf Dauer gestellt, institutionalisiert werden. Im Verlauf der ersten 25 Jahre haben die einzelnen Punkte unterschiedliches Gewicht gewonnen. Die ersten beiden Punkte zum Beispiel hatten bei der Gründung der Zeitschrift innerhalb der Historikerschaft die meisten ablehnenden bzw. skeptischen Reaktionen ausgelöst. Sorgen um den Besitzstand des Faches angesichts sozialwissenschaftlicher Planungseuphorie und Erklärungsansprüche verbanden sich mit methodischen Zweifeln am neuen Leitbild einer Historischen Sozialwissenschaft. Entsprechend kämpferisch etablierte sich zunächst Geschichte und Gesellschaft als Organ dieser Innovation. Es zeigte sich jedoch in der Praxis rasch, dass die Beharrungskräfte und Traditionen des Faches auch bei den Autoren und Herausgebern der neuen Zeitschrift Wirkung zeigten. Nicht zuletzt dies dürfte dafür gesorgt haben, dass die Zeitschrift nicht der interdisziplinäre Arbeits- und Diskussionszusammenhang geworden ist, von dem anfangs die Rede war. Denn rasch stellte sich heraus, dass der Ausbau des Faches in diesen Jahren genügend Freiräume ließ, um die neue kritische Strömung in das Historikerfeld zu integrieren. Entsprechend folgenlos blieb das Konzept der Historischen Sozialwissenschaft auf der institutionellen Ebene. Weder bildeten sich eigene Methoden noch gar eigene Studiengänge oder Lehrstühle für eine Historische Sozialwissenschaft in den folgenden Jahren heraus.18 Die beiden seit der 16 Zum Konzept siehe darüber hinaus Wehler, Geschichte; G. G. Iggers, Neue Geschichts­ wissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft, München 1978. 17 So die programmatische Bezeichnung mehrerer Bielefelder Lehrstühle im Fachbereich Geschichtswissenschaft und Philosophie. 18 Nicht Geschichte und Gesellschaft, sondern die Zeitschrift Quantum und der Forscherkreis um diese Zeitschrift lassen sich am ehesten als konsequente Weiterentwicklung einer möglichen Richtung einer solchen Ausdifferenzierung beschreiben: Sie führt denn bezeichnenderweise auch eher eine Randexistenz zwischen den etablierten Disziplinen. Zum Konzept der »Historischen Sozialforschung«, wie es im Umfeld der Zeitschrift Quantum weiterent-

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Gründung im Herausgeberkreis präsenten Nachbarfächer Soziologie und Politikwissenschaften haben zwar immer wieder eigene Beiträge beigesteuert,19 zu einer Diskussion über die Fachgrenzen hinweg ist es aber nur selten gekommen. Die Zeitschrift hat auch nicht die Rolle übernommen, aus Historikerperspektive über die neuesten Entwicklungen in den Nachbardisziplinen kontinuierlich zu berichten. Die Wahrnehmung der zahlreichen Neuansätze soziologischer Forschung zu Themen der Vergangenheit blieb in Geschichte und Gesellschaft bis in die zweite Hälfte der neunziger Jahre auf den kleinen Ausschnitt einer modernisierungstheoretisch orientierten Historischen Soziologie beschränkt. Erst die Kontroversen um postmoderne Positionen haben auch die theoretischen Bezugspunkte vervielfältigt und insbesondere zu einer stärkeren Berücksichtigung anderer sozialwissenschaftlicher Theorietraditionen geführt. Typischerweise sah sich die Redaktion 1994 veranlasst, mit einer neuen Rubrik »Transfer« zu experimentieren, um die ursprünglichen interdisziplinären Vorsätze wieder zu aktivieren, ohne dass in den folgenden fünf Jahrgängen bereits größere Erfolge zu beobachten wären.20 Die weiteren Programmpunkte von 1975 sind zweifellos umfassender eingelöst und kontinuierlicher verfolgt worden als die erstgenannten Teilziele: Von Anfang an hat sich die Redaktion der Zeitschrift auch an dem selbstgesetzten Anspruch gemessen, thematisch breit gesellschaftsgeschichtliche Forschung voranzutreiben und dabei »neue Formen der Sozialgeschichte«21 zu erproben. Typischerweise war in der Gründungsphase die Risiko- und Innovationsbereitschaft am größten. Neben der von den meisten Mitgliedern des Heraus­ geberkreises gepflegten und breit praktizierten politischen Sozialgeschichte bildeten Probleme der Historischen Demographie, der Historischen Familienforschung, der Technik-, der Wissenschaftsgeschichte und der Religionsgeschichte Themenschwerpunkte der ersten Hefte: Berichte über damals noch neue Forschungsfelder wie die historische Kriminalitätsforschung oder die Sozialgeschichte der Medizin gehörten ebenfalls zu den markanten Erweiterungen der Sozialgeschichte in den ersten Jahrgängen von Geschichte und Gesellschaft. Auch der Blick in die Heftplanungen der Herausgeberkonferenzen der Jahre 1975–1980 bestätigt dieses Bild. Die Liste der Themenvorschläge ist lang und wickelt worden ist, siehe H. Best, Historische Sozialforschung als Erweiterung der Sozio­ logie. Die Konvergenz sozialwissenschaftlicher Erkenntniskonzepte, in: KZfSS, Jg. 40, 1988, S. 1–13. 19 Typisch geworden sind die beiden folgenden Verfahren: Entweder übernahm einer der Nicht-Historiker im Herausgeberkreis die Planung eines gesamten Heftes mit dem Ergebnis, dass dort politikwissenschaftliche und soziologische Fachbeiträge versammelt waren, oder aber im Diskussionsforum erschienen Beiträge anderer Disziplinen. 20 H. Tyrell, Religionssoziologie, in: GG, Jg. 23, 1997, S. 428–457; K. Hickethier, Zwischen Gutenberg-Galaxis und Bilder-Universum. Medien als neues Paradigma, Welt zu erklären, in: GG, Jg. 25, 1999, S. 146–171; W. Merkel, Die europäische Integration und das Elend der Theorie, in: ebd., S. 302–338. 21 GG, Jg. 1, 1975, S. 5.

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enthält zahlreiche Lücken in der zeitgenössischen westdeutschen Forschung. Doch auch im Fall von Geschichte und Gesellschaft stellten sich die üblichen Routinisierungseffekte eines erfolgreichen Wissenschaftsunternehmens ein. Zudem tauchten die feldspezifischen Realisierungsgrenzen für die Ambitionen des ursprünglichen Programms auf. Seit den achtziger Jahren rückte in den internen Diskussionen Kritik an Fehlentwicklungen, vor allem an Engführungen und Ungleichgewichten im gesellschaftshistorischen Gesamtprogramm in den Vordergrund. So diente die 13. Herausgebertagung 1986 ausdrücklich der Aktualisierung der eigenen Zielsetzungen. Auch wenn die Protokolle nur einen begrenzten Einblick in den Verlauf der internen Debatten geben, lassen sich ihnen jedoch die Ergebnisse und die Hauptgesichtspunkte der Diskussion entnehmen. Nach elf Jahrgängen formulierte Wolfgang Schieder fünf Kritikpunkte:22 Das große Ziel der Interdisziplinarität sei nicht erreicht worden, die Einrichtung des Diskussionsforums sei zwar ein Erfolg, brauche aber in der aktuellen Situation neue Impulse. Bei der Themenauswahl kritisierte Schieder das Übergewicht von Beiträgen zur Geschichte des Deutschen Reiches 1871–1945, dem spiegelbildlich die Vernachlässigung der außerdeutschen Geschichte entspreche; überdies sah er die Gebiete der Politikgeschichte, der Gesellschaftsgeschichte und der Erfahrungsgeschichte unterrepräsentiert. (Wir werden Gelegenheit haben, diese Kritik an der thematischen Engführung des gesellschaftsgeschichtlichen Ansatzes anhand einer quantifizierenden Auswertung zu überprüfen und zu ergänzen.) Die selbstkritische Debatte im Herausgeberkreis führte unmittelbar dazu, dass die Vorschlagsliste für die künftigen Hefte länger und bunter wurde: Zwangsläufig klaffte jetzt zwischen Intention und Realisierung eine deutliche Lücke.23 Dieses Problem leitete denn auch in den neunziger Jahren eine neue Runde theoretischer Standortbestimmungen ein, die zunächst um den Pol Modernisierungstheorie kreisten, dann aber viel grundsätzlicher die Frage nach einer kulturgeschichtlichen Erweiterung und wissenschaftstheoretischen Neufundierung der Sozialgeschichte in den Mittelpunkt rückten. Die Zeitschrift wurde zum Forum aktueller Debatten, aber der Herausgeberkreis war anders als in der Vergangenheit selbst nicht Partei. Es besteht eine Kluft zwischen diesen theoretischen Kontroversen, in denen vielfach Umorientierungen formuliert worden sind, und der thematischen und methodischen Kontinuität in den Aufsätzen. Am Beginn des 21. Jahrhunderts stellen sich jedenfalls die programmatischen Positionen der Zeitschrift vielfältiger, damit aber auch mehrdeutiger dar als in der Phase der heroischen Anfänge. 22 GG-Protokolle: 13. Herausgeberkonferenz 1986, S. 1–2. 23 Während diese Lücke im Verlauf früherer Herausgeberkonferenzen wieder geschlossen wurde, so dass eher Verzögerungen und mit wenigen Ausnahmen Verschiebungen als uneingelöste Vorhaben kennzeichnend für die Planungen waren, blieb die Liste offener Themenschwerpunkte 1986 lang. Im Einzelnen wurden genannt: Ideengeschichte, Politik­ geschichte nach 1945, Widerstand und Exil, Politik als Sozialgeschichte, Zweiter Weltkrieg und innere Veränderungen des NS-Regimes, Soziolinguistik, GG-Protokolle: 13. Konferenz 07./08.03.1986, S. 2.

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Das hatte vor allem damit zu tun, dass sich die Position der politischen Sozialgeschichte im westdeutschen Historikerfeld grundlegend wandelte. Aus den Aufbrüchen und Innovationen, die eingebunden waren in den internationalen Aufschwung einer vielgesichtigen Sozialgeschichte wurde ein »mainstream« politischer Sozialgeschichtsschreibung. Er bekam in den achtziger Jahren Konkurrenz durch eine im westdeutschen Historikerfeld viel schwächer verankerte kulturanthropologisch orientierte Alltags- bzw. Mikrogeschichte; in den neunziger Jahren sah er sich mit einem breiten Trend zu einer zwischen postmodernen und konventionellen Ansätzen und Themen schwankenden Kulturgeschichte, aber auch zu einer konventionellen Politikgeschichte konfrontiert. Gerade der Erfolg der politischen Sozialgeschichte im Teilbereich der Neueren und Neuesten Geschichte ließ das Gesamtbild von Geschichte und Gesellschaft rascher altern, als die kämpferische Programmatik von 1975 erwarten ließ.

III. Die Akteure: Herausgeber und Autoren Zum Programm von 1975 gehörte auch eine Organisationsstruktur, welche die Durchsetzungschancen der redaktionellen Ziele im Vergleich zu anderen historischen Fachzeitschriften deutlich erhöhte. Der Herausgeberkreis übernahm in Geschichte und Gesellschaft eine aktive Rolle; aus seinem Kreis wurden die drei Geschäftsführer gewählt, die für die laufende Redaktionsarbeit verantwortlich waren, wobei sich rasch die zentrale Bedeutung des Redaktionssitzes in Bielefeld und der Person Hans-Ulrich Wehlers herausschälte.24 Wehler leitete die engeren Redaktionsgeschäfte, unterstützt durch ein Sekretariat, ununterbrochen in der gesamten untersuchten Periode, doch blieb die wissenschaftliche Leitung der Zeitschrift in der Hand des gesamten Herausgeberkreises. Aus dessen Mitte kamen die Verantwortlichen und Organisatoren der Themenhefte, die von Anfang an zum Markenzeichen der Zeitschrift wurden. Die Herausgeber begutachteten im Umlaufverfahren die eingehenden Manuskripte; in den sogenannten Konferenzen wurden konkret die nächsten Jahrgänge geplant, und wurde die weitere Redaktionspolitik festgelegt. Der Herausgeberkreis umfasste über lange Jahre zwischen 15 und 17 Mitglieder, Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre wuchs er durch acht Kooptationen, denen nur vier Rücktritte gegenüberstanden, auf 20 Personen an.25 Erst mit dem Ausscheiden weiterer Gründungsmitglieder am Ende der neunziger Jahre kam diese Übergangsphase zum Abschluss. Seit dem Ende des 25. Jahrgangs wurde die Zeitschrift von einem

24 P. Nolte, Hans-Ulrich Wehler. Historiker und Zeitgenosse, München 2015. 25 Erweitert wurde das Herausgebergremium im Zeitraum 1985–1992 mehrmals: 1985: Klaus Tenfelde, 1988: Gisela Bock, 1992: Werner Abelshauser, Ute Frevert, Wolfgang Hardtwig, Wolfgang Kaschuba, Dieter Langewiesche, Hans-Peter Ullmann, Hartmut Zwahr.

245

personell erstmals seit der Gründung deutlich veränderten Herausgebergremium gestaltet. Die vorliegenden Dokumente erlauben nicht, die informelle Machtverteilung in diesem Organisationsmodell zu analysieren. Deutlich sind allein folgende Punkte: – Die Herausgeber haben sich als kollegiales Gremium verstanden, das sich bemühte, im Konsens die redaktionelle Linie der Zeitschrift zu aktualisieren. Die dazu notwendigen Aussprachen fanden nach der intensiveren Vorbereitungsarbeit 1974 und 1975 (vier Treffen) bis 1984 jährlich statt, danach ging man zu einem zweijährigen Turnus über. Die längeren Abstände zwischen den Treffen erhöhten zwangsläufig das Gewicht der drei Geschäftsführer.26 – Es bildete sich rasch ein engerer Kreis aktiver Herausgeber heraus, der sowohl durch seine Teilnahme an den Konferenzen als auch durch die Übernahme von Aufgaben der Geschäftsführung und durch die Organisation einzelner Hefte das Profil der Zeitschrift maßgeblich beeinflusste. Nimmt man die Beteiligung an den Herausgeberkonferenzen und die Organisation einzelner Hefte als Indikatoren, so lässt sich ein engerer Kreis von elf Historikern und einem Soziologen (in Tabelle 9.1 kursiv gedruckt) eingrenzen, der die Gestaltung der Zeitschrift zwischen 1975 und 1999 maßgeblich bestimmt hat.27 Tabelle 9.2 zeigt das Profil des Herausgeberkreises des Jahres 2000. Nur noch eine Minderheit, nämlich sechs seiner Mitglieder, gehörten bereits zum Herausgebergremium der siebziger und achtziger Jahre. – Das Herausgebergremium bildete zugleich einen informellen Gruppenzusammenhang, eine »scientific community«, die auf unterschiedlichen Wegen eng miteinander vernetzt war: Gemeinsame Studienjahre (wobei neun »Schüler« von W. Conze, G. A. Ritter und T. Schieder vertreten sind), geringe Altersunterschiede (die große Mehrzahl der Gründer wurde zwischen 1928 und 1940 geboren) und zum Teil auch die gemeinsame Arbeit an der Universität Bielefeld (Wehler, Kocka, Koselleck, Puhle) verstärkten die programmatische Übereinstimmung. Dieser Gruppenzusammenhang ist zugleich auch ein Generationszusammenhang – hierauf hat Irmline Veit-Brause bereits anlässlich der Kontroversen um die Alltagsgeschichte hingewiesen.28 Die erste Prägung durch Krieg und NS-Zeit, akademische Ausbildung in den fünfziger und frühen sechziger Jahren in Opposition zum konservativen »mainstream« und starke Beeinflussung durch die ›Westernisierung‹ der politischen und sozialen Ideenwelt der Bundesrepublik sind hier als generationstypische Erfahrungen und Prägungen zu nennen. Mehrere Herausgeber waren in ihrer 26 Dieser Trend lässt sich im Einzelnen auch daran ablesen, dass die Distanz zwischen den Programmen der Herausgeberkonferenzen und der Realisierung der folgenden Jahre eher gewachsen ist. 27 Siehe Tabelle 9.1. 28 I. Veit-Brause, Paradigms, Schools, Traditions. Conceptualizing Shifts and Changes in the History of Historiography, in: Storia della storiografia, Jg. 17, 1990, S. 50–65, hier: S. 59–62.

246

Tab. 9.1: Der Herausgeberkreis von Geschichte und Gesellschaft 1974–1987 Name

Geb.Jahr

Fach

Uni

Geschäfts­ führung

Zahl der hg. Hefte (1975–1999)

Teil­ nahme an Hg.-Kon­ ferenzen

Berding, H. (7)

1930

NG

Gießen

83–86

9

12

Beyme, K. v. (7)

1934

Politik

Heidelberg



1

6

Geyer, D. (6)

1928

OstG

Tübingen

87–91

3

8

Jeck, A. (4)

1935

VWL

Kiel





4

Kocka, J.

1941

NG

Bielefeld, Berlin

92–95

10

13

Koselleck, R. (1)

1923

NG

Bielefeld



1

4

Lepenies, W. (7)

1941

Sozio

Berlin



2

11

Mommsen, W. J. (7)

1930

NG

Düsseldorf

74–77

5

12

Puhle, H.-J.

1940

NG, Politik

Münster, Bielefeld

74–77

6

15

Rürup, R.

1934

NG

Berlin

78–82

4

14

Sack, F. (3)

1931

Sozio

Hannover





1

Schieder, W.

1935

NG

Trier, Köln

83–86, 92–95

7

9

Schröder, H.-Ch. (5)

1933

NG

Darmstadt



1

5

Tenfelde, K. (2)

1944

NG

Innsbruck, Bielefeld

87–91

5

4

Tilly, R. H.

1932

WSG

Münster



4

9

Wehler, H. U.

1931

NG

Bielefeld

74 ff.

11

16

Winkler, H. A. (7)

1938

NG /  ZG

Freiburg, Berlin

78–82

7

10

(1) Kooptiert 1975, Rückzug aus dem Herausgeberkreis 1991; (2) Kooptiert 1985; (3) Rückzug aus dem Herausgeberkreis 1981; (4) Rückzug aus dem Herausgeberkreis 1985; (5) Rückzug aus dem Herausgeberkreis 1988; (6) Rückzug aus dem Herausgeberkreis 1994; (7) Rückzug aus dem Herausgeberkreis 1999. Abkürzungen (auch in Tab. 9.2): NG = Neuere Geschichte; OstG = Osteuropäische Geschichte; VWL = Volkswirtschaftslehre; Sozio = Soziologie; Politik = Politikwissenschaft; WSG = Wirtschafts- und Sozialgeschichte; ZG / NG = Zeit- und Neuere Geschichte; Kulturwiss. = Kulturwissenschaften; HU = Humboldt Universität.

247

Tab. 9.2: Der Herausgeberkreis von Geschichte und Gesellschaft 1999 Name

Geb.Jahr

Fach

Uni

Geschäfts­ führung

Zahl der hg. Hefte (1975–1999)

Abelshauser, W.

1944

NG / WSG

Bielefeld



2

Bock, G.

1942

NG

Bielefeld, Berlin

99 ff.

2

Frevert, U.

1954

NG

Bielefeld





Hardtwig, W.

1944

NG

HU Berlin

96–99

2

Kaschuba, W.

1950

Kulturwiss.

HU Berlin





Kocka, J.

1941

NG

Bielefeld, Berlin

92–95

10

Langewiesche, D.

1943

NG

Tübingen

99 ff.

4

Puhle, H.-J.

1940

NG, Politik

Münster, Bielefeld, Frankfurt

74–77

6

Rürup, R.

1934

NG

Berlin

78–82

4

Schieder, W.

1935

NG

Trier, Köln

83–86, 92–95

9

Tenfelde, K.

1944

NG

Innsbruck, Bielefeld, Bochum

87–91

5

Ullmann, H.-P.

1949

NG

Tübingen, Köln

96–99

2

Wehler, H.-U.

1931

NG

Bielefeld

74 ff.

Zwahr, H.

1936

NG

Leipzig



11 3

Kursiv gedruckt sind die Namen der Herausgeber, die bereits vor 1987 im Herausgeberkreis tätig waren. Geyer hat sich 1994, Berding, Beyme, Lepenies, Mommsen und Winkler haben sich im Verlauf des 25. Jahrgangs 1999 aus dem Herausgeberkreis zurückgezogen.

Studienzeit in den USA, und sie haben in ihrer weiteren wissenschaftlichen Laufbahn engere Fachkontakte mit nordamerikanischen Historikern und Universitäten gepflegt. Diese generationsspezifischen Erfahrungen prägten die Zeitschrift über mehr als zwanzig Jahre mit. Auch der Personalwechsel zwischen 1992 und 1999 stand deutlich im Zeichen der Kontinuität: Langjährige Mitarbeiter der Zeitschrift und erste Schüler wurden kooptiert. Damit wechselte die Leitung der Zeitschrift in den Kreis der damals Fünfzigjährigen, die ihre eigene wissenschaftliche Laufbahn vielfach im Zeichen der politischen Sozialgeschichte absolviert hatten. Mit 57 Jahren war das Durchschnittsalter dieses Kreises noch immer um 13 Jahre höher als bei der Gründung 248

Tab. 9.3: Autoren mit den meisten Beiträgen (1975–1999) Name

Geb.Jahr

Position

Ort

Auf­ sätze

Sonstige

Jahr

Kocka, Jürgen*

1941

Prof.

Bielefeld, FU Berlin (88)

7

3

75, 76, 79– 85, 92, 94

Haupt, Heinz-Gerhard

1943

Prof.

Bremen, Lyon, Florenz, Halle, Bielefeld

6

1

77, 80, 92, 94, 96

Puhle, Hans-Jürgen*

1940

HDoz. 73, Prof. 79

Münster, Bielefeld, Frankfurt (ab 90)

6

0

76–88

Mommsen, Wolfgang, J.*

1930

Prof.

Düsseldorf, DHI London (85–89)

5

2

76–81, 93 f., 96

Schieder, Wolfgang*

1935

Prof.

Trier, Köln (91)

5

1

77, 82, 87 ff.

Hausen, Karin

1938

Prof.

TU Berlin

5

0

75–78, 81, 87

Radkau, Joachim

1943

PD 74, Prof. 78

Bielefeld (80)

5

0

76–83, 88, 94

Winkler, Heinrich*

1938

Prof.

Freiburg, HU Berlin

4

2

77–82, 85 ff.

Blasius, Rainer

1941

Prof.

Essen

4

2

76, 81 ff., 88

Kriedte, Peter

1940

Dr.

MPI Göttingen

4

1

81, 83, 85, 92

Kater, Michael

1937

Prof.

Toronto

4

0

77, 85, 90, 93

Medick, Hans

1939

PD 93

MPI Göttingen

4

0

83, 84, 92

Tenfelde, Klaus*

1944

PD 81, Prof. 86

F.-Ebert-Stiftung, Innsbruck (86), Bielefeld (90), Bochum (97)

4

0

77–79, 84, 92

Tilly, Richard*

1932

Prof.

Münster

3

6

77, 80, 85 ff.

Hardtwig, Wolfgang*

1944

Prof.

HU Berlin

3

2

85, 90, 98, 99

*Mitglieder im Herausgebergremium Die Spalte »Aufsätze« enthält sowohl die Beiträge in den Rubriken »Aufsätze« wie »Diskussionsforum«. Die Spalte »Sonstige« enthält die übrigen Rubriken: Rezensionen, Forschungsliteratur sowie Berichte und Nachrufe.

249

der Zeitschrift. Der Generationswechsel, verstanden als Übergang der Leitung an eine jüngere, aber auch anders fachlich und akademisch sozialisierte Gruppe, hatte noch nicht stattgefunden. Auch im Autorenkreis der Zeitschrift spielte die Kerngruppe der Herausgeber eine hervorgehobene Rolle. In Tabelle  9.3 sind die 15 Autoren mit den meisten Beiträgen in den Jahrgängen 1–25 erfasst. Acht von ihnen waren auch als Herausgeber mit der Zeitschrift verbunden, fünf gehörten zum Gründerkreis. Diese Tabelle ist jedoch nur der Anfang einer Liste jener Autoren, die mehr als zwei Beiträge in den Rubriken »Aufsatz« oder »Diskussionsforum« verfasst haben. Erst jenseits dieses engeren Umfeldes regelmäßiger Mitarbeiter, dem in den ersten 25 Jahrgängen 60 Autoren zugerechnet werden können, dessen Anteil an der Gesamtproduktion der Zeitschrift insgesamt jedoch gering ist, entdeckt man einen offeneren und zahlenmäßig sehr großen Mitarbeiterkreis um die Zeitschrift. Immerhin 488 Wissenschaftler haben in den ersten 25 Jahrgängen von Geschichte und Gesellschaft publiziert. Die meisten von ihnen veröffentlichten ein oder zwei Beiträge; sie standen, so weit feststellbar, in den unterschiedlichsten Beziehungen zum Herausgeberkreis. Die Statistik erlaubt hier, einige Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge zu erkennen. Die Geographie der Autoren29 gibt erste Aufschlüsse (vgl. Tab. 9.4). Geschichte und Gesellschaft blieb vorrangig ein Publikationsorgan für deutschsprachige Autoren, bundesrepublikanische Neuzeithistoriker stellten die deutliche Mehrheit. Allein angelsächsische Sozialwissenschaftler oder Historiker, darunter vor allem US-Amerikaner, bilden eine zahlenmäßig ins Gewicht fallende Gruppe fremdsprachiger Autoren. Die Verbindung in den romanischen Sprachraum beschränkte sich trotz der Kooperation zwischen der Universität Bielefeld und der EHESS / MSH in Paris auf sporadische Beiträge. Die deutliche Überrepräsentation der Universitätsstandorte Bielefeld und Berlin (FU, TU und seit 1990 HU Berlin) verdeutlicht die lokalen Netzwerke, die über den Herausgeberkreis hinaus das Zeitschriftenprojekt von Anfang an trugen: Universitätskollegen (auch jenseits der Fächergrenzen) und wissenschaftlicher Nachwuchs aus dem eigenen Arbeitsumfeld wurden rascher zur Mitarbeit gewonnen oder als Autoren bevorzugt. Die Neubesetzung der historischen Lehrstühle an der Humboldt Universität Berlin verstärkte in den neunziger Jahren diesen Trend. Die »Bielefelder Schule« stellt sich im Spiegel der Autorengeographie eher als Berlin-Bielefelder Verbindung dar, von der Anfang der neunziger Jahre insbesondere der Historikernachwuchs an diesen beiden Universitäts­ orten profitierte. Daneben waren vor allem die Universitäten München, Freiburg, Tübingen, Göttingen und Hamburg regelmäßig mit Autoren vertreten.30 Die Nähe der Universitätsorte Bielefeld und Berlin zur Redaktion wird beson-

29 Grundlage waren die Autorenadressen; sie erlauben in der Regel, die Hochschule bzw. die Forschungsinstitution zu ermitteln, an der die Autoren beschäftigt sind. 30 Jeweils 21 = 5,8 % (München), 16 = 4,4 % (Freiburg), 13 = 3,6 % (Tübingen), 12 = 3,3 % (Göttingen), 11 = 3 % (Hamburg) der Autoren der Jahre 1975–1999 waren dort tätig.

250

Tab. 9.4: Geographie der Autoren Jg. 1975–1999 (Angaben in Prozent) Region / Orte

1975–79

1980–84

1985–89

1990–94

1995–99

1975–99

BR Deutschland

71,1

81

81,8

77,5

78,1

75,4

Dav.: Bielefeld / Berlin

33,3

24,5

20,3

31

30,1

26,3

Österreich

1,8

0,8

3

3,9

3,1

2,9

Schweiz

2,6

3,3

0,8

2,3

3,1

2,9

Frankreich

1,8

2,5

0,0

0,8

3,1

3,1

Großbritannien

2,6

3,3

3

2,3

3,1

2,3

16,6

6,6

6

8,6

6,3

9,2

2,6

1,6

3,8

2,4

0,8

5,9

USA, Kanada Sonstige Länder Gesamtzahl der Autoren

114

121

132

129

128

488

ders unter den jüngeren Autoren greifbar. In den neunziger Jahren arbeiteten 33 von 99 Nachwuchshistorikern, die Beiträge in der Zeitschrift publiziert hatten und zu diesem Zeitpunkt noch über keine Professorenstelle verfügten, in Bielefeld, Berlin oder Potsdam. Tabelle 9.5 untersucht, inwieweit zwei grundlegende Trends im westdeutschen Historikerfeld der drei Jahrzehnte zwischen 1970 und 2000 im Autorenkreis ihren Niederschlag gefunden haben: zum einen der Abbau der traditionellen Männerdominanz in der Historikerwelt, zum anderen das wachsende Gewicht von Nachwuchswissenschaftlern oder Mitarbeitern von Forschungsprojekten in der wissenschaftlichen Produktion des Faches. Der letztgenannte Trend hing zum einen damit zusammen, dass die Anzahl der Promotionen vor allem im Bereich der Neueren Geschichte kontinuierlich stieg und dass zugleich auch die Zahl der Fachwissenschaftler wuchs, die in Drittmittelprojekten als Forscher beschäftigt waren. Die Befunde zu beiden Trends sind unterschiedlich: Nur sehr langsam wuchs der Anteil der Autorinnen in Geschichte und Gesellschaft; dabei gilt es zu berücksichtigen, dass der Frauenanteil vor allem unter den jüngeren Autoren gestiegen ist, während im durchweg älteren Herausgeberund langjährigen Autorenkreis nur zwei Frauen, am Ende des Untersuchungszeitraums drei, vertreten waren (G. Bock, K. Hausen und U. Frevert, die 1992 Herausgeberin wurde, aber bereits vorher Autorin war). Eindeutig hingegen war der zweite Trend: Seit den späten achtziger Jahren ließen sich markante Veränderungen zugunsten des wissenschaftlichen Nachwuchses beobachten. Auch hier bringt die statistische Analyse einige Aufschlüsse über die Beziehung und das Gewicht der unterschiedlichen Status251

gruppen von Wissenschaftlern. Der zunächst allmähliche, dann Anfang der neunziger Jahre sprunghaft zunehmende Anteil der Nicht-Professoren war begleitet von einem markanten Alterungsprozess der Professorengruppe. War deren Durchschnittsalter bei den Autoren der Jahrgänge 75–79 41 Jahre, lag es 15 Jahre später bei 53 Jahren. Aus einer vor allem von jüngeren Historikern und Sozialwissenschaftlern gestalteten Zeitschrift ist ein Organ geworden, in dem akademische Lehrer- und Schülergenerationen Seite an Seite publizierten. Erst mit der wachsenden Zahl jüngerer Autoren wurde damit in der Zeitschrift seit Anfang der neunziger Jahre der klassische Verlauf einer akademischen Schulbildung an den Universitätsorten Bielefeld, Berlin und anderswo im Umkreis von Herausgebern und Mitarbeitern der ersten Stunde sichtbar. Tabelle 9.6 zeigt in aller Deutlichkeit die Bedeutung der Disziplingrenzen für die Auswahl der Autoren. Umfang und Grenze der sozialwissenschaftlichen Öffnung und der interdisziplinären Ausrichtung werden an folgenden Zahlen erkennbar. 100 der insgesamt 488 Autoren in den ersten 25 Jahrgängen von Geschichte und Gesellschaft waren keine Historiker. Das sind immerhin 21,4 Prozent der einer Fachdisziplin zugeordneten Autoren. Trotz aller guten interdisziplinären Vorsätze dominierten Neuzeithistoriker eindeutig; eine kontinuierliche Kooptation von Autoren lässt sich eigentlich nur bei den Nachbardisziplinen Soziologie und Politikwissenschaften beobachten, wobei sich die Verbindungen zum letztgenannten Fach auf die Dauer als stärker erwiesen. Gar nicht ist dagegen die Kooperation mit den Wirtschaftswissenschaften geglückt; der Rückzug A. Jecks besiegelte über lange Jahre das Scheitern dieses Versuchs, auch wenn die Zeitschrift in den späteren Jahren erneut Versuche unternahm, eine Brücke zwischen Geschichtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft zu schlagen. Tab. 9.5: Autoren von Geschichte und Gesellschaft nach Geschlecht und akademischem Titel / Universitätsposition (Angaben in Prozent) 1975–79

1980–84

1985–89

1990–94

1995–99

1975–99

7,9

9,3

12,3

14,0

10,9

12,2

92,1

90,7

87,7

86,0

89,1

87,8

7,0

5,8

9,8

4,7

7,0

8,8

Promovierte

32,5

32,7

31,3

49,6

46,9

41,6

Professoren

60,5

56,7

56,1

41,9

43,8

47,8

Frauen Männer Nicht Promovierte

Gesamtzahl

252

114

121

132

129

128

488

Tab. 9.6: Autoren von Geschichte und Gesellschaft nach Fächern (Angaben in Prozent, außer in den beiden untersten Reihen) 1975–79

1980–84

1985–89

1990–94

1995–99

1975–99

71,8

77,5

72,9

82,9

75,2

72,2

7,3

5,8

7,0

2,4

1,7

4,7

Geschichte insgesamt

80,0

86,0

82,2

86,1

77,7

78,6

Soziologie

10,9

3,3

3,9

0,8

5,8

5,8

Politikwissenschaft

2,7

3,3

7,8

8,1

9,1

7,5

Sprach /  Literaturwissenschaft

1,8

3,3



1,6

1,7

1,9

Ethnologie /  Volkskunde

1,8

3,3

2,3

0,8



1,7

Recht / Medizin

0,9



1,6

1,6

1,7

1,9

Sonstige

1,8

0,8

2,3

0,8

4,1

2,0

Nicht zugeordnet

4



3

6

7

20

114

121

132

129

128

488

Neuere u. Neueste Geschichte Osteuropäische Geschichte

Gesamtzahl

IV. Themen und Forschungszusammenhänge Welches waren die Themen, denen sich die Zeitschrift in den ersten 25 Jahren besonders verschrieben hat? Die Wahl des methodischen Zugriffs ist auch bei diesem Problem recht heikel, jede inhaltsanalytische Auswertung, die sich vorrangig auf die Titel der Beiträge stützt, kann nur ein grobes Raster liefern. Seitenzahl und Themenvielfalt wiederum setzen Ambitionen einer gleichmäßig in die Tiefe dringenden Textanalyse Grenzen. Die übliche Praxis läuft auf pragmatische Kompromisse hinaus; das ist im Folgenden nicht anders: »Quellennah« lässt sich die Frage nach thematischen Akzenten im Fall von Geschichte und Gesellschaft rasch anhand einer einfachen Auflistung der Themenschwerpunkte der einzelnen Hefte beantworten. Deren Bündelung lässt erkennen, dass in der kaleidoskopartigen Buntheit sozialgeschichtlicher Themen einige Problemfelder kontinuierlich stärkere Beachtung fanden. Am häufigsten wurde die politische Sozialgeschichte des NS-Regimes behandelt. Allein elf Themenhefte beschäftigten sich in unterschiedlicher Auswahl mit den Beziehungen zwischen den Strukturen und Gruppen der deutschen Gesellschaft einerseits und 253

dem NS-Herrschaftsapparat und seiner Politik andererseits.31 Zahlreiche einschlägige Beiträge in anderen Themenheften ergänzten diese Schwerpunktbildung. Einen zweiten intensiver bearbeiteten Themenkomplex stellen die Prozesse und Begleiterscheinungen der Industrialisierung dar.32 Er ist seinerseits aufs engste verzahnt mit dem dritten Hauptuntersuchungsfeld der Aufsätze: der Wirtschafts- und Sozialpolitik im entwickelten Industriekapitalismus.33 Auch der nächste Schwerpunkt zeigt enge Berührungspunkte mit den bisher genannten »klassischen« Themen der politischen Sozialgeschichte: Die Arbeiterbewegungs- und Arbeiterkulturgeschichte ist in den ersten zwanzig Jahrgängen von Geschichte und Gesellschaft immer wieder behandelt worden.34 Dieses Thema ist jedoch in den neunziger Jahren deutlich zugunsten von sozial- oder kulturgeschichtlichen Untersuchungen bürgerlicher oder adliger Gruppen bzw. Berufe in den Hintergrund getreten. Die Welt von Adel und Bürgertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die Mentalität bürgerlicher Professionen, schließlich die Universitäts-­und Wissenschaftsgeschichte (insbesondere die Geschichte der Geschichtswissenschaft) haben wachsende Aufmerksamkeit in der Zeitschrift auf sich gezogen.35 Ein wiederkehrendes Thema blieb schließlich auch das Feld der politischen Ideologien des 19. Jahrhunderts, Liberalismus, Konservatismus und Nationalismus, wenn auch die einzelnen Beiträge hier breiter streuten als in den voranstehenden Themenblöcken. Aber darüber hinaus bildete sich ein bunter Reigen von einzelnen Themen heraus, bei dem bestenfalls Chronologie und Geographie Schwerpunkte setzten. Besonders hervor trat dabei ab Mitte der neunziger Jahre die intensive Beschäftigung mit der Gesellschaftsgeschichte der DDR und mit den intellektuellen und fachwissenschaftlichen Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung nach 1990. 31 Im Einzelnen sind hier zu nennen: NS-Außenwirtschaft und Außenpolitik 1/76; NS-Herrschaftssystem 4/76; Wissenschaft im NS-Regime 3/86; Faschismus als soziale Bewegung 2/86; Arbeit und Arbeiter im Dritten Reich 3/89; Mediziner im Dritten Reich 4/90; Evangelische Kirche nach dem Nationalsozialismus 1/92; NSDAP als faschistische Volkspartei 2/93; Rassenpolitik und Geschlechterpolitik 3/93; Universitäten im nationalsozialistisch beherrschten Europa 4/97; Genozid und Charisma 3/98. 32 U. a. Frühindustrialisierung 2/79; Sozialgeschichte der russischen Industrialisierung 3/79; Sozialgeschichte der Technik 3/87; Vergleichende Unternehmensgeschichte 4/93; Unternehmergeschichte 2/97. 33 U. a. Moderne Sozialpolitik 2/87; Kapitalismus, Korporatismus, Keynesianismus 2/84; Kontroversen über die Wirtschaftspolitik in Weimar 3/85; Soziale Sicherung in vergleichender Perspektive: Deutschland und Frankreich 3/96; Kommunale Sozialpolitik in vergleichender Perspektive 3/95. 34 U. a. Arbeiterkulturen 1/79; Arbeiterbewegung 1/82; Ausbreitung der deutschen Arbeiterbewegung 4/87; Arbeiterbewegung im Vergleich 3/94; Krise des europäischen Sozialismus 2/91; Sozialgeschichte des deutschen Kommunismus 1/95. 35 Verleger und Wissenschaftler 1/96; Bürgerliche Werte und Politik 3/97; Bürgertum im langen 19. Jahrhundert 1/99; Universitäten im NS-beherrschten Europa 4/97; Universitäten und Eliten im Osten nach 1945 1/98.

254

Tab. 9.7: Aufsätze in Geschichte und Gesellschaft nach Hauptsektoren der Gesellschaftsgeschichte Jg. 1–5 (1975–79)

Jg. 21–25 (1995–1999)

politische Herrschaft

33

44,0 %

32

43,2 %

ökonomische Prozesse

11

14,6 %

11

14,8 %

sozialer Wandel

11

14,6 %

9

12,1 %

kulturelle Ordnungen

20

26,6 %

22

29,7 %

Zahl der Aufsätze

75

74

Um über diese grobe thematische Übersicht hinaus die Gesamtproduktion analytisch besser durchdringen zu können, bietet sich ein anderes, von den Einzelthemen stärker abstrahierendes Verfahren an. In einem solchen zweiten Zugriff lassen sich durch weitere Formalisierung und Abstraktion einige Raster bilden, die erlauben, die methodischen Zugänge zu dieser breiten Themenwelt in Geschichte und Gesellschaft zu analysieren.36 Zunächst lassen sich die unterschiedlichen Beiträge im Aufsatzteil der Zeitschrift danach unterscheiden, ob sie sich primär mit Phänomenen politischer Herrschaft, wirtschaftlicher Entwicklung, sozialen Wandels oder kulturellen Ordnungen beschäftigen.37 So bestätigt sich zunächst einmal das geläufige Bild, der Schwerpunkt von Geschichte und Gesellschaft liege im Bereich einer politischen Sozialgeschichte oder einer sozialgeschichtlichen Analyse politischer Prozesse – zumal in nationalstaatlichem Rahmen. Auffällig ist auch die relative Konstanz der Gewichtung im Aufsatzteil. Die kulturgeschichtliche Erweiterung der Sozialgeschichte, die in den Diskussionen der neunziger Jahre immer wieder thematisiert wurde, war der Zeitschrift zumindest in ihrer (experimentierfreudigen) Anfangsphase keineswegs fremd. Hierfür haben die Beiträge vor allem zur Arbeiterkultur und zur kirchlichen bzw. religiösen Sozialgeschichte gesorgt. Hinter der Stabilität dieser Gewichtung verbirgt sich jedoch ein qualitativer Wandel. Wurden in den ersten fünf Jahren gerade die Dimensionen Herrschaft und Wirtschaft in den Aufsätzen immer wieder aufs engste miteinander verzahnt, 36 Die folgenden Kategorien adaptieren ein Schema, das Alain Corbin für die quantifizierende Analyse der Revue historique im Zeitraum 1876–1972 entwickelt hat: vgl. A. Corbin, La Revue historique. Analyse de contenu d’une publication rivale des Annales, in: C.-O. Carbonell u. G. Livet (Hg.), Au berceau des Annales. Actes du Colloque de Strasbourg (11–13 octobre 1979), Toulouse 1983, S. 105–137. Bei dieser Auswertung sind die Beiträge im Aufsatzteil jeweils einer der sich wechselseitig ausschließenden Kategorien der folgenden Raster zugeordnet worden. 37 Dieses Viererschema kommt im Übrigen den in der Gesellschaftsgeschichte Bielefelder Prägung spätestens seit dem ersten Band von Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte kanonisierten vier Grunddimensionen von politischer Herrschaft, sozialer Ungleichheit, ökonomischen und kulturellen Prozessen nahe.

255

traten am Ende der neunziger Jahre politik- und wirtschaftsgeschichtliche Ausrichtungen der Fragestellungen und Themen deutlicher auseinander. Dagegen nahm die Verzahnung von kultur- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen zu. Ein zweites Raster ordnet die Beiträge nach Art der historischen Akteure und Umfang der Gruppierungen, auf die sich die Analyse bezieht. Es wird also danach gefragt, welchen Umfang die Handlungsfelder haben, die Gegenstand der Untersuchungen waren. Auch in diesem Punkt fördert die Auswertung Altbekanntes und Unerwartetes zutage. Der Nationalstaat liefert mit Abstand das am häufigsten gewählte Untersuchungsfeld, aber er hat zunehmend an Terrain verloren. 1975–1979 war er in 31 von 56 Aufsätzen der Bezugsrahmen, 1995–1999 nur noch in 18 von 76 Beiträgen. Die Analyseebenen der Forschungen verschoben sich. Mikrostudien und Vergleiche gewannen seit 1975 nach und nach an Gewicht. Die Dominanz politikgeschichtlicher Interessen findet dabei ihr Pendant in der starken Beachtung politischer Organisationen (Parteien), staatlicher bzw. öffentlicher Institutionen (Armee, Universität, Parlament) als Untersuchungsgegenstand und Analyseeinheit. Bei den sozialen Gruppen veränderte sich das Interesse von den siebziger zu den neunziger Jahren inhaltlich, ohne dass sich ein struktureller Wandel beobachten ließe. Festzuhalten wäre bestenfalls, dass Berufsgruppen (Unternehmer, Bankiers, Verleger, Hochschullehrer) in den Jahrgängen 1995–1999 in einem stärkeren Ausmaß die Aufmerksamkeit auf sich zogen als während der ersten fünf Jahrgänge. Ein drittes Raster fragt nach der Geographie der Aufsätze. Auch hier relativieren die Befunde einige gängige Impressionen. Selbstverständlich bestätigt sich der Germano-Zentrismus der Zeitschrift – angesichts der Nähe deutschsprachiger Archive, der Kürze kolonialer Herrschaftstraditionen und der sprachlichen Hindernisse bei der Arbeit in auswärtigen Archiven ist das zunächst einmal ein bestenfalls in seiner Stärke erklärungsbedürftiger und veränderungsfähiger Befund. In dem Maße, wie in der Zeitschrift Themen der politischen Sozialgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentiert wurden, nahm die deutsche Vergangenheitsbewältigung mit allen ihren Debatten den ersten Platz ein. Hinter dem Germano-Zentrismus verbirgt sich also bei genauerem Hinsehen die Kontinuität nationalgeschichtlicher Deutungskontroversen und Zugriffe. Aufschlussreicher in Tabelle 9.8 erscheint hingegen die Verteilung der Aufsätze auf die übrigen Länder und Regionen. Die Welt von Geschichte und Gesellschaft ist eine durch und durch atlantische Welt, wenn man darunter in Anlehnung an Fernand Braudel sowohl die angelsächsisch­ nordwesteuropäische als auch die iberische Welt mit ihren lateinamerikanischen Verbindungen zusammenfasst. Damit handelt es sich auch um eine eurozentrische Welt. Afrika und Asien spielten in dieser Zeitschrift bis 2000, kurz gesagt, keine Rolle. Überraschend ist wiederum der Befund, dass innerhalb Europas die mediterranen Kulturen und Regionen so gut wie unbekannt blieben.38 38 Eine immerhin verblüffende Tatsache, wenn man bedenkt, dass mit W. Schieder einer der wichtigsten Organisatoren der deutsch-italienischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Mitglied im Herausgeberkreis ist.

256

Tab. 9.8: Geographie der Aufsätze Jg. 1–25 (1975–1999) Region

Anzahl

Prozentanteile

Prozent der loka­ lisierten Aufsätze

206

52,7 %

61,3 %

13

3,3 %

3,9 %

3

0,8 %

0,9 %

Großbritannien

18

4,6 %

5,4 %

Frankreich

19

4,9 %

5,7 %

Niederlande

6

1,5 %

1,8 %

Westeuropa

2

0,5 %

0,6 %

Rußland / Sowjetunion

8

2,0 %

2,4 %

15

3,8 %

4,5 %

Südeuropa

6

1,5 %

1,8 %

Europa

6

1,5 %

1,8 %

13

3,3 %

3,9 %

3

0,8 %

0,9 %

Lateinamerika

11

2,8 %

3,3 %

Afrika / Asien

7

1,8 %

2,1 %

55

14,0 %

391

100,0 %

Deutschland Schweiz / Österreich Mitteleuropa

Südosteuropa

USA Atlantischer Raum

Nicht lokalisierbar Gesamt

kumulative Prozentanteile 66,1

79,6

88,3 90,1 98,2 100

336

Die Prozentwerte der Tabelle sind Anteile an der Gesamtsumme der Dekaden, die in den Aufsätzen Gegenstand der Untersuchung waren. Beiträge, die längere oder mittlere Zeiträume behandeln, sind in dieser Berechnung entsprechend stärker gewichtet als Aufsätze, die nur kurze Zeiträume bearbeiten.

Schließlich prägt der Umgang mit der historischen Zeit, also die Auswahl der Untersuchungszeiträume und die Zeitdauer der untersuchten Phänomene, das Profil historischer Forschung. Auch hier bietet der Gliederungsvorschlag Alain Corbins eine nützliche Orientierung für eine quantifizierende Gewichtung. Tabelle 9.9 zeigt im kontrastiven Vergleich die Aufteilung der Aufsätze in vier Kategorien von Beobachtungsdauer. Auffällig ist, dass 1990–1999 im Vergleich zu den ersten fünf Jahrgängen die Beschäftigung mit Prozessen langer Dauer (gemessen als Zeiträume von mehr als hundert Jahren) deutlich zunahm. Doch nach wie vor standen die kürzeren Zeitspannen im Mittelpunkt. Hierzu tragen insbesondere die zeitgeschichtlichen Aufsätze bei, deren Untersuchungszeiträume häufig durch die kurzen Perioden wechselnder politischer Regime oder Situationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt sind. 257

Tab. 9.9: Aufsätze in Geschichte und Gesellschaft: Zeitdauer der untersuchten Phänomene Zeitdauer hundert Jahre und mehr

Jg. 1–5: 1975–1979

Jg. 16–25: 1990–1999

8

11,9 %

24

17,8 %

30–100 Jahre

26

38,8 %

47

34,8 %

10–30 Jahre

13

19,4 %

26

19,3 %

unter 10 Jahren

20

29,8 %

38

28,1 %

Zahl der Aufsätze

67

100 %

135

100 %

Die Prozentwerte der Tabelle sind Anteile an der Gesamtsumme der Dekaden, die in den Aufsätzen Gegenstand der Untersuchung waren. Beiträge, die längere oder mittlere Zeiträume behandeln, sind in dieser Berechnung entsprechend stärker gewichtet als Aufsätze, die nur kurze Zeiträume bearbeiten.

Tab. 9.10: Chronologische Schwerpunkte der Aufsätze Epoche

Jahrgang 1–5

1500–1650

6,5 %

1650–1790

8,1 %

1790–1870

32,3 %

1870–1918

33,1 %

1918–1945

15,5 %

1945–1990

4,5 %

14,6 %

65,4 %

20 %

Jahrgang 21–25 12,66 % 22,16 % 12,37 % 24,98 % 15,85 % 18,64 %

28,16 %

37,35 %

34,49 %

Tabelle 9.10 zeigt die chronologischen Schwerpunkte der Zeitschriftenauf­ sätze. Auch hier kann wiederum ein Vergleich der Jahrgänge 1975–1979 und 1995–1999 den Trend verdeutlichen.39 Ein erster Befund betrifft die chronologische Verteilung der Aufsätze. Zwischen 1975 und 1999 erweiterte sich der zeitliche Horizont deutlich. Sowohl über die Jahrhunderte der Frühen Neuzeit wurde am Ende des Untersuchungszeitraums häufiger berichtet als auch über die Neueste Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs; sogar die unmittelbare Zeitgeschichte seit 1960 fand in den neunziger Jahren Berücksichtigung. Hierzu beigetragen haben vor allem Studien zur Geschichte der DDR und zum 39 Die Grundlage auch dieser Tabelle ist die Auswertung der Aufsatztitel; als Zeitraum wurden alle Dekaden gezählt, die zwischen gerundetem Anfangs- und Endpunkt liegen, bei Jahrhundertangaben wurde analog verfahren, dabei das 19. Jahrhundert in der Regel als »langes« Jahrhundert bis 1910 gerechnet.

258

politischen Umbruch in Osteuropa. In der Kernzeit von Geschichte und Gesellschaft zwischen Französischer Revolution und Zweitem Weltkrieg vollzog sich eine interessante Verschiebung. Der Anteil der Studien zum »langen 19. Jahrhundert« ging deutlich zurück, vor allem das Interesse für die erste Hälfte des Jahrhunderts ließ nach. Es hat den Anschein, als habe die Zeitschrift hier den Gang der sozialgeschichtlichen Forschungsschwerpunkte seit den sechziger Jahren nachvollzogen. Die Studien zum Zeitraum 1870–1918 behaupteten den relativ größten Platz in der Zeitschrift. An diesem Punkt wird das Gewicht der tradierten Aufmerksamkeit auf das Deutsche Kaiserreich im Herausgeberkreis (Kocka, Wehler, Mommsen) deutlich, aber insgesamt entwickelte sich die Zeitschrift eindeutig weg von ihrem ursprünglichen Schwerpunkt im 19. Jahrhundert: Die klassische Zeitgeschichte in der westdeutschen Tradition, also die Jahrzehnte seit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs, machte am Ende der neunziger Jahre ein gutes Drittel der behandelten Zeiteinheiten aus.

V. Schulbildung und Richtungsstreit Bei den Untersuchungen zu den thematischen Schwerpunkten der Zeitschrift haben wir die zweite große Rubrik der Zeitschrift, das »Diskussionsforum«, bislang ausgeklammert. In dieser Rubrik fanden sich vor allem Beiträge zu Forschungskontroversen, daneben zuweilen Aufsätze zu theoretischen oder methodischen Grundfragen und Forschungsessays. Die Beiträge in dieser Rubrik prägten ganz wesentlich das inhaltliche Profil der Zeitschrift mit. Bis 1982 erschien zunächst eine ganze Reihe von Texten zu Methoden- und Theoriefragen der Sozialgeschichte. Behandelt wurden Methoden und Konzepte sozialer Schichtungsanalyse, zu Professionalisierung und Segmentierung sowie zum Konzept der Protoindustrialisierung. Auffällig ist, dass zwischen 1985 und 1993 kaum noch Auseinandersetzungen um solche methodischen und theoretischen Grundprobleme stattfanden; erst 1993 setzte wieder eine intensivere Beschäftigung mit neueren Ansätzen der Sozialgeschichte ein. »Bürgerlichkeit«, »Moral Economy« sowie das Thema »Modernisierung und NS-Regime« wurden behandelt, die Debatte über die Beziehungen zwischen Kultur- und Sozialgeschichte wurde eröffnet. Einen besonderen Status erhielt die Auseinandersetzung um die sogenannte Borchardt-These um die ökonomische Zwangslage und die begrenzten sozialpolitischen Handlungsspielräume der Spätphase der Weimarer Republik. Ihr allein wurden 9 Beiträge gewidmet, in der Anzahl der Beiträge die bislang längste und umfangreichste Debatte über eine historische These in Geschichte und Gesellschaft. Im Gesamtumfang größer war nur die Aufsatzserie zur konzeptionellen und thematischen Neuorientierung der Sozialgeschichte. Die wichtigsten Schlagworte der Debatte blieben »Kulturalismus«, »Postmoderne« und »linguistic turn«. Mit den damit evozierten Sachproblemen und Theorieangeboten setzten sich zwischen 1993 und 1998 neun Beiträge der Ru259

brik Diskussionsforum in eher lockerer Folge auseinander, ohne dass daraus eine zusammenhängende, klar geführte Debatte um Risiken und Chancen neuer und alter Ansätze der Sozialgeschichte entstanden wäre. Erkennbar wird hingegen das Bemühen vor allem jüngerer Historiker im Umfeld der Zeitschrift, neue theoretische Bezugspunkte für die eigene Forschungspraxis auszuloten. Dahinter wird zugleich auch das Bestreben deutlich, den Anschluss an amerikanische Debatten zu gewinnen. Auf diesem Umweg setzte auch eine stärkere Rezeption französischer Soziologen und Philosophen, voran Bourdieu und Foucault, in den Seiten von Geschichte und Gesellschaft ein. Neben solchen wissenschaftlichen Fachkontroversen von mehr oder weniger eng umgrenzter Reichweite war aber diese Rubrik auch der Ort grundsätzlicher Historikerkontroversen. In den Jahrgängen 1975 bis 1979 wurde der Streit um Konzepte der traditionellen Politikgeschichte weitergeführt – die These vom »Primat der Innenpolitik« im Kaiserreich stand hierbei im Mittelpunkt.40 Ihr schloss sich zwischen 1980 und 1984 ein Disput über die Positionen einer »kritischen Geschichtswissenschaft«, ihren Gegenwartsbezug und ihre politische Relevanz und Zielsetzung an.41 In beiden Fällen setzten die Kontroversen in der Zeitschrift ältere Konflikte im westdeutschen Historikerfeld fort. Dabei ging es um Kernbestände des fachlichen Selbstverständnisses und des Forschungsprogramms, dem sich der Herausgeberkreis verpflichtet fühlte. Mit der Publi­kation dieser Kontroversen diente Geschichte und Gesellschaft nicht zuletzt auch als Verteidigungsinstanz und Sammelpunkt der eigenen Strömung. Schulbildung und Standortlogik42 spielten auch bei den weiteren Historikerkontroversen generelleren Zuschnitts nach 1983 eine wichtige Rolle. Die Kontroverse über die Alltagsgeschichte 1984 wurde der Startschuss zu einer länger anhaltenden Aus40 Vgl. H.-U. Wehler, Moderne Politikgeschichte oder »Große Politik der Kabinette«?, in: GG, Jg. 1, 1975, S. 344–369; T. Nipperdey, Wehlers ›Kaiserreich‹. Eine kritische Auseinandersetzung, in: ebd., S. 539 ff.; H.-J. Puhle, Zur Legende von der ›Kehrschen Schule‹, in: GG, Jg. 3, 1978, S. 108–119; G. Eley, Die ›Kehrites‹ und das Kaiserreich. Bemerkungen zu einer aktuellen Kontroverse, in: ebd., S. 91–107; V. R. Bergbahn, Der Bericht der Preußischen Oberrechnungskammer. »Wehlers« ›Kaiserreich‹ und seine Kritiker, in: GG, Jg. 4, 1979, S. 125– 136; P.-C. Witt, Rezension: Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg, in: ebd., S. 118–124; J. Breuilly, Auf dem Weg zur deutschen Gesellschaft? Der dritte Band von Wehlers »Gesellschaftsgeschichte«, in: GG, Jg. 24, 1998, S. 136–168. 41 K.-G. Faber, Geschichtswissenschaft als retrospektive Politik? Bemerkungen zu einem Aufsatz von Hans-Ulrich Wehler, in: GG, Jg. 5, 1980, S. 574–585; J. Kocka, Legende, Aufklärung und Objektivität in der Geschichtswissenschaft, in: ebd., S. 449–455. 42 Mit Standortlogik sind summarisch die sozialen Zwänge und intellektuellen Automatismen in der Deutung von Distanz und Nähe bezeichnet, die sich aus den Positionen ergeben, von denen aus die Akteure im Historikerfeld agieren. Eine Analyse der Kontroversen kommt rasch zu dem Befund, dass die kleinen Differenzen in Theorie und Methode verstärkt worden sind durch Unterschiede in den politisch-kulturellen Werturteilen und einhergingen mit Unterschieden in den akademischen Interessen, die sich aus den Positionsdifferenzen der Kontrahenten ergeben. Ein ganz wesentlicher Faktor, der die unterschiedlichen Dimensionen in eine Urteilslogik einbindet, ist dabei die implizite oder explizite Identifikation von Denkkollektiven.

260

Tab. 9.11: Themenschwerpunkte in der Rubrik »Diskussionsforum« 1975–1999 (Zahl der Beiträge in den Zeitabschnitten in Klammern) 1975–1979

1980–1984

1985–1989

1990–1994

1995–1999

Interdisziplinäre Beiträge (7) u. a.: Evolutionstheorie; Technikforschung; Medizing.; Anthropologie

(1) Kybernetik

(1) Theorie des Kommunikativen Handelns

(4) u. a.: M. Weber, Linguistik

(2) Simmel; ­ Bourdieu; Wirtschaftswiss. u. Geschichte

Historikerkontroversen (5) Kritik der Politikg.; Kehrthese: Primat d. Innenpolitik

(7) G. als Auf­ klärung; Alltagsgeschichte

(8) Der »Historikerstreit«: Nolte-Habermas-Kontroverse

(2) »Historikerstreit« (Fortsetz.)

(10) DDR-Gesellschaft; DDRVergangenheit

Methoden und Konzepte (6) hist. Demographie; Organisierter Kapitalismus; Quantifizierung; Klassen / Schichten; Sozialprotest

(7) Protoindustrialisierung; Professionalisierung; Klassen / Schichten (Fortsetz.); Segmentierung

(3) Organisierter Kapitalismus (Fortsetz.); Geschlechtergeschichte

(6) Kultur/ Sozialgeschichte; Marxistische Historiographie; Protoindustrialisierung (Fortsetz.)

(6) Kultur-/Sozial­ geschichte (Fortsetz); (2) Post­ moderne und »lingustic turn«

(1) BorchardtThese (1) C. Schmitt (1) Soziale Gruppen im NS-Regime

(3) NS-­ Geschichte; (5) Historiographiegeschichte

Einzeldebatten (4) Populäre Geschichte; (2) Unternehmer und NS

Gesamtzahl = 36

(4) BorchardtThese (3) Alkohol u. Arbeiter

31

(4) BorchardtThese; (3) C. Schmitt (4) Museumsgründungen in der BRD; (5) Soziale Gruppen im NS-Regime 36

28

42

261

einandersetzung von Herausgebern und Autoren der Zeitschrift mit den neueren Tendenzen einer erfahrungsgeschichtlich orientierten, entweder theorie­ skeptischeren oder aber kulturanthropologisch orientierten »Sozialgeschichte von unten«, deren Vertreter politisch eher ›links‹ von der sozialliberalen Mehrheitsströmung standen, mit der sich zahlreiche Anhänger einer Sozialgeschichte identifizierten.43 Dieser Streit im Lager einer sich kritisch gegenüber Gesellschaft und Fachmehrheit definierenden Sozialgeschichte besaß untergründige politische Konnotationen und erinnerte nach der kurzen Diskussionspause Anfang der achtziger Jahre die Leser der Zeitschrift wieder daran, dass das Konzept der Historischen Sozialwissenschaft auch eine gegenwartsbezogene politische Option enthielt. Diese politisch-moralische Dimension trat mit den Beiträgen zum Museumsstreit in Bonn und Berlin in den Jahren 1985/86 und in besonderer Schärfe im sogenannten Historikerstreit zutage. Zwischen 1987 und 1991 erschienen acht Beiträge, die sich zu den unterschiedlichsten Aspekten dieser Auseinandersetzung um die Thesen des Berliner Historikers Ernst Nolte über die Vergleichbarkeit und den Primat stalinistischer und nationalsozialistischer Massenverbrechen und Regime äußerten. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wurde Geschichte und Gesellschaft zu einem der Foren, auf denen die Diskussion über die Integration der west- und ostdeutschen Geschichtswissenschaft und die wissenschaftsinternen Erbschaften der DDR geführt wurde. Diese Kontroversen standen in engem Zusammenhang mit ersten Versuchen, die Auswirkungen der veränderten nationalen und internationalen Konstellation nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder Osteuropas für die Historiographie auszuloten. Wie auch in den anderen Fällen kontroverser Diskussion stand die Zeitschrift den angegriffenen Gegnern offen, konnten die Gegenstimmen zu den Positionen des Herausgeberkreises ausführlich ihre Meinung vertreten. Die Zeitschrift fungierte wie in allen übrigen Kontroversen als Podium der Polemik, war nicht allein Instrument und Organ einer Partei. In dieser Hinsicht gelang es den Herausgebern seit den achtziger Jahren immer besser, Zeitschrift und Strömung zu differenzieren, wenn auch kein Zweifel daran besteht, dass die Meinung des eigenen Lagers breiter und differenzierter zur Darstellung kam. Die vielfachen Tendenzen zur Schulbildung in ihrem personellen Umfeld förderte die Zeitschrift aufs Ganze gesehen tatsächlich in eher indirekter Weise. Ausführlich wurde anfangs noch über die neuen Werke von Wortführern der eigenen Strömung berichtet. Bereits im ersten Jahrgang 1975 kritisierte Thomas Nipperdey Wehlers Interpretation des Kaiserreichs, dreizehn Jahre später rezensierte wiederum Nipperdey in einer Parallelbesprechung mit Winfried Schulze Wehlers gerade erschienenen zweiten Band zur deutschen Gesellschaftsgeschichte. Doch blieben solche pointierten Hervorhebungen neuerer Werke von Herausgebern oder Mitarbeitern die Ausnahme. Die Zeitschrift vermied es in diesem Punkt, in den Verdacht einseitiger Berichterstattung oder Auswahl zu geraten. Im Verlauf der ersten 25 Jahre 43 Vgl. hierzu Lipp, Writing, und Veit-Brause, Paradigms.

262

trat diese Form akademischer Selbstbestätigung denn auch immer mehr in den Hintergrund. Eine dezidiert hagiographische Tendenz lässt sich allein im Umgang mit Vorläufern und Anregern feststellen. Das bewährte Genre des wissenschaftlichen Nachrufs diente dazu, Traditionslinien kenntlich zu machen und die eigene Herkunftsgeschichte zu schreiben: Die Nachrufe zu Theodor Schieder, Werner Conze, Hans Rosenberg und Fritz Redlich verfolgten im Wesentlichen diesen Zweck und sind ganz nach den Regeln dieses klassischen Genres fachinterner Konsensbildung und Traditionsstiftung geschrieben worden.44 Abschließend lässt sich die Rolle der Zeitschrift im Prozess der Schul- bzw. Strömungsbildung noch einmal im Zusammenhang betrachten. Ganz ähnlich wie die Annales E. S. C. wurde sie Spiegel und Repräsentation von Forschungsergebnissen und Diskussionen, deren Ensemble die Selbstinterpretation der Strömung als eines neuen »Paradigmas« der westdeutschen Geschichtsschreibung nachhaltig unterstützte.45 Spätestens seit dem Ende der siebziger Jahre griff die Rede vom Paradigmawechsel um sich;46 dabei war die Übernahme der Kuhnschen Hypothese typischerweise verbunden mit dem Gedanken, die neuere Forschungspraxis und Theoriebildung »überwinde« gewissermaßen unzeitgemäße Traditionsbestände. Vielfach kam es so zu einer Vermischung von Fortschrittsbehauptungen mit Differenzbestimmungen im Werturteil und in den Erkenntniszielen.47 Die Existenz der Zeitschrift war insofern die wirkungsvollste Bestätigung dieser »self-fulfilling prophecy«, wie dies ein skeptischer Kommentator nannte.48 In welchen Forschungskontexten und in welchem Ausmaß die Zeitschrift konkreter Orientierungspunkt für die breitere fachwissenschaftliche Diskussion, auch über den Kreis erklärter Anhänger des neuen »Paradigmas« hinaus, geworden ist, lässt sich auf der Basis der hier untersuchten Dokumente nicht feststellen. Nur eine bibliometrische Erhebung zur Rezeption der Aufsätze und einzelnen Debatten könnte an diesem Punkt weiterhelfen.

44 Folgende Nachrufe sind in GG erschienen: 5, 1979: Fritz Redlich (von J. Kocka), S. 167–171; 11, 1985: Theodor Schieder (von H.-U. Wehler), S. 143–153; 13, 1987: Werner Conze (von W. Schieder), S. 244–266; 15, 1989: Hans Rosenberg (von G. A. Ritter), S. 282–302; György Ranki (von K. O. v. Aretin), S. 455–456; 17, 1991: Detlev Peukert (von D. Blasius), S. 397 f.; Martin Broszat (von H. Mommsen), S. 141–157; Timothy W. Mason (von Charles S. Maier), S. 39–42; 18, 1992: Felix Gilbert (von Fritz Stern), S. 133–142; 19, 1993: Thomas Nipperdey (von W. J. Mommsen), S. 488–505; 25, 1999: Francis L. Carsten (von V. Berghahn), S. 504–510. 45 Zur praktischen Rolle der Selbststilisierung und immunisierenden Selbstlegitimation dieses wissenschaftshistorischen Konzepts siehe Veit-Brause, Paradigms, S. 55–58. 46 Dazu beigetragen haben sicherlich: H.-U. Wehler, Geschichtswissenschaft heute, in: J. Habermas (Hg.), Stichworte zur geistigen Situation der Zeit, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1979, S. 709–753, und Iggers, Neue Geschichtswissenschaft. 47 Vgl. Veit-Brause, Paradigms, S. 57. 48 Faber, Geschichtswissenschaft, S. 581.

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VI. Disziplinierung und Institutionalisierung: Der gesellschaftsgeschichtliche Diskurs Der Erfolg der Zeitschrift in der innerfachlichen Kommunikation beruhte jedoch nicht allein auf der programmatischen Leitorientierung und Themen­ setzung, sondern verdankte sich ganz wesentlich auch der Tatsache, dass es der Redaktion gelang, hohe wissenschaftliche Standards49 bei den Aufsätzen durchzusetzen. Ohne dass diese Aspekte hier systematisch oder gar komparativ analysiert werden könnten, scheinen in erster Annäherung folgende Elemente in der Gestaltung der Aufsätze von Geschichte und Gesellschaft zentral geworden zu sein. Die strikte Trennung von »Aufsätzen« und »Diskussionsbeiträgen« versöhnte den neuartigen Theorieanspruch der Zeitschrift mit der »trivialpositivistischen« Grundtönung der historischen Fachkultur. Der fachspezifischen Norm, das bearbeitete Themenfeld möglichst scharf einzugrenzen und sich auf unbearbeitete, neu erschlossene Quellen zu stützen, blieb auch Geschichte und Gesellschaft treu. Die bibliographische Erschließungsdichte des historiographischen Arbeitszusammenhangs war in den Aufsätzen sehr hoch; hier verblieb die Zeitschrift im Haupttrend nationaler Fachkultur, in der – für auswärtige Be­obachter zuweilen befremdlich – der Kult der Fußnote und der bibliographischen Bagatelle zu besonderer Virtuosität gesteigert worden ist.50 Typischerweise blieb der bibliographische Informationsgehalt der Aufsätze in der Zeitschrift ausgesprochen hoch; dies hing auch damit zusammen, dass nur ganz selten für den Druck erweiterte Vorträge publiziert wurden. Weiter ist zu berücksichtigen, dass sich in Geschichte und Gesellschaft das Beobachtungsfeld der bibliographischen Verzeichnungsarbeit in Richtung auf bestimmte Teilbereiche der Nachbardisziplinen erweiterte. An diesem Punkt lassen sich auch am leichtesten für den Nichtspezialisten die »Normierungseffekte« beobachten, die die Zeitschrift mit ihrem Programm und mit ihrer Redaktionsarbeit ausgeübt hat: Im Bereich von Soziologie und Politikwissenschaft etablierte sich eine engere Liste quasi »klassischer« Titel, die ein Verfasser von Beiträgen für Geschichte und Gesellschaft

49 Strenggenommen müsste dieser Begriff in Anführungszeichen gesetzt werden, da im bundesrepublikanischen Historikerfeld der Konsens über die fachliche Begutachtung von Fachpublikationen im untersuchten Zeitraum eher schwächer geworden ist. Als Faktoren sind hier zu nennen: die wachsende Spezialisierung, Unterschiede in der Wertung von theoretischen Elementen in der historischen Fachargumentation, wachsende Diskrepanzen in der Bewertung der stilistischen wie der narrativen Aspekte in Aufsätzen sowie schließlich über die Verfahren, mit denen Faktenbezug bzw. Quellennähe hergestellt und transparent gemacht werden. Vollends strittig wurden schließlich Relevanzgesichtspunkte. 50 Gegen eine vorschnelle Missdeutung dieses ironischen Objektivierungsversuches sei darauf hingewiesen, dass der wissenschaftliche Stellenwert dieser Verfahren damit keineswegs negiert ist; hier geht es vor allem um ihren Mehrwert als symbolisches Kapital innerhalb des Historikerfeldes.

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meinte unbedingt nennen zu müssen, sei es als Pflichtübung oder als Verbeugung vor der Würde des Publikationsorgans. Max Weber wurde zum unbestrittenen Theoriehelden der Zeitschrift, in weitem Abstand gefolgt von Vertretern der modernisierungstheoretischen Varianten der Historischen Soziologie sowie einigen exponierten Vertretern der westdeutschen »Historischen« Sozio­ logie wie Dahrendorf oder Lepsius. Grundsätzlich dominierten auch in Feldern, in denen dies keineswegs den Forschungstendenzen und Schwerpunkten entsprach, angelsächsische Publikationen neben den deutschsprachigen Titeln die bibliographischen Hinweise in den Anmerkungen. Eine wesentliche Voraussetzung der Qualitätspolitik war das Gutachterverfahren. Hier veränderte die Zeitschrift ein wenig die Gewohnheiten der westdeutschen Historikerzunft, indem Anonymisierung und mehrfache Gutachten den Prozess der Auswahl nach vor allem amerikanischem und sozialwissenschaftlichem Vorbild objektivieren sollten. Es entstand jedoch ein geteiltes Verfahren. Für die Beiträge der Themenhefte war der jeweilige Herausgeber zuständig; »nur im Kontroversfall«51 wurde auf seine Bitte hin ein weiterer Gutachter aktiv, sonst aber galt als Regel: Neben einem der geschäftsführenden Herausgeber beurteilte ein zweiter Gutachter die Manuskripte.52 In der Regel erfuhren die publizierten Aufsätze eine sowohl inhaltliche als auch stilistische Überarbeitung nach einer ersten Begutachtung. Typisch für die Selbstdarstellung der Redaktion wurde jedenfalls der selbst­ bewusste Hinweis, dass die Mehrzahl der eingereichten Manuskripte abgelehnt, nur eine Minderheit in überarbeiteter Form publiziert würde und die sofortige Annahme eines Textes die große Ausnahme darstelle. Die hier genutzten Dokumente erlauben nicht, diese Selbstdarstellung an der Praxis zu messen; auffällig ist, dass auch die Protokolle der Herausgeberkonferenzen nur wenig Hinweise auf Diskussionen über diese Verfahren enthalten. Die älteren zunftspezifischen Regeln einer informellen Auslese, die sich auf die Kompetenz und Autorität einzelner Redakteure bzw. Herausgeber verließ, sind auch im Fall von Geschichte und Gesellschaft keineswegs verschwunden. Wesentlicher erscheinen jedoch die Effekte, die mit dieser Qualitäts­kontrolle bei einzelnen Autoren und insgesamt im Historikerfeld ausgeübt wurden. Erstens erlangte die Zeitschrift rasch Ansehen und Anerkennung durch die publizierten Forschungsleistungen, und konnte sich eine prominente Stelle in der informellen Rangskala »wichtiger«, anerkannter Publikationsorte des Faches erobern.53

51 GG-Protokolle: 1. Herausgebertreffen am 22.02.1974, S. 2. 52 Ebd., S. 3. 53 Auch diese Beobachtungen bedürfen der weiteren Überprüfung. Die beste Quelle für diese Formen internen Rankings dürfte die Bewertung von Beiträgen in Geschichte und Gesellschaft in den vertraulichen Gutachten in Bewerbungsverfahren sein. Hier ließe sich auch am ehesten erkennen, in welchem Maße es einer mit dezidierten historisch-politischen Wert­ urteilen verbundenen Zeitschrift wie Geschichte und Gesellschaft gelungen ist, Anerkennung im Kreis ihrer politischen wie fachlichen Gegner und unter den thematisch und zeitlich an dem Organ kaum interessierten Fachkollegen zu erlangen.

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Zweitens wurde die Zeitschrift auch über das enge Umfeld der »Bielefelder Schule« hinaus zu einem begehrten Publikationsort. Entsprechend anspruchsvoll und kritisch konnten die Gutachter mit den Manuskripten verfahren. In den Protokollen der Herausgeberkonferenzen wurde jedenfalls nur einmal, zu Anfang der achtziger Jahre, Klage über eine »Flaute« im Manuskripteingang geführt.54 Drittens behielt die Zeitschrift aufgrund eines dauerhaften Über­ angebots an angebotenen Manuskripten einen großen Handlungsspielraum bei der Auswahl der Forschungsthemen, die sie fördern wollte. Die Gestaltung der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft war schließlich auch eng verbunden mit Veränderungen in den Organisationsformen historischer Forschung. Die Einrichtung regelmäßiger Themenhefte schuf die Möglichkeit, Beiträge von Fachtagungen oder von Sektionen von Historikertagen rasch zu publizieren. Ob dabei die Heftplanung oder die Tagungsidee am Anfang stand, lässt sich im Einzelnen nur schwer feststellen. Die Verdichtung und Beschleunigung der Kommunikation, die damit einherging, ist ein ganz wesentlicher Effekt im Wissenschaftsbetrieb. Es sei hier nur an die schwierigen Publikationsbedingungen für die Ergebnisse von Fachtagungen und an die mehrjährigen Fristen zwischen Tagung und der Veröffentlichung der Tagungsakten erinnert. Die hohe Auflage und große Verbreitung der Zeitschrift machten Geschichte und Gesellschaft in jedem Fall zu einem besonders attraktiven Publikationsort für die Organisatoren sozialgeschichtlicher Tagungen und Kolloquien. Der wissenschaftliche Informationsfluss wurde auch dadurch beschleunigt, dass Aufsätze veröffentlicht wurden, welche die wichtigsten Forschungsergebnisse noch nicht publizierter Dissertationen oder noch laufender größerer Forschungsvorhaben enthielten. Die größere Aktualität, die damit erreicht wurde, ging einher mit einer sozialen Öffnung der Autorenkreise. Neben bereits etablierten verbeamteten Historikern kamen in Geschichte und Gesellschaft seit der Gründung auch regelmäßig Nachwuchswissenschaftler zu Wort. Die Zeitschrift entwickelte sich damit zugleich auch zu einem ganz wichtigen Instrument der Nachwuchsförderung. Diese neue Funktion erhöhte wiederum die akademische Macht und den Einfluss der Herausgeber der einzelnen Themenhefte und der Geschäftsführer. Diese fachinterne Selektionsmacht wuchs in dem Maße, wie sich der universitäre Stellenmarkt für Nachwuchshistoriker zwischen dem Beginn der achtziger Jahre und Mitte der neunziger Jahre rapide verkleinerte. Die Innovationsorientierung war damit zugleich auch eine erfolgreiche Strategie der Schulbildung und akademischen Einflussnahme. Das Ergebnis war in jedem Fall, dass Geschichte und Gesellschaft zu einem attraktiven Publikationsort für die wachsende Zahl sozialhistorisch orientierter Nachwuchswissenschaftler wurde und die Zeitschrift

54 Auch hier sei auf die methodische Schwierigkeit hingewiesen, die interne Hierarchie der Fachzeitschriften transparent, gar »messbar« zu machen. Typische Wege des Manuskriptumlaufs bei Autoren, die nicht prominent in den informellen Personennetzwerken und Gruppenbildungen platziert sind, würden hier erste Hinweise geben.

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ihrerseits die Aktualität der eigenen Berichterstattung auf einem hohen Niveau halten konnte.55

VII. Internationaler Vergleich Abschließend stellt sich die Frage, welchen Platz Geschichte und Gesellschaft in den internationalen Entwicklungstrends wissenschaftlicher Medien im Fach Geschichte eingenommen hat. Eindeutig gehört sie in den Zyklus zahlreicher Zeitschriftenneugründungen der sechziger und siebziger Jahre, und wie die anderen Zeitschriften reagierte sie auf die rapide wachsende Nachfrage nach wissenschaftlichen Publikationsorten, die mit dem Ausbau der nationalen Historikerfelder verbunden war. Typisch für diese Welle war, dass die neuen Organe in der Regel nur noch Teildisziplinen des Faches abdeckten und damit die Spezialisierungstendenzen in den Feldern zugleich begleiteten und förderten. Geschichte und Gesellschaft hat selbst in einer Serie von Berichten vergleichbare und verwandte sozialgeschichtliche Zeitschriften vorgestellt und damit den eigenen Lesern diese Verbindungen verdeutlicht. Bereits ein oberflächlicher Blick lässt erkennen, wie vielfältig die Themen waren, die in den sozialhistorischen Fachorganen behandelt worden sind und wie groß auch die konzeptionellen Unterschiede in den einzelnen nationalen Historikerfeldern geblieben sind. Wie die meisten anderen Neugründungen blieb auch Geschichte und Gesellschaft eingebunden in ein nationales Historikerfeld, die Öffnung vor allem für englischsprachige Sozialhistoriker gelang punktuell; besonders die Kontroversen im Diskussionsforum waren bei den großen generellen Themen markant nationalzentriert. So ist es denn auch nicht überraschend zu beobachten, dass die Zeitschrift im internationalen Kontext weniger als Podium oder Forum für neue Debatten oder Kontroversen fungierte, sondern stärker als Vermittler und Kontrolleur des wissenschaftlichen Ideenverkehrs vor allem zwischen den angelsächsischen und den westdeutschen Sozialhistorikern agierte. Ähnlich wie im Fall der ­Annales E. S. C. der siebziger Jahre lässt sich auch in Geschichte und Gesellschaft eine prekäre Balance zwischen der Pflege der gerade erst erfundenen eigenen Tradition und der Öffnung gegenüber den Innovationen aus den Vereinigten 55 Beispiele für diese Verzahnung von Wissenschaftsprozess und Zeitschriftenplanung sind Heft 1, 1990 zum Thema »Hexenverfolgung«, in dem drei Dissertationen in Auszügen vorgestellt werden. Frühestes Beispiel sind die Beiträge in Heft 4, 1975 »Imperialismus im Nahen und Mittleren Osten«, die aus einer Sektion des Braunschweiger Historikertages von 1974 hervorgegangen sind. Weitere Tagungen waren: Nov. 1974: Revolution und Reform in Lateinamerika im ZIF Bielefeld (GG, Jg. 2, 1976); Tagung der Stiftung Volkswagenwerk 04.–07.10.1979 in Gießen: Staatliche Finanzen, Privatbanken und Handel im französischen Kaiserreich und im rheinbündischen Deutschland (GG, Jg. 4, 1980); zwei Tagungen des DHI London mit Open University: 21.–23. Mai 1981: Social Processes of Demobilisation after the First World War (GG, Jg. 2, 1983).

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Staaten (auch mit deutlichem Abstand Großbritannien und Frankreich) beobachten. Wichtige internationale Debatten erreichten jedenfalls die Zeitschrift mit deutlicher zeitlicher Verzögerung, hinter der sich auch klar formulierte theoretische und methodische Vorbehalte erkennen lassen. Dies gilt sowohl für die Kontroversen um den »linguistic turn« als auch für die Neuansätze einer »intellectual history« oder die theoretische Neuorientierung einer soziologisch orientierten Sozialgeschichte. Im Gegenzug verschaffte Geschichte und Gesellschaft der deutschen Variante der Gesellschaftsgeschichte im Ausland ein klares Profil. Auffällig bleibt jedoch, dass trotz der wachsenden internationalen Verflechtung hochspezialisierter Forschergruppen die einzelnen sozialgeschichtlichen Zeitschriften nur wenig miteinander vernetzt sind. Es liegt nahe, Zeitschriften danach zu unterscheiden, ob sie stärker einer internationalen Ausrichtung folgen oder sich stärker an Problemen der nationalen Historiographie ausrichten. Dabei gehört Geschichte und Gesellschaft eindeutig zum zweiten, nationalzentrierten Zeitschriftentyp. So ist es nicht überraschend zu beobachten, dass etwa die Internationalität des älteren sozialhistorischen Fachorgans, der Vierteljahrschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte – gemessen an Autoren und Themenwahl – größer war als die von Geschichte und Gesellschaft, aber ihre Breitenwirkung im nationalen Feld als kleiner einzuschätzen ist. Typischerweise verzichtete Geschichte und Gesellschaft bis 2006 darauf, englische »abstracts« ihrer Aufsätze zu publizieren, ein Verfahren, das durchaus weitere Verbreitung im untersuchten Zeitraum gefunden hat. Das vehement verteidigte allgemeinhistorische Mandat erhielt seine eigentliche Bedeutung denn auch in den nationalhistorischen Kontroversen. In gewisser Hinsicht blieb die Zeitschrift in ihrem Selbstverständnis eine Gegengründung zur älteren, methodisch konservativeren und vor allem die gesamte Breite des Faches einbeziehenden Historischen Zeitschrift. Geschichte und Gesellschaft verstand sich als Korrektur und Ergänzung der dort dominierenden Strömungen. Angesichts der zentralen Bedeutung, die die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts für die nationale Geschichtskultur in Deutschland besitzt, wuchs der Neugründung jenseits der eigenen dezidierten Deutungsansprüche allein aufgrund ihrer zeitlichen Schwerpunkte zugleich auch eine hervorragende Stellung im Kreis der spezialisierten Fachorgane zu. Ihre wichtigsten und nachhaltigsten Wirkungen hat sie denn auch in der deutschen Geschichtswissenschaft entfaltet. Sie wirkte damit aber auch gegenläufigen Tendenzen zur weiteren Isolierung der Teilbereiche und zur weiteren Spezialisierung der Forschergruppen und Kommunikationszusammenhänge in der Geschichtswissenschaft entgegen. Doch Geschichte und Gesellschaft verdankte, wie die französischen Annales E. S. C. eine Generation früher, ihr allgemeinhistorisches Mandat einer dezidierten Lager- und Gruppenbildung aufgrund programmatischer Leitorientierungen. Deren Überzeugungs- und Integrationskraft ließen seit der Mitte der achtziger Jahre allmählich nach, so dass am Ende der hier untersuchten Periode eine programmatische und inhaltliche Neuausrichtung bzw. Aktualisierung von Geschichte und Gesellschaft auf die Tagesordnung rückte. 268

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Wehler, H.-U., Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. Weingart P. u. a. (Hg.), Die sogenannten Geisteswissenschaften. Außenansichten, Frankfurt a. M. 1991.

270

10. Aktualität als Herausforderung für den Historiker. Die Gegenwart in den Annales d’histoire économique et sociale und den Annales Economies. Sociétés. Civilisations (1929–1949)

Die Erfolgsgeschichte der französischen Annales-Schule war aufs engste verbunden mit der Distanz, die sie zu allen Formen der Politikgeschichte wahrte – ob als konventionelle Geschichte politischer Ereignisse oder als parteiliche Geschichtsschreibung, die in politische Gegenwartskonflikte verwickelt war. So blieb es nicht aus, dass am Ende ihrer großen wissenschaftlichen Erfolgskarriere die Annales-Strömung sich den Vorwurf gefallen lassen musste, die Bedeutung des Politischen in der Geschichte aus den Augen verloren zu haben.1 Dabei wird meist übersehen, dass die Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale in ihren Anfangsjahren ein besonderes Interesse an aktuellen Gegenwartsproblemen zeigte, das ganz ungewöhnlich für historische Zeitschriften war und ist.2 Es lohnt sich, Genaueres über die Gründe und Umstände herauszufinden, die zur Abwendung von Gegenwart und Politik führten, denn dies verspricht, einige der Probleme schärfer zu erkennen, die für eine neue Art der Geschichtsforschung auftauchten, die das traditionelle Engagement für die Geschichte der 1 Zur Geschichte der Annales-Strömung vgl.: P. Burke, Offene Geschichte. Die Geschichte der Annales, Berlin 1991; L. Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre. »Annales«-Geschichtsschreibung und »nouvelle histoire« in Frankreich 1945–1980, Stuttgart 1994; C. Aguirre Rojas, Die ›Schule‹ der Annales, Leipzig 2004; A. Burguière, The Annales School. An Intellectual history, Ithaca 2009; zu den Anfängen insbesondere: U. Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert. Marc Bloch, Frankfurt a. M. 1995; B. Müller, Lucien Febvre, lecteur et critique, Paris 2003. 2 Dies muss gegen übliche Rückprojektionen späterer Politik- und Gegenwartsdistanz der Annales ESC deutlich betont werden: »Mais les Annales innovent de façon unique parce qu’elles marient la longue durée, l’histoire immédiate, l’histoire sociale et même l’histoire politique. … L’alliance des éléments les plus contradictoires pour le reste de la production historique confère son originalité à la durée des Annales. En dépit de ce que la légende dorée laisse croire, les »annales« n’inventent pas la longue durée, mais elles l’insèrent dans un contexte particulier.« (»Die ›Annales‹ sind in einzigartiger Weise innovativ, weil sie lange Dauer, neueste Zeitgeschichte, Sozialgeschichte, ja sogar Politikgeschichte miteinander verbinden. Die Verknüpfung der in der übrigen historischen Produktion unverträglichsten Elemente verleiht der Zeitwahrnehmung der Annales ihre Besonderheit. Anders als es die Legende vermuten lässt, erfinden die Annales nicht die lange Dauer, sondern sie ordnen sie in einen besonderen Kontext ein.«) O. Dumoulin, Profession historien 1919–1939. Un métier en crise? Thèse de 3e cycle. EHESS, Paris 1983, S. 261.

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eigenen Nation aufgegeben hatte und einen oft schmalen Pfad zwischen den divergierenden Zielen autonomer wissenschaftlicher Forschung und einem staatsbürgerlichen Gegenwartsinteresse suchte.

I. Absichten und Hoffnungen Lucien Febvre und Marc Bloch waren sich darin einig, dass es nötig sei, die üblichen Schranken zu zerstören, die ihre Historikerkollegen von Gegenwartsproblemen und den gegenwartsorientierten Sozialwissenschaften trennten.3 Ihr Ziel war es, die Gegenwart als legitimen Gegenstand historischer Neugierde zu etablieren. Als sie in den 1920er Jahren ihre Pläne für eine neue Zeitschrift schmiedeten, entwarfen sie das neue Journal als einen Ort, wo Historiker die Sichtweisen und Methoden der benachbarten Sozialwissenschaften entdecken konnten und wo die aktuellen Probleme in Gesellschaft, Politik und Ökonomie diskutiert und analysiert werden sollten. »Diese Solidarität von Gegenwart und Vergangenheit« (»cette solidarité du présent et du passé«)4 wurde zur Kurz­ formel für ein Programm, das gleichermaßen Abstand suchte zu einem bloß antiquarischen Interesse an der Vergangenheit wie zu einer Geschichtsschreibung, die im Interesse einer Partei oder nationaler Politik geschrieben wurde.5 Aber als sie ihre neue Zeitschrift planten, reichten die Ambitionen von Bloch und Febvre weiter, als nur die Einstellungen und Konzepte von Historikern zu verändern. Wenn Bloch von einer »kleinen intellektuellen Revolution« (»une petite

3 P. Schöttler, Eine spezifische Neugierde. Die frühen ›Annales‹ als interdisziplinäres Projekt, in: Comparativ, Jg. 4, 1992, S. 112–126. 4 M. Bloch, Pour mieux comprendre l’Europe d’aujourd’hui, in: Annales d’histoire économique et sociale (AHES), Jg. 10, 1938, S. 61. 5 L. Febvre und M. Bloch haben mehrfach ihr Leitbild der Geschichtswissenschaft formuliert: »L’histoire réponde à des questions que l’homme d’aujourd’hui se pose nécessairement. Explication de situations compliquées, au milieu desquelles il se débattra moins aveuglement si l’on sait l’origine. Rappel de solutions qui furent celles du passé et donc celles qui ne sauraient être en aucun cas, celles du présent […] Et disons: l’érudition pour l’érudition jamais. L’histoire au service des partis et des opinions partisanes, jamais. Mais l’histoire posant des problèmes au passé en fonction des besoins présents de l’humanité. Cela, oui. Voilà notre doc­trine, voilà notre histoire.« (Geschichte muss auf die Fragen, die der heutige Mensch sich stellt, einen Antwort geben. Erklärung komplizierter Situationen, in denen er sich weniger blind behaupten wird, wenn er ihren Ursprung kennt. Erinnerung an Lösungen, die gestern gefunden wurden und deshalb nicht die heutigen sein können, […] Und sagen wir’s deutlich: Gelehrsamkeit um ihrer selbst willen: niemals, Geschichte im Dienst heutiger Bedürfnisse und Parteimeinungen: niemals; eine Geschichte, die der Vergangenheit Fragen stellt im Interesse gegenwärtiger Bedürfnisse der Menschheit, das ja. So lautet unsere Doktrin, das ist unsere Geschichte«) L. Febvre, Face au vent, in: Annales E. S. C., Jg. 1, 1946, S. 718; M. Bloch, Apologie der Geschichte, Stuttgart 1974, S. 63 f.

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révolution intellectuelle«)6 sprach, für welche die Zeitschrift als Katalysator dienen sollte, dann träumte er davon, unter den Eliten Frankreichs eine neue Geschichtskultur zu verbreiten. Die Kenntnis der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sollte ihnen dabei helfen, Gegenwartsprobleme zu lösen. Historiker und Sozialwissenschaftler sollten mit den »hommes d’action« zusammenkommen, wie die Annales-Gründer die Mitglieder der Wirtschafts- und Verwaltungseliten ihres Landes nannten. Sie sollten das bevorzugte Publikum für das neue Geschichtsjournal sein – ein Publikum, das die Annales d’histoire économique et sociale aber niemals in nennenswertem Umfang erreichten. Um dieses Publikum anzulocken, öffneten die beiden Herausgeber regelmäßig die Seiten der neuen Zeitschrift für Artikel, die sich mit Gegenwartsfragen beschäftigten. Der Briefwechsel zwischen Febvre und Bloch zeigt uns in aller Deutlichkeit die großen Schwierigkeiten, kompetente Mitarbeiter für diese neue Aufgabe zu finden, regelmäßig Tagesthemen zu behandeln oder gegenwartsbezogene und historische Forschung miteinander zu verknüpfen.7 Dieses Programm für ein neues historisches Journal, das Gegenwartsproblemen breiten Raum widmete, war Teil zeitgenössischer Bestrebungen, die im Deutschen am besten als Erneuerung des Allgemeinwissens oder der Allgemeinbildung zu bezeichnen wären.8 Auf der einen Seite hatten die revolutionären Entwicklungen in den Naturwissenschaften und das Aufkommen der neuen anwendungsbezogenen Sozialwissenschaften seit Beginn des Jahrhunderts die Nachfrage nach einer neuen Synthese aktuellen Wissens stimuliert und die aka6 »Faire une Revue Historique améliorée ne nous aurait donné, ni à l’un ni à l’autre, beaucoup de mal. Dans ce que nous avons entrepris, il y a au fond, une espèce de petite révolution intellectuelle«. (»Eine verbesserte ›Revue historique‹ zu machen, hätte keinem von uns Schwierigkeiten bereitet. Bei dem, was wir unternommen haben, handelt es sich im Grunde um eine kleine intellektuelle Revolution.«) M. Bloch an L. Febvre (1929) AN MI 318 1. 7 »Les abonnés sont éstimés rares dans l’ordre des affaires […] il nous faut un contingent de gens d’affaires. Pour gagner ce public il nous faut chaque numéro un article qui tire l’œil, un article vedette d’actualité économique ou sociale contemporaine.«(Die Abonnenten in Geschäftskreisen werden als rar eingeschätzt […] wir brauchen ein Kontingent von Geschäftsleuten. Um dieses Publikum zu gewinnen, brauchen wir in jedem Heft einen Aufmacherartikel zur aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Themen.«) Febvre an Bloch, 14.8.1929 AN MI 318 2; »Un de mes grands soucis est la difficulté de remplir convenablement la partie contemporaine de notre revue. (»Eine meiner großen Sorgen ist die Schwierigkeit, den Gegenwartsteil unserer Zeitschrift angemessen füllen zu können.«) Bloch an Febvre 27.9.1928 AN MI 318 1. Auch 1935 ist das Problem immer noch aktuell: »Nous avons grand besoin de renouveler notre ›personnel‹ come dit le recteur de ›Strasbourg‹, (Wir müssen dringend unser »Personal« erneuern, wie unser Rektor in Strasbourg zu sagen pflegt.«) Bloch an Febvre 12.8.1935 AN MI 318 1. 8 »Enfin plus large encore, plus susceptible d’intéresser, pour des raisons diverses, tous ceux qui cherchent dans nos Annales ce que nous voudrions qu’on y trouvât: les éléments d’une culture générale au sens vrai du mot«, (»Schließlich geht es noch allgemeiner formuliert darum, das Interesse all jener zu wecken, die aus den verschiedensten Gründen in unseren Annales suchen, was sie hoffentlich dort auch finden werden: die Elemente einer allgemeinen Kultur im wahren Sinne des Wortes.«) AHES, 2, 1930, S. 2.

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demischen Traditionen humanistischer Bildung wiederbelebt. Lucien Febvre selbst war an dem ehrgeizigen Projekt einer neuen Encyclopédie française beteiligt.9 Diese Kulturinitiativen hatten das Ziel, die revolutionären Veränderun­gen in den Wissenschaften einem breiteren gebildeten Publikum nahe zu bringen und im Fall der Humanwissenschaften deren praktische Nutzung in Händen der politischen und wirtschaftlichen Eliten zu befördern. Intellektueller Ausgangspunkt ist also der feste Glaube der Annales-Gründer an das Fortschrittspotential von Wissenschaft und Technik. In dieser Sicht schufen die neuen Probleme, die aus der wachsenden Dynamik von Gesellschaft und Wirtschaft resultierten, Bedarf für Sozialexpertise. Aufgabe der Geschichtswissenschaft und der Sozialwissenschaften war es, die Komplexität von Gesellschaft offenzulegen und die Beziehungen zwischen sozialen Strukturen bzw. Institutionen und symbolischen Repräsentationen zu analysieren. An diesem Punkt nahmen Bloch und Febvre das Erbe der Durkheim-Schule und anderer Strömungen der zeitgenössischen französischen Soziologie auf und definierten »Sozialpsychologie« als das zentrale Terrain, auf dem die Geschichtswissenschaft die politische Kultur durch eine breitere Perspektive auf die Ursachen und möglichen Lösungen aktueller sozialer, politischer oder kultureller Probleme bereichern sollte. Primäre Aufgabe der Geschichte oder der Sozialwissenschaften sollte nicht mehr darin bestehen, die mittlerweile fest verankerte Dritte Republik gegen ihre Gegner moralisch zu stärken und intellektuell zu verteidigen. Empirische Forschung sollte an die Stelle von Soziallehren treten.10 Eine solche Sicht auf Gegenwartsfragen und die Aufgaben der Geschichts- und Sozialwissenschaftler führte dann zu der Forderung an die politische Klasse der späten Dritten Republik, sich intellektuell neu zu orientieren und aus den engen Deutungsmustern des 19. Jahrhunderts herauszutreten, welche die dominanten politischen Doktrinen des Liberalismus und des Republikanismus gegenüber aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen einnahmen. Ein solches Programm intellektueller Reform war in den elitären Strömungen des Reformsozialismus beheimatet, die einen großen Teil der republikanischen akademischen Jugend im Umfeld der Dreyfus-Affäre erfasst hatten. Sozialreform, demokratischer Republikanismus und forschungsorientierte Wissenschaft, mit diesen drei Schlagwörtern lassen sich die Leitwerte dieser intellektuellen Strömung auf dem linken Flügel der akademischen Welt zusammenfassen. Febvre

9 Vgl. G. Gemelli, L’Encyclopédie française e l’organizzazione della cultura nella Francia degli anni Trenta, in: Passato e presente, Jg. 11, 1986, S. 57–89. 10 Die späte Durkheim-Schule hatte sich dementsprechend in einen forschungsorientierten ›revisionistischen‹ und einen orthodoxen Flügel aufgespalten. Während letzterer politikorientiert war und Sozialphilosophie als die Zivilreligion der laizistischen Republik pflegte, knüpften die Annales-Gründer enge Verbindungen zu Mitgliedern des revisionistischen Flügels. Vgl. J. Heilbron, Les métamorphoses du Durkheimisme, 1920–1940, in: Revue française de sociologie, Jg. 27, 1985, S. 203–237.

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und Bloch teilten diese Sichtweise der sozialen Welt, ohne jedoch dem politischen Engagement ihrer linksliberalen oder sozialistischen Kollegen zu folgen.11 In vergleichender Perspektive erinnert dieses Programm einer neuen politischen Kultur wissenschaftlicher Expertise an ähnliche zeitgenössische Strömungen. Nachdem in Großbritannien die Fabianer eine intellektuelle Strömung gebildet hatten, die viele Gemeinsamkeiten mit dem universitären französischen Sozialismus aufwies, entwickelte sich die neugegründete London School of Economics zu einer Institution für interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Forschung, die weitgehend Blochs und Febvres Ideen entsprach. Auch Entwicklungen in der nordamerikanischen Soziologie, deren Chicago-Variante etwa Marc Bloch den Annales-Lesern in 1932 vorstellte, und die sozialwissenschaftlichen Forschungsprogramme nordamerikanischer Stiftungen gingen in die gleiche Richtung. In Mitteleuropa bietet nur das sozialdemokratische Wien eine vergleichbare intellektuelle Situation.

II. Themen und Autoren Die Idee, gegenwartsbezogenen Themen in der neuen Zeitschrift größeren Raum einzuräumen, musste sich in einem Jahrzehnt bewähren, das als eines der bewegtesten im 20. Jahrhundert betrachtet werden kann und dem es nicht an spektakulären sozialen und wirtschaftlichen Krisen, politischen Revolutionen und internationalen Konflikten mangelte. Die Annales publizierten regelmäßig Besprechungen neuer Bücher zu aktuellen Themen. Diese Rubrik umfasste mehr als ein Drittel aller Buchbesprechungen.12 Ein Viertel der Aufsätze oder Essays in der Zeitschrift waren Gegenwartsfragen gewidmet.13 Bereits in den ersten Jahren ihres Erscheinens beschäftigte 11 Diese politische Tendenz der neuen Zeitschrift war von Anfang an ein Streitpunkt zwischen den Herausgebern und ihrem Verlagshaus, Armand Colin. So bereitwillig der Verleger dem Ziel zustimmte, eine breitere Leserschaft im Kreis der Geschäftswelt zu finden, so misstrauisch beobachtete er linke Tendenzen unter den Mitarbeitern. Die Bedenken und Einsprüche des Verlags gegen allzu kritische Aufsätze über das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1937 markieren denn auch einen entscheidenden Schritt hin zum Bruch zwischen Herausgebern und Verlag 1938. Vgl. C. Fink, Marc Bloch: A Life in History, Cambridge 1989, S. 160 f. 12 Unter dieser Rubrik sind Bücher zusammengefasst, die sich folgenden Kategorien zurechnen lassen: aktuelle Sachbücher inklusive Journalismus und politikwissenschaftliche Bücher (12,5 %), Statistiken (4,9 %), politische Ökonomie (6,9 %), Geographie (7,6 %), Soziologie (1,0 %) und Ethnographie (1,2 %). Insgesamt handelt es sich um 2137 Titel in den ausgewerteten Bänden 1 bis 4 (1929–1932) und 7 bis 10 (1935–1938). 13 Oosterhoff und Wesseling haben 21,5 % der Artikel, die zwischen 1929 und 1945 publiziert wurden, dieser Kategorie zugeordnet. Das Schweigen über Gegenwartsprobleme angesichts der Zensur während der deutschen Besatzungszeit 1940–1944 senkt den Anteil für die von ihnen untersuchte Periode. In späteren Jahren fiel der Anteil immer weiter: 17,7 %

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sich die Annales d’histoire économique et sociale mit dem zentralen Thema des Augenblicks: der Weltwirtschaftskrise. Von 1929 bis 1933 lag der Schwerpunkt aktualitätsbezogener Beiträge auf dem Bereich des internationalen Banken- und Währungssystems.14 Die Herausgeber widmeten die erste »enquête«, die von der Zeitschrift initiiert und koordiniert wurde, diesem Thema. Dem schlossen sich Studien über die internationale Entwicklung und die spezifischen nationalen Situationen im Agrarsektor seit Ausbruch der Wirtschaftskrise an. In beiden Fällen wurden historischen Beiträge zu Agrarstrukturen, frühere Preisbewegungen und Wirtschaftskrisen entsprechende Studien zu den aktuellen Problemen gegenübergestellt. Von Anfang an wurden zwei andere Hauptthemen behandelt, welche bis in die vierziger Jahre einen größeren Raum in der Zeitschrift einnehmen sollten: Studien und Berichte über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Sowjetunion unter dem Eindruck der stalinistischen Industrialisierung und Aufsätze zur sozialen und wirtschaftlichen Situation in den Kolonien, insbesondere in Nordafrika. Nach 1933 gewannen dann Faschismus und Nationalsozialismus an Bedeutung. Vor allem Artikel zu Deutschland und Österreich erschienen, nur ein Aufsatz behandelte den italienischen Faschismus, kein Aufsatz ist zum Spanischen Bürgerkrieg publiziert worden. Zwischen 1933 und 1935 berichteten drei Aufsätze über die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die US-amerikanische Wirtschaft und zeichneten ein recht skeptisches und ernüchterndes Bild des New Deals in den USA.15 Eine andere Gruppe von Beiträgen zu aktuellen Themen kann unter dem zeitgenössischen Begriff »sozialer Morphologie« zusammengefasst werden. Sie enthält eine Anzahl von Fallstudien zu aktuellen sozialen oder ökonomischen Problemen, die von Soziologen, Ethnologen oder Geographen verfasst worden sind. In erster Linie dienten diese Aufsätze als Beispiele, um dem Leser die Methoden dieser Disziplinen vorzustellen. Da diese Texte die politische Dimension ihres Gegenstands entweder ganz ausließen oder nur streiften, können sie als Grenzfälle dessen betrachtet werden, was wir hier als »aktuelle Themen« und »Herausforderung durch die Gegenwart« betrachten. In jedem Fall dienten sie dem Ziel, die Aufmerksamkeit der Historiker auf neue Probleme, neue Methoden und die Gegenwart als legitimes Forschungsobjekt zu lenken.

(­1946–1956), 8,5 % (1957–1969) und schließlich 5,7 % (1970–1976). H. L. Wesseling u. J. L. Oosterhoff, De Annales, geschiedenis en inhoudsanalyse, in: Tjidschrift voor Geschiedenis, Jg. 99, 1986, S. 547–568, hier S. 558. 14 S. Liste der Aufsätze im Anhang. 15 Dabei ist jedoch zu betonen, dass die Annales Abstand hielten zu den zeitgenössischen politischen Strömungen, die klassische linke und liberale Positionen »revidierten« (die sogenannten »non-conformistes«) und Bewunderung für das amerikanische New Deal-Experiment mit Leitbildern einer geplanten Wirtschaft (etwa der sogenannte »planisme« des post-marxistischen belgischen Sozialisten Henri de Man) und eine scharfe Kritik der zeitgenössischen Parteipolitik in Frankreich sowohl rechts wie links kombinierten.

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Es ist schwierig eine gemeinsame Perspektive in den Beiträgen zu Gegenwartsproblemen zu finden, die es erlauben würde, von einem spezifischen »Denkstil der Annales« (»esprit des Annales«) bezüglich gegenwartsbezogener Fragen zu sprechen. Die Perspektiven waren so unterschiedlich wie die Beiträger. Ein Blick auf deren Zusammensetzung mag helfen, dominante Interpretationsmuster zeitgenössischer sozialer und politischer Konflikte und Probleme in der Zeitschrift zu identifizieren. Fünf Netzwerke von Beiträgern lassen sich unterscheiden: 1. Die Mitglieder des B. I. T. (Internationales Arbeitsamt in Genf). Sie wurden für die Zeitschrift dank der Mithilfe des Direktors des B. I. T., Albert T ­ homas, früherer Rüstungsminister während des Ersten Weltkriegs und langjähriger Freund L. Febvres rekrutiert. Die Mitarbeiter G. Méquet, I. Ferenczi und O. Gorni lieferten z. B. faktenreiche Berichte zur Sowjetunion und zu Osteuropa. 2. Wirtschaftsfachleute und Bankiers, die von Marc Bloch, der sich dabei der familiären Kontakte zu den Wirtschaftskreisen bediente, und von A. Pose rekrutiert worden sind, einem Pariser Bankendirektor, dessen späterer Assistent J. Houdaille einen Großteil der Beiträge zur Weltwirtschaftskrise verfasst hat. So beteiligten sich bis 1933/34 einige jener »hommes d’action«, die man als Leserschaft gewinnen wollte, auch als Autoren und kommentierten die aktuellen Krisenphänomene in ihren Handlungsbereichen. 3. Einige aus der steigenden Zahl von Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich. F. Borkenau und L. Varga haben die wichtigsten Beiträge zum nationalsozialistischen Deutschland und dem Austro-Faschismus geschrieben. 4. Eine Gruppe von Pariser Nachwuchswissenschaftlern. Als Historiker-Geographen oder Philosophen waren sie an Tagesthemen interessiert und oft als Mitglieder oder Unterstützer (fellow-traveller) der kommunistischen Partei aktiv wie z. B. G. Friedmann, P. Vilar oder H. Mougin. Alle fühlten sich intellektuell angesprochen von der programmatischen Ausrichtung der Annales auf wirtschaftliche und soziale Fragen. 5. Kolonialexperten. Hier handelte es sich um Orientalisten wie L. Massignon oder H. Labouret oder andere Experten aus der französischen Kolonialverwaltung. Sie lieferten den Großteil der Beiträge zu diesem Themenfeld. Die Artikel zu aktuellen Wirtschaftsproblemen, die von Ökonomen verfasst worden sind, präsentierten sich in der Regel als nüchterne Kommentare, die auf jede umfassendere theoretische Einordnung der Weltwirtschaftskrise verzichteten. Ihnen fehlte jede weitergehende theoretische Reflexion über die Ursachen der wirtschaftlichen Krise, die sie beschrieben. Mit Blick auf mögliche Lösungen waren die Autoren gespalten: eine liberale Mehrheit sah der Zukunft mit vorsichtigem Optimismus entgegen und erwartete eine Rückkehr zu einem normalen Konjunkturverlauf. Sie empfahlen die Standards konservativen Bankgeschäfts als Voraussetzung für einen solchen Ausgang aus der Krise. Einige Autoren waren skeptischer und betonten die strukturellen Brüche und Verwer277

fungen des Weltwirtschaftssystems seit 1918. Es fällt auf, dass kein Artikel Fragen der industriellen Erholung nach dem Kriseneinbruch thematisierte, alle verblieben auf der Ebene der Finanzen und der Währung – eine Ebene, wie man hinzufügen muss, auf der der historische Vergleich einfacher zu bewerkstelligen schien. Industrialisierung war aber das zentrale Thema von George Méquets Studien zur Sowjetunion.16 1930 und 1938 lieferte er kritische Berichte über Stalins Methoden der Industrialisierung und beschrieb den Weg der gewaltsamen Mobilisierung der gesamten Gesellschaft. Zentraler Bezugspunkt seiner Analyse war die wirtschaftliche Modernisierung. Méquet sah deutlich die langfristigen ökonomischen Risiken der Zwangskollektivierung, aber seine Sicht auf die Sowjetunion unterschätzte systematisch die negativen Wirkungen des politischen Systems auf die sowjetische Gesellschaft. Seine Beiträge geben nur kleine Einblicke in die internen Konflikte 1929/30 oder die Schauprozesse zwischen 1935 und 1938. Sie erwähnen die Opfer der voluntaristischen Industrialisierungspolitik nur am Rande. Es hat den Anschein, als habe die erklärte Absicht des Autors, antikommunistische Vorurteile zu vermeiden und eine nüchterne Bilanz zu ziehen, tiefere Einsichten in die Entstehung des Stalinistischen Systems verhindert. Dieses von Mequet vorgegebene Interpretationsmuster vertraten auch L. Febvre und G. Friedmann in ihren Buchbesprechungen zur Sowjetunion während der dreißiger Jahre. Auch sie unterstrichen die Notwendigkeit, die Fakten sorgfältig zu prüfen, betonten gleichzeitig die Besonderheiten der russischen Geschichte und schwiegen eher zu den politischen Kontroversen, die das Regime provozierte. Gänzlich entgegengesetzte Interpretationen existierten in der Zeitschrift zum nationalsozialistischen Deutschland. In der Ausgabe der Annales, die das gegenwärtige Deutschland zum Sonderthema hatte (1937), wurden zwei Aufsätze publiziert, die konträre Interpretationslinien verfolgten: Auf der einen Seite präsentierte der junge kommunistische Philosoph H. Mougin ein Bild von Nazi-Deutschland und seiner Zukunft, das in die orthodoxe kommunistische Position der Dritten Internationale passte. Hier wurde das NS-Regime als kleinbürgerliche Revolution dargestellt, die zu einer Diktatur des Monopolkapitalismus geführt habe, die der vor 1933 sich schnell radikalisierenden Arbeiterklasse entgegentrat und Resultat der sich verschärfenden Klassenkämpfe seit Mitte der zwanziger Jahre war. Die politische Ökonomie war für Mougin der Schlüssel zum Verständnis der NS-Bewegung und Diktatur. Auf der anderen Seite unternahm der Essay von Lucie Varga den Versuch, die Dynamik der NS-Bewegung und des Regimes durch ein sorgfältiges sozialpsychologisches Porträt ihrer Mitglieder zu erklären und sie in soziologischen Kategorien als eine religiöse Gruppe zu analysieren.17 L. Varga betonte den Ausbruch sozialer Energien als Ergebnis von Statusbedrohung sozialer Gruppen und persönlicher Entwurze16 S. auch G. Méquet, Les leçons du plan quinquennal, Paris 1934. 17 Vgl. P. Schöttler (Hg.), Lucie Varga: Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936–1939, Frankfurt a. M. 1991.

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lung zwischen 1914 und 1933. Für sie bereiteten die sozialen Krisen und Verwerfungen dieser Jahre den Boden für die Massenkonversionen zum Nationalsozialismus. Noch heute ist L. Vargas Versuch, die verschiedenen Einstellungen zum NS-Regime in der deutschen Gesellschaft zu analysieren, indem sie diejenigen »Erlebnisgruppen« identifizierte, welche die Nationalsozialisten für sich gewinnen konnten, anregend und aufschlussreich. Sie betonte die Bedeutung intellektueller und technischer Experten, deren Suche nach Effizienz und deren nationaler Dienstethos vom neuen Regime ausgenutzt wurde. Anders als Mougin hob Varga die fortschreitende Schwächung der drei traditionellen Elitegruppen hervor, welche die Nationalsozialisten 1933 unterstützt hatten: Junker, Reichswehr und Industrielle. Die Dynamik des Regimes marginalisierte sie als Lobbygruppen und zerstörte ihre soziale Geschlossenheit. Die Aufsätze von F. Borkenau18 versuchten eine Antwort auf die Frage zu geben, warum die marxistische Arbeiterbewegung unfähig war, die Angriffe der Nationalsozialisten und Faschisten abzuwehren. Er konzentrierte sich dabei auf die innere Schwäche der sozialistischen Bewegungen. Trotz ihres revolutionären Jargons blieb sie im begrenzten politischen und intellektuellen Horizont bürgerlicher Demokratie befangen. Diese defensive Mentalität verhinderte jede Form offensiver Politik gegen die faschistische Gefahr. Einen vierten Themenkreis bildeten die Probleme der Kolonialpolitik, insbesondere im französischen Nordafrika. Diese Beiträge behandelten die Prozesse kultureller und wirtschaftlicher Modernisierung, die das Kolonialregime in diesen Ländern anschob. Die Autoren gingen in der Regel davon aus, dass das europäische Interesse an Kolonialinvestitionen und wirtschaftlicher Entwicklung mit dem Interesse der Kolonisierten zusammenfalle. Die Studien verteidigten eine koloniale Entwicklungsstrategie, die einen evolutionären Prozess der Emanzipation vom kolonialen Mutterland einleiten sollte. Allein der Ethnologe fügte dem skeptischere Töne hinzu, wenn er die Zerstörung traditioneller islamischer Kulturen im Maghreb beschrieb. So brachten die Annales die fortschrittliche Variante des französischen Kolonialismus zum Ausdruck. Dieser »koloniale Humanismus«19 war durchaus typisch für Intellektuelle, die sich mit Kolonialfragen befassten, und für linke Kolonialbeamte. Man muss daran erinnern, dass bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs radikale Kritiker des französischen Kolonialismus am äußersten Rand sowohl des politischen wie des intellektuellen Feldes platziert waren. Den Kolonialismus attackierte nur die kommunistische Partei in ihrer linksradikalen Phase zwischen 1920 bis 1935 und andere kleine Gruppen der künstlerischen Avantgarde wie die Surrealisten oder die Gruppe Negritude von A. Césaire, in der sich Intellektuelle aus den Kolonien zusammenschlossen.20 18 Ein Artikel erschien unter seinem Pseudonym G. Haschek, vgl. Schöttler, Varga, S. 29 f. 19 Vgl. R. Girardet, L’idée coloniale en France, Paris 1979. 20 A. Eckert, Afrikanische Aktivisten und Intellektuelle in Europa und die Dekolonisierung Afrikas, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 37, 2011, S. 244–274.

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III. Geschichtskultur und politisches Handeln Die meisten Beiträge zu Gegenwartsfragen in den Annales bevorzugten mehr oder weniger offen ein bestimmtes Modell politischen Handelns. Drei Grundmodelle können unterschieden werden: 1. Viele Artikel artikulierten den festen Glauben an die Fähigkeit bestehender Institutionen und Eliten, Lösungen für die analysierten Probleme zu finden. Indem sie eine »rationale« Politik vorschlugen, die sich an Interessenkompromissen orientierte und für eine evolutionäre Herangehensweise optierten, drückten sie ihr Vertrauen in die rationalen Entscheidungen von Politikern und Experten aus. In diesen Studien agiert der Sozialwissenschaftler als Politikberater. Diesem Muster folgten die Untersuchungen zur Weltwirtschaftskrise. Sie unterschätzten oder ignorierten die Dynamik sozialer Konflikte, aber auch die politischen Folgen und sozialpsychologischen Wirkungen der Weltwirtschaftskrise. 2. Die Emigranten folgten einem ganz anderen Handlungsmodell: Ihre Studien nahmen ihren Ausgang von der Erfahrung des politischen Scheiterns und standen unter dem Eindruck der destruktiven Kräfte, welche die aktuellen sozialen und politischen Umbrüche in ihren Ländern ausgelöst hatten. Ihr Versuch, diese Phänomene historisch oder soziologisch zu erklären, war nicht in erster Linie an die politischen Eliten gerichtet. Diese Artikel dienten als eine Art Selbstvergewisserung für Intellektuelle ohne jede Macht, die weiter an die kathartischen Effekte rationaler Analyse und die mobilisierende Wirkung intellektueller Reflexion angesichts der sozialen Logik politischer Irrationalität glaubten. 3. Das dritte Handlungsmodell beruht auf einer Perspektive, die man als Sozialexpertise bezeichnen kann. Darunter lassen sich alle Studien fassen, die versuchten ›objektive‹ Regelmäßigkeiten und strukturelle Kopplungen zu analysieren, um so bessere Möglichkeiten für rationale Problemlösungen zu finden. Sie waren in einem szientistischen Optimismus verankert, der anders als das erste Handlungsmodell nicht die politischen Eliten oder Institutionen adressierte, sondern eine tiefgreifendere Neuorientierung der gesamten Gesellschaft erwartete. Hier finden wir die Leitidee der intellektuellen Reform wieder, die dem gesamten Projekt der Zeitschrift zu Grunde lag. Bei unserer Reise durch die verschiedenen Regionen, welche die Neugierde der Annales erregten, sind wir noch nicht in Frankreich gewesen. In der Tat ist es eine terra incognita auf der Annales-Karte der Gegenwart. Die politischen Kontroversen und sozialen Konflikte der dreißiger Jahre werden nicht erwähnt. Die Artikel, die sich mit aktuellen französischen Problemen beschäftigten, behandeln einzelne Interventionen zu ganz spezifischen Themen. Da geht es zum Beispiel um den Konsumentenschutz gegen Trusts und Kartelle, die Arbeitslosigkeit von Ingenieuren in der Rationalisierungswelle der Zeit oder die Agrarkrise 280

in der Auvergne. In all diesen Studien werden die behandelten sozialen Probleme nur mit Blick auf die spezifische Lösung betrachtet, um die es dem Autor geht. Ihnen fehlt jene Komplexität, die für die historischen oder soziologischen Ansätze typisch ist, mit denen ausländische Situationen in der Annales behandelt werden. So erscheinen diese Studien als eher schüchterne und zuweilen auch ungeschickte Versuche, die konkreten sozialen Probleme Frankreichs zum Vorschein zu bringen, die von den laufenden Debatten der politischen Klasse im Land verdeckt wurden. Das Schweigen der Annales zu aktuellen Themen der französischen Innenpolitik hatte zwei Ursachen. Zum einen war dies Strategie der Herausgeber. Jede öffentliche Kontroverse über ein aktuelles politisches Thema hätte die Beziehungen zwischen den Herausgebern und ihrem konservativen Verleger weiter kompromittiert. Bis 1938 akzeptierten Febvre und Bloch die Eingriffe ihres Verlegers A. Colin auf diesem Feld, um zu sichern, was ihnen wichtiger erschien, die wissenschaftliche und kulturelle Botschaft ihrer Zeitschrift. Aber der politische Disput zwischen Herausgebern und Verleger muss in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Die wachsenden politischen Spannungen seit 1934 prägten die Intellektuellenwelt und legten den Herausgebern einen noch strikteren politischen Agnostizismus auf. Jenseits der vielfältigen politischen Kontroversen der dreißiger Jahre: Aufstieg des nationalsozialistischen Deutschland, der spanische Bürgerkrieg, die Mobilisierung der radikalen Rechten in Frankreich, die Volksfrontregierung 1936, versuchten die Annales-Mitarbeiter von der liberalen Mitte bis zur radikalen Linken für ihr neues wissenschaftliches Programm zu finden. Febvre selbst konstatierte 1938 selbstkritisch: »Nos Annales ne tendraient-elles pas doucement vers une sorte de conformisme universitaire centre-gauche?«21 Aber es war nicht allein solch taktisches Verhalten, das das Schweigen über französische Angelegenheiten erklären kann. Seit ihrer Rückkehr aus dem Krieg hatten sich weder Febvre noch Bloch in Parteipolitik engagiert und, obwohl sie überzeugte Unterstützer der republikanischen Ordnung waren, hielten sie Distanz zur Politik.22 1934 und 1938 unterschrieben beide antifaschistische Aufrufe bzw. Erklärungen gegen das Münchener Abkommen, aber sie blieben skeptische Beobachter der Welle politischer Manifeste, Petitionen und Kontroversen, welche die Intellektuellenwelt ihrer Zeit prägte.23 Aber die politischen Spannungen der späten dreißiger Jahre brachten die unterschiedlichen politischen Haltungen und Temperamente von Bloch und Febvre zum Vorschein. Bloch sah ihre unpolitische Haltung angesichts der 21 »Tendieren unsere Annales nicht allmählich zu einer Art universitärem Konformismus der linken Mitte?«, Febvre an Bloch 18.6.1938 AN MI 318 3. 22 Fink, Bloch, S. 179, 182, 202. 23 Vgl. J.-F. Sirinelli, Intellectuels et passions françaises. Manifestes et pétitions au XXe siècle, Paris 1990, S. 90, S. 127. Vgl. auch ders., Génération intellectuelle. Khagneux et normaliens dans l’entre-deux-guerres, Paris 1988.

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wachsenden politischen Gefahren zusehends kritischer. Er bekräftigte erneut den linken Patriotismus, der in seiner Familie gewissermaßen vererbt worden war und der ihn persönlich während seiner Studienzeit an der Ecole Normale unmittelbar nach der Dreyfus-Affäre geprägt hatte.24 Seine moralische Überzeugung, dass es an der Zeit sei staatsbürgerliche Pflichten zu übernehmen, veranlasste ihn 1939/40 und dann 1943/44 in den direkten Kampf gegen den nationalsozialistischen Feind einzutreten. In seinen Überlegungen zur Niederlage Frankreichs 1940 kritisierte er scharf den Mangel an öffentlichem Engagement seiner Kollegen und von ihm selbst vor 1939: »Il ne nous reste, pour la plupart, que le droit de dire que nous fûmes de bons ouvriers. Avons-nous toujours été d’assez bons citoyens?«25 Es scheint mir so zu sein, dass Blochs Kritik von Febvre nicht vollständig geteilt worden ist. Febvre war politisch stärker zur liberalen Mitte hin orientiert und war stärker durch die pazifistische Stimmung beeinflusst, die sich unter französischen Intellektuellen als eine Antwort auf den Ersten Weltkrieg verbreitet hatte. Er lehnte sich innerlich gegen die Zuspitzungen auf, welche die dramatische Polarisierungen ihm seit 1940 aufzwangen. Während der Besatzungszeit konzentrierte er sich darauf, ihre Zeitschrift und deren wissenschaftliches Programm zu retten. Hier ist nicht der Platz, um das politische Verhalten von Febvre und Bloch im Einzelnen zu diskutieren. Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass beide in ihren grundlegenden Urteilen über das Vichy-Regime übereinstimmten und dass Bloch letztlich Febvres feste Entschlossenheit akzeptierte, die Annales auch unter den Bedingungen des deutschen Besatzungsregimes fortzusetzen, aber sie unterschieden sich grundsätzlich in ihren persönlichen Reaktionen auf die politische Situation. Diese Differenz wurde durch die Effekte verstärkt, welche die antisemitische Politik des Vichy-Regimes hatte, das Bloch daran hinderte sein bisheriges Leben weiterzuführen und ihn zu radikalen persönlichen Entscheidungen für sich und seine Familie (Exil in den USA oder nicht?) zwang.26 24 Fink, Bloch, S. 17 f.; Raulff, Historiker, S. 218–242; R. Smith, The Ecole Normale supérieure and the Third Republic, Albany 1982. 25 M. Bloch, L’étrange défaite, Paris 1957, S. 218. (»Die meisten von uns dürfen zwar von sich behaupten, dass sie gute Arbeiter waren. Aber waren wir auch immer gute Staatsbürger?«, in: ders., Die seltsame Niederlage, Frankfurt a. M. 1992, S. 229.). 26 Die Episode, die H. Brunschwig in seinen Erinnerungen berichtet, zeigt sehr gut den Abgrund, der die Haltungen der beiden Herausgeber während der Kriegsjahre trennte: Im Oktober 1939 traf Brunschwig Febvre: »Il m’apprit la dispersion de l’équipe des Annales, déplora que Bloch se fut engagé, puis tout à coup, saisissant un boutin de ma vareuse d’uniforme: Brunschwig, dit-il, vous allez me promettre une chose: jurez-moi que vous ne serez jamais volontaire. (Er informierte mich über die Auflösung des Annales-Teams, beklagte sich, dass Bloch sich zum Militärdienst gemeldet habe, packte mich plötzlich an meiner Uniformweste und sagte: »Brunschwig, versprechen Sie mir, dass Sie sich niemals als Freiwilliger melden werden!«), in: H. Brunschwig, Vingt ans après (1964). Souvenir sur Marc Bloch, in:­ Etudes africaines offertes à H. Brunschwig, Paris 1982, S. 12–17, hier S. 15. Dagegen bemerkte M. Bloch gegenüber seinem Schüler Philippe Wolff: »Ohne das Opfer des Lebens vieler unter uns wird Frankreich nicht zurückerobert werden.« Zitiert in Raulff, Historiker, S. 53.

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Blochs Botschaft an die Nachwelt, dass die akademische Elite als Bürger versagt habe und dass die Beziehung zwischen den politischen Tagesaufgaben und den wissenschaftlichen Interessen neu definiert werden müsse, blieb eine Warnung, welche die nächste Generation der Annales-Historiker leichten Herzens vernachlässigte, nicht zuletzt weil Marc Bloch nach Folter und Ermordung durch die Gestapo 1944 ein Held und Märtyrer des Widerstands wurde, dessen herausragendes moralisches Beispiel seinem historischen Werk noch größeres Ansehen verlieh und der Annales-Gruppe als ganzer zugutekam.

IV. Fortgang eines ambitionierten Programms Unter der Zensur der deutschen Besatzer bestanden für die Annales keinerlei Chancen, die Rubriken fortzuführen, die gegenwartsbezogenen Themen gewidmet waren. Febvres Entschluss, die Zeitschrift weiterzuführen, beinhaltete auch den vorläufigen Verzicht auf diesen Teil des ursprünglichen Programms. Aber in der politischen Atmosphäre der Befreiung und des Wiederaufbaus seit 1944, die geprägt war durch öffentliche Diskussionen über die vielen Reformprogramme der Widerstandsgruppen für ein neues Frankreich nach dem Krieg, erschienen wieder gegenwartsbezogene Beiträge in der Zeitschrift, die unter einem ehrgeizigeren Titel neu begann: Annales. Economies. Sociétés. Civilisations.27 Auch der Kreis der Autoren für Gegenwartsthemen änderte sich. In den ersten Nachkriegsjahren waren es vor allem universitäre Geographen (E. Julliard, J. Gottmann, A. Chatelain, P. Monbeig) und Soziologen (G. Friedmann, J.-P. Trystram, R. Bastide, J. Berque28), die nun diese Rubrik mit Inhalten füllten. Weder die »hommes d’action« noch Politikwissenschaftler waren unter den Beiträgern zu finden. Anders als die Artikel der Vorkriegs-Annales zu Wirtschaftsfragen beschränkten sich die Beiträge von Ökonomen in der Nachkriegszeit auf methodische und theoretische Probleme des Faches. Blochs politisches Erbe wurde durch Charles Morazé, einem neuen Mitglied des Herausgebergremiums, aufgenommen und weitergeführt. Er war junger Absolvent der Ecole Normale Supérieure, der historische Interessen mit seinen Beiträgen zu wissenschaftstheoretischen Fragen verband und der durch Bloch in den inneren Kreis der Annales eingeführt worden war. Nach seinem Engagement in der Widerstandsbewegung publizierte Morazé eine Reihe kurzer Essays, welche die aktuellen Probleme Frankreichs kommentierten. Seine Studien zu den Problemen der Lebensmittelrationierung und -verteilung, zur institutionellen und intellektuellen Reorganisation der Politikwissenschaften in Paris wa-

27 Zur Entwicklung der Zeitschrift bis 1969 s. Raphael, Erben, S. 206–242. 28 J. Berque, ehemaliger Kolonialbeamter in Marokko und Algerien, war das einzige Mitglied der Gruppe von Orientalisten aus der Vorkriegszeit, der weiterhin für die Zeitschrift schrieb.

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ren zugleich politische Interventionen und politisch-soziologische Analysen.29 In der 1945 neu gegründeten Reihe »Cahiers des Annales« veröffentlichte Morazé zwei Bücher, die das intellektuelle Reformprogramm zum Ausdruck brachten, das ihn mit Bloch verband: Studien zur sozialen und wirtschaftlichen Geschichte und insbesondere die neue Disziplin der historischen Demographie sollten radikalen Reformen im befreiten Nachkriegsfrankreich den Weg bereiten. Morazé betonte in seinen historischen Reflexionen die Notwendigkeit, die ökonomischen und wissenschaftlichen Ressourcen des Landes zu mobilisieren, um Frankreich eine führende Position in der politischen und kulturellen Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zu sichern.30 Aber Morazés Essays blieben die Ausnahme unter den Beiträgen der Annales zu aktuellen Themen der französischen Gesellschaft oder Politik. Wie in den dreißiger Jahren vermied Febvre, der bis zu seinem Tod 1956 die Zeitschrift weiter persönlich leitete, aktuelle politische Kontroversen und bevorzugte Studien über unpolitische Themen. So wurde das zentrale Problem der französischen Nachkriegspolitik, die Dekolonisation, in den Annales nicht behandelt. Dort erschienen keine wissenschaftlichen Beiträge, welche den historischen, sozialen oder politischen Hintergrund des Indochinakriegs beleuchtet hätten, und als der Konflikt in Algerien ausbrach, zogen sich die Annales von diesem »heißen Eisen« zurück, obwohl bis dahin die Entwicklungen in Nordafrika ein bevorzugter Gegenstand der Zeitschrift seit ihrer Gründung geblieben waren und obwohl H. Isnard noch 1949 den neuen algerischen Nationalismus beschrieben und das Scheitern der Assimilationspolitik analysiert hatte. An dieser Stelle spielte nicht allein das Problem aktueller politischer Kontroversen eine Rolle, sondern auch die Tatsache, dass der fortschrittliche Kolonialismus an Glaubwürdigkeit verlor, den die Autoren der Annales weiter verteidigt hatten, indem sie die Fehler und Versäumnisse der früheren Kolonialpolitik kritisierten und für Reformen plädierten, die Algeriens Bindungen an Frankreich erneuern sollten. Für das koloniale Mutterland wählte die Zeitschrift ein Gegenwartsproblem, das am Rande der politischen Tagesthemen lag, aber die zeitgenössische französische Gesellschaft tiefgreifend veränderte: die Modernisierung des ländlichen Raums. Soziologen und Geographen versorgten die Annales mit lokalen und regionalen Studien, welche die Landflucht analysierten, die zu diesem Zeitpunkt den Punkt erreichte, dass ganze Regionen entvölkert wurden. Die Zerstörung 29 Im Laufe seines Lebens hat Morazé immer wieder politische Ämter übernommen. Aufgrund seiner Funktionen an der Ecole polytéchnique und Sciences politiques ist er immer in Kontakt mit den politischen und wirtschaftlichen Eliten in engen Kontakt geblieben. Nach 1949 publizierte er zwei Bücher, in denen er aktuelle politische Themen behandelte und in denen er versuchte, das republikanische Erbe angesichts der aktuellen politischen und sozialen Probleme Frankreichs zu erneuern: C. Morazé, La France et les Français, Paris 1949; ders., Le Général de Gaulle et les Français, Paris 1972. 30 C. Morazé, La France bourgeoise, Paris 1945. Ders., Trois essais sur Historie et Culture, ­Paris 1948.

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einer jahrhundertealten ländlichen Ordnung unter dem Druck der Modernisierung war ein Thema, das bestens zu den Annales passte, deren Gründer mit Begeisterung dem Beispiel der französischen Humangeographie gefolgt waren und in ihren eigenen historischen Studien die französischen Agrarstrukturen bzw. Agrarregionen untersucht hatten und deren intellektueller Ehrgeiz darin lag, die historische Perspektive mit denen der anderen Humanwissenschaften zu verbinden. Das moderne Frankreich wurde so vor allem unter jenen Aspekten vorgestellt, die es mit der Vergangenheit verbanden, während seine relativ neue industrielle Welt kaum Erwähnung fand. Allein die soziologischen Beiträge Georges Friedmanns boten Einsichten in die Realitäten der französischen Industrie, aber sie wurden eher in verallgemeinernder Absicht dargestellt, da es in diesen Beiträgen vorrangig um die Folgen von Dequalifizierung und Dehumanisierung industrieller Arbeit für die sozialen und politischen Realitäten westlicher Demokratien im Allgemeinen ging. Wie in den dreißiger Jahren öffnete die Annales in der unmittelbaren Nachkriegszeit ihre Seiten für Studien, die sich mit Gegenwartsproblemen im Ausland beschäftigten. Insbesondere die Vereinigten Staaten wurden Gegenstand einer Reihe sorgfältig recherchierter Beiträge. Jean Gottmann31 analysierte 1946 in einer luziden Studie die internen wirtschaftlichen Voraussetzungen und grundlegenden Probleme des neuen Weltwirtschaftssystems, das die USA seit Kriegsende aufbauten. Friedmanns Berichte über die amerikanische Gesellschaft und die industriellen Beziehungen dort führten den französischen Leser zugleich auch in die amerikanischen Sozialwissenschaften, ihre Methoden und ihre intellektuellen Gewohnheiten ein. Nicht ganz zufällig wurden diese Studien über die neue hegemoniale Vormacht des Westens in dem Jahr unterbrochen, als der Kalte Krieg ausbrach und eine neue Trennlinie innerhalb des französischen Intellektuellenfeldes entstand, als sich eine starke Linksströmung mit scharf antiamerikanischen Positionen formierte. Wie bereits vor dem Krieg räumten die Annales deutschen Problemen viel Raum ein. Die historischen Ursachen des Nationalsozialismus und die Zukunft von Nachkriegs-Deutschland waren die beiden Hauptthemen. H. Brunschwig, der in den dreißiger Jahren in Berlin die Machtergreifung der Nazis erlebt hatte, versuchte französische Illusionen über Separatistenbewegungen zu zerstören und die französischen Leser auf die Kontinuität einer deutschen Nation und eines deutschen Staates vorzubereiten.

31 Jean Gottmann ging während der Kriegsjahre in die USA ins Exil und wurde dort eines der führenden Mitglieder des »bureau de sciences de la France combattante« in New York. Er lehrte an der Johns Hopkins University, bevor er am Ende der vierziger Jahre nach Frankreich zurückkehrte.

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V. Institutionelle Zwänge und wissenschaftliche Prioritäten Wie wir gesehen haben, knüpften die Annales der späten vierziger Jahre mehr oder weniger an das Programm der dreißiger Jahre an. Dieser Trend setzte sich so lange fort, wie die politische Atmosphäre der Befreiung anhielt und bis zu dem Zeitpunkt, als sich eine neue intellektuelle Situation herauskristallisierte. Das Programm kam an sein Ende, als die politischen Konfrontationen und intellektuellen Weiterentwicklungen die ursprüngliche Idee, eine neue Geschichtskultur unter den wirtschaftlichen und politischen Eliten zu schaffen, immer unrealistischer werden ließen. Ein Grund war, dass die Trennlinien und Gegensätze im Feld der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Macht immer stärker wurden. Die wirtschaftlichen Eliten und die mit ihnen verbundenen Gruppen von Intellektuellen und Politikern hatten sich seit 1936 nach rechts orientiert. Die ökonomischen Experten bevorzugten immer stärker elitäre und technokratische Zukunftskonzepte, die auch den schroffen politischen Gegensatz zwischen Vichy- und De Gaulle-Anhängern in ihren Reihen während der Kriegsjahre überdauerten. Nach ihrem kurzen Flirt mit autoritären korporatistischen Modellen wandten sich die wirtschaftlichen und politischen Eliten dem amerikanischen Modell zu. Der Amerikanismus, der eine Modernisierung der französischen Gesellschaft predigte, bevorzugte gleichzeitig auch eine ›modernistische‹ Kultur, die gegenwartsbezogenen Forschungen der neuen Sozial­ wissenschaften eindeutig Priorität einräumte.32 Gleichzeitig rückte ein Teil der Bildungselite nach links. Zweitens waren auch die Annales von dem Ende des sozialistischen bzw. demokratischen Republikanismus betroffen, den die Durkheim-Schule innerhalb des intellektuellen Feldes vertreten hatte. Die von ihr entwickelte Verbindung akademischer Gelehrsamkeit, gesellschaftlicher Verantwortung und empirischer Sozialforschung verband den inneren Kreis der Annales-Mitarbeiter in den dreißiger Jahren und sorgte für ein intellektuelles Klima, das notwendige Voraussetzung war für den Gegenwartsbezug im ursprünglichen Programm der Zeitschrift. Das politische Erbe dieser Strömung überlebte das Ende des Krieges nicht – ihm fehlte jede Attraktivität in den Augen junger Intellektueller der dreißiger und vierziger Jahre, die sich den beiden neuen, über lange Jahre tonangebenden Hauptströmungen Existentialismus und Kommunismus zuwandten. Der emphatische Empiriebezug der frühen Annales war ganz wesentlich für ihren Anspruch gewesen, Gegenwart und Vergangenheit miteinander zu verknüpfen. Die Annales-Formel der Solidarität von Vergangenheit und Gegenwart verlor ihre politischen und kulturellen Bezüge und überlebte nur noch als ein wissenschaftliches Programm interdisziplinärer Forschung in den einzelnen Bereichen der Kulturwissenschaften. 32 Vgl. L. Boltanski, Les cadres. La formation d’un groupe social, Paris 1982, S. 155–236.

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Drittens verschoben sich die Zielsetzungen der Zeitschrift unmerklich in den fünfziger Jahren. Seit Gründung der VI. Sektion der Ecole pratique des Hautes Etudes 1947 band sich die Zeitschrift immer enger an die wissenschaftspolitischen Strategien und Ziele dieser neuen wissenschaftlichen Institution.33 Die Zeitschrift diente als integratives Element für die kleine Welt von Sozialwissenschaftlern und Historikern, welche sich an der VI. Sektion herausbildete. Interdisziplinarität wurde wichtiger als Aktualität. Ein weiterer institutioneller Zwang entstand mit dem Aufstieg der Politikwissenschaft nach der Reform der Ecole des sciences politiques und der Gründung der Fondation nationale des sciences politiques und des Institut d’études politiques. Die neu entstehende VI. Sektion konnte gar nicht anders als das Feld gegenwärtiger politischer und ökonomischer Probleme dem dynamischen Konkurrenzunternehmen zu überlassen, das besser ausgestattet war und über direktere Verbindungen zu den wirtschaftlichen und politischen Eliten verfügte. Die Gründung der Revue française de science politique und die Publikation neuer Buchreihen machte deutlich, dass während der fünfziger Jahre ein attraktiver neuer Pol im Feld der Sozialwissenschaften entstand.34 Viertens entsprach die Marginalisierung der »histoire immédiate« in den­ Annales E. S. C. einem Wandel in der Grundkonzeption, die sich hinter der blumigen Formel des »Esprit des Annales« verbarg, welche in der Zeitschrift immer wieder benutzt wurde. Seit 1949 wurde Braudels Dreiklang von longue durée, conjonctures und événements zum Kernelement der Annales-Ideen.35 Braudel hatte dieses Konzept während seiner Kriegsgefangenschaft in Deutschland entwickelt und in seiner Arbeit über die Mittelmeerwelt zur Zeit Philipps II. von Spanien zum Darstellungsprinzip erhoben. Es wurde begeistert von L. Febvre aufgenommen und popularisiert. Die Trägheit sozialer Strukturen und die Langsamkeit sozialer Prozesse wurden die neuen Botschaften, die der Denkstil der Annales nun jenen entgegenhielt, die sich mit Analyse gegenwärtiger Probleme beschäftigten. Aktuelle politische Themen gerieten unter den Verdacht des Modischen und Vergänglichen und verloren so jede Attraktivität für die Seiten des Journals. Die zunächst unmerkliche Verschiebung des Annales-Paradigmas und die sanften Zwänge der neuen Arbeitsteilungen im Feld der Forschungsinstitutionen in der französischen Wissenschaftslandschaft mögen erklären, warum am Ende der fünfziger Jahre ohne jeden offenen Bruch mit den Traditionen und 33 B. Mazon, Aux origines de l’E. H. E. S.S., le rôle du mécénat américain, Paris 1988; Raphael, Erben, S. 150–205. 34 Bis 1955 erschien die neue Buchreihe Cahiers de la fondation nationale des sciences politiques wie die Annales E. S. C. beim Verlag A. Colin und umfasste 78 Titel, die einen Großteil gegenwartsbezogener Themen von den internationalen Beziehungen bis zu soziologischen Lokalstudien abdeckte. 35 Vgl. G. Gemelli, Fernand Braudel e l’Europa universale, Venedig 1990, S. 27 ff.; Raphael, Erben, S. 106–149.

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dem Programm der Vergangenheit Gegenwartsprobleme jedes Gewicht in der historischen Zeitschrift verloren hatten. Die Annales ESC hielten ihre Öffnung für die Sozialwissenschaften aufrecht, betonten ihre Interdisziplinarität, aber wandten politischen Themen den Rücken zu. Norbert Elias hat versucht, die Probleme der Sozialforschung in der Grundspannung von Engagement und Distanz zu fassen.36 Aus seiner Sicht stimuliert die Balance zwischen den beiden Polen Kreativität und Innovation der Forschung. Vielleicht sollte man das ursprüngliche Projekt der Annales in dieser Perspektive deuten. In unserem Fall spaltete sich die Grundspannung zwischen Distanzierung und Engagement in zwei Gegensätze: erstens in den Gegensatz zwischen den gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft, und zweitens in die Spannung zwischen wissenschaftlicher Distanz und staatsbürgerlichem Engagement. Die Chance, diese doppelte Balance aufrechtzuerhalten, war an eine spezifische historische Situation gebunden, als für einen relativ kurzen Zeitraum die gegensätzlichen Routinen der Einzeldisziplinen und die institutionellen Zwänge außer Kraft gesetzt waren. So endete die Wendung zur Gegenwart, die ursprünglich als eine »Revolution der Geschichtskultur« intendiert war, als eine Episode in der »histoire événementielle«, die wir aber nicht als bloß ephemeres Phänomen unterschätzen sollten.

Anhang: Gegenwartsbezogene Artikel in den Annales d’histoire économique et sociale 1929–1938 1. Deutschland Baumont, M., L’activité industrielle de l’Allemagne depuis la dernière guerre, AHES, 1929, S. 29–57. Pose, A., La crise bancaire en Allemagne, in: AHES, 1932, S. 150–163. 2. Nationalsozialismus und Faschismus Borkenau, F., Un essai d’analyse historique: la crise des partis socialistes dans l’Europe contemporaine, in: AHES, 1935, S. 337–352. Brunschwig, H., Eté 1939: Allemagne, in: AHES, 1939, S. 355–360. Mougin, H., Le destin des classes et les vicissitudes au pouvoir dans l’Allemagne entre les deux révolutions: un essai d’interprétation, AHES, 1937, S. 570–601. Sayous, A.-E., En vue d’un nouveau blocus: les préparatifs de l’Allemagne, in: AHS, 1940, S. 89–110. Varga, L., La genèse du national-socialisme: notes d’analyse sociale, in: AHES, 1937, S. 529–546. 3. Sowjetunion Méquet, G., Le problème de la population en U. R. S. S., in: AHES, 1929, S. 48–57. 36 N. Elias, Engagement und Distanzierung, Frankfurt a. M. 1983.

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Méquet, G., Autour du plan quinquennal, in: AHES, 1932, S. 257–293. Méquet, G., La collectivisation agricole dans l’U. R. S. S., in: AHES, 1938, S. 1–23. Méquet, G., La vie économique dans la Russie révolutionnaire, in: ebd., S. 399–410. Méquet, G., Le problème agraire dans la Révolution russe, in: AHES, 1930, S. 161–192. 4. Frankreich Bloch, M. u. L. Febvre, Le problème de l’agrégation, in: AHES, 1937, S. 113–129. Bloch, R., La concurrence et les groupements des producteurs, in: AHES, 1929, S. 203–224. Friedmann, G., Apprentissage et main-d’oeuvre qualifié en France: faits et problèmes, in: AHES, 1939, S. 16–27. Mayor, Y., Une surproduction sociale: le technicien au chômage, in: AHES, 1936, S. 417–425. 5. USA Houdaille, J., Essor et vicissitudes de l’expérience Roosevelt, in: AHES, 1935, S. 321–333. Houdaille, J., La banque des règlements internationaux, in: AHES, 1931, S. 321–348. Hütter, J. P., Le mécontentement agraire dans l’ouest américain, in: AHES, 1935, S. 113–125. 6. Kolonien Amphoux, M., L’organisation bancaire au Maroc, in: AHES, 1934, S. 40–50. Célérier, J., Chez les berbères du Maroc: de la collectivité patriarciale à la coopérative, in: AHES, 1936, S. 209–237. Febvre, L., L’histoire économique et la vie. Leçon d’une exposition, in: AHES, 1932, S. 1–10. Jabre, F., Dans le Maroc nouveau: le rôle de l’université islamique, in: AHES, 1938, S. 193–207. Labouret, H., Irrigations, colonisation intérieure et main-d’oeuvre au Soudan français, in: AHES, 1929, S. 365–376. Lemoine, R. J., Finances et colonisation, la concentration des entreprises dans la mise en valeur du Congo belge, in: AHES, 1934, S. 433–449. Massignon, L., L’étude de la presse musulmane et la valeur de ce témoignage social, in: AHES, 1930, S. 321–327. Philip, A., Une classe ouvrière en pays de capitalisme industriel naissant: les ouvriers dans l’Inde, in: AHES, 1930, S. 212–230. 7. Bankenkrise 1929–1933: Bachmann, G., L’organisation bancaire de la Suisse, in: AHES, 1933, S. 244–255. Chappey, J., La crise bancaire en Europe centrale, in: AHES, 1932, S. 164–188. Chlepner, B. S., L’organisation bancaire en Belgique depuis la guerre, in: AHES, 1932, S. 561–572. Gutmann, E., Le problème international de l’or, in: AHES, 1932, S. 358–364. Gutmann, E., Les problèmes de l’or aujourd’hui: comment augmenter le stock mondial, in: AHES, 1931, S. 361–366. Houdaille, J., La banque des règlements internationaux, in: AHES, 1931, S. 321–348. Houdaille, J., La crise bancaire aux Etats-Unis, in: AHES, 1933, S. 35–66.

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Pose, A., La crise bancaire en Allemagne, in: AHES, 1932, S. 150–163. Truptil, R. J., Les banques anglaises et la crise, in: AHES, 1932, S. 549–560. 8. Agrarkrise Duclaux, P., Dans les montagnes du Cantal: les raisons d’une crise agraire, in: AHES, 1933, S. 337–347. Gorni, O., Les réformes foncières en Europe orientale et centrale. Leurs causes économiques et sociales, in: AHES, 1931, S. 207–226. Hütter, J. P., Le mécontentement agraire dans l’ouest américain, in AHES, 1935, S. 113–125. Monbeig, P., La réforme agraire en Espagne, in: AHES, 1933, S. 541–560. Musset, R., Les causes et les origines de la crise mondiale du blé, in: AHES, 1933, S. 463–470. Orwin, C. S., L’agriculture britannique: problèmes d’hier et d’aujourd’hui, in: AHES, 1938, S. 24–35. Wolkowitsch, D., Sur la réforme des transports maritimes, in: AHES, 1933, S. 433–444. 9. Sozialmorphologie Descamps, P., L’évolution des types sociaux en Australie, in: AHES, 1931, S. 47–67. Halbwachs, M., Chicago: expérience ethnique, in: AHES, 1932, S. 41–49. Halbwachs, M., Groß-Berlin: grande agglomération ou grande ville, in: AHES, 1934, S. 547–570. Labouret, H., La communauté taisible en Soudan, in: AHES, 1933, S. 529–540. Laton, A., En Syrie et au Liban: village communautaire et structure sociale, in: AHES, 1934, S. 225–234. Varga, L., Dans une ville du Vorarlberg: d’avant hier à aujourd’hui, in: AHES, 1936, S. 1–20. Vilar, P., Le rail et la route: leur rôle dans le problème général des transports en­ Espagne, in: AHES, 1934, S. 571–580. 10. nicht zugeordnet Bloch, M., Culture historique et action politique, in: AHES, 1931, S. 1–4. Demangeon, A., Les conditions géographiques d’une union européenne. Fédération europénne ou ententes regionales, in: AHES, 1932, S. 433–451. Ferenczi, I., Les étrangers dans le monde d’aujourd’hui: problèmes de fait et de documentation, in: AHES, 1936, S. 29–41. Marshall, T. H., L’aristocratie britannique de nos jours, in: AHES, 1937, S. 236–256. Monbeig, P., Les zones pionnières de l’Etat de Sao Paolo, in: AHES, 1937, S. 343–365. Sion, J., Tourisme, économie, psychologie: les étrangers en Italie, in: AHES, 1932, S. 529–537.

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Französisch-deutsche Spannungsfelder

11. Vom Sozialphilosophen zum Sozialingenieur? Die Position der anwendungsorientierten Sozialwissenschaften in der französischen Wissenschaftskultur der Jahrhundertwende

Um 1900 haben die neuen Wissenschaften vom Menschen und seiner Vergesellschaftung Konjunktur: Auch in Frankreich konkurrieren die unterschiedlichsten Schulen und Disziplinen um die Gunst einer politischen Öffentlichkeit, die sich immer stärker mit den häufig als bedrohlich empfundenen Begleitumständen von Industrialisierung und gesellschaftlicher Modernisierung beschäftigt.1 Die zeitgenössischen Etikettierungen sind so schwankend wie die intellektuellen Konturen der neuen Forschungsfelder: »sciences sociales« oder »sciences politiques et morales« sind die geläufigsten Sammelnamen für ein heterogenes Ensemble von sozialphilosophischen Doktrinen, neuen Methoden der Erforschung sozialer Tatbestände und Ansätzen zur Etablierung eigenständiger Fachdisziplinen von der Anthropologie bis zu den Wirtschaftswissenschaften, von der Eugenik bis zur Massen- bzw. Völkerpsychologie. Das gesamte Feld befindet sich noch im Fluss, die Grenzen zwischen den Forschungsgebieten sind ebenso fließend wie die Übergänge zwischen moralphilosophischer Reflexion, journalistischer Reportage, wissenschaftlicher Freizeitbeschäftigung und professioneller Forschung; die Abhängigkeit der Forschergruppen von der schwankenden Aufmerksamkeit und damit Finanzierungsbereitschaft der politischen und kulturellen Eliten ist groß.2 In einem solchen intellektuellen Feld die Positionen einer gesonderten Teilgruppe von Forschungsunternehmungen zu bestimmen, ihren Beitrag zur zeitgenössischen Wissenschaftskultur auszuloten, ist ein Unternehmen, das rasch in die Gefahr gerät, mangels eindeutiger Kriterien die Perspektiven der heutigen etablierten Sozialwissenschaften in die 1 Einblick in die öffentlichen Debatten geben: R. A. Nye, Crime, Madness and Politics in­ Modern France, Princeton 1984; S. Barrows, Distorting Mirrows. Visions of the Crowd in Late Nineteenth Century France, New Haven 1981. 2 Diese Situationsbeschreibung findet sich in fast allen wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen über die Gründungsphase heutiger Fachdisziplinen wieder. Einblicke in das gesamte Feld gibt: P. Favre, Les naissances des sciences politiques en France, Paris 1987. Gut untersucht ist vor allem die Situation im Umfeld der Soziologie: Vgl. hierzu die Beiträge in P. Besnard, The Sociological Domain, Cambridge 1983 sowie die Aufsätze von R. L. Geiger, Die Institutionalisierung soziologischer Paradigmen: Drei Beispiele aus der Frühzeit der französischen Soziologie, in: W. Lepenies (Hg.), Geschichte der Soziologie, Frankfurt 1981, Bd. 2, S. 137–156 sowie T. N. Clark, Die Durkheim-Schule und die Universität, in: ebd., S. 157–205.

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Vergangenheit zurück zu projizieren. Wenn im Untertitel dieses Beitrages von »anwendungsorientierten Sozialwissenschaften« die Rede ist, so handelt es sich um ein problemgeleitetes wissenschaftsgeschichtliches Konstrukt, das zeitgenössische Fächer zusammenfasst, die in ihrem Selbstverständnis, in ihrer eigenen sozialen Realität wie in der Art ihres Praxisbezugs ganz unterschiedlich sind. Politikwissenschaften, Sozialpsychologie, Schulpsychologie und Statistik ist nur gemeinsam, dass diese Wissenschaften vom Menschen in eindeutiger Weise praktisch werden und sich die Umsetzung von »Wissen« in »Handeln« in den Binnenraum der Fächer zurückverfolgen lässt. Beide Kriterien – darauf muss einleitend hingewiesen werden – sind für den untersuchten Zeitraum problematisch und die Auswahl der Forschungsfelder in gewissem Maße willkürlich, auf jeden Fall unvollständig. Es darf vor allem nicht vergessen werden, dass es in den Wissenschaftskontroversen dieser Zeit immer wieder darum ging, ob den neuen »Sozial«wissenschaften überhaupt ein eigenständiger Objektbereich zuzuordnen sei, der ihre Etablierung als vollwertige Wissenschaften recht­ fertigte. Mit Medizin und Biologie standen zwei Disziplinen bereit, die weitreichende Theorien auch zur Erklärung sozialer Phänomene anboten.3 Wir werden sehen, dass der Schatten dieser beiden naturwissenschaftlich orientierten Fächer weit hinein in das Feld der anwendungsorientierten wissenschaftlichen Beschäftigung mit sozialen Phänomenen reicht, so dass auch die heute übliche Trennung zwischen Human- und Sozialwissenschaften im französischen Wissenschaftsfeld um 1900 mit Vorsicht zu handhaben ist. In den zeitgenössischen Debatten blieb der Anspruch, im Namen der Wissenschaft in die gesellschaftlichen Zustände einzugreifen, weitgehend unwidersprochen: Einer diffusen Wissenschaftsgläubigkeit der politischen und kulturellen Eliten entsprachen auf der Gegenseite sozialreformerische Verheißungen und Selbstanpreisungen der neuen Humanwissenschaften, wobei jedoch Orte und Akteure solcher ideologischer Ansprüche und der konkreten sozialverändernden Praxis weit auseinanderliegen konnten. Es hängt gerade auch mit dieser Trennung von Diskurs und Praxis zusammen, dass wir es mit einem unübersichtlichen und zum Teil noch unerforschten Gebiet zu tun haben. Angesichts dieser Forschungssituation tragen die folgenden Analysen alle Merkmale eines Provisoriums.

3 »Tout problème est biologique: place à la république des savants!« in diese griffige Formel fasst J. Léonard den Deutungsimperialismus der zeitgenössischen Medizin. J. Léonard, La médecine entre les savoirs et les pouvoirs, Paris 1981, S. 258.

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I. Selbstverständnis und Deutungsmuster im intellektuellen Feld um 1900 Wenn im Folgenden von »Wissenschaftskultur« die Rede ist, dann sollen mit diesem Begriff die expliziten oder impliziten Selbstdeutungen von Wissenschaft­lern sowie die im intellektuellen Feld verbreiteten Vorstellungen von »Wissenschaft«, ihren Methoden und Konzepten bezeichnet werden. Aus den einleitenden Bemerkungen dürfte bereits deutlich geworden sein, dass dabei die Offenheit des zeitgenössischen Forschungsfeldes mitgedacht werden muss. Selbstverständnis und soziale Deutungsmuster von Medizinern, Juristen, Philosophen, Ingenieuren oder Journalisten bzw. Schriftstellern, die sich zwischen 1890 und 1910 mit wissenschaftlichen Methoden der Erforschung sozialer Fragen und Situationen widmeten, stehen natürlich in engstem Zusammenhang mit den Konflikten im zeitgenössischen Feld der Kultur- und Wissensproduzenten, namentlich mit den dramatischen Zuspitzungen der Dreyfus-Affäre, diesem Bürgerkrieg im Land der Intellektuellen.4 Der Politisierungsschub der Jahre 1894–99 hat dazu geführt, dass sich um die Jahrhundertwende unterschiedliche Konzepte der sozialen Rolle der rasch anwachsenden Zahl von Journalisten, Literaten, Lehrern, von Juristen, Medizinern und Naturwissenschaftlern herauskristallisiert haben.5 Schematisch lassen sich drei Definitionen der sozialen Rolle und des Selbstverständnis der intellektuellen Berufe in den Selbstthematisierungen dieser Kontroverse erkennen: Zum einen erhoben nun Literaten, Wissenschaftler und ihr studentischer Anhang Anspruch auf eine eigenständige Rolle gegenüber den Eliten in Wirtschaft, Verwaltung und Politik und intervenierten gestützt auf universalistische Normen in den gesellschaftlichen Konflikten. Es entstand die Figur des modernen Intellektuellen mit seinem Mandat zur politischmoralischen Herrschafts- und Gesellschaftskritik. Demgegenüber definierte sich die gegnerische Gruppe von Gelehrten bzw. Literaten als solidarischer Teil der herrschenden Elite, deren Kulturwerte und Machtansprüche sie zu verteidigen bereit war. Drittens tauchte in den polemischen Kontroversen der Dreyfus-Affäre eher am Rand, in den übrigen Debatten der Zeit jedoch immer häufiger die Position des professionellen Experten, des »Fachmenschen« mit bereichsbezogenem Sachverstand auf, der auf dem Gebiet der Sozialexpertise weitreichende Handlungskompetenz, jedoch kein allgemeinpolitisches Mandat für sich reklamierte. 4 Vgl. hierzu: C. Charle, Naissance des »intellectuels« 1880–1900, Paris 1990. 5 Folgende Zahlen belegen die Expansionsdynamik dieser unterschiedlichen intellektuellen Berufe: Zwischen 1881 und 1908 vergrößerte sich die Gruppe der Schriftsteller, Journalisten und Publizisten um 24 % (von 7.372 auf 9.148). Die Ärzteschaft wuchs um 36 % (von 15.200 auf 20.673), die Zahl der Juristen erhöhte sich um 44 % (von 31.462 auf 45.512), die Zahl universitärer Wissenschaftler verdoppelte sich (von 502 auf 1.048). Daten in Charle, Naissance, S. 237.

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Die Ausformung dieser unterschiedlichen Leitbilder ist eng mit den Prozessen wachsender Autonomisierung und Binnendifferenzierung intellektueller Berufsfelder verbunden, die seit den achtziger Jahren zu beobachten sind.6 Die im Frankreich des 19. Jahrhunderts noch enge Verbindung zwischen literarischer Kultur und politisch-moralischer Gegenwartsdeutung löste sich seit den 1890er Jahren  – vor allem im Gefolge der Verwissenschaftlichungs- und Professionalisierungstendenzen an den reformierten Universitäten7  – immer mehr, eine polemische Konfrontation bzw. eine indifferente Distanz trat an ihre Stelle. Zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des intellektuellen Feldes verschärften sich die Konflikte um Form und Inhalt legitimer Kultur- und Gegenwartsdiagnose: Wissenschaft, Moral und Kultur wurden in ganz unterschiedlichen Mischungsverhältnissen herangezogen bzw. gegeneinander ausgespielt, wenn es darum ging, die Geltungsansprüche der eigenen Vorschläge und Vorstellungen zu rechtfertigen. Kulturkritik und Sozialtechnik wurden dabei in der Regel immer deutlicher an ganz anderen Orten mit unterschiedlichen Leitmotiven und Voraussetzungen praktiziert.8

II. Die Wissenschaftskultur um die Jahrhundertwende: Die Vorherrschaft des empirischen Rationalismus Diese Änderungen im ideologischen wie sozialstrukturellen Umfeld haben, wie wir sehen werden, auch in den sozialwissenschaftlichen Unternehmungen der Jahrhundertwende ihre Spuren hinterlassen: Sie lassen sich in den wissenschaftlichen Kontroversen und Forschungsstrategien wiederentdecken, die jedoch erst auf dem Hintergrund der fachspezifischen oder der dem gesamten Wissenschaftsfeld eigenen intellektuellen Konstellation zu entschlüsseln sind. Die wissenschaftstheoretische Diskussion, die im Frankreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Aufschwung der Naturwissenschaften begleitete, stand eindeutig im Zeichen der Entwürfe Auguste Comtes für eine künftige Sozialwissenschaft. Es war nicht das Comtesche System, die positivistische Philo­sophie, die im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts dominierte, sondern das von ihm formulierte Programm, ein einheitliches, umfassendes, geordnetes Wissenssystem auf der methodischen Grundlage von Beobachtung, Experiment 6 Zu den tiefgreifenden Umbrüchen im gesamten Raum der bürgerlichen Eliten siehe: C.  Charle, Les élites de la République 1880–1900, Paris 1987. 7 Vgl. hierzu V. Karady, Les universités de la troisième république, in: J. Verger (Hg.), Histoire des universités en France, Toulouse 1986, S. 323–365; G. Weisz, The Emergence of Modern Universities in France, Princeton 1983; C. Charle, La République des universitaires ­(1870–1940), Paris 1994. 8 Die wachsende Distanz wird besonders an prominenten Außenseitern der zeitgenössischen intellektuellen Welt wie G. Sorel und C. Peguy deutlich, die gegen den neuen Konsens der bürgerlichen Universitätsgelehrten revoltieren.

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und Vergleich aufzubauen. Zwischen 1850 und 1880 gingen von diesem monistischen Wissenschaftskonzept die stärksten Impulse für die Weiterentwicklung der Human- und Sozialwissenschaften in Frankreich aus. Neben dem einflussreichsten Comte-Schüler, Littré, sind hier vor allem Taine und Renan sowie Mill und Spencer zu nennen, die dem Leitbild einer modernen »Sozialphysik« Erkenntnisverfahren, exemplarische Werke und Interpretationsmodelle lieferten.9 Die Breitenwirkung der »positivistischen« Wissenschaftskonzeption verdankt sich wohl nicht zuletzt der Tatsache, dass ihre zentralen Elemente mit der Ideen­ welt zu verbinden waren, die das französische Bildungssystem im 19. Jahrhundert als nationales kulturelles Erbe tradierte. Klassik, Cartesianismus und Aufklärung schufen einen geeigneten Boden, in »trivalpositivistischer« Form die neuen Vernunftunternehmen der Natur- und Sozialwissenschaften als Einheit zu begreifen und kulturell zu bewältigen. Die »Ersatzreligion« Wissenschaft und der Kult des »savant«, des Forschers und Gelehrten, spielte in der laizistischbürgerlichen Kultur der Dritten Republik eine wesentliche Rolle.10 Typischerweise hat das positivistische Wissenschaftsmodell im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehrfach die politischen Fronten gewechselt und in den unterschiedlichen politisch-kulturellen Milieus von Monarchisten, gemäßigten Liberalen, Republikanern und Sozialisten Anhänger gefunden. Die Stärke des trivialpositivistischen Grundkonsenses ist schließlich auch auf dem Hintergrund der späten Etablierung der philologisch-historischen Disziplinen als universitäre Wissenschaften zu sehen. Die sich neu konstituierenden »facultés de lettres« suchten wissenschaftstheoretisch den Anschluss an die bereits im Rampenlicht stehenden Naturwissenschaften.11 Dabei übernahm die Medizin eine wichtige Rolle als Brücke zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. Es war die französische medizinische Forschung, die seit den späten sechziger Jahren das neue Leitbild für die übrigen Humanwissenschaften bildete und den Konsens in wissenschaftstheoretischen Grundsatzfragen prägte. Besonders einflussreich wirkte Claude Bernards »Introduction à la médecine expérimentale« (1865) auf die Gründergeneration der neuen Humanwissenschaften, die auf der Suche nach methodischen Orientierungspunkten waren. Seine experimentelle Forschungsmethode galt weithin als vorbildlich und nachahmenswert. Der handlungsbezogene Pragmatismus der medizinischen Forschung, also die Verbindung von Labor und Klinik, die immer wieder als ein Spezifikum der französischen Medizintradition herausgestellt wird, wirkte auch nachhaltig auf das neue Forschungs- und Handlungsfeld des Sozialen. Die Spuren von Medizin und Biologie lassen sich in fast allen theoretischen Ansätzen wie9 Vgl. Le(s) positivisme(s), Sondernummer der Zeitschrift Romantisme, S. 21–22, 1978. 10 Vgl. Charle, Naissance, S. 28–35; J. Lalouette, La glorification de la science au 19e siècle, in: C. Charle u. L. Jeanpierre (Hg.), La vie intellectuelle en France, Bd. 1, Paris 2016, S. 429–449. 11 Typisch ist etwa der Fall der universitären Geschichtswissenschaft: siehe G. Lingelbach, Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2003.

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derfinden, die mit der Entwicklung der neuen »Sozialwissenschaften« in den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1910 in Verbindung stehen. Zu erinnern ist hier an die besondere Rolle, die die vor allem von Medizinern betriebenen Schädelmessungen der anthropologischen Schule Paul Brocas bei der Verbindung von Evolutionstheorie, Rassismus und naturwissenschaftlichen Messverfahren (der Kult präziser Messungen) gespielt haben. Quantifizierung und naturalistischer Determinismus gingen vor allem in den anwendungsorientierten Feldern der Humanwissenschaften ein dauerhaftes Bündnis ein.12 Die organizistischen Theorien in der Soziologie etwa bemühten sich, unmittelbar Begriffe und Wissensformen der Biologie für die neuen Sozialwissenschaften zu nutzen,13 Krimi­nologie und Soziologie übernahmen Konzepte aus der Psychiatrie,14 die Sozialpsychologen bedienten sich der Ergebnisse der Hysterie- und Hypnose­ forschung, um kollektives Verhalten zu beschreiben.15 Zur Erbschaft der positivistischen Wissenschaftskultur gehört schließlich auch das Repertoire an Methoden, aus dem die neuen Humanwissenschaften der Jahrhundertwende schöpften. Statistische Datensammlung, die monographische Methode, die klinische Beobachtung und die Labormessung waren in der französischen Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts in besonderer Weise entwickelt und modellhaft angewandt worden: Zwischen 1830 und 1860 hatte die Statistik in Frankreich einen enormen Aufschwung genommen, der sich in den Erhebungen der Statistique Générale de la France niederschlug. Die Methode der Familienmonographie war von Le Play zu einem wichtigen Instrument methodisch kontrollierter Sozialerhebung entwickelt worden, auf die Schädelmessungen von Paul Broca und seinen Schülern in der Anthro­pologie und die Fortschritte der klinischen Medizin ist bereits hingewiesen worden. Dieses Repertoire an Erhebungsmethoden ist nun bis zur Jahrhundertwende nicht mehr wesentlich erweitert worden, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt das positivistische Erbe weiterwirkte. Für die wissenschaftstheoretische Konstellation um 1900 ist von entscheidender Bedeutung, dass die häufig als gesamteuropäisches Phänomen beschriebene »Revolte gegen den Positivismus«16 der späten achtziger und neunziger Jahre nur schwache Spuren im französischen Wissenschaftsfeld hinterlassen hat. Der Neo-Idealismus, vor allem in Gestalt des Neukantianismus, hatte zwar in der akademischen Philosophie Frankreichs seit den 1880er Jahren eine füh12 Zum Sozialdarwinismus vgl. L. L. Clark, Social Darwinism in France, Alabama 1984. 13 Vgl. R. Worms, Organisme et société, Paris 1895. 14 Vor allem die Degenerationslehre von Morel und Magnan. Vgl. hierzu P. Pichot, Ein Jahrhundert Psychiatrie, o. O. 1982, S. 20–24 und Nye, Crime. 15 So vor allem G. Le Bon, La psychologie des foules, Paris 1896; vgl. Y. von Thiec, Gustave Le Bon, prophète de l’irrationalisme de masse, in: Revue française de sociologie, Jg. 22, 1981, S. 409–428; R. A. Nye, The Origins of Crowd Psychology. Gustave Le Bon and the Crisis of Mass Democracy in the Third Republic, London 1975. 16 »The Decade of the 1890’s: The Revolt against Positivsm«, so der Titel des zweiten Kapitels in: H. S. Hughes, Consciousness and Society, New York 1959, S. 33–67.

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rende Position gewonnen, doch blieb die wissenschaftsphilosophische Argumentation der französischen Neu-Kantianer auffällig blass: Ihre führenden Vertreter waren vor allem an moralphilosophischen Fragestellungen interessiert, eigenständige neue Entwürfe zu einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Kulturwissenschaften entwickelten sie nicht.17 Die Wissenschaftskonzepte der konkurrierenden Schulen im Feld der neuen Soziologie mögen die dominierenden wissenschaftstheoretischen Tendenzen im Feld der neuen Sozialwissenschaften um die Jahrhundertwende illustrieren: Zwischen den Polen eines auf objektive Gesetzmäßigkeiten, beobachtbaren kollektiven Phänomenen bzw. Tatsachen ausgerichteten positivistischen Konzepts und eines an Individualität, historischer Kontingenz und Interaktion orientierten neo-idealistischen Ansatzes blieb die Mehrzahl der konkurrierenden Schulen dem positivistischen Erbe verpflichtet. Allein der Soziologe Tarde nahm eine deutliche Gegenposition ein, während etwa die Gruppe um Worms wie viele andere zeitgenössischen »Soziologen« die naturalistischen Tendenzen des älteren Positivismus weiterführte.18 Die im Universitätssystem schließlich erfolgreichste und wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamste Gruppe um Durkheim entwickelte ihr Programm einer »positiven« d. h. erfahrungswissenschaftlichen, nomothetisch orientierten, theoretisch reflektierten Soziologie in Absetzung sowohl von den biologistischen Denkrichtungen, die sich auf Spencer und Darwin beriefen, als auch von der neo-idealistischen Fundamentalkritik an Comtes Wissenschaftsprogramm. Vermittelt über seine philosophischen Lehrer, die Neukantianer Renouvier und Boutroux, wurde Kant neben Comte dabei die zweite Inspirationsquelle für Durkheims »wissenschaftlichen Rationalismus«.19 Typischerweise wählte Durkheim zentrale Fragestellungen der Kantschen Erkenntniskritik und Moralphilosophie zu Ausgangspunkten seiner soziologischen Untersuchungen, hielt jedoch mit seinem Konzept von den »sozialen Tatsachen«, der vergleichenden Methode und seinem Begriff der Regel bzw. des Gesetzes an zentralen metho­ dischen und theoretischen Vorgaben des »Positivismus« fest.20 Die wissenschaftstheoretische Frontstellung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, zwischen Erklären und Verstehen, wie sie in den deutschen Methodendebatten der Kulturwissenschaften sich herauskristallisieren, fanden in der französischen Wissenschaftslandschaft um 1900 nur einen schwachen Wider­hall. Allein Bergsons Lebensphilosophie lieferte eine Entsprechung zu den 17 Vgl. die Studien von J.-L. Fabiani, Les programmes et les œuvres. Professeurs de philo­sophie en classe et en ville au tournant du siècle, in: Actes de la recherche en sciences sociales, Jg. 47–48, 1983, S. 3–20; ders., Enjeux et usage de la ›crise‹ dans la philosophie universitaire en France au tournant du siècle, Annales ESC, 1985, S. 377–409; ders., Les philosophes de la République, Paris 1988. 18 Zu Worms siehe Geiger, Institutionalisierung. 19 So Durkheims Selbstbeschreibung, zitiert in: S. Lukes, Emile Durkheim. His Life and Work, New York 1972, S. 72; siehe dort auch Kap. 3, S. 66–85. 20 Vgl. ebd., S. 226–236; R. König, Emile Durkheim zur Diskussion. Jenseits von Dogmatismus und Skepsis, München 1978, S. 140–201.

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geisteswissenschaftlichen Abwehrpositionen in Deutschland. Seine philosophische Kritik am Rationalismus betonte jedoch bezeichnenderweise metho­disch mit Intuition und Introspektion Erkenntnisverfahren, die selbst in den Kulturwissenschaften nur schwer anschlussfähig waren; seine metaphysischen Ambi­ tionen wiederum standen in polarer Spannung zum pragmatischen Agnostizismus der gesamten Wissenschaftskultur. In der Entwicklung von Bergsons Philosophie sind auch die Effekte erkennbar, die die eingangs geschilderte Polarisierungstendenz zwischen literarischem und wissenschaftlichem Feld mit sich brachte. Es waren Literaten bzw. Journalisten, Intellektuelle der Rechten bzw. der radikalen Linken (Sorel) sowie aus dem katholischen Lager, die in Bergsons Philosophie Argumente gegen den Szientismus der Universitäten fanden.

III. Die Debatten um Kultur und Gesellschaft in der belle époque Mit dem bisher Gesagten lassen sich eindeutige Vorlieben der französischen Humanwissenschaftler in Methoden und Argumentationsstil erklären. Schwieriger wird es bei der Frage, welche Kriterien die Auswahl ihrer Forschungsgegenstände und die Entwicklung ihres Problembewusstseins bestimmt haben. Hier scheint es mir in der Tat notwendig, noch einmal den größeren Kontext des intellektuellen Feldes heranzuziehen um zu schauen, mit welchen Wahrnehmungsmustern und in welchen Darstellungsformen Phänomene des sozialen und kulturellen Wandels dort artikuliert worden sind. Grob vereinfachend scheinen mir zwei Stichworte die öffentlichen Kulturdebatten zusammen­zufassen: das Thema des Auseinanderfallens der französischen Gesellschaft unter dem Druck beschleunigter Modernisierungsprozesse und das Problem ihrer Leistungsfähigkeit in der internationalen Konkurrenz. Es ging darum, die Sozialmoral als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung zu erhalten, moderne Sozial­ konflikte zu befrieden, die Folgen von Arbeitsteilung und Individualisierung abzumildern und vor allem die negativen Folgeerscheinungen »modernen« großstädtischen Lebens zu bekämpfen. Alkoholismus, Prostitution, Scheidung, aber auch die Frage nach der Effizienz der nationalen Bildungssysteme, des parlamentarischen Regierungssystems sowie die »Gefahren« von Geburtenrückgang und demografischer »Krise« im Zeichen imperialistischer Weltpolitik und kolonialer Expansion dominierten die öffentlichen Debatten. Dabei ist nicht zu übersehen, dass um 1900 ganz unterschiedliche Formen der intellektuellen Behandlung aktueller Sozialprobleme in der politischen und kulturellen Öffentlichkeit nebeneinander existierten. Zum einen lässt sich die Tendenz beobachten, positives Wissen an die Stelle von philosophischer Reflexion zu setzen, praxisbezogene Reformvorschläge statt moralischer Urteile abzugeben. Es entwickelte sich eine breite Nachfrage nach Sozialdaten und praktischen Handlungsanleitungen, die nicht nur ernsthafte Forschungsanstrengungen in302

spirierte, sondern, wie wir noch sehen werden, auch eine Grauzone halbwissenschaftlicher Publizistik entstehen ließ.21 Zugleich ist jedoch auch zu beobachten, dass die Ambitionen der neuen »Sozial­wissenschaften«, als einzig legitime Form der intellektuellen Bearbeitung sozialer Probleme anerkannt zu werden, noch lange nicht ans Ziel gelangt waren: Zum einen behauptete sich der philosophische Diskurs als höchste Form der Legitimation politischer Entscheidungen und gesellschaftlicher Zustände. Die bürgerlichen Eliten der Dritten Republik suchten angesichts einer langsam erstarkenden Arbeiterbewegung und im Kulturkampf gegen die katho­lische Kirche in einer laizistischen Moral- und Sozialphilosophie Grundlagen für eine neue Zivilreligion, die sowohl die revolutionären Prinzipien von 1789 beerben wie auch der Soziodizee der eigenen Herrschaft dienen konnte. Der »Solidarismus«, eine eklektische Sozialphilosophie, die die Prinzipien von parlamentarischer Demokratie, liberaler Marktwirtschaft und moderater Sozialreform verteidigte, stieg um die Jahrhundertwende zur quasi offiziellen Sozialdoktrin der Dritten Republik auf, deren Verbreitung in Wissenschaft und Bildung von den politischen Eliten entschieden gefördert wurde.22 Philosophie avancierte zum angesehensten Schulfach mit weitreichendem moralischen Bildungsauftrag. Auf ideologischer Ebene behauptete sich also recht erfolgreich die philosophischmoralische Argumentation gegenüber den sozialtechnokratischen Perspektiven der neuen Experten. Moral rangierte hier vor Natur, Freiheit vor Determinismus. Fragen der Moral spielten denn auch in den Denkfiguren der zeitgenös­ sischen Sozialforscher eine zentrale Rolle, und die Beeinflussung moralisch bewerteten Sozialverhaltens durch wissenschaftlich angeleitete Eingriffe in die soziale Welt gehörte zum Standardrepertoire sozialwissenschaftlicher Argumentation: Moralische Besserung durch Sozialtechnik wurde bei vielen Adepten der neuen Wissenschaften zur unhinterfragten Vorannahme ihrer Reformvorschläge und Forschungsvorhaben. Dem hohen Stellenwert, den die Moral in sozialwissenschaftlichen Texten über Gesellschaft einnimmt, entsprach auch die Rangordnung der Fächer, die sich in den Konflikten des intellektuellen Feldes beobachten lässt. Die Höhen des Pariser Intellektuellenleben wie die vordersten Plätze der Manifeste und­ Petitionen bevölkerten Universitätsgelehrte und Schriftsteller – die traditionel­ len Bildungsfächer und ihre Denkstile behaupteten aufgrund ihrer unangefochtenen Stellung in Schule und Hochschule ihren intellektuellen Führungsanspruch und prägten nach wie vor die kulturellen Eliten. Den angewandten Sozialwissenschaftlern blieb in dieser Situation nur ein bescheidenerer Platz am Fuß des Pariser Intellektuellenberges bzw. an den stilleren Plätzen direkter Politik21 Vgl. Nye, Crime; zur Beteiligung der Mediziner: Léonard, La médecine; zu den Bildungsdebatten: Ringer, Fields; zu den Themen aktualitätsbezogener Sozialforschung: Favre, Les naissances, S. 51–82, 207–231. 22 S. Audier, La pensée solidariste. Aux sources du modèle social républicain, Paris 2010; C. Gülich, Die Durkheim-Schule und der französische Solidarismus, Wiesbaden 1991.

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beratung und sozialer Intervention. Die Breitenwirkung »sozialwissenschaftlicher« Diskurse um 1900 hängt auch mit dieser Rangskala innerhalb des intellektuellen Feldes zusammen. Die an Marktchancen orientierte Karriere als »homme de lettre«, als Journalist oder Sachbuchautor, der die neuen sozial­ wissenschaftlichen Ansätze aktueller Problemen aufgriff und mit den politischideologischen Diskursen verband, bot eine realistische Alternative zur universitären Laufbahn. Von den Zeitgenossen wurden diese Publikationen als legitime Formen »sozialwissenschaftlicher« Wissensproduktion anerkannt. Inhaltlich artikulierten sich im intellektuellen Feld zwei radikal entgegengesetzte Positionen: Eine fortschrittspessimistische, zumeist politisch rechtsstehende Kritik an der kulturellen Moderne und am liberalen Kapitalismus bekämpfte einen evolutionär-fortschrittsorientierten Glauben an moderne Kultur, wissenschaftliche Zivilisation und soziale Demokratie. Die radikalen ­Dreyfusards auf der Linken des intellektuellen Feldes standen in diesen Debatten den konservativen Nostalgikern der Action française und des katholischen Lagers gegenüber. Die breite Mehrheit artikulierte weniger eindeutige Positionen. Zweifellos konnten die Positionen eines fortschrittsgläubigen, moderat sozialliberalen Republikanismus innerhalb der wissenschaftlichen Eliten die größte Anhängerschaft gewinnen. Auffällig ist dabei, dass in der öffentlichen Debatte trotz der Dominanz fortschrittsorientierter Positionen der kulturellen Eliten die Zivilisationsgefahren zu beliebten Themen der zeitgenössischen Publizistik und der öffentlichen Debatten der belle époque geworden sind. Die Modethemen der belle époque wie Kriminalität, Lustseuche, Hypnose, Hysterie und Okkultismus decken jedoch auch eine für die Wissenschaftskultur relevante Tatsache auf: Phänomene kulturellen Wandels und sozialer Veränderung wurden in dieser Zeit in medizinischen Metaphern als »Pathologien« oder Phänomene der »Degeneration« thematisiert, und die Beeinflussung der sozialen Prozesse wurde nicht nur von »Mediziner-Soziologen«23 als sozialmedizinische Diagnostik und Therapie konzipiert – wieder stoßen wir auf die Medizin, deren intellektuelle Ausstrahlung und konkrete soziale Präsenz in dieser Epoche kaum zu überschätzen ist.

IV. Orte und Akteure der neuen Sozialwissenschaften Insofern soziale Fragen und soziale Reformen um 1900 zu Tagesthemen ge­ worden waren, die im intellektuellen Feld breit diskutiert wurden,24 waren die Voraussetzungen für die erfolgreiche Entwicklung pragmatisch handlungs­ 23 »Les médecins: Sociologues et Hommes d’Etat« so der bezeichnende Titel eines Buches von P. Trisca, das 1923 in Paris erschien. 24 Ein Blick in die Debatten einer eher konservativen Gelehrtenversammlung wie der »Aca­ démie des sciences morales et politiques« zeigt, wie seit den späten neunziger Jahren die

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orientierter Sozialdisziplinen also durchaus gegeben. Weniger günstig stand es jedoch um diese Fächer bei ihren Chancen, sich im universitären Betrieb zu etablieren. Die institutionellen Gegebenheiten der französischen Wissenschaftslandschaft um 1900 setzten der Etablierung neuer anwendungsorientierter Sozialwissenschaften enge Grenzen. Die Diskrepanz zwischen intellektuellen Entwürfen und praktischen Realisierungen blieb in Frankreich wie in den meisten europäischen Ländern noch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sehr groß. Zwar wurde den neuen Fächern in der einen oder anderen Form ein Platz im universitären Lehrbetrieb eingeräumt, doch kam es erst in der Zwischenkriegszeit zur Gründung einschlägiger Institute oder Labors, in denen sich ein kontinuierlicher Forschungsbetrieb entwickeln konnte.25 Allgemein gesprochen, wurde die Entwicklung der Fächer durch zwei Fakto­ ren behindert: Zum einen erlangten sie, wie wir bereits gesehen haben, nur den Status minderer intellektueller Legitimität  – ihr Praxisbezug minderte ihren Bildungswert, zum andern gerieten sie in ihrer Gründungsphase in den Streit der vier Fakultäten (droit, médecine, sciences, lettres) um Macht und Einfluss bzw. in Konkurrenz zu den dort bereits etablierten älteren Disziplinen, die ihren Monopolanspruch auf sozialpolitische Expertise und moralisch-politische Urteilskraft verteidigten. Bei der Neugründung der Universitäten in den acht­ ziger Jahren hatten die erst noch in den Anfängen steckenden Forschungs­ zusammenhänge wie Soziologie, Psychologie oder Kriminologie noch keinen Platz im reformierten Lehr- und Forschungsbetrieb erhalten, selbst ältere Wissensgebiete wie politische Wissenschaften, Nationalökonomie oder Statistik hatten sich nicht als selbständige Disziplinen etablieren können. In den folgenden Jahrzehnten zeigten sich die gerade erst reformierten Universitäten aus­ gesprochen erfolgreich in der Abwehr dieser neuen Fächer. Schematisch gehören hierbei Rechtswissenschaft, Philosophie und bereits mit Einschränkungen Geschichte zu den wissenschaftspolitischen Gegnern, weil Verteidigern des institutionellen wie intellektuellen Status quo – während die naturwissenschaftlichen und medizinischen Disziplinen häufig zu den Verteidigern der neuen Fächer und ihrer Erklärungsansprüche gehörten. Doch hatte auch in diesen Fächern bzw. Fakultäten die Sicherung der eigenen Ressourcen und Entwickaktuellen Themen in den Vordergrund rücken: Bevölkerungsrückgang, Alkoholismus, Sozialversicherungswesen und Sozialhygiene finden dabei besondere Aufmerksamkeit. Vgl. Inhaltsverzeichnisse der »Séances et travaux de l’Académie des sciences morales et politiques« 1890–1914. 25 Sucht man nach der universitären Forschungspraxis solcher Fächer wie Arbeits- und Betriebspsychologie, Urbanistik, Ethnographie oder Statistik, so ist man in der Regel auf die Zwischenkriegszeit verwiesen: Nach dem Ersten Weltkrieg lässt sich eine erste Gründungswelle sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitute beobachten. Typisch hierfür sind die Gründung des »Institut de psychologie« 1921, des »Institut de statistique« 1923 und des »Institut d’ethnologie« 1926 an der Pariser Universität, der Aufbau anwendungsorientierter psychologischer Forschungen v. a. im Bereich von Schule und Betrieb, hier kam es 1929 zur Gründung des »Institut national d’études du travail et d’orientation professionnelle«.

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lungsmöglichkeiten Priorität. Dementsprechend finden wir Fachvertreter der neuen Sozialwissenschaften um 1900 fast immer in marginalen Positionen über die unterschiedlichen Fakultäten und Wissenschaftseinrichtungen verstreut.26 Der halbe Misserfolg der Durkheim-Schule bei der Etablierung einer univer­ sitären Soziologie ist das prominenteste Beispiel: Allein zwei Lehrstühle für allgemeine Soziologie konnte sie erkämpfen, die meisten Durkheimianer lehrten und forschten in Randbereichen des universitären Betriebs in Fächern wie Religionswissenschaft, Sinologie oder Ethnologie oder sie verblieben im Bereich der Philosophie oder Pädagogik.27 Die marginale Position der Nationalökonomie in den juristischen Fakultäten, trotz der Einrichtung eines eigenen Doktor­titels und des Ausbaus des wirtschaftswissenschaftlichen und -historischen Lehr­ angebots nach der Reform von 1895/96 liefert ein zweites beredtes Beispiel von der Beharrungskraft der etablierten Fächer. Das neue Lehrangebot blieb randständig, die erste Generation der Lehrenden besaß neben ihrer juristischen häufig noch keine ökonomische Fachausbildung, so dass sich an den juristischen Fakultäten nur langsam eigenständige Forschungsaktivitäten entwickelten.28 Allein das Collège de France zeigte sich etwas aufnahmebereiter gegenüber den noch schwach entwickelten Sozialwissenschaften: hier gab es 1903 immerhin vier Lehrstühle für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie einen weiteren Lehrstuhl für Psychologie. Gegenüber den anwendungsorientierten Richtungen der neuen Disziplinen verhielten sich die Universitäten noch zurückhaltender. Damit artikulierten sie nur einen Vorbehalt, der im gesamten traditionellen Bildungssystem den neuen Formen gegenwartsbezogenen und handlungsorientierten Wissens entgegengebracht wurde. Sie wurden in der Regel nur als curriculare Ergänzungen am Rande des traditionellen Lehrangebots zugelassen.29 Entsprechend fand ein Großteil der anwendungsorientierten Forschungen vor den Toren der staatlichen Hochschulen (grandes écoles und universités) in prekärer Lage statt – den Schwankungen der gesellschaftlichen Nachfrage wie den Wechselfällen privater oder staatlicher Subventionen ausgesetzt.30 Allein 26 Vgl. H. Hauser, L’enseignement des sciences sociales, Paris 1903, S. 143–221. 27 V. Karady, Durkheim, les sciences sociales et l’Université: bilan d’un sémi-échec, in: Revue française de sociologie, Jg. 17, 1976, S. 267–311; vgl. auch ders., Strategien und Vorgehens­ weisen der Durkheim-Schule im Bemühen um Anerkennung der Soziologie, in: Lepenies (Hg.), Geschichte, Bd. 2, S. 206–262. 28 Vgl. L. Le Van-Lemesle, L’économie politique à la conquête d’une légitimité, 1896–1937, in: Actes de la recherche en sciences sociales, Jg. 47–48, 1983, S. 113–117. 29 So wurden zum Beispiel in den neunziger Jahren an den juristischen Fakultäten eine Reihe von Lehraufträgen bzw. Kursen zur »Sozialökonomik« (»économie sociale«) eingerichtet, an der staatlichen Ingenieurschule »Ecole des ponts et chaussées« 1900 ein Lehrstuhl für Sozialökonomik geschaffen, gleichzeitig wurden am Conservatoire National des Arts et Métiers Lehraufträge zu diesem Themenbereich vergeben; Hauser, L’enseignement, S. 149, 179, 182. 30 Für den Zeitraum 1890–1910 sind hier vor allem zu nennen: Le collège libre des sciences sociales (1895 gegründet). L’école libre des sciences sociales (1900 als Abspaltung aus dem

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die »école libre des sciences politiques« liefert ein Beispiel für die dauerhafte Etablierung einer solchen privaten Hochschulgründung.31 Die typische Organisationsform blieb der Verein: Eine Vielzahl von neuen »sociétés savantes« wurde gegründet, von denen einige durch eigene Zeitschriften und regelmäßige Publikationen den neuen Diskursen und Arbeitsgebieten ein gewisses Maß von Kontinuität verleihen konnten. In dieser Konstellation tauchen viele Bereiche angewandter Sozialforschung erst auf, wenn man den engen Rahmen der offiziellen Wissenschaftsinstitutionen verlässt und danach fragt, wer sich um die Jahrhundertwende berufs­ mäßig mit kulturwissenschaftlichen Fragen beschäftigte. Sehen wir einmal von der politischen bzw. journalistischen und literarischen Beschäftigung mit sozialwissenschaftlichen Fragen ab, die in der Regel von der Vorarbeit anderer zehrte und nur in selteneren Fällen eigenständige Forschungsbeiträge im weitesten Sinne geliefert hat,32 so sind dies vor allem drei Gruppen: Zum einen die neuen Universitätswissenschaftler der genannten Fakultäten und Fächer, hier sind neben Medizinern und Psychologen eigentlich nur noch die »Sozialökonomen« als Vertreter anwendungsorientierter Sozialwissenschaften zu nennen. Zum zweiten ist die Gruppe der »ingenieurs sociaux«, der »Sozialingenieure« zu nennen: Neben den im Staatsdienst tätigen Ingenieuren können hierzu auch hohe Verwaltungsbeamte und Richter gerechnet werden. Bei ihnen verbindet sich ein elitärer Corpsgeist mit sozialreformerischen Zielsetzungen. In ihren Reihen konnte die sozialkonservative, eng mit den ökonomischen Eliten und Sozialkatholizismus verbundene Le Play-Schule zahlreiche Anhänger finden.33 Sozialreform und Sozialforschung in Form von Enqueten, lokalen Monographien und statistischen Überblicken waren im Wissenschaftsverständnis der Le Play-Anhänger unmittelbar aufeinander bezogen. Ein solches Programm von­ »science sociale« entsprach dem Berufsalltag und Selbstverständnis eines Großteils dieser Gruppe von Ingenieuren, Statistikern und Ökonomen. Das eingangs

collège libre hervorgegangen).Beide Schulen boten neben berufsbezogenen Kursen (für Journalisten sowie Lehrer im Fall der Ecole) vor allem für Studenten der juristischen und philosophischen Fakultät ein breites Spektrum von Vorlesungen und Seminaren zu aktuellen Themen aus dem Bereich der Sozialpolitik und der Sozialwissenschaften an. Die Kurse und Forschungsmissionen der beiden Le Play-Schülerkreise um die Zeitschriften »réforme sociale« und »science sociale« richteten sich jedoch allein an den Kreis der Anhänger und Mitglieder. Vgl. die Übersichten bei Hauser, L’enseignement, S. 188–221 sowie C. Prochasson, Sur l’environnement intellectuel de Georges Sorel: L’école des hautes études sociales (1889–1911), in: Cahiers Georges Sorel, Jg. 3, 1985, S. 16–38. 31 Vgl. Favre, Les naissances, sowie M. Rosenbauer, L’Ecole libre des sciences politiques de 1871 à 1896, Diss. Marburg 1969. 32 Allein der knappe Hinweis auf die umfangreiche Reiseliteratur, die eine eigenständige Quelle ethnographischer Information und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung darstellte, mag verdeutlichen, dass auch diese Abgrenzung problematisch bleibt. 33 Vgl. zu den Le Play-Schulen: B. Kalaora u. A. Savoye, Les inventeurs oubliés. Le Play et ses continuateurs, Seyssel 1989.

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skizzierte Selbstbild des »Experten« fand unter ihnen die weiteste Verbreitung und auch die deutlichste Ausprägung. An dritter Stelle sind die »soziologisierenden Mediziner« zu nennen, die sich als einflusseiche Expertengruppe bei Fragen der Sozialpolitik, der Sozialreform und der öffentlichen Hygiene profilierten. Sie wurde in allen größeren öffent­ lichen Debatten um Strafrecht, Kriminalität und Moralentwicklung gehört und wirkte konkret als Sachverständige im Erziehungswesen und in der Recht­ sprechung mit.34 Vor allem die von einer breiten Mehrheit der herrschenden Eliten als bedrohlich eingeschätzte demographische Situation Frankreichs fand in dieser Gruppe zahlreiche Analytiker, deren »biosoziologischen« Kommentare und Vorschläge als »Experten«urteil galten. Bevorzugte Themen medizinischer Sozialinterventionen wurden neben der Bekämpfung von Tuberkulose, Cholera und Geschlechtskrankheiten der Kampf gegen Alkoholismus und Bevölkerungsrückgang. Bis zum Ersten Weltkrieg vertraten diese medizinischen Experten in ihrer Mehrheit sozialreformische Positionen, die sie auf den linken Flügel der bürgerlichen Republikaner platzierten. Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, dass sozialstaatliche Maßnahmen im Gesundheitswesen in wachsendem Maße auf Widerstand in der Ärzteschaft stießen, die, obwohl sie in ihrer großen Mehrheit dem republikanisch-liberalen Lager zuneigte, sich in ihrem sozialen und wirtschaftlichen Besitzstand bedroht fühlte.

V. Konzepte und Methoden der neuen Fächer Schauen wir uns nun einmal genauer die Situation einiger der neuen anwendungsorientierten Humanwissenschaften an. Analytisch wollen wir dabei drei unterschiedliche Formen des Praxisbezugs unterscheiden: – der Bezug auf das politische Feld, sei es als Politikberatung, Ausbildung des politischen Nachwuchses oder Einflussnahme im politischen Willensbildungsprozess. – der Bezug auf die Verwaltung und Organisation sozialer Prozesse und Lebenssituationen. – der Bezug auf individuelle Fälle, sei es in Form medizinischer Hilfe oder gerichtlicher Gutachten. Natürlich lassen sich um 1900 bei fast allen Humanwissenschaftlern Beispiele für eine der genannten Arten des Praxisbezugs finden, vor allem die Inter­ vention im politischen Feld. Im Folgenden wollen wir jedoch bis auf ein Gegen­

34 Vgl. Léonard, La médecine; zur breiten Präsenz der Mediziner im Parlament und im lokalen politischen Leben vgl.: J. D. Ellis, The physician-legislators of France. Medicine and politics in the early Third Republic, 1870–1914, Cambridge 1990.

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beispiel nur solche Fälle in Betracht ziehen, in denen ein kontinuierlicher Praxis­bezug erkennbar und dieser Bezug für das Fachgebiet konstitutiv ist. Betrachtet man die Wissensgebiete, die sich unmittelbar auf das Feld der Politik bezogen, so fällt sofort auf, dass hier die französische Situation besonders unübersichtlich ist. Die soziale Nachfrage schuf in diesem Fall ein breites Angebot von »Wissenssystemen«, die in der Regel noch ohne disziplinäre Konsistenz und institutionelle Absicherung den Anspruch erhoben, unmittelbar Lösungen für politische Probleme und Rezepte für politisches Handeln bereit zu halten. Die Fülle von Situationen, die dabei entstanden sind, sollen an zwei Fällen erläutert werden: Sozialpsychologie: Die »Kollektiv«psychologie gehörte zweifellos zu den beliebtesten Teilbereichen im umkämpften Gelände der zeitgenössischen »sciences politiques« und entwickelte sich zwischen 1890 und 1910 zu einer regelrechten Modewissenschaft, die sich mit neuen und alten Phänomenen kollektiven Verhaltens vor allem in der Politik beschäftigte.35 Mediziner, Juristen und Philosophen beteiligten sich an der Ausformung ihres Thesen- und Faktengebäudes, doch es entwickelte sich kein kontinuierlicher Forschungszusammenhang  – nicht zuletzt wohl deshalb, weil sich kein fester Ort fand, an dem sozialpsycho­ logisches Wissen als Expertise oder Therapie Verwendung gefunden hätte.36 Die Sozialpsychologie verharrte im Bannkreis von politischer Ideologie und Sozialphilosophie – hierfür liefert der erfolgreichste und bekannteste Sozialpsychologe der Zeit, Gustave Le Bon, das beste Beispiel aus einer ganzen Reihe damals beachteter Autoren und Spezialisten.37 Nachdem eine Karriere als universitärer Wissenschaftler nicht zustande kam, ging Le Bon den Weg des Wissenschaftsjournalisten und des mondänen Privatgelehrten. Seine »Massenpsychologie« wurde eines der erfolgreichsten und einflussreichsten Bücher der neuen Sozialpsychologie. Er synthetisierte erfolgreich Thesen und Erkenntnisse aus Kriminologie, Psychiatrie und Medizin, deutete sie im Zusammenhang sozialdarwinistischer Vorstellungen, um sie schließlich als Argumente für eine konservative Politikberatung zu nutzen. Seine Theorie kollektiven Verhaltens beansprucht, die unterschiedlichsten Konstellationen zu erfassen: von spontanen Gruppenbildungen, Menschenansammlungen bis hin zu Großorganisationen wie Gewerkschaften, Parteien und Parlamenten. Die kontrastive Gegenüber­stellung von Individuum und »Masse« wird dabei zum Strukturprinzip aller weiteren Gegensatzpaare wie Instinkt – Zivilisation, Vernunft – Leidenschaft, die dieser Fundamentalopposition zugeordnet werden. In Le Bons Werk treffen die unter­ schiedlichen im Feld der Sozialwissenschaften einflussreichen Strömungen in einzigartiger Weise zusammen. Geprägt durch seine medizinische Ausbildung 35 Vgl. Favre, Les naissances, S. 74–82. 36 Zu den Anfängen der Sozialpsychologie vgl. E. Apfelbaum, Origines de la psychologie­ sociale en France, in: Revue française de sociologie, Jg. 22, 1981, S. 397–407. 37 Vgl. zu Le Bon: Nye, Origins; Thiec, Gustave Le Bon sowie ders. u. J.-R. Tréanton, La foule comme objet de science, in: Revue française de sociologie, Jg. 24, 1983, S. 119–136.

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blieb Le Bon einem positivistischen Wissenschaftsideal treu, das er vor allem nach 1905 mit Anleihen beim amerikanischen Pragmatismus weiterentwickelte. In seinen Büchern beschritt er jedoch entschieden den Weg weltanschaulicher Zuspitzung und populärwissenschaftlicher Verallgemeinerung von partiellen Forschungsergebnissen und Hypothesen. Der verlegerische Erfolg seiner Bücher zeigt, dass für die »halb«wissenschaftliche Kombination von sozialkonservativem Ressentiment, politischer Ideologie und methodisch-wissenschaftlicher Datenerhebung eine kulturelle Nachfrage bestand, die viele zeitgenössische Sozialwissenschaftler zu sozialprophetischen Zukunftsprognosen oder technokratischen Lösungsversprechungen animierte. Le Bons Buch hatte jedoch auch unmittelbar praktische Wirkungen: Offiziere des französischen Heeres nutzten seine Vorschläge für die militärische Ausbildung und Truppenführung  – was dem Autor nach dem Ersten Weltkrieg eine militärische Auszeichnung einbrachte. Kommen wir zum Fall der »sciences politiques«, der Politikwissenschaften im engeren Sinne, der bei genauer Betrachtung in die Nähe der Sozialpsycho­ logie rückt. Auf den ersten Blick gehört Frankreich zu den Ländern, in denen es zu einer frühen Etablierung der »sciences politiques« als eigenständigem Fach gekommen ist. Seit ihrer Gründung 1871 verpflichtete die »école libre des s­ ciences politiques« einen illustren Kreis von Juristen, Historikern, Verwaltungspraktikern und Sozialwissenschaftlern als Dozenten, die ihre Schüler auf ihre künftige Rolle als Politiker, hohe Verwaltungsbeamte und Wirtschafts­manager vorbereiten sollte. Rasch etablierte sich eine »Symbiose«38 zwischen dem Lehrstoff der »Ecole libre« und dem Prüfungsstoff der Zulassungs­wettbewerbe für die höheren Verwaltungskarrieren. Es entwickelte sich in diesem Fall ein neuer Standard legitimen politischen Wissens, der auch als Rekrutierungskriterium für den Zugang zu Positionen in Verwaltung und Politik Anerkennung fand. In dieser Situation war die private Schule sozial ausgesprochen erfolgreich, doch mussten ihre Gründer ihre wissenschaftlichen Ambitionen aufgeben: Die neuen eliten­ nahen »sciences politiques« etablierten sich, ohne wissenschaftliche Autonomie und Eigenständigkeit zu erlangen. An der Ausarbeitung methodischer und theoretischer Grundlagen einer »Wissenschaft von der Politik« hat sich die école libre über lange Zeit nicht beteiligt.39 Sie beschränkte sich im Wesentlichen darauf, ihren Schülern jene gemäßigt liberalen Ideen und jene Fakten zu vermitteln, die die neue ideologische Brücke zwischen den Eliten in Politik, Verwaltung und Wirtschaft bildeten. Wie im Fall der »Sozialpsychologie« entstand so im Umfeld der école libre eine diffuse Wissensproduktion über die politischen Themen der Zeit (Verwaltung, Parlamentarismus, soziale Frage, Sozialismus, politische Ideen, Kolonialismus und Kolonialgebiete), deren innerer Zusammenhalt allein in ihrer Verwendbarkeit als soziale Embleme politischer Kompetenz lag: Der 38 Favre, Les naissances, S. 40. 39 Eine prominente Ausnahme stellt allein André Siegfrieds wahlgeographische Studie von 1913 dar: A. Siegfried, Tableau politique de la France de l’Ouest, Paris 1913; vgl. dazu Favre, Les naissances, Kap. 8–10, S. 235–306.

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dauerhafte Erfolg ihrer Absolventen in Wirtschaft und Politik wurde zum wichtigsten Praxisbezug der neuen Politikwissenschaften. Blickt man auf das breite Arbeitsfeld von Sozialverwaltung und Sozial­reform so verschieben sich die Perspektiven eindeutig: In der Regel verfügten auf diesem Gebiet die »Experten« über das Monopol technischer Kompetenz und hatten ihre Kenntnisse und Methoden bereits als Formen neutralen »objektiven« Wissens etabliert, die die Grundlagen lieferten für professionelle Berufsbilder und konti­ nuierliche Arbeitspraktiken. Es muss jedoch gerade in vergleichender Perspek­ tive daran erinnert werden, dass diese neuen Expertengebiete angewandter Sozialökonomik, Demographie, Sozialmedizin und Sozialhygiene sich eher langsam entwickelten. Der Ausbau dieser neuen Tätigkeitsfelder war aufs engste mit Tempo und Reichweite staatlicher Sozialpolitik verbunden, und hier ent­faltete die Dritte Republik erst nach 1890 und dann vor allem im letzten Jahrzehnt vor Kriegsausbruch größere Initiative und suchte den Anschluss an die Wohlfahrtspolitik in den übrigen europäischen Staaten.40 So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass im internationalen Vergleich die eng mit interventionistischen Politikformen verbundene statistische Sozialbeobachtung in Frankreich zwischen 1880 und 1814 in Rückstand geriet. Weder erhielt die mathematische Statistik in diesen Jahrzehnten neue Impulse, noch traten die französischen Soziologen dieser Phase als empirische Sozial­ forscher mit methodischen Innovationen und umfangreichen empirischen Arbeiten hervor. Die Etablierung der Durkheim-Schule in der Universität vertiefte in einer ersten Phase den Bruch zwischen theoretischer Soziologie und empi­ rischer Sozialforschung. Erst die zweite Generation der Durkheim-Schule begann mit François Simiand und Maurice Halbwachs das Mittel der Statistik systematisch zu nutzen und konzeptionell zu durchdringen.41 Gleichzeitig fehlte im Frankreich der Dritten Republik eine Instanz, die die verstreuten Bemühungen um die wissenschaftliche Beobachtung und Beschreibung der sozialen Realitäten koordiniert und gebündelt hätte. Es gab weder einen Verein für Sozialpolitik noch eine Fabian Society. In dieser Situation blieben die Ergebnisse empirischer Sozialforschung zwischen 1890 und 1914 eher bescheiden. Die Statistiker der öffentlichen Verwaltungen allein konnten diese Lücke nicht füllen – zumal sie ihre eigene Erhebungstechnik weitgehend unabhängig von der universitären Soziologie weiterführten.42 40 Vgl. H. Kaelble, Nachbarn am Rhein, Berlin 1991, S. 113–138; A. Mitchell, The Divided Path, Chapel Hill 1992. 41 M. Halbwachs, La classe ouvrière et les niveaux de vie, Paris 1913; ders., La théorie de l’homme moyen. Essai sur Quetelet et la statistique morale, Paris 1913; F. Simiand, Statistique et expérience, Paris 1922. Zum Bruch zwischen Statistik und Soziologie siehe auch: T. N. Clark, Diskontinuität in der Sozialforschung. Der Fall des ›Cours élémentaire de statistique administrative‹. Eine Fallstudie, in: Lepenies (Hg.), Geschichte, Bd. 3, S. 111–137. 42 Die prekäre Stellung der Statistik in Verwaltung und Wissenschaft lässt sich für den gesamten Zeitraum der Dritten Republik an der geringen Zahl der Mitarbeiter, am Mangel an Lehrstühlen sowie an geringer Koordination der einzelnen statistischen Dienste fest­

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Hauptarbeitsgebiete dieser kleinen Expertengruppen waren die neu entstehenden Verwaltungen des Sozialversicherungswesens sowie des öffentlichen Gesundheitswesens. Als Experten nutzten sie die Methoden der Statistik sowohl dazu, die Notwendigkeit der Reformen zu begründen wie auch die technische Durchführung des Versicherungsprinzips zu organisieren. Gerade in dieser Anfangsphase wohlfahrtstaatlicher Politik griffen die sozialwissenschaftlichen und medizinischen Experten unmittelbar in die soziale Praxis ein, indem sie soziale Tatbestände kodifizierten, neue Nomenklaturen aufstellten, verbindliche Berechnungsverfahren und amtliche Definitionen sozialer Berechtigungen erstellten.43 Ein typisches Beispiel hierfür liefert J. Bertillon, der als Leiter des statistischen Zentralamtes ein Verzeichnis der Todesursachen für die Bevölkerungsstatistik entwickelte, oder etwa die Tätigkeit E. Cheyssons, der in die Debatten um Sozialreform als Experte sowohl für Prinzipien und technische Verfahren der Sozialversicherung wie auch der entsprechenden Sozialdaten eingriff und eine wichtige Rolle etwa bei der Einführung der Arbeitsunfallversicherung im Gesetz von 1898 spielte. Einer ganz ähnlichen Interventionsform, jedoch mit ganz neuer Methodik begegnet uns in der zeitgenössischen Psychologie: Der Binet-Simonsche Intelligenztest steht am Anfang der modernen Psychometrie und der methodischen Bemühungen, individuelle Leistungsdifferenzen zu messen, und damit konkret am Beginn einer für das 20. Jahrhundert so folgenreichen wie charakteristischen Sozialtechnik zur sozialen und individuellen Chancenzuteilung.44 Die Entwicklung des Binet-Simonschen Intelligenztests (1904–1905) erfolgte im Auftrag des französischen Ministerium für Volksbildung: Binets Test und Bewertungsskala hatten den Zweck, Lernbehinderungen bei Schulkindern zu erkennen, um »minderbegabte« Kinder frühzeitig besonders bzw. gesondert zu betreuen. Seine Lösung, altersspezifische Aufgaben zu stellen und aus den Ergebnissen der Testreihen eine Skala zu Berechnung des »Intelligenzalters« der Schulkinder zu gewinnen, erwies sich in der Praxis als sehr erfolgreich und fand rasch internationale Verbreitung. Nicht nur Binets »Intelligenztest« war unmittelbar praxisbezogen, seine weiteren experimentellen Studien beschäftigten sich mit der Psychologie schulischen Lernens und waren darauf aus­gerichtet, konkrete Verbesserungen für die Schulpraxis zu entwickeln.45 Die psychologische Forschung trat hier in direkte Verbindung mit der pädagogischen Praxis. Dabei hat die Weiterentwicklung der Intelligenzmessung und vor allem die gesellmachen. Vgl. R. Marjolin, La statistique, in: C. Bouglé (Hg.), Les sciences sociales en France, Paris 1938, S. 200–223. 1933 standen 2.389 Statistikern in Deutschland 109 Mitarbeiter zentraler statistischer Dienste in Frankreich gegenüber, ebd., S. 219. 43 K. Brückweh, Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter, Berlin 2016. 44 Zu Alfred Binet siehe: P. Pichot, Alfred Binet, in: International Encylopedia of Social­ Sciences, Chicago 1968, Bd. 2, S. 74–78. Zu Binets Verfahren der Intelligenzmessung vgl. S. J. Gould, Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt a. M. 1988, S. 157–166. 45 A. Binet, Die neuen Gedanken über das Schulkind, Leipzig 1912.

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schaftliche Rezeption ihrer Ergebnisse Binets kritische Absicht, die durch biologistische und naturalistische Fehldeutungen (Erblichkeit, Geschlecht, Rasse) gehemmte Förderung lernbehinderter Kinder mit seinen Testverfahren und Intelligenzuntersuchungen voranzutreiben, weitgehend vergessen. Die Einsicht in die Irrtümer der schädelmessenden Anthropologie stand am Anfang von Binets neuen Testverfahren und sein pragmatisch-kritischer Bezug auf die Schulpraxis entsprach seiner Bindung an die universalistischen Ziele des Bildungssystem der Dritten Republik. Diese Form der Schulpsychologie funk­ tionierte sowohl als Einzelfallhilfe wie auch standardisiertes Verfahren schu­ lischen Verwaltungshandelns. Zum Schluss möchte ich kurz auf die Situation der Kriminologie hinweisen, deren Praxisbezug ebenfalls janusköpfig blieb und die damit einen weiteren Grenzgänger in unseren Fächerkonstellation präsentiert. Das Fach entstand aus der Kombinatorik unterschiedlicher theoretischer Ansätze aus Medizin, Recht und Sozialwissenschaften und seine Fachvertreter agierten sowohl als Gutachter vor Gericht wie als Experten für Rechtsreform, Gefängniswesen und Verbrechensbekämpfung. Die Kriminologie entwickelte sich in Frankreich als Gemeinschaftsunternehmen von Strafrechtlern, Gerichtsmedizinern, Psychia­ tern und Soziologen, die in den achtziger und neunziger Jahren eine konsistente Gegenposition gegen die italienische Schule von Lombroso zu entwickeln suchten.46 Gegenüber den kruden anthropometrischen und erblichkeitstheore­ tischen Annahmen vom geborenen Verbrecher, wie sie die italienische Schule vertrat, entwickelte die französische Schule eine revisionistische Sicht, die das Gewicht sozialer Ursachen und das Zusammenwirken unterschiedlicher personeller, biologischer, sozialer und situativer Faktoren betonte. Neben dem Gerichtsmediziner A. Lacassagne, der an seinem Lehrstuhl in Lyon zahlreiche kriminologische Studien anregte, beteiligten sich der Richter-Soziologe Gabriel Tarde47 und der Pariser Strafrechtler Henri Joly an der Formulierung der Positionen der französischen Schule. In ihren theoretischen Bezügen war die französische Kriminologie uneinheitlich. Während die Juristen sich darum bemühten, eine pragmatische Theorie der Straffähigkeit und der Zurechnungsfähigkeit zu entwickeln, die einen Kompromiss zwischen den dominierenden determinis­ tischen bzw. idealistischen Schulmeinungen begründen konnte, knüpften die Mediziner und Psychiater an die in ihren Fächern verbreitete Degenerationstheorie Morels und Magnans an, die der Vererbung krimineller Dispositionen großes Gewicht einräumten. Faktisch kooperierten im Fall der französischen Kriminologie Forscher aus ganz unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen bei der Abwehr eines biologistisch-deterministischen Erklärungsmodells sozialer Devianz. Die reformorientierte Aufdeckung sozialer Einflüsse und die sozialwissenschaftliche Rechtfertigung der bestehenden strafrechtlichen Praxis gingen dabei ein untrennbares Bündnis ein. Der Kriminologe liefert das Mus46 Nye, Crime, S. 97–131; zu Lombroso siehe auch: Gould, Mensch, S. 129–156. 47 G. Tarde, La philosophie pénale, Paris 1903.

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terbeispiel des Sozialexperten neuen Typs, wie er seit der Jahrhundertwende vermehrt in Erscheinung trat: Er gründete seine gesellschaftlichen Prognosen und individuellen Gutachten auf ein elaboriertes Expertenwissen, das sich auf empirische Beobachtung, amtliche Statistiken und anthropologische Messungen berief, er verfügte über eine Anzahl von Theorien und kriminologischen »Krankheits«bildern, die er dem medizinischen Wissensbestand entnommen hatte. Mit diesem neuartigen Expertenwissen wies der medizinisch gebildete Kriminologe vor allem das Monopol der Juristen und der Moralphilosophen bei der Beurteilung des Strafrechts zurück. Der Wissensbestand des neuen Faches blieb in starkem Maß von den Kompromissen zwischen medizinischem Determinismus, juristischen Realitätskonstruktionen und politischem Reformwillen geprägt, die den Konsens der konkurrierenden Experten garantierten.

VI. Fazit Versuchen wir nun abschließend einen Überblick über die intellektuelle Situation der anwendungsorientierten Humanwissenschaften zu gewinnen: 1. Trotz des Gewichts eines positivistisch geprägten Wissenschaftsmodells blieben die angewandten Sozialwissenschaften Stiefkinder des Wissenschaftsbetriebs. Das Gewicht der Bildungsfächer im Universitätsbetrieb und im intellektuellen Feld konterkarierte die Bemühungen um einen kontinuierlichen Ausbau von Forschungseinrichtungen. Ein Großteil der neuen Forschungs­ gebiete verblieb im Stadium der Disziplingründung – mit negativen Folgen für Nachwuchsrekrutierung und Forschungskontinuität. Der späte Beginn wohlfahrtstaatlicher Politik in Frankreich führte in vielen Fällen erst nach dem Ersten Weltkrieg zur Etablierung der neuen anwendungsorientierten Fächer bzw. Metho­den und zur politischen und sozialen Anerkennung neuer Sozialexperten. 2. Typisch für die Umbruchsituation um 1900 ist die Diskrepanz zwischen begrenzten empirischen Forschungsergebnissen und weitreichenden sozialen Erklärungsansprüchen bzw. politisch-praktischen Handlungsanweisungen. Die Kombination bzw. Mischung moralphilosophischer, politischer und wissenschaftlicher Argumentationen konnte in der politisch-kulturellen Öffentlichkeit mit breitem Widerhall rechnen, und ein Großteil der Publikationen der neuen Sozialexperten befriedigte die damit verbundenen Orientierungs- und Legitimationsbedürfnisse nicht zuletzt auch deshalb, weil sich ihnen so die Möglichkeit bot, die ablehnende Haltung der etablierten Wissenschaftsinstitutionen und die wissenschaftliche Kritik der akademischen Kreise zu konterkarieren. Auch in Frankreich ordnete sich damit ein Teil der neuen sozialwissenschaftlichen »Vernunft«unternehmen in jene weit verbreiteten ideologischen Deutungsmuster ein, die Phänomene in Gesellschaft und Politik in biologischmedizinischen Metaphern wie Degeneration und Pathologie fasste und bei denen sich dieser medizinische Blick auf die soziale Welt wiederum mit anderen 314

zeitgenössischen Diskursen verband. Auffällig ist die Affinität zu nationalis­ tischen Positionen und bürgerlichen Moralurteilen, die häufig rassistische und sexistische Ressentiments artikulierten. 3. Diese Spannung zwischen einem moralisch-politischen Argumentationsstil und technisch-fachdisziplinärer Expertise verweist auf die ambivalente Stellung, die die neuen anwendungsorientierten Humanwissenschaften im politischen Feld einnahmen. Das klassische parlamentarische Regime der Dritten Republik begrenzte die Einflussmöglichkeiten der neuen Experten: Es setzte autoritären Lösungsvorschlägen enge liberale Grenzen, es verwässerte oder stoppte deren sozialreformerischen Vorschläge und schließlich relativierte es auch die universalistischen Geltungsansprüche sozialwissenschaftlicher Expertise. Ein Teil der neuen »Sozialexperten« formulierte denn auch eine technokratische Kritik an der Macht des Parlaments gegenüber Regierung und Verwaltung. 4. Trotz dieser partiellen Spannungen zu den politischen Eliten ist der Trend in allen angewandten Sozialwissenschaften zu intellektuellem Konformismus und sozialer Einbindung in die herrschende Kultur auffällig. Im Sinne von Lepenies sind ihre Vertreter Intellektuelle mit gutem Gewissen, die häufig die Gewissheit vorantrieb, Lösungen für die »Krisen« der französischen Gesellschaft der belle époque zu liefern. Ihr zuweilen technokratisch gefärbtes Eliten­ bewusstsein verbindet sich sozialgeschichtlich mit kollektiven Aufstiegserfahrungen der entsprechenden Berufsgruppen bzw. Sozialmilieus oder der sozialen Nähe zu den herrschenden politischen oder ökonomischen Eliten. In ihrer übergroßen Mehrheit übernahmen sie ein entsprechend herrschaftskonformes Bild der zeitgenössischen sozialen Welt. Radikale Sozialkritik fand in ihren Reihen entsprechend wenig Anklang. 5. Es existiert ein eklatanter Widerspruch zwischen der Vorherrschaft idealistisch geprägter Sozialphilosophien und den deterministisch, ja materialistisch eingefärbten Fachkulturen. Jenseits der offiziellen Sozialdoktrinen der politischen Gruppierungen  – seien es nun Solidarismus, katholische Soziallehre oder Reformsozialismus  – artikulierten sich in den anwendungsorientierten neuen Disziplinen unterschiedliche Formen eines sozialtechnokratischen Szientismus, der Affinitäten zu deterministischen Kausalerklärungen und elitenfixierten Handlungsmodellen aufweist: Zwar ist das Gewicht eines genuinen Sozial­darwinismus eher schwach, doch führen aus den eigenen nationalen Traditionen gespeiste Vererbungs- und Degenerationstheorien zu ganz ähnlichen Einschätzungen. Hier lässt sich die Spur eines autoritären Szientismus erkennen, der die sozialen Ansprüche der noch marginalen neuen Sozialexperten artikulierte, dem jedoch auf der Ebene der politischen Ideologien die Dominanz des Liberalismus enge Grenzen zog, wenn es um die Formulierung gesamtpolitischer Positionen ging. 6. Dieser Widerspruch wird auch dadurch abgemildert, dass die determi­ nistischen Theorien und autoritären Handlungsanweisungen vor allem sozial marginale und deviante Gruppen der französischen Gesellschaft betrafen. Deterministisch-positivistische und neo-idealistische Tendenzen existieren in diesem 315

Sinn friedlich nebeneinander. Im intellektuellen Feld lässt sich eine vor allem sozial motivierte Arbeitsteilung zwischen den epistemischen Gegensatzpaaren der zeitgenössischen Wissenschaftskultur beobachten: Moralisch und kulturell unerwünschten »Massenphänomen« wurde mit dem Begriffsinstrumentarium und den Handlungsrezepten der neuen Sozialwissenschaften begegnet – Phäno­ mene wie Kultur und Kunst, Fragen der politischen und sozialen Ordnung hatten eine höhere Dignität: Idealismus und methodischer Individualismus gewannen hier ebenso an Bedeutung wie die im politisch-religiösen Spektrum entgegengesetzten Modelle von Lebensphilosophie und katholischer Soziallehre. Entsprechend fremd blieb den pragmatischen Sozialexperten die antibürgerliche Kulturkritik der künstlerischen Moderne – diese beiden Avantgarden der intellektuellen Modernität lebten auch in Frankreich in unterschiedlichen Welten.

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12. Die Pariser Universität unter deutscher Besatzung (1940–1944)

Vier Studienjahre wurde in Paris ein scheinbar normales Universitätsleben im Schatten der deutschen Besatzer weitergeführt. So lässt sich knapp die Grundkonstellation beschreiben, in der sich die fünf Fakultäten der Universität Paris zwischen dem Herbst 1940 und dem Sommer 1944 befanden. Sieht man von den fünf Wochen zwischen dem 13. November und dem 20. Dezember 1940 ab, als der Militärbefehlshaber nach einer verbotenen Schüler- und Studentendemonstration vor dem Grab des unbekannten Soldaten am Tag des Waffenstillstands von 1918, dem 11. November, die Pariser Hochschulen schließen ließ, lief der Lehrbetrieb im gesamten Zeitraum weitgehend ungestört weiter.1 Studenten wie Dozenten der mit Abstand größten französischen Universität arbeiteten wie üblich weiter und dies trotz der zahlreichen Beeinträchtigungen, die das deutsche Besatzungsregime in Verbindung mit dem neuen politischen Autoritäten in Vichy mit sich brachte.2 Diese Einschränkungen reichten vom Mangel an Papier für wissenschaftliche Publikationen über die Verschlechterung der Ernährungslage der Studenten bis hin zur politischen Zensur.3 Lehre und Forschung liefen auch weiter, als nach dem Judengesetz vom 3. Oktober 1940 die meisten jüdischen Dozenten die Universität verlassen mussten und als im darauf­folgenden Studienjahr Zulassungsbeschränkungen für jüdische Studenten eingeführt wurden. Die Kontinuität des Universitätslebens ist bereits an den Studentenzahlen ablesbar: Am 31. Dezember 1941 waren 27.600 Studenten immatrikuliert, am 14. Januar 1944 waren es 32.587. Zum Vergleich: Im letzten Vorkriegsjahr (1938/1939) hatte die Hochschulstatistik 35.203 Immatrikulierte 1 Vgl. zum Hergang: Archives Nationales Paris (im Folgenden abgekürzt: AN) AJ 401465 6. Académie de Paris; J. Carcopino, Souvenirs de sept ans, Paris 1953, S. 209 ff. 2 Vor dem Krieg studierte gut die Hälfte aller französischen Studenten in Paris; während des Krieges verschoben sich erstmals die Studentenzahlen eindeutig zugunsten der Provinzuniversitäten, dort waren 1942 61 % der Studierenden immatrikuliert. V. Karady, Les universités de la Troisième République, in: J. Verger (Hg.), Histoire des universités en France, Toulouse 1986, S. 323–365, hier S. 334. 3 Zunächst einmal überwachte die direkt Goebbels unterstehende Propagandaabteilung des Militärbefehlshabers in Frankreich das französische Verlagswesen nur indirekt; ab dem Frühjahr 1942 wurde die Zuteilung von Papier für Publikationsvorhaben abhängig von deren Genehmigung durch die vier Propagandastaffeln. Diese direkte Form der Vorzensur ließ der wissenschaftlichen Publizistik weiterhin viel Freiraum, sofern besatzungsfeindliche Stellungnahmen vermieden wurden und jüdische Autoren unentdeckt blieben; vgl. N. Z. Davis, Censorship, Silence and Resistance: The Annales during the German Occupation of France, in: Litteraria Pragensia, Jg. 1, 1991, S. 13–23.

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gezählt. Allein die Zahl ausländischer Studenten, an der Sorbonne mit gut 14 % traditionell hoch, ging in den Kriegsjahren drastisch zurück.4 Auch das Prüfungswesen erlebte keine dramatischen Einbrüche oder Schwankungen. Die Bewahrung der Institution trotz dieser Zugriffe sowohl der deutschen Besatzer als auch der neuen politischen Autoritäten in Vichy stand eindeutig im Mittelpunkt der Initiativen, die die Repräsentanten der Universität Paris zwischen 1940 und 1944 unternahmen. Im Schatten des NS-Besatzungsregimes stand die Sorbonne wie die übrigen französischen Universitäten mit Ausnahme von Strasbourg (die in Clermont-Ferrand um ihr Erbe und ihr Überleben kämpfte)5 auch deshalb, weil die nationalsozialistische Kulturpolitik im besetzten Frankreich ihnen nur wenig Aufmerksamkeit schenkte, sondern stattdessen mehr Arbeit und Geld in erfolgversprechendere Initiativen im Bereich von Literatur, Theater, Kunst und Musik investierte.6 Angesichts dieser ambivalenten Stellung ist ein Großteil der Universitäts­ geschichte jener Jahre in einer Grauzone zwischen Kollaboration und Resistance angesiedelt. Dies mag mit dazu beigetragen haben, dass die Geschichte der Sorbonne nur wenig Aufmerksamkeit erregt hat, erst in neuesten Forschungen sind die universitären Zusammenhänge neu beleuchtet worden.7 Der vorliegende Aufsatz unternimmt den Versuch, die Grundlinien der institutionellen und politischen Entwicklung der Pariser Universität darzustellen: Hier haben die dramatischen Kriegsereignisse am ehesten Spuren hinterlassen. Die Geschichte der wissenschaftlichen Arbeit in den einzelnen Disziplinen an der Sorbonne ist, soweit das beim gegenwärtigen Stand der Forschungen überhaupt zu überblicken ist, aufgrund der gerade dargelegten Grundsituation kaum durch die Zäsuren dieser vier Jahre unterbrochen oder in wesentlich andere Richtungen gelenkt worden. Das Gewicht der Kontinuitäten soll wenigstens am Beispiel der Geschichtswissenschaft aufgezeigt werden.

4 Zahlen aus: Annales de l’université de Paris, Jg. 15, 1940, S. 330; AN F 17 13361. 5 Zur besonderen Situation der Universität Strasbourg vgl. L. Strauss, L’université de Strasbourg repliée. Vichy et les Allemands, in: A. Gueslin (Hg.), Les facs sous Vichy. Colloque des Universités de Clermont-Ferrand et Strasbourg – Novembre 1993, Clermont-Ferrand 1995, S. 87–112. 6 Zur deutschen Kulturpolitik und zur kulturellen Entwicklung unter dem Vichy-Regime vgl. G. Hirschfeld u. P. Marsh (Hg.), Kollaboration in Frankreich. Frankfurt 1991 (Oxford 1989); P. Burrin, La France à l’heure allemande 1940–1944, Paris 1995, S. 329–362; J.-P. Rioux (Hg.), La vie culturelle sous Vichy, Bruxelles 1990; E. Michels, Das Deutsche Institut in Paris ­1940–1944, Stuttgart 1993; Y. Menager, Aspects de la vie culturelle en France sous l’occupation allemande, in: C. Madajczyk (Hg.), Inter arma non silent musae. The war and the culture 1939–1945, Warschau 1977, S. 367–420; G. Sapiro, La raison littéraire. Le champ littéraire français sous l’occupation (1940–1944), in: Actes de la recherche en sciences sociales, Jg. 111–112, 1996, S. 3–35. 7 C. Singer, Vichy, l’Université et les Juifs. Les silences et la mémoire, Paris 1992; Gueslin, Vichy.

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I. Die Sorbonne und die Hochschulpolitik von Vichy Das deutsche Besatzungsregime in Frankreich arbeitete als »Aufsichtsverwal­ tung«, und dementsprechend lagen die Kompetenzen für die Gestaltung des Hochschulwesens nach dem Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich in Vichy. Die deutschen Stellen griffen, wie wir noch sehen werden, in wichtige Personalentscheidungen ein, so wenn es um die Besetzung von Rektorenstellen ging, und mischten sich auch in die Anwendung der französischen Judengesetze ein; doch blieb die Gestaltung des Hochschulwesens in der Hoheit des Etat français: Insbesondere die inhaltliche Ausgestaltung und institutionelle Reformen des Universitätssystems waren im gesamten Zeitraum in französischen Händen. Diese Tatsache gab der Sorbonne zunächst einmal einen gewissen Handlungsspielraum und versprach Sicherheit vor brutalen Eingriffen des Siegers, dessen rassistische Ideologie von den meisten Universitätsmitgliedern abgelehnt wurde. Doch es stellte sich bald heraus, dass auch der Regimewechsel in Frankreich Gefährdungen für die Pariser Universität mit sich brachte. Sie war in Verfassung wie Geist aufs engste mit der Dritten Republik verbunden.8 Zusammen mit dem Collège de France stand die Sorbonne unangefochten an der Spitze der öffentlichen Wissenschaftskultur und hatte wichtige Repräsentationsaufgaben für das offizielle Frankreich übernommen: Sie war in den verschiedensten Formen Botschafterin des offiziellen Laizismus, der universalistischen Werte der Aufklärung, des Raffinement der Nationalkultur und der Errungenschaften der französischen Zivilisation geworden.9 Nach dem moralischen und intellektuellen Debakel, das die militärische Niederlage 1940 für viele Zeitgenossen auch darstellte, läutete die Stunde der Kritiker und Reformer. Hinter den militärischen Versäumnissen wurden von vielen die bildungspolitischen Defizite entdeckt. Radikale Kritik am Bildungswesen und Wissenschaftsbetrieb hatte Konjunktur  – typischerweise in beiden sich formierenden Lagern der Kollaboration wie der Résistance.10 In Vichy gewannen Militär, Verwaltung und 8 Die modernen französischen Universitäten sind – dies darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden – Kinder der Bildungsreformen der Dritten Republik. Erst die Gesetze von 1883, 1885 und 1896 etablierten wieder die Universitäten als Zusammenschluss der Fakultäten und schufen die rechtlichen Grundlagen für ihre begrenzte Finanzautonomie und ihre Selbstverwaltung. Zum Gesamtkomplex der Universitätsgeschichte der Dritten Republik vgl. Karady, Universités; G. Weisz, The Emergence of Modern Universities in France, 1863– 1914, Princeton 1983; C. Charle, La république des universitaires 1870–1940, Paris 1994. 9 Charle, République, S. 343–398. 10 Während einhellig die starke Betonung von Wissensvermittlung und der rationalistische Wissenschaftskult kritisiert wurden, gingen die Meinungen bei der Bewertung der beiden konkurrierenden Grundformen des französischen Hochschulwesens, Universitäten und Grandes Ecoles, diametral auseinander. Sowohl in Vichy wie in der Résistance fanden sich Stimmen, die sich für eine tiefgreifende Reform und eine Aufwertung der Universitäten, zumal der Provinzuniversitäten, durch Abschaffung der Grandes Ecoles aussprachen. Beispiel für diese Gemeinsamkeiten der Reformideen über die Gräben der politischen Lager

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katholische Kirche an Einfluss auf die Bildungspolitik. Alle drei standen der Pariser Hochschule eher skeptisch gegenüber – zumal diese Milieus vorrangig mit anderen Einrichtungen des französischen Hochschulsystems (den katholischen Hochschulen, der Ecole polytechnique sowie der privaten Ecole libre des ­sciences politiques) verbunden waren. Die Sorbonne – voran deren geisteswissenschaftliche Fakultät – galt in nationalistischen Kreisen aufgrund der liberalen Grundströmung als politisch unzuverlässig. Sie wurde vor allem von Seiten der Militärs der pazifistischen Unterwanderung des nationalen Verteidigungswillens geziehen,11 und ihre enge organisatorische, personelle wie ideologische Verzahnung mit dem laizistischen Schulsystem machte sie auch zum Angriffspunkt für konservative Katholiken.12 Mit Pétain hielten auch wissenschaftspolitische Ideen und Intellektuelle in Vichy Einzug, die aus dem nationalkonservativen bzw. rechten Spektrum stammten bzw. mit ihm durch gemeinsame Mitgliedschaft in kulturkonservativen Institutionen, voran den im Institut de France zusammengefassten Akademien mit der Académie française an der Spitze, verbunden waren.13 Einige und zudem einflussreiche neue Männer in der Bildungsadministration Vichys hatten in den dreißiger Jahren dem rechtskonservativen Cercle Fustel de Coulanges angehört, der in schärfster Front­ stellung zur Volksfrontregierung und zu deren Intellektuellenkreisen (ligue des droits de l’homme, comité de vigilance) stand.14 Viele dieser nationalkonservativen Literaten und Gelehrten hatten den Prestigegewinn der Sorbonne seit den Reformen am Ende des Jahrhunderts und seit der scharfen Konfrontationen der Dreyfus-Affäre als Bedrohung der eigenen Stellung empfunden.15 hinweg sind die Überlegungen Marc Blochs in der Résistance-Zeitschrift Cahiers politiques und Reformpläne im Ministerium Bonnards; M. Bloch, Sur la réforme de l’enseignement (1944), abgedruckt in: ders., L’étrange défaite. Témoignage écrit en 1940, Paris 1990, S. 254–268; Dossier Mouraille in: Papiers Bonnard AN AF 13361; vergleichend zu den Leitideen: S. Rials, L’administration de l’enseignement de 1936 à 1944, in: P. Bousquet u. a., Histoire de l’administration de l’enseignement en France 1789–1981, Paris 1983, S. 57–106; J.-F. Muracciole, Les projets de la France libre et de la Résistance en matière de réforme de l’enseignement supérieur, in: Gueslin, Vichy, S. 237–249. 11 So wurde zur Vorbereitung des politischen Prozesses von Riom gegen die »Verantwortlichen« der Niederlage von Seiten der Militärs im Spätsommer 1941 ein Untersuchungsverfahren über die Verantwortlichkeiten der Lehrerschaft sowie der Professoren des öffentlichen Bildungswesens angestrengt. Der damalige Erziehungsminister wehrte sich erfolgreich gegen das Vorhaben und verwahrte sich gegen die unterschwellige Kollektivschuldthese. Carcopino, Souvenirs, S. 373. 12 Diese enge Verzahnung ergab sich vor allem durch die zahlreichen Aufgaben, die die Universitäten für das Zentralabitur und die Wettbewerbsprüfung der Lehramtskandidaten (concours de l’agrégation) übernommen haben. Die 17 von der Regierung ernannten Rektoren der Universitäten waren zugleich auch für die Leitung des zugehörigen Schulaufsichtsbezirks (académie) zuständig. 13 Rials, L’administration, S. 71–77. 14 So die beiden Erziehungsminister A. Rivaud u. A. Bonnard; zum Cercle Fustel de Coulanges siehe: E. Weber, L’Action française, Paris 1962, S. 269 ff. 15 C. Charle, Naissance des intellectuels, Paris 1990.

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Die Gleichsetzung der Pariser Hochschule mit den Intellektuellen der Linken, von den Linksliberalen bis zu den Kommunisten, entsprach keineswegs den realen politischen Kräfteverhältnissen in den fünf Pariser Fakultäten Ende der dreißiger Jahre; ganz im Gegenteil kann man eine eher gemäßigt konservative, sich selbst als »apolitisch« verstehende Mehrheit ausmachen, deren Gewicht zumal in den drei Fakultäten der Rechtswissenschaften, der Pharmazie und der Medizin sehr stark war.16 Ganz in Übereinstimmung mit der autoritären Neuorientierung des Regimes wurden zunächst die Wahlen zu den Selbstverwaltungsgremien der Universitäten unter den Bedingungen des Waffenstillstandes ausgesetzt. Rachegefühle und Ressentiments der Vergangenheit konnten sich vor allem in den politischen Säuberungen ausleben, mit denen die neuen Machthaber Sündenböcke für das moralische und intellektuelle Debakel der Niederlage suchten und gleich­zeitig alte politische wie weltanschauliche Gegner ausschalteten. Die im Sommer und Herbst 1940 ausgesprochenen Berufsverbote im öffentlichen Dienst knüpften dabei bereits an Maßnahmen an, die seit 1938 von der Regierung Daladier mit dem ausdrücklichen Ziel ergriffen worden waren, regimekritische und national unzuverlässige Kräfte aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Davon waren zunächst Aktivisten der Streiks im öffentlichen Dienst und Kommunisten betroffen gewesen. Vichy erweiterte den Kreis der Opfer beträchtlich, indem es Juden und Freimaurer auf die Säuberungslisten setzte.17 Die Judenpolitik Vichys betraf in besonderem Maße das Bildungswesen – der Ausschluss jüdischer Lehrer aus Schulen und Hochschulen war eine der Sofortmaßnahmen, mit denen das Regime den antisemitischen Ressentiments in den eigenen Reihen ebenso nachkam wie es in vorauseilendem Gehorsam die Wünsche der deutschen Besatzer erfüllte. Die Entlassung bzw. Zwangspensionierung jüdischer Dozenten markierte zweifellos den tiefgreifendsten Einschnitt Vichys in der Hochschul­ politik. Professoren jüdischer Abstammung hatten einen festen Platz im reformierten Wissenschafts- und Bildungssystem der Dritten Republik eingenommen. Antisemitische Tendenzen waren zwar auch im französischen Universitätsmilieu vorhanden, aber in deutlicher Minderheitsposition geblieben. Der neue Anti­semitismus aus Staatsräson wurde denn auch als eine »kalte« Verwaltungsmaßnahme vollzogen, die die Opfer wie deren Kollegen weitgehend unvorbereitet traf.18 Singer kommt in seiner Studie zu Vichys Judenpolitik

16 Charle, République, S. 291–343. 17 Grundlage dieser Säuberungen im öffentlichen Dienst waren fünf Gesetze, die im Sommer und Herbst 1940 erlassen wurden: Am 17. Juli 1940 das Gesetz, das die Amtsenthebung politischer Beamter ohne Angabe von Gründen erlaubte; am 30.7.1940 folgte das Berufsverbot für Beamte nichtfranzösischer Herkunft; am 13.8.1940 erging das Berufsverbot für Freimaurer; am 3.10.1940 wurde das Berufsverbot für Juden erlassen, am 11.10.1940 erging die Berufsbeschränkung für Frauen, insbesondere verheiratete Frauen. 18 Das Gesetz sah Ausnahmeregelungen für Kriegsteilnehmer und solche Professoren vor, die sich in »besonderem Maße Verdienste für die Nation« erworben hatten. Diese Sonder­

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an den Hochschulen zu dem Ergebnis, dass der Verweis auf den klar erkennbaren politischen Willen des NS-Regimes von den Verantwortlichen gern als notwendige Begleiterscheinung der Niederlage dargestellt und die antisemitischen Maßnahmen von Betroffenen wie Zuschauern im Universitätsmilieu zum Teil auch so wahrgenommen wurden. Im gesamten Universitätsbereich wurden 140 Dozenten, etwa zehn Prozent des gesamten Lehrpersonals, mit Berufsverbot belegt,19 an der Universität Paris umfasste die Gruppe der vom Dienst Suspendierten bzw. Zwangspensionierten mindestens 35 Dozenten und Professoren. Legt man die für den November 1943 belegte Gesamtzahl von 494 wissenschaftlichen Mitarbeitern an der Sorbonne zugrunde, ergibt dies einen Anteil von sieben Prozent.20 Der nächste Schritt der antisemitischen Gesetzgebung im Hochschulwesen traf die Studenten jüdischer Herkunft. Im Sommer 1941 wurde für sie ein allgemeiner Numerus clausus eingeführt. Jede Hochschule durfte mit Beginn des Studienjahrs 1941/1942 nicht mehr als drei Prozent jüdischer Studenten immatrikulieren, zudem wurde in Weiterführung der im Judengesetz des Vorjahres ausgesprochenen Berufsverbote für den öffentlichen Dienst jüdischen Studenten auch die Zulassung zu den staatlichen Lehramtsprüfungen verwehrt. In den Lehramtsfächern standen damit allein noch die Universitätsdiplome den jüdischen Studenten offen.21 An den Pariser Fakultäten führte dies dazu, dass im Studienjahr 1941/1942 von den 564 jüdischen Studienbewerbern nur 470 zugelassen wurden. Die Drei-Prozent-Klausel fand auf Fakultätsebene Anwendung und faktisch traf die Maßnahme allein Bewerber in der geisteswissenschaftlichen (13) und in der medizinischen Fakultät (51 Bewerber).22 Diese antisemitischen Maßnahmen Vichys wurden von allen Kräften des­ Regimes mitgetragen. Auch die Vertreter einer liberalen Hochschulpolitik akzeptierten sie als notwendige Zugeständnisse an das NS-Besatzungsregime und

regelung für renommierte Wissenschaftler jüdischer Herkunft spielte an der Sorbonne eine große Rolle. Darunter sollten laut Erlassen von Vichy 14 Pariser Hochschullehrer fallen. In allen Fällen legten die deutschen Besatzer ihr Veto ein, so dass die Betroffenen nur durch Wechsel an eine Hochschule im unbesetzten Teil Frankreichs weiter ihren Beruf ausüben konnten. AN AJ 40/455 und Singer, Vichy, S. 203. 19 So die Zahlen bei P. Gerbod, L’épuration du personnel enseignant des facultés de L’Etat (1944–1950), in: Gueslin, Vichy, S. 251–259, hier S. 251. 20 Vorläufige eigene Berechnungen auf der Grundlage von Singer, Vichy, sowie den Kurz­ biographien in: C. Charle, Les professeurs de la faculté des lettres de Paris. Dictionnaire biographique. Bd. 2: 1909–1939, Paris 1986; ders. u. E. Telkes, Les professeurs de la faculté des sciences de Paris. Dictionnaire biographique, 1901–1939, Paris 1989. Die Gesamtzahl von 494 Dozenten findet sich in einer Erhebung der Universität Paris für den SD aus dem Jahre 1943. AN AJ 40/566. 21 Diese Zulassungsbeschränkungen wurden in der Regel »liberal« gehandhabt. Vielfach verwies die Hochschulverwaltung überzählige jüdische Studenten auf die Möglichkeit, zunächst als »freie Hörer« ihr Studium weiterzuführen: Singer, Vichy, S. 121. 22 AN F 17 13361.

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beteiligten sich an der Umsetzung.23 Gegen weitergehende Pläne zur Umgestaltung der Hochschulen bildete diese Gruppe jedoch eine einflussreiche Vetomacht. Es waren vor allem Hochschulexperten aus der Bildungsverwaltung und Universitätsmitglieder,24 die über den politischen Regimewechsel für eine erstaunliche Kontinuität in der Hochschulverwaltung und -politik sorgten. Nach Herkunft und politischer Motivation umfasste dieser Kreis ein recht weites Spektrum von nationalkonservativen bis zu linksliberalen Positionen. Sie waren politisch häufig weniger exponiert als ihre Gegner und standen in der Regel auch in größerer Distanz zum deutschen Besatzer. Wichtige Entscheidungen dieser Zeit führten Reformen fort, die bereits in der Bildungspolitik der Volksfrontregierung unter dem langjährigen radikalsozialistischen Bildungsminister Jean Zay eingeleitet worden waren.25 Als wichtigste Einzelmaßnahmen sind hier die Gründung und der Ausbau des Centre National de la Recherche scienti­ fique zu nennen, mit dem vor allem für die jüngeren Pariser Universitäts­ angehörigen neue Arbeitsplätze und Forschungsressourcen weit über die in der Zwischenkriegszeit gegründeten Universitätsinstitute hinaus zur Verfügung gestellt wurden.26 In die gleiche Richtung zielte die Einrichtung von Hochschulassistenzen an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten.27 Schließlich setzte die Hochschulpolitik von Vichy ähnlich wie das Ministerium J. Zay, nur mit zum Teil anderen ideologischen Begründungen,28 den gleichen Akzent auf eine 23 Dies gilt insbesondere für den Sorbonne-Professor für Alte Geschichte, Jerôme Carcopino, der als kommissarischer Rektor der Akademie Seine und Universität Paris, vom 13.11.1940 bis zum 22.2.1941, dann bis zum 18.4.1942 als Erziehungsminister mit einer strengen Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen den deutschen Wünschen entgegenkam und gleichzeitig durch eine gezielte Personalpolitik einzelnen Opfern zu helfen bereit war. 24 Das Gewicht dieser Gruppe in der Bildungsverwaltung für die Kontinuitäten über die politisch-militärische Zäsur 1940 hinweg zeigt: Rials, L’administration. Diese Kontinuität ist z. B. 1942 erkennbar an der großen Zahl von Rektoren (12 von 17), deren Amtszeit bis in die Jahre der Volksfrontregierungen und früher zurückreichte. Für unser Thema von Bedeutung ist, dass mehrere Pariser Professoren in Vichy hohe politische Ämter übernahmen, die Juristen Rivaud und Ripert und der Althistoriker Carcopino wurden Erziehungsminister, der Jurist Barthélemy Justizminister. Weiterhin sind allein sechs Mitglieder der Pariser rechtswissenschaftlichen Fakultät in den Conseil National, das mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beauftragte Gremium, berufen worden. Die beiden Ökonomen dieser Fakultät, Perroux und Pirou, waren Mitglieder in der Commission de réorganisation économique. M. Cointet, Les juristes sous l’occupation. La tentation du Pétainisme et le choix de la Résistance, in: Gueslin, Vichy, S. 51–64. 25 Vgl. Rials, L’administration, S. 84–87; zu Zay: M. Ruby, La vie et l’œuvre de Jean Zay, Paris 1967. 26 Zur Weiterentwicklung des Centre national de la recherche scientifique: s. J.-F. Picard, La République des Savants. La recherche française et le CNRS, Paris 1990, S. 61–89. 27 Gesetz vom 13.5.1942: zahlenmäßig wurde damit die Gesamtzahl von assistants-Stellen nur um 10 % erhöht. Die philosophische Fakultät der Sorbonne erhielt immerhin zehn der 30 neugeschaffenen Stellen. Papiers Bonnard AN AF 17 13361. 28 Unter Vichy gewann die Kritik an Fortschrittsdenken, Rationalismus, Intellektualismus und Individualismus  – als den vier wichtigsten Leitwerten der Bildungsprogramme der

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jugend- und sozialgerechtere Universität, indem sie den Hochschulsport förderte und die Sozialeinrichtungen an den Universitäten ausbaute. Damit tat sie zunächst einmal nichts anderes, als der Zunahme der Studentenzahlen  – zumal an der Sorbonne – und der veränderten sozialen Lage der Studenten nach der Abschaffung des Schulgeldes an den weiterführenden Schulen 1933 Rechnung zu tragen. So führte in Vichy kein direkter Weg vom Misstrauen und Ressentiment zur politischen Umgestaltung, zur Veränderung der Institutionen, den vor allem die radikaleren Kräfte forderten. Das Regime hat allein in den ersten sieben Monaten vier Erziehungsminister verschlissen, bevor dann zwischen Februar 1941 und September 1944 mit Carcopino und Bonnard zwei Amtsträger das Ressort leiteten. Das Spektrum ihrer politischen Optionen reichte vom nationalkonservativen Maurras-Anhänger Rivaud und dem zwischen Action Française und Nationalsozialismus schwankenden Hitler-Bewunderer Bonnard über den konservativen Katholiken Chevalier bis zu den gemäßigten Liberalen Mireaux, Ripert und Carcopino.29 Unter den drei erst Genannten kam eine Politik zum Zuge, die von Misstrauen gegenüber der politischen Loyalität der Pariser Hochschule bestimmt war und die Methode autoritärer Kontrolle und ministerieller Nadelstiche gegen die etablierten Autonomierechte bevorzugte. Diese Einschränkungen der Hochschulautonomie waren auch als erste Schritte hin zu einer tiefgreifenden Reform des Hochschulwesens gedacht. Chevalier war nicht lang genug im Amt (13. Dezember 1940 bis zum 22. Februar 1941), um mehr zu bewirken, als die Selbstverwaltungsrechte der Hochschulen einzuschränken, Bonnard hatte bereits dringendere Sorgen und zugleich andere bildungs­ politische Vorlieben, so dass auch seine Amtsperiode vor allem durch politisch-ideologische Einzelmaßnahmen gekennzeichnet blieb.30 Dadurch, dass mit Carcopino in der ersten, noch von breiter Zustimmung getragenen und von Illusionen über die Chancen der Kollaboration markierten Phase des VichyRegimes ein Mitglied der Pariser Alma Mater die Hochschulpolitik bestimmte, wurden zweifellos wichtige Weichenstellungen getroffen, die dafür sorgten, dass Kontinuität und Attentismus in diesem Sektor bis zum Zusammenbruch der Kollaboration die Oberhand behielten. Der Pariser Althistoriker verfolgte einen liberalen hochschulpolitischen Kurs, der die Kontinuität der Institutionen betonte und einige Reformmaßnahmen ergriff, die zum einen pragmatische Anpassungen anstrebten, zum andern bildungskonservative Kurskorrekturen vornahmen.31 Apolitische bzw. politikferne Elitenausbildung und Intensivierung der Forschungsarbeit waren dabei die zentralen Leitbilder seiner Hochschul­ Dritten Republik entsprechendes Gewicht, konnte sich aber keineswegs im Hochschul­ bereich durchsetzen; vgl. Rials, L’administration, S. 84–89. 29 Kurze biographische Porträts aller Minister in Rials, L’administration S. 61–66. 30 Zu den Maßnahmen, die die Sorbonne betrafen, siehe unten. 31 Zu Carcopino vgl. Rials, L’administration, S. 68 f.; S. Israel, Jérôme Carcopino, directeur de l’école normale supérieurs des années noires, in: Gueslin, Vichy, S. 157–168; sowie dessen Rechtfertigung und Selbstzeugnis in: Carcopino, Souvenirs.

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politik. Für die Sorbonne stellte er bei seinem Amtsantritt mit der Wählbarkeit des stellvertretenden Rektors den Status quo ante wieder her. Typischerweise nutzte Carcopino seinen Wechsel von der Leitung der Ecole normale supérieure ins Ministerium um alte Reformpläne in die Tat umzusetzen, die die Unabhängigkeit der Eliteschule von der Sorbonne stärken sollten.

II. Die Universität Paris und die deutschen Besatzer »Weder Hinderung noch Förderung« so hatte auf Rückfrage der zuständigen Abteilung des Militärbefehlshabers der Reichsminister Rust am 6. September 1940 so lakonisch wie unentschlossen die politische Leitlinie umschrieben, als er von Best aufgefordert wurde, die Richtlinien zu umreißen, die die Aufsichtsverwaltung der deutschen Besatzer künftig gegenüber den französischen Hochschulen verfolgen sollte.32 Diese Formel Rusts wurde nun in der Tat die Handlungsmaxime eines Akteurs der deutschen Besatzung, der Abteilung 4 »Schule und Kultur« des Militärbefehlshabers in Frankreich.33 Das Interesse der Militärverwaltung konzentrierte sich dementsprechend auf den sicherheitspolitischen Aspekt im engeren Sinne: »Deutschfeindliche« Handlungen wie politische Demonstrationen und Proteste oder Propaganda für de Gaulle und andere Widerstandsgruppen sollten unterbleiben. Nach dem als Exempel gedachten scharfen Vorgehen im November 1940 diente die Drohung mit der Schließung als probates Druckmittel gegenüber den Repräsentanten der Pariser Universität, um eine Kooperation im Vorgehen gegen politische Aktionen von Studenten und Dozenten gegen die Besatzer zu erzwingen, aber auch um vorrangige Ziele der deutschen Besatzungs32 AN AJ 40/566 Aktennotiz Sudhoff an Dr. Best vom 25.8.1940. Die Vorlage, die der ministeriellen Entscheidung zugrunde lag und von Best gebilligt war, ist gerade in vergleichender Perspektive aufschlussreich: »Die Frage ist nun: Haben wir an der Wiedereröffnung der Hochschulen ein besonderes Interesse?« Der Verfasser zieht gleich die Situation in Polen und der früheren Tschechoslowakei zum Vergleich heran: »Wir haben in diesen Gebieten kein Interesse an der Ausbildung des akademischen Nachwuchses, der sich uns gegenüber feindlich einzustellen pflegt. Die gleichen Argumente können auch für Frankeich ins Feld geführt werden. Frankreich wird nun zwar in Zukunft in einem anderen Verhältnis zum großdeutschen Reich stehen als die erwähnten Ostgebiete. Es ist daher meines Erachtens vielleicht am Platz, die Arbeit der französischen Hochschulen nicht zu unterbinden, ihr aber auch von Seiten der deutschen Besatzungsbehörden keine besondere Förderung zuteilwerden zu lassen.« ­ aris 33 R. Thalmann, La mise au pas. Idéologie et stratégie sécuritaire dans la France occupée, P 1991; U. Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, Bonn 1996, S. 251–322; Burrin, France, S. 92–104; H. Umbreit, Der Militärbefehlshaber in Frankreich 1940–1944, Boppard 1968, enthält anders als der Titel vermuten lässt, keine weiteren Informationen zum Bereich »Kultur und Schule«, sieht man von den Organisa­ tionsplänen und Personalverzeichnissen der Verwaltungsstäbe im Anhang einmal ab.

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politik wie die Einführung antisemitischer Maßnahmen voranzutreiben. Diese besatzungspolitische Linie verfolgte keine eigenständigen hochschulpolitischen Ziele. Der nationalkonservative Stab im Hotel Majestic, dem Sitz des Militärbefehlshabers in Paris, hatte viel zu großen Respekt vor den Kulturleistungen Frankreichs und ihren Repräsentanten, um an diesem Punkt Initiativen ergreifen zu wollen.34 Als zweiter Gesichtspunkt kam hinzu, dass nach Einschätzung des deutschen Geheimdienstes und deutscher Berichterstatter die Einstellung der meisten Studenten und Dozenten der Pariser Universität unentschieden abwartend war und ein scharfes Vorgehen nur die politischen Gegner einer wie auch immer begrenzten deutsch-französischen Kollaboration stärken würde. Keine »Märtyrer« zu schaffen, blieb bis zum Rücktritt Otto von Stülpnagels am 15. Februar 1942 Leitlinie der »sicherheitspolitischen« Maßnahmen auch im Universitätsbereich.35 Doch der Verwaltungsstab des Militärbefehlshabers in Frankreich bestimmte nicht allein die Reichweite deutscher Sicherheitsinteressen an der Sorbonne. Bereits im Vorfeld der verbotenen Demonstration vom 18. November 1940 hatte sich der Sicherheitsdienst für das Pariser Universitätsleben interessiert, war mit der eigenmächtigen Verhaftung des bekannten Professors für Physik am Collège de France und exponierten Linksintellektuellen der dreißiger Jahre, Paul L ­ angevin,36 am 30. Oktober vorgeprescht und hatte Proteste vor allem in den Reihen kommunistischer Studenten und Dozenten hervorgerufen, die wiederum eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung zur verbotenen Demonstration am 11. November spielten. An dieser ersten Konfrontation zwischen deutschen Besatzungsbehörden und Universität ist bereits erkennbar, dass »deutsche Sicher­ heitsinteressen« von den beiden anderen Gruppierungen der Besatzungsmacht neben dem Stab des Militärbefehlshabers, nämlich von SD / SS und Deutscher Botschaft, viel umfassender definiert wurden. Indem sie jüdische, kommunistische und antifaschistische Dozenten pauschal als Sicherheitsrisiko für die Besatzungsmacht darstellten, erweiterten Botschaftskreise und SS / SD-Verantwortliche in Paris frühzeitig den Kreis derer, die als »deutschfeindlich« definiert wurden und damit auf die Beobachtungs- und später auch Verhaftungs­listen der NS-Besatzer und der Vichy-Polizei gerieten. Typischerweise versuchten Best und Abetz den Zwischenfall vom 11. November 1940 zu nutzen, um Druck auf die Verantwortlichen im Ministerium in Vichy und in der Pariser Universität

34 Vgl. die Schilderungen Carcopinos über den Respekt, den die Vertreter der Militärbehörden bis hin zu Stülpnagel ihm als Rektor der Universität Paris entgegenbrachten. Carcopino, Souvenirs, S. 211 f., S. 349. Zum elitär-nationalkonservativen Hintergrund des deutschen Personals vgl. W. Bargatzky, Hotel Majestic. Ein Deutscher im besetzten Frankreich, Freiburg i. Br. 1987; Herbert, S. 251–254. 35 Vgl. den SD-Lagebericht vom März 1941. AN AJ 40/557. 36 Zum Hintergrund s. B. Bensaude-Vincent, Langevin 1872–1946. Science et vigilance, Paris 1983.

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auszuüben und den Ausschluss jüdischer und »deutschfeindlicher« Professoren zu beschleunigen.37 Doch herrschte niemals Konsens darüber, wieweit die Eingriffe im Hochschulbereich jenseits der Judenverfolgung38 eigentlich gehen sollten, die mit diesem sicherheitspolitischen Argument verbrämt werden konnten.39 Die Vertreter Vichys und der Universität wurden jedenfalls nicht mit der Forderung nach weiterreichenden politisch-ideologischen Säuberungen in den Reihen der Dozentenschaft oder gar grundlegenden Reformen des Hochschulwesens konfrontiert,40 die Aufsichtsverwaltung beschränkte sich auf Einsprüche und Mitsprache bei Personalentscheidungen, während andererseits Botschaft und SD nur dann ihre weitgefasste Feinddefinition ins Spiel brachten, wenn akademische und universitäre Kreise direkt in die immerwährenden politischen Intrigen und Kabalen Vichys hineingerieten.41 Die »Sicherheits«politik von SD, SS und 37 Eine im November 1940 erstellte Liste umfasste immerhin 66 Namen von »jüdischen«, »deutschfeindlichen« bzw. »scharf deutschfeindlichen« Professoren der fünf Fakultäten der Pariser Universität, in: Thalmann, Idéologie, S. 354–361. Als Kriterien dienten vor allem neben Unterschriften auf antifaschistischen Aufrufen der dreißiger Jahre antideutsche Äußerungen in eigenen Schriften oder die Mitgliedschaft in Freimaurerlogen. In der abschließenden Verhandlung Stülpnagels mit dem kommissarischen Rektor der Akademie Paris, J. Carcopino, beschränkte sich die deutsche Seite jedoch auf die »Erwartung, dass das französische Judengesetz, das die Entfernung der Juden aus öffentlichen Lehrämtern vorsieht, restlos durch­geführt wird.« AN AJ 40/465. 38 Hier lagen denn auch die Einsprüche deutscher Stelle gegen Verordnungen und Gesetze­ Vichys. 39 Auch die von R. Thalmann als Beleg für weitreichende Zielsetzungen herangezogene großangelegte Kritik des RSHA vom Herbst 1943 an der bisherigen deutschen Kulturpolitik in Frankreich konzentrierte sich vor allem darauf, die Unfähigkeit der konkurrierenden Instanzen wie Propagandastaffeln, Deutsche Botschaft und Militärbefehlshaber deutlich zu machen. Konkrete Vorschläge entwickelte diese kritische Gesamtschau nicht, sondern sie beschränkte sich darauf, alle bisherigen Maßnahmen daran zu messen, ob sie der nationalsozialistischen Weltanschauung im besetzten Frankreich Anhänger und Freunde verschaffen konnte; zit. in: Thalmann, Idéologie, S. 132 f. 40 Immer wieder finden sich in den Lageberichten des Militärbefehlshabers Hinweise darauf, dass ein grundlegender Umbau des Bildungssystems gewünscht, aber realistischerweise davon ausgegangen wurde, dass diese Aufgabe von den Ministern Vichys, sei es aus man­ onnard), kaum gelndem politischen Willen (so bei Carcopino) oder aus Unfähigkeit (wie bei B zu bewältigen sei. Thalmann, Idéologie, S. 126; Aktennotiz Dahnke über Carcopino vom 10.9.1941. AN AJ 40/566. 41 So geriet z. B. frühzeitig das Collège de France ins Fadenkreuz der deutschen Beobachter, die zwischen November 1940 und Frühjahr 1941 hier den »Sammelpunkt deutschfeindlicher Umtriebe« zu verorten glaubten. AN AJ 40/566. Im April 1941 war die Vichy-freundliche Académie française in Verdacht geraten, nicht mehr treu zur Politik Pétains zu stehen.­ Pauschal erhob der SD, gestützt auf kollaborationistische Informanten in Paris, pauschal Vorwürfe gegen »Juden, Probolschewisten, Freimaurer, aber auch der Action française angehörende und nahestehende Kreise«. Bericht vom 19.4.1941 an den Beauftragten des Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdiensts für Belgien und Frankreich Dienststelle Paris. AN AJ 40/566.

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Militärbefehlshaber folgte seit dem Sommer 1941 an der Universität dem gleichen Muster wie im übrigen Paris: Gegen die Aktivitäten des Widerstandes sowie im Rahmen einer sich radikalisierenden »Judenpolitik« wurde auch im universitären Milieu Jagd auf Kommunisten, Résistance-Gruppen und Juden gemacht.42 Erfolge der deutschen Sicherheitskräfte gegen die Widerstandsgruppen im universitären Milieu sowie vorsorgliche Sicherheitsmaßnahmen vor dem 11.  November 1941 führten im Winter 1941/1942 zu mehreren Verhaftungen von linksgerichteten Hochschuldozenten und ersten Morden an Mitgliedern universitärer Widerstandsgruppen.43 Besonderes Aufsehen erregte Ende 1941 die Ermordung des Physikers Fernand Holweck, der während der Untersuchungshaft durch die Gestapo zu Tode gefoltert wurde,44 und im April 1942 die kurzfristige Verhaftung namhafter Pariser Gelehrter und Wissenschaftler.45 Im Hochschuljahr 1942/1943 blieb die Lage weitgehend ruhig. Übergriffe von Gestapo und französischer Polizei nahmen erst wieder zu, als die Verpflichtung zum Arbeitsdienst in Deutschland auch auf die Studentenschaft ausgedehnt wurde und es nun auch an der Pariser Hochschule die Erfassung der Jahrgänge 1920–1922 begann.46 Die meisten Opfer hatte die Pariser Universität denn auch in diesem letzten Studienjahr 1943/1944 zu beklagen. Den Repressalien der Besatzer und Kollaborateure fielen sieben Professoren zum Opfer.47 1945 kam eine Unter­ 42 Die Routine solcher Kontrollen lässt sich z. B. anhand einiger in den Akten festgehaltener Einzelfälle rekonstruieren: So teilte Botschaftsrat Theilen nach einem Gespräch mit dem Kabinettsdirektor des Erziehungsministers Bousquet dem Chef des SD Biederbick gleich die Namen der Professoren der Sorbonne mit, die im Gespräch als Gaullisten verdächtigt worden waren. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (im Folgenden abgekürzt als AA PA) Deutsche Botschaft Paris Bd. 1375 Brief Theilen an Biederbick vom 3.6.1942. 43 Für die Sorbonne wichtig wurde v. a. die kommunistische Widerstandsgruppe Front national universitaire um den Physiker Solomon und den Philosophen Politzer, die seit November 1940 die Untergrundzeitschrift Université libre publizierte. Beide wurden im März 1942 verhaftet und später erschossen. Auch nach den Verhaftungen arbeitete die Gruppe weiter und setzte die Publikation der Zeitschrift fort; dazu weiter unten. 44 Zu Holweck u. Salomon siehe: A la mémoire de quinze savants français lauréats de l’Institut assassinés par les allemands 1940–1945, Paris 1959. 45 Am 2.4.1942 wurden dreizehn Wissenschaftler offensichtlich als Geisel und zur Abschreckung kommunistischer Widerstandsaktionen aus den Reihen der Studentenschaft verhaftet, neben zahlreichen älteren Akademiemitgliedern wurden die Sorbonne-Professoren Caulléry (Faculté des sciences) und Lacau (Papyrologe, lettres) für vier Tage festgehalten, einige Tage später wurden die drei Professoren Vendryès, Ernout und Fawtier (alle drei Faculté de lettres) verhaftet. Fawtier wurde bis Jahresende in Fresnes in »Schutzhaft« gehalten; vgl. AN AJ 40/557. 46 Vgl. Papiers Abel Bonnard F 17 13382 STO: Nach den Angaben des Centre d’Entraide aux étudiants mobilisés et prisonniers war der Kreis von ihr erfasster Studenten jedoch nach wie vor klein: 31.12.1943 1.195 Studenten, 23.2.1944 1.834 Studenten. 47 Eugène Bloch, Physikprofessor und Leiter des Physiklabors der ENS, Georges Bruhat, Physikprofessor und stellvertretender Direktor der ENS, ermordet in Sachsenhausen, Maurice Halbwachs, Professor für Soziologie bzw. Kollektivpsychologie, ermordet in Buchenwald, Victor Basch, seit 1933 emeritierter Germanist der Sorbonne, ermordet von der Vichy-Miliz,

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suchung der geisteswissenschaftlichen Fakultät zu dem Ergebnis, dass fünf ihrer Dozenten und vierzehn ihrer Studenten von den Besatzern und ihren Helfern umgebracht worden seien.48 Die Gesamtzahl der der Universitätsangehörigen der Sorbonne, die Opfer des deutschen Besatzungsregime wurden, ist meines Wissens noch nicht ermittelt worden. Weiter als die »Sicherheits«interessen von SD und Wehrmacht gingen die Absichten der deutschen Botschaft in Paris. Abetz und seine Mitarbeiter entwickelten auch auf der Ebene der Wissenschaftspolitik Initiativen. Sie glaubten als langjährige Frankreich»experten« anders als viele ihrer Landsleute die Pariser Intellektuellenkreise gut zu kennen und deshalb Möglichkeiten zu besitzen, die Universitäten in eine neue sowohl germanophile wie nazifreundliche Richtung lenken zu können. Anders als sie in ihren Selbstrechtfertigungen nach dem Krieg glauben machen wollten, erwarteten sie dabei von Seiten der französischen Universität eine radikale Umorientierung und deutliche Zeichen der Unterordnung unter eine neue deutsche Wissenschaftshegemonie. Doch verfügten weder Abetz noch Epting und ihre Mitarbeiter über engere Kontakte zu namhaften Mitgliedern der Universität. So waren der akademischen Kooperation engste Grenzen gesetzt. Aus Sicht der deutschen Botschaft sollte sie eindeutig deutsche Positionen stärken und so blockierte sie jede Initiative, die zu einer Stärkung französischer Einflüsse im übrigen Ausland führten konnte. Dies betraf sowohl Gastvorträge ausländischer Wissenschaftler wie das Studium ausländischer Studenten an der Pariser Universität.49 Auch in den bila­ teralen Kontakten sah die deutsche Botschaft die Sorbonne bestenfalls als Juniorpartner der triumphierenden deutschen Wissenschaft des Dritten Reiches. So hatte denn die im Jahr 1941 im Deutschen Institut Paris organisierte Vortragsreihe zunächst einmal zum Ziel, die regimenahen Positionen der deutschen Wissenschaft in den ideologisch sensiblen Bereichen Gesundheitswesen (inklusive Rassenhygiene), Sozialpolitik und Staatswissenschaften zu präsentieren. Vorträge zur deutschen Literatur, Kunst und Geschichte rundeten das Programm ab. Diese Initiativen stießen jedoch auf wenig Resonanz im gesamten universitären Milieu von Paris. Angesichts der breiten Ablehnungsfront setzten Abetz und seine Mitarbeiter alle ihre Hoffnungen auf den Wechsel der politisch Verantwortlichen in Vichy. Doch als der von ihnen schon lange favorisierte Bonnard im April 1942 das Ministerium übernahm und hochfliegende Kollaborationspläne für die französischen Gelehrten lancierte, zeigte sich, wie eng der Spielraum war, den Außenministerium und Botschaft zugestanden. Georges Ascoli, Literaturwissenschaftler und aufgrund des Judenstatuts zwangspensioniert, ermordet durch die Gestapo, sowie schließlich, Marc Bloch, Mediävist, ebenfalls ermordet durch die Gestapo. Die Daten aus Charle, Dictionnaire und Charle u. Telkes, Professeurs. 48 Vgl. Gerbod, L’épuration, S. 251. 49 AA PA Deutsche Botschaft Paris Bd. 1210 Vermerk vom 16.5.1942: keine ausländischen Gastvorlesungen an der Sorbonne; AA PA Deutsche Botschaft Paris Bd. 1207: Einspruch der Deutschen Botschaft Paris gegen Ernennung eines französischen Professors auf den Lehrstuhl für römisches Recht an der Universität Amsterdam.

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Der symbolträchtige Plan einer großen Deutschlandreise französischer Profes­ soren scheiterte am deutschen Veto.50 Der mit den Erfolgen der Wehrmacht immer penetranter werdende Nationalismus der deutschen Gelehrtenwelt blockierte zudem jede Form der Kooperation mit dem geschlagenen »Erbfeind«. Schließlich darf man auch nicht vergessen, dass die kulturpolitischen Maßnahmen der Deutschen Botschaft nur so lange von Hitler gebilligt wurden, als sie kurzfristige Erfolge für das deutsche Besatzungsregime brachten. Die Vorbereitung längerfristiger Perspektiven widersprach seinen Absichten, die Kollaborateure in Frankreich im Unklaren über seine wahren Ziele, nämlich die langfristige machtpolitische wie kulturelle Ausschaltung des westlichen Nachbarlandes, zu lassen.51 »Weder Hinderung noch Förderung« erwies sich im Endergebnis als das frühzeitige Eingeständnis, dass die deutschen Besatzer keine nennenswerte wissenschaftspolitische Zielorientierung im besetzten Frankreich verfolgten.

III. Die Pariser Fakultäten und ihre Überlebensstrategien Bislang haben wir die Universität von außen und als Objekt politischer Gestaltungskräfte analysiert, die weitgehend oder vollständig ihrem Einfluss ent­zogen waren. Diese Perspektive verzerrt zwangsläufig das Bild. Die Behörden­vertreter Vichys wie der deutschen Besatzungsmacht hatten es mit einer Institution zu tun, die auf ihre Autonomie bedacht war und die auch in der Bedrängnis dieser Jahre über autonome Handlungsressourcen verfügte. Beide externen Mächte akzeptierten zunächst einmal Freiräume und Gestaltungsansprüche, die Dozen­ten wie Studenten ihnen gegenüber forderten. Politische Abstinenz bzw. Passivität waren aber die Gegengaben, die sie für diese Konzession verlangten. Und beide Gruppen, Studenten wie Hochschullehrer, waren in ihrer Mehrheit bereit, diesen Preis zu zahlen. Dies fiel zumindest der Dozentenschaft umso leichter, als bei der Mehrheit Distanz zur Politik und Zurückhaltung in weltanschaulichen Fragen zu einem zentralen Bestandteil ihres Berufsethos zählten.52 Nur wenige Dozenten schlossen sich bereits in der Anfangsphase des Vichy-Regime dem 50 AA PA Deutsche Botschaft Paris Bd. 1210. 51 E. Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1966. 52 Typisch für diese apolitische Mehrheit ist folgendes Bekenntnis des bekannten Literatur­ wissenschaftlers der Sorbonne, Daniel Mornet (1878–1954), in seiner Antwort vom 30. November 1940 auf die amtlichen Nachforschungen über »Treue« ihrer Beamten und deren frühere politische und gewerkschaftliche Aktivitäten: »Je n’ai jamais écrit une ligne, ni prononcé une parole en public ayant un caractère politique. Je n’ai jamais assisté à une réunion ayant directement ou indirectement politique.« Zitiert in: Charle, Dictionnaire, S. 164; zum Verhältnis der Hochschullehrer zum politischen Feld der Dritten Republik: Charle, République, S. 307–342.

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Lager de Gaulles in London an bzw. gingen ins politische Exil (so die Professoren Perrin (Physik), Laugier (Physiologie), Cassin (Recht)). Kontinuität des Universitätsbetriebs wurde in den offiziellen Stellungnahmen der Hochschulleitung zu einer Frage nationaler Selbstbehauptung stilisiert: »Dans une France meutrie et fière, qui n’attend sa renaissance que de votre labeur et de sacrifices, votre voie est tracée, ascendante et droite. Retournez à vos ­salles de cours, à vos bibliothèques, à vos laboratoires avec la sérénité du devoir à­ accomplir.«53 Mit diesen pathetischen Worten wandte sich der kommissarische Rektor Carcopino an die Pariser Studenten, als er am 20. Dezember 1940 die Wiederöffnung der Hochschule ankündigte. Das elitäre Selbstbewusstsein der Pariser Professorenschaft  – anerkannte Spitze der nationalen Wissenschaftsgemeinschaft – und durch die vielfältigen Netze der grandes écoles unterein­ ander verbunden  – wählte in den Festakten und amtlichen Verlautbarungen jener Jahre die Floskeln autoritärer Strenge, die in Vichy zur offiziellen Staatsdoktrin erhoben wurden: »Discipline, volonté, perséverance, bonté, respect des autres et de soi-même, telles sont les qualités qu’exige la régéneration morale du pays.«54 Das nationalpolitische Pathos hat auch in der Studentenschaft Anklang gefunden. Jedenfalls beteiligten sich auch Delegationen der Pariser Studentenschaft 1942 und 1943 an den nationalen Kundgebungen, auf denen in Vichy die gesamte französische Studentenschaft ihre Treue zu Pétain und ihren Einsatz für die nationale Wiedergeburt demonstrierten.55 So entstand eine Zwischenzone des unheroischen Weitermachens, das von vielen Universitätsmitgliedern als Verteidigung unabhängiger Wissenschaft und als Widerstand gegen das Vordringen nationalsozialistischer Ideen oder gegen den Erfolg der Kollaboration verstanden wurde. Vor allem in den beiden Anfangsjahren der Besatzung, als deren Ende noch nicht absehbar und eine eigenständige politische Rolle Vichys noch möglich schien, führte die Ungewissheit der Zukunft viele Hochschullehrer zu dieser Position abwartenden Überwinterns ohne größere ideologische Zugeständnisse an das Regime. Ein solcher Attentismus orientierte sich an der Leitidee, durch Kontinuität den wissenschaftlichen Rang und die intellektuelle Identität Frankreichs zu sichern. Kritiker wie Befürworter des Vichy-Regimes unter den Hochschullehrern teilten diese Grundüberzeugung zumindest solange, wie das Ende der Besatzung noch nicht abzusehen war. 53 »In einem tödlich getroffenen, aber stolzen Frankreich, dessen Wiedergeburt allein von­ Euren Mühen und Opfern abhängt, ist Euer Weg vorgezeichnet: geradlinig und steil. Kehrt in Eure Seminare, Bibliotheken und Laboratorien mit der gelassenen Würde der vor Euch stehenden Aufgabe zurück.« Carcopino, Souvenirs, S. 231 f. 54 »Disziplin, Wille, Ausdauer, Güte, Achtung vor dem anderen und vor sich selbst, dies sind die Tugenden, die die moralische Erneuerung des Landes braucht.« Allocution de M. le Recteur Gilbert Gidel, Séance de rentrée de l’université de Paris 5 novembre 1941, in: Annales de l’Université de Paris 16, 1941, S. 276. 55 Bericht an die Deutsche Botschaft Paris über die Studentendelegation vom 20.4.1942 in Vichy. AA PA Deutsche Botschaft Paris Bd. 1375.

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Diese Überlebensstrategie begrenzter Anpassung kam nicht zuletzt den konkreten Bedürfnissen der übergroßen Mehrheit der Universitätsmitglieder ent­ gegen. Man sollte nicht vergessen, dass wegen der zentralen Stellung der Sorbonne als Prüfungsinstanz für Staatsexamen in Medizin, Jura und den Lehramtsfächern auch die Studenten großes Interesse an der Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs zeigten. Schließlich entfaltete von Anfang an das System der »Aufsichtsverwaltung« seine Wirkung: Die Legalität des Etat français wurde in den ersten Monaten von den wenigsten angezweifelt und die Kontinuität der Rechtsverhältnisse – konkret von Dienst- und Verwaltungsrecht im Bildungswesen – tat ein Übriges, die Dozentenschaft in ihrer Gesamtheit zu beruhigen. Zusammen mit dem Ministerium kümmerten sich die Dekane der Pariser Fakultäten darum, missliebige oder bedrohte Kollegen an Provinzuniversitäten der unbesetzten Zone im Süden des Landes zu vermitteln. Dies betraf z. B. die 14 jüdischen Professoren, die nach der Gesetzgebung Vichys weiter im Amt bleiben sollten, aber aufgrund des deutschen Vetos in Paris nicht weiterarbeiten konnten. Gleiches galt für Kollegen, die wegen der Feindschaft der deutschen Besatzer in der besetzten Zone als besonders gefährdet erschienen. Indem Rektor und Dekane die Dinge selbst in die Hand nahmen, vermieden sie gerade im ersten Jahr eine Konfrontation mit der Besatzungsmacht. Vor allem Carcopino machte sich für eine solche Politik der Zusammenarbeit stark, in der Hoffnung, damit schlimmere Eingriffe vermeiden zu können. Betrachtet man nun den Kreis derer, die als Dekane und Rektoren der Uni­ versität Paris diese Politik der begrenzten Kollaboration mit den Besatzern zu verantworten hatten, so stellt man fest, dass er keineswegs bloß dezidierte Anhänger des Vichy-Regimes umfasste. Neben Pétain-Anhängern wie dem Dekan der juristischen Fakultät und späteren Rektor Gidel stehen die Dekane der naturwissenschaftlichen Fakultät Maurain und Montel, die beide Verbindungen zum Widerstand hatten, oder der geisteswissenschaftlichen Fakultät, Vendryès, der alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel nutzte, um Studenten seiner Fakultät vor dem Arbeitsdienst im Deutschen Reich zu bewahren. Zweifellos erwies jedoch die Belastungsprobe der antisemitischen Maßnah­ men dieser Jahre »die Verletzlichkeit der liberalen und demokratischen Werte«,56 die seit langer Zeit fest in den Institutionen des französischen Hochschulsystems verankert schienen.57 Zwar erlebte die Pariser Universität anders als 56 P. Ory, L’université française face à la persécution antisémite, in: G. Wellers u. a. (Hg.), La France et la question juive 1940–1944, Paris 1981, S. 79–94, S. 94. 57 Dass dies immer noch ein heikles Thema der französischen Vergangenheitsbewältigung ist, zeigt die Kontroverse um Lucien Febvres Entschluss, die Zeitschrift Annales d’histoire sociale auch unter den Bedingungen des Besatzungsregimes weiterzuführen und dafür den Preis zu zahlen, dass der Ko-Direktor und Mitbegründer Marc Bloch aufgrund der antisemitischen Zensurbestimmungen als Herausgeber ausscheiden musste, vgl. Burrin, France, S. 322–328. Als Entgegnung vgl. P. Schöttler, Lucien Febvre et Marc Bloch face à l’Allemagne Nazie, in: Genèses, Jg. 21, 1995, S. 75–95, hier S. 87ff; P. Daix, Braudel, Paris 1995, S. 187–200; siehe auch N. Z. Davis, Rabelais among the Censors, in: Representations 32, Fall 1990, S. 1–32.

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Algier58 keine antisemitischen Demonstrationen oder Übergriffe gegen jüdische Dozenten, hier fand aber ihr Ausschluss in aller Stille statt.59 Weder die Fakultätsversammlungen erhoben kollektiv Einspruch noch unternahmen die Dekane irgendwelche gemeinsame Schritte gegenüber den Verantwortlichen in ­Vichy. Einzelne Hochschullehrer protestierten: Der Physiker Debierne organisierte in seinem Institut eine öffentliche Protestaktion gegen die Entlassung der jüdischen Mitarbeiter, der Romanist Pauphilet erhob in einer Fakultätsversammlung Einspruch gegen das Agrégationsverbot für Juden und verheiratete Frauen,60 sein Dekan Vendryès ließ die freigewordenen Stellen nicht neu besetzen. Der Italianist Bédarida verurteilte in einem Brief an den Minister das Judengesetz.61 Dies blieben jedoch Ausnahmen in einem Klima gleichgültiger Hinnahme. An dieser Situation änderte sich in Paris erst 1942 etwas, als die deutschen Besatzer das Tragen des Judensterns verlangten und jüdische Geiseln erschossen. Die Verhaftungen und Deportationen führten schließlich zu einem deutlichen Meinungsumschwung.62 Einzelne Studenten protestierten gegen die Verpflichtung einen Judenstern zu tragen, indem sie ostentativ imitierte Judensterne trugen.63 Zahlreiche jüdische Studenten entzogen sich dem Zugriff der deutschen Verfolger durch Wechsel in die zone libre – seit deren Besetzung blieb auch hier nur noch die Möglichkeit der Flucht ins Ausland bzw. in den Untergrund. Bei aller Anpassung verfolgte die Pariser Universität als Institution vor allem gegenüber den deutschen Besatzern und den eng mit ihnen zusammenarbeitenden Kollaborateuren gleichzeitig eine Strategie kalkulierter Distanzierung. Bereits in den ersten Wochen des Lehrbetriebs unter deutscher Besatzung musste der Militärbefehlshaber deutschen Wehrmachtsangehörigen aufgrund von Protesten des Rektors nach Zwischenfällen den Besuch von Lehrveranstaltungen verbieten. Wünsche des Deutschen Instituts, in der Universität gemeinsame Vortragsveranstaltungen durchzuführen, wurden abgelehnt,64 dessen Vorträge gemieden. Die Liste der deutschen Redner und der französischen Gäste auf den 58 C. Singer, Les études médicales et la concurrence juive en France et en Algérie 1931–1941, in: Les juifs et l’économique. Actes du colloque du CIREJ -CNRS janvier 1989, Paris 1992, S. 197–211. 59 Bezeichnenderweise ist denn auch eine juristische Qualifikationsschrift der juristischen Fakultät der Sorbonne, die Studie von André Broc, La qualification juive, Paris 1943, keineswegs ein antisemitisches Machwerk, sondern die rechtspositivistische Erörterung der durch die Judengesetze seit 1940 entstandenen neuen Rechtsprobleme. Konformismus und Legalismus dominierten auch unter den Juristen der Pariser Universität. Vgl. D. Lochak, La­ doctrine sous Vichy ou les mésaventures du positivisme, in: ders., Les usages du droit. Colloque Amiens 1989, Paris 1989, S. 252–285, hier S. 254. 60 Protokoll der Sitzung vom 29.3.1941 in: AN AJ 16 4758. 61 F. Bédarida, Témoignage, in: Gueslin, Vichy, S. 342–346, hier S. 346. 62 Singer, Études médicales, S. 136–138. 63 Zu ihrer Verhaftung am 7./8.6.1942 siehe AN AJ 40/465. 64 Dies hatte bereits Carcopino als kommissarischer Rektor Ende 1940 mit Hinweis auf die Sicherheitsrisiken abgelehnt, am 23.12.1941 wiederholte Gidel die Ablehnung mit dem gleichen Argument. AN AJ 40/565.

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Empfängen im Anschluss an die Vorträge des Deutschen Instituts im Jahr 1941 zeigt dies in aller Deutlichkeit. Präsentierten zahlreiche deutsche Wissenschaftler selbstbewusst die neuen Leistungen ihrer Fächer, so verweigerten ihre französischen Kollegen in ihrer großen Mehrheit das Gespräch: Ganze acht der im Bericht genannten 38 Persönlichkeiten des französischen Kulturlebens sind der universitären Welt zuzurechnen, und davon waren nur zwei als Professoren der Sorbonne ohne Amtsverpflichtung anwesend. Während die Historikerkommission des Auswärtigen Amtes (Dietrich, Göhring, Hartlaub, Krausnick, von Srbik, Stadelmann und Windelband) im Januar / Februar 1941 in Paris weilte, wurde auf französischer Seite nur der gerade neu ernannte Professor für Neuere Geschichte Lhéritier genannt.65 Konkrete Kooperation zwischen Mitgliedern der Sorbonne und deutschen Fachkollegen entwickelte sich denn auch nur in seltenen Fällen. Soweit feststellbar gilt dies für einen Teil der Mediziner, wenige Germanisten, einzelne Fachvertreter quer durch die Disziplinen sowie für die antisemitischen Außenseiter der französischen Wissenschaftswelt.66 Vor allem letztere hofften mit deutscher Hilfe ihre marginale Stellung im französischen Wissenschaftssystem zu verbessern. Die Zahl der Dozenten der Sorbonne, die bereit waren, Einladungen nach Deutschland anzunehmen, war hingegen verschwindend gering. Neben einer Mediziner-Delegation, die Ende 1941 die Einladung zur Internationalen Tuberkulose-Tagung nach Berlin annahm, findet sich in den Archiven jedenfalls nur noch die Spur des Mathematikers Julia, Professor an der naturwissenschaftlichen Fakultät Paris, der wie bereits nach dem Ersten Weltkrieg wieder den Kontakt mit deutschen Kollegen aufnahm,67 sowie die Kooperation der Germanisten bei einer Veranstaltungsreihe des Deutschen Instituts.68 Als der im Pariser Hochschulmilieu unbeliebte Minister Abel Bonnard versuchte, dem amtlichen Rassismus auch Eingang in den Lehrbetrieb der S­ orbonne zu verschaffen, stieß er denn auch auf kollektiven Widerstand und scheiterte. Im Herbst 1942 machte er von seinem ministeriellen Recht Gebrauch, neue Lehrstühle einzurichten, um an der Sorbonne zwei Professuren zu schaffen, die sich mit »Rassenfragen« beschäftigen sollten: An der medizinischen Fakultät wurde der Lehrstuhl für Anthropologie der Rassen, in der philosophischen Fakultät ein Lehrstuhl für die Geschichte des zeitgenössischen Judentums eingerichtet (Dekret vom 6. November 1942). Bonnard machte im letzten Fall von seinem ministeriellen Recht unter Umgehung seiner Konsultationspflicht Gebrauch. Der Protest der Fakultät ließ nicht lange auf sich warten,69 und als 65 Vgl. Vortragsliste des Deutschen Instituts Paris 1. Halbjahr 1941. PA-AA 1368. 66 Vgl. Burrin, France, S. 357–359. 67 Aber auch dieser zur Mitarbeit bereite Wissenschaftler entsprach kaum den Wunschvorstellungen der NS-Kulturplaner: Schwerverletzter Teilnehmer des Ersten Weltkriegs, war Julia als Katholik und Nationalist zur wissenschaftlichen Kooperation mit dem Feind bereit. Vgl. Bericht in: AA PA Deutsche Botschaft Paris Bd. 1210. 68 Burrin, France, S. 357. 69 Sitzung des Fakultätsrates vom 21.11.1942 AN AJ 16 4758.

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er wenige Wochen später den wissenschaftsfernen Antisemiten und Verfechter engster deutsch-französischer Kollaboration Labroue auf diese Professur berief, kam es zum offenen Konflikt.70 Der Dekan der betroffenen Faculté des lettres, Vendryès, sowie die Professoren der Fakultät blieben ostentativ der Antrittsvorlesung fern, Studenten verließen laut protestierend den Saal. Universitätsfremde Parteigänger Labroues wurden erst gar nicht zugelassen. Weitere Vorlesungen mussten nach lautstarken studentischen Protesten und nach Handgreiflichkeiten zwischen Anhängern und Gegnern abgebrochen werden. Die Hälfte von Labroues Lehrveranstaltungen fiel schließlich mangels Zuhörern aus.71 Die Fakultätskollegen mieden jeden Kontakt und lehnten Labroues Antrag, der sich auf entsprechende Erlasse des Ministers berufen konnte, die Geschichte der »jüdischen Rasse« zum Thema der Agrégationsprüfung im Fach Geschichte zu machen, einstimmig ab. Auch die Vorlesung des Hygienikers Martial an der medizinischen Fakultät zum Thema »Anthropobiologie der Rassen« stieß auf Widerspruch im studentischen Publikum. Angesichts dieser Misserfolge verzichtete Bonnard darauf, wie zunächst beabsichtigt den Rassenideologen Montandon auf den Lehrstuhl für Rassenanthropologie zu berufen. Ein dritter Aspekt kam hinzu. Es zeigte sich, dass die einzelnen Disziplinen die neue Machtsituation in der Bildungspolitik für fachspezifische Anliegen zu nutzen suchten, also fachliche Interessenpolitik wie in Friedenszeiten betrieben. Die Juristen in Paris nutzten die Aufwertung des französischen Kolonialreiches angesichts der machtpolitischen Schwäche Vichys, um einen neuen Lehrstuhl für diesen Rechtsbereich zu realisieren; die Geographen setzten in der neuen Konstellation das lange verfolgte Ziel durch, eine eigenständige Agrégationsprüfung zu bekommen und damit ihr Fach aus der Vormundschaft der Historiker zu befreien. Archäologen und Althistoriker profitierten von der Präsenz eines Fachvertreters an der Spitze des Ministeriums, um eine überfällige Organisationsreform des nationalen Grabungswesens durchzusetzen.72 In all diesen Fällen verstanden es die Vertreter der Hochschule geschickt, günstige Personalkonstellationen in der Ministerialverwaltung oder ideologische Vorlieben des Regimes für eigene Fachinteressen zu instrumentalisieren. Fachvertreter, die hinter diesen Initiativen standen, vermieden es in der Regel, sich für die politische Linie oder gar die ideologischen Leitlinien des Regimes in Vichy einspannen zu lassen. Attentismus und vorsichtige Distanz zum Regime in Vichy bestimmen auch das Bild, das die Hochschulverbände an den Pariser Fakultäten im Krieg boten. Die Vichy nahestehenden Verbände konnten keine größere Anhängerschaft ge70 C. Singer, L’échec du cours antisémite d’Henri Labroue à la Sorbonne (1942–1944), in: Vingtième Siècle, Jg. 39, 1993, S. 3–9. 71 Bericht Gidel an Bonnard vom 7.3.1944, in: AN F 17 13361; C. Singer, Vichy, l’Université et les Juifs. Les silences et la mémoire, Paris 1992, S. 202. 72 O. Dumoulin, A l’aune de Vichy? La naissance de l’agrégation de géographie, in: Gueslin,­ Vichy, S. 23–38.

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winnen, deutsche Quellen bewerten z. B. ihren Einfluss auf die Mehrheit als sehr gering.73 In der Dozentenschaft kam es erst 1943 zu Gründung von Vichy nahen Gruppierungen. Typischerweise nahmen katholische Zusammenschlüsse wie die Jeunesse étudiante catholique lange Zeit eine schwankende Position ein. Frühzeitig wurde die offizielle Linie der Hochschule durch die kommunistische Gruppe »Université libre« attackiert: Vor allem Carcopino (»Gauleiter de l’université«, »le jésuite«) wurde zur bevorzugten Zielscheibe ihrer Kritik. L’université libre blieb lange Zeit die einzige Stimme, die in der Hochschulöffentlichkeit gegen die antisemitischen Maßnahmen protestierte.74 Die Gruppe war während der gesamten Besatzungszeit aktiv, von der gleichnamigen Zeitung, die häufig nicht mehr als vier hektographierte Seiten umfasste, erschienen zwischen November 1940 und der Befreiung in unregelmäßiger Folge 101 Nummern.75 Aufschlussreich ist die hochschulpolitische Linie, die das kommunistische Untergrundblatt verfolgte. Sie polemisierte gegen jede Form der Kollaboration und betonte die Überlegenheit der französischen Wissenschaftskultur gegenüber dem »rassistischen Obskurantismus« deutscher Wissenschaftler.76 Daneben richteten sich die Angriffe der Zeitschrift vor allem 1940/1941 immer wieder gegen die neuen autoritären Bildungswerte, die Vichy plakativ verkündete. Die Zeitschrift profilierte sich als Verteidigerin der nationalen Bildungstraditionen und der universalistischen Werte der Dritten Republik gegen die Angriffe konservativer und katholischer Vichy-Anhänger. Damit formulierte die Gruppe von université libre zweifellos Positionen kollektiver Selbstbehauptung, die auch weit über ihr engeres kommunistisches und sozialistisches Umfeld auf eine breitere Resonanz im universitären Milieu fanden. Die größte außeruniversitäre Resonanz jedoch erreichte die Gruppe défense de la France, die hauptsächlich von Studenten der Sorbonne gebildet wurde und deren Zeitung in den Kellern der Parier Universität gedruckt wurde. Lange Zeit Vichy-orientiert, wurde ihre gleichnamige Zeitung eine der auflagenstärksten Publikationen der Untergrundpresse – mit einer Auflage von immerhin 450.000 Exemplaren im Januar 1944.77 Die sukzessive Einbeziehung der Studenten in den Zwangsarbeitsdienst (STO) im Deutschen Reich seit dem Frühjahr 1943 er73 G. Maigron, Résistance et collaboration dans l’université de Paris sous l’occupation, in: Gueslin, Vichy, S. 133–142, hier S. 136 f. Die quellenmäßige Grundlage dieses Beitrages ist stellenweise lückenhaft und zuweilen unklar. Genauere Forschungen zu den Verbänden liegen meines Wissens noch nicht vor. 74 So bereits im ersten, im November 1940 erschienenen Heft 1/1940, wo die entlassenen jüdischen Dozenten als »victimes de l’obscurantisme« bezeichnet werden, vgl. S. 4; Nr. 13 berichtete vom Protest an der ENS gegen das neue Zulassungsverbot jüdischer Studenten zur Agrégation. Insgesamt spielt jedoch die antisemitische Verfolgung nur eine untergeordnete Rolle in der Zeitschrift. 75 N. Racine, L’université libre (novembre 1940-décembre 1941), in: J.-P. Rioux u. a. (Hg.), Les communistes français de Munich à Châteaubriant (1938–1941), Paris 1987, S. 133–145. 76 So in den Berichten über die rassenhygienischen Vorträge der deutschen Professoren Reiter und Verschuer. Nr. 10/41 und 19/41. 77 H. Michel, Paris résistant, Paris 1982, S. 116.

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weiterte das Rekrutierungsfeld der Resistancegruppen im studentischen Milieu beträchtlich. Zweifellos nahm die Attraktivität des Widerstandes in dem Maße zu, wie das Regime in Vichy an Kredit verlor und immer deutlicher zur bloßen Marionettenregierung des NS-Regimes herabsank.78 Nun gingen selbst frühere Parteigänger Pétains vorsichtig auf Distanz und bereiteten sich auf den baldigen Regimewechsel und den Einmarsch der Alliierten vor.

IV. Hochschulalltag im Krieg Dennoch bleibt festzuhalten: Bis zur Befreiung von Paris im August 1944 blieb die Mehrheit der Universitätsangehörigen im Lager der passiven Zuschauer zwischen den immer deutlicher sich formierenden aktiven Minderheiten der Kollaborateure und der Résistance. Angesichts der unspektakulären Überlebensstrategien der Mehrheit ist es vielleicht nützlich, sich einige der typischen Alltagssituationen zu vergegenwärtigen, die das Universitätsleben zwischen 1940 und 1944 prägten. Die Professoren scheinen auf die diffusen Gefährdungen, die sowohl von Vichy als auch von den unterschiedlichen Instanzen der deutschen Besatzung ausgingen, mit wechselseitigem Misstrauen reagiert zu haben. Dem Bericht Bédaridas über die Atmosphäre im universitären Milieu ist jedenfalls zu entnehmen, dass die unterschiedlichen Meinungsgruppen sich in sichere Gesprächskreise von Gleichgesinnten und interne Kommunikationsnetze zurückzogen, hochschulpolitische und grundsätzliche Fragen der öffentlichen Debatte möglichst entzogen.79 Weder Gegner noch Anhänger des Regimes innerhalb der Hochschule hatten Interesse, ihre wahren Positionen publik zu machen.80 So gedieh im akademischen Alltag der Rückzug ins Private und in unverdächtige Gelehrsamkeit. Anders als im zeitgenössischen literarischen Feld steigerte die Besatzungssituation also keinesfalls die Kontroversen an der Universität.81 Wir haben bereits gesehen, dass auch die große Mehrheit der Studenten für die vorsichtige Politik der Hochschulleitung zu gewinnen war. Die Autorität der Rektoren, Dekane und Professoren blieb, darin stimmten deutsche wie französische Beobachter überein, intakt.82 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht das Tage­ 78 Selbst in der juristischen Fakultät regte sich in der Endphase Protest gegen exponierte Partei­gänger Vichys: So wurde laut Bericht der Résistance-Zeitschrift Université libre der Professor Joseph Barthélemy, Justizminister von 1941–1943, Mitglied des Conseil d’état, am 6. Januar 1944 ausgepfiffen und in eine Hakenkreuzfahne eingehüllt. Vierzehn Tage später wurde seine Lehrveranstaltung ausgesetzt; vgl. Université libre 92/1944. 79 Bédarida, Témoignage, S. 345. 80 Vgl. Burrin, France, S. 312 (am Beispiel von Edmond Faral, dem Direktor des Collège de France). 81 Vgl. dazu Sapiro, Raison. 82 Meinungen zur politischen Situationseinschätzung: SD-Bericht (s. Anm. 35).

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buch des Medizinstudenten Pierquin, der, aus einer katholischen Arzt­familie stammend und Mitglied der katholischen Studentenorganisation J. E. C., während der Kriegsjahre sein Studium an der Pariser Universität absolvierte. Im Frühjahr 1944 trat er der Résistancegruppe am Institut Pasteur bei und engagierte sich bis zur Befreiung im Widerstand.83 Sorgfältig registrierte er im Herbst 1940 das vorsichtige Verhalten der deutschen Besatzer und notierte in den ersten zwei Jahren der Besatzung bei vielen seiner Kommilitonen in Medizin und J. E. C. das Schwanken zwischen de Gaulle und Pétain: »La popularité de Pétain est très grande … mais nombreux sont ceux qui considèrent que Pétain nous protège contre les Boches et résiste à l’influence nazie tout en cherchant à r­ énover notre pays, sans pourtant exclure de Gaulle qui maintient la France au combat et garantit notre honneur.«84 Die Jahre 1940–1942 waren für Pirquin vor allem Jahre des intensiven Studiums. Neben Betrachtungen zur unübersichtlichen politischen Lage stehen vor allem Bemerkungen zur schwierigen Versorgungslage im Winter 1940/1941: Es fehlt an Heizmaterial, an frischen Nahrungsmitteln wie Milch, Fleisch und Gemüse. Nur die Semesterferien bei der Familie in der ­Bretagne schufen hier Ausgleich. Er akzeptierte den Attentismus der Älteren in seiner unmittelbaren Umgebung: der katholischen Geistlichen, der Medizinprofessoren und der eigenen Familie und Studienfreunde bis zum November 1942.85 Die Bereitschaft Vichys, die eigenen Studenten im deutschen Arbeitsdienst »zu versklaven«,86 hinterlässt bei Pierquin und seinen Kommilitonen tiefe Spuren.87 Erst aus der wachsenden Enttäuschung über Vichy erwuchs bei ihm selbst im Winter 1943/1944 die Entscheidung für den bewaffneten Kampf gegen die deutschen Besatzer. Nachdem sich der Versuch zerschlagen hatte, über Spanien die französischen Streitkräfte in Nordafrika zu erreichen, engagierte sich Pierquin in der Widerstandsgruppe seines Pariser Instituts.

83 B. Pierquin, Journal d’un étudiant parisien sous l’occupation (1939–1945), Paris 1983. 84 »Die Popularität Pétains ist sehr groß … Aber häufig wird auch die Meinung vertreten,­ Pétain schütze uns vor den Boches und setze dem Nazi-Einfluß Widerstand entgegen, wobei er gleichzeitig unser Land zu erneuern suche, ohne de Gaulle auszuschließen, der Frankreich weiter am Kampf beteiligt und unsere Ehre sicherstellt.« Eintrag vom 21.3.1941, in: Pierquin, Journal, S. 45. 85 Angesichts des Kriegseintritts der USA notiert er: »Je n’ai qu’une réponse provisoire: notre jeunesse travaille, étudie et prépare son avenir pendant que le reste du monde sombre dans l’hécatombe.« (»Ich habe nur eine vorläufige Antwort: unsere Jugend arbeitet, studiert und bereitet seine Zukunft vor, während der Rest der Welt im Gemetzel versinkt.«) 8.12.1941, ebd., S. 71. 86 Ebd., S. 94. 87 »Autour de moi, il est sérieusement question de se camoufler et de chercher une solution clandestine.« (»In meiner Umgebung fragt man sich ernsthaft, ob man sich verstecken und eine Lösung im Untergrund finden soll.«) ebd., S. 101.

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V. Pariser historische Forschung im Schatten Pétains und Hitlers Die Geschichtswissenschaft gehörte zu denjenigen Disziplinen, deren Routinen durch Regimewechsel und Besatzung grundlegend in Frage gestellt waren.88 Die Pariser Historikerschaft hatte die Traditionen methodischer Strenge und fachlicher Objektivität weitergepflegt, wie sie die »wissenschaftliche Schule« von der reformierten Sorbonne der 1880er Jahre aus gegen die älteren litera­rischen Traditionen der Geschichtsschreibung und -forschung im Fach durchgesetzt hatte.89 Distanz zur politisch-ideologischen Kontroverse und zu aktuellen Problemen machten die Historiker der Sorbonne denn auch zu akzeptablen Kooperationspartnern Vichys. Das neue Regime zeigte von Anfang an großes Interesse an der Geschichte, förderte die Regional- und Lokalgeschichte ebenso wie die früh- und vorgeschichtliche Archäologie. Im Mittelpunkt des offiziellen Geschichtsbildes standen die Kontinuitätskräfte der Nationalgeschichte. Selbst bei der mit so starken politischen Leidenschaften besetzten Geschichte der Französischen Revolution vermied das neue Regime eine pauschale Ablehnung und betonte stattdessen die Kontinuitätslinien. Vom Fach forderte es die Einordnung des revolutionären Geschehens in die lange Dauer der nationalen Entwicklung. Angesichts solcher ideologischen Voraussetzungen gab es nach 1940 mit der großen Ausnahme der jüdischen Geschichte keinen Bereich, in dem die historische Forschungsarbeit an der Sorbonne unmittelbar beeinträchtigt worden wäre. Selbst die Editionsprojekte des Comité des travaux historiques et scienti­f iques zur Französischen Revolution wurden in den Kriegsjahren fortgesetzt und Lefebvres aus Anlass der 150-Jahrfeiern 1939 publizierte Schrift über das Jahr 1789 erlebte noch 1943 eine Neuauflage. Der von ihm geführten sozial­ geschichtlichen Forschungsrichtung der Revolutionsgeschichte fehlten im Krieg die Forschungsmittel, um größere Vorhaben der Vorkriegsjahre weiterzu­f ühren, sie wurde aber in kleinerem Maßstab und vor allem in individuellen Arbeiten fortgesetzt.90 Die wichtigsten Fachzeitschriften, die Revue historique, die Bibliothèque de l’Ecole des chartes oder die Revue d’histoire économique et sociale und die Annales arbeiteten unter maßgeblicher Beteiligung Pariser Gelehrter ebenfalls weiter. In den Heften der Kriegsjahre wurden zahlreiche Aufsätze abgedruckt, die bereits im Sommer / Herbst 1940 der Redaktion vorgelegen hatten. Der Stil der Zeitschriften änderte sich nicht grundlegend, erfuhr aber angesichts der Zen88 O. Dumoulin, L’histoire et les historiens 1937–1947, in: Politiques et pratiques culturelles dans la France de Vichy. (= Cahiers de l’Institut d’histoire du Temps Présent, Jg. 8), Paris 1988, S. 157–176; Schöttler, Febvre; Davis, Censorship. 89 P. Den Boer, Geschiedenis als beroep, Nijmegen 1987; W. P. Keylor, Academy and Community. The Foundation of the French Historical Profession, Cambridge 1975; O. Dumoulin, Profession historien 1919–1939. Un métier en crise? Thèse de 3e cycle. E. H. E. S.S., Paris 1983. 90 Dumoulin, Historiens, S. 163 f.

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surbedingungen merkliche Veränderungen.91 In den Rezensionen sowohl der Revue historique wie der Mélanges d’histoire sociale finden wir versteckte Kritik an der NS-Ideologie des Siegers, auch vorsichtige Distanz zum neuen Bauernkult Vichys. Gleichzeitig beharrten die Rezensenten ostentativ auf den wissenschaftlichen Qualitätsstandards ihrer Disziplin. Der Kreis der Sorbonne-Historiker, die Zugeständnisse an die offiziellen Geschichtsbilder der beiden Regime machten, blieb verschwindend gering. Es waren letztlich allein die vor dem Krieg der Action française nahestehenden nationalkonservativen Historiker – in Paris hatten sie ihren Schwerpunkt eben nicht an der Sorbonne, sondern am Zentrum der Archivarausbildung und der historischen Hilfswissenschaften, der Ecole des Chartes –, die ihrem alten konservativ-katholischen Geschichtsbild folgten, wie sie es bereits lange vor 1940 getan hatten.92 Auch der offizielle Ausschluss der jüdischen Kollegen wurde in den Fachpublikationen entweder unterlaufen oder zuweilen offen missachtet. Die Revue historique druckte ihr Herausgebergremium, dem mehrere jüdische Historiker angehörten, im Impressum nicht mehr ab, Marc Bloch, der Lucien Febvre nach einigem Zögern allein die Leitung der Annales überlassen hatte, um so das Weitererscheinen in der deutschen Besatzungszone zu ermöglichen, publizierte unter Pseudonym, aber für Kenner erkennbar weiter. Natalie Zemon Davis hat gezeigt, wie die­ Annales unter den Bedingungen der Zensur ihren Stil anpassen musste, wie sie an polemischer Schärfe verlor, sich jeden Gegenwartsbezugs enthielt und wie sie sorgfältig vermied, die Besatzer direkt herauszufordern.93 Die Veränderung war in diesem Fall stärker als in der fachlich konservativeren, auf Objektivität und Distanz zur Politik eingeschworenen Revue historique, deren Rezensenten, an erster Stelle ihr Redakteur Bourgin, auch deutliche Kritik am kollaborations­ bereiten Zeitgeist übten. Der langsame Themen- und Perspektivenwechsel in der französischen Historiographie von der politischen Ereignisgeschichte hin zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, für den seit 1929 die Annales d’histoire économique et sociale so engagiert gestritten hatten, wurde jedenfalls durch die Kriegsjahre nicht unterbrochen.94 Eher lässt sich im Gegenteil feststellen, dass die Förderung der Agrar- und Regionalgeschichte und das neu erwachte Interesse für Demografie in Vichy-Frankreich diesem Trend entgegenkamen. Auch die Abwendung von der Politik gewann unter den Bedingungen der vor allem an politischen Themen ausgerichteten Zensur einiges an situationsbedingter Attraktivität. Größer und realer war hingegen die Gefahr der Vereinnahmung der neueren  – vor allem mit der Annales-Richtung  – verknüpften Tendenzen durch das offizielle 91 Ebd., S. 164 f.; Davis, Censorship, S. 20 f. 92 Dumoulin, Métier. 93 Davis, Censorship, S. 14, S. 16. 94 Dumoulin, Métier; L. Allegra u. A. Torre, La nascita della storia sociale in Francia. Dalla Commune alle »Annales«, Torino 1977; P. Schöttler, Eine spezifische Neugierde. Die frühen Annales als interdisziplinäres Projekt, in: Comparativ, Jg. 4, 1992, S. 112–126.

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Geschichts­bild Vichys. So erschien in der noch von Marc Bloch geplanten Reihe »le paysan et la terre« 1942 bei Gallimard ein Band des Sprachwissenschaftlers Dauzat, der starke Affinitäten zur Bauern- und Heimatideologie des Regimes aufwies, während die beiden übrigen Studien der neuen Reihe keine intellektuelle Nähe zur offiziellen Vichy-Ideologie erkennen lassen. Dagegen enthielten die noch mit einem anonymisierten Vorwort Blochs erschienene Studie von Labouret »Paysans d’Afrique Occidentale« und die Studie von Blochs Schüler Déléage zur frühmittelalterlichen Entstehungsgeschichte der Grundherrschaft in Burgund keine Zugeständnisse an das neue Regime.95 Insgesamt bleiben die Kriegsjahre in der Chronologie der Pariser Geschichtswissenschaften Jahre verminderter Produktion, aber sie sind gleichzeitig auch als die Erscheinungs- bzw. Entstehungsjahre großer »Klassiker« der französischen Historiographie bekannt geworden. Auf die Werke Lucien Febvres aus den Kriegsjahren sei hier nur hingewiesen, als Professor am Collège de France gehört er nicht in unser engeres Untersuchungsfeld. Dies gilt aber nicht für Ernest Labrousse und Fernand Braudel, die in diesen Jahren ihre bahnbrechenden thèses abschlossen bzw. ausarbeiteten. Unter ganz unterschiedlichen Bedingungen, der eine in Paris, der andere in den deutschen Kriegsgefangenenlagern in Mainz und Lübeck, aber beide angetrieben vom erzwungenen Rückzug in die Gelehrsamkeit, haben sie ihre Hauptwerke zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte als Qualifikationsarbeiten für die Pariser Sorbonne erarbeitet: Ernest Labrousse legte seine Studie der Jury 1943 vor;96 sie wurde 1944 publiziert, Fernand Braudels Mittelmeerbuch wurde in der deutschen Kriegsgefangenschaft ausgearbeitet und dann rasch nach der Rückkehr fertiggestellt: 1947 trat dann Braudel mit diesem opus magnum vor die Jury der Sorbonne.97 Labrousses historisches Hauptwerk war die Fortführung seines 1933 publizierten wirtschaftswissenschaftlichen Werkes »Esquisse du mouvement des prix et des revenus en France au 18e siècle« zum Zusammenhang zwischen Agrar-, Gewerbe- und Handelszyklen Frankreichs im 18. Jahrhundert. Darin unternahm er den Versuch, den alten Streit um die wirtschaftshistorische Deutung der Französischen Revolution – war es eine Revolution des Elends oder der Prosperität? – mit Hilfe der Konjunkturforschung zu klären. Methodisch bezog sich Labrousse immer wieder auf seinen Lehrer Aftalion, der als Jude die Universität hatte verlassen müssen, und seine konjunkturtheoretische Interpretation der Revolution stand eindeutig im Fahrwasser einer materialistischen Geschichtsauffassung. Faktisch schuf Labrousse mit dieser Schrift die methodischen und theoretischen Grundlagen für eine eigenständige wirtschafts­ geschichtliche Schule in Frankreich. Gleichzeitig öffnete sie ihm den Weg auf Blochs Lehr95 Davis, Censorship, S. 19. 96 E. Labrousse, La crise de l’économie française à la fin de l’Ancien Régime et au début de la Révolution, Paris 1944. 97 Braudel, F., La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II., Paris 1949, (Die Mittelmeerwelt zur Zeit Philipps II., Frankfurt a. M. 1991).

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stuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Sorbonne. Von hier aus sollte sich die »histoire quantitative« in weite Bereiche der französischen Neuzeit­forschung ausbreiten.98 Braudels Arbeit ist international viel stärker beachtet worden; vor allem die Dreiteilung, die er seinem Werk zugrunde legte, hat die Historiographie­ geschichte stark beeinflusst. Im ersten Band schildert er die geographischen Raumstrukturen in der Mittelmeerwelt des 16. Jahrhunderts, im umfangreichsten, zweiten Teil untersucht er die Grundformen von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur, im dritten Band schildert er das machtpolitische Geschehen im Mittelmeer während der Regierungszeit Philipps II. von Spanien (­ 1556–1598). Diesen drei Darstellungsebenen ordnete Braudel unterschiedliche Zeitmaße zu: Von der quasi unbewegten Geschichte der Umwelt schreitet »la Méditerranée« zur Ebene langsamen Strukturwandels in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, bevor im dritten Teil die bewegte Oberfläche des vor allem politischen Tagesgeschehens zur Darstellung kommt. Es ist sicher kein Zufall, dass dieses hauptsächlich in der Auseinandersetzung mit der in deutschen Bibliotheken verfügbaren Fachliteratur konzipierte Werk am ehesten deutsche Einflüsse erkennen lässt. Braudel hat zahllose Forschungsergebnisse von Historikern, National­ ökonomen und Geographen verarbeitet und sich offen gezeigt für die unterschiedlichsten Ansätze und Ideen, insbesondere die deutsche Anthropogeographie (und deren Gliederungsschema Raum – Wirtschaft – Gesellschaft) und die historische Schule der Nationalökonomie. Hier ist vor allem Sombart zu nennen. Das konkrete Vorbild lieferte aber die Studie »La Franche comté à l’époque de Philippe II« seines Mentors Lucien Febvre, der eine Wirtschaft, Gesellschaft und Politik umspannende Gesamtgeschichte der Freigrafschaft Burgund in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts geschrieben hatte.99 Auch der aus Paris verbannte Marc Bloch nutzte die Zeit vor und neben seiner Tätigkeit im Widerstand dazu, sich Rechenschaft abzulegen über die Aufgaben des Historikers in der Gegenwart. Sowohl sein Bericht über die »seltsame Niederlage«, der gleichzeitig eine scharfe Abrechnung mit dem eigenen bürgerlichen Milieu und seiner Verantwortung für den Zusammenbruch 1940 darstellt, als auch seine geschichtstheoretische Reflexion über das »Metier des Historikers« sind zu Klassikern der französischen Historiographie in unserem Jahrhundert geworden.100 Blochs Studien aus den Kriegsjahren verdeutlichen jedoch bei aller Singu­ larität, die sie und ihren Verfasser aus dem Kreis seiner Sorbonne-Kollegen in jenen Jahren heraushebt, ein generelles Phänomen: Bei aller Bereitschaft, sich 98 Vgl. J.-C. Perrot, Préface: l’œuvre au présent, in: E. Labrousse, La crise de l’économie française à la fin de l’Ancien Régime et au début de la Révolution, ND Paris 1990, S. 1–30; L. Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, Stuttgart 1994, S. 137–143. 99 L. Febvre, Philippe II et la Franche-Comté, Paris 1912. 100 M. Bloch, Apologie pour l’histoire ou le métier d’historien, Paris 1949, (Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, Stuttgart 1974); ders., défaite.

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in abgelegenere Bereiche historischer Gelehrsamkeit zurückzuziehen oder sich an die Sprachregelungen des Besatzungsregimes anzupassen, lässt sich jedoch auch bei ihnen kein Prozess dauerhafter Gewöhnung an die intellektuelle Ausnahmesituation beobachten. Lucien Febvre z. B. kehrte mit dem ersten Heft der Annales nach der Befreiung zum Stil offener Polemik und direkter Ausein­ andersetzung mit den politischen und fachlichen Gegnern zurück; die vor allem zu publizistischer Abstinenz verurteilten Zeithistoriker wie Pierre R ­ enouvin konnten nun ebenfalls wieder frei mit ihren Forschungsergebnissen an die Fach­ öffentlichkeit treten. Auf der Ebene der historiographischen Produktion erwiesen sich die Jahre 1940–1944 als Intermezzo, auf der Ebene der Forschung sind die Kontinuitäten ungebrochen wirksam geblieben. Weder Vichy noch die NS-Besatzer haben dauerhafte intellektuelle Spuren in der Pariser Geschichtswissenschaft hinterlassen.

VI. Die Sorbonne nach der Befreiung Damit sind wir am Ende dieses Überblicks angekommen. Angesichts der Forschungslage muss vieles noch als vorläufig gelesen werden; es bedarf weiterer Präzisierung und Vertiefung. Die Grundlinien sind jedoch sichtbar geworden. Die deutschen Besatzer schenkten letztlich der Universität keine größere Beachtung. Sie geriet wie andere Einrichtungen in Paris in den Sog der sich verschärfenden deutschen Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung und gegen alle Arten des Widerstands. In den hypertrophen Zukunftsplänen einer deutschen Kulturhegemonie über das besiegte Frankreich spielte die Sorbonne auffälligerweise kaum eine Rolle. Entsprechend groß war der Handlungsraum für die Universität, in distanziertem Abwarten zu überleben. Diese Haltung­ dominierte auch gegenüber Vichy; hier waren jedoch in Teilen der Dozentenschaft wie unter den Studenten vor allem in den beiden ersten Jahren größere Sympathien und Affinitäten vorhanden. Mit der Befreiung im Sommer 1944 kam damit zwangsläufig die Stunde erneuter Abrechnungen und Säuberungen. In Paris waren 30 von insgesamt 635 Universitätsbediensteten, also etwa fünf Prozent, von Säuberungsmaßnahmen betroffen – eine Zahl, die deutlich niedriger lag als in der Provinz, wo 12,5 % der Beschäftigten mit Sanktionen belegt wurden.101 Die große Mehrheit überstand dieses Zwischenspiel unbeschadet und integrierte sofort die 1940/1941 Entlassenen. Die politischen Mehrheiten verschoben sich zugunsten der im Widerstand engagierten Kräfte. Ob Kommunisten oder Gaullisten – beide Hauptgruppen entwickelten sich zu eifrigen Verteidigern der Pariser Universität und ihrer etablierten Ordnung, als es nach 1944 darum ging, die Reformideen der Kriegsjahre in die Tat umzusetzen. Der Attentismus der vielen wurde nun generell als Selbstbehauptung der nationalen 101 Gerbod, L’épuration, S. 257 f.

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Wissenschaftskultur gegen die Unterjochungspläne von Vichy und Berlin interpretiert. Diese nationalpolitische Kontinuitätsthese lieferte wiederum einer bereits vor Kriegsausbruch unter Reformdruck geratenen Institution zusätzliche Legitimation, sich gegen tiefgreifende Strukturreformen nach der Befreiung zur Wehr zu setzen. Das ist vielleicht der überraschendste institutionsgeschichtliche Nebeneffekt einer vierjährigen Phase äußerer Bedrohung wie innerer Gefährdung der Pariser Universität.

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13. Praktiken der Einbürgerung und Wandel der Sozialstrukturen: Eine Fallstudie zum Industrierevier von Longwy (Meurthe-et-Moselle) 1946–1990 Sarah Vanessa Losego / Lutz Raphael

Untersuchungen zur Einbürgerung / naturalisation in Frankreich haben immer wieder den politischen Willensbildungsprozess und die ideologischen Grundlagen (Konzept der Nation und des Staatsbürgers) in den Mittelpunkt gerückt, um die Verfahren zu rekonstruieren, welche dazu führten, dass durch die Vergabe der Staatsangehörigkeit an neu ins Staatsterritorium kommende Fremde das Staatsvolk der Franzosen als stabiles Kernelement der Bevölkerung (popu­ lation) Frankreichs erhalten blieb bzw. sich reproduzierte.1 Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze dominiert dabei eine Sicht, welche »Integration« oder »Assimilation« der Ausländerinnen und Ausländer als Ergebnis einer Politik interpretiert, welche sich in Gesetzen, administrativen Routinen und vor allem in einem politisch-ideologischen Deutungsmuster niedergeschlagen hat. Das »Staatsvolk« oder die »Nation« erscheint hierbei gewissermaßen als Ausdruck eines politischen Willens. Während die Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung des Hexagons, die internen und externen Migrationen, die soziale Mobilität als sozialer bzw. demografischer Prozess sui generis beschrieben und ana­ lysiert werden, bleibt die Reproduktion des Staatsvolkes, konkret die Vergabe der Staatsangehörigkeit, in der vorherrschenden Sichtweise der Forschungen ein primär politisches Phänomen. Bereits 1988 forderte Gérard Noiriel, diese enge Sichtweise aufzugeben und die »Assimilation der Ausländer« auch als Ergebnis sozialer Transformationen zu analysieren, welche die gesamte Bevölkerung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erfasst haben.2 Er betonte für die Periode 1880–1970 das Gewicht nationalstaatlicher Sozialisationsinstanzen in der französischen Gesellschaft. Damit machte er aufmerksam auf die jenseits des politischen Willens verfügbaren Ressourcen jeder Form von Integrationspolitik, aber auch auf die unbeabsichtigten Wirkungen sozialer Inklusionen oder Exklusionen. Dieter Gosewinkel hat darauf hingewiesen, dass das Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit jenseits des Problems nationaler Zugehörigkeit und Integra1 P. Weil, Qu’est-ce qu’un Français? Histoire de la nationalité française depuis la Révolution, Paris 2002; G. Noiriel, Le creuset français. Histoire de l’immigration XIXe-XXe siècle, Paris 1988; R. Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, Cambridge 1992. 2 Noiriel, Le creuset, S. 341–356.

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tion auch ganz andere ökonomische, soziale und politische Funktionen bedient, deren konkrete Nutzung durch Antragsteller wie Einwanderungsbehörden wiederum ganz anderen Logiken folgen kann als die im Mittelpunkt der politischen Öffentlichkeit und Diskussion stehende Debatte um »Staatsbürgerschaft« und Nationsverständnis.3 Der Besitz der Staatsangehörigkeit (nationalité) hat unmittelbare Konsequenzen für den wirtschaftlichen und sozialen Status einer Person; Mobilitätschancen, Zugang zu Arbeitsplätzen und Sozialrechte hängen von ihr ab. Für den französischen Fall hat zuletzt Alexis Spire zeigen können, dass die zuständige Verwaltung spezifische Routinen entwickelt hat, in der sich ihre ganz eigene Sicht der Naturalisation als Teil hoheitlicher Kontrolle und Lenkung des ausländischen Teils der Bevölkerung niedergeschlagen hat.4 Die Ergebnisse dieser Studie über die Praxis sowohl der für die Kontrolle der Ausländer in Paris zuständigen Polizeipräfektur, als auch der Unterabteilung für Einbürgerungen in Rezé führen die Untersuchungen von Gerard Noiriel über die Rolle der Bürokratie und der amtlichen Dokumente und Aufenthaltstitel für den »ausländischen« Teil der Bevölkerung des Hexagons fort.5 Die Einsichten dieser neueren Ansätze macht sich auch der folgende Aufsatz zu eigen, wenn er die beständige Erneuerung der als französisch deklarierten und sich deklarierenden Bevölkerung als dialektisches Zusammenspiel einer politisch-administrativen Praxis und einer sozialen Nachfrage interpretiert. Damit wird die französische Bevölkerung sowohl als Wille und Vorstellung von Politikern und Verwaltungsbeamten, als auch als Ensemble sozialer Strategien und damit als Kreuzungspunkt ganz unterschiedlicher Modi der Inklusion begriffen. Auch wenn die Naturalisation als Dispositiv einer alle Dimensionen einer Person umschließenden »Integration« oder »Assimilation« konstruiert und kommuniziert wird, ist sie nur ein Element partieller Inklusion, deren Gewicht schwankt, je nach Art der sozialen Beziehungen und Strategien, in die sie eingebettet ist und die sie zugleich auch verändert. Eine solche Interpretation erfordert eine Forschungsperspektive, welche die Mög­lichkeiten der Mikrogeschichte nutzt und ein möglichst breites Spektrum an Quellen heranzieht.6 3 D. Gosewinkel, Staatsangehörigkeit und Nationszugehörigkeit in Europa während des 19. und 20. Jahrhunderts, in: A. Gestrich u. L. Raphael (Hg.), Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004, S. 207–229. 4 A. Spire, Étrangers à la carte. L’administration de l’immigration en France (1945–1975), Paris 2005. 5 G. Noiriel, La Tyrannie du national. Le droit d’asile en Europe (1793–1993), Paris 1991. 6 Diese Forschung erfolgte im Rahmen des Projekts A 6 »Administrative Kontrolle, organisierte Betreuung und (Über-)Lebensstrategien mediterraner Arbeitsmigranten in den Montanregionen zwischen Rhein und Maas (1950–1990)« des Sonderforschungsbereichs  600 »Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart« der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Vgl. auch: S. V. Losego, »Die französische Praxis der Einbürgerung am Beispiel der Gemeinde Longwy und des Arrondissements Briey (Dép. Meurthe-et-Moselle) zwischen 1945 und 1990« in: Gestrich u. Raphael, Inklusion / Exklusion, S. 187–206.

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Einen ersten Schritt in diese Forschungsrichtung erlaubt die hier genutzte Quellengattung der Einbürgerungsakten. Mit ihrer Hilfe wird für eine konkrete Region, nämlich das Industriebecken von Longwy, zu rekonstruieren versucht, welche Logiken der Inklusion und der Exklusion konkret mit der Naturalisation verbunden waren. Diese individuellen Fallakten sind einerseits Resultat der komplexen Verwaltungsoperationen, welche im Endergebnis zu Ablehnung, Aufschub des Antrags oder Einbürgerung des Antragstellers führten. Einerseits erlauben sie Einblicke in die Art und Weise, in welcher rechtliche Norm, politische Ziele und administrative Praktiken zusammenspielten, andererseits bieten sie aufgrund der Fülle an demografischen, sozialen, medizinischen Informationen über die Antragsteller, deren Familien und soziales Umfeld wichtige Hinweise darauf, welche sozialen Strategien bzw. biografischen Zusammenhänge eigentlich dem beantragten Statuswechsel oder Grenzübertritt zugrunde lagen.7 Aus der Vielzahl der Wege, die zum Erwerb der französischen Nationalität führen, wird hier ein Verfahren ausgewählt: dasjenige, welches für alle erwachsenen Ausländer obligatorisch war, die nicht qua Geburt, bei Erreichen der Volljährigkeit oder durch Heirat die französische Staatsangehörigkeit erwerben konnten. Der Wechsel erwachsener Ausländer in den Status des eingebürgerten Franzosen ist dabei der sichtbarste rite de passage und zugleich der deutlichste be­ völkerungspolitische Eingriff in die Gesamtbevölkerung. Diese »acquisitions par décret« machten immer die Mehrzahl der von den amtlichen Statistiken erfassten Einbürgerungsfälle aus: In den von uns ausgewählten Stichjahren waren es auf nationaler Ebene jeweils 70,9 % (1954), 79,6 % (1970) und 55,5 % (1989) der Fälle.8 In Verbindung mit den automatischen Einbürgerungen von im Land geborenen Ausländern bei deren Volljährigkeit bzw. den anderen Verfahren der Einbürgerung per Deklaration von Minderjährigen und Ehepartnern hat dieses Verfahren erhebliche Auswirkungen auf den politisch-rechtlichen Status der ausländischen Wohnbevölkerung in Frankreich gehabt: 1962 waren bereits 13,7 % der Bevölkerung im Bassin de Longwy »Français par aquisition«9, vorrangig stammten sie aus Polen und Italien. Zahlen auf nationaler Ebene verdeut7 Die im Departementsarchiv aufbewahrten Teile enthalten die bei der Präfektur gesammelten Akten: Dort findet man in der Regel einen detaillierten Bericht der lokalen Dienststelle der renseignements généraux zum Berufsleben, zur Einkommenslage, zu Vorstrafen und sozialer Bewertung der Antragsteller, den von der Mairie ausgefüllten Fragebogen zur Einbürgerung, ein ebenfalls vom Bürgermeister auszufüllendes Assimilationsprotokoll, gelegentlich eine Stellungnahme der örtlichen Sozial- und Gesundheitsbehörde (Direction départementale des Affaires Sanitaires et Sociales), sowie die zusammenfassende Berichterstattung und die Voten der beiden weiteren beteiligten Instanzen, des Sous-préfet und des Préfet. Zur weiteren Behandlung dieser Dossiers im Ministerium vgl. Spire, Etrangers, S. 338–342, S. 348 ff. 8 Zahlen in A. Spire u. S. Thave, »Les acquisitions de nationalité française depuis 1945«, Regards sur l’immigration depuis 1945, Paris, Publications de l’INSEE, Coll. »Synthèse«, Nr. 30, 1999. S. 51. 9 G. Noiriel, Longwy, Immigrés et prolétaires (1880–1980), Paris 1984, S. 344.

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lichen die erheblichen Differenzen, die zwischen den unterschiedlichen Einwanderergruppen bestanden und weiter bestehen: 1982 besaßen 51,7 % der aus Italien stammenden Ausländer die französische Staatsbürgerschaft. Bei den erst seit den sechziger Jahren zuwandernden Portugiesen und Marokkanern lagen die Zahlen noch deutlich niedriger (6,9 % und 6,3 %). Empirische Grundlage der folgenden Analysen sind zwei sich ergänzende und zum Teil deckende Datensätze: Zum einen wurden für drei Stichjahre (1954, 1970, 1989) die Einbürgerungsanträge, die im Arrondissement Briey (Département Meurthe-et-Moselle) gestellt worden sind, statistisch ausgewertet. In diesen Anträgen wurden folgende Merkmale erhoben: die Dauer des Verfahrens, Herkunft, Alter, Geschlecht der Antragsteller, ihr Familienstand, die Zahl ihrer Kinder sowie die Dauer des Aufenthalts in Frankreich.10 Darüber hinaus wurden für Gemeinden des Industriereviers von Longwy11 alle ­Dossiers umfassend ausgewertet, welche von algerischen, marokkanischen, tunesischen, polnischen, italienischen und portugiesischen Antragstellern handelten. Alle verfügbaren Informationen zu den beteiligten Akteuren der Verwaltung, deren Stellungnahmen und Voten, aber vor allem auch zu den Antragstellern, ihren Familien, sozia­len Lebensverhältnissen sind in diesen Fällen (insgesamt 160  Dossiers) aufgenommen worden.12 Dabei sind über die Dossiers der drei Stichjahre 1954, 1970 und 1989 hinaus auch weitere Dossiers aus den jeweiligen Zeiträumen 1950–1958 (insgesamt 50 Dossiers), 1965–1975 (insgesamt 46 Dossiers13) und 1976–1990 (insgesamt 100 Dossiers) aufgenommen worden, um die qua­ litativen Untersuchungen der lokalen Stichproben auf eine breitere Grundlage zu stellen.  Geht man entsprechend der einleitend genannten Hypothese von einem Wechselspiel zwischen politisch-administrativer Steuerung und sozialer Nachfrage aus, so legt dies nahe, für den Untersuchungszeitraum jeweils charakteristische Konstellationen zu unterscheiden, in denen die Antragsteller und Behörden typischerweise aufeinander trafen und aus denen dann unterscheidbare Logiken der Einbürgerung resultierten. Ausgehend von dieser Arbeitshypothese analysieren wir – gestützt auf das spezifische Quellenmaterial unserer Mikro10 Siehe Tabelle 13.1 im Anhang. 11 Es handelt sich um Dossiers, welche die Gemeinden Cosnes-et-Romain, Lexy, Rehon, Haucourt-Moulaine, Saulnes, Herserange, Longlaville, Mont-Saint-Martin und Longwy be­ trafen. 12 Es handelt sich um die bereits erfassten Teile einer Kleio-Datenbank zur Population der Ausländer bzw. naturalisés im bassin de Longwy, die aus Italien, Portugal oder den nordafrikanischen Staaten zwischen 1946 und 1990 immigriert sind. Diese Datenauswahl hat das Ziel, sowohl quantifizierende wie qualitative Analysen zur Naturalisation über einen längeren Zeitraum zu ermöglichen und damit vor allem einen diachronen Vergleich zwischen frühen und späten Einwandererpopulationen in dieser ostfranzösischen Industrieregion zu erleichtern. 13 Dazu kommen fünf Fälle, zu denen uns keine Dossiers vorliegen, die uns aber aus der präfektoralen Korrespondenz bekannt sind.

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studie – drei zeitspezifische Konstellationen: zwischen der L ­ ibération und Mitte der fünfziger Jahre bildete sich eine Einbürgerungspraxis in der Montanregion Longwy heraus, in welcher die neu formulierten politischen Vorgaben zu einer dezidiert politischen und sozio-kulturellen Assi­milation auf eine milieuspezifische soziale Integration von mehrheitlich italienischen und polnischen Arbeitsmigrantenfamilien trafen. Diese Konstellation wurde seit den späten fünfziger Jahren allmählich abgelöst durch eine zweite Konstellation, in der ein nunmehr dezidiert gleichrangig national- wie sozialpolitisches Integrationsmodell der Einbürgerung auf ein nach Herkunft wie sozialer Lage viel heterogeneres Ensemble von Arbeitsmigranten und damit auch auf eine immer vielfältiger werdende Nachfrage traf. Als Endpunkt dieser Phase können die frühen siebziger Jahre angesehen werden. Mit der auch politisch-rechtlichen Ratifizierung eines offeneren Integrationsmodells der Einbürgerung in den Jahren 1973/1974 bei gleichzeitigem Stopp der Arbeitsmigration entwickelte sich eine dritte Konstellation, deren Auswirkungen seit den späten siebziger Jahren in den Dossiers immer stärker hervortreten: Im Spannungsfeld zwischen einer politisierten Debatte um Kriterien und Prinzipien nationaler Integration14 und einer sich individualisierenden, in ihren sozialen, biografischen, nationalen Bezügen immer uneinheitlicheren Nachfrage nach Einbürgerung verschieben sich auch die Praktiken der Naturalisation, ohne dass eine ein­deutige Tendenz zu erkennen wäre. 1. Grundlage der Einbürgerungspraxis nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Code de la nationalité française vom 19. Oktober 1945. Bekanntlich war die Spannweite der politischen Ziele, welche mit diesem verbunden waren, sehr weit. Während Konsens darüber herrschte, dass mit der einbürgerungsfeind­ lichen, xenophoben Politik Vichys gebrochen werden sollte, reichte das Spektrum von Vorstellungen, welche die Einbürgerung zu einem zentralen Element einer sowohl eugenischen, nach Kriterien ethnischer Nähe auswählenden Bevölkerungspolitik machen wollten, wie dies etwa De Gaulle selbst im Anschluss an Georges Mauco beabsichtigte, bis zu liberaleren Konzepten, die universalis­ tische Zugangskriterien mit einer primär arbeitsökonomischen Zielsetzung verbanden.15 In den Runderlassen der nunmehr dem Ministerium für öffentliche Gesundheit und Bevölkerung unterstehenden Direktion für Besiedelung und Einbürgerung16 werden die neuen Prioritäten deutlich: »Après les grandes épreuves qu’il a subies et afin de conserver son rang de grande nation,­ notre pays doit pouvoir compter sur une population nombreuse et active. Une large politique d’immigration et de naturalisation s’impose donc … .La France

14 Vgl. Weil, Qu’est-ce qu’un, S. 165–181. 15 P.-A., Rosental, L’intelligence démographique. Sciences et politiques des populations en France 1930–1960, Paris 2003, S. 102–117; V. Viet, La France immigrée. Construction d’une politique 1914–1997, Paris 1998, S. 110–123. 16 Direction du Peuplement et des Naturalisations.

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a besoin d’une main d’œuvre nombreuse et qualifiée.«17 Gleichzeitig betonten die ersten Stellungnahmen der neuen republikanischen Autoritäten gegenüber den untergeordneten Dienststellen, die am Verfahren der Naturalisation beteiligt waren, die hohen Ansprüche, denen Bewerber gerecht zu werden hatten. Drei Gesichtspunkte wurden besonders betont: die »korrekte« Haltung der Bewerber insbesondere während der Zeit der deutschen Besatzung, eine weitgehende Assimilation,18 sowie schließlich »eine ausgezeichnete Gesundheit«. Das Spannungsverhältnis zwischen einer solchen exklusiven Auslegung der im Gesetz vom Oktober 1945 definierten Mindestkriterien (Mindestdauer des Aufenthalts: fünf Jahre, Loyalität, Assimilation, Gesundheit, Moralität und soziale Nützlichkeit (loyalisme, assimilation, santé, moralité, utilité sociale)  und dem politischen Programm einer offensiven Einbürgerungspolitik sollte sich sehr rasch zeigen: Angesichts der Fülle der in der Zeit des Vichy-Regimes liegen­ gebliebenen, beziehungsweise im Anschluss an die Befreiung neu gestellten Anträge kam die Verwaltung nicht nach: Die meisten Antragsteller mussten lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Die Politik intervenierte und setzte Prioritä­ten für einzelne Gruppen fest: Vorrang hatten nun Anträge ausländischer Angehörige der nationalen Streitkräfte19 und mit Blick auf den dringenden Bedarf in der Kohleproduktion auch Anträge ausländischer, vor allem polnischer Bergleute, zumal angesichts der diplomatischen Zugeständnisse an polnische Rückführungswünsche.20 Im Ergebnis führte diese Politik zu einer Welle von Einbürgerungen per Dekret. Sie erreichten mit 111.736 Einbürgerungen im Jahr 1947 ihren im Übrigen bis 1994 nicht mehr erreichten Höhepunkt: Zwischen 1946 und 1949 wurden insgesamt 300.684 Ausländer eingebürgert.21 Ein Blick in die zahlreichen Runderlasse der Jahre 1946, 1947, 1948, 1949 lässt die Schwierigkeiten erkennen, welche die Verwaltungen hatten, aus den widersprüchlichen politischen Vorgaben und den veränderten rechtlichen Normen admi-

17 »Nach den großen Prüfungen und um seinen Rang als große Nation zu erhalten, muss unser Land auf eine zahlreiche und aktive Bevölkerung zählen. Eine breite Einwanderungsund Einbürgerungspolitik ist deshalb vonnöten … Frankeich braucht zahlreiche und qualifizierte Arbeitskräfte«. Ministère de la Santé Publique et de la Population, Direction Général de la Population, Direction du Peuplement et des Naturalisations, Circulaires No. 112, 23. April 1947, Instruction des demandes de naturalisations, S. 1. 18 »La première condition qui s’impose à un candidat à la naturalisation, quels que soient ses titres, est son assimilation à nos mœurs… c’est à peine si un léger accent pourra être toléré«. Ministère de la Justice, Service Intérieur, Circulaire, 5. Februar 1945, Transmission à la Chancellerie de tous les dossiers de naturalisation et de réintégration dans la nationalité française, S. 4. 19 Ministère de la Santé Publique et de la Population, Secrétariat Général du Peuplement et de la Famille, Direction du Peuplement, Sous-Direction des Naturalisations, Circulaire, 18.2.1946. 20 »Accord franco-polonais de rapatriement du 20 février 1946«, in: J. Ponty, L’immigration dans les textes. France, 1789–2002, Paris 2003, S. 294 f. 21 Zahlen in Spire u. Thave, Les acquisitions, S. 52.

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nistrative Routine werden zu lassen. Dabei spielten materielle Schwierigkeiten, Probleme unzureichender administrativer Dokumentation (dossiers incomplèts) und schließlich wechselnde politische Vorgaben eine Rolle. Auch Ereignisse wie etwa der Stopp der bevorzugten Einbürgerung von Bergleuten nach den poli­ tischen Streiks im Herbst 1948 hinterließen ihre Spuren. Die von uns untersuchten Dossiers des Département Meurthe-et-Moselle bzw. in der für Longwy zuständigen Unterpräfektur in Briey stammen aus der anschließenden Phase, in der auf der Grundlage der gleichen Runderlasse und Gesetze eine deutlich restriktivere Einbürgerungsroutine betrieben wurde. Die Zahl der Anträge und der positiven Bescheide war rückläufig – ganz in Übereinstimmung mit Vorbehalten in der französischen Bevölkerung gegenüber einer weiteren Öffnung des Landes für Arbeitsmigranten.22 Erkennbar wird in den Dossiers des Jahres 1954, dass sich spätestens Anfang der fünfziger Jahre eine neue Art von Routine herausgebildet hatte, welche sich einerseits an den Runderlassen der vierziger Jahre orientierte, andererseits aber mit den neuen sozialen Realitäten der Einwanderung im Industriebecken von Longwy zu rechnen hatte. Dass diese Routine noch alles andere als stabil und zuverlässig war, darauf verweist die Verfahrensdauer: sie betrug bei den Einbürgerungsdossiers im Verwaltungsbezirk Briey des Jahres 1954 36 Monate, schwankte dabei zwischen dem Maximum von sechs Jahren und dem Minimum von vier Monaten. Dabei wurde ein Viertel der Antragsteller (61 Personen von 257) abgelehnt bzw. ihre Anträge zurückgestellt (ajourné). Die beruflichen und sozialen Realitäten der Antragsteller waren geprägt vom wachsenden Bedarf der lokalen Stahlindustrie nach ausländischen Arbeits­ kräften. Auf der Ebene der Anträge schlägt sich dies in der monotonen Wieder­ kehr von Berufsangaben aus diesem Industriezweig nieder  – nur das Bau­ gewerbe ist noch mit nennenswerten Häufungen vertreten.23 Die statistische Auswertung der Anträge im Stichjahr 1954 für das gesamte Industriegebiet des Haut Pays, also unter Einschluss des südlich von Longwy liegenden Minenorts Piennes sowie der Stahlstandorte Villerupt / Thil, Hussigny-Godbrange und Homécourt-Joeuf verdeutlicht, dass es sich dabei mehrheitlich um verheiratete Industriearbeiter polnischer (vor allem aus Piennes) und italienischer Nationalität (zusammen 86,6 %) handelte. Während sich die polnische Bevölkerung vor allem auf die Einzugsorte der Kohlengruben konzentrierte, verteilte sich die italienische Gruppe der Antragsteller breiter über das gesamte Arrondissement mit deutlichen Schwerpunkten in den metallverarbeitenden bzw. stahlerzeugenden Industrieorten. Ein Drittel der Antragsteller war zwischen 35 und 44 Jahre alt, und die Mehrheit von ihnen (53,2 %) war bereits als Jugendlicher nach Frankreich immigriert. 22 M.-C. Blanc-Chaléard, Les Italiens dans l’est parisien. Une histoire d’intégration (­ 1880–1960), Paris 2000, S. 492–546. 23 17 der 25 genannten Berufe in den Einbürgerungsdossiers Longwys in 1954 gehören in die Stahlbranche, sechs Antragsteller arbeiten im Baugewerbe, einer ist Schuster.

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Diese Gruppe von Antragstellern scheint damit eine ganz spezifische Teilgruppe innerhalb der rasch wachsenden italienischen Bevölkerung gewesen zu sein.24 Es handelt sich um Arbeitsmigranten, die in ihrer Mehrheit in den zwanziger Jahren eingewandert bzw. noch sehr jung in den dreißiger Jahren mit ihren Eltern in die Region gezogen waren und zuweilen nach kriegsbedingter Abwesenheit (z. B. Rückkehr nach Italien der Familien oder wegen Militärdienstes) seit Kriegsende wieder im Haut Pays arbeiteten. Sie hatten inzwischen geheiratet (ledig sind nur 13,7 %) und Familien gegründet. Die Zahl der Kinder in dieser Gruppe schwankt, 45,8 Prozent der antragstellenden Paare hatten aber drei und mehr Kinder, entsprachen also den natalistischen Erwartungen der zeitgenössischen Naturalisationspolitik. Eine Sonderstellung nimmt eine kleine, aber beachtliche Minderheit von Antragstellern ein (15,9 % im Arrondissement Briey), die mit Französinnen verheiratet waren und deren Kinder dementsprechend bereits die französische Staatsangehörigkeit besaßen.25 Wie reagierten nun die lokalen Vertreter der französischen Verwaltung auf die Anträge dieser Mehrheitsgruppe? Beteiligt an der Zusammenstellung der internen Dossiers waren die Bürgermeister der Wohngemeinden, das Büro des inländischen Nachrichtendienstes in Longwy, der Unterpräfekt und der Präfekt bzw. deren Verwaltung. Mit Abstand die genauesten Einblicke in die beruflichen, familiären, aber auch politischen Lebensumstände gewann dabei die Polizei in Longwy. Deren Angaben über Berufskarriere, Einkommenslage, die politische Einstellung, aber auch die sprachliche und kulturelle »Assimilation« der Antragsteller lieferten wichtige, wenn auch nicht in jedem Fall ausschlaggebende Hinweise für die Voten der übergeordneten Dienststellen. Weniger deutlich wird aus den Dossiers die Rolle der Bürgermeister bzw. von deren Stellvertretern, denen es oblag, einen umfangreichen Fragebogen über die persönlichen Verhältnisse des Antragstellers auszufüllen, und die überdies auch die sprachliche Kompetenz und die kulturelle Nähe der Bewerber zu den Lebensgewohnheiten (us et coutumes) der Einheimischen festzustellen hatten. Der Kriterienkatalog des Gesetzes, konkretisiert in den standardisierten Formblättern, lieferte den klaren Bezugspunkt für die Urteilsbildung der Behördenvertreter: Einige Kriterien eröffneten weite Ermessensspielräume und provozierten dementsprechend abweichende Voten. Hierzu gehörte vor allem die »Assimilation«. Ein Teil der mehrheitlich männlichen Antragsteller, vor allem jedoch ihre Ehepartner, sprachen nur schlecht Französisch, vielfach fehlte die Lesefähigkeit ganz, sowohl in der Muttersprache wie im Französischen. Traten dann noch Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen zu Tage, welche den Behördenvertretern als fremdartig erschienen, fiel die bereits pragmatisch auf den Grad »hinreichend« abgesenkte Messlatte der Assimilation.

24 1954 wurden offiziell 18.667 Italiener bei 30.363 Ausländern insgesamt im Arrondissement Briey gezählt. AD M-et-M, W 849 55 Statistiques annuelles 1948–1959. 25 Siehe Tabelle 13.1 im Anhang.

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Das Kriterium der »Assimilation« war zudem mit einer diffusen Vorstellung darüber verbunden, dass so etwas wie eine »wirklich französische Familie«26 existierte, denen sich die Neubürger anzunähern hatten. Dies setzte selbstverständlich voraus, dass die Familie als Ganze die Einbürgerung anstrebte. Waren bereits die Ehefrau und Kinder Franzosen, so bestand zumeist kein Zweifel, dass auch der Ehemann nunmehr in die Gemeinschaft der Franzosen hineingehörte. Es hat den Anschein, als übersetzten die Behörden dabei in die Sprache nationaler Zugehörigkeit eine lokale Wirklichkeit sozialer Einbettungen dieser Familien in ein proletarisches Milieu, welches sowohl am Arbeitsplatz als auch in den Wohnquartieren geprägt war durch das Nebeneinander von Arbeitern und Familien französischer, italienischer, polnischer, aber auch portugiesischer und anderer Herkunft. Soziale Kontakte der Einwanderer zur »französischen« Bevölkerung werden in Dossiers immer wieder thematisiert, sie waren ein wichtiges Element einer positiven Bewertung.27 Das Kriterium staatstreues Verhalten (loyalisme) hingegen löste in dieser Konstellation die meisten Irritationen aus: Gerade in den Runderlassen der unmittelbaren Nachkriegszeit war, wie wir gesehen haben, das Verhalten der Ausländer während des Krieges, also die Frage nach der collaboration, in den Vordergrund gerückt worden. Anders formuliert gehörte die Beteiligung am antifaschistischen Widerstand bzw. der Wehrdienst in französischen Streitkräften zu besonders wichtigen Gesichtspunkten bei der Bewertung der zu ergründenden Loyalität der Bewerber. Vor allem Italienerinnen und Italiener wurden sehr kritisch betrachtet, hatte ihr Vaterland doch zwischen 1940 und 1943 bzw. 1945 zu den Kriegsgegnern gezählt.28 Aber auch für alle anderen Ausländer galt, dass ihr Verhalten im Krieg über jeden Zweifel erhaben sein musste: Zwielichtige Arbeitsverhältnisse in Deutschland oder für Deutsche führten in der Regel zur Ablehnung. Die Behördenvertreter reproduzierten in ihren Wertungen über die Loyalität der Ausländer im Zweiten Weltkrieg implizit das offizielle Bild eines im Widerstand geeinten Frankreichs. Mangelnde Loyalität sahen die Behörden 26 Dieses Wunschbild kehrt jedenfalls regelmäßig in den Stellungnahmen der lokalen Vertreter wieder. Es war zugleich mit einem abschätzigen Blick auf Gewohnheiten und Sozialverhalten der Antragsteller verbunden. Über einen 48-jährigen portugiesischen Stahlarbei­ter (»bon ouvrier«) und seine Familie (»passable, pas complètement assimilé«) urteilte der Berichterstatter dann zusammenfassend: »Ils parlent et comprennent couramment le français. Il n’apparaît pas néanmoins que la naturalisation de ces étrangers soit susceptible d’être de quelque utilité sociale ou économique pour notre pays en raison de l’âge et du manque d’assimilation des postulants qui ne font rien pour s’élever au niveau des familles fran­ çaises.«(»Sie sprechen und verstehen flüssig Französisch. Es scheint aber nicht so zu sein, dass die Einbürgerung dieser Ausländer von irgendeinem sozialen oder wirtschaftlichen Nutzen für unser Land sei aufgrund des Alters und des Mangels an Assimilation dieser Antragsteller, die nichts unternehmen, um auf das Niveau der französischen Familien zu kommen.«) AD M-et-M, W 199. 27 Der Stand unserer Forschung erlaubt noch nicht, die örtlichen Vernetzungen bis zur Ebene der Straßen und Viertel zu verfolgen. 28 Dies führte bei acht von 38 Fällen zur Zurückstellung des Antrags: AD M-et-M, W 720 7.

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in den fünfziger Jahren auch bei vor allem italienischen Antragstellern, die als Sympathisanten der kommunistischen Partei, als Aktivisten der linken Gewerkschaft CGT, aber auch bloß als Streikaktivisten in den Jahren 1947–1950 in der Region bekannt waren.29 Eventuelle Hinweise auf ihre Aktivitäten in der Résistance wirkten dem nicht entgegen. Hier siegte die Logik des Kalten Kriegs über die Anerkennung des Beitrags dieser Ausländer am Widerstand. Die Vorwürfe wiederholten sich in diesen Fällen: »fréquentations avec des militants communistes locaux« (»regelmäßiger Kontakt mit lokalen kommunistischen Aktivisten«), »collectes organisés au cours des mouvements de grève« (»Beteiligung an Spendensammlungen während der Streiks«).30 Dieses politische Misstrauen in Verbindung mit deutlichen Vorbehalten gegenüber dem Grad der Assimilation (neun Fälle von 38 vertagten Entscheidungen (ajournements) vor allem jüngerer italienischer Antragsteller führte zu einem bemerkenswerten Unterschied bei den Beurteilungen der Dossiers von Polen und Italienern, den beiden mit Abstand größten Ausländergruppen: Während bei den Italienern gut ein Drittel der Anträge mit Aufschub und Ablehnung beantwortet wurde, waren dies bei der zweiten Hauptgruppe, den Polen, nur etwas mehr als 8 Prozent. Dabei spielten die Unterschiede in Beruf, Aufenthaltsdauer, Alter und Familienstand keine Rolle. Hier zeigt sich demnach ein Wahrnehmungs- und Bewertungsunterschied seitens der französischen Behörden. Die Quellen lassen keine expliziten Vorzüge für polnische Arbeitsmigranten erkennen, sie entsprachen aber viel häufiger den Erwartungen der Einbürgerungsbehörden. Hier ist zweifellos ein Nachhall der Kriegskonstellation 1939–1944, aber auch ein Echo ethnisierender Distanzierungen gegenüber den mediterranen Einwanderern zu vermuten. Welche Strategien individueller oder familiärer Mobilität der Bevölkerung lassen sich nun in den Einbürgerungsanträgen der frühen und mittleren fünfziger Jahre in Longwy und Umgebung erkennen? Die Antworten der Bewerber auf die einschlägigen Fragen der Fragebögen entsprachen den Erwartungen, sie bejahten immer wieder, »jede Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat« verloren zu haben. Positiv formuliert wird die Verlagerung des Lebensschwerpunktes der Familie, voran der Kinder nach Frankreich als Motivation genannt.31 Angaben über die Migration der Familien, vor allem von Eltern und Geschwistern der Antragsteller, erlauben zumindest in einigen Fällen die sozialen Realitäten hinter diesen Gemeinplätzen zu beleuchten. 29 Dies führte bei 12 von 38 Fällen zur Zurückstellung des Antrags: AD M-et-M, W 720 7. 30 Zurückstellungen in AD M-et-M, W 720 7. 31 Jede Abweichung von dieser Papiernorm gefährdete den Erfolg des Antrags wie die Ablehnung eines portugiesischen Antragstellers (Arbeiter, gelernter Bauschreiner, 46 Jahre bei seinem ersten Antrag 1951) verdeutlicht, dem seine Offenheit zu Verhängnis wurde. Seit 1929 in Frankreich auf den verschiedensten Arbeitsstellen (Hoch- und Tiefbau, Landwirtschaft ) hoffte er ausdrücklich auf die bessere Altersversorgung in seiner Wahlheimat, in der er überdies Haus, Ehefrau und Kinder hatte: und löste entsprechend negative Reaktionen in der Bürokratie aus. Siehe AD M-et-M, VC 661.

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Tabelle 13.1 listet einige Indikatoren auf, welche erlauben, unterschiedliche fami­lienbiografische Momente und Situationen zu bestimmen, in denen die Ausländer Longwys in den Jahren 1950–1953 die Option der Einbürgerung ergriffen haben. Wir können dabei zwei Gruppen unterscheiden: Die unter 40-Jährigen, die in der Regel bereits als Kinder eingewandert waren; ihre Eltern wohnten in der Region, sie hatten vielfach Geschwister, welche bereits naturalisiert worden waren, und mehrere oder alle ihrer Kinder waren bereits bei der Antragstellung naturalisiert. Die Naturalisation ratifiziert frühzeitig eine bereits seit zwei Generationen sich vollziehende Verlagerung des Lebens. Ganz deutlich wird dies in den fünf Fällen, in denen die Ehefrauen Französinnen bzw. naturalisierte Italienerinnen sind. Bei der Gruppe der älteren Antragsteller ist die Lage etwas anders: Auch bei ihnen sind die meisten (inzwischen erwachsenen) Kinder naturalisierte Franzosen, aber die meisten ihrer Geschwister sind es nicht. Die Arbeitsmigration hat diese Familien in unterschiedlichem Maße erfasst, vielfach sind noch immer Geschwister oder Eltern am Geburtsort oder in dessen Nähe wohnhaft, und andere Teile der Familie sind in andere Auswanderungsregionen abgewandert. Hier erfolgte die Entscheidung zur Einbürgerung nicht nur biografisch später, sondern kann auch als das Ende alternativer Mobilitätsoptionen im familiä­ ren Kontext verstanden werden. Aus Sicht der Behörden stellten diese Menschen ihre Anträge »spät«, vielfach aus ihrer Sicht »zu spät«, wenn es sich z. B. um Witwer oder Witwen handelte, deren Kinder und Enkel in Frankreich geblieben, dort geboren und inzwischen eingebürgert worden waren. Sie waren für den französischen Staat uninteressant bzw. ihre späte Entscheidung löste Misstrauen aus. Ein Fall mag die Situation dieser älteren Antragsteller verdeutlichen: Paolo und Grazia N.,32 beide 1903 im italienischen Penna (Provinz Pesaro / Urbino, in den Marken) geboren, wanderten zwischen 1930 und 1935 nach Frankreich aus und ließen sich in Longlaville nieder. Drei ihrer vier Kinder waren zum Zeitpunkt der Antragstellung (1952) bereits französische Staatsbürger (par ­déclaration), für den ältesten, noch in Italien geborenen Sohn wurde ebenfalls die Einbürgerung beantragt. Paolo N. arbeitete als Einrichter für die Aciéries de Longwy in Mont Saint-Martin. Eine seiner Schwestern wohnte ebenfalls in Longlaville, die übrige Familie lebte in Faenza und Sernabilli, wo Paolo ein Haus und ein Stück Land besaß. Obwohl die Behörden das Einbürgerungsgesuch der N.s als verspätet erachteten, wurden alle drei 1954 eingebürgert, vielleicht auch, weil die Familie als »sehr hoch geachtet« und alle als »gut assimiliert« beurteilt wurden.33 Soziale Wanderungsmuster und politisch-administrative Integrations- und Assimilationserwartungen sind keineswegs identisch, doch im Bassin de Longwy, so lassen sich die Befunde zusammenfassen, etablierte sich eine Einbürgerungs32 Namen geändert. 33 AD M-et-M, W 199 12.

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praxis, welche einen Kompromiss darstellte zwischen dem sowohl auf politische Loyalität als auch auf sprachlich-kulturelle Anpassung zentrierten Leitbild eines homogenen Staatsvolkes und den sozialen Integrationseffekten einer lokalen Zuwanderungsgesellschaft proletarischer Prägung, in der sich nach den politischen Konflikten und erzwungenen Abwanderungen der Kriegsjahre vor allem italienische und polnische Zuwanderer nunmehr dauerhaft niederlassen wollten. Dabei lassen die Dossiers zumindest drei parallele, eigenständige Inklu­ sionsmuster erkennen, welche die Nachfrage seitens der Antragsteller gefördert zu haben scheinen. Zum einen erleichterten die Beschäftigungsverhältnisse die Inklusion: Alle Dossiers enthalten positive Voten der Unternehmen über ihre ausländischen Beschäftigten, einige Arbeiter waren bereits Vorarbeiter und hatten damit auch in der Betriebshierarchie eine höhere Position erklommen. Der lokale Bedarf und die Hochschätzung der ausländischen Arbeiter durch die Arbeit­geber waren Gegengewichte gegenüber einem offiziellen Blick, der auf strikten Loyalität und gute Assimilation höchsten Wert legte. Zweitens kamen die Immigranten wie eine beachtliche Minderheit ihrer französischen Kollegen vom Land, hatten bäuerliche Wurzeln, etablierten sich in der neuen industriellen Sozialwelt in einem französischen Arbeitermilieu, das von ähnlichen Erfahrungen geprägt war. Die Stahlwerke der Region rekrutierten ca. ein Drittel ihrer Belegschaft aus den noch agrarisch geprägten Dörfern des Umlandes. Das dritte Inklusionsmuster war politisch: Antifaschismus, Volksfront 1936, Widerstand und die harten politisierten Streiks der Jahre 1947–1950 hatten eine aktive Minderheit von Arbeitsmigranten mobilisiert und ihre Bindungen an ihre politische Wahlheimat (»patrie idéelle«) gestärkt. Aber paradoxerweise wurde ein Teil dieser kommunistischen bzw. gewerkschaftlichen Aktivisten, nämlich jene, die anders als ihre Geschwister oder Genossen weder durch Geburt im Land, noch durch schnelle Einbürgerung unmittelbar nach Kriegsende naturalisiert worden waren, zu politisch Ausgegrenzten, denen die Zugehörigkeit zu ihrer politischen Heimat und damit die Partizipationsrechte zunächst verweigert wurden. 2.  Die nächste Konstellation, die wir genauer analysiert haben, lässt sich grosso modo den Jahren zwischen 1965 und 1975 zuordnen. Auf legislativer Ebene war es nach 1959 zu einigen Änderungen gekommen. So konnten ausländische Ehefrauen, die vor 1945 noch keinen Antrag auf Naturalisation gestellt hatten, seit 1959 im Verfahren per Deklaration die französische Staatsbürgerschaft erwerben. Den Bürgern der unabhängig werdenden Kolonien wurden bevorzugte Bedingungen (vereinfachtes Verfahren, verkürzte Aufenthaltsdauer in Frankreich) eingeräumt. Schließlich tauchte als neues Problem die Wiedereinbürgerung (»réintegration«) algerischer Staatsbürger auf.34 Das Verfahren der Einbürgerung selbst wurde jedoch erst im November 1967 überarbeitet.35 Insgesamt bestätigte dieser Runderlass die bisherigen Verfahrensregeln und 34 Spire, Etrangers, S. 347–350. 35 Ministère des Affaires Sociales, Circulaire Nr. 439, 23.11.1967, relative à l’instruction des demandes de naturalisation et de réintégration.

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Bewertungs­k riterien (vor allem mit Blick auf politische Neutralität und Loyalität sowie bezüglich der Moralität), nuancierte aber im Detail die Kriterien,­ voran das der »Assimilation«: »Est dit assimilé au sens de l’article 69 l’étranger qui, par son langage, sa manière de vivre, son état d’esprit, son comportement à l’égard des institutions françaises, se distingue aussi peu que possible de ceux de nos nationaux au milieu desquels il vit.«36 Ausdrücklich wies der Runderlass die Behördenvertreter an, nach Hinweisen Ausschau zu halten wie z. B. Kontakt zu Franzosen, elementare Kenntnisse des Französischen für den Alltag, Kinder, die bereits in Schule oder Beruf französisch gelernt hatten. Schließlich sollte auch eine neue Behörde, die Direktion für Gesundheit und Soziales in den Departe­ ments, bei Zweifelsfällen eingeschaltet werden, die insbesondere die sozialhygienischen Lebensumstände der ausländischen Familien bewerten sollten. »Ohne übertriebene Strenge« (»sans excessive rigueur« )37 sollten auch frühere Ver­ urteilungen aufgrund von unbeabsichtigten Vergehen gegen das Ausländerrecht bewertet werden. Auf legislativer Ebene wurden schließlich mit dem Einbürgerungsgesetz von 1973 drei wichtige Neuerungen eingeführt: So erhielt erstens der ausländische Ehemann einer Französin die Möglichkeit, sich über das vereinfachte Verfahren einbürgern zu lassen und wurde damit den ausländischen Ehefrauen von Franzosen rechtlich gleichgestellt. Zweitens galt der »effet collectif«, also die Mit­einbürgerung der Kinder von einzubürgernden Eltern im selben Verfahren, ab 1973 nur noch für minderjährige Kinder. Drittens konnten sich Angehörige ehemaliger Überseegebiete, die vor der Unabhängigkeit ihres Landes die franzö­ sische Nationalität besaßen und zum Zeitpunkt der Antragstellung ihren Wohnsitz in Frankreich hatten, per Deklaration in die französische Staatsbürgerschaft »reintegrieren« lassen und somit das viel aufwändigere Einbürgerungsverfahren per Dekret umgehen. Ein Jahr nach dieser Gesetzesrevision wurde auch das administrative Verfahren der Einbürgerung überarbeitet. In weiten Teilen bestätigte der Runderlass von 1974 jedoch die Direktiven von 1967. Er übernahm das Kriterium der »zureichenden Assimilation«, welches die Forderung nach »vollständiger Assimilation« des Einbürgerungswilligen früherer Verwaltungsrundschreiben ersetzt hatte. Er bestätigte nochmals die fünf Ziele der offiziellen Einbürgerungspolitik: Vergrößerung der nationalen Population durch harmonische Integration neuer Elemente,38 Erhalt der (ethnisch verstandenen) Homogenität der französischen 36 »Als assimiliert gilt im Sinne des Artikels 69 der Ausländer, der sich nach Sprache, seiner Art zu leben und zu denken, seinem Verhalten gegenüber den französischen Institutionen so wenig wie möglich von unseren Staatsbürgern unterscheidet, in deren Mitte er lebt.« Circulaire No 439, 23.11.1967, S. 3. 37 Ebd., S. 5. 38 Ministère du Travail, de l’Emploi et de la Population, Circulaire No. 4/74, 12.2.1974, Con­ stitution et instruction des dossiers de naturalisation, de réintégration dans la nationalité française et d’autorisation de perdre la nationalité française, S. 6.

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Gemeinschaft,39 nationale Einheitlichkeit der Familie, Weiterführung der liberalen französischen Asyltradition40 und die Beibehaltung des Hauptkriteriums des persönlichen Verdienstes (»mérite«) und der individuellen Würdigkeit bei der Vergabe der französischen Nationalität. Obwohl der Runderlass von 1974 die bereits 1967 verordnete nachsichtige Beurteilung der von Ausländern begangenen, verjährten Straftaten bestätigte, übernahm sie nicht die 1967 explizit geforderte Kulanz in der Bewertung nicht intentional begangener Straftaten illegaler Einwanderung und des Nicht-­ Besitzes des Ausländerausweises. Hingegen bestätigte sie die auf den Einbürgerungsentscheid sich negativ auswirkenden Kriterien lang andauernder Arbeitslosigkeit, mehrmaligen Staatsangehörigkeitswechsels, enger Verbindungen oder Aktivitäten in Bezug zum Herkunftsland des Ausländers und dessen mangelnden Integrationswillens und oberflächlicher Identifikation mit Frankreich.41 Was also die der Verwaltung vorgegebenen Wahrnehmungsmuster angeht, lässt sich in den Runderlassen kein unmittelbarer »Effekt 1968« erkennen, im Gegenteil: An der hergebrachten Vorstellung von der Einheit der französischen Nation, die zu ihrem Erhalt der unpolitischen Gesetzestreue und des Glaubens an die Werte »Familie«, »Arbeit« und »Sittlichkeit« ihrer (neuen) BürgerInnen bedurfte, wurde trotz größerer Toleranz in bestimmten Bereichen (Alter, Gesundheit, Kinderlosigkeit des Antragstellers) festgehalten. Diesen natalistischen und integrativen Leitlinien der Einbürgerungspolitik folgten, soweit erkennbar, die Wahrnehmungsmuster und Entscheidungspraktiken der Behörden zwischen 1967 und 1974. Dem entspricht auch die Beschleunigung der Verfahren: 1970 dauerte es im Durchschnitt nur noch 13 Monate; zwischen dem schnellsten und dem langsamsten Verfahren lagen nur noch fünf Monate. Dies weist auf die Etablierung robuster Routinen hin. Mehrfach setzten sich aber auch die Zentralbehörden über die Bedenken der lokalen Dienststellen hinweg: so bei vagen Hinweisen auf »linksradikale Einstellungen« (»sentiments favorables à l’extrème gauche«,»sympathisant d’extrème gauche«)42 in Verbindung mit sprachlichen Schwierigkeiten (»mauvaise assimilation lingu­ istique«).43 Diese Einbürgerungspraxis steht zugleich auch in enger Verbindung mit der zwischenzeitlich etablierten Sozialpolitik für Ausländer, die sich primär an die immer noch wachsende Gruppe der Industriearbeiter richtete. Hinzuweisen ist an dieser Stelle nur auf die seit dem Ende des Algerienkriegs zu beobachtende Ausweitung sozialintegrativer Maßnahmen wie den Bau von Wohnheimen, Sozialwohnungen und die berufliche Weiterbildung auf alle ausländischen Arbeitnehmer. Einrichtungen wie die Sonacotra und Maßnahmen des Fonds 39 Negativ ausgedrückt das Vermeiden der Entstehung ethnischer Minderheiten auf franzö­ sischem Staatsgebiet. 40 Und damit die Einhaltung internationaler Verpflichtungen. 41 Circulaire No. 4/74, 12.2.1974, S. 7, 8. 42 AD M-et-M, W 1576 122. 43 AD M-et-M, W 1576 118.

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d’Action Sociale bildeten den konkreten Hintergrund für die Verschiebungen der Akzente in der Einbürgerungspolitik.44 Diese Politik hat auch im Département Meurthe-et-Moselle ihre Spuren hinterlassen: Hier waren es die Stahlkonzerne selbst, welche über den Bau von Sozialwohnungen durch die Société HLM La Familiale (70 % ihres Kapitals wurden von den beiden großen Stahlunternehmen Aciéries de Longwy und Senelle-Maubeuge gehalten) für kostengünstige Wohnungen ihrer Belegschaften sorgten. Die Mehrheit der Beschäftigten war 1962 in Werkswohnungen untergebracht.45 1963 begann der Ausbau der Z. U. P. in Mont-Saint-Martin, in der 880 Reihenhäuser und zunächst 670 Mietwohnungen gebaut wurden. Zwischen 1958 und 1967 wurden von der Familiale im Bassin de Longwy insgesamt 1878 Wohneinheiten errichtet. Welche Veränderungen hatten sich nun seitens der Antragsteller seit dem Ende der fünfziger Jahre ergeben, welche es sinnvoll erscheinen lassen, von einer neuen »Konstellation« zu sprechen? Die Statistik der Dossiers des Verwaltungsbezirks Briey des Jahres 197046 zeigt nur leichte Verschiebungen gegenüber 1954 an. Zum einen veränderte sich langsam die Herkunft der Antragsteller: Italiener machen nur noch gut die Hälfte (50,8 Prozent) aus, während Polen immer noch fast ein Viertel der Bewerber stellten (24 Prozent). Daneben weitet sich der Kreis: Osteuropäer, Nordafrikaner, Zuwanderer aus den Nachbarregionen beantragten 1970 die Einbürgerung. Darin spiegelt sich zunächst einmal mit einer gewissen Verzögerung und Verzerrung die Verschiebung der Zuwanderung seit den frühen sechziger Jahren. Nach wie vor dominieren Ehepaare bzw. Familien (82,5 %) und nach wie vor ist die Zahl der kinderreichen Familien (drei und mehr) sehr hoch: 43,2 %. Auch die Altersstruktur bleibt gleich: Nach wie vor dominiert die Gruppe der 30-Jährigen (33,9 %), die Zahl der jüngeren und der älteren Antragsteller ist gegenüber 1954 kaum verändert. Verändert hat sich vor allem die Zahl der Ablehnungen und Aufschübe: Sie ist ganz im Einklang mit dem nationalen Trend auf 14,8 % gefallen. Bei allgemein gestiegener Akzeptanz der Anträge fallen nun auch die Italiener nicht mehr aus dem Rahmen. Sie sind im Zeichen der EWG, des Atlantikpakts und der Erfindung eines neuen gemeinsamen Westens offensichtlich in den Wahrnehmungsschemata der Zeitgenossen der Mehrheit der Bevölkerung »ähnlicher« geworden als noch 15 Jahre vorher. Diese statistischen Befunde werden (aber nur teilweise) bestätigt durch die qualitative Analyse der 26 von italienischen, portugiesischen und polnischen Kandidaten gestellten Einbürgerungsanträge aus Longwy dieses Zeitraums. Alle italienischen und portugiesischen Antragsteller sind in den beiden Zuwanderungswellen seit Kriegsende, entweder in den Jahren zwischen 1947–1949 oder 1957–1959, nach Frankreich gekommen. In der Gruppe der älteren, über 40-jährigen Antragsteller sind die Kontinuitäten zur Konstellation von 1954 am deutlichsten. Nach wie vor arbeiteten die meisten Antragsteller in den Stahl44 Viet, La France immigrée, S. 299–356. 45 Noriel, Longwy, S. 359. 46 Siehe Tabelle 13.1 im Anhang.

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werken (neun) oder im Baugewerbe (fünf): Auch bei ihnen handelt es sich wie 1954 um Zuwanderer, die aus Familien stammen, deren zweite Generation, also die Geschwister der Antragsteller, über mehrere Migrationsorte in ihrem Heimatland und im Ausland verstreut lebten. Deutlicher sind die Veränderungen gegenüber den Einbürgerungen von 1954 bei den Jüngeren: Sechs von ihnen sind ledig, sie sind sehr jung nach Frankreich gekommen und strebten frühzeitig die Naturalisation an, unter ihnen drei Frauen. Sie sind keineswegs Nachzügler, bei dreien sind die Geschwister (noch?) nicht eingebürgert, in zwei weiteren Fällen ist es nur ein Teil, nur in einem Fall sind es beide Geschwister. Beruflich sind alle diese jungen Antragsteller nach den Kriterien der lokalen Arbeitsmärkte und ihrer Herkunftsmilieus erfolgreich: Drei junge Frauen arbeiten im medizinischen Bereich (als Pflegehilfskraft oder Arzthelferin), die Männer sind als Facharbeiter tätig, zwei besuchen weiterführende Schulen bzw. studieren. Sie haben alle mehr oder weniger erfolgreich das französische Schulsystem absolviert. Hier strebte eine durch ihre Geburt im Herkunftsland noch als Ausländer markierte Gruppe junger Immigran­ten offensichtlich danach, den gleichen Status zu erlangen wie ihre in Frankreich geborenen Freunde, Bekannten oder Geschwister. Beruflicher und schulischer Aufstieg werden hier als wichtige Elemente einer »neuen« Nachfrage nach Einbürgerung erkennbar. Folgt man Bonnet und Noiriel, so gehörte die »zweite Generation« italienischer und mit Einschränkungen polnischer Arbeitsmigranten zu den wichtigsten Trägern der kommunistisch-gewerkschaftlich geprägten Arbeiterkultur, welche sich seit den Streiks von 1936 und 1947 in scharfem Gegensatz zur paternalistisch-katholischen Unternehmerschaft der Region etablierte und in immer stärkerem Maße auch die Lokalpolitik in den Arbeitergemeinden der sech­ziger und siebziger Jahre prägte.47 Dieses primär italo-französische Arbeitermilieu gewann in vielen Industriegemeinden eine dominante Stellung und prägte viele der Gewohnheiten und Routinen, welche sich in der Arbeitswelt, konkret in den Arbeitsequipen und an den Arbeitsplätzen der neu gebauten und intern neu strukturierten Fabriken der lothringischen Stahlindustrie seit den frühen fünfziger Jahren herausgebildet hatten.48 Diese kommunistische Kultur mit ihrer Betonung der politischen (= revolutionären) Tradition Frankreichs und getragen von den neuen Hierarchien zwischen Angelernten und Facharbeitern in den Fabriken wirkte jedoch keineswegs mehr als Attraktionspol für die wachsende Zahl von Immigran­ten aus Marokko, Tunesien oder Algerien. Trotz hinreichender Aufenthaltsdauer fehlten sie noch fast ganz in den Dossiers dieses Jahrzehnts.49 47 Noiriel, Longwy, S. 361–387. 48 M. Donati, Cœur d’acier. Souvenirs d’un sidérurgiste de Lorraine, Paris 1994. 49 Obwohl einem anderen Einbürgerungsverfahren zugehörig, sind hier dennoch diejenigen Algerier zu erwähnen, die sich zwischen 1962 und 1967 per Deklaration ihre französische Staatsangehörigkeit hatten bestätigen lassen, siehe AD M-et-M, W 966 123–126.

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Die Mehrzahl der nordafrikanischen Arbeitsmigranten waren nach wie vor Männer, die entweder ledig waren oder deren Familien in ihren Heimat­ländern wohnten. Ihre Zahl nahm in diesem Zeitraum deutlich zu.50 Wenn sie Anträge stellten, bereiteten ihre Dossiers teilweise Schwierigkeiten bzw. führten zu Irrita­tionen bei den lokalen Behörden. Von insgesamt neun Anträgen in unserem Sample51 wurden nur zwei mit einem Einbürgerungsentscheid beantwortet.52 Es handelte sich um nordafrikanische Männer im Alter zwischen 32 und 63 Jahren, von denen sich die meisten seit vielen Jahren in Frankreich aufhielten.53 Diejenigen Männer,54 die verheiratet waren, lebten seit Jahren von ihren im Herkunftsland gebliebenen Familien getrennt. Alle Kandidaten verfügten über eine sehr geringe oder gar keine Schulausbildung und galten den Einbürgerungsbehörden als tendenziell unzureichend assimiliert. Vier der insgesamt sechs Antragsteller hatten während des Zweiten Weltkriegs, im Indochina- oder im Algerienkrieg in der französischen Armee gedient.55 Interessanterweise begründeten die Gesuchsteller ihren Einbürgerungsantrag nicht mit dem Wunsch, dauerhaft in Frankreich zu bleiben, sondern damit, nicht ins Herkunftsland zurückkehren zu wollen  – eventuell handelte es sich weniger um ein nicht Wollen, als um ein nicht Können aus verschiedenen (beispielsweise ökonomischen oder politischen) Gründen. Bei diesen Anträgen spielte auch das Kriterium der Loyalität wieder eine besondere Rolle. Dies gilt für Algerier, welche die bis 1967 bestehende Möglichkeit nicht wahrgenommen hatten, ihre französische Nationalität per Deklaration zu bestätigen, aber später versuchten, sich per Dekret einbürgern zu lassen. So wurde der Antrag eines 35-jährigen verheirateten Algeriers 1974 um fünf Jahre auf­

50 Im Département Meurthe-et-Moselle waren Algerier (12.780 Personen) bei der Volkszählung 1975 die zweite Ausländergruppe hinter den Italienern (16.240 Personen). cf. INSEE, recensement 1975: structure de la population. 51 Ein Kandidat stellte nacheinander vier Anträge, weshalb wir insgesamt neun Einbürgerungsanträge zählen. 52 Wir haben Kenntnis von insgesamt elf Anträgen, die dieser Kandidatengruppe zuzuordnen sind; von diesen elf Anträgen wurden sechs zwischen 1968 und 1981 im Arrondissement Briey gestellt. Von den übrigen fünf Fällen, die alle aus den Jahren 1969 und 1970 stammen und bei denen es sich um Personen handelt, die im Arrondissement Briey gelebt und / oder gearbeitet hatten, wissen wir dank der überlieferten Korrespondenz des Präfekten von Meurthe-et-Moselle, siehe AD M-et-M, W 1576 115, Naturalisation correspondance diverse, 1969–1971. Unsere Aussagen beziehen sich auf die sechs zwischen 1968 und 1981 gestellten Gesuche. 53 In fünf von sechs Fällen betrug die Aufenthaltsdauer zwischen 19 und 31 Jahren. In einem Fall betrug sie neun Jahre, doch hatte dieser Kandidat vor seiner Niederlassung in Frankreich bereits 15 Jahre lang in der französischen Armee gedient. 54 Zwei Antragsteller waren verheiratet, einer getrennt, einer geschieden. 55 Wir vermuten, dass es sich in dem einen Fall um den Algerienkrieg gehandelt hat (der Einbürgerungskandidat war vermutlich ein Harki), das Dossier macht darüber aber keine klare Aussage, siehe 1639 W 28.

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geschoben56, der wahrscheinlich im Algerienkrieg als Harki gekämpft hatte und seit 196257 allein in Frankreich lebte. Trotz seines Kriegsdienstes für Frankreich wurde er dahingehend verdächtigt, »que seules les nécessités du moment [l’]ont incité à demander une intégration [dans la nationalité française]«.58 Der Bürgermeister vermerkte im Fragenformular, der so genannten »note de renseignement«, der Antragsteller habe nach den »Ereignissen in Algerien« nicht die nötigen Schritte unternommen, um die französische Nationalität zu behalten. Dem Algerier selbst war aber wahrscheinlich gar nicht klar gewesen, dass er kein Franzose (mehr) war, jedenfalls lässt darauf ein in seinem Dossier enthaltenes Schreiben schließen, worin es heißt: »mai comment sa se fait que je demande la Nationalité Français sa reste 3 ans répondez moi oui ou non car italien, alemand tout de suite et Français sa reste 3 ans .moi j’ai fait 3 ans a l’armée je suis en france depuis 1961 car maintenant je ne retourne pas en algérie«.59 Die Parallelen zur Behandlung italienischer Dossiers in den fünfziger Jahren im Zeichen nationaler Loyalitätsvorbehalte sind jedenfalls auffällig. 3. Erst 1976 lässt sich auf politischer Ebene ein eindeutiges Bekenntnis zu einer liberalen Einbürgerungspolitik feststellen. Wahrscheinlich stand diese Öffnung des Einbürgerungsverfahrens in unmittelbarem Zusammenhang mit der 1974 erfolgten Ablösung einer inoffiziellen Politik der offenen Grenzen durch verschärfte Zutrittsbestimmungen zum französischen Territorium für ausländische Arbeitskräfte. Die erschwerte Einwanderung neuer Immigranten nach Frankreich sollte ergänzt werden durch das Bemühen um eine bessere Integration der im Lande bereits anwesenden Ausländer. Die Einbürgerung schien eines von mehreren probaten Mitteln zu sein. Im Runderlass von 1976 heißt es dementsprechend: »[L]a libéralisation de la politique des naturalisations… traduit une volonté délibérée du Gouvernement. …il faut désormais éliminer tous les critères qui pourraient apparaître comme autant de tracasseries inutiles«; und weiter: »L’accès à notre nationalité doit être considéré comme une aspiration à encourager«.60 Obwohl auch diese Richtlinie eine ausreichende Assimilation des Ausländers an die französische Lebensweise und dessen Loya56 AD M-et-M, 1639 W 28; das Dossier stammt aus dem Arrondissement Briey, nicht aber aus Longwy bzw. den angrenzenden Gemeinden. 57 Oder 1961, das Dossier enthält widersprüchliche Angaben. 58 »…nur Erfordernisse des Augenblicks ihn veranlasst hätten, die Einbürgerung zu beantragen«. Die Stellungnahme des Präfekten gegen die Einbürgerung dieses Antragstellers beinhaltet weitere Kritikpunkte, wie instabile Lebenslage, mittelmäßiger Assimilationsgrad, ausschließlicher Umgang mit seinen Landsleuten und schlechter Charakter. 59 »Aber wie kommt es, dass ich seit drei Jahren die französische Staatsbürgerschaft beantrage, antworten Sie mit Ja oder Nein, denn als Deutscher oder Italiener wird man sofort eingebürgert; und als Franzose wartet man drei Jahre, ich habe drei Jahre in der Armee gedient, ich bin seit 1961 in Frankreich, denn jetzt kehre ich nicht nach Algerien zurück«. Brief vom 5. Juni 1971, Fehler im Original, AD M-et-M, 1639 W 28. In unserem Quellencorpus gibt es weitere derartige Fälle. 60 »Der Zugang zu unserer Staatsbürgerschaft soll als eine Bestrebung betrachtet werden, die es zu fördern gilt.« Circulaire No 439, 23.11.1967, S. 1–2.

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lität gegenüber dem französischen Staat zur Vorbedingung machte, wird aus dem Schreiben dennoch ersichtlich, dass hinter den immer noch gleich lautenden Konzepten neue Ideen standen: »L’assimilation… doit être appréciée de ­façon large…, surtout quand il s’agit de personnes proches de nous par la culture.«61 Ausdrücklich sollten das fortgeschrittene Alter, unverschuldete62 Erwerbslosigkeit (»inactivité professionnelle«) und die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft oder Mitgliedschaft in einem Betriebsrat keinen Hinderungsgrund für die Einbürgerung darstellen. Vor allem aber wurden das Konzept der national homo­genen Familie und die Forderung nach aufrichtiger Verbundenheit mit Frankreich aufgeweicht. Die Zugehörigkeit zur französischen Nation durfte nun quer zur Familieneinheit verlaufen und einbürgerungswillige ausländische Studierende standen nicht mehr unter dem Generalverdacht eines rein materiellen Interesses an der Einbürgerung. Die Analyse der Einzelfälle hat indes ergeben, dass die lokalen, für die Instruktion der Einbürgerungsdossiers zuständigen Behörden sich die neuen Regelungen oft mit (großer) zeitlicher Verzögerung aneigneten. So schlug beispielsweise der Präfekt von Meurthe-et-Moselle 1978 in seinem Abschlussbericht dem Ministerium vor, einen Familienvater tunesischer Nationalität nicht einzubürgern, weil sich die Ehefrau dem Einbürgerungswunsch ihres Mannes nicht angeschlossen hatte und weil der Mann selbst C. G. T.-Gewerkschaftsmitglied und Parteigänger der Kommunistischen Partei war.63 Indirekt hat indes die ebenfalls 1976 verordnete Erleichterung der Aufgaben des polizeilichen Nachrichtendienstes, eine Erleichterung, die praktisch zur Einschränkung der Dienstkompetenzen führte, eine Art vergrößerten Personen­ schutz nach sich gezogen. Die Polizei sollte künftig nur noch eingeschaltet werden, »pour apprécier le comportement général des requérants«,64 ohne sich um die Beschaffung detaillierter Informationen über einen Einbürgerungskandidaten kümmern zu müssen.65 Diese detaillierten Auskünfte sollten nun seitens anderer Dienststellen dem polizeilichen Nachrichtendienst zur Verfügung gestellt werden. Es scheint aber, dass in der Praxis diese Dienststellen (wie beispielsweise die Direktion für Gesundheit und Soziales in den Departements) dazu kaum in der Lage waren, und so blieben die Polizeiberichte bis ans Ende der hier untersuchten Zeitspanne die ausführlichsten, obwohl bestimmte Infor-

61 »Assimilation muss in einem weiten Sinn verstanden werden… vor allem, wenn es sich um Personen handelt, die uns kulturell nahestehen«. Circulaire No 439 du 23.11.1967, S. 2. 62 D. h. eine Erwerbslosigkeit, die nicht einer »oisiveté cronique« (übersetzen?) geschuldet ist. 63 AD M-et-M, 1639 W 32. Dieser Antrag wurde jedoch vom Ministerium mit einem drei­ jährigen Aufschub quittiert (und nicht mit Ablehnung). Das Dossier stammt aus der Gemeinde Pont-à-Mousson (Wohnort der Familie zum Zeitpunkt der Antragstellung), also nicht aus unserer Untersuchungsregion. 64 »um das allgemeine Verhalten des Antragstellers einzuschätzen«. Ministère du Travail, Circulaire No. 1/76, 16.2.1976, Instruction des dossiers de naturalisation et de réintégration dans la nationalité française, S. 6. 65 Circulaire No. 1/76, 16.2.1976, S. 6.

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mationen (z. B. Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft) nicht mehr systematisch eingeholt wurden. Die sozialen Realitäten der Antragstellenden wandelten sich seit Anfang der siebziger Jahre. Der einstige Bedarf der lokalen Schwerindustrie nach ausländischen Arbeitskräften hatte sich inzwischen erschöpft und seit 1974 galt offiziell ein Einwanderungsverbot für neue Arbeitsmigranten.66 Spätestens seit 197867 sah sich die ausländische Bevölkerung Longwys mit einer völlig gewandelten ökonomischen, sozialen und auch politischen Lage konfrontiert. Die Region befand sich in einer schweren wirtschaftlichen Krise, und das politische Klima hatte sich insbesondere für nordafrikanischen Immigranten und ihre Familien spürbar verschlechtert.68 Gerade seitens der nicht-europäischen Antragsteller, die im Bezirk Briey seit Mitte der siebziger Jahre zahlenmäßig zunahmen und 1989 die Mehrzahl der Einbürgerungskandidaten stellten, wurde im untersuchten Zeitraum die Option Einbürgerung mehr und mehr als politisch-rechtliche Ressource innerhalb einer Strategie eingesetzt, die auf soziale und ökonomische Stabilisierung oder Statusverbesserung und die Absicherung des Aufenthalts in Frankreich abzielte. Für letzteres sprechen insbesondere jene Fälle, bei denen ein Ausländer infolge drohenden oder bereits erfolgten Entzugs des Bleiberechts (Abschiebungsverfügung) einen Antrag auf Einbürgerung stellte.69 Auf der Ebene der von uns untersuchten Dossiers (100 im Bassin de Longwy von 1­ 976–1990),70 schlägt sich die angespannte wirtschaftliche Situation in der Zunahme von Vorruheständlern bei den älteren Kandidaten, und Arbeitslosen bzw. Praktikanten bei den jüngeren nieder. Welche weiteren Veränderungen lassen sich nun in den biografischen Profilen der Einbürgerungsdossiers im Kontext der gewandelten sozialen und ökonomischen Verhältnisse feststellen? In unserem Datensatz tauchen zum ersten Mal in der Zeitspanne von 1965–1975 einzelne Dossiers von nordafrikanischen Familien auf; diese nehmen in den Jahren 1976–1990 zu. Es 66 Trotzdem wanderten auch nach diesem Datum noch neue Migranten alleine oder mit ihren Familien nach Longwy und in die umliegenden Gemeinden ein. Darauf weisen die in den Einbürgerungsdossiers enthaltenen Personendaten, siehe z. B. den 1966 in Alger ge­borenen Algerier F., der 1977 mit seiner Familie nach Frankreich kam (AD M-et-M, 1639 W 17). Diese Fälle sind jedoch selten. 67 1978 wurde der zwischen der französischen Regierung, der Arbeitnehmerschaft und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ausgehandelte Restrukturierungsplan­ publik, der die Schließung eines Großteils der im Bassin de Longwy ansässigen Eisen- und Stahlwerke vorsah. 68 Siehe das Projekt Stoléru von 1977, welches die Ausbezahlung einer Rückkehrhilfe von 10.000 Francs für diejenigen Ausländer vorsah, die einwilligten, definitiv auf eine Rückkehr nach Frankreich zu verzichten. Dazu Ponty, L’immigration, S. 348 f. Siehe auch das Gesetz Bonnet, welches die Zutrittsbestimmungen für Nicht-EG-Bürger verschärfte und den nicht regulären Aufenthalt von Ausländern in Frankreich kriminalisierte. Dazu Spire, Etrangers, S. 360. 69 Siehe AD M-et-M, 1196 W 114. 70 Die Zahl bezieht sich auf das Jahr der Ministeriumsentscheidung, und nicht auf dasjenige der Antragstellung.

367

handelt sich – vergleichbar den in den fünfziger Jahren eingebürgerten italie­ nischen Familien – manchmal um nordafrikanische Männer, die sich mit einer Französin verheiratet und bereits eines oder mehrere Kinder hatten, die im Besitz der französischen Staatsangehörigkeit waren. Es gibt aber auch Fälle, bei denen beide Eheleute Ausländer waren, aber deren Kinder – nicht immer alle – per Deklaration ihrer Eltern bei Geburt eingebürgert worden waren. Ein Großteil dieser Familien kam in den sechziger Jahren nach Frankreich, bisweilen, nachdem der Mann schon einige Jahre lang allein in der Emigration gelebt hatte.71 Der Einbürgerungswunsch dieser Antragsteller steht vermutlich – zumindest auch – im Zusammenhang mit den erschwerten Zugangsbestimmungen zu Frankreich für außereuropäische Immigranten, was bei diesen Menschen in der Tendenz zum Verzicht auf transnationale (Überlebens-) Strategien und Biografiemuster, sowie zum Wunsch nach Stabilisierung und Absicherung des Aufenthalts in Frankreich geführt haben mag. Die statistische Auswertung für das Arrondissement de Briey72 zeigt, dass das Durchschnittsalter der Antragstellenden zwischen 1970 und 1989 deutlich abnahm73: Die in den Boom­jahren der späten fünfziger und der sechziger Jahre oft im Ausland geborene Genera­ tion insbesondere portugiesischer und nordafrikanischer Herkunft, die im Kindesalter nach Frankreich gekommen war, erreichte in den späten siebziger und in den achtziger Jahren die Volljährigkeit und war somit berechtigt, einen Antrag auf Einbürgerung zu stellen. Dieser Zusammenhang schlägt sich in der deutlichen Zunahme der von Ledigen gestellten Einbürgerungsanträge nieder.74 Diese Antragsteller, die bereits einen Großteil ihrer Kindheit und / oder ihre Schul- und Ausbildungsjahre in Frankreich verbracht hatten, verfügten über entsprechende sprachliche Kompetenzen und wurden von den Amtsträgern als »perfekt« oder »sehr gut assimiliert« bezeichnet. Meistens wohnten diese KandidatInnen mit ihren Eltern zusammen und häufig hatten sie Geschwister, die in Frankreich geboren wurden und die französische Staatsangehörigkeit per Deklaration ihrer Eltern erworben hatten. Die Motivlagen, die diese Anträge bewirkten, werden für uns nicht immer sehr deutlich. Man kommt ihnen näher, wenn man zunächst zwei Gruppen von Gesuchstellern unterscheidet: Die erste versammelt Kandidaten in sozial prekären Lebenssituationen. Ihre Einbürgerungsdossiers enthalten Hinweise auf zumeist längere Zeiten von Arbeitslosigkeit, Strafverfolgung(en), schlechte (Schul-) Ausbildung, Krankheit oder Invalidität. Die Anträge wurden in diesen Fällen öfters explizit mit der Hoffnung auf Statusverbesserung insbesondere auf dem 71 Auch abzulesen an den unterschiedlichen Geburtsorten der Kinder, von denen die ältesten im Herkunftsland, die jüngeren in Frankreich zur Welt kamen. 72 Siehe Tabelle 13.1. 73 Von 41 Jahren 1970 auf 32 1989. Es lässt sich im selben Zeitraum zudem ein Abfallen des Wertes der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer der AntragstellerInnen in Frankreich beobachten: 1970 beläuft sich diese Zahl auf 24 Jahre, 1989 sinkt sie auf 21 Jahre ab. 74 1970 betrug dieser Wert 13,7 % (80,3 % verheiratete Personen), 1989 stieg er auf über einen Drittel aller Fälle an (34,7 % Ledige, 53,3 % Verheiratete).

368

Arbeitsmarkt gerechtfertigt. Interessanterweise wurden diese Dossiers, die vor Mitte der siebziger Jahre seitens der Einbürgerungsbehörde mit großer Wahrscheinlichkeit mit Aufschub oder gar Ablehnung quittiert worden wären, später fast immer mit positivem Entscheid beantwortet. Die ungünstige soziale und ökonomische Situation dieser Einbürgerungskandidatinnen und -kandidaten scheint in der Sicht der Behörden durch die Assimilationsgarantien ihrer Einreise ins Land im Kindesalter einerseits, und der Besuch der republikanischen Schule andererseits, neutralisiert worden zu sein. Für diese Interpretation spricht auch, dass fast alle Aufschub- und Ablehnungsentscheide der letzten siebziger und der achtziger Jahre die Anträge von solchen Ausländern betreffen, die sich in vergleichbar schwierigen Lebenslagen befanden, aber sich von der ersten Personengruppe dadurch unterschieden, dass sie erst als Erwachsene nach Frankreich eingewandert waren. Das heißt, die auf der normativen Ebene seit Mitte der siebziger Jahre durchgesetzte Liberalisierung des Einbürgerungsverfahrens schlug sich in der Praxis in einer zunehmend nachsichtigen Beurteilung nicht unterschiedslos aller, sondern insbesondere jener Gesuche nieder, die von der sogenannten »zweiten Generation« gestellt wurden.75 Die zweite Gruppe von ledigen Antragstellern umfasst schulisch und beruflich erfolgreiche Kandidaten, die eine gute, aber noch nicht etablierte berufliche Stellung besaßen und / oder ein Hochschulstudium absolvierten bzw. absolviert hatten. Bei dieser Personengruppe kann vermutet werden, dass ihr Einbürgerungsgesuch zumeist im Kontext der Absicherung oder Begünstigung ihrer professionellen Position oder ihrer Karriere(aussichten) stand. Die Einbürgerungsdossiers mit den geringsten Verfahrensfristen gehörten zu dieser Gruppe und sie hatten zudem die größte Aussicht auf Erfolg.76 Was die beiden genannten Gruppen verbindet, ist die in Frankreich erfolgte Sozialisation sowie deren sozial und / oder ökonomisch (noch) instabile Lebenssituation. Anders als bei einem Großteil der Einbürgerungsgesuche der fünfziger und sechziger Jahre, die eine tendenziell gelungene Integration ins Arbeitermilieu in einer wirtschaftlich prosperierenden Epoche mit der Einbürgerung ganzer Familien ratifizierte, entsprechen diese Anträge viel stärker dem theoretischen Modell einer strategischen Option von Individuen, die mithilfe ihrer Naturalisation die eigene gesellschaftliche oder berufliche Lage zu verbessern suchten. In den Dossiers tauchen denn auch, wie bereits erwähnt, explizite Hinweise auf die Hoffnung auf Statusverbesserung oder zumindest auf dessen Erhaltung auf: »Il veut devenir français pour trouver plus facilement un emploi«77, oder »elle veut devenir Française pour garder son emploi«.78 75 Hier ist daran zu erinnern, dass diese »Gruppe« spätestens seit dem Beginn der achtziger Jahre zugleich auch im Mittelpunkt der Öffentlichkeit und der politischen Debatten stand. 76 Es gab keine Ablehnungen in unserem Datensatz. 77 »Er möchte Franzose werden, um einfacher eine Arbeit zu finden« oder »Sie möchte Französin werden, um ihre Stelle zu behalten«. AD M-et-M, 1699 W 16; der zitierte Fall wurde 1989 eingebürgert. 78 AD M-et-M, 1639 W 21; der zitierte Fall wurde 1990 eingebürgert.

369

Diese Tendenz zur strategischen Nutzung der Option einer Naturalisation korrespondiert mit einer wachsenden materiellen oder immateriellen Unsicherheit in den Biografien der Antragsteller seit den siebziger Jahren. Gleichzeitig lässt sich auch eine Politisierung der Einbürgerung konstatieren; sie manifestiert sich auf Seiten der (zumeist nordafrikanischen) Antragstellenden nicht unmittelbar in einem politischen Bekenntnis zur Nation Frankreich, sondern in der bisweilen explizit ablehnenden Haltung gegenüber dem Herkunftsland (der Eltern), das keine ernstzunehmende Alternative zum Leben in Frankreich mehr zu bieten scheint. In diesem Zusammenhang auffällig ist eine kleine Gruppe von ausschließlich weiblichen Antragstellenden aus Nordafrika, die bei Erreichen der Volljährigkeit auf die Möglichkeit des Staatangehörigkeitswechsels per Deklaration verzichtet hatten, einige Jahre danach sich indes dennoch für die französische Nationalität entschlossen, entweder, weil der Verzicht nicht freiwillig geschah,79 oder weil in der Zwischenzeit ein ursprünglich vorhandenes Projekt der Auswanderung in das Herkunftsland der Eltern aufgegeben wurde, manchmal nachdem diese jungen Frauen bereits einen oder mehrere Aufenthalt(e) in Nordafrika verlebt hatten.80 Generell lässt sich zwischen 1970 und 1989 eine »Feminisierung« der Kandidatengruppe feststellen. Der Frauenanteil stieg in der Zeitspanne um 14,3 % an.81 Diese Zahlen entsprechen übrigens in etwa (sie sind ein wenig höher) den sich auf ganz Frankreich beziehenden Berechnungen.82 Parallel zur Zunahme der weiblichen Kandidaten lässt sich ein Anstieg der verwitweten oder geschiedenen Personen83 unter den EinbürgerungsanwärterInnen feststellen und eine markante Erhöhung des Anteils der mit den Eltern 79 Siehe das folgende Zitat aus dem Einbürgerungsdossier einer jungen Marokkanerin: »Son installation en France paraît-elle définitive? Oui, elle n’a pas répudié la nationalité française de son propre chef, elle veut donc décider de sa propre nationalité, elle veut s’affirmer, elle dit être française avant tout.« (»Hat sie sich endgültig in Frankreich niedergelassen? Ja, sie hat die französische Staatsbürgerschaft nicht aus eigenen Stücken abgelehnt, sie möchte also über ihre Staatsangehörigkeit selbst entscheiden, sie wünscht zu bekräftigen, vor allem Französin zu sein.«) Die junge Frau wurde 1990 eingebürgert. AD M-et-M, 1699 W 16. 80 Siehe das folgende Zitat aus dem Dossier einer jungen Marokkanerin: »Si, au moment de sa majorité la requérante avait répudié notre nationalité, c’est qu’elle pensait retourner au Maroc pour y travailler. Maintenant, pour des questions pratiques et administratives, elle souhaite obtenir la nationalité française.« (»Wenn die Antragstellerin im Augenblick ihrer Volljährigkeit unsere Staatsangehörigkeit abgelehnt hat, so lag das daran, dass sie vorhatte, nach Marokko zurückzukehren um dort zu arbeiten. Heute wünscht sie aus praktischen wie administrativen Gründen die französische Staatsbürgerschaft.«) Die junge Frau wurde 1990 eingebürgert. AD M-et-M, 1639 W 17. 81 1970 betrug die Anzahl der Frauen unter den Gesuchstellenden 38,3 %, 1989 52,6 %. 82 1970 waren 35,9 % aller Personen, die in Frankreich einen Antrag auf Einbürgerung per Erlass stellten, weiblichen Geschlechts; 1989 betrug dieser Anteil 51,1 %. Eigene Berechnungen nach Daten in: GISTI, Guide de la nationalité française, Paris 1992, S. 118. Für das Jahr 1954 fehlen dort die Zahlen. 83 1954 sind 1,8 % der Gesuchstellenden geschieden oder verwitwet. 1970 sind es 3,8 %, 1989 12 %.

370

bzw. einem Elternteil zusammen im selben Verfahren eingebürgerten Kinder: von 24 % (1970) auf 63,4 % (1989).84 Der Abgleich zwischen den Resultaten der statistischen Analyse unseres Quellencorpus mit den Ergebnissen der qualitativen Auswertung lässt die Annahme plausibel erscheinen, dass zwischen dem Anstieg des weiblichen Anteils unter den Einbürgerungskandidaten, der Zunahme der geschiedenen oder verwitweten Personen und der proportionalen Vergrößerung der Zahl der miteingebürgerten Kinder ein Zusammenhang besteht, handelt es sich bei den Einbürgerungsanträgen von Geschiedenen oder Verwitweten doch zu einem Großteil85 um solche von Frauen, die nicht nur ihre eigene Einbürgerung, sondern auch diejenige ihrer minderjährigen Kinder (mit) beantragten. Es scheint sich dabei also um (zum Teil alleinerziehende) Mütter zu handeln, die sich zur Absicherung der Existenz ihrer Familien in Frankreich für die Option Einbürgerung entschlossen. Diese Frauen, fast alle nordafrikanischer Herkunft,86 befanden sich im Alter zwischen 20 und 45 Jahren und hielten sich meist seit langer Zeit in Frankreich auf, circa ein Viertel von ihnen war in Frankreich geboren worden. Etwa ein Drittel dieser Kandidatinnengruppe war nur wenige Jahre lang zur Schule gegangen und hatte keine Berufsaus­bildung erhalten. Alle Antragstellerinnen hatten Kinder, zumeist aus verschiedenen Verbindungen, von denen häufig eines oder mehrere im Besitz der französischen Staatsangehörigkeit war bzw. waren. Diese Frauen befanden sich fast immer in ökonomisch schwachen Positio­ nen, ein Großteil ihres persönlichen Einkommens setzte sich aus Teilzeitarbeit, staatlichen Familienzulagen, Arbeitslosengeld oder Renten (Witwenrente, Invaliditätsrente) zusammen. Vermutlich stand der Wunsch dieser Antragstellerinnen, sich einbürgern zu lassen, unmittelbar im Zusammenhang mit ihrer sozialen Auffälligkeit (sog. »unvollständige Familien«) und ihrer finanziell prekären Situation. Eventuell spielten dabei aber auch Wertvorstellungen (wie die Gleichstellung der Geschlechter) eine zentrale Rolle. Der Wunsch, Französin zu werden, könnte eine Distanzierungsgeste in Bezug auf den gerade diese Frauen diskriminierenden Werte- und Normkodex der nordafrikanischen Herkunftsgesellschaft markiert haben. Diese Kandidatinnen waren vor 1976 von den Behörden oft als ungenügend assimiliert und moralisch nicht einwandfrei qualifiziert worden, letzteres häufig aufgrund der von einigen dieser Frauen ausgeübten Berufe (Verdacht auf Prostitution, Geldspielerei usw.) oder kleinerer Delikte wie Diebstahl oder »Beamten84 Bei geringerer Kindergesamtzahl im Jahr 1989: 71 Kinder bei 77 Erwachsenen. 1970: 295 Kinder bei 183 Erwachsenen. 85 In dieser Fallgruppe wurden vier von 20 Anträgen von Männern gestellt. Fünf der 16 von Frauen gestellten Anträge wurden vor 1976 gestellt, der früheste 1964. 86 Von den 16 »weiblichen« Anträgen wurden 13 von Frauen algerischer oder marokkanischer Staatsangehörigkeit gestellt, die anderen Anträge fielen auf eine Belgierin, eine Italienerin und eine Portugiesin.

371

beleidigung«. Alle nach 1976 gestellten Anträge wurden vom Ministerium mit einem Einbürgerungsentscheid beantwortet. Der im Folgenden geschilderte Fall von Fatouma S.87 mag die biografische Lage dieser Gruppe von Antragstellerinnen illustrieren: Fatouma S. wurde 1956 im Département Saône-et-Loire als sechstes von 15 Kindern geboren. Sieben ihrer 14 Geschwister besaßen zum Zeitpunkt, als Fatouma S. ihren Einbürgerungsantrag stellte, die französische Nationalität. Alle anderen sowie Fatouma S. selbst und ihre Eltern waren algerischer Staatsangehörigkeit. Fatouma S. hatte in Epinac-les-Mines die Grundschule besucht. In den Jahren 1972–1974 war sie am selben Ort als Fabrikarbeiterin beschäftigt. 1973 zog ihre Familie ins Haut Pays, wo sie nacheinander in Mont St. Martin, Hersérange und Longwy lebte. Zwei Jahre lang war Fatouma S. arbeitslos. Seit 1976, dem Todesjahr ihres Vaters, arbeitete sie in einer Fabrik für elektronische Güter in Longwy. 1986, also zwei Jahre vor Einreichung des Einbürgerungsgesuchs, brachte Fatouma S. in Thion­ ville ihre Tochter Sarah zur Welt. Der italienische Vater des Kindes war zum Zeitpunkt von Fatouma S.’ Einbürgerung (1988) verstorben. Fatouma S. lebte in Longwy mit ihrem Kind und ihrer Mutter zusammen. Ihre Einkünfte bestanden aus ihrem Arbeiterinnenlohn und staatlichen Familiengeldern. In Anpassung an diesen qualitativen Wandel im Gebrauch der Option Einbürgerung im Kontext unterschiedlicher individueller und kollektiver (Über-) Lebensstrategien, vorangetrieben vor allem durch die (nordafrikanischen) Nachkommen der in der zweiten Nachkriegszeit ins Land gekommenen Immigranten, reagierte die französische Einbürgerungsadministration mit deutlich länger werdenden Aktenbearbeitungszeiten.88 Diese Verlangsamung hatte also weniger mit der oben erwähnten oft zögerlichen Übernahme neuer Regelungen seitens der lokalen Behörden zu tun, als mit der administrativen Prüfung bio­ grafisch komplex(er) gewordener Einzelfälle. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die politisch-administrativen Integrations- und Assimilationserwartungen sich hinsichtlich der sozialen und ökono­mischen Situation der Einbürgerungskandidaten und -kandidatinnen seit Mitte der siebziger Jahre einer zunehmend prekären und immer weniger eindeutigen Lebenswirklichkeit der im Bassin de Longwy niedergelassenen Ausländer konfrontiert sahen. Es kam zu einer Anpassung dieser Erwartungen. Die grenzüberschreitenden Bezüge und Loyalitäten dieser Menschen beeinflussten die Einbürgerungsentscheide des Ministeriums nicht mehr negativ. Bei der Betrachtung aller seit Mitte der siebziger Jahre mit Ablehnung oder Aufschub beantworteten Einbürgerungsgesuche89 fällt aber folgendes auf: kein einziges betrifft einen in Frankreich geborenen oder im Kindesalter nach Frank-

87 Name geändert; AD M-et-M, 1639 W 6. 88 1970 betrug die Bearbeitungsfrist 13 Monate, 1989 18,5 Monate. 89 Es gibt insgesamt sieben negative Entscheide, von denen zwei Ablehnungen, die anderen Aufschübe waren.

372

reich eingewanderten Ausländer.90 Offenbar stellten die Geburt und der Schulbesuch in Frankreich zum einen eine Art »Assimilationsgarantie« dar, und dies (noch) zu einer Zeit, in der die Institution der (republikanisch-laizistischen) Schule in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit längst nicht mehr unangefochten als die »Integrationsagentur« schlechthin galt; andererseits vermochten sie Eigenschaften »aufzuwiegen« oder »auszugleichen«, die einem positiven Einbürgerungsentscheid grundsätzlich nicht förderlich waren wie beispielsweise körperliche Krankheit oder Behinderung eines Kandidaten oder von diesem begangene kleinere Delikte91 wie Ladendiebstahl. Auch führten nunmehr die seitens dieser »Kinder der Nation« ausdrücklich erwähnten materiellen Interessen an der Einbürgerung bei den Behörden nicht zu einem Verdacht mangelnder Loyalität oder schlechter Moralität. Analysiert man die Gründe, die in den Dossiers seit Mitte der siebziger Jahre zu Aufschüben und Ablehnungen führten, lassen sich folgende Einsichten gewinnen: Das ursprünglich »weiche«, weil die Beurteilung einer gesamten Lebens­art und Gesinnung einer Person umfassende Kriterium der Assimilation wurde in der Praxis seit Mitte der siebziger Jahre zu einem »harten« Kriterium, nämlich dem der Sprachkenntnis, umformuliert und damit in gewissem Sinne »entweiht«. Und selbst bei der Sprachkompetenz (die korrekter als Sprechkompetenz bezeichnet werden muss) machte die Behörde Zugeständnisse, indem sie diese »en fonction du niveau social des intéressés et des contingences locales«92 einschätzen ließ. Daran scheinen sich die lokalen administrativen Instanzen in ihren Stellungnahmen zwar häufig nicht, das für die Einbürgerung zuständige Ministerium indes immer gehalten zu haben, jedenfalls stellte Analphabetismus, das Praktizieren »fremder« Gebräuche oder das schlechte Verhältnis zu französischen Nachbarn nicht mehr wie früher ein Indiz für eine unannehmbar mangelnde Assimilation dar.93 90 Die abgelehnten bzw. aufgeschobenen Anträge stammen alle von Ausländern, die länger als elf Jahre in Frankreich lebten und die – mit einer Ausnahme – über 30 Jahre alt waren. 91 Dass Einbürgerungskandidaten nicht vorbestraft bzw. von einem Gericht verurteilt sein durften, stellte eine der Annahmebedingungen des Antrags dar und fiel unter das Kriterium der Moralität. Die Bewertung verjährter Delikte oder aufgehobener Verurteilungen war indes eine Frage der Opportunität, wobei folgende ungenaue Direktive galt: »Il convient… de ne tenir compte que des faits présentant un caractère de gravité et suffisamment récents.« – »Es sollten nur die Tatbestände einbezogen werden, die schwerwiegend sind und hinreichend zeitnah.« Circulaire No. 1/76, 16.2.1976, S. 3. 92 »in Abhängigkeit vom sozialen Niveau des Interessenten und den lokalen Umständen« Circulaire No. 1/76, 16.2.1976, S. 2. 93 Ein interessantes Beispiel findet sich in AD M-et-M, 1016 W 326. Es handelt sich dabei um das Einbürgerungsdossier einer 1931 im französischen Algerien geborenen Frau algerischer Nationalität, Witwe und Mutter von acht Kindern, die 1972 nicht eingebürgert wurde unter anderem, weil sie keine gute Beziehungen zu ihrer Nachbarschaft unterhielt und sich nicht an die »Gemeinschaft der Franzosen« assimiliert habe. »[e]lle n’entretient …pas de bonnes relations avec son voisinage et n’est pas assimilée à la communauté française.«) Drei Jahre später wiederholte die Frau, inzwischen erneut Mutter geworden, ihren Antrag, der 1977

373

Bei dem Kriterium der Loyalität dagegen verblieben die Reaktionen der lokalen Behörden in den bekannten Denkmustern. Sichtbar wird dies im Fall eines 63-jährigen Algeriers, der mit einer Französin verheiratetet und Vater von sieben Kindern französischer Staatsangehörigkeit war, der während des zweiten Weltkriegs in der französischen Armee gedient hatte. Der Bürgermeister der Wohngemeinde dieses Ausländers weigerte sich schlicht, die vom Ausländer auf die Fragen des Beamten hin zu beantwortende »Note de renseignements« auszufüllen, mit der Begründung: »n’a pas voulu lors de 1962 choisir la nationalité française offerte par le Général de Gaulle. Je ne vois pas pourquoi à l’heure actuelle son choix pourrait être différent«, und »Un point c’est tout le maire«.94 Der Algerienkrieg und der Verlust der algerischen Départements stellte in der französischen gesellschaftlichen Öffentlichkeit während langer Zeit ein schwieriges, wenn nicht tabuisiertes Thema dar.95 Verwundert es angesichts dessen, dass wo es ums Herzstück der Nation ging, die »Ereignisse« bis ans Ende unserer Untersuchungszeit ein »unverdautes Ereignis« blieben? 4. Fazit: Die regionalen Fallstudien in einer der alten Industrieregionen Frankreichs führen zu einigen abschließenden Überlegungen allgemeiner Natur. Vor allem die Zäsur Mitte der siebziger Jahre scheint uns für die Analyse der Naturalisation, und noch allgemeiner, die Idee der politischen Steuerung, ja Gestaltung der Bevölkerung der französischen Nation zentral. Bis dahin funktionierte das auf nationaler Ebene entworfene und immer wieder reaktivierte politisch-administrative Modell der Einbürgerung mehr oder weniger effektiv. Es entwickelte robuste Verwaltungsroutinen, die im Département Meurtheet-Moselle auch ganz konkret den spezifischen Konstellationen einer ausländischen Arbeiterpopulation ost- und südeuropäischer Herkunft angepasst worden sind. Die Einbürgerungen waren dabei ein eigenständiges Element eines breiteren Ensemble von Integrationsprozessen, als dessen gemeinsamer Kern die Sozialisationsagenturen der schwerindustriellen Arbeitswelt, eines Arbeiter­ familialismus und katholischer bzw. kommunistisch geprägter sozio-kultureller Milieus erkennbar sind. Die Erosion dieser Sozialisationsinstanzen veränderte in der Region auch Sinn und Zweck der Einbürgerung. Die Vielfalt der Situationen, welche uns in den Dossiers seit Mitte der siebzi­ ger Jahre begegnet, verdeutlicht dies. Im politischen Diskurs sind 1990 »Integra­ vom zuständigen Ministerium mit Einbürgerung beantwortet wurde, und dies, obwohl in der Stellungnahme des Präfekten von Meurthe-et-Moselle jegliche Fortschritte bei der Assi­ milation verneint wurden: »Depuis, sur le plan de l’assimilation la postulante n’a fait aucun progrès, elle s’exprime difficilement dans notre langue qu’elle ne sait ni lire ni écrire.« (In Bezug auf ihre Assimilation hat die Antragstellerin seitdem keine Fortschritte gemacht, sie hat Schwierigkeiten, sich in unserer Sprache auszudrücken, die sie weder lesen noch schreiben kann.«) 94 »…hat 1962 nicht die von General de Gaulle angebotene französische Nationalität wählen wollen. Ich sehe nicht, warum zum augenblicklichen Zeitpunkt seine Wahl anders sein könnte, Punkt und Schluss, der Bürgermeister.« AD M-et-M, 1639 W 37. 95 B. Stora, La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie, Paris 1998.

374

tion« und »Naturalisation« nach wie vor miteinander verbunden, in der sozia­ len Realität fällt eine eindeutige Zuordnung immer schwerer.96 Zudem ist die Einbürgerung immer stärker zu einer strategischen Ressource für Zuwanderer geworden, die seit jeher in ihrer konkreten familiären bzw. individuellen Lebenswelt häufig grenzüberschreitende Perspektiven verfolgten bzw. in grenzüberschreitenden Bezügen standen. Die »Tyrannei des Nationalen« artikulierte sich nach 1975 stärker in der Frage des Zugangs zum nationalen Territorium, lässt sich also stärker in den politischen Konflikten und in der konkreten polizeilich-administrativen Kontrolle bei der Begrenzung des »Ausländeranteils« der Wohnbevölkerung beobachten, als in den Routinen der Einbürgerung. Aber nach wie vor existierte und existiert ein Gefälle zwischen den sozialen und ökonomischen Zugangschancen für Ausländer. Sie können mit dem Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft verbessert werden. Ungleich dramatischer waren die Privilegierungen, welche für aus den nordafrikanischen Ländern stammende Ausländerinnen mit dem Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft verbunden waren. Dies betraf ihre persönlichen Rechte als Frau, aber auch ihre soziale Lage als alleinerziehende Mütter oder ihre ökonomischen Chancen auf den Arbeitsmärkten für (un-)qualifizierte Dienstleistungen. Darüber hinaus nähren die Beobachtungen in den drei Perioden 1950–1958, 1965–1975 und 1976–1990 die Hypothese, dass sich ein »republikanisches«­ Modell der Einbürgerung herausgebildet hat, das seine Stärke gerade in der Behar­rungskraft der administrativen Routinen und in der Kontinuität eines Integrationsdiskurses findet. Praktisch hat sich die Vorstellung davon, ab wann jemand bereit und fähig sei, sich in die »französische Gemeinschaft« harmonisch einzufügen, spätestens seit Mitte der siebziger Jahre gewandelt. Die Disposi­tive der Fragebögen und Formulare sind bis ans Ende unseres Untersuchungszeitraums erstaunlich ähnlich geblieben. Geändert hat sich aber der Umgang mit ihnen durch neue Antworten auf alte Fragen, das Übergehen von Fragen, bisweilen auch durch das Verweigern der Befragung selbst.97 Dies hat im Einzelfall und über die Zeit hinweg zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Dass diese keineswegs allein in Richtung einer Verschärfung des Zugangs laufen mussten, haben die Fallbeispiele deutlich genug gezeigt. Diese Beharrungskraft der republikanischen Integrationsroutinen wurde gerade nach 1975 deutlich, als die politischen Debatten den xenophoben und rassistischen Diskursen deutlich mehr Platz einräumten und die Prinzipien der Einbürgerung selbst wieder infrage gestellt worden sind. 96 Gerade die Schwierigkeiten eingebürgerter nordafrikanischer Immigranten, die als Kinder nach Frankreich kamen oder bereits hier geboren sind, angemessene Kategorien der Selbstbeschreibung zu finden, verdeutlicht die wachsenden Schwierigkeiten, politische, religiöse, kulturelle und soziale Zuschreibungen und Praktiken auf einen Nenner zu bringen. Vgl. die Selbstzeugnisse, in: N. Guénif-Souilamas, Des »beurettes« aux descendantes d’immigrants nord-africains, Paris 2000. 97 Siehe den oben zitierten Fall, AD M-et-M, 1639 W 37.

375

Tab. 13.1: Einbürgerungsakten (Dossiers de naturalisation). Arrondissement de Briey, Meurthe-et-Moselle (1954, 1970, 1989) Fälle

Zahl

Prozent

Zahl

Prozent

Zahl

Prozent

Aufschübe / Ablehnungen (Ajournements / Rejets)

41

23,7

17

12,1

12

17,4

Durchschnittl.Bearbeitungsdauer (in Monaten)

36

13

18,5

Zahl der Fallakten

173

141

69

Antragsteller

Zahl

Prozent

Zahl

Prozent

Zahl

Prozent

––Männer

155

60,3

113

61,7

36

46,8

––Frauen

102

39,7

70

38,3

41

53,2

257

51,3

183

53,7

77

52

––Bereits eingebürgert

127

52

80

50,6

45

63,4

––Teil des Antrags

117

48

78

49,4

26

36,6

––gesamt

244

Gesamt

501

Erwachsene

Keine Angaben ––Gesamt Kinder

Zivilstand (nur Erwachsene) Verheiratet ledig

Zahl

71

48

100

48,7

341

158

100

46,3

148

100

Prozent

Zahl

Prozent

Zahl

Prozent

222

86,7

147

80,3

40

51,9

29

11,3

25

13,7

26

33,8

Verwitwet / geschieden

4

1,6

6

3,3

2

2,6

Andere

2

0,8

5

2,7

7

11,7

Keine Angaben Gesamt Alter zum Zeitpunkt der Einbürgerung

2 257 Zahl

100

183

100

Prozent

Zahl

Prozent

77

100

Zahl

Prozent

In Frankreich geboren

11

4,7

7

4,1

10

14,5

1 bis 5 Jahre

30

12,9

25

14,5

15

21,7

6 bis 14 Jahre

40

17,2

22

12,8

12

14,4

15 bis 20 Jahre

42

18,1

25

14,5

6

8,7

21 bis 35 Jahre

93

40,1

83

48,3

23

33,3

Mehr als 36 Jahre

16

6,9

10

5,8

3

4,3

Keine Angaben Gesamt

376

25 257

11 100

183

8 100

77

100

Aufenthaltsdauer in Frankreich

Zahl

Prozent

Zahl

Prozent

Zahl

Prozent

0 bis 4 Jahre

9

3,9

1

0,6

7

10,1

5 bis 9 Jahre

37

16,2

20

11,5

2

2,9

10 bis 14 Jahre

14

6,1

54

31

7

10,1

15 bis 19 Jahre

22

9,6

20

11,5

28

40,6

20 bis 24 Jahre

56

24,6

27

15,5

8

11,6

25 bis 29 Jahre

65

28,5

3

1,7

8

11,6

Mehr als 30 Jahre

25

11

49

28,2

9

13

Keine Angaben

29

9

8

Gesamt

257

100

183

100

Zeitraum der Einwanderung

Zahl

Prozent

Zahl

Prozent

vor 1919

8

3,4

77 Zahl

100 Prozent

2

1,1

0



1920–1929

124

53,2

28

15,9

1

1,4

1930–1939

53

22,7

20

11,4

0



1940–1944

2

0,9

2

1,1

1

1,4

1945–1954

46

19,7

51

29

4

6

1955–1964





72

40,9

12

17,4

1965–1974





1

0,6

38

55,1

nach 1975





13

18,8

Keine Angaben

24

7

8

Gesamt

257

100

183

100

Herkunftsländer

Zahl

Prozent

Zahl

Prozent

Zahl

Prozent

Italien

148

57,6

93

50,8

10

13,2

Portugal

10

3,9

5

2,7

21

27,6

Polen

72

28

44

24

4

5,3

Sonstige europäische Länder

26

10,1

35

19,9

6

7,9

Marokko









9

11,8

Algerien





2,7

22

28,9

Tunesien



Sonstige

1

– 0,4

5 – 1

100



2

2,6

0,5

2

2,6

Keine Angaben Gesamt

77

1 257

100

183

100

77

100

377

Literaturverzeichnis Blanc-Chaléard, M.-C., Les Italiens dans l’est parisien. Une histoire d’intégration (1880–1960), Paris 2000. Brubaker, R., Citizenship and Nationhood in France and Germany, Cambridge 1992. Donati, M., Cœur d’acier. Souvenirs d’un sidérurgiste de Lorraine, Paris 1994. Gosewinkel, D., Staatsangehörigkeit und Nationszugehörigkeit in Europa während des 19. und 20. Jahrhunderts, in: A. Gestrich u. L. Raphael (Hg.), Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004, S. 207–229. GISTI, Guide de la nationalité française, Paris 1992. Guénif-Souilamas, N., Des »beurettes« aux descendantes d’immigrants nord-africains, Paris 2000. Losego, S. V., Fern von Afrika. Die Geschichte der nordafrikanischen »Gastarbeiter« im französischen Industrierevier von Longwy (1945–1990), Köln 2009. Noiriel, G., Longwy, Immigrés et prolétaires (1880–1980), Paris 1984. Noiriel, G., Le creuset français. Histoire de l’immigration XIXe–XXe siècle, Paris 1988. Noiriel, G., La Tyrannie du national. Le droit d’asile en Europe (1793–1993), Paris 1991. Ponty, J., L’immigration dans les textes. France, 1789–2002, Paris 2003. Rosental, P.-A., L’intelligence démographique. Sciences et politiques des populations en France 1930–1960, Paris 2003. Spire A. u. Suzanne Thave, »Les acquisitions de nationalité française depuis 1945«, Regards sur l’immigration depuis 1945, Paris, Coll. »Synthèse«, Nr. 30, 1999. Spire, A., Etrangers à la carte. L’administration de l’immigration en France ­(1945–1975), Paris 2005. Stora, B., La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie, Paris 1998. Viet, V., La France immigrée. Construction d’une politique 1914–1997, Paris 1998. Weil, P., Qu’est-ce qu’un Français? Histoire de la nationalité française depuis la Révolution, Paris 2002.

378

Verzeichnis der ersten Druckorte 1. Die Verwissenschaftlichung des Sozialen: Wissens- und Sozialordnungen im Europa des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, S. 165–193. 2. Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5–40. 3. Experten im Sozialstaat. Statuswechsel und Funktionsdifferenzen in Demokratie und Diktaturen, in: H. G. Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 231–258. 4. Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: U. Schneider u. L. Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt a. M. 2008, S. 73–92. 5. Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation: Ein Deutungsmuster für die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 21, Jg. 6/2012, S. 5–22. 6. mit Anselm Doering-Manteuffel: Nach dem Boom: Neue Einsichten und Erklärungsversuche, in: A. Doering-Manteuffel u. a. (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart, Göttingen 2016, S. 9–33. 7. »Experiments in Modernization« Social and Economic History in Europe and the USA 1880 to 1940, in: S. Macintyre u. a. (Hg.), The Oxford Handbook of Historical Writing, Oxford 2011, S. 97–114. By permission of Oxford University Press (www.oup.com). 8. The Idea and Practice of World Historiography in France : The Annales Legacy, in: B. Stuchtey u. E. Fuchs (Hg.), Writing World History 1800–2000, Oxford 2003, S. 155–171. By permission of Oxford University Press (www. oup.com).

379

9. Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht: Die Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft« 1974–1999, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 5–37. 10. The Present as Challenge for the Historian. The Contemporary World in the AESC, 1929–1949, in: Storia della storiografia 21 (1992), S. 25–44. 11. Vom Sozialphilosophen zum Sozialingenieur? Die Position der anwendungsorientierten Sozialwissenschaften in der französischen Wissenschaftskultur der Jahrhundertwende, in: G. Hübinger u. a. (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 II: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 296–317. 12. Die Pariser Universität unter deutscher Besatzung 1940–1944, in: Geschichte und Gesellschaft, 23 (1997), S. 507–534. 13. zusammen mit Sarah Losego, Pratiques de naturalisation. Le cas du bassin industriel de Longwy (1946–1990), in: Annales 61 (2006), S. 135–162.

380

Register Abetz, Otto  328, 331 Académie francaise  322, 329 Action francaise  304, 326, 329, 342 Algerienkrieg  361, 364 f, 374 Alltag(skultur,-welten, -leben, -wissen)  15, 33, 36, 40, 41, 43, 97, 141, 151, 168, 339 Alltagsgeschichte 40, 55, 245 f, 260 f Amsterdam  184, 331 Amt Rosenberg  59, 60, 76 Annales Schule  207, 212, 215, 221–236, 237, 263, 267 f, 271–291, 341 f, 345 Antisemitismus  52 f, 58, 61, 75, 282, 323 f, 328, 334–336, 338 Arbeiter (-frage,-schaft, -klasse)  16, 24, 25 f, 42, 73, 100, 161, 193, 278, 354–378 Arbeiterbewegung  29, 42, 85, 97, 105, 254 f, 279, 303, 363 Arbeits(-welt)  9 f, 24, 33, 133, 176 f, 182–187, 189, 348–378 Arbeitslosigkeit  184 f, 187, 280, 361, 367, 371 Arbeitsmigration 348–379 Arbeitswissenschaften  60, 22, 64, 105 f Arbeitswissenschaftliches Institut der DAF  60, 64–66, 78, 103 Archäologie  337, 341 Arendt, Hannah  53, 86 Armut  24, 42, 100, 115, 161, 185, 202 Assimilation 348–378 Aufklärung  51, 136, 174, 205, 221, 299, 321 Ausgrenzung siehe Exklusion Ausländer  150, 348–378 Basisprozesse  13, 33, 40, 43, 134, 139, 143, 145–148, 152, 160, 174, 183 Beard, Charles A.  209, 216 belle époque  191, 302, 304, 315 Bergson, Henri  222, 301, 302 Berlin  84, 107, 210, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 262, 285, 336, 346 Bernard, Claude  299 Berr, Henri  221, 222, 223, 224, 225, 226, 229, 233 Beschleunigung  40, 72, 142–144, 147, 149, 151–153, 163, 168, 176, 182, 188

Best, Werner  55, 81, 327, 328 Bevölkerungspolitik   56 f, 66 f, 70 f, 73, 85, 103, 352 Bielefeld  10, 242, 245, 246, 247–252, 255, 267 Bielefelder Schule  10, 237–270 Binet, Alfred  20, 312, 313 Biologie (auch: Sozialb.)  7, 16, 17, 55, 61, 67, 73, 76, 81, 85, 111, 117, 216, 296, 2­ 99–301, 313 Bloch, Marc  209, 212, 225, 226, 272, 273, 274, 275, 277, 281, 282, 283, 284, 322, 331, 334, 342, 343, 344 Bock, Gisela  54, 245, 248, 251 Bolschewismus  77, 142, 145 f, siehe auch Kommunismus Bonn  110, 120, 210, 262 Bonnard, Abel  322, 326, 331, 336, 337 Bourdieu, Pierre  8, 41, 179, 238, 260, 261 Braudel, Fernand  151, 153, 221, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 256, 287, 343, 344 Bücher, Karl  206, 210, 214 Bundesrepublik Deutschland  23, 30 f, 38, 95–129, 173–197, 246, 250 Bürokratisierung  33 f, 98, 124, 139 Carcopino, Jerôme  325, 326, 327, 328, 329, 333, 334, 335, 338 Collège de France  306, 321, 328 f, 343 Comte, Auguste  298, 301 Conze, Werner  239, 246, 263 Darwin, Charles  16, 301 DDR siehe Deutsche Demokratische ­ Republik de Gaulle, Charles  327, 333, 340, 352 Degeneration  15, 304, 313–315 Demographie  17, 24, 27, 72, 118, 142, 168, 243, 261, 284, 308, 311 Demokratie  29–31, 38, 51, 58, 95, 116, 138, 146, 165–167, 171, 175 f, 178–182, 189–191, 279, 285, 303 f, 334 Denkstil  31, 70–72, 74 f, 77, 80, 277, 287, 303

381

Deutsche Arbeitsfront (DAF)  12, 62, 64, 102–104, 108, 117 Deutsche Demokratische Republik  98, 104– 108, 111–114, 117 f, 123–125, 254, 258, 261 f Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge  100, 121 Deutsches Kaiserreich  95, 99 f, 108, 120, 139, 259 f, 260 Digitalisierung  176–178, 187–193 Diskurs (-geschichte, -analyse)  8, 9, 15 f, 18, 20, 38, 43, 112, 123, 135, 137, 179, 183, 264, 296, 303 f, 315, 374 Diskurskoalition 16 f, 22, 26, 31 f, 43 Dispositiv  38, 349, 375 Dreyfus-Affäre  82, 274, 282, 297, 304, 322 Dreyfus-Affäre  82, 297, 322 Dritte Republik  274, 311 Durkheim, Emile  8, 212, 215, 222, 301 Durkheim-Schule  274, 286, 295, 306, 311 Ecole Normale Supérieure  282 f, 326 EHESS  230, 233, 250 Einbürgerung 348–378 Erster Weltkrieg  9, 21, 26, 29, 37, 40, 58, 111, 136, 139, 142, 145 f, 150 f, 156, 159–167, 169 f, 174, 205, 222, 224, 259, 277, 282, 310 Ethnologie  253, 276, 279, 306 Eugenik  17, 22, 26, 55, 62, 71, 76, 85, 111, 150, 295, 352 Exklusion  29, 149, 348, 350 siehe auch ­ Inklusion Experten (auch Soziale.)  9, 14, 17–24, 54–86, 95–125, 149, 162, 169, 170, 277–280, 286, 297, 303, 307–316, 324, 330 Expertenkommission 116 Expertenwissen  7, 17–19, 34, 44, 55, 98, ­110–116, 313, 314 Faschismus  7, 29, 51, 59, 149, 276 f, 288 Febvre, Lucien  209, 212, 215, 216, 225, 226, 272, 273, 274, 275, 277, 278, 281, 282, 283, 284, 287, 334, 342, 343, 344, 345 Finanzmarkt-Kapitalismus  173, 176–178, 182, 189–193, 299, 306, 311, 358, 363, 268 f Fleck, Ludwik  43, 71 Foucault, Michel  8, 38, 175, 179, 260 Freyer, Hans  76, 83 Friedmann, Georges  277, 278, 283, 285 Fürsorge (auch Armenf., Jugendf. Familienf.)  22, 25 f, 28, 31, 32, 39–42, 65 f, 99–111, 119, 149

382

Geisteswissenschaften  56, 78, 82, 239, 302, 322, 324 f, 331, 334 Generation  8, 71 f, 75, 79–81, 109, 117, 122 f, 142 f, 149, 151 f, 160, 215, 225, 246–250, 252, 283 Geographie  68, 213–215, 227, 233, 276 f, 283–285, 337, 344 Geschichtswissenschaft  7–10, 133–173, 176, 179, 188, 201–291, 320, 341–345 Gesellschaftsgeschichte  8, 41 f, 135, 137, 142, 146 f, 151–154, 158, 160, 166, 191, 242, 244, 254 f, 262, 268 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses  66, 111 Gesundheitspolitik (auch -wesen)  17, 19, 56, 70, 82, 96–99, 104–108, 116, 120, 308, 312, 331, 350, 366 Gewerkschaften  19, 31, 65, 97, 100, 104 f, 107, 183, 210, 309, 357, 359, 363, 366 f Gidel, Gilbert  334, 335 Globalgeschichte  9, 133 f, 136 f, 149, 155 f, 158, 162, 177, 221–236 Globalisierung  138, 151, 180, 184 Gottmann, Jean  283, 285 Halbwachs, Maurice  311, 330 Hamburg  185, 206, 250 Heidegger, Martin   76, 83 Herbert, Ulrich  55, 140–146, 151 f, 159 Himmler, Heinrich  60, 61, 68, 69 Hitler, Adolf  51, 52, 75, 76, 79, 112, 117, 164, 169, 332, 341 Hochschulen siehe Universitäten Holocaust siehe Völkermord Honecker, Erich  107, 114 Humanwissenschaften  7, 13–91, 95, 100, 102, 113, 149, 274, 285, 296, 299–302, 308, 314 f Idealismus  201, 214 f, 223, 300 f, 313, 315 f Ideengeschichte  7, 8, 15 f, 38, 41, 51–55, 57, 74, 78, 81 f, 85, 98, 146–148, 162, 178–180, 183, 268 Imperialismus   163, 165, 202, 205, 216, 267, 302 Industrialisierung  26, 139, 141, 145, 157, 160, 202, 254, 276, 278, 295 Inklusion  26, 29, 149, 348 f, 359 siehe auch Exklusion Intellektuelle  19, 32, 38, 43, 75, 79, 81–83, 85, 142, 148, 155, 161, 170, 203, 210, 221, 279–282, 285 f , 297–304, 315, 322 f, 328, 331

Jaurès, Jean  203, 210 Jura, Jurist siehe Rechtswissenschaft Kalter Krieg  31, 160, 230, 285, 357 Kapitalismus  177–180, 189, 202, 209, 226, 228–231, 254, 261, 278, 304 siehe auch Finanzmarktkapitalismus Katholizismus  145, 149, 161, 302, 303 f, 307, 315 f, 322, 326, 336, 338, 340, 342, 363, 374 Kocka, Jürgen  246–249, 259 Kommunismus, Kommunist  51, 142, 146, 149, 277–279, 286, 323, 328, 330, 338, 345, 357, 359, 363, 366, 374 siehe auch Bolschewismus Konservatismus  7, 16, 29, 58 f, 65, 75, 112, 147, 149, 161, 175, 179, 183, 190 f, 203 f, 209, 238, 246, 254, 304, 309, 322 f, 325 f, 328, 338, 342 Konsum (-geschichte)  30 f, 64 f, 103, 140, 142, 144, 150 f, 168, 173, 186 f, 191, 280 Koselleck, Reinhart  9, 137, 141, 246, 247 Kriminologie (Kriminalbiologie)  13, 17 f, 22, 44, 67, 73, 300, 305, 309, 313 f Kulturgeschichte  8, 151, 168, 183, 204, 208, 211, 245 KZ / Konzentrationslager  29, 67 Labouret, Henri  277, 343 Labrousse, Ernest  232, 343 Lamprecht, Karl  201, 209, 213, 215, 216 lange Dauer ( longue durée)  228, 232, 271, 287 Larenz, Karl  63, 79 Le Bon, Gustave  309 f Le Play, Frédéric S.  24, 300 Lebensraum  51, 55, 68, 73 Lefebvre, Georges  209, 212, 341 Leipzig  105, 207, 210, 248 Leonard, Jörn  19, 296 Lepsius, Oliver  75, 265 Liberalismus  7, 13, 16, 29, 58, 59, 67, 77, 85, 101, 142, 146, 147, 149, 162, 166, 167, 168, 203, 204, 206, 209, 216, 254, 274, 277, 281, 282, 299, 308, 310, 315, 321–325, 333, 352, 361, 365 neo-liberal 32, 177, 179–186, 192, sozialliberal 135, 150, 179, 262, 304 Lombroso, Cesare  18, 313 London  210, 211, 249, 267, 275, 333 London School of Economics  203, 210, 275 Longwy  348, 350–358, 362, 365, 367, 372 Lyon  249, 313

Marx, Karl  209, 214, 216, 232 Marxismus  8, 42, 59, 113, 177, 216, 261, 276, 279 Mathiez, Albert  209, 212 Medizin (Sozial-)  13–28, 55 f, 61, 66 f, 70, 95 f, 100–105, 108–113, 118, 122, 243, 253, 261, 296–300, 304–314, 323 f, 334–337, 340, 350, 363 Meinhold, Helmut  120, 122 Meinungsforschung  22, 181 Migration  193, 227, 233 siehe auch Arbeitsmigration Moderne (auch Post-, Hoch-, Spät-)  8 f, 33, 39, 51, 133–172, 174, 182, 188, 259, 261, 304, 316 Modernisierung (-stheorie)  8, 30–33, 39, 135–152, 157, 160, 171, 202–205, 228, 230, 243 f, 259, 265, 284–286, 302 Morazé, Charles  283, 284 Mougin, Henri  277–279 Mussolini, Benito  169 Muthesius, Hans  108, 119 Nation ( auch Nationalisierung, -bildung)  9, 17, 25, 27, 33, 36 f, 76, 80 f, 86, 139 f, 145, 150–172, 203, 213, 216, 285, 348–378 Nationalismus  7, 25, 29, 51, 58, 75, 80, 86, 142, 150–172, 203–205, 216, 254, 284, 315, 322, 332 Nationalökonomie siehe Wirtschaftswissenschaften Nationalsozialismus  7, 29, 39, 51–86, 95, 102, 108, 111, 112, 124, 145, 146, 149, 159, 165, 167, 168, 170–171, 262, 276, 278, 279, 281, 282, 285, 288, 318–347 Nationalstaat  37, 134, 142, 155–172, 183, 204, 231, 255 f, 348–378 Naturwissenschaften  14, 23, 27, 78, 113, 120, 141, 147, 188 f, 273, 296–301, 305, 334, 336 Noiriel, Gérard  150, 348, 349, 363 NSDAP  52, 55, 63, 65, 78, 80, 101, 104, 111, 116, 254 NS-Diktatur siehe Nationalsozialismus Ordnungsmuster  6–9, 44, 132–154, 160, 164, 168, 170, 180 Osterhammel, Jürgen  133, 163, 227 Paris  203, 205, 222, 232, 233, 250, 277, 283, 303, 313, 319–347, 349 Pétain, Philippe  322, 329, 333, 339–341

383

Peukert, Detlev J. K.  28, 54, 140 Philosophie, (auch Sozial-, Geschichts-)  23, 38, 51, 74–76, 81 f, 136, 149, 214 f, 221–227, 260, 277, 279, 295–307, 309, 314–316 Pirenne, Henri  209, 212 Planung  16, 20, 28, 30- 32, 54, 56 f, 64–70, 72–74, 82–85, 101–103, 106 f, 110, 113 f, 117, 119, 121, 124, 147, 149, 242 siehe auch Raumplanung Politikwissenschaft  13, 23, 51, 109 f, 123, 185, 189, 243, 247, 252 f, 264, 283, 287, 296, 310 Positivismus  18, 78, 214 f, 221, 264, 298–301, 310, 314 f, 335 Potsdam  107, 251 Prag 84 Professionalisierung  28, 33–36, 70, 97–99, 102, 106 f, 109, 123 f, 138, 204, 259, 261, 298 Psychiatrie  13, 22, 26, 29, 66, 109, 300, 309 Psychologie  13 f, 17, 19–24, 27 f, 33–36, 44, 56, 60, 100, 113, (auch sozial-) 113, 189, 215, 274, 278, 295, 296, 300, 305–307, 309 f, 312 f Randgruppen  28, 31, 66 f, 85, 104 Rassenhygiene  17, 26, 28, 55, 66 f, 70, 73, 75, 101–103, 111, 117, 331 Rassismus, Rassenpolitik  17, 54 f, 59, 62, 66, 70, 85, 254, 336 f Raumplanung  60, 67 f, 168 Reagan, Ronald  175, 180 Rechtswissenschaft  14, 17 f, 28, 55, 56, ­61–64, 67 f, 75, 79, 81, 95 f, 99 f, 103 f, 108, 115, 122, 206, 210, 297, 305–310, 313 f, 323 f, 334, 337 Regionalgeschichte  156, 206–208, 214 f, 341 f Religion  37, 137, 209, 215, 223–225, 227, 243, 274, 299, 303 Revue historique  255, 273, 341 f Rosenberg, Hans  68, 76, 263 Rostovtzeff, Mikhail I.  209, 212 Schieder, Theodor  246, 263 Schmitt, Carl  62, 63, 76, 83, 261 Schmoller, Gustav  206, 209, 210 SED  105 f, 111–118 Six, Franz Alfred  55, 62 social engineering  9, 26–29, 31, 85, 149, 162, 168 Sombart, Werner  206, 209, 228, 344

384

Sorel, Georges  298, 302 Sozialarbeit(er)  22, 34 f, 97, 99, 109, 149 Sozialdarwinismus  16, 17, 21, 26, 52, 55, 72, 309, 315 Sozialdaten  20, 24, 95, 152, 302, 312 Sozialdemokratie, Sozialdemokraten  29, 100 f, 104 f, 150, 161, 190, 203, 209, 275 Sozialgeschichte  7–10, 15, 38–42, 79, 97, 124, 133–135, 138–140, 148, 152 f, 186, 201–291 Sozialingenieur  82, 84 f, 95, 113 f, 117, 124, 169 f, 295, 307 Sozialismus  7, 16, 29, 34, 42, 104, 105, 114, 139, 150, 157, 162, 166, 193, 203 f, 210, 262, 274, 275, 279, 286, 290, 310, 315, 324, 327 Sozialmedizin siehe Medizin Sozialpolitik  19, 23, 26, 29, 32, 36 f, 39, 41, 56, 60, 64–66, 95–129, 166, 176–178, 185 f, 189, 254, 259, 305, 307 f, 311, 331, 352, 361 Sozialrecht  103, 115, 124, 185, 349 Sozialreform  24–26, 29, 38, 95, 119, ­202–204, 214, 274, 296, 303, 307 f, 311 f, 315 Sozialversicherung  25, 39, 64, 97, 101, ­103–106, 109, 116–118, 148, 161, 305, 312 Sozialwissenschaften  10, 14–16, 18 f, 26 f, 30–50, 60, 66 f, 73, 85, 102–105, 107–110, 113 f, 117–125, 135, 152, 161, 176 f, 181 f, 184, 205, 212, 215, 226, 230, 232, 239, 242 f, 250, 252, 265, 272–275, 280, 285–288, 295–318 Soziologie (auch Wissenss.)  8, 13 f, 17, 19 f, 23, 27, 28, 32–35, 44, 55, 57, 68, 76, 96, 100, 106, 109, 113, 123, 142, 147, 177, ­183–185, 241, 243, 246 f, 252 f, 260, 264 f, 268, 274–76, 278, 280 f, 283–285, 300 f, 304–306, 308, 311, 313 Spencer, Herbert  215, 299, 301 SS  55, 57, 60–62, 65, 75 f, 81, 84, 102, 104, 328 f Staatsangehörigkeit siehe Einbürgerung Stalin, Josef  42, 169, 278 Statistik  23–25, 30, 37, 41 f, 60, 64 f, 71, 97, 114, 116, 152, 213 f, 250 f, 296, 300, 305, 307, 311 f, 314, 319, 350 f, 354, 362, 368, 371 Streeck, Wolfgang  178, 182, 186, 189, 190 Tawney, Richard H.  203, 209, 211 Test  14, 20 f, 28, 312 f Thatcher, Margaret  175, 179, 192

Therapie (auch Psycho-)  21–24, 27, 32 f, 36, 44, 67, 304, 309 Totalitarismus  51 f, 57, 76 f, 83 f, 149, 165–167 Toynbee, Arnold J.  141, 142, 224 Turner, Frederick J.  209, 214, 215 Ulbricht, Walter E. P.  106, 107, 117 Universitäten  20–22, 35, 53, 59 f, 78, 82, 112, 123, 206 f, 210–212, 239, 246–252, 256, 283, 298–302, 305–307, 311, 318–347 Utopie  20, 65, 73 f, 84, 124, 147, 170 Varga, Lucie  277, 278, 279 Verein für Sozialpolitik  100, 114, 202, 311 Verwissenschaftlichung  9, 13–50, 106, 110, 116, 120, 297, des Sozialen 13–50, 95, 97, 99, 140, 149, 190, der Sozialpolitik 106, 110, 116, 120 Vichy  319–347, 352, 353 Vichy Regime  318–247 Völkermord  52, 74, 136, 150, 193 ›Volk‹ (-ordnung, -kampf, völkisch)  54 f, 58, 61–65, 68–73, 75, 79–82, 157 ›Volksgemeinschaft‹   57, 65–67, 70, 72, 77, 82, 101, 104, Volksgeschichte  203–205, 215 Weber, Max  8, 19, 44, 206, 209, 214, 215, 228, 230, 261, 265

Wehler, Hans-Ulrich  237, 245–248, 255, 259, 262 Weimarer Republik  28, 58, 62, 67 f, 75, 78 f, 82, 98–102, 105, 108, 111, 114, 118, 121, 124 f, 259 Weltanschauung (-elite)  51–94, 112, 160, 327, 329 Wertewandel  142, 173, 181, 183 Westernisierung  149, 171, 246 Winkler, Heinrich  123, 247–249 Wirtschaftswissenschaften  23, 76, 81, 99, 178–183, 186, 189, 202, 206–210, 214, 232, 252, 286, 295, 305 f, 343 f Wissenschaftsgeschichte 13–129 Wissensgeschichte  8, 40–43, 188 Wohlfahrtspflege siehe Fürsorge Wohlfahrtsstaat  25, 28 f, 31–36, 39, 42, ­95–129, 311–314 Wohnungsbau  64, 97, 103, 361 f Zeitgeschichte  8–10, 34, 40, 133, 151, 153, 159, 173–197, 258 f, 271 ›Zigeuner‹ Sinti / Roma  66, 103 f Zivilisierungsmission  160, 170 Zwangssterilisation  67, 73 Zweiter Weltkrieg  9, 30, 37, 40 f, 74, 136, 139, 142, 145 f, 150 f, 156, 158–166, 169, 244, 259, 279, 319–347, 356, 364, 374

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