Opening Pandora’s Box: Gender, Macht und Religion [1 ed.] 9783737011167, 9783847111160

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Opening Pandora’s Box: Gender, Macht und Religion [1 ed.]
 9783737011167, 9783847111160

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Benedikt K. Bauer / Kristina Göthling-Zimpel / Anna-Katharina Höpflinger (Hg.)

Opening Pandora’s Box Gender, Macht und Religion

Mit 13 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Referats für Chancengerechtigkeit der EKD. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: »Jesus in Silber«, © Yves Müller, Zürich Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1116-7

Inhalt

Dank

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Benedikt K. Bauer / Kristina Göthling-Zimpel / Anna-Katharina Höpflinger Opening Pandora’s Box. Auf der Suche nach dem Schlüssel . . . . . . . .

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Sektion 1: Stereotype Kristina Göthling-Zimpel Weil es so ist, wie es ist! (Un)veränderliche Stereotype, Religion und Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Denise Polaczuk Vagina Dentata. Eine Interpretation des Höllenschlund-Motivs im mittelalterlichen Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Charlotte Diedrich »Eine Witwe, das heißt: Dein Mann ist tot, du bist mit ihm begraben.« Die Witwe im 19. Jahrhundert zwischen Sex, Macht und Religion . . . . .

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Kilian Knop Von Sexrobotern und ewigen Leben. Die Raelistische Religion und die Verwissenschaftlichung der Kategorie »Geschlecht« . . . . . . . . . . . .

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Kristina Göthling-Zimpel Verführung hinter Klostermauern? Nunsploitationfilme: Das Spiel mit Voyeurismus und Exhibitionismus am Beispiel von Ken Russells The Devils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Sektion 2: Feminismus / Feminismen Anna-Katharina Höpflinger Geliebt und verflucht – Feminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Dolores Zoé Bertschinger »Ich muß Dich zanken über deinen Klostergedanken.« Zum Wechselverhältnis von Religion, Geschlecht und Literatur im ausgehenden 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Alice Kaiser »Der homo religiosus ist männlich«. Feminismus in der Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Benjamin Heimann Krishna-Devotionalismus und Geschlechtsrelativierung: Genderkonstruktionen in der Bengalischen Vaisnava-Tradition . . . . . . 157 ˙˙

Sektion 3: Männlichkeit(en) Benedikt Bauer Männlichkeit, queer… und was dann? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Benedikt Bauer »du hast gebrannt, den Bräutgam zu umfassen«. Brautmystik und Wundenkult sowie deren Implikationen für die Männlichkeitskonstruktionen in der Herrnhuter Brüdergemeine . . . . . 181 Manuel Stadler Zwischen religiöser Devianz und politischer Dissidenz. Die »Kastratensekte« der Skopzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Sektion 4: Intersektionalität Benedikt Bauer / Kristina Göthling-Zimpel Jede_r nur ein Kreuz!? Intersektionalität, Gender und Religion . . . . . . 229 Jessica Albrecht »I am what I wear, I wear what I am«. Mode als Abbildung und Konstitution von hindu-nationaler Identitätsbildung und Geschlechterdifferenzierung in Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Inhalt

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Tobias Köhler »Ohne Gottes Hilfe geht es nicht«. Eine Einführung in das Feld des christlichen Homeschoolings in Deutschland am Beispiel der Philadelphia-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Response Stefanie Knauß Wenn Pandoras Büchse erst einmal offen ist…: Geschlecht und Religion, Macht und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Kurzbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Dank

Das vorliegende Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung verschiedener Institutionen und Personen. Wir möchten allen, die mit uns über dieses Projekt und allgemein über Gender und Religion diskutiert haben, bestens danken. Ein besonderer Dank geht an die Organisator_innen des 24. Symposiums der Studierenden der Religionswissenschaft »Opening Pandora’s Box. Sex, Power & Religion«, die mit ihrem Engagement den Grundstein für das vorliegende Buch legten. Allen Autor_innen, die ihre Beiträge und Gedanken zur Verfügung gestellt haben, sind wir sehr dankbar. Stefanie Knauß danken wir herzlich für ihr resümierendes Schlusswort und ihre inhaltliche Unterstützung. Ein großer Dank geht an V&R unipress und besonders Carla Schmidt und Julia Schwanke für die kooperative Zusammenarbeit. Besonders bedanken möchten wir uns außerdem bei den Institutionen und Personen, die den Druck des vorliegenden Buches finanziell ermöglicht haben: Dem Referat für Chancengerechtigkeit der EKD und insbesondere Petra Sprung für die unkomplizierte Kommunikation und die Bereitschaft, sich für den Druck einzusetzen; der Professur für Interkulturelle Theologie und Körperlichkeit an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und besonders Prof. Dr. Claudia Jahnel für die ideelle und finanzielle Unterstützung sowie dem Forschungsprojekt Ossarium für die bereichernde Zusammenarbeit. Benedikt Bauer, Kristina Göthling-Zimpel und Anna-Katharina Höpflinger Januar 2020

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Opening Pandora’s Box. Auf der Suche nach dem Schlüssel

Einleitung Die Idee für das vorliegende Buch entstand in der Nachbearbeitung des Studierendensymposiums »Opening Pandora’s Box: Sex, Power & Religion«, das im Mai 2017 in München stattfand. Dabei stand das Eintauchen in ein facettenreiches, oft eigensinniges und konzeptuell schwieriges Thema, nämlich Gender und Religion, im Zentrum. Die vielen inspirierenden Vorträge der Tagung wurden für den vorliegenden Band überarbeitet und vertieft. Im Zuge dieser Überarbeitungen erfolgten unter uns als Herausgebenden, aber auch mit den Autor_innen, rege Debatten, vor allem über die Konzepte, Begriffe, Vorannahmen sowie Perspektiven, die einen genderspezifischen Blick rahmen. Wir waren uns nicht immer einig, wie man Beobachtungen theoretisch fassen, wie man Empirisches erklären und wie man an spezifischen Fragen weiterdenken könnte. Wir trafen uns schließlich in der Überzeugung, dass es am Ende nicht Festlegungen von Konzepten sind, sondern dass es vielmehr die Offenheit für andere Positionen und vor allem die Reflexion der verschiedenen Herangehensweisen sind, die einen genderzentrierten Blick auf Religion ausmachen. Die vorliegende Einleitung spiegelt somit das Vorgehen unserer Arbeit, sie präsentiert Auszüge der Diskussion um Gender und Religion, dient aber zugleich als wissenschaftliches Programm: Eine Genderperspektive ist ein Diskurs und nicht eine Suche nach Faktizitäten oder sogar Wahrheiten. Es geht also in erster Linie um einen Austausch, ein Debattieren und manchmal vielleicht sogar um ein (respektvolles) Streiten – solange es zum Denken anregt. Dass die Beiträge des Hauptteils auf eine studentische Initiative wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Themenkomplex Gender und Religion zurückgehen, ist hier insofern besonders hervorzuheben, als dass es einerseits eindrücklich zeigt, wie engagiert Studierende an Diskursen der Religionswissenschaft partizipieren und wie wertvoll die Impulse des wissenschaftlichen Nachwuchses sein können. Andererseits kristallisiert sich eine schrittweise Eta-

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blierung und Verstetigung genderperspektivischer Ansätze in der Religionswissenschaft heraus, die darauf hoffen lässt, dass Forschungen zu diesem komplexen Themenspektrum zunehmend im Mainstream der Fachdisziplin ankommen und verankert werden. Der Diskursivität der Genderperspektive gemäß hatten alle Vorträge der Tagung eine eigene Definition von Gender, sex und Sexualität, wobei jedoch dekonstruktivistische Blickwinkel in der Überzahl waren. So wurde Gender beispielsweise als Prozesskategorie aufgefasst, für die die Wechselwirkungen von Individuum und Gesellschaft elementar sind. Auch im vorliegenden Buch blieb es den Autor_innen überlassen, die Konzepte für ihren Blick passend zu definieren, weshalb der theoretische Rahmen von Beitrag zu Beitrag verschieden ist. Wir Herausgebenden verstehen sex, Gender, Geschlecht und Identität als theoretisch-metasprachliche Begriffe, die dazu dienen, die Komplexität der Welt konzeptuell zu ordnen. Oder einfacher gesagt: Es geht nicht um die Frage, ob es sex, Gender, Geschlecht oder Identität gibt. Vielmehr sind diese Termini konzeptuelle Kategorien, die das Beobachtbare ordnen wollen, um es untersuchbar und erklärbar zu machen. Konzepte stehen dabei aber nicht im luftleeren Raum, sondern werden geprägt von ihrer Begriffsgeschichte. Konzepte sind also immer »vorbelastet« im Sinne, dass sie Semantiken aus spezifischen historischen Settings mit sich tragen. Sie können zwar umgedeutet werden, jedoch nur im Widerstand gegen die gängigen Semantiken. Wir wollen dies exemplarisch am Begriff »Gender« in Erinnerung rufen: Gender war zunächst ein linguistischer Begriff, der in den 1950er Jahren durch den Sexualwissenschaftler John Money als terminus technicus in die Psychologie eingeführt wurde, um fluide Geschlechtskategorien besser erfassen zu können. In den 1960ern gelangte der Begriff als Konzept in die Sozial- und Geisteswissenschaften, wobei Gender in dieser Zeit eine Interrelation mit sex bildete und den sozialen Aspekt von Geschlecht im Gegensatz zum körperlichen Aspekt abdecken sollte. In dekonstruktivistischen Argumenten, die in Anlehnung an Judith Butlers Gender Trouble formuliert wurden, wurde diese Dichotomie von Körper und Kultur infrage gestellt.1 Es gab aber auch schon vor Money unterschiedliche Theorien, um die Prozessualität von Geschlecht zu betonen. Die bekannteste ist die des Arztes Magnus Hirschfeld: Er geht u. a. in seinem Buch Die Homosexualität des Mannes und des Weibes von 1914 von Geschlecht als graduelle Größe mit zwei Polen aus: An einem Pol steht das total Weibliche, am anderen das völlig Männliche. Aber Menschen bewegen sich gemäß Hirschfeld immer irgendwie zwischen diesen Polen, sind also in unterschiedlichen Graden sowohl männlich als auch weiblich.2 1 Vgl. Butler 1990. 2 Vgl. Hirschfeld 2001, 357–364.

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Diese Beispiele aus der Begriffsgeschichte zeigen: Es ist möglich (und wichtig), sex, Gender, Geschlecht und Identität zu definieren, aber immer in einem heuristisch-konzeptuellen, nicht in einem faktischen Sinn. Die angeführten Begriffe – sex, Gender, Geschlecht, Identität – werden genutzt, um Prozesse greifbar zu machen. Wenn die Kategorie Körper ergänzt wird, können die o.g. Kategorien spezifischer werden. Körper ist, im hier vertretenen Verständnis, ebenfalls ein Konstrukt, das durch verschiedene Sozialisierungsprozesse geformt wird: Stereotype Körperbilder können so entstehen und wirken wiederum im Umkehrschluss auf sex, Gender, Geschlecht und Identität. Um Geschlecht als Prozesskategorie zu denken, ist das Konzept Doing Gender hilfreich. Doing Gender betont die Kontextualisierung von Geschlecht: Das soziale Geschlecht (Gender), aber ebenso die Erwartungserhaltung an das biologische Geschlecht (sex) folgen historisch gewachsenen Vorstellungen und Geschlechterrollenbildern, die sich so habituell auf die einzelnen Individuen auswirken.3 Hier kann das Konzept des Habitus nach Pierre Bourdieu zu einer klareren konzeptuellen Erfassung weiterhelfen.4 Dieses Konzept besagt, dass der Körper auf Erfahrungen basiert und demnach seine sozialen Handlungen erlernt sind, der Körper ist so das Produkt von sozialer Vergangenheit. Der Habitus bezeichnet das Handeln von Individuen, das grundlegenden Regeln folgt, die durch Vorbilder, Kultur, Sozialisation etc. vermittelt werden. Hier kann nun nützlicherweise das Konzept des Doing Gender anschließen, das – wenn die Kategorie sex in den Fokus rückt – auch die Kategorie Begehren beinhaltet: D. h. es wird davon ausgegangen, dass Männer Frauen begehren und Frauen Männer. Judith Butler nennt dies in ihrer Monographie Das Unbehagen der Geschlechter die heterosexuelle Matrix.5 Butler denkt also Bourdieus Konzept weiter und wendet es nicht nur auf das soziale, sondern auch auf das biologische Geschlecht an. Begriffe müssen also in ihrer Wechselwirkung mit Vergangenheit, Kultur und Medien verstanden werden. Oder anders formuliert: Heteronormative Kategorien sind nicht per se schlecht oder gut, sondern Geschlecht – sogar essentialistisch gedacht – ist nicht eine Kategorie, die unumstößlich ist. Genderkonstruktionen sind etwas Zeit- und Kulturspezifisches. Viele der Native American und First Nation Kulturen kannten beispielsweise mehr als zwei Geschlechter.6 Ebenso sind Kulturen denkbar, für die Geschlechtsmerkmale einfach keine relevante Differenzkategorie darstellen. Insofern beruhen auch essentialistische Geschlechtsunterscheidungen auf kulturell geprägten Körperkonzepten, die bestimmte Aspekte mehr betonen als andere. 3 4 5 6

Siehe u. a. Knapp 2000. Siehe u. a. Bourdieu 1997. Vgl. Butler 1991. Dazu: Carpenter 2011.

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Wieder andere Perspektiven gehen davon aus, dass nicht alles an »der« Genderforschung heuristisch-konzeptuell ist. Abseits von Biologismen und Essentialismen gibt es faktisch Messbares im Feld der Geschlechterforschung. Auf körperliche und biologische Sachverhalte lässt sich beispielsweise rekurrieren mit einem Hinweis auf diverse biologische Konfigurationen von sex, die sich chromosomal ausdrücken, wie zwei XY-Chromosomen für »Männer« und XXChromosomen für »Frauen«. Auch unterschiedliche andere Formen sind empirisch messbar (XY-Frauen, Intersexualität u.v.m.). Die Frage hierbei ist, was daraus sozial und medial gemacht wird und ob bei einer biologischen Sichtweise verharrt wird. Denn – hier besteht eine klare Schnittmenge mit anderen Perspektiven – Genderkonstruktionen bewegen sich in vielen Kulturen, wir erinnern erneut an Magnus Hirschfelds Theorien einer Graduellen, auf einem Kontinuum zwischen den binären Polen »Mann« und »Frau« und haben unendlich viele Schattierungen und Varianten. Sie sind also in einem hohen Maße fluide. Nicht umsonst wird im »Westen« ganz basal z. B. von cis-Männern/Frauen und transMännern/Frauen gesprochen. Das Wissen der jeweiligen naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschung wurde also in verschiedenen Kulturen als Relation zu Genderkonstruktionen gedacht, beispielsweise im in Europa lange gültigen Ein-Geschlechter-Modell, im Zwei-Geschlechter-Modell oder mit den unterschiedlichen Säften in der Humoralpathologie.7 An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass die biologisch-medizinischen Fakten in ihrer vermeintlichen empirischen Verlässlichkeit wiederum zeit- und kontextabhängig sind und trotzdem als Relata genutzt werden, um soziales Geschlecht, also Gender, zu diskutieren bzw. Gender eine vermeintliche Eindeutigkeit zuzuordnen. Eminent wichtig ist daher, dass in der Genderforschung die eigene Positionalität (auf Englisch: positionality) immer mitgedacht wird.8 Mit welchen Vorstellungen von Geschlecht wird gedacht und gearbeitet? Aus welcher Perspektive kommt man selbst? Dieses Nachdenken ist wichtig, damit nicht biologisch indizierte Stereotype von Gender unreflektiert reproduziert werden. Was das Vorhergehende prägnant aufzeigt, ist, dass der Körper eine Schlüsselkategorie bildet, um Geschlecht zu erforschen. Jedoch ist hier ein Unterschied zu machen zwischen ›einen Körper haben‹ und ›ein Körper sein‹, also zwischen einem sozialen und dann wieder konstruierten Körper. Mit anderen Worten die Unterscheidung zwischen meinem Körper, der in Interaktionen eingebunden ist, der kommuniziert, Empfindungen hat und repräsentiert, und meinem Körper, an den Erwartungshaltungen formuliert sind – Vorgaben und Normvorstellung –, die im Umkehrschluss meine Repräsentation, Empfindungen und Interaktion beeinflussen, kontrollieren und letztendlich normieren. Das Konzept 7 Vgl. Voss 2010. 8 Vgl. z. B. Avci 2016.

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der »körperreflexiven Praxis«, ausgearbeitet von der australischen Soziologin Raewyn Connell greift dies auf.9 Der Körper und soziale Praktiken interagieren miteinander und bedingen sich gegenseitig, so auch Geschlechtsannahmen. Beispielsweise werden unterschiedliche Körperpraktiken an biologische »Männer« und »Frauen« herangetragen, von ihnen erwartet und ausgeführt, sodass aus dem Körper, der diese Praktiken ausführt, ein weiter vergeschlechtlichter wird, der dann auch wiederum die Genderkonstruktion tangiert. Daraus bildet sich ein reflexiver Kreislauf von sex und Gender. Eben dieses Zusammenspiel von sex und Gender bedingt auch Identität, die wiederum auf die anderen beiden Kategorien Einfluss nimmt. Wenn der Körper für die Erforschung von Geschlecht als elementar wichtig empfunden wird, ist also der Aspekt der Körpergeschichte von großer Bedeutung.10 Der Körper ist geprägt von der Geschichte und ist letztendlich ein Produkt dieser – hier wiederum in Anschluss an Bourdieus Ausführungen zum Habitus. Interessant ist dabei – mit dem Blick auf Geschlechterverhältnisse –, welche Ansprüche in welcher Kultur an »Männer« und »Frauen« daraus resultieren, ob mehr Geschlechter denkbar sind und was als Normabweichung gelesen wird. Mit diesem Aspekt tangieren »wir« gleichzeitig die Themen power & religion, die für die Tagung und das Buch elementar sind. Zunächst zu Religion: Mit Religion verhält es sich unserer Ansicht nach ähnlich wie mit Körper. Wissenschaftler_innen können sich wiederholende Handlungen beobachten, selbst Transzendenzerfahrungen machen, von unkontrollierbaren Erlebnissen hören, Mythen lesen, geschnitzte Heroinnen-Statuen berühren, an Ritualen teilnehmen, Weltanschauungen rekonstruieren und darauf aufbauende Organisationen analysieren. Religion ist aber nicht eines davon oder all das, sondern Religion ist ein Konzept, um solche empirisch beobachtbaren kulturellen Phänomene zu erfassen, darüber reden zu können und sie vergleichbar zu machen. Deshalb findet sich noch immer keine universale, allgemein gültige Religionsdefinition, sondern je nach Fragestellung oder Blickwinkel bietet sich eine andere an – ebenso wenig wie es eine universale Körper- oder Genderdefinition gibt. Religion als Konzept hat demnach eine ordnende und systematische Funktion:11 Sie macht den Blickwinkel klar, bestimmt Zuordnung und kulturelle Erklärungsmuster. Die Beiträge im vorliegenden Buch arbeiten mit unterschiedlichen Religionskonzepten. Ihnen gemein ist aber, dass sie Religion als etwas umreißen, das die Ordnung zwischen Geschlechtern, beispielsweise mit Be9 Connell 2013, 99. 10 Vgl. z. B. Lorenz 2000. 11 Vgl. Geertz 1987, 48: »[W]eil Definitionen, auch wenn sie bekanntlich nichts beweisen, bei genügend sorgfältiger Formulierung doch zur Orientierung oder Neuorientierung des Denkens beitragen können«.

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griffspaaren wie unrein/rein, maßgebend mitformt.12 Wer eine Frau ist, wer ein Mann, das mag in vielen Kulturen biologisch genormt sein, aber was ein guter, d. h. männlicher Mann ist, bzw. eine gute, d. h. weibliche Frau, das wird mitunter durch Religion mitbestimmt. Nicht nur Verhaltensnormen als einem bestimmten Geschlecht zugehörig und zwischen Geschlechtern – gebe ich als Mann einer Frau die Hand, darf ich, wenn ich menstruiere in den Tempel, verhülle ich als Frau meine Haare, bedeutet mir das religiöse Konzept der Ehe etwas – sind dabei religiös begründet, sondern auch konkrete Erwartungshaltung und im Umkehrschluss auch Diskriminierungen von Menschen, die als anders gelesen werden. Das zeigt sich z. B. in Kleiderordnungen, Arbeitsverhältnissen oder der Möglichkeit zur religiösen Ausbildung und Handlung. Religionen können aber gesellschaftliche Genderstereotype auch aufbrechen, beispielsweise wenn Frauen mit Berufung auf eine göttliche Erwählung für ihre Kultur gendertypische Verhaltensmuster aufbrechen können (ein Paradebeispiel wäre Jeanne d’Arc). Geschlechterstereotype/-charaktere sind somit Ausdruck von Geschlechterverhältnissen und letztendlich von Macht13 – und hiermit tritt auch der zweite oben genannte Aspekt der power hinzu. Hier stellt sich nicht nur die Frage, wer oder was diese Hierarchien bestimmt, sondern auch, wer von diesen Ordnungen profitiert und wer nicht – und wie und wo sie durchbrochen werden (wir erinnern uns: Religionen haben manchmal auch subversives Potential). In vielen US-europäischen Religionen dominiert das Männliche das Weibliche. Der idealen Frau werden passive Werte zugeschrieben, dem Mann hingegen aktivere. Ob global von einer männlichen Herrschaft14 gesprochen werden kann, muss jedoch mit Blick auf matrilokale Kulturen und solche, die mehr als zwei Geschlechterkategorien kennen, kritisch hinterfragt werden. Macht ist zudem ein wichtiger Aspekt von Kultur allgemein. Die Frage auf der konzeptuellen Ebene ist dabei allerdings, wie Macht definiert wird. Empirisch zu beobachten sind sehr verschiedene Arten von Macht und Machtausübung. Ein besonders aufschlussreicher Aspekt hinsichtlich Geschlechterkonstruktionen ist die Macht der Repräsentation: Repräsentation kommt von Lateinisch repraesentare, vergegenwärtigen. Repräsentationen vergegenwärtigen soziokulturelle Vorstellungen und Erwartungen in medialer und materieller Form. Kulturelle Vorstellungen von Geschlecht werden via solcher Repräsentationen, also einer medialen Vermittlung in Texten, Bildern, Filmen, Musik, etc. vermittelt. Gemäß dem Britischen Kulturwissenschaftler Stuart Hall arbeiten Repräsentationen

12 Vgl. Wohlrab-Sahr/Rosenstock 2000. 13 Vgl. Hausen 2001; vgl. Harding 1989. 14 Vgl. Bourdieu 1997.

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zur gleichen Zeit auf zwei verschiedenen Ebenen: auf einer bewussten und offensichtlichen Ebene, und auf einer unbewussten und unterdrückten Ebene. Die erste Ebene dient oft als an die Stelle der zweiten tretende ›Tarnung‹. […]. Zudem ist das, was visuell durch die Praktiken der Repräsentation produziert wird, nur die halbe Geschichte. Die andere Hälfte – die tiefere Bedeutung – liegt in dem, was nicht gesagt, aber vorgestellt wird, was impliziert wird, aber nicht gezeigt werden kann.15

Dieser Gedanke kann für einen Blick auf Geschlechterrepräsentationen aufschlussreich sein: Auch wissenschaftlich nicht zu vergessen, ist die Macht dessen, was nicht gezeigt, aber impliziert wird. Weiter argumentiert Hall, dass sich in Kulturen sogenannte »Regimes der Repräsentationen« finden lassen,16 also dominante Repräsentationen von dominanten Vorstellungen. Diese dominanten Repräsentationen funktionieren, indem sie Monosemierungsprozesse in die Wege leiten, gemeint ist, die Vieldeutigkeit von Repräsentationen durch eindeutige Interpretationsmatrizen eingrenzen. Dies geschieht zum Beispiel durch Stereotypisierungsprozesse, indem also nur einige wenige Eigenschaften von Menschen hervorgehoben und als die wichtigsten Merkmale aufgestellt werden. Vorstellungen bezüglich Geschlecht unterliegen oft solchen Stereotypisierungen: Dass Frauen emotionaler seien, keine Ahnung von Technik hätten, nicht einparken könnten und von Natur aus perfekte Mütter seien, sind Beispiele dafür. Solche Stereotype werden in Texten, Bildern, Filmen, etc. zigmal repetiert und gefestigt. Religionen können nun Grundlagen für solche dominanten Genderbilder bieten. Sie bieten aber auch hier wieder vielfach subversives Potential, um die Macht solcher Geschlechterrepräsentationen zu brechen, beispielsweise indem der Körper abgewertet und der Fokus auf ein Jenseits gelegt wird. Denn Bedeutung und Deutung sind eben doch nie gänzlich festgeschrieben. Im Zusammenspiel von Geschlecht, Religion und Macht können schließlich also auch Grenzen und Brüche in den Blick genommen werden. An welchen Punkten z. B. drehen sich die vergeschlechtlichten Zuordnungen von Macht? Mit welcher religiösen Legitimation geschieht dies? Wie korrelieren Geschlecht und Religion in Situationen der empfundenen Machtlosigkeit, an den Grenzen der eigenen Macht? Wo sind Brüche in Geschlechterkonstruktionen zu verzeichnen und wie hängen diese mit Deutungshoheiten und Wahrheitsansprüchen zusammen? Diese Fragen sprechen Themen wie (religiöse) Devianz und Normierungs- bzw. Reglementierungsprozesse an sowie das Spektrum der Erfahrung und »Unmittelbarkeit« religiösen Erlebens auch im Horizont seiner Körperlichkeit. Dass der z. B. (vergeschlechtlichte) Körper in bedrängenden und ausweglos erscheinenden Situationen zum letzten Refugium der eigenen Macht 15 Hall 2004, 150, Hervorhebung im Original. 16 Hall 2004, 158.

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werden kann, zeigen plakativ die steigenden Zahlen an Essstörungen, die immer noch besonders junge Frauen betreffen, die an den rigiden Zwängen der Gesellschaft nahezu zerbrechen.17 Aber auch in der Religionsgeschichte wird der Körper zum letzten – z. T. auch zum präferierten – Refugium von Macht in diversen asketischen Bewegungen oder bei mittelalterlichen Geißlern. Wie interagieren hier die Aspekte Religion, Geschlecht und Macht? Führen solche Erfahrungen zu einer Dramatisierung oder Entdramatisierung von Geschlecht? Besitzt auch krisenhafte (religiöse) Erfahrung eine soziale Imprägnierung, die es ermöglicht, zwischen erlaubter und devianter Erfahrung zu unterscheiden? Enthalten diese Erfahrungen subversive Potentiale in Hinblick auf Religion, Geschlecht oder Macht? Um mit einem queeren Impuls, also im Sinne eines produktiven Störens und diskursiven Irritierens, zu enden: Bei aller Unterscheidung der Ansätze herrscht jedoch zumeist Einigkeit darüber, dass es auf die Definition ankommt – auch wenn sich der Gegenstand z. T. der Definition zu entziehen scheint. Das ist einerseits ein wunderbarer Gewinn geisteswissenschaftlichen Seins, denn die Pluralität an möglichen Theorie- und Denkoptionen verweist nicht nur auf eine profunde Wissenschaftsgeschichte, sondern auch auf rege kontemporäre Denkströmungen, die es wert sind, gedacht zu werden. Andererseits ist es auch die Krux (de)konstruktivistischen Arbeitens: Es wird bis aufs Kleinste zerfasert, zerdefiniert und danach mit einem oder mehreren Mitteln aus dem Hebammenkoffer der Theorien so weit wieder aufgepäppelt, bis es eine gewisse Standfestigkeit bekommt. Das mag durchaus den Verdacht der Beliebigkeit erwecken. Besonders bei den beiden Themenfeldern Religion und Gender scheint es so, als ob beide Seiten dieser Medaille stark zum Tragen kommen können, nachdem monolithische Erklärungsparadigmen von »der Religion« und »den zwei Geschlechtern« einfach nicht mehr greifen konnten. Brillieren beide Begriffe ob der Option der unzähligen Ansätze mit ihrer je eigenen Unschärfe, erhöht sich beim Zusammenbringen von »Religion« und »Gender« der Grad der Oszillation um ein Vielfaches. Es scheint manchmal ein wenig, als möchte man das Unerklärliche mit dem Ungeklärten erklären – doch seltsamerweise funktioniert es bisweilen, bisweilen jedoch auch nicht. Nach all diesen Impulsen wird es jedoch Zeit, Pandoras Box endlich zu öffnen. Alle obenstehenden Gedanken können als eine Art Schlüssel gelesen werden, der doch Eines nahe legt: Es wird Zeit, Pandoras Box zu zertrümmern und die sprichwörtlichen Schubladen in unserem Denken – die Kategorien wie Mann/ Frau, gut/böse, aktiv/passiv, schön/hässlich, etc. beinhalten – zu hinterfragen.

17 Vgl. z. B. Penny 2014, 25–58.

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Literatur Avci, Omer, 2016, Positionalities, Personal Epistemologies, and Instruction: An Analysis, Journal of Education and Training Studies 6/4, 145–154. Bourdieu, Pierre, 1997, Die männliche Herrschaft, in: Dölling, Irene/Krais, Beate (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 153–217. Bourdieu, Pierre, 1997, Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg: VS Verlag. Butler, Judith, 1991, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Carpenter, Richard, 2011, Womanish Men and Menlike Women. The Native American Two Spirit as Warrior, in: Slatter, Sandra/Yarbrough, Fay A. (Hg.), Gender and Sexuality in Indigenous North America 1400–1850, Columbia: University of South Carolina Press, 146–164. Connell, Raewyn, 2013, Gender, in: Lenz, Ilse/Meuser, Michael (Hg.), Geschlecht und Gesellschaft, Bd. 53, Wiesbaden: Springer. Diamond, Milton, 2004, Sex, Gender, and Identity over the Years. A Changing Perspective, Child and Adolescent Psychiatric Clinics of North America 13, 591–607. Geertz, Clifford, 1987, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Knapp, Gudrun-Axeli, 2000, Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht, in: Knapp, Gudrun-Axeli/Becker-Schmidt, Regina (Hg.), Feministische Theorien zur Einführung, Hamburg: Junius, 63–102. Lorenz, Maren, 2000, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen: Edition diskord. Hall, Stuart, 2004, Das Spektakel des »Anderen«, in: Hall, Stuart, Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, hg. von Koivisto, Juha/Merkens, Andreas, Hamburg: Argument Verlag, 108–166. Harding, Sandra, 1989, Geschlechtsidentität und Rationalitätskonzeptionen. Eine Problemübersicht, in: Pauer-Studer, Herlinde/List, Elisabeth (Hg.): Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 425–453. Hausen, Karin, 2001, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Hark, Sabine (Hg.): Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie, Stuttgart: Klett-Cotta, 363–393. Hirschfeld, Magnus, 2001 (1914), Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, Berlin/ New York: De Gruyter. Penny, Laurie, 2014, Unspeakable Things. Sex, Lies and Revolution, London/Oxford/New York/New Dehli/Sydney: Bloomsbury. Voss, Heinz-Jürgen, 2010, Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld: transcript. Wohlrab-Sahr, Monika/Rosenstock, Julika, 2000, Religion – soziale Ordnung – Geschlechterordnung. Zur Bedeutung der Unterscheidung von Reinheit und Unreinheit im religiösen Kontext (gekürzt), in: Lukatis, Ingrid/Sommer, Regina/Wolf, Christof (Hg.): Religion und Geschlechterverhältnis, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 279–298.

Sektion 1: Stereotype

Kristina Göthling-Zimpel

Weil es so ist, wie es ist! (Un)veränderliche Stereotype, Religion und Gender

Also sprach Zeus, und alle gehorchten Kronion, dem Herrscher. Und aus Erde formte sofort der ruhmvolle Hinkfuß gleich einem edlen Mädchen ihr Bild nach dem Willen Kronions. Gürtel und Schmuck verlieh ihr die augenhelle Athene, und die Göttinnen rings, die Chariten, und Peitho, die hohe, legten goldene Ketten ihr um den Leib, und die Horen kränzten, die lockenschöne, sie rings mit Blüten des Frühlings. All den Schmuck ihr am Leibe ordnete Pallas Athene. Aber in ihrer Brust der Bote, der Töter des Argos, Lug und Trug und schmeichelnde Worte und diebisches Wesen schuf nach dem Willen des tosenden Zeus, und auch noch die Stimme gab der Herold der Götter ihr ein, und nannte die Frau dann, so wie sie war: Pandora, weil alle Olympos-Bewohner sie mit Gaben begabten, zum Leid den erwerbsamen Männern. Als er aber die List so jäh und unwendbar vollendet, sandte zu Epimetheus der Vater den Töter des Argos mit dem Geschenk, den schnellen Boten. Und Epimetheus dachte nicht an das Wort des Prometheus, nie eine Gabe anzunehmen von Zeus dem Olympier, vielmehr zurück sie wieder zu senden, daß nur nicht ein Unheil den Menschen geschehe. Nein, er nahm’s und erkannte das Unheil, als er es hatte. Früher nämlich lebten auf Erden die Stämme der Menschen weit von den Übeln entfernt und ohne drückende Plage, lästigen Krankheiten fern, die den Männern Tode bereiten. Jäh befällt ja die sterblichen Menschen das elende Alter. Aber die Frau entfernte den großen Deckel des Kruges, leerte ihn aus und sann den Menschen schmerzliche Leiden.1

Dieser zugegebenermaßen recht kurze Abschnitt beinhaltet den (fast) vollständigen Pandoramythos nach Hesiod. Trotzdem es nur wenige Sätze sind, lassen sich eine Vielzahl von Stereotypen in dieser Erzählung finden: so u. a. die offenkundige Schlechtigkeit der Frau. Der Begriff »Stereotyp« ist ursprünglich aus der Drucktechnik entlehnt und wurde erst seit dem frühen 20. Jahrhundert sozialwissenschaftlich umgedeutet.2 Stereotype werden im Diskurs als verallgemeinerte Aussage mit positivem oder negativen Werturteil verstanden. Hiermit verbunden ist gleichsam eine emotionale Konnotation, die sich sowohl auf einzelne Individuen beziehen kann, als auch auf

1 von Schirnding 2012, 89. 2 Vgl. Petersen 2011, 234.

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Zuschreibungen für spezifische Gruppen.3 Individuen und Gruppen werden so in zuvor gebildete Raster eingeordnet, die wiederum mit kollektiven Zuschreibungen verbunden sind. Als spezifische Kategorien gelten hier u. a. Gender, race und class, aber auch Religionszugehörigkeit. Das beispielsweise Muslim_innen intersektional benachteiligt sind und so durch die mit ihnen verknüpften Stereotype vermehrt Opfer von Diskriminierungen werden, ist in der heutigen Gesellschaft ein offenkundiges Problem: so u. a. bei der offenen Verknüpfung von Fremdheit, Religionszugehörigkeit und Gefahr, die sich in soziologischen Phänomenen wie dem racial profiling wiederfinden, die offen mit derartigen Rassismen umgehen.4 Geschlechterrollen spielen bei Geschlechtsstereotypen eine zentrale Rolle: Durch Erziehung und damit einhergehend die Vermittlung von gesellschaftlichen Normen werden spezifische Vorgaben für Geschlechterrollen geformt, die sich dann ggf. zu Stereotypen transformieren: Ein markantes Beispiel ist hier sicherlich die Trennung in weibliche und männliche Arbeitsbereiche, wobei ersteres zentral auch den Aspekt der Care-Arbeit inkludiert.5 Karen Hausen prägte für die Zuschreibungen von spezifischen Eigenschaften zu Männern und Frauen den Begriff der Geschlechtscharaktere. Hausen konnte nachweisen, dass spezifische Vorstellungen, wie die einer passiven, sittsamen, religiösen Hausfrau und die eines aktiven, erwerbstätigen, rationalen Mannes, in großen Teilen der Gesellschaft bekannt sind und bedingt auch noch den Vorstellungswelten Einzelner entsprechen.6 Gebildete Stereotype sind temporär bedingt und funktionieren nur in ihrem jeweiligen Kontext: Dennoch können sich durch die stetige (Re)Produktion dieser gewisse Zuschreibungen länger halten als andere. Stereotype sind zudem ein zentrales Mittel der Macht und des Aufrechterhaltens von Machtverhältnissen: Sie schaffen Feindbilder und/oder imaginieren Seilschaften. Im Zuge der Geschlechtsstereotype stützen sie elementar die männliche Herrschaft: Sie legitimieren die Hegemonie und marginalisierten Normabweichungen und Weiblichkeiten.7 Die (Re-) Produktion von Stereotypen findet maßgeblich über Kommunikation statt: Dort fungieren sie als Orientierungshilfe, als Stabilisatoren von Machtverhältnissen, und geben Auskunft über vergangene oder bestehende (Geschlechter)Verhältnisse.8 Ausgehend von der These, dass Stereotype vergangene Geschlechterverhältnisse mit abbilden, lohnt sich ein weiterer Blick in den Quellentext. In dem doch recht kurzen Abschnitt lassen sich auf den ersten Blick gleich neun verschiedene Stereotype ausmachen, die Geschlecht oder Geschlechterverhältnisse thematisieren. 3 4 5 6 7

Vgl. Hahn 2008, 240–241. Zu Intersektionalität siehe in diesem Band: Vgl. Bauer, Göthling-Zimpel 2020. Vgl. Borchers 2002, 377–378. Vgl. Hausen 2001. Zu einer kurzen Vorstellung von Raewyn Connells Konzept der Hegemonialen Männlichkeit siehe in diesem Band: Vgl. Bauer 2020. 8 Vgl. Landhäußer 2014, 157.

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So findet sich an prägnanter Stelle die Dichotomie des verführten Mannes (1) und der verführenden Frau (2), die aufeinandertreffen. Pandora kann durch ihre Reize (3) – der Schmuck wird ihr zudem von Athene, einer Frau, gegeben (4) – und ihr verschlagenes Wesen (5) – das wiederum gegeben von einem Mann (6), Hermes – Epimetheus verführen. Epimetheus ist eigentlich gewarnt, keine Gabe von Zeus anzunehmen, doch Pandora lässt ihn diese Warnung vergessen. Allein die Beschreibung Pandoras als Gabe (7) lässt Rückschlüsse auf ein Frauenbild zu, dass Frauen durchaus in die Nähe von Objekt stellt und ihnen somit eine zentrale Passivität zuweist. Demgegenüber stehen die aktiveren Männer (8), die den Körper Pandoras als Teil ihrer schmutzigen und gefährlichen Arbeit erschaffen (können). Ergänzend ist zudem die Deutung des Kruges oder der Büchse Pandoras als weiblicher Körper (9), der durch seine Reproduktionsfähigkeit ebenfalls das Übel über die Welt bringt.9 Allein dieser zugegebenermaßen kurze und oberflächliche Blick in den Quellentext zeigt zentrale Stereotype für Mann und Frau: Während Frauen – hier proto- und idealtypisch am Beispiel der Pandora – als schön, passiv, aber zugleich gefährlich beschrieben werden, werden Männern u. a. aktiv, wissend und mächtig attribuiert. Sicherlich können nicht von einem einzigen Blick in einen Quellenauszug Rückschlüsse auf tatsächliche gegebene gesellschaftliche Verhältnisse zu Zeiten Hesiods getroffen werden. Werden Quellen jedoch bewusst gegen den Strich gelesen und queer-feministisch betrachtet bzw. rekonstruiert, so lassen sich Transformationsprozesse von Machtverhältnissen u. a. an Stereotypen ablesen. Der Zusammenhang von Gender und Religion verdichtet sich in unterschiedlichen Stereotypen. Innerhalb der christlichen Religionsgeschichte ist sicherlich die Figur der Eva, aber auch Maria ein offenkundiges Beispiel für die Verknüpfung von Geschlecht und Religion. Eva fungierte als Erklärungsmuster für weibliche Lebensverhältnisse: der Geburtsschmerz, die Sündhaftigkeit der Frau, ihre Gefährlichkeit, aber auch die Empfänglichkeit für den Teufel. Maria hingegen dient als nie erreichbares Idealbild, das Mutterschaft mit Jungfräulichkeit paradox verknüpft. Es lassen sich unzählige weitere Beispiele dieser Art finden: Ein weiterer flüchtiger Blick in die griechisch-römische Mythologie genügt, um beispielsweise auf die unzähligen Liebschaften von Zeus aufmerksam zu werden. Hierbei wird mitunter ein durchaus gewaltvolles Bild von Sexualität gezeigt, dass als Vergewaltigung tituliert werden kann. Der Jagdmetaphorik folgend spielen Geschichten wie die von Zeus und Europa auf die Vorstellung an, junge Frauen müssten gezähmt werden, um in die Kultur eingeführt werden zu können.10 Im Bezug auf die Konstruktion von Alterität und der damit einhergehenden Erschaffung von Feindbildern ist das Panarion, der Medizinkoffer des 9 Vgl. Reeder 1996, 277. 10 Vgl. Kaffarnik 2013, 80.

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spätantiken Bischofs Epiphanius, eine dankenswerte Quelle. Epiphanius beschreibt insgesamt 80 »häretische« Gruppen oder Personen, die seiner Meinung folgend nicht »das« orthopraxe oder orthodoxe Christentum leben. Hierfür bedient er sich zahlreicher Stereotype, verkürzte er doch die Darstellungen der einzelnen »Häretiker_innen« auf wenige Zuschreibungen und verbindet sie mit einer Tiermetaphorik. Aber nicht nur die Gleichsetzung von Menschen mit gefährlichen Tieren, wie Schlangen und Insekten, ist hier ein Mittel seiner Polemik, sondern auch die Kategorie Geschlecht: So praktizieren die, die falsch glauben, auch normabweichende Sexualpraktiken oder werden als weiblich beschrieben.11 Die Verbindung von Gender, religion und power ist somit nicht nur innerhalb der modernen Gesellschaft ein Phänomen, sondern ein zentraler Bestandteil (religions)historischer Forschung. Doch worin liegt der Nutzen dieser Erkenntnis? Das bloße Dekonstruieren von (Geschlechter)Stereotypen ist notwendig, aber scheint auf den ersten Blick etwas zusammenhangslos. Eine Betrachtung dieser Zuschreibung gewinnt an Bedeutung unter dem Stichwort power. Die eingangs erwähnten Machtverhältnisse, die durch Stereotype stabilisiert oder auch infrage gestellt werden, sind innerhalb von sozial- und geisteswissenschaftlicher Forschung von immanenter Wichtigkeit. Gerade mit einem gezielten Blick auf die Historie kann die Erforschung von Stereotypen Antwortansätze auf die Frage geben, »warum es so ist, wie es ist?«. Mit anderen Worten: Rücken Stereotype in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses, kann der Blick auf Transformationsprozesse gelenkt werden, die Erklärungen für gesellschaftliche Verhältnisse geben. Zudem sind sie in anderen Medien – Kunst, Film, Architektur – nach wie vor greifbar und rekurrieren hierbei maßgeblich auf ihre Historizität. Als plakatives Beispiel wäre hier mitunter der Horrorfilm anzuführen, der mit Magievorstellungen arbeitet, die u. a. an die Konzepte des Alten Orients, der griechisch-römischen Antike oder der christlichen Frühen Neuzeit angelehnt sind. Abgesehen von diesem historischen Nutzen von Stereotypen sind sie immer auch im Kontext von Identitätsbildung zu betrachten: Wie werden sie im Zusammenhang mit der Bildung kollektiver Identität genutzt? Ein Beispiel mit starkem Gegenwartsbezug ist hier u. a. das Konstrukt von der sogenannten Migrantenmännlichkeit. Diese ist gerade im Medium Musik (Rap) ein konstruiertes Ideal, das mit unterschiedlichen Stereotypen arbeitet, u. a. mit einer starken Betonung des Ehrbegriffs.12 Die vorliegenden Beiträge arbeiten alle implizit oder explizit mit (Geschlechts)Stereotypen und stellen hierbei den Zusammenhang zu Religion und Macht heraus: Denise Polaczuk dekonstruiert in ihrem Aufsatz das Bild der 11 Vgl. Burrus 1991, 241; vgl. Sælid Gilhus 2015, 158; vgl. Stefaniw 2013. 12 Vgl. Scheibelhofer 2018.

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»Vagina Dentata« – der bezahnten Vagina. Hierbei zieht sie überzeugende Schlüsse, indem sie umfassend intermedial arbeitet: Polaczuk nutzt kunsthistorische Darstellungen des Mittelalters, die das Höllenschlund-Motiv abbilden, und stellt hierbei eine erkenntnisreiche These auf, die den Eingang der Hölle mit dem weiblichen Geschlechtsorgan in Verbindung setzt. Dies kann die Autorin durch eine umfangreiche Übersetzungsarbeit und treffende Bildanalysen unterfüttern. Durch die These Polaczuks ergeben sich aufschlussreiche Erkenntnisse für das christlich-religionsgeschichtliche Frauenbild des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Autorin verweist auf stereotype Zuschreibungen der Hexe, gerade im Kontrast zur Maria als Mutter Gottes: Hier fokussiert sie sich mitunter auf die spannende Dichotomie von Kastration und jungfräuliche Gebärfähigkeit – zwei Stereotype, die zum einen auf das Weiblichkeitsideal rekurrieren und zum anderen die Gefährlichkeit der Frau in den Fokus rücken. Somit arbeitet die Autorin ausgehend von kunsthistorischen Motiven Stereotype heraus, die wiederum Rückschlüsse auf historisch instrumentalisierte Geschlechterund Machtverhältnisse zulassen. Auch Charlotte Diedrich arbeitet mit Stereotypen, jedoch verstärkt unter Einbeziehung der Kategorie class. Die Figur der Witwe, auch als ein spezifischer Stand oder – in den Worten der Autorin – als ein spezifisches Geschlechtsideal mit einem spezifischen Geschlechtskörper, liegt im Fokus des Aufsatzes. Diedrich schafft es, die Witwe in Verbindung mit (körperlicher) Inszenierung, Memorierung und Normierung überzeugend zu dekonstruieren und ihre gesellschaftliche Bedeutung herauszuarbeiten. Gerade in Bezug auf Sexualität und Eheideal verweist die Autorin auf bestehende historische Geschlechtervorstellungen, die sich auch im 19. Jahrhundert, wenn auch transformiert, wiederfinden lassen. Mit ihrem Fokus auf Körperlichkeit gelingt es Charlotte Diedrich, die Fokussierung auf Stereotype um einen spannenden Aspekt zu ergänzen. Wie wirken sich gesellschaftliche Zuschreibungen auf den Körper aus? Gerade in Verbindung zur Memorierung und Inszenierung spielt dieser Aspekt eine bedeutende Rolle: So kann die Trauerkleidung u. a. als spezifischer Marker für die Witwe gelesen werden. Somit geht die Autorin hier von historischen, stereotypen Geschlechtsvorstellungen aus, die sie dann in der Figur der Witwe des 19. Jahrhunderts wieder anwendet. Hier dekonstruiert sie gekonnt auffallende Parallelen. Auch innerhalb der sogenannten UFO-Religion lassen sich Stereotype gerade in Bezug auf Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen finden, wie Kilian Knop umfassend herausarbeitet. Knop thematisiert die Rael-Bewegung und deren zentrale Glaubensinhalte in seinem Aufsatz: Hierbei analysiert er umfassendes Quellenmaterial und zieht interessante Schlüsse, die u. a. den Aspekt von Gender beleuchten. Die Fragen nach Erziehung, Gleichberechtigung und die Problematik des Klonens thematisiert der Autor umfassend und kontrastiert

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diese u. a. mit anderen Beispielen innerhalb der Religionsgeschichte. Einen weiteren Fokus legt Knop auf Machtverhältnisse: Hierbei stellt er treffend heraus, dass Geschlechterverhältnisse maßgeblich von Machtverhältnissen bedingt werden. Ausgehend von stereotypen Geschlechterrollenbildern gelingt es Knop, die Varianz von Geschlechterrollen innerhalb der Rael-Bewegung aufzuzeigen. Der Beitrag von Kristina Göthling-Zimpel beschäftigt sich mit dem filmischen Subgenre Nunsploitation und hier dezidierter mit dem Film The Devils von Ken Russell aus dem Jahr 1971. Hierbei legt die Autorin einen Fokus auf die Darstellungsweisen von Geschlecht und Religion. Sie untersucht das Zusammenwirken von doing gender und doing religion und stellt so den Aspekt der Performanz zentral in den Fokus. Zentral ist für sie zudem der männliche Blick (male gaze), mit dem mittels Blickregimen Geschlechts- und Machtverhältnisse aufgezeigt werden. Die Autorin widmet sich dann dezidiert den einzelnen auftretenden Stereotypen und Geschlechterrollen, wobei sie diese auf Basis der christlichen Religionsgeschichte gekonnt mit dekonstruiert. Ihrer These folgend ist The Devils ein Filmbeispiel, das mit Exhibitionismus und Voyeurismus arbeitet: Besonders provokant ist es zudem, da der Mikrokosmos »Nonnenkloster« den Handlungsort bildet – ein Ort, der schaulustigen Blicken sonst verwehrt bleibt. Somit ist Stereotypenforschung ein wichtiges Instrument innerhalb geisteswissenschaftlicher Forschung, um sich bestehenden oder vergangen Geschlechtsund Machtverhältnissen zu nähern. Anzumerken ist jedoch, dass Stereotype keineswegs unveränderlich sind: Sie werden durch die (historische) Transformationsprozesse maßgeblich geprägt und entsprechend geformt. Es entstehen folglich Wandlungsprozesse, die auch an scheinbar festgeschriebenen Stereotypen nicht spurlos vorübergehen. Stereotype können wegfallen, neuaufleben, andere Schwerpunkte bekommen oder sich auf andere Individuen oder Gruppen beziehen. Daher muss bei der Erforschung von Stereotypen immer der Stereotypisierungsprozess im Fokus stehen und nicht einzelne Momentaufnahmen. Abschließend ist zudem anzuführen, dass Stereotype keinesfalls nur mit negativen Zuschreibungen arbeiten, sondern auch starke positive Attribuierungen nutzen. Dementsprechend sollte bei der Dekonstruktion von unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen dieser Aspekt stets mitbedacht werden.

Literatur Bauer, Benedikt K./Göthling-Zimpel, Kristina, 2020, Jede_r nur ein Kreuz?! Intersektionalität, Gender und Religion, in: Bauer, Benedikt K./Göthling-Zimpel, Kristina/Höpflinger, Anna-Katharina (Hg.), Tagungsband. Opening Pandora’s Box. Sex, Power and Religion, Göttingen: V&R unipress, 227–233.

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Bauer, Benedikt K., 2020, Männlichkeit, queer… und was dann?, in: Bauer, Benedikt K./ Göthling-Zimpel, Kristina/Höpflinger, Anna-Katharina (Hg.), Tagungsband. Opening Pandora’s Box. Sex, Power and Religion, Göttingen: V&R unipress, 171–178. Borchers, Ilka, 2002, Stereotyp/Geschlechterstereotyp, in: Metzler Lexikon Gender Studies, Geschlechterforschung, Stuttgart: Metzler, 377–378. Burrus, Virginia, 1991, The heretical Woman as symbol in Alexander, Athanasius, Epiphanius and Jerome, Harvard Theological Review 84/3, 229–248. Hahn, Hans H., 2008, Stereotypen – Geschichte – Mythos. Überlegungen zur historischen Stereotypenforschung, in: Hahn, Hans H./Hein-Kircher, Heidi /Suchoples, Jaroslaw (Hg.), Erinnerungsorte, Mythen und Stereotype in Europa, Breslau: Atut, 237–256. Hausen, Karin, 2001, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Hark, Sabine (Hg.), Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 162–185. Kaffarnik, Julia, 2013, Sexuelle Gewalt gegen Frauen im antiken Athen, Hamburg: Verlag Dr. Kovac. Landhäußer, Arne, 2014, Schublade auf! Ein Blick in die Welt der Stereotype, in: Sozialpsychologie Mannheim (Hg.), Ich, du, wir und die anderen. Spannendes aus der Sozialpsychologie, Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 156–170. Petersen, Lars-Eric, 2011, Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung, in: Frey, Dieter/Bierhoff, Hans-Werner (Hg.), Sozialpsychologie – Individuum und soziale Welt, Göttingen/Bern: Hogrefe, 233–252. Reeder, Ellen D. (Hg.), 1996, Pandora. Frauen im klassischen Griechenland, Mainz/Basel: Antikenmuseum Basel Verlag. Sælid Gilhus, Ingvild, 2015, The Construction of Heresy and the Creation of Identity: Epiphanius of Salamis and His Medicine-Chest against Heretics, Numen 62, 152–168. Scheibelhofer, Paul, 2018, Der fremd-gemachte Mann. Zur Konstruktion von Männlichkeiten im Migrationskontext, Wiesbaden: Springer VS. Stefaniw, Blossom, 2013, Straight Reading: Shame and the Normal in Epiphanius’s Polemic against Origent, Journal of Early Christian Studies 21/3, 413–435. von Schirnding, Albert, 2012, Hesiod. Theogonie/ Werke und Tage (Sammlung Tusculum), Berlin: Akademie Verlag, 5. Aufl.

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Vagina Dentata. Eine Interpretation des Höllenschlund-Motivs im mittelalterlichen Europa

In some respects, the hell mouth and women have been seen as related since medieval times. The […] Dominican monk[], […] Kramer who [was][…] commissioned to write a report on witchcraft following Innocent VIII’s Papal Bull, Summa Desiderantes, in 1484, produced the terrible indictment of women, The Malleus Maleficarum in which [he][…] argued that women were carnal and lustful and that their purpose was to take away men’s potency and, in support of this argument, [he][…] said that sexual relations with women were to be avoided because of the ›dentata vaginalis‹, the teeth of the mouth of the womb.1

Der Höllenschlund ist in seiner gängigen Definition ein animalischer Kopf mit geöffnetem Maul, das den Eingang in die christliche2 Hölle markiert. Zunächst tritt dieses Motiv in der Buchmalerei auf, etwa im Zusammenhang mit Erzählungen vom »Jüngsten Gericht« oder dem »Fall der Engel«. Dabei ist es traditionell in der rechten unteren Bildecke zu finden;3 der Kopf ist stets im Profil dargestellt. Als animalische Gestalt dienen ihm in der Regel Löwen, Wölfe und Drachen. Die Herkunft des Motivs kann heute nicht mehr nachvollzogen werden. Es herrscht jedoch ein Konsens darüber, dass der anglo-skandinavische vorchristliche Raum als sein Ursprungsgebiet anzusehen ist.4 Einige der Unterweltsvorstellungen dieses Umfelds scheinen einen geeigneten Boden für die Analogisierung mit christlichen Höllenideen jener Zeit geboten zu haben. Die Unterwelt

1 Höpfl 2005, 175. 2 Die Begriffe »Christentum« bzw. »christlich« werden in diesem Artikel als Oberbegriff für komplexe heterogene Strömungen verwendet, die in ihrem jeweiligen räumlichen und zeitlichen Kontext aus heutiger Sicht als christlich identifiziert werden. Diese Strömungen können hier nicht in ihrer eigentlichen Diversität rekonstruiert werden. Räumlich beziehen sich die Begriffe stets auf den europäischen Raum, zeitlich auf die im jeweiligen Abschnitt angesprochenen Jahrhunderte. Dabei befinden wir uns in einem vorreformatorischen, vornehmlich als römisch-katholisch einzuordnenden Kontext. 3 Vgl. Bawden 2014, 114. Vgl. auch Abb. 1. 4 Vgl. Bawden 2014, 115.

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Abb. 1: Klassischer Höllenschlund aus dem angelsächsischen Raum als Drachengestalt im Profil. »Meister des Cotton-Psalters«, British Library Cotton MS. Tiberius C. VI f. 14r, Tinte auf Pergament, 24,5x15 cm, ca. 11.–12. Jahrhundert, British Library London (GB).

– im Sinne einer jenseitigen Sphäre ewiger Qualen – findet ihre Parallele in Bibelstellen wie Mt 13,41f. und Off 20,9f.:5 Der Sohn des Menschen [›der Menschensohn‹, gemeint Jesus] wird seine Engel schicken, und sie werden von dessen Reich alle Verführungen zusammenlesen, und diese,

5 Über den gesamten Artikel dient als Quelle für biblische Aussagen die Vulgata-Bibel, die bis ins beginnende 16. Jahrhundert hinein als standardmäßig rezipierte Bibelversion anzusehen ist.

Eine Interpretation des Höllenschlund-Motivs im mittelalterlichen Europa

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welche Ungerechtigkeiten verrichten: Und sie werden diese in den Ofen aus Feuer schicken. Dort wird es Weinen geben und das Knirschen der Zähne.6 Und es kam ein Feuer herab von Gott aus dem Himmel und es verschlang diese: Und der Teufel, der diese verführte, wurde in den See aus Feuer und Schwefel geschickt, wo sowohl die Bestie, als auch der Pseudoprophet gequält wurden, Tag und Nacht in alle Ewigkeit.7

In Jes 5,14 wird der Unterwelt zudem ein gieriges Maul zugesprochen: »Deshalb dehnte die Hölle ihren Atem aus, und öffnete ihren Mund ohne irgendein Ende«.8 Im Mittelalter weitet sich die Präsenz des Motivs auf den öffentlichen Raum aus. So wird er unter anderem in Theaterkulissen materiell umgesetzt,9 zum Beispiel in Passionsspielen wie den Mystère de la Passion de Valenciennes im Jahre 1547.10 Zur gleichen Zeit findet ein Wandel der Darstellungsweise des Höllenschlunds in der Buchmalerei statt: Der Kopf entfernt sich immer weiter von seiner identifizierbaren animalischen Gestalt hin zu einer abstrakten Monstrosität. Zudem nimmt er nun meist nicht mehr nur die Bildecke ein, sondern erstreckt sich nahezu über die gesamte Bildfläche. Dies hat weiterhin zur Folge, dass er nicht länger im Profil, sondern nunmehr frontal abgebildet wird. Außerdem nimmt seine farbliche Ausgestaltung mit der Weiterentwicklung der Buchmalerei zu. In Bezug auf den Kontext des 15. Jahrhunderts, besonders im Zusammenhang mit dem Aufkommen christlicher Hexenvorstellungen, findet sich in der Sekundärliteratur zu dem Motiv die These, der Höllenschlund sei zu dieser Zeit als sogenannte Vagina Dentata mit den weiblichen Genitalien gleichgesetzt worden. Die Vagina Dentata ist die von Sigmund Freud geprägte Bezeichnung eines weltweit verbreiteten mythologischen Motivs, in dem die Vagina der Frau Zähne hat, mit denen sie männliche Glieder kastrieren kann.11 6 Übersetzung aus dem Lateinischen mit Anmerkungen D.P.: Mittet Filius hominis angelos suos, et colligent de regno ejus omnia scandala, et eos qui faciunt iniquitatem: et mittent eos in caminum ignis. Ibi erit fletus et stridor dentium. Colunga/Turrado 1946, in: https://www.bible server.com/text/VUL/Matthäus13 (zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2017). Bei den Übersetzungen aus dem Lateinischen und Französischen lege ich in diesem Artikel besonderen Wert auf eine Nähe zum ursprünglichen Wortlaut anstatt auf die Lesefreundlichkeit. 7 Übersetzung aus dem Lateinischen D.P.: Et descendit ignis a Deo de caelo, et devoravit eos: et diabolus, qui seducebat eos, missus est in stagnum ignis, et sulphuris, ubi et bestia et pseudopropheta cruciabuntur die ac nocte in saecula saeculorum. Colunga/Turrado 1946, in: https://www.bibleserver.com/text/VUL/Offenbarung20 (zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2017). 8 Übersetzung aus dem Lateinischen D.P.: Propterea dilatavit infernus animam suam, et aperuit os suum absque ullo termino. Colunga/Turrado 1946, in: https://www.bibleserver. com/text/VUL/Jesaja5 (zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2017). 9 Vgl. Rossmeisl 2012, 1–32. 10 Siehe hierzu die Pläne des französischen Malers Hubert Cailleau: o. A. 1501–1600, in: http://galli ca.bnf.fr/ark:/12148/btv1b55005970q/f12.image (zuletzt aufgerufen am 31. 03.2018). 11 Vgl. Walker 1983, 1034.

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Aus dem zeitlichen Kontext des ausgehenden 15. Jahrhunderts stammt auch das folgende Bildbeispiel eines Höllenschlunds, das ich im Anschluss anhand einer am zugehörigen Text orientierten Bildbeschreibung analysiere.

Der rote Schlund Les Visions du chevalier Tondal sind ein im Jahre 1475 entstandenes Manuskript, das zur Gattung der Visionsliteratur zählt. Es berichtet von dem wohlhabenden, aber sündig lebenden irischen Ritter Tondal, dessen Geist, geleitet von einem Engel, eine Reise durch Paradies und Hölle unternimmt. Dies bewirkt in Tondal eine spirituelle Transformation hin zu einem frommen, christlichen Lebensstil.12 Der Text beruht auf einer lateinischen Überlieferung des irischen Mönchen Markus, den Visio Tnugdali aus dem 12. Jahrhundert. Übersetzt und adaptiert in die französische Sprache wurde der Visionsbericht von David Aubert im belgischen Gent. Die Illumination wird Simon Marmion zugeschrieben, der das Werk in Valenciennes, Frankreich, vollendete.13 Die hier zu untersuchende Temperamalerei – später betitelt als »The Beast Acheron«14 – befindet sich auf der 17. Folioseite (f. 17r) des Manuskripts. Von dieser bedeckt sie mit ca. 189 cm² etwa das obere Drittel. Ihren naturalistischen Stil mit lebendiger Farbgebung prägt der starke Kontrast von intensivem Rot und einem Gemisch aus dunklen blauen und schwarzen Tönen. Die Malerei ist in goldener Farbe gerahmt. Die vorliegende Seite ist Teil einer größeren Erzähleinheit innerhalb des Berichts: Nach einem langen Weg durch die Dunkelheit trifft der Geist des Ritters auf eine grauenhafte Bestie, deren Augen zwei feurigen Kohlen gleichen. Im unmittelbaren Kontext unseres Bildes fährt die Erzählung fort: Sicherlich, ihr Maul [der Bestie] war so groß und die Öffnung so breit, dass dort vorne gut auf einmal zehntausend bewaffnete Ritter zu Pferd eintreten [könnten]. Diese grauenhafte Bestie hatte in ihrem Maul zwei große Teufel, so scheußlich und grausam anzusehen, von denen hatte der eine seinen Kopf an die oberen Zähne fixiert, und an die unteren Zähne waren seine Füße fixiert. Und der andere, der sich mehr in der Tiefe zeigte, war entgegengesetzt [ausgerichtet], denn er hatte seinen Kopf an den unteren Zähnen befestigt, und seine Füße steckten unter den oberen Zähnen. Und diese zwei Teufel waren im Maul der Bestie gleich wie zwei Säulen, und machten in diesem Maul drei Tore. Ein Feuer solcher Größe, das niemals ausgehen konnte, stieß aus diesem Maul 12 Vgl. J. Paul Getty Trust 2017, Les Visions du chevalier Tondal, in: The J. Paul Getty Museum: http://www.getty.edu/art/collection/objects/1502/simon-marmion-and-david-aubert-les-vi sions-du-chevalier-tondal-franco-flemish-1475/ (zuletzt aufgerufen am 10. 12. 2017). 13 Vgl. Getty Trust 2017. 14 Getty Trust 2017.

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Abb. 2: Das zu untersuchende Bildbeispiel eines frontal abgebildeten Höllenschlunds aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert. Simon Marmion, The Beast Acheron, in: Les Visions du chevalier Tondal f. 17r, Tempera-Farben, Blattgold, Goldfarbe und Tinte auf Pergament, 36,3x26,2 cm, 1475, J. Paul Getty Museum Los Angeles (US).

heraus, sodass es sich in drei Teile teilte. Und die verurteilten Seelen traten alle unter der Flamme in dieses Maul. Der Gestank, so groß, dass es nichts gab, was diesem glich, verging nicht.15 15 Freie Übersetzung aus dem Französischen D.P.: [… 16 vb] […] Certes, / sa g[u]eule estoit si grande / d’ouverture et tant large [fo. 17 ra] / que bien y entrassent de / front a une fois dix mille / chevalliers armez tous / a cheval. Celle horrible / beste avoit en sa gueule deux / grans dyables tres / hideulz et cruelz a veoir / dont l’un avoit fichiee sa / teste ens es dens de hault, / et es dens de bas estoient / ses piés fichiés. Et l’autre / quy s’amoustroit plus en / parfont estoit au contraire, / car il avoit sa teste atta-/chie es dens de bas, et se / piés se fichoient parmi / les dens desseure. Et la [fo. 17rb] / estoient ces deux dyables / en la gueule de celle beste / ensement

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Das im Textabschnitt beschriebene Maul dominiert die Fläche der vorliegenden Malerei in seiner ovalförmig geöffneten, fleischfarbenen Gestalt mit spitzen, dünnen Zähnen an seinen Rändern. In seinem Inneren lassen sich rote anthropomorphe Gestalten ausfindig machen. Sie sind in ihren Körpern kaum voneinander abzugrenzen und auch Geschlechterzuordnungen werden durch die ineinanderfließenden Formen verhindert. Sie heben sich kaum von dem fleischfarbenen Hintergrund ab. Deutlicher ist in der Mitte des Maules seine erhobene Zunge zu sehen. Offen gehalten wird es von zwei weiteren anthropomorphen Figuren, diese allerdings in dunkler Farbe, wobei die linke die Füße in Richtung Maulunterseite, Arme und Kopf in Richtung Mauloberseite streckt; die rechte hingegen ist in entgegengesetzter Richtung positioniert. Nur schemenhaft lassen sich Gesichter ausmachen. Beide sind unbekleidet, doch auch hier lassen sich keine geschlechtsspezifischen Merkmale erkennen. Sie entsprechen den zwei vom Text benannten Teufeln, die das Maul in drei Tore unterteilen. Den äußeren Rand des Maules kennzeichnen verschiedenfarbige Striche, die ihm nach unten hin ein fellartiges, nach oben hin ein flammenartiges Aussehen verleihen. Oberhalb des Maules lässt sich ein großes Augenpaar identifizieren, das in Kombination mit dem Maul ein Gesicht in Frontalperspektive ergibt; ein zugehöriger Körper findet sich nicht. Rund um dieses Gesicht sammeln sich vier animalische und drei dunkle, nackte und wiederum geschlechtslose anthropomorphe Kreaturen. Sie werden erst im weiteren Textverlauf erwähnt: Erstere sind Teufel, obwohl sie nicht den beiden Teufeln im Maulinneren gleichen, die Zweiteren sind verdammte menschliche Seelen. Drei der Teufel werden gekennzeichnet durch Hörner auf dem Kopf, lange, zu den Seiten abstehende Ohren und besonders breite, rote Mäuler mit Zähnen ähnlich denen des großen Maules. Sie haben einen fellbedeckten, unförmigen Körper. Ihre Füße wie auch ihre Hände gleichen Klauen, in denen sie Stäbe mit gebogenen Enden halten. Zudem haben sie einen langen, spitz endenden Schwanz. Der vierte Teufel – zu sehen in der unteren Bildmitte – hat ebenfalls Hörner, unterscheidet sich aber durch ein verlängertes Maul, bei dem keine Zähne zu erkennen sind. Auch er trägt in seinen Greifarmen einen Stab. Der Rest seines Körpers gleicht dem einer kräftigen Schlange, wobei stämmige Füße erhalten bleiben. Die Stäbe richten sich jeweils gegen die anthropomorphen Figuren, die verdammten Seelen. Von diesen scheinen zwei quasi vom oberen Bildrand in Richtung des Maules herabzufallen; die dritte wird mit Hilfe des Stabs durch einen Teufel vom Boden in Richtung des großen Maules comme deux cou-/lombes, et faissoient en / icelle gueule tres portes. / Ung merveilleuz feu en / grandeur quy jamais ne / povoit estaindre, yssoit de / icelle gueule quy se depar-/toit en trois parties. Et / les ames dempnees entroi-/ent en celle gueule tout / parmi la flambe. La pu-/anteur si grande en partoit / que il n’en estoit nulle pa-/reille. Transkription zitiert in: de Pontfarcy 2010, 42.

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bewegt. Sie ist bezeichnenderweise die einzige der Dargestellten, die ihren Blick direkt aus dem Bild heraus an die Betrachtenden richtet. Die Seelen begehen demnach, während sie herabfallen und dann in das Maul gestoßen werden, einen Weg in die Hölle hinein. Somit ist die Komposition eindeutig als Höllenschlund zu identifizieren. An der linken unteren Bildecke nehmen zwei hellere, detailliert ausgestaltete anthropomorphe Figuren eine exponierte Position ein. Die linke der beiden ist nackt, Geschlechtsteile sind jedoch nicht dargestellt. Sie trägt kurzes, hellbraunes Haar und wendet Körper, Blick und ihre erhobenen, aneinander gelegten Hände zu der Figur neben ihr. Letztere ist als Einzige bekleidet – in einem langen, weißen Gewand. Besonders auffällig sind die federartigen Flügel, die diese Figur auf dem Rücken trägt. Sie hat schulterlanges, blondes, lockiges Haar, geschmückt mit einem Band. Der Blick der geflügelten Gestalt richtet sich an die Nackte neben ihr, der Körper aber an die Betrachtenden. Sie verweist mit ihrer rechten Hand auf das große Maul zu ihrer Linken. Diese zwei hervorgehobenen Figuren repräsentieren die beiden Protagonisten des Visionsberichts: den Geist des Ritters Tondal und den Engel, der ihn begleitet. Das Bild hält folglich den Moment fest, in dem die beiden Reisenden zum Eingang der Hölle in Form eines monströsen Schlundes kommen. Eine »Leserichtung« wird daher nicht gegeben; der Blick der Betrachtenden wird allein durch die Farbgebung gelenkt, nämlich primär auf das dominante rote Maul, sekundär auf die zwei Protagonisten am linken unteren Bildrand. Mit diesem Bild im Hinterkopf wenden wir uns nun der Diskussion der Parallelisierung von Höllenschlund und den Geschlechtsorganen der Frau zu.

Zwei Rollen der Frau im mittelalterlichen Christentum Die nun folgende Diskussion widmet sich aus zwei verschiedenen Blickwinkeln der Frage, inwiefern normative Vorstellungen mit literarischen und visuellen Repräsentationen bei der Konstruktion von »Frau« und »weiblicher Sexualität« interagieren. Diese Fragestellung impliziert eine sozial-konstruktivistische Perspektive:16 Die »Frau« wird in ihrer Körperlichkeit und gesellschaftlichen Rolle durch soziokulturelle Repräsentationen und Praktiken, zeit- und kulturspezifisch konstruiert.17 Diese Konstruktionen sind dynamisch und beeinflussen sich diskursiv innerhalb kollektiv geteilter Vorstellungswelten. Das Motiv der Vagina Dentata soll in diesem Zusammenhang als pars pro toto für die »Frau« gelesen werden. Damit begrenzen wir unseren Fokus bei der Betrachtung auf eine ein16 In Anlehnung an: Berger/Luckmann 1969. 17 In Anlehnung an: Braun/Wilkinson 2001, 18.

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zelne mögliche Repräsentationsform von »Frau« innerhalb dieser komplexen Konstruktionsprozesse.

Die Mutter als Ideal der Frau Und wenn Welt, Leben, Natur und Seele als gebärendes und nährendes […] Weibliches erfahren wurden, dann wird auch der Gegensatz dazu am Bild des Weiblichen erlebt […]. So wird der Schoß der Erde zum tödlich zerreißenden Maul der Unterwelt, und neben dem zu befruchtenden Schoß und der schützenden Höhle und des Berges klafft der Abgrund und die Hölle, das dunkle Loch der Tiefe, der fressende Schoß des Grabes und des Todes, der lichtlosen Dunkelheit und des Nichts.18

Eine erste Perspektive für die Interpretation des Höllenschlund-Motivs liefert der Themenkomplex der Mutterschaft – verbunden mit Geburt und Wiedergeburt. Dabei stütze ich mich unter anderem auf eine der wichtigsten Textquellen für mittelalterliche Vorstellungen des Unterwelteingangs: die Visionsliteratur.19 Zu dieser Gattung zählt etwa folgender Bericht des Alberich von Settefratis aus dem 12. Jahrhundert: Nach diesem allen wurde ich zu den Höllengefilden und zur Mündung des Höllenschlundes hinabgeführt […]. Vor dem Maul des Wurmes selbst stand eine unzählbare Menge von Seelen, die er alle wie Fliegen zugleich aufsaugte, sodass er, wenn er den Atem einzog, alle zugleich verschlang, wenn er den Atem ausstieß, alle wie zu Asche verbrannt ausspie.20

Hier wird der Höllenschlund als Maul einer wurmgestaltigen Kreatur bezeichnet, die Seelen verschlingt und wieder ausstößt. Die Kunsthistorikerin Tina Bawden betont in diesem Zusammenhang, dass in den Visionsberichten dem Höllenschlund ein Körper, nämlich der eines Monsters gegeben wird, was in den gängigen visuellen Darstellungen des Motivs, in denen nur das Maul zu sehen ist, fehlt – wie zuvor bei unserem Bildbeispiel. Das hat zur Folge, dass nur in den textlichen Ausführungen die mit dem Höllenschlund verbundenen körperlichen Prozesse aus Verschlingen und Wiederfreigeben im Ganzen nachvollzogen werden können.21 Deutlicher wird dies noch an späterer Stelle der bereits besprochenen Vision des Ritters Tondal, deren älteste erhaltene lateinische Überlieferung (Visio Tnugdali) aus der gleichen Zeit wie die Vision des Alberich stammt:

18 19 20 21

Neumann 1956, 148f. Vgl. Bawden 2014, 115. Bawden 2014, 115. Vgl. Bawden 2014, 115.

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Diese Bestie saß über einem dichten See aus Eis. Die Bestie verschlang wiederum welche Seelen auch immer sie ausfindig machen konnte, und als sie in ihrem Bauch [/Mutterleib] durch die Qualen zu Nichts aufgelöst wurden […], gebar sie diese erneut in den geronnenen See aus Eis, und dort wurden sie wiederum an Qualen erneuert.22

Das Tier, das hier die Hölle und ihre Qualen symbolisiert, ist (grammatisch) weiblichen Geschlechts, ebenso die Seelen, die es verschlingt. Das Wort venter kann sowohl Bauch, Magen, Leib, als auch Mutterleib bedeuten. Aufgrund des weiblichen Genus der bestia sowie der Verwendung des Verbs »gebären« (lat. parire), kann davon ausgegangen werden, dass hier die Hölle als Uterus imaginiert wird. Dass dies kein Einzelfall ist, belegt auch folgende Parallele: In den Visionen der Heiligen Franziska von Rom, rund vier Jahrhunderte später, wird die Hölle ebenfalls als grässlicher, faulender Uterus beschrieben.23 Wenn wir aus diesem Text eine Struktur herausarbeiten, lässt sich wiederholt die prozessuale Abfolge von Verschlingen – Bauch/Uterus – Speien/Gebären identifizieren. Barbara Walker, Verfasserin der Woman’s Encyclopedia of Myths and Secrets (1983), stellt in Bezug auf Berichte von Höllenvisionen fest, dass diese oftmals den Eindruck vermitteln, eine rückwärtige Geburt zu schildern. Dabei würden die Visionär_innen von dem Uterus bzw. der Hölle verschlungen und dort getötet, anstatt Leben zu erlangen;24 die Hölle werde quasi zum Anti-Uterus, der Leben nimmt, statt gibt. Dieser Behauptung widerspreche ich allerdings insofern, als in den meisten Berichten die Reisenden am Ende ihrer Vision der Unterwelt auch wieder entkommen und – wie auch unser Ritter Tondal – zu einem neuen, nämlich nunmehr christlich frommen Leben gelangen bzw. wiedergeboren werden.

22 Übersetzung aus dem Lateinischen D.P.: Que bestia sedebat super stagnum glacie condensum. Devorabat autem bestia quascunque invenire poterat animas, et dum in ventre ejus per supplicia redigerentur ad nichilum […], pariebat eas in stagnum glacie coagulatum, ibique renovabantur iterum ad tormentum. de Pontfarcy 2010, 74. Die französische Übersetzung aus dem 15. Jahrhundert in dem illustrierten Manuskript Les Visions du chevalier Tondal (Getty MS 30) hebt erneut das weibliche Geschlecht der Kreatur hervor, allerdings fehlt hier im letzten Abschnitt das Verb »gebären«: Et se tenoit sur [fo. 25ra] / ung grant estanc tout / engellé et la, elle devo-/roint toutes les ames qu’/elle pouoit acconsievir. / Et quant elle avoit au-/cunes ames devorees et / mengies, et qu’en son / ventre elles estoient a / neant devenues, elle / les rejettoit par derrie-/re sur la glace, et estoi-/ent illec leurs tourmens / renouvellez. Transkription zitiert in: de Pontfarcy 2010, 74. Eine aktuellere Übersetzung ins Englische ersetzt den Vorgang des Gebärens durch ein Ausspeien. Außerdem wurde in dieser Übersetzung das Geschlecht des Tieres geändert (eventuell aus Gründen des konnotierten Genus in den jeweiligen Sprachen): The beast sat in a frozen swamp of ice. It devoured whatever souls he was able to find. While they were in his stomach they were reduced to nothing through this punishment. He vomited them into the frozen swamp of ice, and there they renewed their journey to torment. Zimmerman 2013, 46. 23 Vgl. Miles 1997, 86. 24 Vgl. Walker 1983, 1036.

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Eine in ihrer Motivstruktur mit den soeben geschilderten Visionen vergleichbare Erzählung findet sich im Neuen Testament.25 Dort wird beispielsweise der Prophet Jona auf Befehl Gottes von einem Wal verschlungen (Jona 2).26 Dessen Bauch wird in der wörtlichen Rede Jonas identifiziert mit dem venter inferi, dem Bauch bzw. Mutterleib der Unterwelt. Dort befindet sich Jona in einem Zustand, der als Tod zu verstehen ist. Doch nach drei Tagen betet er zu Gott, der ihn daraufhin rettet, und Jona wird vom Wal ausgespien (lat. evomere). Jona beginnt infolgedessen ein neues Leben als Prophet Gottes. Diese Bibelstelle gilt als Referenz für eine weitere, nämlich Mt 12,40, wo Jonas Schicksal mit dem des Jesus gleichgesetzt wird: Gleichwie nämlich Jona drei Tage und drei Nächte lang im Bauch [/Mutterleib] des Meeresungeheuers war, so wird der Sohn des Menschen [›der Menschensohn‹, gemeint Jesus] drei Tage und drei Nächte lang im Herzen [/Magenmund, Magen] der Erde sein.27

Der Abschnitt spielt der gängigen christlichen Exegese nach auf die drei Tage zwischen Jesu Tod und seiner Auferstehung an. Bezüglich dieser Zeitspanne kam die Frage auf, wo »Jesu Seele« sich indes aufhielt. Darauf geben andere biblische Texte allerdings keine Antwort. Aus Hinweisen wie etwa 1 Petr 3,1928 ergab sich die Vorstellung einer sogenannten »Höllenfahrt Jesu«, die in apokryphen Schriften, wie dem Evangelium Nicodemi, literarisch ausgeführt wurde: Zur Hölle ist erschienen der König der Ehre, in Gestalt eines Menschen, der Gott der Herrlichkeit, und erleuchtete die ewige Dunkelheit, er zerbrach die unlösbaren Bände mithilfe seiner unübertreffbaren Macht, und besuchte uns, die wir in der Dunkelheit sitzen wegen der Vergehen und im Schatten des Todes wegen der Sünden. Als dies die Hölle, der Tod und deren gottlose Ämter mit grausamen Diener_innen hörten, erschraken sie, dass in ihrem pompösen Hofstaat solch eine Helligkeit des Lichts wahrgenommen wurde. Und als sie Christus plötzlich in ihrem Sitz sahen, riefen die Besagten: Wir sind von dir besiegt. […] Dann erfasste der König der Ehre, der Herr in seiner Herrlichkeit, während er den Tod niedertrat, den Fürsten Satan und übergab ihn der Gewalt der Hölle. […] Der König der Ehre sagte zur Hölle: Der Fürst Satan wird

25 Vgl. Walker 1983, 1036. 26 Vgl. Colunga/Turrado 1946, in: https://www.bibleserver.com/text/VUL/Jona2 (zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2017). 27 Übersetzung aus dem Lateinischen D.P.: Sicut enim fuit Jonas in ventre ceti tribus diebus, et tribus noctibus, sic erit Filius hominis in corde terrae tribus diebus et tribus noctibus. Colunga/ Turrado 1946, in: https://www.bibleserver.com/text/VUL/Matthäus12 (zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2017). Welche Übersetzung von cor (lt. Herz; Magenmund, Magen) hier wahrscheinlicher ist, bleibt unklar. Der lateinische Begriff ist in seiner Bedeutung äquivalent zum ursprünglicheren griechischen Neuen Testament: Dort steht an dieser Stelle καρδία (altgr. Herz; Magenmund, Magen). Auch unter den zeitgenössischen Bibelübersetzungen ins Deutsche herrscht hierzu kein Konsens. 28 Vgl. Colunga/Turrado 1946, in: https://www.bibleserver.com/text/VUL/1.Petrus3 (zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2017).

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unter deiner Gewalt im Ort fortdauernder Verdammung sein und seiner an Stelle meiner gerechten Söhne. Und indem der Herr seine Hand ausstreckte, sagte er: Kommt zu mir, alle meine Heiligen, die ihr mein Ebenbild und meine Gleichartigkeit habt, die ihr durch den verbotenen Baum, den Teufel und den Tod verdammt wart. So besieget die durch das Holz des Kreuzes Verdammten, den Teufel und den Tod. Sogleich waren alle unter der Hand des Herrn vereint. Als der Herr allerdings die rechte Hand Adams hielt, sagte er zu diesem: Friede mit dir und mit allen meinen Gerechten, deinen Gläubigen.29

Die Höllenfahrt Jesu folgt laut dieser Erzählung unmittelbar auf dessen Tod am Kreuz. Er steigt hinab in die Hölle, besiegt »den Fürsten Satan« und erlöst alle Männer aus dem Gefängnis der Hölle, die vor den Lebzeiten Jesu Gott dienten, sich aber nicht christlich taufen lassen konnten. Jesus erweckt sie zu neuem Leben an seiner Seite, und erreicht so – auf diesem Weg durch die Unterwelt – auch seine eigene Wiedergeburt. Erneut finden wir also eine zentrale funktionale Komponente des Vagina Dentata-Motivs: An example for an archetype in mythic literature would be the pattern of birth and rebirth […]. Often this is symbolized in literature by a descent into a cave or tunnel of the earth. In his discussion of the regressus ad uteram, or the birth and rebirth archetype, [Mircea] Eliade remarks that there is always ›the initiatory passage through a vagina dentata, or the dangerous descent into a cave assimilated to the mouth or the uterus of Mother Earth. All these adventures are in fact initiatory ordeals, after accomplishing which the victorious hero acquires a new mode of being.‹ […] On a spiritual plane, this archetype was fulfilled in Christ’s descent into hell; the point from which rebirth begins, the Event to which all such myth points.30

Nun stellt sich hierzu allerdings die Frage, warum die Hölle als Uterus für die Wiedergeburt Jesu fungieren muss und nicht dessen »leibliche« Mutter – Maria. Dies wirft uns zurück in eine komplexe Debatte um Marias Körperlichkeit als Frau, die im Europa des 12.–14. Jahrhunderts stattfand. Ausgangspunkt dieser

29 Übersetzung aus dem Lateinischen D.P: […] ad infernum supervenit rex gloriae in forma hominis deus maiestatis, et aeternas tenebras illustravit, insolubilia vincula dirupit, invicte virtutis auxilio, et visitavit nos sedentes in tenebris delictorum et in umbra mortis peccatorum. Haec audiens infernus et mors et impia officia eorum cum crudelibus ministris expaverunt in pompis regis agnitam tantam luminis claritatem [esse]. Dumque christum repente in suis sedibus viderunt dicentes exclamaverunt: Victi sumus a te. […] Tunc rex gloriae dominus in maiestate sua conculcans mortem comprehendit sathan principem et tradidit eum inferi potestati […] rex gloriae dixit ad infirmum: Erit sathan priceps sub tua potestatis in perpetua secluda in loco ade et filiorum eius iustorum meorum. Et extendens dominus manum suam dixit: Venite ad me omnes sancti mei qui habetis imaginem et similitudinem meam qui per lignum vetitum et dyabolum et mortem damnati fueratis. Modo vincite per lignum crucis damnatum dyabolum et mortem. Statim omnes sub manu domini adunati sunt. Tenens autem dominus manum dexteram Ade, dixit ad eum: Pax tibi et cum omnibus iustis meis fidelibus tuis. Transkription aus dem Manuskript D.P.: o. A. 1499, 25–27. 30 Timmerman 1980, 183.

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Diskussion war die Doktrin31 ihrer ewigen Jungfräulichkeit. Darin repräsentierte Maria das neue Ideal von entsexualisiertem Körper und Geist.32 Ihre Idealisierung folgte einer bereits im 12. Jahrhundert weit verbreiteten theologischen Abwertung von sexueller Praktik.33 In diesem Diskurs erlangte Maria ihren machtvollen Status – zeitweise nahm sie eine fast gleichwertige Stellung wie ihr Sohn an – durch die Absenz von Sexualität.34 Dies prägte sie als ideales Weibliches insofern, als charakteristischerweise die Relation von Macht und sexueller Potenz als spezifisch männlich kategorisiert wurde. Mit Maria lässt sich die Gleichung als weiblich abwandeln in »Macht = körperliche und geistige Keuschheit«. Durch dieses Bild von Maria konnte demnach zugleich das Ideal von Reproduktivität in Form von Mutterschaft und das Ideal der Keuschheit popularisiert werden – ein sonst unvereinbares Paradoxon. Das darauf basierende Rollenbild der Frau wurde nun die in Keuschheit lebende Mutter. Jene Doktrin erweckte jedoch weitere Fragen über die weibliche Körperlichkeit Marias: But although theologians agreed that no part of Mary’s body could be impure, they nonetheless debated the specifics of her exceptionality, posing such questions as: did Mary menstruate? In so, what constituted her menses? If not, what constituted her milk? If Christ could not have issued from Mary’s vagina (as was generally assumed), how was he born? Was Mary’s delivery painful? Did Christ eat of Mary’s matter while in the womb, and if so, did Christ carry Mary’s blood, and is it replicated in the Eucharist?35

Es bestand eine Ablehnung gegenüber der Vorstellung, Maria hätte Jesus in ihrem Uterus getragen, in einem »verunreinigten« Organ, voll von einer stark dämonisierten Substanz des weiblichen Körpers – dem Menstruationsblut.36 Auch die Entbindung selbst ist mit uterinem Blut verbunden; mit solch »unreinen« Flüssigkeiten konnte der Sohn des christlichen Gottes nicht in Kontakt gekommen sein. Wenn also Jesus nicht nach natürlichen Prozessen aus Marias Vagina geboren wurde, spielt seine Mutter wohl aus diesem Grund keine Rolle für dessen Wiedergeburt. Doch gerade deshalb können wir bisher auf textlicher Ebene eine Gleichsetzung von Hölle und Uterus festhalten: Die Hölle wird für die Wiedergeburt zur funktionalen Substitution eines realen Uterus, da Jesus mit Letzterem nicht in Berührung treten konnte.

31 Im zu untersuchenden Kontext war die Jungfräulichkeit Marias lediglich eine Doktrin und wird daher in dieser Arbeit auch nur als Solche bezeichnet. Zum Dogma wurde diese Lehre erst im Jahre 1854. Vgl. Rubin 2009, 484. 32 Vgl. Zimmerman 2013, 42. 33 Vgl. Zimmerman 2013, 42. 34 Vgl. Zimmerman 2013, 41f. 35 Zimmerman 2013, 43. 36 Vgl. Zimmerman 2013, 43.

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Die diskursive Popularisierung dieser Konstruktion von der jungfräulichen Mutter Maria geht einher mit einer gesellschaftlichen Abwertung der natürlichen weiblichen Körperlichkeit und sexuellen Aktivität. Das hat einerseits zur Folge, dass der weibliche Körper in seiner »Unreinheit« zur Projektionsfläche primär männlicher37 Ängste wird. Andererseits ergibt sich daraus eine gesellschaftliche Abwertung von Frauen, die diesem Ideal nicht gerecht werden (wollen). Im nächsten Unterpunkt widmen wir uns daher dem furchterregenden Anti-Ideal der Frau des 15. Jahrhunderts – der Hexe.

Die Hexe als Anti-Ideal der Frau Der Grund [dafür] ist von der Natur verliehen, weil sie [die Frau] fleischlicher entstand als der Mann, wie in ihren vielen fleischlichen Unflätigkeiten klar wird. Auch wird dieser Fehler in der ersten Schöpfung der Frau angemerkt, als sie durch eine krumme Rippe erschaffen wurde, d. h. durch eine Rippe der Brust, die gewunden ist und quasi gegensätzlich zum Mann. Aus diesem Fehler geht auch hervor warum, dadurch dass sie ein unvollendetes Tier sei, das immer hintergeht, darum hintergeht sie immer. […] Auch ist es bei der ersten Frau klar, warum sie [die Frauen] von Natur aus einen geringeren Glauben haben […]. Es zeigte sich, dass sie zweifelte und keinen Glauben an die Worte Gottes hatte, was sich auch alles in der Etymologie des Namens zeigt: Fürwahr heißt ›Frau‹ [lat. femina] ›Glaube‹ [lat. fe] und ›zu wenig‹ [lat. minus], weil sie immer geringeren Glauben hat und aufrechterhält, und hinsichtlich ihrer Treue [geht] dieses von ihrer Natur aus. Obgleich der Glaube in der schönsten Jungfrau, aus Gnade und zugleich aus der Natur, niemals ermattet war, gleichwohl als er in der Zeit der Passion Christi in allen Männern schwand.38

Werfen wir als Zweites einen Blick auf das Anti-Ideal der Frau im Europa des ausgehenden 15. Jahrhunderts: die übersexualisierte Frau, deren Konstruktion 37 Dass die diskursive Abwertung des weiblichen Körpers aber nicht ausschließlich männliche Ängste fördert, sondern auch das Selbstbild der Frau auf ähnliche Weise negativ beeinflusst, zeigen etwa: Braun/Wilkinson 2001, 26f. 38 Übersetzung aus dem Lateinischen mit Anmerkungen D.P.: Ratio naturalis est. quia plus carnalis viro existit ut patet in multis carnalibus spurcitiis. qui etiam defectus nota[]tur in formatione prime mulieris cum de costa curva formata fuit id est de costa pectoris quae est torta et quasi contraria viro. Ex quo defectu etiam procedit quod cum sit animal imperfectum semper decipit propter quod semper decipit. […] Patet et in prima muliere quod ex natura minorem habent fidem […] ostendit se dubitare et non fidem habere ad verba dei quae omnia etiam ethimologia nominis demonstrat. Dicitur enim femina fe. et minus. quia semper minorem habet et servat fidem et hoc ex natura quoad fidelitatem. licet ex gratia simul et natura fides in beatissima virgine numquam defecerat cum tamen in omnibus viris defecisset tempore passionis christi. Transkription aus Pars 1 Quaestio VI/1 D.P.: Institoris/Sprenger 1486, 45. Zu der Herleitung des lateinischen Wortes femina muss angemerkt werden, dass es seine eigentliche Wurzel im Sanskrit hat und dort mit dem »Säugen« zusammenhängt. Vgl. Höpfl 2005, 176.

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ihren Höhepunkt in der Vorstellung der weiblichen »Hexe« findet. Hierfür werde ich als einfluss- und folgenreichstes Referenzwerk dieser Zeit den »Hexenhammer« – das Malleus Maleficarum – vorstellen. Die Schrift wurde 1486/87 veröffentlicht. Als Hauptautor gilt Heinrich Kramer, auch wenn häufig noch Jakob Sprenger als Verfasser angegeben wird.39 Beide dominikanischen Mönche waren zu dieser Zeit Inquisitoren. Sprengers Beteiligung ist jedoch heute widerlegt.40 Obwohl ein kurzer Abschnitt des Werks auch von Hexerei durch Männer spricht, so ist doch zu betonen, dass es sich allem voran mit Frauen befasst, da die lateinische Endung -arum bei maleficarum zweifellos den weiblichen Genus der Übeltäterinnen signalisiert. Im Gegensatz zu den Werken der älteren Malleus-Literatur, die sich gegen Häretiker (Malleus Haereticorum) und Juden (Malleus Judaeorum) oder als Geißel gegen (eben männliche) Zauberer (Flagellum Maleficorum) richteten, wendet sich der Malleus Maleficarum gegen ausdrücklich weibliche Frevlerinnen. […] Im Fließtext des Malleus Maleficarum tauchen zwar auch noch gelegentlich Hexer und teuflische Bogenschützen auf, wenn über bereits aktenkundige und abgestrafte Fälle von Schadenzauber berichtet wird. Doch handelt es sich hierbei ganz offensichtlich um ein älteres Prozeßmuster, in dem relativ gleichberechtigt männliche Angeklagte vertreten waren und das gerade durch die Verbreitung der im Hexenhammer niedergelegten Ideen tendenziell zurückgedrängt wurde. Langfristig setzte sich die von Kramer ventilierte Vorstellung der im Regelfall weiblichen Hexe weitgehend durch: Zwischen 70 und 80 Prozent der Opfer der mitteleuropäischen Hexenverfolgungen in der Frühen Neuzeit waren Frauen.41

Das Werk beinhaltet außerdem die zuvor zitierte Passage darüber, warum Frauen mehr zur Hexerei neigen würden als Männer. Das Buch rezipiert und liefert in seiner Gänze zahlreiche theologische Argumente für die Schlechtigkeit des Weiblichen. Auch ist es eine Sammlung konkreter Vorstellungen und Erzählungen aus seiner Entstehungszeit: Kramer arbeitet in seine Diskussion diverse zeitgenössische Berichte mit ein und bewertet jeweils ihre Glaubhaftigkeit. Zudem gibt es Strategien für den Umgang mit Hexerei vor, zum einen für verhexte Individuen, zum anderen für die Inquisition, wie juristisch mit Fällen der Hexerei zu verfahren sei. Der Veröffentlichung des »Hexenhammers« gehen Hexenvorstellungen und theologisch-misogyne Ansichten voraus, vgl. etwa besonders prominente Werke wie die Lamentationes Matheoli aus dem 13. Jahrhundert und den zweiten Teil des Rosenromans aus dem 14. Jahrhundert; auch Hexenverfolgungen gab es 39 Etwa von der Bayerischen Staatsbibliothek, die unter den Autoren immer noch beide Namen verzeichnet hat, weswegen dies auch für das hier verwendete Digitalisat noch von mir übernommen wurde. Es wird aber inzwischen in den zusätzlichen Informationen bei vielen Ausgaben angemerkt, dass Sprenger nicht mehr als Autor angesehen wird. 40 Vgl. König 2014, 269. 41 König 2014, 265.

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bereits früher vereinzelt.42 Das Malleus Maleficarum ist somit keine Innovation. Die Bedeutung dieses Werks ist deshalb aber nicht geringer zu schätzen, da es zum Leitwerk für eine nun systematisierte Hexenverfolgung und einer »Feminisierung des Hexereidelikts«43 wurde, sowie zugleich in den kommenden Jahrhunderten zum maßgebenden Vorbild prosperierender Hexenvorstellungen. Der Historiker Christian König hebt zugleich die »massive Sexualisierung«44 des Hexereidelikts innerhalb des Werks hervor. Primäres Charakteristikum der Hexe sei ihre offen zur Schau gestellte Sexualität, ebenso wie die Unersättlichkeit ihrer Lust und sexuellen Begierde: Fassen wir zusammen. All dieses [entsteht] durch fleischliche Begierde, welche ja in diesen unersättlich ist. Vorletzte Sprüche [Vulgata-Bibel, Spr 30]: Dreierlei sind unersättlich etc. und ein Viertes, das niemals sagt, es genügt, nämlich der Mund der Vulva. Weswegen sie [die Hexen] sich auch mit Dämonen umtreiben, um ihre Lüsternheit zu erfüllen. Hier könnte vieles fortgeführt werden, aber den Verständigen erscheint es hinreichend; kein Wunder, dass die unmöglichen Irrlehren der Hexerei bei mehr Frauen als Männern gefunden werden.45

Hier nimmt Kramer interessanterweise Bezug auf die Bibelstelle Spr 30,15f.46 Dabei handelt es sich um die einzige biblische Stelle, in der explizit Hölle (lat. infernus) und der Mund der Vulva (lat. os vulvae) – eine Beschreibung der weiblichen Geschlechtsorgane mit auf Oralität verweisender Terminologie – gleichgesetzt werden, nämlich in ihrer gemeinsamen Eigenschaft, der Unersättlichkeit (lat. Adj. insatiabilis). So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass spätere Drucke des Malleus Maleficarum frontale, ganzseitige Darstellungen des Höllenschlunds zieren (siehe Abb. 3). Der Hauptvorwurf an die Hexen bestand spezieller in der sogenannten Teufelsbuhlschaft, d. h. dem sexuellen Verkehr mit Teufel und Dämonen. Mit diesen stünden sie in einer Art Pakt, was ihnen übermenschliche, schändliche Kräfte verleihe. Wie zahlreiche der Quaestiones des »Hexenhammers« deutlich machen, wurde bald jegliches Unheil den Hexen zugeschrieben. Es ist wichtig, sich hierbei stets ins Gedächtnis zu rufen, dass Hexen nicht nur in der Imaginationswelt des Malleus Maleficarum verantwortlich gemacht wurden, sondern auch in realer 42 43 44 45

Vgl. Blauert 1990. König 2014, 265. König 2014, 287. Übersetzung aus dem Lateinischen mit Anmerkungen D.P.: Concludamus. Omnia carnalem concupiscentiam. quae quia in eis est insatiabilis. prover. penul. Tria sunt insatiabilia etc. et quartum quod nunquam dicit sufficit scilicet os vulvae. Unde et cum Daemonibus causa explendae libidinis se agitant. Plura hic deduci possent sed intelligentibus satis apparet non mirum quod plures reperiuntur infecti Heraesi maleficorum mulieres quam viri. Transkription aus Pars 1, Quaestio VI/1 D.P.: Institoris/Sprenger 1486, 48. 46 Vgl. Colunga/Turrado 1946, in: https://www.bibleserver.com/text/VUL/Sprüche30 (zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2017).

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Abb. 3: Abbildung eines frontalen Höllenschlunds im »Hexenhammer«. Heinrich Institoris/ Jakob Sprenger, Malleus Maleficarum (8. Seite des Digitalisats), Druck im Nussia-Verlag Köln, Maße unbekannt, 1511, Bayerische Staatsbibliothek München (D).

Praxis Frauen verurteilt wurden, die diesem Anti-Ideal scheinbar zu nahekamen. Unter diesem, den Hexen zugeschriebenen Unheil nehmen besonders Fälle, die mit Fruchtbarkeit und Fortpflanzung zusammenhängen, eine zentrale Rolle ein, wie folgende Stelle aus dem »Hexenhammer« deutlich macht: Indem sie den geschlechtlichen Akt und die Leibesfrucht durch verschiedene Zauber vergiften; erstens, indem sie die Gedanken der Männer hin zu unordentlicher Liebe etc. umwandeln; zweitens, indem sie die generative Kraft hemmen; drittens, indem sie die Glieder, die in diesem Akt verwendet werden, entfernen; viertens, indem sie Menschen durch gauklerische Kunst in tierische Formen verwandeln; fünftens, indem sie die generative Kraft insofern bei Frauenzimmerchen zerstören; sechstens, indem sie Fehlgeburten besorgen; siebtens, indem sie die Kinder den Dämonen anbieten, neben denen sie auch anderen Tieren und Früchten der Erde Gewalt antun.47 47 Übersetzung aus dem Lateinischen D.P.: vener[i]um actum et conceptus in utero variis inficiendo maleficiis. Primo mentes hominum ad inordinatum amorem etc. immutando. Secundo vim generativam impediendo. Tercio membra illi actui accom[m]oda auferendo. Quarto homines praestigiosa arte in bestiales formas mutando. Quinto vim generativam quo ad femellas destruendo. Sexto abortum procurando. Septimo infantes daemonibus offerendo

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Hexen sind demnach nicht nur aufgrund ihres übersexualisierten Verhaltens das Anti-Ideal der Frau, sondern auch vor allem deshalb, da sie Geburten verhindern.48 Etwas genauer möchte ich aus dieser Aufzählung noch auf die den Mann betreffenden Aspekte eingehen, die Hemmung der Potenz und die Entfernung des männlichen Gliedes. Diese treten im Malleus Maleficarum nämlich öfter als nur an dieser Stelle auf. Unter Quaestio X49 argumentiert Kramer ausführlich, auf welche Art und Weise Hexen dem männlichen Glied schaden können. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass diese nicht die Macht besäßen, einen Mann realiter zu kastrieren; dies könnten nur die hierarchisch höher gestellten Dämonen und der Teufel. Jene würden das aber nicht tun, da gerade der Geschlechtsakt deutlich anfälliger für Schadenszauber durch Hexen sei.50 Deshalb verursache der Teufel selbst keinen Schaden am Penis des Mannes. Hexen dagegen könnten lediglich eine Illusion des kastrierten Penis erschaffen und zwar beim Betroffenen selber wie auch bei allen Umstehenden. Diese Vorstellung interessiert uns aus dem Grund, da zentrale Eigenschaft des Vagina DentataMotivs doch die Fähigkeit ist, durch den Geschlechtsverkehr männliche Glieder zu kastrieren. Diese Thematik der Kastration scheint offenbar auch im Zusammenhang mit mittelalterlichen Hexenvorstellungen zu stehen, wobei hier ein noch stärkerer Fokus auf der Konsequenz liegt, die Verhinderung der Reproduktion. Was wir hinsichtlich unseres zweiten Blickwinkels für die Interpretation des Höllenschlund-Motivs festhalten können, ist zum einen, dass Hexenvorstellungen über das genannte Bibelzitat mit der Gleichsetzung von Hölle und weiblichen Geschlechtsorganen in Verbindung gebracht werden. Hierzu entdeckten wir des Weiteren eine visuelle Darstellung des frontalen Höllenschlunds in einem späteren Druck des »Hexenhammers«. Zum anderen wird Hexen im selben Kontext die Fähigkeit der Kastration via Geschlechtsakt sowie anderer zeugungs- bzw. geburtsverhindernder Maßnahmen zugesprochen. Die soeben vorgestellten Interpretationsansätze zeigen, dass es nicht nur eine Deutung der Motivik um Vagina Dentata und Höllenschlund bezüglich der Konstruktion und Repräsentation von »Frau« geben kann. Vielmehr lassen sich komplexe gesellschaftliche Dynamiken ausmachen, die eine solche Repräsentation entstehen lassen. Im Folgenden soll unter Rückgriff auf unser eingangs analysiertes Bildbeispiel eine Synthese aller Aspekte geschaffen werden. absque aliis animalibus et terrae frugibus inferunt. Transkription aus Pars 1, Quaestio VI/2 D.P.: Institoris/Sprenger 1486, 48. 48 Hierzu ist anzumerken, dass Unheil bei der Geburt wohl aus dem Grund nicht als von Männern verursacht gedeutet wurde, da zu dieser Zeit in der Regel nur Frauen bei diesem Prozess anwesend sein durften. Vgl. Wiesmüller 2015, 3. 49 Vgl. Pars 1, Quaestio X: Institoris/Sprenger 1486, 62–66. 50 Vgl. Pars 2, Quaestio I, Capitulum 7: Institoris/Sprenger 1486, 118–121.

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Der Höllenschlund als Vagina Dentata? Bisher stellten wir nur in textlichen Beispielen implizite und explizite Gleichsetzungen von Vagina und Höllenschlund bzw. Uterus und Hölle fest – dabei wohl am deutlichsten in der vom »Hexenhammer« zitierten Bibelstelle Spr 30,15f. (»Drei sind unersättlich und ein Viertes, das nie sagt: Es genügt. Die Unterwelt, der Mund der Vulva […]«51). Nun stellt sich also die Frage, ob sich eventuell auch in unserem zuvor betrachteten Höllenschlund-Bild derartige Parallelisierungen finden lassen. Was an dem Bild könnte womöglich an eine bezahnte Scheide erinnern? Zunächst nichts außer den offensichtlichen Zähnen des Schlundes, die an seinen Rändern angebracht sind. Auf den zweiten Blick möglicherweise seine Farbgebung, die einerseits als feuriges, andererseits als fleischfarbenes, blutiges Rot gelesen werden kann. Diese Tönung ist vor allem deshalb signifikant, da in den früheren Profildarstellungen eine solche farbliche Inszenierung nicht umsetzbar war. Was durch die frontale Abbildung ebenfalls hervorgehoben wird, ist die Form seiner Öffnung, die ich zuvor als »oval« charakterisiert habe. Doch diese Form trägt zugleich die Möglichkeit, als »Mandorla« interpretiert zu werden – ein traditionelles mandelförmiges Symbol für die weiblichen Genitalien.52 Weiterhin könnten wir die ihn umgebenden feinen Striche nicht als Fell bzw. Flammen, sondern als Schamhaare deuten. Doch all das erscheint uns als bloße Überinterpretation, die sich allein durch den Wandel von Profildarstellungen hin zu frontalen Abbildungen des Höllenschlunds legitimiert. Dies besonders auch deshalb, weil ja unser Bildbeispiel scheinbar körperlos ist. Es drängt sich also weiterführend die Frage nach der Körperlichkeit des Schlundes auf. In Les Visions du chevalier Tondal wird dem Schlund auch auf den übrigen illuminierten Manuskriptseiten kein Körper gegeben. Aber, wie wir bereits im lateinischen Originaltext feststellten, wird durch den Schlund der Prozess des Verschlingens in den Magen/Mutterleib und des Gebärens aus diesem heraus vollzogen. Auch im weiteren Kontext der Visionsliteratur fanden wir eine ähnliche Struktur sowie die Ausdeutung der Hölle als Uterus. Doch auf visueller Ebene wird diese Parallelisierung erst durch Darstellungen wie dieser hier explizit: Eindeutig befindet sich hier der Schlund, der den Eingang in die höllische Bestie markiert, am Körper auf Höhe des Uterus. Außerdem hat die Bestie keine erkennbaren primären Geschlechtsorgane, wodurch die Ausdeutung des 51 Übersetzung aus dem Lateinischen D.P.: Tria sunt insaturabilia, et quartum quod nunquam dicit: Sufficit. Infernus, et os vulvae […]. Colunga/Turrado 1946, in: https://www.bibleserver. com/text/VUL/Sprüche30 (zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2017). 52 Vgl. Walker 1983, 576.

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Abb. 4: Bestie mit vaginalem Schlund, vergrößerter Ausschnitt. »Meister des Dreux Budé«, eventuell André d’Ypres, The Crucifixion, Öl auf Holz, ganzes Werk 48,6x71,1 cm, vor 1450, J. Paul Getty Museum Los Angeles (US).

Schlundes als Vagina noch verstärkt wird, gilt sie doch in der Regel als verstecktes, konkaves Genital:53 Feminine symbols remain mysterious, cavernous, unpredictable, dangerous: at once life-bearing and death-dealing. […] If the male organs are exterior, i. e., visible or clear and erectable, that is, potent, they are also vulnerable and deflatable, that is, impotent and subject to derision. If the female organs are interior, i. e., invisible, mysterious, and always ready, that is, always potential, they are also vulnerable, that is, rapable.54

53 Vgl. Braun/Wilkinson 2001, 19f. 54 Raitt 1980, 419.

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Durch diese Interpretation, die uns nun sowohl auf textlicher als auch auf visueller Ebene naheliegt, nämlich die Gleichsetzung der weiblichen Genitalien mit dem jenseitigen Ort ewiger Qualen, vollendet sich die Repräsentation eines negativen Frauenbilds. Diese Gleichsetzung nimmt, wie wir feststellten, eine bedeutende Rolle für die Wiedergeburt Jesu ein. Und so wird dieses Sinnbild zum Gegenstück der Maria. Deren Jungfräulichkeit und Reinheit steht so die ewige Verdammnis gegenüber, repräsentiert durch den unersättlichen, verschlingenden Schlund als Vagina Dentata. Personifiziert wird das sich daraus ableitende Anti-Ideal in dem Bild der Hexe: Statt wie Maria unbefleckt zu gebären, leitet sie Fehlgeburten ein, macht Männer impotent oder verschafft ihnen die Illusion von Kastration. Statt in geistiger und körperlicher Keuschheit zu leben wie Maria, sucht sie aktiv sexuelle Ausschweifungen. Statt Gott wendet sie sich Teufel und Dämonen, und somit Hölle und Verdammnis zu.

Die Vagina Dentata und ihr Gender Ausgehend von einer verbreiteten These in der Sekundärliteratur zu christlichen Unterweltsvorstellungen im mittelalterlichen Europa setzte dieser Artikel die Motive Höllenschlund und Vagina Dentata anhand von literarischem und visuellem Quellenmaterial miteinander in Beziehung. Hierbei wurde zum einen die gegenseitige Rezeption visueller und textueller Medien innerhalb des diskursiven Rahmens berücksichtigt. Zum anderen lag besonderes Augenmerk auf dem Aspekt der Repräsentation von Frau und Hölle. Dadurch konnte ein interpretatorischer Ansatz in Bezug auf eine diskursive soziale Konstruktion des Weiblichen durch verschiedenartige Medien geliefert werden. Obwohl primär die Geschlechtsorgane des weiblichen Körpers zur Sprache kamen, verlagerte die Diskussion der Motivik den Fokus auf die gesellschaftliche Rolle der Frau, auf ihr Gender. Für den vorliegenden zeitlichen und kulturellen Kontext ließen sich zwei antagonistische Rollen von Frau ausmachen, die ihr unterschiedliche Positionen in ihrem Alltag zuteilwerden ließen: So stellten wir fest, dass für weibliche Personen Macht, im Sinne einer hohen gesellschaftlichen Stellung, mit ihrer Keuschheit einherging, indem sie das christliche Ideal der jungfräulichen Mutter Maria nachahmte. Dementgegen wurde eine sexuell ausschweifende und anderweitig »sündhafte« Lebensweise im Rollenbild der Hexe nicht nur abgelehnt; vielmehr wurde dieses Anti-Ideal in realer Praxis bestraft oder vernichtet. Diese Rollen wurden in Form der textuellen und visuellen Quellen diskursiv verbreitet, legitimiert und gefestigt. Der Artikel konnte folglich durch eine intermedial arbeitende, sozial-konstruktivistische Herangehensweise die These bestätigen, dass der Höllenschlund

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bzw. die Hölle im untersuchten Kontext auf vielfältige Weise in Relation zu weiblichen Genitalien gesetzt wurde.

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Charlotte Diedrich

»Eine Witwe, das heißt: Dein Mann ist tot, du bist mit ihm begraben.« Die Witwe im 19. Jahrhundert zwischen Sex, Macht und Religion

»Eisenbahnverwalterswitwe«, »Braumeisterswittwe« – auf dem Alten Südfriedhof in München finden sich auf vielen Grabsteinen Bezeichnungen neben Memorierungen, Namen, Geburts- und Sterbedaten oder Beschreibungen des familialen Status – beispielsweise »Vater« oder »Gattin«. Diese Termini sind eine Verbindung des Ehestatus »Witwe« und der Berufsbezeichnung des verstorbenen Mannes. Die Bezeichnungen finden sich ausschließlich bei Inschriften von weiblichen Verstorbenen. Unabhängig vom Alter der verstorbenen Frau oder der Dauer der Verwitwung sind auf dem Alten Südfriedhof etwa 30 Prozent der Witwen auch als solche memoriert. Was hat es damit auf sich? Der Alte Südfriedhof, ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts Hauptfriedhof der entstehenden Großstadt München, wurde 1943 aufgelassen – es fanden also keine Beisetzungen mehr statt, der Friedhof wurde jedoch in seinem Zustand erhalten und blieb frei zugänglich – und bietet so, heute unter Denkmalschutz stehend, einen Blick auf die familialen Strukturen, religiösen Ideale und Vorstellungen von Repräsentation des Münchener Bürgertums des 19. Jahrhunderts. Die repräsentativen, massiven Grabsteine zeugen von einem Wunsch nach Ewigkeit im jenseitigen Sinne sowie in Bezug auf die soziale Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Inschriften der Grabsteine berichten von engen familial-patriarchalen Strukturen. Der Friedhof ist also ein Zeugnis der sozialen und religiösen Lebenswelten. Welche Rolle also spielt die Witwe der Grabinschriften in den idealisierten, starren Strukturen des 19. Jahrhunderts? Weshalb sind keine Witwer benannt? Im 19. Jahrhundert waren typisch weibliche Lebensmodelle streng limitiert auf die Rolle von Ehefrau und Mutter – wo in diesen starren Geschlechterbildern lässt sich das Lebensmodell der Witwe verorten? Welchen Stellenwert hat der Status »Eisenbahnverwalterswitwe« in der bürgerlichen Gesellschaft, dass dieser es »wert« ist, auf dem Grabstein memoriert zu werden? Welcher Rückschluss lässt sich aufgrund der Memorierung auf den sozioreligiösen Status der Witwe im Leben ziehen?

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Abb. 1: Münchener Südfriedhof und Grabmal von Adam und Maria Wagner, Fotografien: Charlotte Diedrich.

Mit dem Fokus auf den Körper der Witwe als Aushandlungsort und Repräsentativ gesellschaftlicher Idealvorstellungen soll der sozioreligiöse Status der Witwe in Bezug auf die Positionierung in Geschlechterbildern beleuchtet werden. Der Körper, der hier selbst als sozialer Prozess gilt, wird über Medien geprägt und vermittelt, demnach sollen diese als Beispiel dienen. Als Medien dienen zum einen Literatur sowie Kleidung als den Körper direkt formende Elemente und materialisierte Ergebnisse der normierenden Diskurse. Auch die Grabinschriften werden in diese Medien eingereiht. Der Körper der Witwe, als witwenspezifischer Körper in Abgrenzung zu anderen, wird entlang dieser Disziplinierungs- und

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Regulierungsmechanismen anhand bestimmter sozioreligiöser Normen und Ideale geprägt. Medien werden als Faktoren gesehen, die Identität konstituieren und Informationen vermitteln.1 Die den Witwenkörper konstituierenden Medien werden mithilfe einer kulturhistorischen Herangehensweise analysiert, um das Bild der Witwe im 19. Jahrhundert zu zeichnen und diesen als prozesshaften Körper zu beleuchten. Nach einem kurzen religionsgeschichtlichen Abriss über die Witwe im christlichen Kontext wird der Witwenstatus des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum anhand genannter Medien illustriert. Dies geschieht anhand der Kategorien Sex, Macht und Religion, die den machtdynamischen Zusammenhang darlegen sollen.2 Geschlechterdifferenzierungen sind zugleich Hierarchisierungen und demnach Strukturen, mithilfe und innerhalb derer Macht ausgehandelt wird.3 Eng damit zusammen hängen heteronormative Ideale; auf diese bauen außerdem Regulierungen und Aushandlungen bezüglich des Sexes von Individuen und Gruppierungen auf.4 Schlussendlich ist Religion als normierende Institution in bestimmten Bereichen entscheidender Faktor von Disziplinierungen von sex und Sex. Sie ist der Weg und zugleich das Argument der Regulierung gesellschaftlicher Strukturen. In meinem Beispiel gelten christliche Traditionen als sozioreligiöses Ideal. Dieses hat prägenden Einfluss auf das Verständnis vom Körper; bis in das 20. Jahrhundert hinein sind die christlichen Traditionen und Ideale formender Aspekt für die Kategorisierung, Normierung und Disziplinierung von Körper.5

Die Witwe in der christlichen Religionsgeschichte Im frühen Christentum entstand die Witwe als spezifischer Stand. Dies beinhaltet eine spezifische Normierung des Verhaltens der Frau des verschiedenen Ehemanns, sowie der Normierung des Verhältnis der Witwe zum Toten. Hieronymus, einer der frühchristlichen Kirchenväter, entwickelt im 4. Jahrhundert ein auf das Jenseits bezogenes Ordnungsmodell, »Jungfraun, Witwen, Ehefraun«, das sich an dem dem Christentum immanenten Ideal der Keuschheit orientiert. Hieronymus bezieht sich hierbei auf das christlich-paulinische Verständnis von Geschlechteridealen (vgl. 1 Tim 1).6 Das Seelenheil eines Individuums wurde (unabhängig des Geschlechts) an die sexuelle Aktivität gekoppelt: Anhand einer quantitativen Bewertung der Sexualität wurde der Status für das nach dem Tod 1 2 3 4 5 6

Vgl. Beinhauer-Köhler 2015, 70f. Vgl. Warne 2000, 140–154. Vgl. Foucault 1977. Vgl. Boyarin 1998. Vgl. Jonveaux 2014, 213–234. Vgl. Fischer 2002, 27.

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erwartete Paradies bestimmt. Während jungfräulich Verstorbenen der 100-fache Lohn gutgeschrieben wurde, erwartete verheiratete lediglich der 30-fache Lohn. Witwen hingegen erwartete im Jenseits der 60-fache Lohn, da sie wieder die Möglichkeit hatten, dem Ideal zu entsprechen und enthaltsam zu leben. Bis hin zum 13. Jahrhundert veränderte sich die Semantik dieses Schemas. Das Ordnungsmodell »Jungfraun, Witwen, Ehefraun« entwickelte sich von einem Jenseitsmodell hin zu einem diesseitigen, lediglich auf die Frau bezogenen Bewertungsschema. Auf dem von Hieronymus entwickelten Normenprogramm baute eine Reglementierung der weiblichen Verwitwung auf. Frauen wurden mehrheitlich anhand ihrer Körper, ihrer Sexualität und ihrer Stellung zum Mann definiert. Mit Bezug auf Hieronymus und Paulus galt der Witwenstatus im Mittelalter als spezifisch religiös geprägter, weiblicher Lebensentwurf.7 Während für die verwitwete Frau mit dem Tod ihres Ehemanns der Verlust der gesellschaftlichen Schutzherrschaft und des gesellschaftlichen Status sowie eine Veränderung der Normierung ihres Lebens und Körpers einhergeht, fand für männliche Verwitwete keine Regulierung und Sanktionierung statt. Die Zusammenführung von Enthaltsamkeit und moralischen Qualitäten im 4. Jahrhundert wirkte sich nicht nur auf das Mittelalter aus, sondern hatte auch für nachfolgende Generationen Konsequenzen.8 Innerhalb des christlich orientierten Wahrnehmungs- und Deutungsmodell gesellschaftlicher Wirklichkeit galt auch im 19. Jahrhundert mitunter die sexuelle Askese als ethisches Leitbild.

Die Witwe im 19. Jahrhundert Auch im 19. Jahrhundert ist der Witwenstatus ein eng normiertes, spezifisch weibliches Lebensmodell. Der Witwenstatus ist nach wie vor mit einer starren Normierung des Körpers der Witwe verknüpft. Die Stellung zum (verstorbenen) Mann sowie ihre Sexualität wird mit moralischer Qualität gleichgesetzt. Wenn auch auf den ersten Blick in das Jenseits gerichtet, ist der Witwenstatus ein diesseitiges Disziplinierungsmodell des weiblichen Körpers. Als Beleg mag mitunter die spezifische Memorierung verwitweter Frauen auf dem alten Südfriedhof in München gelten. Ebenso erzählen soziale Gegebenheiten sowie andere diesen Diskurs im 19. Jahrhundert prägende Medien, wie beispielsweise Kleidung, von einer engen Normierung und Regulierung des Lebens und des Körpers der verwitweten Frau.9 So können beispielsweise Trauerzeiten und 7 Vgl. Fischer 2002, 21. 8 Vgl. Jussen 2000, 39. 9 Vgl. Denk/Ziesemer 2014; Höpflinger 2017; Neumann 1995; Taylor 1980; Paisser 1874; von Hippel 1872; Dohm 2001; Bulling 1896.

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Trauernormen sowie entsprechende Trauerkleidung als Materialisierung eben jener Regulierungen gesehen werden. Das Phänomen der Verwitwung ist im 19. Jahrhundert keineswegs alters-, sondern vielmehr geschlechtsspezifisch. Das Verhältnis der weiblichen zur männlichen Verwitwung lag 1871 schon bei den unter 30-Jährigen bei 3:1, bei den 40–60-Jährigen sogar bei fast 4:1. Da die wenigen bereits existierenden Witwenklassen kaum etabliert waren, war der Witwenstatus ein Phänomen des Bürgertums. Ohne das System Ehe, das heißt, ohne finanzielle Absicherung, mussten viele verwitwete Frauen, insbesondere in ärmeren Schichten, so schnell wie möglich erneut heiraten.10 Im wohlhabenderen bürgerlichen Milieu wurde die Existenz der Witwen entweder durch private Stiftungen und Fonds oder durch Familienmitglieder gesichert. Die bestehende Verwitwung wurde, unter Voraussetzung der finanziellen Absicherung, angestrebt, denn in keinem anderen Lebensmodell war eine Frau so rechtsmündig wie im Witwenstand. Zudem verlor sie im Falle einer erneuten Heirat die Vormundschaft über ihre minderjährigen Kinder.11 Im moralisierenden Bürgertum12 wurde die Verwitwung normierend religiös aufgeladen und über eine erneute Heirat gestellt; diese sollte von Witwen nur bei großer finanzieller Bedrängnis erwägt werden. Die Normierung des Lebens und des Körpers der weiblichen Verwitweten orientierte sich an den Idealen des 19. Jahrhunderts bezüglich des Ehe- und Frauenbildes. Die idealisierte Frau wählte die Ehe und die Mutterschaft als Lebensmodell. Die Ehe galt als gottgewollte Institution für die Frau.13 Das Idealbild der Frau wurde auf die Reproduktionsarbeit reduziert; mit der Mutterschaft verbundene Charaktereigenschaften wie Opferbereitschaft, Treue und Gefühl wurden zu den spezifisch weiblichen Geschlechterrollen.14 Andere respektierte Lebensmodelle, jenseits von institutionalisierten Lebenswegen wie beispielsweise den Diakonissen, gab es für die bürgerliche Frau nicht. Dementsprechend galten die Familie und der Ehemann als nahezu einzige identitätsstiftende Aspekte eines weiblichen Lebens im Bürgertum.15 Stirbt nun der Ehemann, entfällt der Fixpunkt der idealisierten bürgerlichen Frau. Welche Implikationen haben nun das idealisierte Frauen- und Ehebild auf die idealisierte Witwe? Hochaufgerichtet, mit ein wenig emporgezogenen Schultern, das schwarzgeränderte Batisttuch zwischen den zusammengelegten Händen, stand sie da, und ihr Stolz über

10 11 12 13 14 15

Vgl. Machtemes-Titgemeyer 2001. Vgl. Wunder 1997, 21. Vgl. Schulz 2005; Hölscher 2014, 595–630. Vgl. Baumgartner 2009, 164; Albrecht 2010, 178. Vgl. Biermann 2002, 24; Borscheid 1983; Baumgartner 2009, 175. Vgl. Stolzenberg-Bader 1989, 181.

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die erste Rolle, die ihr bei dieser Feierlichkeit zufiel, war so groß, dass er manchmal den Schmerz vollständig zurückdrängte und in Vergessenheit geraten lies.16

In der Literatur des 19. Jahrhunderts, vornehmlich in Familienromanen, ist die Witwe eine gängige Figur.17 Es wird eine Figur entworfen, deren Liebe auch nach dem Tod des Mannes auf ihn gerichtet ist. Sie bleibt ihm über seinen Tod hinaus treu. Mithilfe von Frömmigkeit und Keuschheit (hier werden diese beiden Aspekte zusammen gedacht) erreicht sie im Witwenstatus eine Höherstellung ihrer Persönlichkeit. Die literarische Figur der Witwe ist tendenziell bessergestellt und genießt mehr Freiheiten als die Ehefrau, hat aber dennoch mit den sozialen Normierungen der bürgerlichen Gesellschaft zu kämpfen.18 Zum einen muss der soziale Status, der zuvor auf die im bürgerlichen Umfeld geschätzten Charakteristika beider Ehepartner zurückging, nun von der Witwe alleine aufrechterhalten werden.19 Im Gegensatz zu einem männlichen Verwitweten kann sie ihre Identität und ihren Status aber nicht aus Leistungen im Beruf ziehen. Zum anderen verändern sich die Erwartungen daran, wie der soziale Status konstituiert wurde. Die Ehe war in einem folgenden Schritt nicht mehr der geltenden Referenzrahmen, sondern sie fungierte als Negativfolie. Dennoch bleiben als spezifisch weiblich verhandelte Charakteristika das Ideal. Die bürgerliche Frau des 19. Jahrhunderts20 wird nach wie vor anhand ihres Körpers, ihrer Sexualität und ihrer Stellung zum Mann bewertet. Die Witwe muss allerdings anderen Normierungen als die Ehefrau folgen. Sie steht nun nicht mehr unter der sozialen Legitimation der Ehe. Dafür muss der Körper als witwenspezifischer Körper konstituiert werden. Neben der erwarteten Frömmigkeit und Keuschheit ist mitunter ein ausgeprägter Trauerhabitus, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine Möglichkeit, diese Eigenschaften zu repräsentieren.21 Aufgrund der Kategorisierung der Witwe anhand ihres Körpers muss dieser öffentlich inszeniert werden. Dies geschieht durch Trauerkleidung: Diese musste – mit lokalen und zeitspezifischen Unterschieden – von zehn Monaten bis hin zu über einem Jahr – und ausschließlich von Frauen – getragen werden. Die Trauerzeit der Witwe ist auch in der ersten Fassung des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1896 festgeschrieben. Es herrschten enge Normierungen vor, welchen Ansprüchen die Trauerkleidung genügen musste. Spezifische Stoffe (Krepp, Leinen, Wolle), vornehmlich in schwarz gefärbt, gelten aufgrund ihrer matten Struktur und ihrer auf der Haut teils unangenehmen Textur als ideale Trauerstoffe. Die 16 17 18 19 20 21

Mann 1956, 520f. Vgl. u. a. Biermann 2002; Taylor 1980. Vgl. Taylor 1980. Vgl. Machtemes-Titgemeyer 2001. Vgl. Döcker 1994. Vgl. Hoefer 2010; Höpflinger 2017; Kazmaier 1977; Machtemes-Titgemeyer 2001.

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Kleidung soll durch Schnitt und Stoff Verzicht und Opferbereitschaft symbolisieren. Durch die Visualisierung der Trauer am Körper wird das Verhalten sichtund damit bewertbar.22 Um den Witwenstatus zu inszenieren, wurde die Kleidung teils bis zum Ende des Lebens der Witwe getragen, denn die gesellschaftlichen Regulierungsmechanismen setzten der Trauerzeit keine Grenzen. Sozioreligiöse Ideale nehmen durch die Kleidung Gestalt an und übertragen sich auf den Körper. Indem sich die trauernde Witwe gemäß den Trauernormen verhält, wirkt sich die Trauerarbeit auf den sozialen Status der Witwe aus. Durch die Inszenierung der Trauer wird die verwitwete Frau erst zur Witwe: in dem Sinne, dass sich ihr Status und ihre Identität auf diesbezügliche Verhaltensnormierungen bezieht. Der Körper wird zu einem witwenspezifischen Körper. Dies greift sogar über ihren Tod hinaus. Auf den Inschriften der Grabsteine des Alten Südfriedhofs wird der Status als Witwe durch die Memorierung bestätigt und kann so den materiellen Körper der Witwe überdauern. Als witwenspezifischer Körper gilt also ein (erneut) keuscher und frommer Körper. Dies wird mitunter durch die Trauerkleidung und einen entsprechenden Trauerhabitus repräsentiert. Der witwenspezifische Körper wird durch die symbolische Aufladung der Kleidung und des Verhaltens zum sozioreligiösen Körper: Er symbolisiert nun selbst die entsprechenden Ideale und Normen.

Die Witwe zwischen Sex, Macht und Religion Die Semantik des Bewertungsschemas »Jungfraun, Witwe, Ehefraun« schwingt also auch im 19. Jahrhundert noch mit. Wenn auch nicht direkt als jenseitiges Punktesystem, ist es dennoch eine gängige Einteilung weiblicher Körper in der bürgerlichen Gesellschaft.23 Die Idealisierung der Keuschheit der Witwe, ebenso wie des Trauerhabitus, entspricht den sozioreligiösen Normen der christlichen Religionsgeschichte. Welche Bedeutung aber hat diese Kategorisierung des verwitweten Körpers als sozioreligiöser und enthaltsamer Körper? Dieser Aspekt wird nun hinsichtlich der Kategorien Sex, Macht und Religion beleuchtet. Die Witwe wird also anhand ihres Körpers als witwenspezifisch definiert, dies geschieht in Abgrenzung zu anderen Körpern. Sex, Macht und Religion gelten hier als Abgrenzungskategorien. Im Austarieren dieser wird der witwenspezifische Körper in den gesellschaftlichen Strukturen verortet. Der Fokus auf die Abgrenzungskategorien wird für einen Erkenntnisgewinn in Bezug auf gendertheoretische Überlegungen als hier entscheidender Blickwinkel ge-

22 Vgl. Höpflinger 2017, 105–124. 23 Vgl. Lichtenberg 1874, 267–268.

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sehen. Diese Kategorien fokussieren die Schnittstelle zwischen Alltag und Institution, zwischen Geschlechteridealen und Lebenswelten. Durch die Anwendung und Selbstverwendung der Disziplinierungsmechanismen gewinnen Witwen an sozialem Status und dadurch an Macht.24 Indem sie ihren Körper als sozioreligiösen, also trauernden und keuschen Körper inszenieren, legitimiert sich dieser in einer patriarchalischen Gesellschaft. Beginnend bei sex als Aspekt vermeintlicher biologischer Determiniertheit des Geschlechts lassen sich bezüglich des Witwenstatus einige Überlegungen formulieren: Die Witwe wird im 19. Jahrhundert als weiblich eingeordnet. Sie ist im prozessualen Verlauf des Lebens einer Frau dem Status der Ehefrau (als idealisiertes Frauenbild) nachgeordnet. Allerdings werden andere Erwartungen bezüglich Kleidung, Verhalten und Idealisierungen an sie gestellt. Der idealisierte Lebensentwurf als Ehefrau gilt nun nicht mehr; die Mutterschaft ist, wenn nicht bereits Nachkommen vorhanden sind, nicht mehr das anzustrebende Ziel. Die historischen weiblichen Charaktereigenschaften, wie u. a. Treue, Opferbereitschaft, Liebe und Hingabe, verändern sich und orientieren sich an sozioreligiösen, christlich-tradierten Idealen – wie beispielsweise der Keuschheit – und prägen wiederum die sozialen Erwartungen. Im Umkehrschluss haben sie auch Auswirkungen auf das soziale Geschlecht. Daniel Boyarins Ausführungen zur Kategorie Frau als Abgrenzung (und Abwertung) zum als Norm gedachten männlichen Körper durch Sexualität im christlichen Kontext folgend, kann dies auch auf das Beispiel der Witwe bezogen werden, verändert sich doch der Geschlechtsstatus durch die Einhaltung des Keuschheitsideals.25 Die Abwendung des Sexes vom eigenen Körper führt nun insbesondere dazu, dass dieser nicht mehr als Kategorie Frau eingestuft wird. So wie der jungfräuliche Körper im sozioreligiösen Kontext über den sexuellen, also verheirateten Körper gestellt wird, ist der witwenspezifische Körper als keuscher Körper ebenfalls dem verheirateten Körper hierarchisch vorangestellt. Der Sex wird dem witwenspezifischen Körper entzogen. Der disziplinierte, entsexualisierte Körper wird zum moralischen Körper. Im Normensystem des Bürgertums findet damit eine Aufwertung statt. Zugleich werden die Attribute moralisch und keusch der Witwe gesellschaftlich zugeschrieben, um sie nicht zu einer potentiellen Gefahr werden zu lassen. Eine keusche, fromme Frau stellt, auch wenn sie alleinstehend ist, keine Gefahr für intakte Sozialgefüge wie die Familie dar. Ihre Sexualität und ihr Körper werden durch die Diskursivierung derselben verwaltet und kontrollierbar. Gleichsam wird der Erfolg der bürgerlichen Gesellschaft an der Moral der Frau gemessen – entspricht ihr Verhalten den moralischen Normen, ist die Gesellschaft intakt. Der Witwenstatus wird zum Element der Re24 Vgl. Foucault 1977. 25 Vgl. Boyarin 1998.

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gulierung ihres Körpers. Im patriarchalen System des 19. Jahrhunderts ermöglicht diese Regulierbarkeit des weiblichen Körpers die Legitimation als alleinstehende Frau. Auch der Verweis auf den christlichen Ursprung des Keuschheitsideals führt im sozioreligiösen Kontext zur Aufwertung des Status. Es ist also nicht nur ein von äußeren Mächten aufgezwungenes, disziplinierendes Normensystem, sondern die Inszenierung als ebenjener Körper ist zugleich eine Machtaneignung innerhalb des bestehenden Systems. Nicht nur die Weiterführung des christlichen Ideals der Keuschheit, sondern auch weitere als christlich verhandelte Ideale tragen dazu bei, dass der Körper einer Witwe als witwenspezifisch gelesen wird. Darunter fallen auch »weibliche« Charaktereigenschaften wie Opferbereitschaft und Hingabe. Diese werden insbesondere durch den Trauerhabitus verkörpert; über den Tod hinaus ist die Ehefrau dem verstorbenen Gatten treu. Der Körper der Witwe wird derartig diszipliniert, dass es als innerweltliche »Askese« beschrieben werden kann. Sie soll sich bezüglich der Kleidung und ihres Benehmens zurückziehen, sich keinen Vergnügungen wie Bällen hingeben, bescheiden leben, kurz, ihr Leben aufopfern in Gedanken an ihren verstorbenen Mann.26 »Eine Witwe, das heißt: Dein Mann ist tot, du bist mit ihm begraben«, diese Aussage trifft die Witwe in Hedwig Dohms Kurzgeschichte Werde die du bist! hinsichtlich ihres Lebens als Witwe. Die Inszenierung des witwenspezifischen Körpers soll also dem Leben abgewandt sein und gedanklich bei dem verstorbenen Mann verweilen. Auch über die bis ins 20. Jahrhundert hinein gesetzlich geregelte Trauerzeit hinweg ist die asketische Lebensweise das Ideal. Das Jungfrauenideal wird überführt in ein Enthaltsamkeitsideal, das den »Askesecharakter« des als Witwe konstituierten Körpers verstärkt. Der disziplinierte Lebensstil, dem sie in idealisierter Form entsprechen soll, gleicht also religiösen Askesevorbildern: Der für sie zu erwartende »Lohn« ist aber in erster Linie kein jenseitiger, sondern ein diesseitiger, ein innerweltlicher, nämlich die soziale Anerkennung und Aufwertung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Auch die bereits erwähnte Memorierung des Witwenstatus auf den Grabinschriften der Friedhöfe des 19. Jahrhunderts verweist auf die sozioreligiöse Intentionalität des Witwenkörpers. Während männliche Verstorbene hier mit ihrem beruflichen Status memoriert werden, ist es bei weiblichen Frauen vornehmlich der Ehestatus oder eben auch der Witwenstatus. Das Bewertungsschema »Jungfraun, Witwen, Ehefraun« wird in der Struktur der Inschriften wieder aufgenommen. Durch die christliche Strukturierung des weiblichen Körpers entlang keuschheitsbewertender Kategorien, auch auf dem Friedhof,27 26 Vgl. Hoefer 2010; Machtemes-Titgemeyer 2001. 27 Vgl. Boehlke/Belgrader.

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wird das eigentlich im Diesseits verwendete Ordnungsmodell wieder in das Jenseits gerichtet. Unter der Prämisse, dass lediglich als essentiell verstandene Aspekte einer Person auf dem Friedhof memoriert werden,28 wird damit außerdem die Bedeutsamkeit des Witwenstatus in der diesseitigen sozialen Wirklichkeit verstärkt. Es spricht auch für die religiöse Symbolik des Witwenstatus; insofern die Witwe ihrem Gatten treu bleibt, fänden sie auch im Jenseits wieder zusammen. Demnach ist die idealisierte innerweltliche Askese des als Witwe konstituierten Körpers auch eine jenseitige und damit eine sozioreligiös bedeutsame Verhaltensstruktur. Es entwickelt sich somit ein anderes Ideal für den Körper der Witwe: Da es vom idealisierten Bild der Frau, der Ehefrau oder Jungfrau, abweicht, könnte man von einer weiteren Geschlechterrolle sprechen. Der Witwenkörper entzieht sich damit den idealisierten Normen einer Frau des 19. Jahrhunderts und folgt seinen »eigenen« Idealen. Die Darstellung des Körpers als spezifischen Geschlechtskörper erhebt ihn über den als minderwertig verhandelten Körper der Frau. Dies wird mitunter an der rechtlichen Stellung der Witwe im Vergleich zu der Stellung anderer Frauen deutlich, ist es doch die einzige Lebensphase einer Frau in der sie rechtlich als selbstständige Person agieren kann.29

Die Witwe im Bürgertum Hinsichtlich der Kategorien Macht, Sex und Religion wird am Körper der Witwe deutlich, inwiefern sie sich gegenseitig bedingen, beeinflussen und ineinander übergehen. Zudem sind sie nicht nur Kategorien anhand und innerhalb derer sich soziale Wirklichkeit konstituiert und spezifische Körper prozesshaft entstehen, sondern sie eignen sich auch als perspektivische Rahmungen, mithilfe derer ebendiese Prozesse beleuchtet werden können. Zum einen ist die Konstituierung als witwenspezifischer, also sozioreligiöser Körper eine Strategie der Legitimierung des weiblichen, ledigen Körpers in einer bürgerlichen, patriarchalen Gesellschaft. Zum anderen wird durch das starre Ideal der zweigeschlechtlichen Heteronormativität und der Rolle der Frau innerhalb dieses Systems eine Figur wie die der Witwe überhaupt erst nötig. Das auf christlichen Werten basierende kollektive Normierungs- und Disziplinierungssystem des Bürgertums bedingt die Ausformulierung der Geschlechterideale. Idealisierte, religiös tradierte Bilder von Mann und Frau werden im bürgerlichen Kontext 28 Vgl. Höpflinger 2015, 57–64. 29 Während in der Ehe der Mann die Vormundschaft über die Frau innehatte, erlangte die Frau mit der Verwitwung ihre Mündigkeit wieder; vgl. Wunder 1997, 27–54; Wunder 1992; Bulling 1896; Dölemyer 1997, 633–658.

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gefestigt und neu legitimiert. Anhand von und in Abgrenzung zu diesen konstituiert sich der witwenspezifische Körper innerhalb des bestehenden kulturellen Gesellschaftssystems. Er ist aktiver und passiver Träger sozioreligiöser kollektiver Imaginationen des Bürgertums. Mit seiner moralischen und sozioreligiösen Codierung ist er ein kulturell konstruierter und damit prozessualer Körper. Mit der Inszenierung des Körpers als witwenspezifisch wird der Status der verwitweten Frau aufgewertet. Die Festschreibung starrer Regeln bezüglich des Lebensideals ermöglicht eine Bewertung ihrer Rolle in der Gesellschaft. Dies führt zu positiven Auswirkungen, sowohl für die Instandhaltung der patriarchalen Gesellschaft als auch als Aufwertung des Individuums. Das Bürgertum, mit seinen starren Rollenbildern, kann mit seinen Idealen in der Rolle der Witwe weiterexistieren. Die verwitwete Frau wiederum kann dem Eheideal zugleich entgehen und es zudem bestätigen und findet dadurch ihren Platz in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie entgeht dem Eheideal, indem sie durch die Rolle der Witwe nicht als alleinstehend gilt und so nicht erneut heiraten muss. Andererseits bestätigt sie es, indem sie mit der öffentlich sicht- und bewertbaren Inszenierung als Witwe die über den Tod hinausgehende Verbindung mit ihrem Ehemann betont. Der christliche Hintergrund dieses sozial hierarchisierten Schemas der Ehe und des Witwentums sowie die idealisierte Wahrnehmung ihrer Werte, wie moralisch und keusch, vermitteln dem witwenspezifischen Körper überdies einen religiösen Anstrich. Im 19. Jahrhundert, in dem das Christentum als Deutungsmodell der Wirklichkeit grundlegend ist, führt auch dies zu einer Aufwertung der Witwe in der Gesellschaft. Bezüglich der Geschlechterideale eröffnet das Einbeziehen des Aspektes Sex für die Forschungsperspektive Gender auf den Witwenkörper vorerst ungeahnte Mechanismen. Es wird deutlich, dass machtdynamische Regulierungen und Disziplinierungen innerhalb ihres Systems nicht nur im negativen Sinne regulieren, sondern auch Deutungshoheit ermöglichen. Während nun im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Inszenierung als witwenspezifischer Körper innerhalb des bürgerlichen Systems durchaus funktionierte, stellt sich die Frage, inwiefern und weshalb heute die Witwe kein derart normiertes Lebensmodell mehr ist. Abgesehen von einer Veränderung von Traueridealen und der Verdrängung des Todes aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung, müsste hinsichtlich dieser Entwicklung, in Anbetracht der Kategorien Sex, Macht und Religion, die die verschiedenen Aspekte der machtdynamischen Regulierungen und Disziplinierungen begründen, auch noch ein

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kurzer Blick auf Individuum und Gesellschaft geworfen werden.30 Weshalb wird in aktuellen, urbanen Friedhöfen die Witwe nicht mehr als eine solche memoriert? Nach wie vor gibt es in Deutschland mehr weibliche als männliche Verwitwete. Hat der Witwenstatus im urbanen Raum keine sozioreligiöse Bedeutung mehr aufgrund der Veränderung der Deutungsmacht des Christentums über den Körper des Individuums und dessen Hierarchisierung und Legitimierung? Oder ist es der Aufbruch patriarchaler Strukturen in der Gesellschaft, der eine Pluralisierung in den Lebensmodellen ermöglicht?

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30 Zu Geschichte des Todes und der Verdrängungen dessen aus dem häuslichen Bereich vgl. u. a. Ariès 2009, 715–763.

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Von Sexrobotern und ewigen Leben. Die Raelistische Religion und die Verwissenschaftlichung der Kategorie »Geschlecht«

Abb.1: Das Bild zeigt die Titelseite der Bild-Zeitung und rekurriert auf die beschrieben Aussagen Raels. Filmstill aus der Sendung Klaus erklärt Verschwörungstheorien, NDR 22. 5. 2011, 00:00:13: https://www.ardmediathek.de/tv/extra-3/Klaus-erklärt-Verschwörungstheorien/NDR-Fern sehen/Video?bcastId=3709210&documentId=11852820 en.jpg (zuletzt aufgerufen am 10. 09. 2018).

»Hitler Klonen«? Ein mediales Spotlight Am 04. 08. 2001 titelte das Magazin Der Spiegel die Schlagzeile »Sekte will Hitler klonen«.1 Was sich in der Retrospektive als Absurdität darstellt, war keinesfalls als eine gemeint. Sie argumentierte mit direktem Verweis auf die Kultursendung 1 Der vollständige Spiegelbeitrag ist auf der offiziellen Homepage einsehbar: http://www.spiegel. de/panorama/empoerung-sekte-will-hitler-klonen-a-148475.html (zuletzt aufgerufen am 16. 11. 2017).

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Kulturzeit auf dem deutschen TV-Sender 3Sat, in der Rael, mit bürgerlichem Namen Claude Vorilhon, genau diese Vorstellung geäußert haben soll. Vorilhon, einst Motorsportjournalist, avancierte gemäß eigener Darstellung nach einer Begegnung mit einem Außerirdischen zum Gründer der größten UFO-Religion der Welt, der Raelistischen Religion. Er wird im Beitrag mit den Worten zitiert: »Ja, wir würden Hitler klonen. Wir sind nicht die Besten, aber wir sind exzellent.« Bei der Vorstellung »wären vor allem die Juden glücklich«, denn Hitler könne im Nachhinein der Prozess gemacht werden. Es verwundert nicht, dass die Aussagen Raels bei vielen Menschen auf radikale Ablehnung treffen. Michael Fürst, in der betreffenden Zeit Vorsitzender des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Niedersachsen, wird mit folgenden Worten zitiert: »Ich halte diesen Mann für größenwahnsinnig. Er muss gestoppt werden.« Weiter gibt er zu Protokoll: »Gerade die, die einen wissenschaftlichen Wahn entwickeln, ziehen eine Menge Gefolgsleute an.« Die letzte Person, die in diesem Zusammenhang zitiert wird, ist Hubert Hütte, ehemaliger Sektenbeauftragter der CDU/CSU-Fraktion im deutschen Bundestag: »Dass man überhaupt auf so eine Idee kommt, zeugt davon, dass dem Wahnsinn keine Grenzen gesetzt sind.«2 Größenwahn, wissenschaftlicher Wahn und Wahnsinn: Das sind die zentralen psychopathologisch anmutenden Zuschreibungen, die Rael in solchen öffentlich-medial vermittelten Diskursen angeheftet werden. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und der damit verbundenen Weltkriegsgeschichte verwundern diese radikalen Aussagen nicht. Im öffentlich-medialen Diskurs werden sogenannte »Sekten«3 und ihre Gründer_innen häufig mit psychopathologischen Zugängen stigmatisiert.4 Innerhalb des Feldes solcher Neuen Religiösen Bewegungen – im religionswissenschaftlichen Diskurs wird die Raelistische Religion den Neuen Religiösen Bewegungen zugeordnet – gibt es zahlreiche religiöse Gruppierungen, die in Medienbeiträgen als schillernd, skurril oder wahnsinnig codiert werden und dann in jenen mentalen frames gelesen werden. Die gezeigte Schlagzeile zeigt dies prägnant auf.

2 Alle Zitate sind dem Beitrag der vorigen Fußnote entnommen. 3 Der Begriff »Sekte« wird in Anführungszeichen genannt. Grund hierfür ist eine in vielen Medien negative Benutzung des Begriffs. 4 Vgl. Thaler 1997; Gross 1996; Karbe 1983 und Carlhoff 1994. Besonders die Zuschreibungen Destruktive Kulte, Psychomarkt und Psychokulte weisen auf einen einseitigen Forschungsdiskurs hin. Die empfohlenen Publikationen stellen lediglich einen kleinen Teil des literarischen Spektrums dar.

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Religion zwischen Text und Kontext. Theoretisch-methodische Gedanken Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, Auffassungen von Geschlecht, Geschlechtlichkeit, Sexualität und Macht in den Schriften der Raelistischen Religion zu identifizieren.5 Um sich diesem Themenfeld zu nähern, stellt sich zunächst die Frage, welche interne Position eine bestimmte textimmanente Aussage über das Religionssystem (Raelistische Religion) beansprucht. Um Aussagen über solche religionsinternen Verortungen vorzunehmen, ist es notwendig, sich grundlegend mit den geschaffenen Werken, Lehren und Ansichten der zu untersuchenden Gemeinschaft zu beschäftigen. Deshalb wurden für diesen Artikel sämtliche auf dem Markt erhältlichen Schriften der Raelistischen Religion, die Auskunft über die genannten Schwerpunkte versprachen, anhand einer Textanalyse genauer untersucht. Bei inhaltlichen Unklarheiten wurde die deutsche Raelistische Religion über E-Mail-Korrespondenz zur Lösung des Problems befragt.6 Auf der theoretischen Ebene gehe ich im Folgenden davon aus, dass Religion(en) als Teil von Kultur(en) 7 betrachtet werden können und insofern kontextualisiert werden müssen: Religion(en), wie ich sie verstehe, werden in einer bestimmten Zeit von spezifischen Akteur_innen in einem bestimmten Raum und vor dem Hintergrund spezifischer gesellschaftlicher Diskurse, die auf archiviertes und gegenwartsbezogenes Wissen zurückgreifen (also Traditionen bilden), inter-/transrelational (also in Beziehungen innerhalb einer Kultur, aber auch in Beziehungen zu derselben Religion in anderen Kulturen) sozial konstruiert.8 Gleichwohl folge ich der Feststellung von Andreas Grünschloß, dass »keine religiöse Bewegung […] sich je ohne implizite oder explizite Auseinandersetzungen mit religiös Anderen und Fremden konsolidiert […].«9 Präzisiert bedeutet dies, dass (Neue) Religionen nicht ohne »interreligiöse Rezeptionsprozesse, Apologetik und Polemik, missionarische Konfrontation und Akkom5 Neben allen relevanten Schriften finden sich in folgenden Schriften die meisten Informationen: Rael 1998 und Rael 1994. 6 An dieser Stelle danke ich Frau Dagmar Hoffmann von der Raelistischen Religion in Deutschland für die ausführlichen inhaltlichen Erläuterungen. Der Name darf, nach Absprache, genannt werden. 7 Vgl. Kippenberg/von Stuckrad 2003. Diese Publikation zeigt sehr eindrücklich, welches Potenzial in der kulturwissenschaftlichen Zugriffsweise steckt, aber auch welche notwendigen Perspektivwechsel für die religionswissenschaftliche Arbeit Geltung erfahren sollten und auch müssen. 8 Über das wissenschaftliche Paradigma der sozialen Konstruktionen geben Berger/Luckmann 1969 Auskunft. Auch Bachmann-Medick 2014 liefert eine umfassende Einführung in die theoretischen Paradigmen der Kulturwissenschaft. Paradigmatisch wurde die kulturwissenschaftliche Wende von Clifford Geertz (Dichte Beschreibung) grundgelegt. 9 Grünschloß 1999, 1.

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modation, offene und versteckte Anleihen oder Reaktionsbildungen, exotisierende Anknüpfungen, Synkretismen und Inkulturationsvorgängen verstanden werden [können].«10 Zum Fokus auf den Text tritt also methodisch auch die Untersuchung des Kontextes. Auf der theoretischen Ebene verbinde ich Religionen als Teil von Kultur(en) mit einer genderspezifischen Sicht: Daria Pezzoli-Olgiati bringt die Verbindung zwischen Gender Studies und Religionswissenschaft11 auf den Punkt, wenn sie sagt: Dennoch markiert der Begriff gender eine Differenz, die in der Religionswissenschaft nicht nur im Hinblick auf weibliche und männliche Bilder, Zuweisungen, Rollen und Funktionen bedeutsam ist, sondern die Aufmerksamkeit vor allem auf unterschiedliche Möglichkeiten der Ausdifferenzierung zwischen unterschiedlichen Geschlechtern lenkt. Dabei erweisen sich die Fragen nach den Machtstrukturen, die das Umreißen von geschlechtlichen Identitäten diachron und synchron vermitteln und regulieren, als besonders aufschlussreich für die Erforschung von religiösen Symbolsystemen.12

Dieser Vorstellung folgend verstehe ich die Adaption von Gendertheorie in die religionswissenschaftliche Arbeit als analytisches tool, welches eben jene dia-/ und synchronen Verflechtungen in der Religionsgeschichte und -gegenwart herausstellen kann. Tiefgehender muss dargestellt werden, was der (Kern-)Inhalt des Genderkonzeptes ist und wie die Relationierung(en) zwischen Inhalt und Gegenstand aussehen. Judith Butler legte mit ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter den Grundstein der Gendertheorie. In Anlehnung an Foucault und seinen Diskursbegriff setzte sie die Vorstellung durch, wonach das Verständnis dessen, was die Gesellschaft als »männlich« oder »weiblich« versteht, immer Reproduktionen von Vorstellungen aus der Geschichte sind, nämlich wonach gewisse Körper- und Wesensattribute eben typisch »männlich« oder »weiblich« sind. »Männer« seien stark und rational, wohingegen »Frauen« schwach und emotional seien. Darauf aufbauend setzt sich nach Sandra Smykalla13 die Vorstellung durch, wonach eine Trennung zwischen dem biologischen Geschlecht (Sex) und dem sozialen Geschlecht (Gender) eben nicht besteht, sondern eine konstante siamesische Beziehung. Dieser Modus Operandi legitimiere sozusagen die unterschiedliche Erziehung von »Männern« und »Frauen«. Das Resultat von einseitigen diskursiven Zuschreibungsmechanismen sei eine sozial konstruierte, geschlechtsgebundene Person, die entweder »männlich«, »weiblich« oder »Verschiedenes« ist. Neben den Genen spiele gerade die traditionelle, kulturgebun10 Grünschloß 1999, 2. 11 Neben dem Handbuch Gender und Religion (siehe Fußnote 12) sind weitere wichtige Sammelbände erschienen. Vgl. Lanwerd/Moser 2010 und King 1995. 12 Pezzoli-Olgiati 2008, 14. 13 Vgl. Smykalla 2006, 2f.

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dene Erziehung eine dominierende Rolle. Die folgerichtige Frage ist nun, wie die Raelistische Religion mit diesen Konstruktionsprinzipien sexueller Identität(en) umgeht, wenn doch der Mensch als »biologischer Computer« verstanden wird. Hier wird die Frage wichtig, ob die Gene wirklich alles bedingen, oder ob nicht Geschlechtsidentitäten tatsächlich, wie von Gendertheoretiker_innen angenommen wird, diskursiv bedingt sind. An dieser Stelle wurde mit der Raelistischen Religion kommuniziert. Angesprochen auf das Verhältnis zwischen Genetik und sozialen Konstruktion(en) wurde folgende Antwort gegeben: »Die raelistische Aussage (also die von Rael) ist: Es liegt an den Genen.« Diese Aussage ist dahingehend wichtig, weil sie zum einen die Rolle der Gene betont, und zum anderen deutlich macht, dass sowohl die »physische Hülle« (der Körper) genetisch bedingt sei, sondern eben auch die Geschlechtsidentität.

»Der letzte Prophet«. Zentrale Glaubensgrundsätze Die Geschichte der Raelistischen Religion beginnt, nach Aussage des »Religionsstifters«, mit der Begegnung Claude Vorilhons mit einem Außerirdischen am 13. 12. 1973 am Gebirge des Clermond-Ferrand. Nachdem Vorilhon urplötzlich das Verlangen verspürte, in die Natur zu gehen, ereignete sich folgende Geschichte, die in der Publikation Das wahre Gesicht Gottes beschrieben wird: Plötzlich nahm ich im Nebel ein rotes Blinklicht wahr, dann eine Art Hubschrauber, der nach unten sank und auf mich zukam. Aber ein Hubschrauber macht Lärm, hier jedoch hörte ich überhaupt nichts, auch nicht das leiseste Pfeifen. Ein Ballon? Das Flugobjekt befand sich jetzt etwa in zwanzig Meter Höhe, und ich bemerkte, daß es von abgeflachter Form war. Eine fliegende Untertasse!14

Es folgt gemäß des Berichts der unmittelbare Erstkontakt. Vorilhon beschreibt den Außerirdischen15 wie folgt: »Ich sah dann, daß es trotz seiner Körpergröße von etwa einem Meter zwanzig kein Kind war. Er hatte leicht mandelförmige Augen, schwarze Haare und einen kleinen schwarzen Bart.«16 Es wird weiter berichtet, dass sich eine Konversation über die Herkunft des Wesens und die Frage, weshalb gerade er, Claude Vorilhon, auserwählt worden sei, entwickelte. Auf Ersteres wird aus Schutz des Herkunftsplaneten im Buch nicht genauer eingegangen. Die Wahl Vorilhons wird mit dessen Intelligenz und 14 Rael 1998, 13. 15 Über das Geschlecht des Außerirdischen kann nur gemutmaßt werden. Sowohl die Beschreibung mit einem »schwarzen Bart« und die ikonographische Repräsentation von Seiten der Raelistischen Religion lassen eine »männliche« Typisierung vermuten. Vgl. einen offiziellen Film der Raelistischen Religion: https://www.youtube.com/watch?v=bW805IZVSt4 (zuletzt aufgerufen am 18. 02. 2018). 16 Rael 1998, 14.

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Unbefangenheit in religiösen Fragen beantwortet.17 Am nächsten Tag sei Folgendes geschehen: Claude Vorilhon habe mit einem Heft und einem Kugelschreiber am selben Ort gestanden und wurde, als das Raumschliff gelandet war, hineingebeten. Dort habe der Außerirdische, der sich Jahwe (!) nenne und angebe, der Älteste seiner Art zu sein, Vorilhon in Bibelkunde unterwiesen.18 Die Theolog_innen hätten die Bibel und besonders das Alte Testament immer stärker verfälscht und sich somit von den wahren Ereignissen entfernt. Entscheidend scheint an dieser Stelle der Begriff Elohim zu sein. In der theologischen Rezeption wurde der Begriff mit Gott, also im Singular, gedeutet und übersetzt. Der Einwand, den die Anhänger der Raelistischen Religion, im Übrigen am stärksten rezipiert in der Prä-Astronautik19, immer wieder betonen, ist, dass der Begriff falsch übertragen sei. Eigentlich müsse er gemäß des hebräischen Begriffes mit Götter (im Plural) übersetzt werden.20 Hier zeigt sich ein erster Glaubensgrundsatz: Nicht der abrahamitische Gott habe die Erde und die Menschen geschaffen, sondern Götter-Astronauten (Elohim) von einem anderen Planeten.

Abb. 2: Vorilhon wird in einem Werbevideo der Rael Academy als »He ist he last prophet of the Elohim« vorgestellt. Filmstill vom Video Rael Academy online now (YouTube, 8. 10.2015, 00:00:15), https://www.youtube.com/watch?v=Mr8Vcb7F_Kg (zuletzt aufgerufen am 11. 09. 2018)

17 Vgl. Rael 1998, 17. 18 Vgl. Rael 1998, 19ff. 19 Die Prä-Astronautik vertritt die Vorstellung, dass in biblischer Zeit einst Außerirdische die Welt besucht haben und die Menschheit in biologischer und kultureller Hinsicht weiterentwickelt haben. »Grundsteinleger« der modernen Prä-Astronautik ist der schweizer Autor Erich von Däniken, der mit seinem Buch Erinnerungen an die Zukunft diesen alternativen Forschungszweig prominent machte (Vgl. von Däniken 1968). Zur weiteren Lektüre Richter 2017. 20 Siehe u. a. den Eintag in der Encyclopedia Judaica über Eloha/Elohim, in: Skolnik 2007, 674.

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Aufgrund dieser von Vorilhon berichteten Begegnung mit einem außerirdischen Wesen wurde im Jahr 1974 MADECH, Französisch für: Mouvement pour l’accueil des extraterrestres, créateurs de l’humanité [in deutscher Übersetzung: Bewegung für den Empfang der Außerirdischen, Schöpfer der Menschheit], als vorläufige Institution gegründet. Es waren gemäß dieser Bewegung Außerirdische, die die Menschen als genetisches Experiment geschaffen haben. Die Entstehung der Menschen sowie die extraterrestrischen Prägungen (unter anderem die Entstehung der Ozeane) der Erde werden auch als Terraforming bezeichnet. Im Buch Extra-Terrestrials Took Me To Their Planet21 wird Rael in die technischen Fähigkeiten der Elohim eingeführt. Der Heimatplanet der Elohim wird als fortschrittlich beschrieben, da ausschließlich Roboter die tägliche Arbeit verrichten und die einzelnen Planetenbewohner_innen sich auf intellektuelle und körperliche Angelegenheiten (z. B. Meditation) konzentrieren würden.22 Der Planet der Elohim wird von einer Herrschaftsform bestimmt, die Geniokratie (geniocracy) genannt wird. Dahinter steht die Vorstellung, dass ausschließlich Planetenbewohner_innen, die einen um durchschnittlich 50% höheren IQ als der Rest aufweisen, in Regierungsverantwortung gelangen können.23 Aufgrund der Tatsache, dass die Menschheit das Resultat von genetischen Experimenten der Elohim seien, verwundere es nicht, diese technologischen »Innovationen« auch auf der Erde zu finden. Ebenfalls seien neben genetischen Experimenten auch sexuelle Kontakte zwischen den Elohim und den Menschen zu verzeichnen, denn die Figur des biblischen Jesus wird als Resultat eines Fortpflanzungsaktes zwischen den Elohim und Maria betrachtet.24 Trotz allen technischen Fortschritts gab es allerdings auch Technologien, die gefährlich wurden: Die Atomenergie wird als schrecklichste wissenschaftliche Entdeckung verstanden, denn im präastronautischen Verständnis des Alten Testamentes wird von regelrechten Atomkriegen berichtet, die vielen Menschen das Leben gekostet hätten.25 Demnach legt die Raelistische Religion heutzutage größten Wert auf anti-atomare Bestrebungen. Mit der Firma Clonaid26, die nach Angaben der deutschen Raelistischen Religion27 nicht zur offiziellen internationalen Rael-Bewegung mit Sitz in Genf zählt 21 22 23 24 25

Diese Schrift wurde in die Publikation Das wahre Gesicht Gottes (Vgl. Rael 1998) integriert. Vgl. Rael 1998, 150f. Vgl. Rael 1998, 179f. Vgl. Rael 1998, 62f. Gerade die biblische Geschichte um Sodom und Gomorrha wird dahingehend interpretiert, vgl. Rael 1998, 29f. 26 Maßgeblich in der Publikation: Ja zum Menschen-Klonen (Rael 2001, S. 95) erwähnt. Vgl. darüber hinaus die Internetseite auf https://www.clonaid.com/page.php?18 (zuletzt aufgerufen am 06. 12. 2017). 27 Diese Angaben beziehen sich auf die Korrespondenz mit Frau Hoffmann von der deutschen Raelistischen Religion.

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und dennoch deren inhaltliche Überzeugungen teilt, hat die Chemikerin Brigitte Boisselier, selbst ein hohes Mitglied, diese Firma maßgeblich geprägt. Das Ziel sei, vorwiegend, aber nicht ausschließlich, Menschen zu klonen. Egal, ob ein geliebter und verstorbener Mensch oder ein Haustier: Durch Klonen sei ewiges Leben möglich. Jedoch bleibt es nicht beim Klonen im genetischen Sinn, sondern es wird nach einem Weg gesucht, das menschliche Bewusstsein auf einen PC zu laden, um es im nächsten Schritt beim geklonten Menschen wieder hochzuladen.28 In der Verbindung zu der Vorstellung des Klonens seien auch Prä-Implantationskorrekturen bei Rael zu vernehmen, denn ein weiteres Ziel der RaelBewegung ist das Designer-Baby:29 Jeder Mensch müsse die Möglichkeit haben, ausschließlich Kinder zu bekommen, die auch erwünscht seien. Es sei für das Kindeswohl schlecht, wenn trotz eines Mädchenwunsches plötzlich ein Junge geboren würde, denn dann würde dem Kind in späterer Zeit nicht die Liebe zuteilwerden, die es eigentlich brauchen würde. Für die Entwicklung des Menschen seien die sinnlichen, d. h. mitunter auch sexuellen Komponenten30 von großer Relevanz. Gerade die richtige sexuelle Erziehung spiele eine wichtige Rolle, um eine individuelle, komplett von gesellschaftlichen Konventionen entkoppelte Charakterbildung zu gewährleisten. Dabei werden der Körper und der Charakter eng miteinander gekoppelt und in Interrelation gesehen. Geschlecht wird zwar hauptsächlich als dual konstruiert betrachtet, aber dennoch auf einer Skala mit zwei Extremen und vielem dazwischen, wie im Folgenden deutlich wird.

»Man kann ja auch nicht einer Katze vorwerfen, eine Katze zu sein…«. Religion/Gender-/und soziale Konstruktion Wie zwischen den Zeilen bereits durchschimmerte, besitzt die Raelistische Religion ganz eigene anthropologische Vorstellungen: Entgegen der z. B. christlichen Auffassung, wonach der Mensch sowohl einen Leib als auch eine Seele besitze (Leib-Seele Dualismus), versteht die Raelistische Religion den Menschen wegen seiner biotechnologischen Erschaffung als Computer: »Wir sind nichts anderes als ein biologischer Computer!«31 Dementsprechend vollziehe sich bei der Zeugung eines Kindes, in der Regel durch Geschlechtsverkehr, lediglich die 28 Vgl. Rael 2001, 37ff. 29 Vgl. Rael 2001, 53. 30 Gerade die Publikation Die Sinnliche Meditation (Vgl. Rael 1994) zeugt von dieser Überzeugung. 31 Wichtige komparative Arbeiten sind von Andreas Grünschloß entstanden. Zitat inklusive weiterer Informationen auf http://wwwuser.gwdg.de/~agruens/UFO/clonaid_rael/clonaid. html (zuletzt aufgerufen am 19. 12. 2017).

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Schaffung eins neuen genetischen Codes. Das daraus entstehende Geschöpf könne unterschiedliche sexuelle Identitäten haben, wie ein schriftlicher Austausch mit der deutschen Raelistischen Religion zeigt: »Geschlecht existiert für uns auf zwei Ebenen: der körperlichen (körperliche Attribute) und der der Empfindungen. Auf dieser letzten Ebene sind Männer wie Frauen, je nach genetischer Erbanlage, auf einer Skala von extrem weiblich bis extrem männlich anzutreffen.«32 Aus dieser Aussage können gleich mehrere wichtige Standpunkte abgeleitet werden. Zum einen (a) wird von einer Skala ausgegangen, die zwischen den beiden Parametern »männlich« und »weiblich« liegt und (b) wird insinuiert, dass es möglich ist, auch als »Mann« auf der Skala »weibliche« Empfindungen zu haben und andersherum auch als »Frau« »männliche« Empfindungen. Das, was unter »männlich« und »weiblich« zu verstehen ist, wird an dieser Stelle keine endgültige Klärung erfahren können. Letztlich (c) wird auf die Gene verwiesen, die Aussagen über das Geschlecht geben sollen. Diese Feststellungen geben Anlass zu der Frage, wie Homosexualität, Transsexualität und Intersexualität als Repräsentanten anderer sexueller Identitäten bei der Raelistischen Religion verstanden werden. Auch über diese Frage wurde kommuniziert. Zunächst wird Folgendes festgestellt: »Homosexualität, Transsexualität usw. sind genetisch bedingt (es gibt auch wissenschaftliche Studien, die das belegen).« Hierbei stellt sich die Frage, mit welcher Perspektive diese Verknüpfung von Genetik und Sexualität begriffen wird. Dazu wurde folgende Antwort gegeben: »Das bedeutet, dass wir Homosexualität usw. deshalb als etwas Natürliches ansehen (so kommen z. B. etwa 11% Homosexuelle in der Bevölkerung vor), und für uns eine ebenso normale Erscheinung sind wie heterosexuelle Personen, und Rael meint dazu noch: Man kann ja auch nicht einer Katze vorwerfen, eine Katze zu sein…«

Letztlich wird noch festgestellt, dass »bei sehr vielen Tierarten Homosexualität ebenfalls vorkommt, sei es als Dauerzustand, oder als zeitliche Erscheinung. So kann sie als normale und natürliche sexuelle Erscheinungsform angesehen werden […].« Es lässt sich aus dem Gesagten folgern, dass die Raelistische Religion stark genetisch bedingte Geschlechterzuweisungen vornimmt, die in ihrer Geschlechtsidentität jedoch fluktuieren können, aufgrund des natürlichen Umstandes, dass unterschiedliche Typen sexueller Identität (u. a. Homosexualität, Transsexualität und Intersexualität) vorhanden sind. Wie prägt sich diese genderbezogene raelitische Anthropologie nun auf der konkreteren Ebene der (sexuellen) Interrelation zwischen den Geschlechtern aus?

32 Alle folgenden emischen Implikationen stammen aus einer längeren E-Mail-Korrespondenz mit Frau Dagmar Hoffmann.

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»Wünschen Sie sich Gefährtinnen? Kommen Sie, Sie werden Ihre Wahl treffen«. Sexualität bei der Raelistischen Bewegung Susan J. Palmer hat intensiv über die Raelistische Religion in der Publikation Moon Sisters, Krishna Mothers, Rajneesh Lovers. Woman’s Roles in New Religions33 gearbeitet und speziell über die Themengebiete Sexualität und Gender. Sie schreibt: »They [women] reject the institution of marriage, tend to postpone or veto childbearing, are open to expressing their sensuality with other women, and live on an impermanent (but often longterm) basis with the lover of their choice«.34 Sichtbar an dieser Aussage wird eine Selbstbestimmung des eigenen Geschlechts. Die zusammenfassende Aussage in Bezug auf die Sexualität der Mitglieder im Allgemeinen ist die potenzielle Möglichkeit sich völlig frei zu entfalten.35 Die Möglichkeit der selbstbestimmten Positionierung liegt in den Schriften begründet. Im Folgenden sollen grundlegende Vorstellungen diesbezüglich dargestellt werden: Auf dem Planet der Elohim werden Rael gemäß seinem Bericht mehrere biologische Roboter-Frauen vorgestellt, die allesamt als sehr schön beschrieben werden. Rael wird dazu aufgefordert, auf telepathischem Wege Musik zu komponieren. Als er Klänge zu vernehmen beginnt, beginnen die Roboter-Frauen »verführerisch« und »wollüstig« zu tanzen.36 Im Anschluss verbringt Rael mit allen Roboter-Frauen die »verrückteste Nacht«37 seines Lebens. Diese Darstellung legt den Fokus ganz eindeutig auf die Frau, indem sie als Erotikdarstellerin mit sexuellen Dienstleistungen verkörpert wird. Es wäre, angesichts des Facettenreichtums sexueller Vorstellungen, zu einfach, würde man diesem Narrativ alleinige Geltung zusprechen. Um den Blick zu erweitern, werden im Folgenden die raelistischen Empfehlungen zur Erziehung von Kindern betrachtet. Im Blick auf die intendierte Sozialisation lässt sich herauskristallisieren, in welchem Geist eine mögliche geschlechtsspezifische Erziehung erfolgt. Rael geht grundlegend von folgender Erziehungsmaxime aus: Du wirst dein Kind lehren, sich zu entfalten und du wirst es lehren immer Abstand zu nehmen gegenüber dem, was die Gesellschaft und die Schulen ihm eintrichtern wollen. Du wirst es nicht zwingen Dinge zu lernen, die Ihm nichts nützen werden und du wirst es die Richtung einschlagen lassen, die es einzuschlagen wünscht, denn vergiß nicht, daß das Allerwichtigste seine Entfaltung ist.38

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Vgl. Palmer 1995, 157–187. Palmer 1995, 157. Vgl. Palmer 1995, 162–165. Vgl. Rael 1998, 157. Rael 1998, 158. Rael 1998, 169.

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Die Maxime klingt unter gendertheoretischen Gesichtspunkten vielversprechend. Grund hierfür ist die Kritik von Seiten der Gender Studies an der identifizierten geschlechtsgebundenen und kulturell normierten Erziehung von Mädchen und Jungen.39 Die Raelistische Religion begreift bereits Babys als Individuen, d. h. die Würde des Babys steht im Mittelpunkt, und auf das Kind darf nicht frühzeitig eingewirkt werden, sodass eine Frühsozialisation im Sinne einer kulturellen Normierung ausgeschlossen wird. Gemäß der emischen Sichtweise sind es die Institutionen, die gesellschaftsverändernd und disziplinierend wirken können und von denen eine Indoktrinationsgefahr auszugehen scheint. Im Zentrum steht bei raelistischen Vorstellungen die uneingeschränkte Entfaltung des Kindes. Es scheint demnach völlig gleichgültig, in welche Richtung sich ein Kind in Bezug auf seine spätere sexuelle Orientierung hin entwickelt. Das Wichtigste sei eine geschlechtsunabhängige Sozialisation. Es sei Mädchen und Jungen zuzugestehen, sich völlig selbstständig zu entfalten. Sofern sich das Kind ab einem gewissen Alter seiner sexuellen Orientierung bewusst ist, komme eine sexualpädagogische Maxime ins Spiel: Die Sexualerziehung ist auch sehr wichtig, aber sie lehrt nur die technische Funktion der Organe und ihre Nützlichkeit. Die Erziehung zur Sinnlichkeit muß dagegen lehren, wie man mit seinen Organen Freude empfinden kann, indem man nur den Genuss sucht, ohne notwendigerweise danach zu trachten, seine Organe zu dem Nutz-Zweck zu gebrauchen, der ihnen eigen ist.40

Hier wird deutlich, dass die Geschlechtsorgane als sozialtherapeutisches Instrument zur Entfaltung diesseitiger Freuden verstanden werden. Die Freude wird dem Zweck der Reproduktion übergeordnet. Innerhalb dieser Aussage stecken wiederum zwei wichtige Botschaften in Bezug auf die Geschlechterfrage und die Sexualität. Erstens werden nicht nur in der zitierten Aussage, sondern auch in dem ganzen Kapitel, dem sie entnommen ist, keine geschlechtsspezifischen Zuschreibungen gemacht, sodass diese Vorstellungen von Sexualität unabhängig von Geschlechtszugehörigkeit gesehen werden können. Zweitens wird Sexualität dahingehend verstanden, dass sie sinnlich und frei ausgelebt werden soll. Hier scheint der implizite Appell ebenso an Männer und Frauen zugleich gerichtet zu sein. Religionshistorisch muss die besondere Spezifität der Raelistischen Religion betont werden. Wie Elizabeth Puttick später zeigen wird, wonach das Thema der Sexualität in Neuen Religiösen Bewegungen stark ambivalent sein kann, so bezieht Susan Palmer diese Tatsache in ihrer Analyse mit ein und sagt: »The Raelian Movement appears to be one of the rare exampels of a NRM that promotes in its 39 Maßgeblich für den akademischen Diskurs über »Gender« war Butler 1990 mit Gender Trouble. Vgl. zusammenfassend Smykalla 2006, 3ff. 40 Rael 1998, 171.

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members a tolerance for sexual ambiguity and encourages homosexual expression.«41 Die Raelistische Religion ist im Umfeld des New Age eben keine »typische« Neue Religiöse Bewegung, scheint jedoch »typische« New Age-Genderdynamiken zu inkorporieren. Erwähnung muss aber auch gerade der Umstand finden, wonach die »Götter« die binäre Geschlechterordnung nicht revidieren, sondern eruieren.42 Wie lassen sich nun die oben zitierten durchaus »sexistischen« Betonungen der Frau als verführerisches Objekt und die egalitären Erziehungsempfehlungen zusammenbringen? Im nächsten Kapitel werde ich die Raelistische Religion vor dem Hintergrund des New Age und der Frauenbewegung untersuchen.

Die Raelistische Religion im Geiste des »New Age«. Kontaktlerufologie, Sci-Fi und (feminine) Partizipation? UFO-Religionen sind Amalgamationen unterschiedlicher Strömungen. Basierend auf Vorstellungen aus der Theosophie, des Spiritismus/Okkultismus und der modernen Esoterik, sind UFO-Religionen43 nicht ohne externe Inkorporationsverfahren zu verstehen (Abb. 3). Wichtig sind an dieser Stelle die sogenannten Kontaktler44, die Botschaften von fremden Wesen aus dem Weltraum erhalten und dementsprechend mit Gruppengründungen auf die Botschaften reagieren. Es sind oft phantastische Botschaften von numinosen Wesen, die paradiesische Vorstellungen proklamieren, um die Welt, die in ihren Augen entzaubert wurde, wiederzuverzaubern. Oft geschieht dies mit »sakraler Technologie«45 und phantastischer oder neu-esoterischer Wissenschaft. Neben dieser charakteristischen Erzählung zeigen sich UFO-Glaubensbewegungen oft in Bezug auf Grenzbildungsprozesse als fluide. Erweisen sich einige Glaubenselemente eher als »fest« oder »exklusiv«, so können gesellschaftliche Diskurse als 41 Palmer 1995, 157. Hervorhebung K.K. 42 Trotz der schriftlichen Fokussierung auf »männliche« und »weibliche« Akteur_innen bietet die Rael-Bewegung verschiedenen sexuellen Identitäten (Homo-/Bi-/ und Transsexuellen) einen Platz. Vgl. Andreas Grünschloß in Referenz auf Palmer 2004 http://wwwuser.gwdg.de/ ~agruens/UFO/clonaid_rael/clonaid.html (zuletzt aufgerufen am 09. 03. 2018). 43 Eine grundlegende Arbeit ist Grünschloß 2004, mit dem Titel Waiting for the »Big Beam«. UFO-Religions and »Ufological« Themes in New Religious Movements. Grundlegend zur Lektüre empfohlen: Partridge 2003. 44 Die zwei wichtigsten Kontaktler_innen in der Anfangszeit waren George Adamski (Vgl. Adamski 1955) und George van Tassel (Vgl. van Tassel 1952). 45 So wie die Rael-Bewegung Schnittstellen zwischen Genetik und Computertechnologie proklamiert, so finden sich z. B. bei der Aetherius Society, welche ich in meiner B.A.-Arbeit in London untersucht habe, technische Apparaturen, mithilfe derer kosmische Energie eingefangen und in humanoide oder geographische Chakren transferiert werden kann. Diese Prozesse dienen der Heilung.

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Wiederverzauberung

Meister

Seltsame Sichtungen Theosophie/ Esoterik

Religiöse Technologien

Neues wissenschaftlich-technisches Weltbild Weltentzauberung

Erklärung

Weltbildkompatibilität Individuelle Erwählung Kollektive Erwählung

Spiritismus/ Okkultismus

Phantastische Wissenschaft

Populärkultur Entzauberung

Paradies (spirituelle Völker, technisch-religiöse Balance)

Abb. 3: Die Graphik zeigt (stark komprimiert) »typische« Beziehungsgeflechte, die für die Formierung von UFO-Glaubensbewegungen charakteristisch sind, Graphik Kilian Knop.

bedrohlich, oder bereichernd und botschaftsfördernd anerkannt werden. Wichtig für die Entstehung Neuer Religiöser Bewegungen sind die Reaktionen auf den Vietnamkrieg und die atomare Gefahr gewesen. Auf der Grundlage u. a. dieser Phänomene sei es zu einer »countercultural rebellion«46 gekommen. In einer Zeit, in der die US-Regierung vielen Menschen aus Asien ein Immigrationsverbot setzte, seien viele Menschen einer »turned East«47-Stimmung verfallen, da sich die Menschen jener Zeit nach religiösen Alternativen und Weltdeutungen sehnten, die eine ganz andere Weltsicht vermitteln sollten, einem New Age. In jener Zeit ist u. a. die ISKCON (International Society for Krishna Consciousness) und die Transcendental Meditation-Bewegung in den »Westen« gekommen. Hier kreuzen sich politische Ideen mit »religiösen« Sehnsüchten und handeln einen neuen Weltentwurf aus. Parallel zu den religiösen und politischen Entwicklungen begann sich in den USA eine eigene unabhängige feministische Bewegung zu entwickeln, die selbstbewusst das Feld der Religionen kritisierte. Rita M. Gross48 zeigt, dass Frauen im 20. Jahrhundert49 erst in jüdisch/christlichen Kreisen bestehende Normen infrage stellten und reformativ agierten. Sichtbar wird dies zum einen in der »Priester-

46 47 48 49

Siegler 2007, 9. Siegler 2007, 9. Vgl. Gross 1996. Auch im 19. Jahrhundert haben Frauen z. B. in den »sectarian movements« eine wichtige Rolle gespielt. Als Beispiel wird die Shaker-Bewegung genannt; vgl. Gross 1996, 35f.

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frage«, in der sich Frauen das Priesteramt erkämpft haben, bis hin zur femininen Korrektur bestehender männlich geprägter Gottesdienstliturgie.50 Der Fokus wird im Folgenden auf die Verbindung von »Weiblichkeit« und dem New Age gelegt. Aus dieser Verbindung können Schlussfolgerungen gezogen werden, inwiefern die Raelistische Religion als New Age-UFO-Religion mit der Kategorie Geschlechterdynamiken korreliert. Lena Jung und Indira Kaffer haben über die »Frauenbewegung im New Age«51 gearbeitet. Nach ihren historischen Forschungen habe es den einen Feminismus nie gegeben, sondern unterschiedliche feministische Strömungen. Sie haben zwei feministische Positionen herausgearbeitet:52 Zum einen gebe es die sogenannten »Spiritualistinnen«, die die Überzeugung haben, dass Spiritualität und Politik zusammen gedacht werden müssen. Zum anderen gab es die sogenannten »Politikerinnen« mit der Auffassung, dass sich genau in dieser Sichtweise des schwachen politischen Kampfes patriarchale Machtstrukturen fortsetzen würden. Die »Spiritualistinnen« verstehen unter Spiritualität im religiösen Sinne »die Vorstellung einer geistigen Verbindung zum Transzendenten, dem Jenseits, oder der Unendlichkeit.«53 Ganz grundsätzlich gehen beide Strömungen jedoch von folgender Maxime aus: »Der Kampf um Selbstbestimmung als Frau bedeutet sowohl die Aneignung gesellschaftlich-öffentlicher Räume, als auch die (Wieder-)Entdeckung innerer Räume sowie des eigenen Körpers und damit eine Aneignung von Wissen und Kenntnissen, von denen Frauen abgespalten und entfremdet worden sein.«54 Mit der Entdeckung des weiblichen Körpers zeige sich auch die Sexualität der Frau. Es scheint jedoch ein Trugschluss zu sein, dass Neue Religiöse Bewegungen grundsätzlich die sexuelle Entfaltung fördern, denn Elizabeth Puttick legt in ihrer Publikation aussagekräftige Unterkapitel vor wie »Celibacy and Sex-Denial in NRMs«.55 Es wird ein ambivalentes Bild des Umgangs mit Sexualität in Neuen Religiösen Bewegungen in Relation zur Frauenbewegung gezeichnet.56 Einige Neue Religiöse Bewegungen regulieren Sexualität sehr stark, andere wiederum fördern sie, aber die Selbstbestimmung der Frau bzw. die Charakterisierung des

50 Vgl. Gross 1996, 39ff. 51 Untertitel des Aufsatzes Jung/Kaffer 2014, 253–271. Dieser Aufsatz beschreibt die Verflechtungen zwischen der Frauenbewegung und dem New Age in Deutschland der 1980er Jahre. Aufgrund des Umstandes, wonach die New Age-»Welle« erst Ende der 1970er Jahre nach Deutschland kam (historische Verzögerung), und des starken wissenschaftlichen Bezuges auf amerikanische Akteur_innen in Verbindung zur deutschen Rezeption jener amerikanischen Akteur_innen rechtfertigen die Bezugnahme des Aufsatzes. 52 Vgl. Jung/Kaffer 2014, 263. 53 Jung/Kaffer 2014, 254. 54 Jung/Kaffer 2014, 263. 55 Puttick 1997, 109. 56 Vgl. Puttick 1997, 101–128.

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Weiblichen57 spielt eine wichtige Rolle. In Bezug auf fernöstliche Philosophieimporte wird das (auch) festgestellt, wonach z. B. das »Yin-Yang Prinzip, das auf dem Gleichgewicht und der Harmonie von ›weiblichen‹ und ›männlichen‹ Werten beruht«58, ebenfalls wichtig war. Es zeigt sich, dass es im New Age auch einen Feminismus gab, der unterschiedlich ausgerichtet war und der nicht prinzipiell auf den Kampf gegen das männliche Geschlecht aus war, sondern die Entdeckung des »Weiblichen« ermöglichen sollte, in Relation zur Feststellung, wonach das »Männliche« und das »Weibliche« offenbar nicht wesensgleich sein müssen. Offenbar ermöglichte das New Age den Frauen sich ihres Selbst bewusst zu werden und dementsprechend auch zu agieren. Dieser Ansicht ist auch Puttick: »The most positive benefit of the enormous range of NRMs on offer is the corresponding rage of choices available to women regarding sexuality, as with other aspects of life.«59 Es bleibt die Frage zu klären, inwiefern die Raelistische Religion diese (femininen) neuen genderdynamischen Positionen aufgreift und wie das Verhältnis religionswissenschaftlich beschrieben werden kann. Ein erster wichtiger Aspekt zeigt sich in der Selbsterkennung als »Frau«, die einen »weiblichen« Körper und damit andere physische Merkmale besitze als der Körper eines »Manns«. Zur Erkennung des »Weiblichen« gehöre auch das Bejahen der eigenen Sexualität. In der Raelistischen Religion wird auch die »weibliche« Sexualität betont, denn in Bezug auf Sexroboter wird gesagt: Außerdem können die Männer, die neben den Beziehungen unter Gleichberechtigten […] eine oder mehrere, ›biologische Roboter‹-Frauen haben, die absolut ergeben sind und denen die Maschine haargenau das jeweils gewünschte Aussehen gibt. Dasselbe gilt für die Frauen, die einen oder mehrere vollkommen ergebene ›biologische Roboter‹Männer haben können.60

Ebenfalls soll das Verhältnis zwischen »Männern« und »Frauen« im Gleichgewicht und in Harmonie sein. Von der kritisch feministischen Seite wurde die männliche Hegemonie über die Frau und die klassische Geschlechterrolle kritisiert.61 In den Schriften der Raelistischen Religion ist Folgendes zu lesen: »Nein, die Frauen sind frei und die Männer auch. Paare gibt es, und die, die als Paar leben wollen, können dies tun, aber sie sind frei, sich jederzeit für ihre Freiheit zu entscheiden. Wir lieben alle einander. Eifersucht gibt es nicht, da alle Welt alles 57 Das New Age ermöglichte offenbar das Suchen und Erkennen »des Weiblichen«: »Zugleich ging es in den Debatten (70er) um die Suche nach etwas ursprünglich und authentisch Weiblichem, das der technokratisch-industriekapitalistischen und damit patriarchalen Gesellschaft gegenübergestellt wurde.« Puttick 1997, 261. 58 Puttick 1997, 257. 59 Puttick 1997, 127f. 60 Rael 1998, 150f. 61 Vgl. Vicinus 1983.

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haben kann und es kein Eigentum gibt. Es gibt keine Kriminalität bei uns, und folglich weder Gefängnisse noch Polizei[…].«62 Auch an dieser Stelle scheinen relationale Verbindungen vorzuliegen. Wie Martha Vicinus betont, spielt die Frage der Macht eine sehr bedeutende Rolle, weil sie immer zwischen der Verständigung zwischen den Geschlechtern liege. Diese Textpassage könnte als Beleg fungieren, dass Machtverhältnisse zumindest als Konzept neu repräsentiert werden bzw. neu ausgehandelt wurden, sodass sich mir hieraus die Annahme ergibt, dass neben den bereits dargestellten Elementen von New Age (UFO-)Religionen, sich auch die Verbindung zwischen emanzipatorischen New Age-Gedanken und der Raelistischen Religion zeigen. Doch diese Annahme muss ausdifferenziert werden. In Aliens Adored63 wird, neben der Möglichkeit sich sexuell frei zu entfalten, auch eine »neue« Deutungsperspektive gegeben. 1997 habe Rael eine Botschaft der Elohim erhalten, in der er dazu aufgefordert wurde, eine Art dauerhaftes Empfangskomitee für die Elohim in der Botschaft zu gründen.64 »The Order of Raëls Angels« ist eine weibliche »Elitegruppe«, die sich ausschließlich um die Elohim auf der Erde kümmern soll. Neben kulinarischen werden auch sexuelle Leistungen erwartet.65Hier zeigt sich demnach eine nach körperlichen Eigenschaften und normativen Geschlechterbildern hin orientierte Auswahl. Es wäre zu diskutieren, inwiefern sich hier trotz allem ein Sexismus zeigt. Neben den emanzipatorischen Elementen zeigt sich auch eine Verhaftung in stereotypen Geschlechterbildern. Die Raelistische Religion erweist sich also bezüglich Genderrollen, besonders der Frauen, als ambivalent im Sinne eines fluiden Pendelns zwischen emanzipatorisch-feministischen Konzepten und gleichzeitigen traditionell-stereotypen praktischen Vorstellungen.

Religion als kulturinnovative »Teigschüssel«? Schlussgedanken Wie gesehen, zeigt sich ein ambivalentes Verhältnis der Raelistischen Religion bezüglich Geschlechterrollen und Körpervorstellungen. Trotz sexualisierender Darstellungen beider Geschlechter, wobei Frauen stärker sexualisiert dargestellt werden, zeigen sich typische New Age-Aspekte der Frauenbewegung in der Raelistischen Religion. Von Beginn der Raelistischen Religion an bis in die Gegenwart hinein scheint die Bewegung als Speichermedium zu fungieren, in dem solche Vorstellungen weiterexistieren. Dennoch hat die Analyse gezeigt, dass 62 63 64 65

Rael 1998, 99. Vgl. Palmer 2004. Vgl. Palmer 2004, 134ff. Vgl. Palmer 2004, 136.

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konstruktivistische Vorstellungen von Geschlechtlichkeit nicht berücksichtigt werden können. Feministische New Age-Gedanken sind hingegen erkennbar, sodass sich eine Verschränkung mit historischen Diskursen der Frauenbewegung im New Age zeigt. Eine abschließende Beschreibung kann wie folgt aussehen: Die Raelistische Religion konzipiert einen Futurismus, der den Körper und das Geschlecht verwissenschaftlicht und ihn somit einer durch technische Beherrschbarkeit neuen Wahrnehmung aussetzt, aber die geschlechtsspezifischen Eigenschaften betont. Es entsteht ein konstruierter Individualismus, der trotz objektiver Geschlechtszuschreibungen eine wertneutrale Sozialisation gewährleisten soll. Individuen, unabhängig des Geschlechtes, begegnen sich in Anerkennung füreinander, sodass sowohl feministische als auch nicht heteronormative Vorstellungen hier in einem religiösen Gewand repräsentiert sind. Es ist dementsprechend nicht verwunderlich, dass die Raelistische Religion vielen Menschen jenseits heteronormativer Ordnungen eine neue, spirituelle Heimat gegeben hat.66 Gleichzeitig zeigen sich aber auch stereotype binäre Vorstellungen, vor allem im Hinblick auf Sexualität. Die Fallstudie kann also darlegen, dass die Raelistische Religion – und vielleicht sogar allgemeiner viele Neue Religiöse Bewegungen – in Sachen Geschlechterfragen zwischen innovativen und traditionellen Weltbildern sowie zwischen Stereotypen und dem Aufbrechen dieser pendeln. Religionen scheinen problemlos Gegensätze vereinen zu können. Weiterführende Forschungen könnten neue Erkenntnisse über die Frage liefern, inwieweit Neue Religiöse Bewegungen feministische und trans-gender/anti-heteronormative Strömungen synthetisieren und konsensfähig machen. Wie sehen feministische und gendertheoretische Geschlechterbilder aus? Wie werden sie in Neuen Religiösen Bewegungen gelebt oder inwieweit auch nicht? Wie lassen sich solche Transferprozesse, bzw. Transformationsprozesse religionsgeschichtlich erklären? Um diese Forschungsfragen zu untersuchen, sind in erster Instanz die Verbindungen zu lokalisieren und zu beschreiben, und in diesem Sinne hoffe ich Verbindungspunkte zwischen der Raelistischen Religion und einigen feministischen Gedanken des New Age ausfindig gemacht und dargestellt zu haben.

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66 Vgl. Palmer 1995, 170ff.

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Kristina Göthling-Zimpel

Verführung hinter Klostermauern? Nunsploitationfilme: Das Spiel mit Voyeurismus und Exhibitionismus am Beispiel von Ken Russells THE DEVILS

Der Film The Devils1 vom britischen Regisseur Ken Russell, produziert in England im Jahr 1971, lässt sich dem historischen Drama2 zuordnen. Jedoch ist diese Zuteilung nicht ganz einfach, da dieser Film u. a. Elemente des Exploitationfilms, spezifischer des Nunsploitationgenres aufweist. Zudem ist anzumerken, dass Historienfilme nicht das Ziel haben, Geschichte faktengetreu darzustellen. Historiker_innen nehmen nur selten Einfluss auf die Produktion von historischen Filmen: »Films are inaccurate. They distort the past. They fictionalize, trivialize, and romanticize people, events and movements. They falsify history«3. Mit dem US-amerikanischen Historiker und Autor Robert A. Rosenstone sind die Kriterien zum Falsifizieren von Geschichte folgende: Historie wird aus dem Kontext gegriffen und ihr wird ein Anfang, eine Mitte und ein Ende gegeben – d. h. history wird zur story. Um eine genaue zeitliche Eingrenzung zu geben, wird häufig zu Beginn des Films – entweder durch eine Stimme aus dem Off oder eine Einblendung – eine Einführung in den historischen Kontext gegeben. Diese story orientiert sich an Individuen, die durch besondere Handlungen herausstechen. Durch diese personalisierte Geschichte wird die Historie zudem emotionalisiert und dramatisiert. Weiter wird versucht, die historische Kulisse des Films anhand von eindeutigen Markern, wie Kleidung, Architektur o. ä., klar zu kennzeichnen. Die Historie kann zudem auch nur als mediale Kulisse fungieren: Dies wird u. a. sichtbar, wenn moderne Themen dem historischen Kontext zugeordnet werden und so in einer filmischen Umsetzung behandelt werden.4 Doing religion ist ein Begriff, der auf religiöse Charaktere in Filmen angewandt werden kann: Die prozesshafte Konstruktion von Figuren, die religiös handeln und somit zu Repräsentierenden von Religion werden, sind Teil von medialen 1 2 3 4

The Devils (Ken Russell, GB 1971). Vgl. Rosenstone 2001, 52. Rosenstone 2001, 50. Vgl. Rosenstone 2001, 55–60; Heimerl 2004, 13.

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Abb. 1: Erste Einblendung, Filmstill The Devils (Ken Russell, GB 1971), 00:00:29.

Darstellungen. Diese fiktiven Darstellungen beeinflussen gleichzeitig auch das Idealbild von Personen aus der religiösen Sphäre, was wiederum die Entstehung von stereotypen Vorstellungen mitbedingt.5 Idealbilder, wie beispielsweise das des Priesters, sind Verknüpfungen von historischen Befunden, theologischen Dogmen, praktischer Umsetzung und letztendlich medialer Darstellung.6 Die Geschichte der französischen Kleinstadt Loudun im 17. Jahrhundert bildet die Basis für The Devils. Thematisch steht die institutionalisierte Verfolgung des Priesters und Stadtverwalters Urbain Grandier im Fokus. Zentral ist zudem die Rolle der Jeanne des Anges, deren amour fou zu Urbain Grandier sich zur Besessenheit steigert und den Fall Grandiers bedingt. Den historischen Kontext bildet der Kampf des katholischen Absolutismus in Person des Kardinal Richelieu gegen die protestantischen Hugenotten. Diese Erzählung beruht auf historischen Ereignissen, und die Aufzeichnung über und von den realen Personen Jeanne des Anges und Urbain Grandier dienen als historische Quellen. Der kanadische Autor und Filmkritiker Richard Crouse behauptet: »The Devils […] is a Christian film about a sinner who becomes a saint.«7 Der Film lässt sich zu unterschiedlichen Genren zuordnen: Die Verbindung zu den Exploitationfilmen ist in bei The Devils zusätzlich gegeben, jedoch sind die erotischen Momente dieses Genres hier Teil eines anspruchsvolleren Arthouse Films. Daher erscheint es mir sinnvoll, The Devils spezifisch auf seine Exploitationelemente hin zu untersuchen und dabei die These zu verfolgen, dass sich dieser Film expliziter dem Nunsploitationgenre zuordnen lässt. Hierfür werden die Geschlechterkonstruktionen im Film herausgearbeitet sowie die Mechanismen zur Determinierung ebendieser. Allen voran sollen Blickregime, spezifischer der männliche Blick im Fokus dieser Analyse stehen.

5 Vgl. Wright 2007, 443. 6 Vgl. Brosseder 1997, 572. 7 Crouse 2012, 53.

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Ken Russells THE DEVILS Ken Russells The Devils ist im deutschsprachigen Raum unter Die Teufel bekannt. Produziert wurde er 1971 in Großbritannien von Ken Russell, der zudem auch das Drehbuch verfasste. Geprägt ist The Devils von Themen wie Sexualität und Religion, die in einer starken symbolischen Bildsprache medialisiert werden. Die Hauptdarstellenden sind Oliver Reed als Urbain Grandier und Vanessa Redgrave als Jeanne des Anges. Neben der bereits angeführten Handlung rund um die vermeintliche Besessenheit von Jeanne des Anges und die instrumentalisierte Hexenjagd nach Urbain Grandier ist der Film geprägt von einer Morbidität, die sich u. a. in einer Allgegenwärtigkeit des Todes zeigt. Auffallend ist, dass die Geschehnisse in The Devils zwar Historizität beanspruchen, jedoch keine eindeutige Bestimmung von Zeit und Ort zu Beginn des Films genannt wird. Die Stadt Loudun ist verhältnismäßig schnell als Handlungsort auszumachen, die historische Zeit lässt sich jedoch eher an den historischen Figuren, wie Urbain Grandier, Kardinal Richelieu und Ludwig XIII, festmachen. Das 17. Jahrhundert als Handlungszeit wird zudem an den dargestellten Themen, wie u. a. dem Hexenglauben nachvollziehbar. Andere Marker sind nicht eindeutig gegeben: Die Kleidung der Figuren ist historisierend, die Architektur hingegen mutet modern an.

Abb. 2: Ansprache Urbain Grandiers zu dem Volk Louduns, Filmstill The Devils (Ken Russell, GB 1971), 00:38:40.

Zudem wird dies durch moderne, disharmonische, verstörende Musik unterstützt, welche durch die Geschehnisse führt. Russell wurde zum einen von der polnischen Verfilmung des Stoffes Mother Joan of the Angels beeinflusst und zum anderen von dem Werk Die Teufel von Loudun von Aldous Huxley, jedoch war es sein Ziel, weit mehr zu polarisieren. So

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sagt Russell über Huxleys Werk: »It was soft-centered: it wasn’t hard enough.«8 Ken Russell behauptete, dass es einzig auf seiner eigenen katholischen Sozialisation beruhe, dass er The Devils eine solche drastische Darstellungsweise und Geschichte gegeben hat.9

Handlung und (Haupt-)Charaktere in THE DEVILS The Devils spielt im 17. Jahrhundert in Frankreich, das geprägt ist von Kardinal Richelieu, der im Begriff ist, seine Machtposition zu stärken. Hierfür versucht dieser, gegen Protestant_innen vorzugehen, indem der Kardinal den amtierenden König Ludwig XIII davon überzeugt, die Stadt Loudun unter königliche Herrschaft zu stellen und ihrer Autonomie aufzuheben. Zuvor hatte es ein Abkommen zur Verschonung Louduns zwischen dem Stadthalter und Ludwig XIII gegeben, das jedoch mit dem Tod des alten Gouverneurs und dem Amtsantritt Urbain Grandiers neu ausgehandelt werden musste. Urbain Grandier war neben seiner verwaltenden Position zudem Priester: In dieser Rolle polarisierte er jedoch sehr stark, da er ein weltliches Leben fern vom Zölibat führte.10 Richard Course bezeichnet ihn als horndog.11 Die Schwangerschaft der jungen Philippine, Tochter des Monsieur Trincant, der später Mitkonspirant der Hexenverfolgung Grandiers werden sollte, bildet mit Empfängnis und Entbindung den Rahmen der Erzählung in The Devils. Die Gegenspielerin12 Grandiers ist Jeanne des Anges – Äbtissin des Ursulinerinnenklosters in Loudun –, deren unerwiderte Liebe sich in eine (sexuelle) Besessenheit zu Urbain Grandier entwickelt. Jeanne ist körperlich deformiert und zeichnet sich durch ein unbeständiges Wesen aus, das sich zwischen Hysterie und kühler Ratio bewegt. Die Äbtissin bildet quasi ein Paradebeispiel für stereotype weibliche Hysterie, die sich zwischen Liebe, Wollust, Begehren sowie Schmerz- und Todessehnsucht bewegt.13 Jeannes amour fou zeigt sich mitunter in Visionen von Grandier, die sich »wortwörtlich [zur] Apotheose [steigern], sowie [zur] haltlose[n] Fetischisierung seiner Person.«14 Grandier hatte Richelieu öffentlich kritisiert und wurde so Opfer politisch motivierter Verfolgung.15 So wird er der Hexerei bezichtigt, da Jeanne des Anges 8 9 10 11 12

Crouse 2012, 46. Vgl. Crouse 2012, 46–48. Vgl. Langhorst 2015, 2. Vgl. Crouse 2012, 40. Jeanne des Anges ist nicht wirklich eine aktive Gegenspielerin, sie wird eher dazu gemacht, indem ihre unerwiderte Liebe als Mittel für den Sturz Grandiers instrumentalisiert wird. 13 Vgl. Langhorst 2015, 12f. 14 Langhorst 2015, 14. 15 Vgl. Crouse 2012, 41.

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Pater Mignon vom lasterhaften Leben Grandiers berichtet und ihre Visionen erwähnt hatte. In einem konspirativen Treffen planen Baron de Laubardemont, selbst im Dienste Richelieus, sowie Mignon und Monsieur Trincant – der Vater von Philippine – den Exorzismus von Jeanne des Anges sowie dessen Nutzung, um Grandier zu Fall zu bringen. Pierre Barré tritt hierbei als Schlüsselfigur auf, die mit besonders grausamen Methoden den Exorzismus durchführt. Im Zuge dessen wird immer deutlicher, dass alle Nonnen des Ursulinerinnenklosters mehr oder weniger stark besessen sind und sexuelle Ausschweifungen, in Form von Masturbation und (homosexuellen) Geschlechtsakten, ausleben.

Abb. 3: Obsession der Nonnen, Filmstill The Devils (Ken Russell, GB 1971), 01:09:47.

Mit dem durch Folter gewonnen Zugeständnis, dass der Dämon Asmodeus16 von Schwester Jeanne durch Urbain Grandier Besitz ergriffen habe, wird Grandier nun endgültig überführt. Grandier tritt hier als standhafter Held auf, dessen Ziel es war, die Stadt Loudun vor den Einflüssen der Obrigkeit zu bewahren. Diese Beharrlichkeit bewahrt er bis zu seinem Tod auf dem Scheiterhaufen. Hier wird Grandier in sich ruhend dargestellt, während das Volk um ihn herum seinem Tod keine Aufmerksamkeit schenkt. Parallel zu seinem Tod werden die Stadtmauern gesprengt und somit das Ende der Autonomie besiegelt. Schwester Jeanne befriedigt sich am Ende mit einem Knochen des toten Grandiers selbst, und findet so – bedingt – Erfüllung in ihrer unerfüllten Leidenschaft. The Devils fußt historisch auf den Memoiren einer Besessenen – einer Quellensammlung verfasst von Jeanne des Anges. Diese wurde historisch, zusammen mit weiteren Akten zum Fall Grandier und der kollektiven Besessenheit in Loudun, in Aldous Huxleys literarischem Werk Die Teufel von Loudun erstmals aufgearbeitet.17 Der historische Kontext der dargestellten Geschehnisse in 16 Asmodeus steht für wollüstiges Begehren.Vgl. des Anges 2008, 94–98. 17 Beide Quellen behandeln auch das Auftreten von Pater Surin, das in The Devils nicht thematisiert wird, wohl aber in Mother Joan of the Angels (Jerzy Kawalerowicz, PL 1961).

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Loudun liegt in der Blütezeit des Absolutismus, die vom Nachfolger König Ludwigs XIII, Ludwig XIV, dann zum Höhepunkt getrieben wurde. Der dargestellte Zeitraum umfasst die 1630er Jahre, die in The Devils auf den Zeitraum von neun Monaten herunter gekürzt werden. 1632 beschuldigten die Nonnen des Ursulinerinnenklosters Grandier der Verhexung. Die Besessenheitswelle, in der nicht nur Jeanne des Anges, sondern auch die anderen Nonnen angaben, behext worden zu sein, fand historisch 1633 statt. Die Hinrichtung Grandiers folgte im Jahr darauf – 1634.18 Jeanne des Anges verfasste nach dem erfolgreichen Exorzismus ihre Memoiren und berichtet darin von ihrer und der Besessenheit anderer Nonnen. Die Äbtissin erläutert den Umstand, dass Grandier den Teufelspakt19 schloss, um sie und ihre Ordensschwestern zu verhexen. Sie berichtet weiter von sieben Dämonen, deren Haupt der Wollust symbolisierende Asmodeus war.20 Diese Aspekte sind in The Devils getreu dargestellt: des Anges Obsession wie auch die personifizierte Begierde in Grandier. Die Memoiren beschreiben zudem die körperlichen Beeinträchtigungen der Oberin. Auch die Ausschweifungen Grandiers finden Erwähnung, so wird beispielsweise seine Ehe mit Magdalene de Brou sowie die Schwangerschaft der Philippine Trincaut erwähnt.21 Auf Basis des Werkes von Aldous Huxley lassen sich ähnliche Parallelen finden. Huxley, bekannt als Buchautor von Brave New World (1932), verfasste sein literarisches Werk zur kollektiven Besessenheit 1952 in Loudun. Er räumt Zweifel an der Besessenheit der Nonnen ein und hinterfragt zudem kritisch den Kontext der Instrumentalisierung der Verfolgung Grandiers sowie die (psychischen) Auswirkungen der Folter und des Exorzismus, die den Eindruck der Besessenheit hätten verstärken können.22 Dieser kritische Impetus findet sich auch im Film The Devils von Ken Russell wieder, der ebenfalls einen Fokus auf den konspirativen Plan zum Sturz Grandiers legt und so deutlich betont, dass die Nonnen als Opfer der Folter in ihre Besessenheit getrieben werden, bzw. unklar bleibt, ob sie eventuell auch nur unter sexueller Frustration leiden, die sich in wollüstigen Visionen, jedoch nicht in dämonischem Wirken ausdrückt. Huxley personifiziert Grandier ebenfalls als einen Priester mit einem »herzhaften geschlechtlichen Appetit«.23 Er untermauert diesen Umstand mit einem 18 Vgl. des Anges 2008, 75. 19 Der Teufelspakt gilt als eines der zentralen Motive des Hexenstereotyps und muss in der Frühen Neuzeit als besonders schwere Anschuldigung sowie eindeutiger Beweis der Hexerei verstanden werden. Vgl. hierzu u. a. Angenendt 2007, 303–305, 318. 20 Vgl. des Anges 2008, 94–98. Die weiteren Dämonen waren: Leviathan, Behemoth, Isaakaaron, Baalaam, Gresil und Hamam. 21 Vgl. des Anges, 27f., 36, 40f. 22 Vgl. Sorfa 2012, 3. 23 Huxley 1992, 15.

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Verweis auf dessen Abhandlung zum Zölibat, in der sich Grandier eindeutig von den strengen Regeln der Ehelosigkeit distanziert.24 Dieser Aspekt Urbain Grandiers findet sich ebenfalls in Ken Russells Verfilmung wieder: Auch hier legt Grandier die Gesetze des Klerus nach eigenem Gusto aus, um sein weltliches Leben zu rechtfertigen. Huxley benennt auch die Methoden von Pierre Barré detailliert:25 [A]m 8. Oktober 1632, gewann Barré seinen ersten größeren Sieg, indem er Asmodeus in die Flucht schlug, einen der sieben Teufel, die ihren Wohnsitz im Körper der Priorin [Jeanne des Anges] aufgeschlagen hatte. Durch den Mund der Besessenen sprechend enthüllte Asmodeus, daß er im tieferen Teil des Bauchs verschanzt war. Länger als zwei Stunden rang Barré mit ihm […]. Aber statt zu entweichen, lachte Asmodeus bloß und äußerte ein paar scherzhafte Blasphemien. Ein anderer Mann hätte sich geschlagen gegeben. Nicht so Monsieur Barré. Er befahl, die Priorin in ihre Zelle zu tragen und sandte eilig nach dem Apotheker. Monsieur Adam kam und brachte das klassische Abzeichen seines Berufs mit, die riesige Messingspritze […]. Ein Quart Weihwasser stand schon bereit für ihn. Die Spritze wurde gefüllt, und Monsieur Adam trat an das Bett, auf welchem die Mutter Oberin lag. Asmodeus, der wahrnahm, daß sein letztes Stündlein gekommen war, bekam einen Anfall. […] Die Gliedmaßen der Priorin wurden gepackt, kräftige Hände hielten den zuckenden Körper fest, und mit einer Geschicklichkeit, die aus langer Praxis stammte, verabreichte Monsieur Adam das mirakulöse Abführmittel. Zwei Minuten später hatte Asmodeus seinen Abschied genommen.26

Diese ausführliche Beschreibung der Teufelsaustreibung wird in der filmischen Umsetzung Russells aufgegriffen. In der intensiven Exorzismusszene der Jeanne des Anges wird dieser auch durch Pierre Barré und den Apotheker durchgeführt. Ergänzend tritt hier noch der Wundarzt Mannoury auf. Die Anwendung des Klistiers wird jedoch in Russells Adaption noch stärker sexualisiert und dramatisiert. In seiner Version der Teufelsaustreibung wird ein metallischer Dildo mit kochendem Weihwasser gefüllt, der die Reinigung bezwecken soll. Im Sinne Rosenstones liegt somit eine Emotionalisierung und Dramatisierung des eigentlichen historischen Umstandes vor – sowohl bei Huxley als auch bei Russell.

24 Vgl. Huxley 1992, 20. 25 Huxley nutzt zwar in seinem Werk historische Quellen, dennoch ist es offensichtlich – Die Teufel von Loudon ist in erster Linie ein Roman – dass auch Huxley fiktive Momente sowie stilistische Mittel ergänzt. 26 Huxley 1992, 135f.

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Hauptthemen in THE DEVILS The Devils behandelt historische Geschehnisse mit einem hohen Abstraktionsgrad. Dieser wird an der Aktualität der behandelten Themen des Filmes sichtbar. Allen voran zeigt sich dies in einer Religionskritik.27 Diese ist in mannigfaltiger Gestalt vorhanden: zum einen in der gewaltsamen Praktik des Exorzismus, zum anderen im Fanatismus Richelieus, der versucht die protestantischen Strömungen zu vernichten. Richard Crouse sieht eines der Hauptthemen in der Auflehnung Grandiers gegen die bestehende Ordnung. Grandier repräsentiert hierbei das Paradoxon der Kirche, deren Doppelmoral zwischen strengen Regeln und Luxus liegt. Diese Themen finden Ausdruck in der Figur des Gouverneurs: allen voran das Recht auf Individualität sowie religiöse Freiheit.28 Das Streben nach dieser Freiheit zeigt sich in Grandiers Ausbrüchen gegen das Zölibat, sowie in seinem Auflehnen gegen Kardinal Richelieu. Seine letzten Worte »Forgive me for defending your city so badly« zeigen seinen standhaften Kampf um Autonomie und die Unrechtmäßigkeit seiner Verurteilung. The Devils thematisiert zudem den Konflikt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Die Selbstbestimmung hat mit Grandier einen unerbittlichen Kämpfer, der durch Richelieu und den symbolträchtigen Fall der Stadtmauern jedoch besiegt wird. Dieser Kampf wird von einer Herrschaftskritik begleitet, die sich in der humoristisch und effeminierten Darstellungsweise der Obrigkeit zeigt. Neben diesem Aspekt sind die Themen Tod, Leid und Sexualität omnipräsent.

Abb. 4: König Ludwig XIII in der Geburt der Venus, Filmstill The Devils (Ken Russell, GB 1971), 00:00:44.

27 Vgl. Langhorst 2015, 7, 16. 28 Vgl. Crouse 2012, 47–51.

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Geschlechterrollen und Stereotype in THE DEVILS Ken Russell arbeitet in seinem Film mit vielen Repräsentant_innen des römischkatholischen Christentums: Nonnen, Priestern, Kardinälen. Sie verweisen zudem auf stereotype Geschlechterrollen, die durch die starke Betonung der Sexualität in The Devils verstärkt werden. Jeanne des Anges tritt als Stereotyp einer sexuell frustrierten Nonne auf. Sie begehrt Urbain Grandier so stark, dass sich dies in einer Besessenheit äußert. Die Empfänglichkeit gegenüber dem Teufel wird zudem auch tendenziell dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, das u. a. in der Religionsgeschichte als sexuell williger sowie emotionaler galt. So lassen sich in der Religionsgeschichte des Christentums immer wieder derartige Verweise finden. An plakativer Stelle findet sich dies u. a. in der Vorstellung des Teufelspakts, der für die Hexenverfolgungen in der Frühen Neuzeit zentral war. Auch dort wurde die Frau als untergeordnet gelesen und galt in der Tradition des Sündenfalls und somit in direkter Verbindung zu Eva als naiver und empfänglicher für die List des Teufels.29 Jeannes Figur übt zudem Kritik, indem sie davon spricht, dass Klöster ein Ort der Erniedrigung der Frau seien, da Nonnen sich dort nur aufhielten, wenn sie zu hässlich für eine Hochzeit wären und/oder ihren Familien finanziell zur Last fielen. In Jeannes des Anges Visionen, in denen Grandier einer Apotheose gleich zu Jesus Christus wird, nimmt sie die Gestalt der Maria Magdalena an.30 Erkenntlich wird dies durch ihre langen roten Haare sowie an der expliziten Fußwaschungsszene. Anzumerken ist, dass Ken Russell hier mit der kirchengeschichtlichen und ikonographisch gewachsenen Figur der Maria Magdalena arbeitet, die nicht mit den entsprechenden biblischen Figuren einhergeht. Tritt sie dort noch als Erstzeugin der Auferstehung mit apostolischer Aufgabe auf, verschmilzt sie im Verlauf der Geschichte mit mehreren weiteren Figuren, wie die der namenlosen Sünderin.31 Somit verkörpert Jeanne des Anges verschiedene Stereotype in ihrer Rolle. Zum einen den der hysterischen Frau, die sexuell wie auch geistig außer Kontrolle geraten ist. Auffallend ist, dass diese Kontrastierung von Heilige oder Hure kollektiv von den Nonnen aufgegriffen wird (s. Abb. 3): All diese handeln widernatürlich hysterisch und müssen von Männern oder Gott beruhigt werden. Zum anderen spiegelt sie den Aspekt der sexuell frustrierten Nonnen wider, die sich in Tagträume rettet. All dies greift zusammen und verstärkt sich in dem Bild der Maria Magdalena. Somit thematisiert sie die Problematik des Zölibats und kritisiert die klösterlichen Regeln.

29 Vgl. Brunner 2011; zum Thema Hexen und Teufelspakt vgl. u. a. Frenschkowski 2012. 30 Vgl. Langhorst 2015, 14. 31 Vgl. Taschl-Erber 2008.

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Priesterbilder sind ebenso präsent: Auf der einen Seite wird dieser christliche Repräsentant durch Urbain Grandiers weltliche Orientierung vertreten, zum anderen durch die Figur des Pater Mignon oder Pierre Barré, die sich prinzipientreu, jedoch auch fanatisch lesen lassen: Grandier ist in The Devils ein horndog, der sich willentlich Liebschaften hingibt.32 Seine Figur arbeitet also stark mit dem Aspekt der Sexualität, ähnlich wie Jean des Agnes. Während sie jedoch ihre nur versteckt ausleben kann, kann sich Grandier Schlupflöcher suchen, um sexuelle Befriedigung zu erlangen. Ihm wird demnach eindeutig der aktive, handelnde Part zugesprochen, der nach Veränderung sucht und diese herbeiführt, während Jeanne als Passive sich ihrem Schicksal fügen muss. Die Problematik des Zölibats ist demnach in Grandier personifiziert. Grandiers Lüsternheit wird ergänzt mit seiner Stärke, mit der er versucht, Loudun zu retten, und gegen die Obrigkeit kämpft. Diese Verbindung von religiöser Kompetenz und politischer Macht geht mit dem Idealbild des Priesters einher.33 Grandier vereint das Stereotyp des Priesters, der mit dem Zölibat ringt, mit dem des starken, heldenhaften Mannes, der sich für Veränderung und Autonomie einsetzt. Die historische Figur des Kardinal Richelieus war bekannt für seinen unbeugsamen Willen und stand als Principal ministre dem König besonders nahe. Ludwig XIII hatte ihn, nachdem er seiner vorherigen Regentin Maria de Medici ins Exil gefolgt war, wieder in den Staatsrat berufen. Sein Ziel war die politische Einheit Frankreichs, die nur durch einen unerbittlichen Kampf gegen die Protestant_innen erreicht werden konnte. Richelieu bedingte den französischen Absolutismus sowie die Dominanz Frankreichs im 17. Jahrhundert.34 Als Kardinal galt Richelieu als höchster Würdenträger nach dem Papst. Richelieu wird in der filmischen Darstellung als verschwenderisch und luxusliebender Kardinal dargestellt, der sein Amt zwecks Sonderbehandlungen ausnutzt. Zudem wird Richelieu als weiblich und schwächlich dargestellt, was am mobilen Stehstuhl wie auch an seiner Eitelkeit sichtbar wird.35 Ihm gegenüber steht der androgyne König Ludwig XIII, der sich mit politischen Themen nur sehr wenig befasst. Richelieu verkörpert demnach das Stereotyp des machtgierigen Kardinals, der versucht, jede noch so kleine Stadt dem höheren Ziel – das katholische Frankreich – zu unterwerfen. Er erfüllt nicht die Kardinaltugenden und spiegelt somit eher das Bild des Machtmissbrauchs wider. Religiöse Regeln spielen keine Rolle für ihn.

32 33 34 35

Vgl. Crouse 2012, 40. Vgl. Paus 1997, 559. Vgl. Papenheim 1997, 1176f. Vgl. Langhorst 2015, 16. Meines Erachtens könnte jedoch der Gebrauch des Stehstuhls auf Trägheit verweisen.

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Pater Mignon tritt als Priester gegensätzlich zu Grandier auf. Er verkörpert ein prinzipientreues, gottgefälliges Leben nach katholischen Regeln. Pierre Barré verkörpert ein ähnliches Stereotyp, jedoch wird dieses noch um religiösen Fanatismus sowie extreme Gewaltbereitschaft ergänzt. Somit arbeitet Ken Russell mit einer Vielzahl von christlichen Repräsentant_innen, die jedoch alle ihren klassischen Stereotypen sowie Geschlechterrollen folgen. Die weiblichen Repräsentantinnen (Nonnen) treten als hysterisch und dem Mann untergeordnet auf. Eine sittsame Frauengestalt findet sich in Magdalene de Brou, die spätere Ehefrau Grandiers. Den Frauen wird eine passive Rolle zugewiesen, die keinen Handlungsspielraum zulässt. Die Aktivität liegt ausschließlich bei den Männern. Hierbei liegen zwei konkurrierende Männlichkeiten vor: zum einen der sexualisierte und sexuell aktive, starke, sich nach Veränderung sehnenden Urbain Grandier, der das Bild des zweifelnden religiösen Experten verkörpert. Zum anderen die konservativen, fanatischen Priester, Mignon und Pierre Barré, die der Obrigkeit – Kardinal Richelieu – gehorchen, ihren Glauben und ihre Handlungen nicht hinterfragen und Befehlen folgen.

Nunsploitation? THE DEVILS als Befriedigung männlicher Schaulust Das Filmgenre des Exploitationfilms leitet sich von dem englischen Ausdruck exploitation ab, der Nutzung oder Ausbeutung bedeutet. Filme dieses Genres arbeiten mit gewaltverherrlichenden und blutigen Bildern, um die Schaulust ihres Publikums zu befriedigen.36 Der Nunsploitationfilm stellt eine spezielle Form dieses Genres dar und spielt zumeist im Mikrokosmos Kloster. Der Blick dahinter, der sonst nur Eingeweihten gewährt wird, bildet das besondere Faszinosum.37 Dargestellt sind zudem immer Nonnen in Ordenstracht sowie Verstöße gegen die Klosterregeln. Diese Regelverstöße gehen zudem mit sexuellen Handlungen einher. Das Genre beinhaltet Filme, die eher dem pornographischen Bereich zugeordnet werden, ebenso wie Literaturverfilmungen, zu welchen The Devils im weitesten Sinne zählt.38 Ausgehend von den seduktiven Strategien des filmischen Mediums will der Film zum einen zu sich selbst verführen, zum anderen eine spezifische Aussage sowie eine Metaebene vermitteln. Die Vermittlung ist hier ebenso als Verführung zu betrachten.39 D. h. bei The Devils ist es Russells Ziel, dass die Kritik am fanatischen katholischen Glauben auf der Metaebene zu lesen ist, und die Aus36 37 38 39

Vgl. Bender 2012. Vgl. Stiglegger 1999, 25–30. Vgl. Kaczmarek 2012. Vgl. Stiglegger 2006, 9.

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sage zentral, dass der Kampf für einen individuellen, freien Glauben nicht erfolglos sein darf. Als Mittel dieser Verführungsstrategien des Films wird der Blick genutzt, der sowohl Macht als auch Unterwerfung versinnbildlicht.40 Die aktive Sichtweise, die ein_e Zuschauer_in einnimmt, während er_sie einen Film schaut, bezeichnet Laura Mulvey, britische Filmtheoretikerin sowie Feministin, als männliche. Die Lust des Films liegt in der Befriedigung der visuellen Lust, der objektbezogenen Schaulust. Die Frau ist hierbei zumeist Objekt des erotischen Blickes der männlichen Hauptfigur, welchen der_die Zusehende einnimmt.41 Laura Mulvey formulierte ihre feministische Filmtheorie im Jahr 1975 und arbeitet mit einer Kombination aus »structuralism, semiotics, and psychoanalysis to examine the subtexts of films.«42 Mulvey unterscheidet in Voyeurismus und Exhibitionismus. Mit Sigmund Freud führt sie den Begriff der Skopophilie ein, eine Schaulust, die das Angeschaute zum Objekt degradiert: »[T]aking other people as objects, subjecting them to a controlling and curious gaze.«43 Auf der anderen Seite steht der narzisstische Exhibitionismus, mit dem sich der_die Rezipient_in mit dem dargestellten Bild identifiziert.44 Die Kamera bedingt den Blick des_der Zusehenden: »Die Blickmöglichkeit der Zuschauer ist durch die Perspektive, die Position, die die Kamera beim Drehen einnimmt, vorbestimmt und in der narrativen Struktur […] in eine männlich-voyeuristische Perspektive hineingezwungen.«45 Da so dem Publikum der male gaze aufgezwungen wird, ist auch von einem aktiven Blick zu sprechen, der betrachtet. Männer übernehmen im Film eher die aktive Rolle, die handelnde Figur, die mit dem aktiven Blick korrespondiert. Frauen hingegen werden betrachtet und erfüllen dabei zwei Funktionen: Entweder sie dienen als erotisches Objekt des männlichen Charakters auf der Leinwand oder sie sind das erotische Objekt des Auditoriums.46 Der aktiv handelnde Mann dient zudem als Ideal, das seine Überlegenheit über das passive Publikum darstellt: »As the spectator identifies with the main male protagonist, he projects his look on to that of his like, his screen surrogate, so that the power of the male protagonist as he controls events coincides with the active power of the erotic look, both giving a satisfying sense of omnipotence.«47 Die Einnahme des

40 41 42 43 44 45 46 47

Vgl. Stiglegger 2006, 21f. Vgl. Lowry 2012. Williams Ortiz 2009, 239. Mulvey 1999, 835. Vgl. Mulvey 1999, 836. Koch 1989, 18. Vgl. Mulvey 1999, 838. Mulvey 1999, 838.

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männlichen Blicks ist zudem nicht nur für den männlichen Zuschauer möglich, sondern ist geschlechtsunabhängig.48 The Devils arbeitet mit Blickregimen und auch hier ist der male gaze allgegenwärtig. Mit der Einordnung in das Genre Nunsploitation wird direkt auf die männliche Schaulust rekurriert. Der Blick hinter die Klostermauern, der sonst verwehrt bleibt, weckt das Interesse an den Geschehnissen zwischen den Nonnen. Sexuelle Phantasien sind zudem an diesen Ort geknüpft, die sich bei The Devils vielfach finden lassen. Angefangen von Masturbation, über sadomasochistische Selbstbestrafungen, bis hin zu (homosexuellem) Koitus. Die Exorzismusszene (s. Abb. 3) weist all diese Elemente auf. Dadurch, dass die anderen Nonnen zudem keinen Namen tragen und ohne Ordensgewandung kaum mehr zu unterscheiden sind, erwecken sie ein Gefühl der Austauschbarkeit. Die Nonnen wirken im Kollektiv und nicht individuell. Sie werden in ihrer Nacktheit betrachtet und können sich den Blicken nicht verwehren. Aus der Sicht der bekleideten Männer, besonders von Pierre Barré, welcher der aktivste Charakter in dieser Szene ist, verfolgt der_die Rezipierende das Geschehen. Der male gaze tritt in The Devils auch bei Urbain Grandier auf, hier besonders in Verbindung mit mansplaining. So erklärt Grandier Philippine die (göttliche) Liebe und auch Madame de Brou berichtet er vom Glauben. In beiden Szenen stellen die Frauen nur Fragen, die der als Lehrmeister auftretende Grandier belesen beantwortet. Dabei schaut er auf die scheinbar schlichten Gemüter herab. Die Weiblichkeiten in The Devils werden also auch durch den male gaze in eine passive Rolle gedrängt. Sie dienen als Möglichkeit, die männliche Geistesschärfe zu zeigen, oder werden als Synonyme für Absurditäten betrachtet. Frauen sind zudem nackt, während gleichzeitig Männer bekleidet sind. Dadurch wird die Degradierung auf ein erotisches Objekt drastisch sichtbar.

48 Vgl. Koch 1989, 19. Dennoch wird Mulvey häufig vorgeworfen, dass ihre Betrachtung zu einseitig sei. Dies geht besonders damit einher, dass sie eine Verbindung von Schaulust und der Entdeckung der Geschlechter zieht. Wenn ein Junge zum ersten Mal ein Mädchen erblickt, so soll er angeblich instinktiv nach dem Penis suchen. Als Lösungsansatz lässt sich entweder das Versteckthalten oder die Kastration erklären. Begründet in dieser Kastrationsangst schaut der Mann degradierend Frauen an, um die Ursache der Penislosigkeit auszumachen. Diesen Umstand wendet Mulvey auf die Filmtheorie an (vgl. hierzu: Koch 1989, 18, 118; Mulvey 1999).

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Abb. 5: Madame de Brou mit Urbain Grandier in seinen Gemächern, Filmstill The Devils (Ken Russell, GB 1971), 00:24:47.

Bloß ein plakativer Sonderfall? In The Devils wird Geschichte, wie im Historienfilm üblich, zur story. D. h. die Geschichte wird personalisiert, und zumeist auch dramatisiert und emotionalisiert. Im Vordergrund steht die politisch motivierte Hexenverfolgung des Priesters und Gouverneurs Urbain Grandier. Alle weiteren Handlungsstränge des Filmes rekurrieren stets auf ihn, was The Devils zu einer personalen Erzählung macht. Die unerwiderte Liebe Jeanne des Anges bedingt letztendlich den Sturz des Gouverneurs. Historisch und literarisch basiert der Film auf den Memoiren der Jeanne des Anges sowie auf Die Teufel von Loudun von Aldous Huxley. Die Geschichte wird z. T. mit einem hohen Grad von Historizität umgesetzt, aber auch stark dramatisiert und emotionalisiert. Thematisch steht eine Religionskritik im Vordergrund. Diese wird im Amtsmissbrauch Kardinal Richelieus, in der Folterung der Nonnen sowie in der Hinrichtung Grandiers deutlich. Grandier selbst verkörpert den Kampf für die Unabhängigkeit und übt in seiner Figur eine Herrschaftskritik. Die modernen Themen, die in der Omnipräsenz von Sex, Leiden und Tod durchscheinen, plädieren alle für die Möglichkeit eines katholischen Glaubens, der sich nicht nach fanatischen Regeln richten muss. Um die Themen eindringlich und vereinfacht darzustellen arbeitet Russell mit (Geschlechter-)Stereotypen. Die einzelnen Repräsentant_innen des Christentums praktizieren ein spezifisches doing religion. Neben ihrer Funktion als christliche Repräsentant_innen praktizieren sie auch ein doing gender und verweisen auf Geschlechterverhältnisse. Frauen nehmen hierbei den passiven, Männer den aktiven Part ein. Die weiblichen Figuren stehen alle in Verbindung

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zu Grandier und ihr Erzählstrang ist abhängig von ihm. Die Nonnen führen die Passivität auf die Spitze, indem sie entindividualisiert nur noch das Objekt männlicher Schaulust sind. Diese Schaulust liegt bereits dem Genre des Nunsploitationfilms zugrunde, das den Mikrokosmos Nonnenkloster beleuchtet, und zudem sexuelle Phantasien thematisiert. In The Devils werden Frauen durch den male gaze degradiert und einzig als Objekt der Lust betrachtet. Mit Laura Mulvey ließ sich herausstellen, dass sich auch in den Blickregimen die Rollen der Aktivität und Passivität weiter bestärken. The Devils zeigt somit ein klassisches Geschlechterverhältnis von passiv = weiblich vs. aktiv = männlich auf. Die auftretenden Stereotype zeigen das klassische Geschlechterrollenbild und prägen dies auf ihr doing religion. Die Frage, ob The Devils die männliche Schaulust befriedigt kann somit klar bejaht werden. Eine Analyse filmischer Darstellungen, die explizit Gender und Religion in den Fokus nimmt, kann die Verschränkung dieser beiden Bereiche aufzeigen. Gerade Medien können hierbei zeigen, wie beispielsweise Stereotype – seien sie jetzt rein auf das Geschlecht fokussiert oder komplexer, beispielsweise bezogen auf einzelne Repräsentierende von Religion – innerhalb der Gesellschaft weiter transponiert werden und einer breiten Masse zugänglich werden. Eine weitere, religionswissenschaftliche Erforschung dieser thematischen Verbindung kann eben jene verkürzten stereotypen Darstellungsformen hinterfragen und aufzeigen. Nunsploitation ist hierbei sicherlich ein plakativer Sonderfall, dennoch ist zu hinterfragen, inwieweit Charakteristika dieses Genres andere Filmproduktionen beeinflusst haben. Gerade der männliche Blick, der in diesem auf Schaulust ausgelegten Genre so zentral ist, findet auch in Mainstream-Produktionen Eingang. Hierbei gilt es jedoch zu untersuchen, ob Blickregime wie auch stereotype Darstellungen als Geschlechterkonstruktion im Film die einzigen Möglichkeiten bilden, Geschlecht darzustellen, oder ob in anderen Genren ggfs. weitere Mechanismen wie beispielsweise Filmzitate, Kleidungen o. ä. auftreten, die Geschlechterhierachien bedingen können.

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Kristina Göthling-Zimpel

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Nunsploitationfilme: Das Spiel mit Voyeurismus und Exhibitionismus

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Sektion 2: Feminismus / Feminismen

Anna-Katharina Höpflinger

Geliebt und verflucht – Feminismus

Einleitung Als ich vor einiger Zeit bei einer Freundin zum Tee war, erzählte sie mir grinsend – und vermutlich mit neckenden Absichten im Hinblick auf meine Forschungstätigkeiten – folgenden Witz: Ein Mann will eine Lebensversicherung abschließen und wird dabei gefragt: »Haben Sie lebensgefährliche Angewohnheiten?« Seine Antwort lautet: »Ja, manchmal widerspreche ich Feministinnen.«

Ich verdrehte die Augen und versuchte schleunigst, den Witz zu vergessen. Aber selbstverständlich scheiterte Letzteres. Von all den Witzen, die mir in den letzten Jahren erzählt wurden (und es waren auch einige gute dabei), blieb mir genau dieser geschmacklose in Erinnerung. Wieso? Weil er mich zum Nachdenken brachte. Weshalb werden »Feministinnen« (weiblich) als so etwas wie »Terroristinnen« konstruiert? Was bedeutet es, wenn solche frauenfeindlichen Aussagen in Witze verpackt werden? Wird die Aussage dadurch abgeschwächt oder vielleicht sogar verstärkt? Und was ist dieser Feminismus eigentlich genau, der in diesem Witz so selbstverständlich als das Aggressiv-Böse geformt wird? Ich will im Folgenden deshalb in aller Kürze und mit einem Fokus auf Europa und Nordamerika (als meine Forschungsfelder) über den im Witz angeklagten »Feminismus« reflektieren und danach einige Gedanken über den Zusammenhang von »Feminismus« und Religion tätigen. Die folgenden Gedanken sind als einführender Anstoß zum Weiterdenken und nicht als abgeschlossene Wahrheiten zu verstehen.

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Femi-was? Der oben angeführte misogyne Witz behauptet, »Feminismus« sei aggressiv und rücksichtslos. Das mag eine Definition sein, die gewissen Leuten einleuchtet, besonders hilfreich ist sie aber nicht, um den sogenannten »Feminismus« zu verstehen. Der Begriff selbst stammt aus dem Französischen. Féminisme sowie féministe entstanden im 19. Jahrhundert.1 Die erste Frauenrechtlerin, die diesen Begriff als emisches Konzept verwendete, war M.A. Hubertine Auclert (1848– 1914). Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Terminus ins Englische übernommen und mit der Ausbreitung dieser Sprache als Lingua franca auch außerhalb des US-europäischen Raums verbreitet. Der Begriff ist also französischen Ursprungs, wurde aber bald europaweit rezipiert. Was bedeutet er? Féminisme/feminism/Feminismus ist ein -ism-Wort. Solche -ismen bezeichnen universalisierende Konzepte, die in der Regel eine Kritik an etwas, und damit ein normatives Ziel, beinhalten.2 Diese normative Basis ist meines Erachtens der gemeinsame Kern verschiedenster feministischer Bewegungen und Blickwinkel. Sie beinhalten eine Kritik an Gesellschaften, die den Mann als Norm oder sogar Ideal der Menschheit konstruieren und Frauen, Kinder und andere Geschlechter als eine Art »Mängelwesen« verstehen, also an einem androzentrischen Weltbild. Das Gemeinsame an verschiedenen feministischen Strömungen ist damit eine gesellschaftskritische Reflexion und Offenlegung sozialer Machtverhältnisse. Wie diese gesellschaftskritischen Beobachtungen begründet, wie aus ihnen heraus argumentiert oder gehandelt und wie sie politisch und sozial umgesetzt werden, ist aber je nach Zeit und feministischer Strömung sehr unterschiedlich und lässt sich kaum über einen Kamm scheren. Ich will deshalb nur drei verschiedene Beispiele nennen: Gewisse feministische Perspektiven fragen auf einer konzeptuellen Ebene nach Machtverhältnissen. Diese konzeptuellen Blickwinkel können theoretischphilosophisch sein, z. B. im Sinne einer grundlegenden Infragestellung von gesellschaftlichen Grundkategorien, man denke etwa an Simone de Beauvoirs oder Judith Butlers Annäherungen.3 Simone de Beauvoirs berühmtes Zitat verdeutlicht dies prägnant: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation gestaltet dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten, das man als Weib bezeichnet. Nur die Vermittlung eines

1 Zur Begriffsgeschichte siehe Offen 2000, 19ff. 2 Siehe dazu Pezzoli-Olgiati 2008, 47. 3 Siehe: De Beauvoir 1998 und 1999; Butler 1990.

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Anderen vermag das Individuum als ein Anderes hinzustellen«.4 Dies sind also theoretische Ansätze, die die Reflexion über Machtverhältnisse und soziale Grundkategorien ins Zentrum rücken. Andere konzeptuelle Perspektiven sind eher politisch-sozialkritisch. Eine solche politische Definition ist beispielsweise die von Stella Jegher, sie ist Feministin und Mitglied der Geschäftsleitung der Schweizer Sektion von Amnesty International. Jegher umreißt »Feminismus« als eine Perspektive und definiert ihn konsequenterweise explizit aus einer persönlichen Sicht: Die feministische Perspektive beinhaltet für mich zunächst die bewusste Kritik der Frauen an der Männerherrschaft und an den Mechanismen ihrer Aufrechterhaltung. Was wir überwinden wollen, ist die ungleiche Verteilung von Entscheidungspositionen, von bezahlter und unbezahlter Arbeit, von Einkommen, gesellschaftlichem Reichtum und Zeit, auch die ungleiche Verteilung der Zugänge zu Bildung und Wissen zwischen den Geschlechtern. […] Feminismus geht aber auch über die Kategorie »Geschlecht« hinaus und beinhaltet eine grundsätzliche Herrschaftskritik. Was wir erreichen wollen, sind gleiche Rechte für alle, unabhängig von Geschlecht, Ethnizität, sexueller Präferenz, Lebensform, Klasse, Herkunft.5

Jegher macht die oben genannte kritische Leitlinie des »Feminismus« deutlich. In erster Linie ist diese Perspektive laut ihr eine Kritik an bestehenden Herrschaftsverhältnissen, die von einer Konzentration auf Frauen ausgeht, aber nicht nur diesen Fokus vertritt. Neben konzeptuellen Zugängen waren und sind für das, was man heute universalisierend als »Feminismus« bezeichnet, aber auch konkrete politische Bewegungen, die für eine pragmatische Gleichberechtigung von Frauen und Männern kämpfen, besonders bedeutsam. Die Suffragetten des 19. Jahrhunderts, die sich auch mal an Kutschen ketteten, sind ein besonders häufig genanntes Beispiel für diese Bewegungen.6 Heute äußert sich diese Ebene zum Beispiel in Frauenstreiks, wie der am 14. 06. 2019 in der Schweiz. Aber der pragmatische Feminismus kann auch weniger kämpferisch daherkommen. Auf dieser Ebene verbinden feministische Sichtweisen die Kritik an kollektiven, in der Regel frauendiskriminierenden Vorstellungen und Regeln mit den sehr konkreten individuellen Lebensumständen von Frauen. Hierbei können sich neue Machtverhältnisse öffnen oder ergeben, beispielsweise, wenn im 19. Jahrhundert europäische Frauen der Oberschicht und des Bürgertums für die Rechte von Arbeiterinnen kämpfen. Gleichzeitig können solche Machtverhältnisse jedoch auch negiert werden, z. B. indem eine Kategorie »Frau« die Standesunterschiede 4 Das Original stammt aus dem Jahr 1949. Ich zitiere hier nach folgender deutschen Übersetzung: De Beauvoir 1980, 265. 5 Jegher 2003, 5. 6 Zu der Bewegung der Suffragetten in Britannien siehe: Mayhall 2003; zu berühmten Suffragetten siehe: Meiners 2016.

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durchbricht. Was sich hier also deutlich zeigt, ist, dass auch die Kategorie »Frau« eine sozial geformte ist, die Machtverhältnisse spiegelt. Frau ist eben nicht immer gleich Frau. Ich verweise hier auf die Einleitung zu »Intersektionalität« in unserem Buch, aber auch Diversität wäre ein wichtiges Stichwort in diesem Kontext. Zuletzt findet sich aber durchaus auch der im Einstiegswitz angeklagte männerfeindliche »Feminismus«, wenn auch seltener als die bereits genannten Arten feministischer Bestrebungen. Ein Beispiel für einen solchen ist die österreichische Philosophin Helene von Druskowitz (1856–1918), die zunächst eine Freundin, dann eine Feindin des Philosophen Friedrich Nietzsche war und in ihrem misanthropisch-pessimistischen Werk Pessimistische Kardinalsätze: ein Vademekum für die freiesten Geister (1905) die Männerwelt als Urheberin alles Schlechten propagiert, die Frauen aber konsequenterweise als Mitläuferinnen betitelt.7 Diese drei Beispiele zeigen, dass »Feminismus« keineswegs eine kohärente Strömung ist, sondern sich aus unterschiedlichsten Blickwinkeln, Handlungsweisen und Agitationsmöglichkeiten zusammensetzt. Feminismus als universalisierendes Konzept besteht also historisch gesehen aus unterschiedlichsten »Feminismen«. Ich will im Folgenden dennoch weiter von »Feminismus« sprechen, da ich damit betonen will, dass es sich bei diesem Terminus um einen konzeptuellen Begriff handelt, der konkrete Bewegungen zusammenfassen will. Dennoch kann nicht genügend betont werden, dass, empirisch betrachtet, die Fragen und Beweggründe einer Kritik an einem auf Männer ausgerichteten Machtsystem je nach historischem oder geographischem Kontext sehr unterschiedlich sein können. An solchen konkreten Strömungen waren auch keineswegs nur Frauen beteiligt, sondern auch unterschiedlichste Männer und andere Gender. »Feminismus« kann also nicht allgemein erfasst werden, sondern er steht immer in Bezug zu einem spezifischen machtpolitischen Setting und den jeweiligen soziokulturellen Fragen, die sich daraus ergeben. Dies zeigt der Aufsatz von Dolores Zoé Bertschinger mit dem Titel »›Ich muss Dich zanken über deinen Klostergedanken‹« in diesem Teil unseres Buches sehr passend: Sie untersucht den Briefroman Amalie, der von der aufklärerischen Schriftstellerin und Schauspielerin Marianne Ehrmann 1788 verfasst wurde. Dolores Bertschinger zeigt an diesem Beispiel auf, wie die Begriffe »Religion« und »Frau« sich in der Aufklärung wandeln und wie sie naturalisiert, aber auch idealisiert werden. Begriffe sind also immer einem Wandel unterworfen.

7 Das Büchlein wurde 1988 unter dem Titel Der Mann als logische und sittliche Unmöglichkeit und als Fluch der Welt. Pessimistische Kardinalsätze von Traute Hensch neu herausgegeben, siehe Druskowitz 1988.

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Und was ist nun mit Religion? Wie Dolores Zoé Bertschinger deutlich macht, gibt es enge Verflechtungen zwischen Konzepten von »Religion« und von »Frau«. Es ist auffallend, dass Stella Jegher in der oben angeführten Definition von »Feminismus« Religion nicht erwähnt. Religion ist eine Sphäre von Kultur, die Machtprozesse untermauern, aber auch durchbrechen kann. Ich will im Folgenden mit dem Blick auf Europa und Nordamerika Religionen basierend auf androzentrischen Vorstellungen als »dominante« Religionen und andere religiöse Weltbilder als »subversive« bzw. »alternative« Religionen bezeichnen. Religionen können androzentrische soziale Strukturen stärken oder schwächen – manchmal verfügt eine religiöse Tradition sogar über das Potential, beides gleichzeitig zu tun. Es wundert deshalb nicht, dass aufschlussreiche Interaktionen zwischen feministischem Denken und Handeln und religiösen Weltbildern beobachtet werden können. Auch wenn ich hier auf Europa und Nordamerika fokussiere, stellen sich ähnliche Fragen auch in anderen kulturellen Räumen. Benjamin Heimann zeigt dies in seinem Aufsatz »Krishna-Devotionalismus und Geschlechtsrelativierung« im vorliegenden Teil unseres Buches mit einem Blick auf den indischen Kulturraum auf. Heimann macht deutlich, wie männerfokussiert der indische Kontext ist und wie dieser Fokus im bengalischen Vaisnavismus aufgebrochen ˙˙ wird, indem weiblichen Gottheiten zentrale Rollen zugeordnet werden und der Mann in seiner Gottesliebe auch weibliche Eigenschaften und Teile integrieren muss. Heimann präsentiert also ein subversives religiöses Weltbild in einem partiarchal-indischen Kontext. Die britische Religionswissenschaftlerin Linda Woodhead rezipiert für Nordamerika und Europa drei Wellen des Feminismus, die sie mit Religion (in unterschiedlichen Arten) verbindet.8 Die erste Phase im 19. und frühen 20. Jahrhundert verlangte gemäss Woodhead nach »equality between the sexes and […] subsume[d] their difference under a common ›humanity‹«.9 Es ging in erster Linie um eine politische und soziale Egalität der beiden binär gedachten Geschlechter in einem heteronormativen System. Diese sogenannte »erste Welle« des Feminismus war eng mit Religion gekoppelt: Erstens wurden im Zuge der feministischen Bewegungen neue Betrachtungsweisen dominanter religiöser Texte und Traditionen verlangt; so wurden beispielsweise feministische Auslegungen der Bibel vertreten und der dominante religiöse Diskurs bezüglich Mannsein und Frausein hinterfragt.10 8 Siehe Woodhead 2001. 9 Woodhead 2001, 67. 10 Ein Beispiel hierfür wäre die Women′s Bible, die Elizabeth Cady Stanton in Zusammenarbeit mit anderen Feministinnen erarbeitete. Siehe Jeffers 2008, 61f.

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Erste christliche Gemeinschaften führten die Frauenordination ein. Die Heilsarmee beispielsweise bot Frauen seit dem 19. Jahrhundert die Möglichkeit, religiöse Spezialistinnen zu werden, oder die dem Methodismus nahestehende Freikirche »Kirche des Nazareners« ließ seit ihrer Gründung 1908 Frauen zu allen Ämtern zu. Die evangelisch-reformierte Landeskirche Zürich ordinierte 1918 die ersten Frauen, was aber noch nicht hieß, dass sie auch ein Pfarramt übernehmen konnten. Die erste evangelische Pfarrerin in Europa mit einem vollen Gemeindepfarramt war Greti Caprez-Roffler, die 1931 als Pfarrerin nach Furna (CH) gewählt wurde.11 Als Strafe für diesen Schritt wurde der Gemeinde das Pfrundvermögen gesperrt. Furna war seiner Zeit etwas zu sehr voraus. Auch außerhalb christlicher Organisationen gab es ähnliche Umbrüche: Die erste jüdische Rabbinerin Regina Jonas wurde beispielsweise trotz reger Debatten 1935 in Deutschland ordiniert.12 Sie wurde 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet. Manche dominanten religiösen Traditionen befanden sich also bezüglich Gender im Umbruch. Die zweite Vernetzung dieser ersten Welle feministischer Bewegungen mit Religion zeigt sich außerhalb solcher dominanter religiöser Strömungen: Gewisse Feministinnen wandten sich enttäuscht von den dominanten religiösen Traditionen ab und suchten nach anderen Formen religiösen Handelns. Davon profitierte zum Beispiel der aufblühende Spiritismus, in dem Frauen von Beginn an zentrale Rollen z. B. als religiöse Spezialistinnen übernahmen.13 Bis heute gelten deshalb alternative religiöse Formen wie der New Age oder die Esoterik als typisch »weiblich«. Die sogenannte »zweite« Phase des Feminismus beginnt in den 1960er Jahre und findet sich bis heute. In dieser Zeit wurde oft »a highly essentialist understanding of men and women« vertreten, wobei Geschlecht eng mit dem Körper gekoppelt wurde.14 Dabei gab es beispielsweise die Unterscheidung eines biologischen »sex« von einem kulturellen »gender«. Feministische Ansätze eroberten in dieser Zeit große Teile der Wissenschaft.15 Forscherinnen kritisierten den male bias und den impliziten Androzentrismus der Akademie:16 Wieso ging man auch in der Forschung selbstverständlich davon aus, dass der Mensch ein Mann war? Was waren die Implikationen dieser dominant androzentrischen Denkweise für die Wissenschaft? Weshalb fokussierte Geschichte auf Kriege und Könige und nicht auch auf Geburtspraktiken und die Vielschichtigkeit des Alltagslebens?

11 12 13 14 15 16

Siehe Schlarb 2017; Stofer 2007. Siehe Klapheck 2003; Jonas 1999. Siehe Crowley 2011. Woodhead 2001, 67. Siehe zu verschiedenen Phasen der feministischen Forschung: Davis-Sulikowski/et al. 2001. Siehe z. B. Moore 1988; Rey 1994.

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Aus diesen Forschungsfragen resultierten die Women’s Studies, die aufzeigten, wie komplex das Sozialgefüge zwischen den Geschlechtern war. Zeitgleich betonten globale Frauenbewegungen wie z. B. die heute als womanism rezipierte Strömungen (die seit dem 19. Jahrhundert existierten) die Zentralität intersektionaler Relationen und brachen mit der Idee von »Frau« als universell-verbindender Kategorie:17 Die Kategorie »Frau« genüge nicht, um Diskriminierungsprozesse zu beschreiben und zu bekämpfen. Sondern die Kategorie »Frau« müsse gekoppelt mit anderen sozialen Differenzmechanismen wie race, Ethnizität, Bildung, Alter, etc. analysiert werden. Die religiös-feministischen Bewegungen dieser Zeit suchten nach einer idealistischen Egalität, beispielsweise durch Matriarchatstheorien.18 Diese Phase war auch mit alternativen Religionen, v. a. mit verschiedenen Strömungen des sogenannten New Age verbunden.19 Frau suchte religiöse Erfüllung im Fühlen des weiblichen Körpers, in außereuropäischen nicht-patriarchalen Religionen oder in der Rekonstruktion frühgeschichtlicher Zeiten, die nach anderen Machtverhältnissen der Geschlechter durchsucht wurden. Gleichzeitig wurden die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts begonnenen Umbrüche in den dominanten Religionen weitergeführt:20 Alle evangelischen Kirchen öffneten ihre Türen für weibliche Pfarrerinnen. In progressiven jüdischen Gemeinden wurde seit den 1970er Jahren rege über die Frauenordination zur Rabbinerin debattiert und schließlich wurden Frauen ordiniert. 1999 folgte die christkatholische Kirche mit der Einführung der Frauenordination. Nur die römisch-katholische Kirche und die orthodoxen Kirchen sind diesbezüglich noch immer zurückhaltend. In der Religionswissenschaft sind feministische Positionen bis heute noch immer eher am Rande zu finden, vermutlich, weil der Feminismus eine klare normative Agenda hat. Alice Kaiser zeigt in ihrem Aufsatz in diesem Teil unseres Buches jedoch prägnant auf, wie in der Religionsforschung (zu) lange androzentrische Weltbilder vorherrschten. Der homo religiosus (der religiöse Mensch) wurde selbstverständlich als vir religiosus, als religiöser Mann, betrachtet. Anhand von drei feministischen Positionen reflektiert Alice Kaiser die Chancen einer feministisch-religionsforschenden Sicht und zeigt auf, wie wichtig es ist, die Normen der Wissenschaft aus jeder Sicht transparent zu machen. Seit den 1960er Jahre gibt es also verschiedene feministische Bewegungen, die Geschlecht als binäre Kategorie naturalisieren. Dies wurde in der sogenannten dritten feministischen Welle in der akademischen Diskussion über die Relation zwischen Natur und Kultur aufgebrochen: Durch den postmodern-konstrukti17 18 19 20

Siehe zu einer Definition: Walker 2004, xi–xii. Siehe Knauß 2008. Zum Konzept von New Age: Bochinger 1994; zu Feminismus und New Age: Crowley 2011. Siehe Schlarb 2017; Stofer 2007.

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vistischen turn der 1990er Jahre traten neue Blickwinkel auf Geschlecht hervor.21 Diese Strömung, die oft als Konstruktivismus rezipiert wird, »reacts against essentialisms and seeks instead to explore gender differences which are now understood as complex, multifaceted, fluid, constructed, and only loosely related to the body«.22 Hierbei wird die Trennung von biologischem Sex und kulturellem Gender konzeptuell aufgelöst und von einer kulturellen Formung des Körpers ausgegangen.23 Damit ist auch eine Kritik an Binarität als denkerischer Leitlinie zur Erfassung des Menschen im Allgemeinen und des Geschlechts im Spezifischen verbunden. Während diese Bewegung akademisch einen Paradigmenwechsel in den Gender Studies auslöste und sich langsam auf das außeruniversitäre Bildungssystem ausweitete, erregte sie in den öffentlichen Debatten – vor allem auch aus konservativer religiöser Sicht – über Geschlecht auch starke Anfeindungen. Das »Gendermainstreaming«, die »Genderideologie« oder allgemeiner das »Gender« konnten (und werden bis heute), wobei meist Gendertheorien wie die von Judith Butler falsch rezipiert wurden, zum Feind erklärt werden, der sämtliche Geschlechter negiere, Mädchen zu Knaben mache, die Familie aufzulösen gedenke und somit den Staat (oder vielleicht die jetzigen Machtgefüge?) aushöhle. Religion war in dieser dritten Welle unter anderem zur Abgrenzung bedeutsam. In neuster Zeit haben sich feministische Strömungen weiter ausdifferenziert, sodass man von einer »vierten Welle« sprechen könnte. Für die Entwicklung dieser Bewegungen ist einerseits das Internet von zentraler Bedeutung. Unter dem Stichwort »Netzfeminismus« werden die Chancen, aber auch neue (oder eben alte) Benachteiligungen (z. B. Online-Sexismus) und Limitierungen (Wen erreicht man?), die durch eine Online-Präsenz entstehen, debattiert. Hierbei spielen bisweilen auch religiöse Inhalte eine Rolle, z. B. in einer Abgrenzung gegen patriarchale religiöse Vorstellungen. Andererseits hat die queere Bewegung den gegenwärtigen Feminismus auch im Hinblick auf Religion beeinflusst. Im Zuge der erstarkenden LGBTIQ+-Bewegung gibt es neu auch eine Suche nach Religionen, die eine binäre Geschlechterordnung durchbrechen. Beispielsweise boten und bieten die nordamerikanischen Two Spirits, die bei Native American und First Nation-Kulturen ein soziales drittes und manchmal viertes Geschlecht formten, eine Identifikationsmatrize jenseits des binären Systems.24 Aber auch Neue Religiöse Bewegungen können hier eine Plattform bieten: Die Sisters of Perpetual Indulgence, die sich als Nonnen des 21. Jahrhunderts verstehen, sind z. B. eine queere Community, die sich gemäß einem römisch-katholischen Orden 21 22 23 24

Siehe Butler 1990; Butler 1993. Woodhead 2001, 67. Butler 1990; Butler 1993. Zu Two Spirits siehe: Carpenter 2011. Für die Suche nach Two Spirits als Gendervorbilder siehe die zahlreichen Videos auf YouTube zu diesem Thema.

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strukturiert, aber sich für die Rechte von queeren Menschen einsetzt.25 Ein anderes Beispiel sind die Otherkin, eine lose, vielfach übers Internet agierende Strömung, die die Trennung von Mensch und Tier aufbrechen will und nach dem inneren »Totemtier« als spirituellem Leader sucht.26 Die drei Phasen des Feminismus, die Linda Woodhead rezipiert, und die vierte, die neu hinzugekommen sein könnte, verdeutlichen, wie bedeutend Fragen um Gleichstellung in den letzten rund 200 Jahren waren. Gleichzeitig suggerieren sie aber auch, dass Feminismus ein Phänomen der Aufklärung oder sogar der Industrialisierung sei. Damit ist wiederum ein blinder Fleck verbunden, der implizit ausdrückt, dass die Welt vor der Aufklärung »unreflektiert« und »unkritisch« war. Doch dies ist ein Blickwinkel, der der historischen Komplexität nicht gerecht wird. Oder wie die Künstlerin Jacky Fleming es in einem ihrer Cartoons treffend ausdrückt: »Früher gab es keine Frauen, deshalb lernt ihr im Geschichtsunterricht auch nichts über sie. Es gab nur Männer und ziemlich viele waren Genies«27. Ein Fokus auf Religion zeigt, dass die Eingrenzung der Debatten um die Stellung der Frau aufs 19. Jahrhundert (oder auch 18. Jahrhundert) zu eng ist und sich zu sehr am Aufkommen des Begriffs »Feminismus« festhält. Dabei können auch die drei oder vier »Wellen« als heuristische Abtrennungen kritisiert werden. Denn die Frage nach der Stellung der Frau war religionshistorisch ein bedeutender europäischer Diskussionspunkt. Dabei mischen sich seit dem 15. Jahrhundert auch Positionen in diese Debatte ein, die für eine Gleichheit der Frau oder sogar eine Superiorität plädieren und deshalb problemlos als »feministisch« (im Sinne eines Phänomens, nicht der Begriffsgeschichte) betitelt werden dürfen. Ich will diese Debatten im Folgenden kurz anschneiden und schließlich ein Fazit daraus ziehen.

Die Rippe ist edler als Dreck Ich habe diese Einleitung mit einem Feministinnen-feindlichen Witz begonnen. Misogyne satirische Aussagen sind kein neues Phänomen; sie kamen nicht erst im 19. Jahrhundert auf, sondern lassen sich bis weit in die Antike zurückverfolgen. Beispielsweise basiert der Titel unseres Buches, Pandora’s Box, auf einer durchaus unterhaltsamen frauenfeindlichen Geschichte, die in den dem grie25 Zu den Sisters of Perpetual Indulgence siehe: Wilcox 2012. 26 Zu den Otherkin, die nicht nur die Differenz zwischen Frau und Mann, sondern auch Mensch und Tier aufbrechen: O′Callaghan 2015. 27 Fleming 2017.

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chischen Dichter Hesiod (eventuell 740–670 v.u.Z.)28 zugeschriebenen Werken Theogonie (Seiten 570–612) und Werke und Tage (Seiten 47–105) erzählt wird. Pandora wird dort als erste Frau von den Gottheiten geschaffen – und zwar als Strafe für den Betrug des Prometheus und der Menschen (die also Männer sind). Die Frauen, die von Pandora abstammen, werden dabei als den Männern Unheil bringend vorgestellt. Misogyne Vorstellungen blicken aber auch in der christlichen Geschichte auf eine lange Tradition zurück, was zeigt, dass nicht alles, was alt ist, automatisch auch gut ist. Sie basieren zum Teil auf der Bibel, zum Beispiel auf Koh 7,26: »Und ich fand, bittrer als der Tod sei eine Frau, die ein Fangnetz ist und Stricke ihr Herz und Fesseln ihre Hände. Wer Gott gefällt, der wird ihr entrinnen; aber der Sünder wird durch sie gefangen«.29 Frauenfeindliche Aussagen – satirische und auch ernstere – blicken also auf eine lange Tradition zurück und lösen im spätmittelalterlichen Europa in einem gewissen Sinn den »Kampf« der Geschlechter aus. Bei diesem Kampf der Geschlechter, der seit dem Mittelalter rege geführt wurde, ging es zunächst jedoch weniger um gleiche politische Macht als vielmehr um eine religiöse und damit zusammenhängend soziale Egalität.30 Denn Religion spielte eine wichtige Grundlage für diese misogynen Schriften, die auf den Mann und auf ein zölibatäres Leben als Ideal ausgerichtet waren. Frauenfeindliche Vorstellungen des Mittelalters richteten sich oft nicht nur gegen Frauen, sondern meistens auch gegen die Ehe. Das christliche Ideal dieser Zeit war die Ehelosigkeit; die Frau durch ihre »Verführungsmacht« eine Gefahr für die Keuschheit.31 Ein besonders prominentes Werk, das zu einem Zitatenschatz und wichtigem Referenzwerk für spätere misogyne Schriften werden sollte, ist der zweite Teil des bereits zuvor in diesem Tagungsband erwähnten, sogenannten Roman de la rose (Rosenroman).32 Der Rosenroman ist ein in zwei Teilen überliefertes Werk: Der erste, kürzere Teil stammt aus der Hand des adligen Poeten Guillaume de Lorris und ist um 1235 entstanden. Ganz im Sinne der höfischen Liebesdichtung des hohen Mittelalters besingt der Autor in Form eines Traums allegorisch die Reise eines jungen Mannes zu (s)einer Rose. Dieser erste Teil wurde rund 40 Jahre später durch den Kleriker Jean de Meun um rund 18000 Verse ergänzt. Dieser zweite Teil ist frauen- und ehefeindlich; die Frau sei eine Versuchung für den Mann, der er 28 Die Datierung dieses Autors ist unklar, ebenso, ob die Theogonie von einem einzigen Autor stammt oder nicht. Siehe für eine erste Einleitung: West 1978, 40–48; Schönberger 1999, 141. Der terminus post quem des Werkes ergibt sich durch einen Hinweis auf das Heiligtum in Delphi (Theogonie, 499) sowie die Beschreibung des Halsschmucks von Pandora (Theogonie, 578–584), das einem spezifischen Kunststil verpflichtet ist. 29 Übersetzung gemäß der revidierten Lutherbibel von 2017. 30 Siehe als erste Einleitung dazu: Ferrari Schiefer 1998, 61–79. 31 Siehe beispielsweise die Artikel von Denise Polaczuk oder Kristina Göthling-Zimpel im vorliegenden Buch. 32 Für eine deutsche Übersetzung siehe de Lorris/de Meun 1976.

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am besten widerstehen sollte. Die Frau wird im Text beispielsweise mit einem Misthaufen verglichen, der mit kostbaren Tüchern bedeckt ist: Von außen sehe er schön aus, aber innen sei er faulig und stinke. Dieser Rosenroman und seine misogynen Ideen waren äußerst einflussreich und wurden breit rezipiert, auch bildlich. Zum Glück ließen sich bald Gegenstimmen zu diesen frauenfeindlichen Texten hören. Diese Gegenstimmen können aus heutiger Sicht durchaus als feministisch bezeichnet werden, auch wenn dieser Begriff damals nicht existierte. Es geht ihnen nämlich darum, solche diffamierenden Aussagen zu kritisieren und den Frauen zu einer besseren und meist gleichberechtigten sozialen und religiösen Position zu verhelfen. Eine der ersten »Feministinnen« dieser Art ist die Französin Christine de Pizan (1364–ca. 1429). In verschiedenen Schriften kritisiert sie misogyne Aussagen. Ihr berühmtestes Werk ist Le Livre de la cité des dames (Das Buch von der Stadt der Frauen), ein utopisches Werk, in dem sie eine Stadt entwirft, die (edle und gute) Frauen bauen und bewohnen. Christine de Pizan löste mit ihren feministischen Ansichten einen Literaturstreit aus, der weite Kreise zog.33 Die Debatte über die Stellung der Frau gegenüber dem Mann wurde zu einem rege diskutierten Konflikt, der maßgeblich auf religiösen Argumenten basierte. In diesen Streit waren auf der frauenfreundlichen Seite Frauen ebenso involviert wie Männer. Die meisten pochten auf eine religiöse und soziale Gleichberechtigung von Frau und Mann. Eine Ausnahme bildet hier das Argument von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486–1535), einem Universalgelehrten des 16. Jahrhunderts. Er schrieb eine Abhandlung mit dem Titel Declamatio de nobilitate et praecellentia Foeminei Sexus (Abhandlung über den Adel und die Vorzüglichkeit des weiblichen Geschlechts). Darin argumentiert er, dass die Seelen von Frau und Mann gleichwertig seien, dass aber auf der materiell-körperlichen Ebene die Frau das edlere Wesen sei. Beispielsweise sei Eva aus einer Rippe, Adam aus Dreck geschaffen worden – und was das edlere Material sei, sei ja nicht zu diskutieren. Dieser »Feminismus« vor dem 19. Jahrhundert, wenn man mit diesem Begriff operieren will, war von drei Spezifitäten geprägt: Erstens basierten sowohl die frauenfeindlichen als auch die frauenfreundlichen Argumente auf religiösen Weltbildern. Es handelt sich hier um literarische Debatten, die sich grundlegend mit der Frage, ob Frauen vor Gott gleichberechtigt seien, beschäftigten. Zweitens ging mit der Misogynie auch eine Heiratsfeindlichkeit einher. Das religiös begründete Ideal war ein keusches Leben ohne Ehe. Die Frau wurde als Übel betrachtet, das den Mann von diesem idealen zölibatär-religiösen Leben ablenkte. Drittens ist auffallend, dass im Zuge des Wehrens gegen solche frauenfeindlichen 33 Siehe: Ferrari Schiefer 1998.

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Ideen Frauen und Männer ihre Stimmen erhoben. Der Feminismus begann also mit Frauenfreunden und -innen. Die Idee, dass »Feminist« ein Unwort sei und Männer Feminismus nie verstehen würden, kam erst viel später auf.

Nur ein Witz? Was könnte also, mit Blick auf das bisher Reflektierte, eine Antwort auf meine Kollegin und ihren frauenfeindlichen Witz sein? Zunächst haben wir festgestellt, dass Feminismus keine einheitliche Bewegung ist, sondern als ein Überbegriff für verschiedenste Strömung betrachtet werden muss, unter die unterschiedliche Bestrebungen, eine Geschlechteregalität herzustellen, gezählt werden können. Das Gemeinsame ist, dass sie im Kern eine Kritik an bestehenden Macht- und/oder Differenzverhältnissen beinhalten. Zweitens ist es für unser Thema aufschlussreich, dass Religion auf mehreren Ebenen eine zentrale Rolle spielt: Dominante religiöse Vorstellungen und Organisationen können in feministischen Bewegungen für eine patriarchale oder androzentrische Ordnung stehen und deshalb bekämpft werden; dominante religiöse Vorstellungen können aber auch feministisch umgedeutet und neu ausgelegt werden. Immer wieder findet sich jedoch auch eine religiöse Suche außerhalb dominanter Traditionen und Organisationen. Diese können das Potential haben, egalitärere religiöse Weltbilder oder eine Befreiung aus dominanten Machtverhältnissen zu bieten. Drittens zeigt sich bei einem Blick auf die Vernetzung zwischen Feminismus und Religion in Europa, dass diese bereits vor dem 19. Jahrhundert beginnt. Die Debatten über die Stellung der Frau in der Moderne basieren auf älteren literarischen Schriften, die sich ins Mittelalter und – im Falle der frauenfeindlichen Tradition – bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Ich verweise hier erneut auf die Geschichte der Erschaffung Pandoras, die für das vorliegende Buch titelgebend ist. Meiner Freundin könnte man deshalb als Antwort auf ihren Witz Folgendes sagen: »Was für ein strohdummer Witz. Aber du stehst damit in einer jahrhundertealten Tradition frauenfeindlicher Aussagen. Der Feminismus, den du anklagst, entstand in der Auseinandersetzung mit solchen misogynen Ideen. Dabei ist jener Feminismus allerdings keine einheitliche Bewegung, sondern setzt sich aus unterschiedlichsten Strömungen zusammen, die nur eins vereint: Ihre Kritik am dominanten androzentrischen Weltbild, und zu diesen gehört leider auch dein Witz.« Aber zugegeben: Meine Freundin würde nun ihrerseits die Augen verdrehen, murmeln, dass Wissenschaftlerinnen immer elende Besserwisserinnen seien, und es doch »nur« ein Witz sei. Nur?

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»Ich muß Dich zanken über deinen Klostergedanken.« Zum Wechselverhältnis von Religion, Geschlecht und Literatur im ausgehenden 18. Jahrhundert

Dieser Beitrag handelt vom Frauenbild, den Geschlechterverhältnissen und der Rolle der Religion in Marianne Ehrmanns Briefroman Amalie (1788). Als briefliches Zwiegespräch der Freundinnen Amalie und Fanny konzipiert, spannt der Entwicklungsroman den Bogen von Amalies Verlust der Mutter, über eine erste, gewaltvolle Ehe, die Trennung und anschließende Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft bis hin zur zweiten, glücklichen Heirat. Im Laufe dieses einfachen Plots verhandeln die beiden (Brief)Freundinnen alle Aspekte des Lebens: Politische, philosophische und religiöse Themen werden ebenso diskutiert wie das Schreiben selbst, die Schauspielerei, Schulbildung für Mädchen oder die richtige Toilette für eine »anständige« Frau. In einer Zeit der humanistischen Aufklärung lässt Ehrmann so in ihrem Briefroman zwei manchmal gegensätzliche, manchmal harmonisierende weibliche Stimmen zu Wort kommen. Damals wie heute fanden und finden diese viel zu wenig öffentliches – und wissenschaftliches – Gehör. Zumindest sind Frauen in der wissenschaftlichen Literatur, die den weiteren Horizont dieses Beitrags bildet, weder als Produzentinnen und Protagonistinnen von religionsästhetischen Konzeptionen in der Aufklärung noch als Religions- oder Literaturwissenschaftlerinnen, die aktuell über das Verhältnis von Literatur und Religion im 18. Jahrhundert schreiben, präsent.1 1 Zum Verhältnis von Ästhetik und Religion vgl. die einführenden Texte von Detering 2007; Müller 2003; Gutzen 1991; Auerochs 2002; sowie Vietta/Uerlings 2008; die weiterführenden Einzeluntersuchungen von Gaier 2008 zu Herder und Hölderlin; Stierle 2008 zu Säkularisierung und Ästhetisierung in der Frühen Neuzeit; Uerlings 2008 zu Säkularisierung in der Frühromantik; vgl. außerdem Welbers 2014 zur religiösen Semantik. Stellvertretend für die umfassende Literatur zur Säkularisierungsthese vgl. das einführende Handbuch Religion und Säkularisierung von Schmidt 2014, das die verschiedenen Diskursstränge anhand ihrer Protagonisten abhandelt: den sozialwissenschaftlichen von Weber, über Berger/Luckmann, Habermas, zu Casanova, Taylor und Pollack, den kulturwissenschaftlichen von Hegel über Troeltsch, zu Schmitt, Löwith und Blumenberg. Vgl. für einen ersten historischen Überblick zum Säkularisierungstheorem außerdem Lübbe 1965; zur Säkularisierung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Ruh 2008; zum Nachleben der Religion Riesebrodt 2000; sowie in dessen Nachfolge Treml/Weidner 2007.

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Deshalb widmet sich der vorliegende Beitrag dem Verhältnis von Religion, Literatur und Geschlechterverhältnissen. Der Literatur kommt in ästhetischen, theologischen und religionswissenschaftlichen Diskursen einerseits die Rolle des Mediums zu, andererseits ist sie doppelläufig stets Produkt und zugleich Produzentin von Normen, Imaginationen und Praktiken rund um Religion und Geschlecht. Insofern bildet das Verhältnis von Religion, Geschlecht und Literatur den größeren Rahmen dieses Beitrags.

Ein erster Einstieg in den Roman sowie das Leben und Werk Ehrmanns Marianne Ehrmanns Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Amalies Mutter ist gestorben; sie und ihre kleine Schwester sind jetzt ganz auf den Vater angewiesen, der in finanziellen Nöten steckt. Fanny versucht ihre Freundin über die räumliche Distanz hinweg in einem Brief zu trösten. Um ihren Lebensmut zu stärken, appelliert sie an ihr Vertrauen in den göttlichen Plan: »Und dann, meine Liebe, wo ist dein Zutrauen auf die Vorsicht? […] [A]n Den, der uns retten kann, wenn wir es verdienen gerettet zu seyn? […] Ich kenne dein Herz, beßte Amalie, es ist so edel gestimmt, es schlägt so rein, glaube deiner Freundin, es kann nicht unbelohnt bleiben.« (II. Brief, 11) Fanny schildert Amalie als »exzessmäßig« fühlende Enthusiastin mit lebhafter Einbildungskraft. Deren »lebhaftes Gemüt« gibt sich im Antwortbrief sogleich zu erkennen: Oft dacht ich bei mir selbst: ein wakrer Junge möchte ich gar zu gerne seyn! Das ist ein Wunsch, den ich beständig im Kopf herumjage und dessen Grund ich kaum angeben kann. Wenn ich mich oft so selbsten frage: warum? dann bleibt meine Antwort über dem Zwang unsres Geschlechts stehen. […] Das ist doch allerliebst! […] Sie [die Männer] reizen uns zu Fehltritten, wir geben ihnen Gehör, und wenn es alsdann fehlschlägt, so fällt die ganze Last nur auf uns. Sie nennen uns schwach, und wir sind doch in gewissen Fällen weit stärker als sie. Ueberhaupt finde ich sie in vielen Stükken äußerst ungerecht, und gäbe es unter uns nicht so viele leere, hirnlose Puppen, ich würde die erste Rebellin werden, alle andere zur gesunden Vernunft aufzuhezzen. (V. Brief, 13)

Fanny erwidert darauf, dass es nun mal so sei, »daß wir auf dieser Weltbühne als verschiedene Geschöpfe agieren müßen.« (VI. Brief, 14) Wer den Zwang der Frauen aber als solchen erlebe, sei selbst schuld, ja »armselig« und »widerspenstig« – denn »würdige Weiber« ließen sich nicht zwingen. Aber Amalie solle sich bloß keinen Kopf machen: »[B]leib du immer ein Mädchen, kannst dessentwegen doch männlich denken!« (VI. Brief, 14) Wer war die Frau, die ihre Protagonistinnen 1788 solche Sätze sagen bzw. schreiben ließ? Marianne Ehrmann (1755–1795) war Verfasserin von Briefro-

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manen, Theaterstücken und philosophischen Essays sowie eine der ersten deutschsprachigen Publizistinnen überhaupt. Sie wurde wahrscheinlich am 25. November 1755 als eines von zehn Kindern in Rapperswil am Zürichsee in die Familie Brentano geboren.2 Alle ihre Geschwister verstarben nach und nach, ebenso ihre Mutter und zuletzt der Vater. Die 24-jährige, verwaiste Marianne geriet in die Obhut ihres Onkels und verdingte sich als Gouvernante. Sie heiratete später einen jungen Offizier, der sie so schwer misshandelte, dass sie ihr ungeborenes Kind verlor. Marianne Brentano floh ins Kloster und schloss sich bald darauf einer Schauspieltruppe an. Dort trat sie unter dem Namen »Madame von Sternheim« auf, eine Hommage an die selbstbestimmte Protagonistin aus dem damals populären Briefroman von Sophie von La Roche.3 Marianne Brentano führte ein prekäres – die Schauspielerei war damals kein angesehener Beruf – aber selbstbestimmtes Leben, ihr Beruf führte sie quer durch Europa. 1784 veröffentlichte sie ihre erste Schrift Philosophie eines Weibs, die so gut aufgenommen wurde, dass in Basel sogar eine Gegenschrift publiziert wurde: Ignaz Andreas Anton Felner, Professor für Rhetorik in Freiburg i.B., antwortete mit Die Philosophie eines Mannes auf Mariannes spitze Feder.4 Wohlgesonnener war ihr da einer ihrer Rezensenten in Straßburg, Theophil Ehrmann. Der sieben Jahre jüngere Theophil wurde Mariannes zweiter Ehemann, wobei die beiden wegen des Widerstands seines bürgerlichen Elternhauses heimlich heiraten mussten. Während sie ihren Ehemann in seiner publizistischen Tätigkeit unterstützte,5 veröffentlichte Ehrmann weiterhin eigenständige Werke: das Schauspiel Leichtsinn und gutes Herz oder die Folgen der Erziehung (1786), die Briefromane Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen (1788) und Nina’s Briefe an ihren Geliebten (1788), das Trauerspiel Graf Bilding. Eine Geschichte aus dem mittleren Zeitalter (1788) sowie die Kompilation von Aphorismen Ein Weib ein Wort. Kleine Fragmente für Denkerinnen (1789).6 Nach publizistischen Misserfolgen ihres Gatten begann Marianne Ehrmann 1790 ihre erste eigene Zeitschrift zu veröffentlichen. Amaliens Erholungsstunden (1790–1792) erschien bei Cotta in 2 Vgl. Kirstein 1997, 38 und 55, Anm. 81; Stump 1995, 496. 3 Dupree nennt Ehrmann in einem Atemzug mit Sophie Albrecht und Elise Bürger als erste Schauspielerinnen, »[who] began to branch out beyond dramatic literature into the areas of poetry, autobiography, and short fiction.« Dupree 2011, 11. Den Bühnennamen »Madame von Sternheim« hatte Ehrmann sich wohl vor allem aufgrund von dessen Bekanntheitsgrad und positiver Konnotation der »empfindsamen Frau« zugelegt; vgl. Dupree 2011, 101; Kirstein 1997, 42; Anm. 21. Mit La Roche teilte Ehrmann nicht nur das Genre des Briefromans, sondern auch die Tätigkeit als erste Publizistinnen. 4 Vgl. Stump 1995, 491; Anm. 26. Die Philosophie eines Weibs war so erfolgreich, dass sie auch ins Französische übersetzt wurde. 5 Die von Theophil Ehrmann herausgegeben Zeitschriften waren Frauenzimmer-Zeitung (Isny 1787) und Der Beobachter (Stuttgart 1788–1790); vgl. Kirstein 1997, 12; Anm. 4. 6 Vgl. zu dieser Übersicht Kirstein 1997, 53–55; Stump 1995, 493.

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Stuttgart, dem berühmtesten Verlagshaus jener Zeit. Allerdings kam es 1792 bereits zum Bruch zwischen Marianne Ehrmann und Cotta, weil der Verlagsleiter sich in den Inhalt der Frauenzeitschrift einzumischen begann. Ehrmann aber wollte selbstständig bleiben und stieg aus. Ihre Zeitschrift war zu jener Zeit bereits so erfolgreich, dass Cotta diese als Flora weiterführte.7 Die zweite Zeitschrift, Die Einsiedlerinn aus den Alpen (1793–1794), wurde bei Orell, Geßner, Füßli & Co. in Zürich mit einer Auflage von 1000 Exemplaren gedruckt.8 Die Einsiedlerinn war zudem die erste Zeitschrift überhaupt, die in der Schweiz von einer Frau geschrieben und publiziert wurde.9 Auch diese Publikation war ein finanzieller Erfolg, sie konnte aber aufgrund von Ehrmanns Erkrankung nur unregelmäßig erscheinen und wurde darum ebenfalls eingestellt.10 Noch im Todesjahr 1795 veröffentlichte der verwitwete Theophil die Erzählungen von Marianne Ehrmann, eine Sammlung von Geschichten aus Amaliens Erholungsstunden. 1796 und 1798 erschienen posthum Amaliens Feyerstunden. Auswahl der hinterlassenen moralischen Schriften von Marianne Ehrmann sowie der Roman Antonie von Warnstein. Eine Geschichte aus unserem Zeitalter von Marianne Ehrmann.11 1788, sieben Jahre vor Goethes Wilhelm Meister, erschien Ehrmanns Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen. Der Roman war ein größeres Projekt, das die Autorin ab 1784 bis zum Tod 1795 beschäftigte.12 Zwar verrät der Erstdruck keinen Ort oder Verlag, der Briefroman wurde jedoch in Bern bei Hortin veröffentlicht.13 Ehrmann publizierte Amalie nicht unter ihrem Namen, doch der Titel gibt uns trotzdem einen Hinweis: Amalie ist der Autorinnenname, den Ehrmann in Briefen und Zeitschriften zu verwenden pflegte.14 Auch verweist die Autorin eindeutig auf ihr Geschlecht, wenn sie sich im Untertitel als »Verfasserin der Philosophie eines Weibs« zu erkennen gibt. Diese Deklaration als Autorin ist insofern bemerkenswert, als bis dahin überhaupt erst rund 30 Romane

7 Vgl. Stump 1995, 494–496; Kirstein 1997, 12. 8 Zur historischen Einordnung: Erst zehn Jahre vor Ehrmanns Einsiedlerinn, also 1780, hatte der heutige Orell Füssli-Verlag die erste Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) in Umlauf gebracht. 9 Vgl. Holden 2007, 34. 10 Vgl. Stump 1995, 496. 11 Vgl. Kirstein 1997, 56; Anm. 82, 83, 84. 12 Sie fasste den Amalie-Stoff in drei Varianten: 1784 als Müßige Stunden eines Frauenzimmers, 1788 als Amalie und 1798 als posthume, überarbeitete Ausgabe Antonie von Warnstein. Zum Stoffkomplex kann zudem auch der zweite Briefroman Ehrmanns, Ninas Brief an ihren Geliebten, gezählt werden, der die Geschichte von Mariannes und Theophils vorehelicher Romanze behandelt; vgl. Dupree 2011, 103 und 176; Anm. 5. 13 Vgl. die Bibliographie von Stump/Widmer 1995, 517. 14 Vgl. Dupree 2011, 10; Widmer 1995, 500. Eine biografische Verbindung zwischen der Protagonistin des Briefromans und dessen Autorin ist naheliegend.

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deutschsprachiger Autorinnen publiziert worden waren.15 Gut möglich, dass damals bereits viel mehr Frauen als Autorinnen tätig waren – aber publiziert wurde damals meist unter männlichem Pseudonym.16 Dies handhabte Ehrmann bei ihren literarischen Schriften ebenfalls so, die Zeitschriften aber publizierte sie unter ihrem eigenen Namen.17 Nach Sophie von La Roche und Caroline Friederike von Kamiensky war Marianne Ehrmann damit erst die dritte Frau, die im deutschsprachigen Raum offen publizierte. Wie die Namen verraten, war sie jedoch im Gegensatz zu ihren beiden »Berufskolleginnen« nicht von adliger Herkunft.18 Auch dies macht Ehrmanns schriftstellerische und publizistische Tätigkeit bemerkenswert.19

Feministische Literaturwissenschaft und Erzähltextanalyse Die Forschungsliteratur zu Ehrmann ist relativ übersichtlich und lässt sich in zwei – allerdings unterschiedlich gewichtige – Lager teilen: Derjenige Rezeptionsstrang, der in Ehrmann aufgrund ihrer Schaffenskraft und den bearbeiteten Inhalten eine emanzipierte und exzeptionelle Proto-Feministin sieht, ist wesentlich umfangreicher als derjenige, welcher sie als »Kind ihrer Zeit« beurteilt, ihre Verankerung im aus heutiger Sicht konservativen Tugenddiskurs betont und ihr Schreiben als bemühtes Beackern gängiger Topoi deklassiert.20 Letztere Position findet sich etwa bei Wägenbaur, wenn sie klarstellt: »Die Schulung an Rousseau prägt Ehrmanns rigide Ansichten über Mädchenbildung. Sie geht von der faktischen Abhängigkeit der Frau vom Mann aus […].«21 Die positiveren

15 Vgl. Widmer 1995, 515, insb. Anm. 28. Von den 30 Frauenromanen stammten neun alleine von La Roche, fünf von Christiane Benedikte von Naubert. 16 Vgl. zur Thematik der Pseudonyme Kords aufschlussreiche Monographie Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700–1900 (1996). 17 Vgl. Holden 2007, 34. 18 Vgl. Stump 1995, 484; Kirstein 1997, 38–39. 19 Die Zeitschriften Ehrmanns sind nicht nur aufgrund ihres Entstehungskontextes, sondern auch inhaltlich bemerkenswert: »Die Präsentation der Zeitschriften ist deutlich journalistisch geprägt, neben Erzählungen, Gedichten, Essays und Anekdoten finden sich feste Rubriken auch aktuellen, tagespolitischen Inhalts, Buchbesprechungen und ein reger Dialog mit dem Publikum in Form von Briefen u. ä.« Kirstein 1997, 12. Ehrmanns publizistischer Nachlass der Einsiedlerinn befindet sich in der Zentralbibliothek Zürich (Signatur 36.542) und wurde 2002 von Annette Zunzer neu ediert; vgl. Ehrmann 2002. 20 Für einen Überblick vgl. Holden 2007, 34–36. 21 Wägenbaur 1996, 39; Dupree unterstützt diese Einschätzung: »Like Rousseau, Ehrmann argues that the education of young women ultimately serves the interests of men; she contends that young girls should be educated with the goal of becoming good wives and mothers. Her ideas are fully in line with a late-Enlightened definition of femininity that located women’s primary role in the private sphere and saw gelehrte Frauenzimmer as both unnatural and

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Rezensentinnen Ehrmanns beschreiben sie als Vordenkerin eines neuen Geschlechterbildes und als Autorin, welche die Ideen der Aufklärung progressiv verfolgte.22 So meint Kirstein, Ehrmanns Zeitschriften seien stärker als andere Frauenjournale von der »Ambivalenz zeitgenössischen weiblichen Selbstverständnisses«23 geprägt gewesen. Sie zeigten deshalb, dass die Herausgeberin die Notwendigkeit von Bildung, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Frauen erkannt und sich publizistisch gegen herrschende patriarchale Normen gestellt habe. In Auseinandersetzung mit dieser positiven Lesart der publizistischen Tätigkeit Ehrmanns urteilt Weckel: »In der Forschung sind bislang die selbstbewußten, männerkritischen Passagen der Zeitschriften sehr viel stärker, mitunter sogar äußerst selektiv rezipiert worden.«24 Dass sich diese beiden divergierenden Positionen mit eindeutiger Schlagseite hin zu einer unkritischen Lesart von Ehrmanns Werk herausgebildet haben, erstaunt angesichts der noch näher zu bestimmenden Problematiken feministischer Literaturwissenschaft nicht.25 Die wissenschaftliche Rezeption insgesamt ist fragmentiert: Kaum eine der Publikationen beschäftigt sich mit mehr als einer Textsorte aus Ehrmanns Werk, eine kritische Edition der Schriften ist nach wie vor ausstehend.26 Aufgrund dieser Schieflage lässt sich die Sekundärliteratur gemäß der Fokussierung auf philosophische und fiktionale Texte Ehrmanns,27 ihre publizistische Tätigkeit28 sowie ihr Theaterschaffen29 ordnen.

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obsolete.« Dupree 2011, 104. Weniger dezidiert, aber mit derselben Stoßrichtung argumentiert Balmer 2011; eine Position, die in Unterkapitel 3.2 eingehender diskutiert wird. Vgl. Holden 2007, 36–37; Stump 1995, 498; oder Madland 1992, 406–407., insb. Anm. 18. Stump und Madland beziehen sich an dieser Stelle explizit auf eine Studie von Edith Krull, Das Wirken der Frau im frühen deutschen Zeitschriftenwesen (1939). Diese Studie kann deshalb wohl als Ursprung der affirmativ feministischen Lesart von Ehrmanns Werk gewertet werden. Kirstein 1997, 12. Weckel 1998, 139–141. Weckel beurteilt etwa Madlands Position gegenüber Ehrmann – m. E. berechtigterweise – als zu unkritisch. Das tut es auch nicht, wenn man forschungspolitische Umstände berücksichtigt: Nur eine originelle, progressive und darum aktuelle Autorin rechtfertigt die wissenschaftliche Aufarbeitung ihres Werks. Dieser Legitimationszwang akademischer Forschung bedingt die affirmative Perspektive auf das historische Frauenschaffen sicher nicht unwesentlich mit. Vgl. Stump 1995, 481. Dazu zähle ich Holden 2007; Stump 1995; Widmer 1995 und Madland 1992. Etwa Weckel 1998 und Kirstein 1997; letztere hat meines Wissens die einzige Monographie überhaupt vorgelegt, die sich ausschließlich Ehrmanns Werk widmet: Marianne Ehrmann. Publizistin und Herausgeberin im ausgehenden 18. Jahrhundert (1997). Dank Duprees 2011 erschienener Monographie The Mask and the Quill. Actress-Writers in Germany from Enlightenment to Romanticism ist Ehrmann erstmals als Schauspielerin, Theaterkritikerin und als Theaterheoretikerin zu entdecken.

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Diese kurze Beurteilung der Forschungslage von Ehrmanns Werk verweist bereits auf einige Problembereiche feministischer Literaturwissenschaft30. Sie hat sich bislang hauptsächlich auf die Interpretation der Textinhalte, die Darstellung der Frauenfiguren und auf Fragen der Literaturproduktion und -rezeption konzentriert, wobei diese (zu) oft biographisch gewendet wurden. Deshalb, so konstatieren Nünning/Nünning im einleitenden Aufsatz des Bandes Erzähltextanalyse und Gender Studies (2004), mangle es der feministischen Literaturwissenschaft an systematischeren, methodologisch und theoretisch eigenständigen Ansätzen, um ihre spezifische Perspektive auf Erzählungen zu vermitteln.31 Sie schlagen vor, dass sich die feministische Literaturwissenschaft bei der strukturalistischen Narratologie nach Martinez/Scheffel, Stanzel oder Genette, die eine exakte Metasprache zur Analyse von Erzählungen entworfen haben, bedienen solle.32 Ein Ansatz, der das Beste der geschlechterbezogenen und strukturalistischen Erzähltextanalysen zusammenbringt, »versucht, durch eine Untersuchung von erzählerischen Verfahren in Romanen Einblick zu gewinnen in geschlechtsspezifische Einstellungen, Denkgewohnheiten und Lebensbedingungen sowie in historisch variable Geschlechterkonstruktionen.«33 In diesem Sinne verstehen Nünning/Nünning Erzähltechniken als »hochgradig semantisierte narrative Modi, die aktiv an der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten und Geschlechterrollen beteiligt sind.«34 Diesen Ansatz strukturalistisch informierter, feministischer Narratologie verfolgt Susanne Balmer in ihrer Mono-

30 Im Gegensatz zu Nünning/Nünning, deren Aufsatz den Titel Von der feministischen Narratologie zur gender-orientierten Erzähltextanalyse (2004) trägt, spreche ich weiterhin von »feministischer« und nicht »gender-orientierter« Literaturwissenschaft, weil ich die Gendertheorie als einen produktiven Teil feministischer Theoriebildung erachte (und nicht umgekehrt). Mit Osinski verstehe ich feministische Literaturwissenschaft zudem im engeren Sinne als theoretischen Zugriff, der »geschlechtsneutrale Ansätze ablehnt und ihnen die eigenen feministischen entgegensetzt, weil es in der Wissenschaft keine Geschlechtsneutralität« (Osinski 1998, 127) gibt. Und weiter: »Vom Selbstverständnis her ist die feministische Literaturwissenschaft parteiisch […]. Sie geht aus von der Prämisse einer historischen, sozialen, wirtschaftlichen, ideologischen und kulturellen Frauenunterdrückung, die auch die Gegenwart noch bestimmt; Literatur und literarisches Leben […] [sind] ebenso patriarchalisch organisiert wie der Wissenschaftsbetrieb und damit auch die Literaturwissenschaft selbst.« Osinski 1998, 127. Dass die Theorie der Konstruiertheit von Geschlecht kein Kind der Gendertheorie ist, sondern bereits in den Anfängen der feministischen Literaturwissenschaft so verstanden wurde, belegen Osinski 1998, 131–134, und Bovenschen in ihrer 1979 erschienen Studie Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen (2003). 31 Vgl. Nünning/Nünning 2004, 8–9. 32 Vgl. Martinez/Scheffel 2007; Genette 2010; Stanzel 1979. 33 Nünning/Nünning 2004, 10. 34 Nünning/Nünning 2004. Sie beziehen sich hierbei explizit auf Jamesons Konzept der ideology of form, das unter anderem von Lanser für die (feministische) Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht wurde, vgl. Nünning/Nünning 2004, 17.

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graphie Der weibliche Entwicklungsroman. Individuelle Lebensentwürfe im bürgerlichen Zeitalter (2011). Darin widmet sie Amalie ein Unterkapitel. Gemäß Balmer ist Ehrmanns Briefroman als quest plot organisiert, also als weiblicher Entwicklungsroman, in dem die Protagonistin ihr Zuhause aufgeben muss, um ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.35 Amalie verlässt nach dem Tod der Eltern ihre Heimat, sie wird mit der Gesellschaft konfrontiert und durchläuft einen Prozess der Vervollkommnung bis zur glücklichen zweiten Ehe. Diese drei Phasen – Ausgangsposition, Hauptsequenz und Endzustand – sind gekennzeichnet durch sich verändernde Positionierungen der Protagonistin innerhalb der bürgerlichen Geschlechterordnung. Entsprechend der Idee der Vervollkommnung untersucht Balmer Amalie auf das sogenannte »Perfektibilitätsnarrativ« hin. Dieses fasst sie folgendermaßen: Entwicklung, verstanden als Vervollkommnung, beinhaltet die Vorstellung von präformierten Anlagen, die sich in Auseinandersetzung mit der Umwelt entfalten. Sie bedeutet eine Einbettung des Individuums in einen göttlichen oder natürlichen Plan, der zu einer kontinuierlichen Perfektionierung der ganzen Gattung Mensch führt.36

In Amalie zeigt Balmer diesen Prozess der »Einbettung des Individuums in einen göttlichen oder natürlichen Plan« anhand der beiden Perspektiven der Briefschreiberinnen auf. Ihre These lautet, dass den Lesenden »auf der Inhaltsebene zwei verschiedene Weiblichkeitsentwürfe präsentiert [werden], denen dieselbe Berechtigung zugeschrieben wird und die am Ende in eins fallen.«37 Diese Vervollkommnung, also das Perfektibilitätsnarrativ, zeigt sich als eine allmähliche Annäherung und letztlich Schließung der beiden weiblichen Erzählperspektiven.38 Diese Nivellierung der beiden Perspektiven soll im Folgenden anhand einer auf Religion und Geschlechterverhältnisse fokussierten Lesart von Amalie nachvollzogen werden.

35 Vgl. zu diesem Abschnitt Balmer 2011, 90–91 sowie 101; zu ihrem Verständnis des weiblichen Entwicklungsromans allgemein 7–11. Amalie als Bildungsroman zu lesen, geht auf Widmer zurück; vgl. Widmer 1995, 502–503. 36 Balmer 2011, 86. Vorstellungen der Vervollkommnung beeinflussen die Möglichkeitsbedingungen der weiblichen Romanprotagonistinnen. Sophie von La Roches Geschichte Fräulein von Sternheim, Amalie von Marianne Ehrmann, Agnes von Lilien von Caroline von Wolzogen und Julchen Grünthal von Friederike Helene Unger, »sie alle setzen das Paradigma der Perfektibilität für die Darstellung ›weiblicher‹ Individuierung ein.« Balmer 2011, 86. 37 Balmer 2011, 91. 38 Gemäß Allrath/Suhrkamp 2004, 162–169 sind Aspekte einer Erzählperspektive kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Bedingungen ebenso wie psychische Dispositionen, Werteund Normensysteme, Deutungsschemata, Alter, biologisches und kulturelles Geschlecht, sexuelle Orientierung, Nationalität oder ethnische Identität. Aus mehreren sich korrigierenden, widersprechenden, relativierenden oder bestätigenden Perspektiven ergibt sich schließlich die Perspektivenstruktur einer Erzählung, welche Auskunft gibt über die Privilegierung ausgewählter Perspektiven und also über Machtverhältnisse und Ausschlussmechanismen.

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Analyse der Erzählperspektiven Der Briefroman ist in zwei Teile gegliedert, von denen der erste die »Vorerinnerung des Herausgebers« sowie die Briefe I–LXXX enthält, der zweite die Briefe LXXXI–CLXIII sowie die »Nachschrift an die Leser und Leserinnen«. Der Briefwechsel zwischen Amalie und Fanny ist chronologisch geordnet und folgt dem Lebenslauf Amalies. Ehrmann erzählt die Geschichte Amalies vom Verlust ihrer Mutter bis zur glücklicheren zweiten Ehe. Über die Zeitstruktur des Romans lassen sich kaum Aussagen machen. Weder Datierungen oder Jahreszeiten noch historische Ereignisse lassen auf das Alter der Figuren oder die Zeitspanne des Briefwechsels schließen. Ebenso rätselhaft bleibt die Verortung: Nur entfernte Städte wie Wien, Tameswar oder Venedig werden mit Namen genannt, alle anderen Ortschaften sind camoufliert. Umgekehrt verhält es sich mit den Figuren: Die nächsten Bezugspersonen haben einen Namen erhalten – Amalie und Fanny selbst, die Schwester Louise, sowie die künftigen Gatten Karl und Wilhelm – die entfernten Verwandten hingegen lesen wir mit Initialen. Die beiden Briefverfasserinnen treten in ihren jeweiligen Briefen als Ich-Erzählerinnen auf, wobei sich der Erzählstandort beider Erzählerinnen durch große Nähe auszeichnet. Vor allem bei Amalies Briefen fallen erlebendes und erzählendes Ich räumlich und zeitlich fast zusammen.39 Infolge der Ausrichtung des Plots an Amalies Entwicklungsgeschichte sowie der Anzahl Briefe ist Amalies Perspektive durchweg dominant. Diese Dominanz wird relativiert durch die Wissenspositionen der beiden Frauen. Amalie ist emotional, extrovertiert und experimentierfreudig, während Fanny als Philosophin die Rolle der vernünftigen, beratenden und weisen Freundin zukommt. »Fanny vertritt die mütterliche Instanz, die befiehlt, rät, zurechtweist oder warnt. In ihren Aussagen kristallisieren sich dabei gewissermaßen die gesellschaftlichen Imperative.«40 Auch wenn quantitativ weniger präsent, so fallen Fannys Analysen im Kontrast zu Amalies Abenteuerberichten aufgrund des intellektuell privilegierten Zugangs doch stark ins Gewicht. Die zu Beginn dieses Beitrages zitierte Passage, in der Amalie von ihrem Wunsch, ein Junge zu sein, berichtet, ist ein erstes Beispiel für die Polarisierung der beiden Frauenstimmen. Fanny reagiert auf Amalies Träumerei spöttisch tadelnd. Im weiteren Verlauf des ersten Romanteils setzt sich diese Charakterisierung fort, etwa, wenn Amalie Fanny ihren Tagesablauf schildert: »Ich bin eben so faul nicht, wie Du Dir vorstellest; meine Tagesordnung scheint mir doch so ziemlich wohl eingerichtet und vollständig. Aufstehen und ankleiden, in die Kirche gehen, und nach diesem hurtig im Hause herumhüpfen und anordnen, so 39 Vgl. Balmer 2011, 90. 40 Widmer 1995, 505.

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wird es Abend, ehe ich mir es versehe.« (XI. Brief, 19–20) Indem Amalie ihre Aktivitäten – zu denen der Kirchgang ganz selbstverständlich gehört – so zusammenfasst und Fanny gleichzeitig als phlegmatische, ruhige Freundin charakterisiert, werden die beiden Frauentypen zu Beginn des Briefromans positioniert: Amalie als extrovertierter, ständig nach emotionaler Anregung suchender Freigeist, Fanny als vernünftige, beratende und treuherzige Freundin in der Ferne. Diese Polarisierung lässt sich auch am Topos des Reisens erkennen. Amalies Entwicklung ist von zahlreichen Ortswechseln gekennzeichnet: Im ersten Romanteil ist sie ständig unfreiwillig unterwegs, wird hin- und hergeschoben zwischen den Vormunden; im zweiten Romanteil ist sie eine schauspielernde Vagabundin, eine Rolle, die ihr mehr zu behagen scheint, denn die abenteuerlichen Reiseschilderungen nehmen in ihren späteren Briefen eine prominente Rolle ein. Fanny hingegen reist, ihrem phlegmatischen Charakter gemäß, eigentlich nicht. Mit diesen Beobachtungen lässt sich festhalten, dass die Spannung der Erzählung wesentlich auf der offenen Perspektivstruktur, in der die gegensätzlichen Persönlichkeiten der Freundinnen entfaltet werden, beruht (und nicht ausschließlich durch den quest plot und Amalies Vervollkommnung). Die Gegenüberstellung der beiden schreibenden Freundinnen ermöglicht es Ehrmann, die beiden als individuelle und gleichberechtigte Frauen darzustellen.41 Amalie und Fanny anerkennen sich gegenseitig als Denkerinnen, begegnen einander auf Augenhöhe und treten deshalb in einen intensiven Austausch. Dies lässt sich am Beispiel des Theaters nachvollziehen. Ist die Schauspielkunst im ersten Romanteil noch ein allgemein gesellschaftliches Thema, so wird sie spätestens im CXIII. Brief, als Amalie von ihrer Berufung als Schauspielerin berichtet, zu einem zentralen Fokus der schriftlichen Gespräche. Aus der Differenz der von Emotionen überwältigten Amalie und der kühl-rationalen Fanny, die ein Projekt zur »Sitten-Verbesserung der Bühnen« (CXXXIV. Brief, 245) entwirft, entspinnt sich ein produktives Ringen um die Bedeutung des Theaters für die Gesellschaft als Ort der Erziehung und Bildung. Beide Frauen treiben das gemeinsame Denkprojekt auf ihre je eigene Weise voran: Während Amalie empirisches Anschauungsmaterial liefert, analysiert Fanny die Beobachtungen und schafft ein eigenes System daraus. So ergänzen sich die beiden Wissenszugänge der Frauen zu einem produktiven Ganzen.

41 Zu den Überlegungen in diesem Abschnitt vgl. Widmer 1995, 505–506.

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Religion in den verschiedenen Erzählperspektiven Die Religion, genauer die Konfessionen, spielen in Ehrmanns imaginierten weiblichen Lebensentwürfen eine zentrale Rolle. Zunächst dienen auch sie der polaren Perspektivierung der Frauenfiguren: hier Amalie, die empfindsame und sinnliche Katholikin, für die der Kirchenbesuch alltäglich ist; dort Fanny, die vernünftige Protestantin, die Denkerin, über deren praktische Lebenshaltung wir so gut wie nichts erfahren. Während die katholischen Institutionen permanenter Kritik beider Freundinnen ausgesetzt sind, erscheint der Protestantismus als lebensferner, aber gerade dadurch idealer Gegenentwurf. Ein Beispiel dafür ist der zölibatäre, lebensfeindliche Priester, dem der protestantische, liebevolle Pfarrer gegenübergestellt wird. So etwa schreibt Fanny polemisch an Amalie: Es ist eine wahre Freude, wenn man den zärtlichen, den warmen, gefühlvollen protestantischen Geistlichen betrachtet; wie er sein von Gattenliebe angefülltes Herz jedem seiner Nebenmenschen öffnet, wie er weich ist für Religion und Pflicht, wie er als Vater seiner Kinder, als guter Bürger seine Tage in den Armen seines liebevollen Weibes dahineilen sieht. – Da indessen der katholische Geistliche sein Gefühl tirannisirt, von Langerweile gemartert wird, die Religion kalt und unzufrieden ausübt, oder gar aus Menschenschwäche auf ärgerliche Irrwege geräth. – Gott! – Gott! – […] Du schufst uns ja zur Liebe, zur Begattung; und Menschen wollen es wagen deine Schöpfung zu tadeln, Triebe zu unterdrükken, die uns doch so weich zum Guten machen. (LXXX. Brief, 146– 147)

Das Verhältnis von Liebe, Emotionen, Sexualität bzw. Enthaltsamkeit und Religion kommt am Rande auch in den beiden Klosteraufenthalten Amalies zur Sprache. Zunächst sieht sich Amalie nach dem Tod des Vaters und auf Anraten des Onkels dazu gedrängt, in ein Kloster zu gehen. Insgeheim stimmt sie dem Onkel gerne zu, verlangt es sie doch nach Einsamkeit und Ruhe (LII. Brief). Ihre Freundin hingegen schimpft mit ihr: »Ich muß Dich zanken über deinen Klostergedanken. […] Du, mit deiner Anlage zur Schwermuth willst die Einsamkeit suchen?« (LIV. Brief, 92) Ihre Befürchtung sieht sie alsbald bestätigt, Amalie ist zutiefst unglücklich mit ihrem Dasein und den »leblose[n], gebeugte[n] Mädchen[, die] an den hohen fürchterlichen Klostermauern herumschleichen« (LV. Brief, 94–95). Klöster seien »Sammelpläzze der Dummheit« (LVII. Brief, 97), geprägt von Gehorsam, Keuschheit und »kindischer Moral«. »Schreiben darf keine Nonne ohne Erlaubnis ihrer Oberin. […] Unwißenheit, Menschenhaß, Vorurtheil, Einfalt begleitet die Vorsteherin solcher Häufchen überall. – Ja wohl, meine Freundin, ist Klostererziehung die abgeschmakteste von der Welt.« (LVII. Brief, 98) Klöster als Orte, an denen Mädchen und junge Frauen Bildung erfahren können, sind für eine Erziehung zur »vernünftigen Frau« augenscheinlich

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komplett ungeeignet. Trotzdem sieht sich Amalie nach der Scheidung42 ihres ersten, gewalttätigen Ehemannes gezwungen, nochmals als Kostgängerin im Kloster zu leben. Diesmal berichtet sie zuerst positiver über das Leben bei den Englischen Fräuleins43. Dann aber wird ihr ob des »mechanischen Einerleis« des Klosterlebens doch langweilig. Sie stänkert über die abgeschmackte Erziehung der Nonnen, die den Mädchen zwar nähen, stricken, beten und lesen beibringen, sie aber nicht lehren, das Gelesene kritisch zu reflektieren. Kurz und knapp kommentiert Amalie: »Wer nicht beim Lesen denken lernt, kann nichts verstehen, und wer nichts versteht, der fühlt auch nichts.« (LXXXVI. Brief, 162) Amalie legt ihrer Polemik einen ausgefeilten Plan bei, wie die Mädchen künftig zu erziehen seien. Die Figuren in Amalie sind eingebettet in ein aufgeklärtes, christliches Weltbild. Inhaltlich bildet diese Einbettung in den göttlichen Heilsplan den Rahmen des ganzen Briefromans.44 Amalie und Fanny haben ihren je eigenen Umgang mit dem Verhältnis von Aufklärung und Religion, Erstere wie gesagt ein praktisches, Letztere ein eher idealistisches. Amalie berichtet von Kirchgängen und Andachtspraxis und spottet über »Andächtelei« und Bigotterie. Fanny hingegen konzipiert Religion als Einheit von Liebe, Gefühl und Duldung. Die von Balmer beobachtete Schließung der beiden Erzählperspektiven lässt sich darum an ihren »religiösen Semantik[en]«45 feststellen. Fanny lässt ihrer Schelte, sie möchte ihre Freundin »zanken« ob ihres »Klostergedankens«, ein Plädoyer für die Einheit von Liebe, Religion und Vernunft folgt: »Jedes Mädchen hat doch wenigstens bisweilen einige Spuren der urtheilenden Vernunft in sich. […] Die Natur hat Dich frei geschaffen, und Du wagst es zu deiner eigenen ewigen innerlichen Qual, Dich von Unwißenden in das Joch einer gezwungenen Enthaltsamkeit werfen zu laßen! Die Religion selbst billigt Liebe, und zwischen Liebe und Laster ist ein großmächtiger Unterschied.« (LVI. Brief, 96) In ihrem allerletzten Brief selbst 42 Auch die Haltung der beiden Brieffreundinnen zu Amalies (eigentlich unmöglicher) Scheidung von ihrem gewalttätigen Gatten ist aufschlussreich: Beide können nicht einsehen, warum Amalies Eheunglück vom Richtspruch derjenigen abhängig sein soll, welche selbst nie in Ehe gelebt haben. Ganz im Sinne der aufklärerischen Forderung nach Gewaltenteilung fragt Fanny, warum der Ehevertrag überhaupt mit Religion in Verbindung stehe und seine Auflösung also eine Sünde sei. Mit solchen Diskussionen mischt sich die Autorin Ehrmann direkt in die juristisch-religiösen Diskurse ihrer Zeit um den Ehevertrag ein (vgl. Bovenschen 2003, 145). Schlögl 2013, 166–167 beschreibt, wie die Führung des Ziviliregisters in der postrevolutionären Phase Frankreichs von geistlicher in weltliche Hand übergeben wurde und der Kirche so eine weitere Zuständigkeit in sozialpolitischen Angelegenheiten abgesprochen wurde. 43 Die Englischen Fräulein waren eine katholische Kongregation, gegründet Anfang des 17. Jahrhunderts von Maria Ward in Frankreich; vgl. Schlögl 2013, 312–313. 44 Die Beobachtung dieser Klammerstruktur stammt von Balmer 2011, 92. 45 Vgl. zur religiösen Semantik Welbers 2014, 66–100 und insb. zu Goethe als Erneuerer der religiösen Semantik Welbers 2014, 284–307.

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spricht die Gescholtene dann in ähnlich humanistisch-aufgeklärter Manier von der Religion – ihrer »gemeinsamen Religion« mit dem zukünftigen Gatten Wilhelm: »Unsere Religion ist Liebe für den Allmächtigen und Liebe für unsere Brüder; unsere Lebensart, stille von der großen Welt entfernte Weisheit; […] und der Endzweck unserer Handlungen, willige Ausübung der allgemeinen Pflichten für das Wohl der Menschheit und für unser eigenes.« (CLXIII. Brief, 318) In diesem Zitat wird das damalige, aus heutiger Perspektive durchaus paradox erscheinende aufgeklärt-christliche Weltbild offensichtlich, das Bildung ebenso wie Sinnlichkeit, Aufklärung ebenso wie Gefühl, Religion ebenso wie Rationalität umfasste. Amalies und Fannys Perspektiven gleichen sich in Bezug auf ihr Werte- und Normenverständnis also an, Balmers These von der Nivellierung der Erzählperspektiven scheint bestätigt. Allein, der Umfang des Briefwechsels verrät bereits, dass diese Entwicklung nicht linear verläuft. Die Erzählzeit von 160 Briefen erlaubt es Ehrmann, die Homogenisierung der Perspektiven hinzuhalten und währenddessen ein Panoptikum verschiedenster weiblicher Lebensentwürfe aufzuzeigen.

Verschiedene Frauenbilder in den Erzählperspektiven Zwar bildet die heteronormative Geschlechterordnung den Horizont aller Überlegungen Fannys und Amalies, Balmer konstatiert aber, dass Ehrmanns Weiblichkeitsentwürfe die bürgerlichen Normen ihrer Zeit verschiedentlich überschreiten: »Die patriarchale Ordnung wird […] scheinbar zementiert, allerdings erweisen sich die weiblichen Handlungsspielräume im Sinne von Individuierungsmöglichkeiten deutlich größer als im Rahmen bürgerlicher Weiblichkeit vorgesehen […].«46 Zum einen kommt in den verschiedenen Beziehungen zu Männern die Vielfalt der sozialen Rollen einer Frau des ausgehenden 18. Jahrhunderts zum Vorschein: Amalie ist Tochter, Nichte, Liebhaberin, Gesellschaftsdame, Bühnenpartnerin, Arbeitnehmerin und Denkfreundin. Zum anderen entsteht durch den Fokus auf die weibliche Lebenswelt der Brieffreundinnen ein differenziertes Frauenbild. Die Konstituierung des Frauseins wird in den Briefen »innergeschlechtlich« verhandelt, vollzieht sich also in wiederholten Identifikations- und Abgrenzungsbewegungen zu der anderen Frau. Augenscheinlich wird dies, wenn sich die zweidimensionale Freundschaft öffnet und Amalie und Fanny über andere weibliche Lebensformen schreiben. Die Nonne, die Prostituierte, die Venezianerin, die Star-Schauspielerin – alle diese Frauen46 Balmer 2011, 86.

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figuren werden polemisch verhandelt und dienen der Selbstvergewisserung der Protagonistinnen. Schließlich gilt es festzuhalten, dass der weibliche Entwicklungsroman das Leben Amalies vor der geglückten zweiten Ehe verhandelt und den Lesenden so die kulturelle Vielseitigkeit des Frauwerdens vor Augen führt. Amalie erscheint nicht als biologisches Gattungswesen »Frau«, sondern – gerade im Abgleich mit ihrer gegensätzlichen Freundin – als Frau mit individuellem Werdegang. »Die Adaption des Perfektibilitätsparadigmas ermöglicht dem Narrativ eine allgemein menschliche Vorstellung von Entwicklung als Vervollkommnung, die eine individuelle Geschichte mit Fehlern und Irrtümern auch für die Frau als notwendig erscheinen lässt«47, so Balmer. »Auch das Beziehungsgeflecht der Hauptfiguren«, konstatiert sie an anderer Stelle, »geht weit über die konventionelle Dreifachbestimmung der Frau hinaus.«48 Diese Feststellung in Bezug auf die Beziehungsstruktur von Amalie und Fanny ist bedeutsam. Der Briefroman endet thematisch mit der baldigen Heirat der beiden Frauen. Genau genommen fassen die letzten Briefzeilen aber die Vorfreude Amalies auf das Wiedersehen mit Fanny. Diese Ausrichtung der beiden Frauen auf die jeweils andere – ganz abgesehen von den diversen weiteren Frauenfiguren, mit denen sie sich auseinandersetzen – verweist auf die Bedeutung der weiblichen Differenz für diesen Briefroman. Die Vielfalt der Möglichkeiten, Frau zu werden und Frau zu sein, zwingt die Brieffreundinnen dazu, ihre gesellschaftskritischen Beobachtungen stets gegenseitig abzusichern und »in ihrer Relevanz als ›weiblicher‹ Blick auf die Gesellschaft«49 zu diskutieren. So entsteht ein changierendes Beziehungsgeflecht von gegenseitiger Abgrenzung bei gleichzeitiger Anteilnahme und Solidarisierung, das diesen Briefroman meines Erachtens prägt. Amalie mit Balmer als Perfektibilitätsnarrativ zu lesen, relativiert die Vielfalt weiblicher Lebensentwürfe und die Differenziertheit, mit der Ehrmann ihre Frauenfiguren gestaltet, zugunsten eines Schemas des weiblichen Entwicklungsromans. Dagegen schlage ich vor, Amalie als Versuch zu lesen, die Frauen als verschiedene dem naturalisierenden Diskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts entgegenzusetzen. So gelingt es Ehrmann, in den 160 Briefen ein Panorama der Weiblichkeit zu entfalten, das einer monolithischen, normierten Vorstellung der Frau im 18. Jahrhundert entgegensteht. Mit diesen Überlegungen sind wir bei der Frage nach dem historischen Kontext von Ehrmanns Briefroman und den damaligen Religions- und Geschlechterdiskursen angelangt.

47 Balmer 2011, 143. 48 Balmer 2011, 105. 49 Balmer 2011, 110.

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Religion und Geschlechterverhältnisse im ausgehenden 18. Jahrhundert Sich auf eine Diskussion von Religion und Geschlechterverhältnissen im Jahr 2018 einzulassen, bedeutet, sich auf ein »begriffliches Minenfeld«50 zu begeben. Nicht nur die Rede von »Frau« und »Mann« ist gemäß gendertheoretischen Ansätzen im 20. Jahrhundert fragwürdig geworden. Ebenso problematisch ist die Handhabung von Begriffen wie Religion, Säkularisierung und Individualisierung, oder auch die historischen Gliederungen in Epochen wie Neuzeit und Aufklärung. Bemerkenswerterweise begeben sich die Lesenden mit der Lektüre von Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts in eben jene Zeit, in welcher sich solche Kategorien und Begriffe erst ausgebildet haben. Die von Koselleck als »Sattelzeit« bezeichneten Jahre 1750 bis 1830 sind geprägt von einem tiefgreifenden Bedeutungswandel klassischer Topoi: Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Begriffswelt wird in eine neue Sprache »übersetzt«, alte Worte wie Ökonomie, Arbeit oder Familie, aber auch Volk, Nation und Revolution erhalten neuen Sinngehalt.51 Die religionswissenschaftlich markanteste Entwicklung hierbei ist die sich allmählich vollziehende Trennung des Offenbarungs- vom Religionsbegriff. Die Sattelzeit ist die Entstehungszeit des Kollektivsingulars Religion.52 Die Jahre, in denen Ehrmann ihren Briefroman Amalie verfasste, sind also nicht nur jene der französischen Revolution oder der Aufklärung, sondern auch diejenigen, in denen »Religion« und »Frau« ihren bis heute hegemonialen Bedeutungsgehalt erhalten haben. Gemäß Balmer verhandeln die Romane des Perfektibilitätsnarrativs »›weibliche‹ Entwicklung in einem säkularisierten Kontext«53. Wie die eingangs angeführten Zitate und die bisher diskutiertem Romaninhalte von Amalie gezeigt haben, kann der von Balmer intendierte »säkularisierte Kontext« dabei sicherlich nicht die Individualisierung oder gar den Rückgang von Religion meinen. Er bezeichnet eher eine neue Konstellation von Glaube und Rationalität. Darum gilt für den Religionsbegriff des 18. Jahrhunderts: »Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Aufklärung und Christentum hat sich schon seit längerem die Einsicht durchgesetzt, daß es viele verschiedene […] Interdependenzen gab, daß der 50 Vgl. King 2005, 4; vgl. auch Höpflinger/Pezzoli-Olgiati 2012. 51 Vgl. Jordan 2001, 529–531. Er betont, dass der Begriff der Sattelzeit eine »Kampfthese« Kosellecks gewesen sei, um die gängige historische Periodisierung »Antike – Mittelalter – Neuzeit« infrage zu stellen. Zur Rolle der Sattelzeitthese in der Geschlechterforschung vgl. Klinger 2004; für eine religionshistorische Problematisierung Joas 2011. 52 Vgl. Müller 2003, 230; sowie aus religionswissenschaftlicher Perspektive ausführlich Krech 2008, 211–213. 53 Balmer 2011, 144. Sie konstatiert dies mit Blick auf Richardson und Rousseau, zwei wirkmächtige Vordenker der Aufklärung; vgl. dazu auch Bovenschen 2003, 144–145.

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entschiedene Gegensatz eher selten zu beobachten ist gegenüber den vielen Formen gegenseitiger Beeinflussung.«54 Für die Religionsforschung bedeutet dies, dass Religion zum einen in eindeutig religiös konnotierten Kategorien wie den Konfessionen, den Polemiken rund um das Zölibat oder in Bezug auf die Verhältnisse in den Nonnenklöstern zu suchen ist. Zum anderen aber muss die Historizität des Religionsbegriffs bedacht werden, das heißt, die Abwesenheit eines eindeutigen Religionsbegriffs darf nicht vorschnell als Säkularisierung gedeutet werden. Vielmehr gilt: Wenn der vom Rationalismus und der Aufklärung geprägte Religionsbegriff mit dem bis heute wirksamen (vorrangig romantisch geprägten) wenig gemeinsam hat, wenn er zunächst durch Vernunft und Moral bestimmt ist, dann ist daraus […] nicht auf ein mangelndes Verständnis von Religion zu schließen, sondern umgekehrt darauf, daß sich das Selbstverständnis einer Epoche oder einer Denkströmung historisch verändert hat.55

Neugebauer-Wölk bestätigt diese Auffassung: Rationales Denken des modernen Typs entsteht aus spezifischen Vor- und Übergangsformen, die sich auch als Denkstile frühneuzeitlicher Esoterik verstehen lassen. Zu dieser Entstehungszeit des Weltbildes der Gegenwart gehört auch noch das 18. Jahrhundert. Man hat frühneuzeitliche Rationalität viel zu lange mit der Ratio der Moderne verwechselt.56

Eine Diskussion von Religion und Geschlechterverhältnissen im ausgehenden 18. Jahrhundert muss diesem Religionsbegriff Rechnung tragen. So findet sich Religion in den Naturalisierungsdiskursen von Geschlecht rund um Tugend, Empfindsamkeit und Bildung der Frauen, aber auch in der Idealisierung der Frau als Gattin, Hausfrau und Mutter.

Tugend, Empfindsamkeit, Bildung, oder: die Naturalisierung von Geschlecht Die Tugend war in der Frühaufklärung keine spezifisch weibliche Eigenschaft, sondern Auszeichnung des vernünftigen Menschen schlechthin. Sie stand für Bürgerlichkeit, Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit.57 Gemäß Corrazza erlaubte es der Tugendbegriff dem aufkommenden Bürgertum im 18. Jahrhundert, sich kulturell und wirtschaftlich vom Adel zu emanzipieren. Die sogenannten 54 Neugebauer-Wölk 1999, 6; vgl. auch Pohlig/Lotz-Heumann/Isaiasz/Schilling/Bock/Ehrenpreis 2008, 85–87. 55 Müller 2003, 231. 56 Neugebauer-Wölk 1999, 37. 57 Vgl. Corrazza 2011, 2.

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»bürgerlichen Tugenden« entwickelten sich: Ordnungsliebe, Sparsamkeit, Fleiß, Reinlichkeit und Pünktlichkeit.58 Spätestens mit den pädagogischen Schriften Rousseaus erhielt die Tugend ihren spezifisch moralischen Aspekt: Sie wurde mit weiblicher Unschuld verbunden.59 Die Rolle Rousseaus im Geschlechterdiskurs des 18. Jahrhunderts ist zwar zwiespältig, in der feministischen Erforschung der Aufklärung dient er jedoch zusammen mit Hume und Herder als zentrale Figur, um die diskursive Verschiebung hin zum Gefühl als der weiblichen Eigenschaft festzumachen.60 In der Nachfolge Rousseaus setzte eine »Flut von geschlechtsphilosophischen Schriften«61 ein, welche auf biologischer Ebene die untergeordnete Stellung der Frau zementierten, das weibliche gleichzeitig jedoch auch als das »edlere« der beiden Geschlechter überhöhten. Das Modell der empfindsamen, nach Tugend strebenden Frau, wie wir es aus dementsprechenden Briefromanen der Zeit kennen und das als ›schöne Seele‹ verklärt wurde, bildet in der Umordnung des Geschlechterverhältnisses eine wichtige Übergangsstufe, denn hier wird deutlich, daß das neue Weiblichkeitsmodell auch für die Frauen attraktive Identifikationsangebote machte und keineswegs nur Deklassierung bedeutete. In dem Maße [ jedoch], wie die Liebe zum Inbegriff des weiblichen Geschlechts wird […], wird die völlige freiwillige Unterwerfung der Frauen unter den Mann festgeschrieben. Die fatale Idealisierung der Frau in der Liebe führt zu ihrer fortgesetzten Domestizierung in der Realität.62

Zwar bietet die Empfindsamkeit also auch für die Frauen neue Artikulationsformen des Individuellen, letztlich fallen sie ihr jedoch zum Opfer. Denn: Wo es auf die Gefühle ankommt, ist Bildung nicht mehr nötig. Während Frauen zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Namen der Vernunft zu Bildung aufgefordert wurden, verlagerte sich der Erziehungsschwerpunkt nach Rousseau hin zu einer geschlechtergetrennten Erziehung – und die Bildung der

58 Tugendbegriff und Tugendkodex des Bürgertums zeichneten sich aus durch die Gleichsetzung des sittlich Guten mit dem Materiell-Nützlichen; vgl. Corrazza 2011, 12. Zeitschriften wie die Moralischen Wochenschriften propagierten dieses Tugendbild erfolgreich. Die äußerst populären Wochenschriften gehörten in der Mitte des 18. Jahrhunderts zur gängigen und als lehrreich erachteten Lektüre für Frauen. Ihre Themen waren auf moralisch-sittliche Aspekte beschränkt; Theologie, Medizin oder politische Themen fanden keine Beachtung. Aus feministischer Perspektive kommt den Wochenschriften vor allem der Verdienst zu, Bildung für Frauen populär gemacht zu haben. Sie markieren die Wende von der Rezeption zur Produktion: »Als Forum für die lesende werden sie im Verlauf zum Sprungbrett für die schreibende Frau, was den Aktionsradius von Frauen erweitert.« Kirstein 1997, 23. 59 Vgl. Corrazza 2011, 17. 60 Vgl. Wägenbaur 1996, 23–29, sowie Bovenschens Kapitel zur Konstruktion des Naturzustandes bei Rousseau 2003, 164–181 und zur Bestimmung der weiblichen Empfindsamkeit bei Herder 2003, 181–190. 61 Kirstein 1997, 34. 62 Hilmes 2004, 46.

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Frau wurde unter derselben Maxime der Vernunft wieder eingeschränkt.63 Fortan sollte ihr Wissen naturbelassen bleiben, Gelehrsamkeit (im Gegensatz zu selbstständigem Denken) wurde als unweiblich abgewertet. Dieser Diskurs hat seine Spuren in Amalie überdeutlich hinterlassen. Er zeigt sich nicht nur in den an Rousseau angelehnten Ideen der spezifischen Mädchenbildung, die Amalie und Fanny entwerfen.64 Er zeigt sich auch darin, dass sich die beiden Brieffreundinnen zwar gegenseitig zu vernünftigen Denkerinnen stilisieren, aber gegen »gelehrte Frauenzimmer« polemisieren. In diesem Zusammenhang sind nicht zuletzt Vor- und Nachwort von Amalie aufschlussreich: In der Vorrede rühmt der Herausgeber die Autorin als »Selbstdenkerin«.65 Eine Frau konnte zu jener Zeit also Denkerin sein – Schriftstellerin oder gar Philosophin aber war sie (noch) nicht.

Gattin, Hausfrau, Mutter, oder: die Idealisierung von Geschlecht In systemtheoretischer Perspektive gilt die Aufklärung als zentrales Moment des institutionellen Ausdifferenzierungsprozesses, der die Moderne kennzeichnet.66 Dieser Ausdifferenzierungsprozess bedeutet auch die allmähliche Separierung von Ökonomie und Familie. Durch die räumliche Trennung von Familie und Arbeitsplatz, von reproduktiver und produktiver Tätigkeit, vollzog sich eine Arbeitsteilung, welche im Zuge der Festschreibung heteronormativer Geschlechterstereotype naturalisiert wurde.67 Während für die Trennung dieser Arbeitsbereiche 63 Vgl. Kirstein 1997, 34–35; Bovenschen 2003, 160–162. 64 Besonders explizit wird Ehrmanns Rezeption von Rousseau in Philsophie eines Weibs (1784, etwa 21–22 und 53). 65 Vgl. Ehrmann 2007, 6. 66 Vgl. in Rezeption und Fortführung der luhmannschen Systemtheorie die für die vorliegende Arbeit zentrale Monographie von Schlögl 2013. 67 Die Ökonomie, οἶκος (altgr. Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft) an das Haus gebunden, trat mit der zunehmenden Industrialisierung städtischer Gebiete zwischen Haushalt und Staat. Bezüglich der Familie trat sie fortan als politische Ökonomie in Erscheinung, im Verhältnis zum Staat(shaushalt) bildete sie sich als Privatwirtschaft aus. Der Haushalt verlor seine ökonomische Funktion und wurde zu einem politisch und wirtschaftlich geschützten Privatraum, der als Hort der Familie zu Heim und Heimat deklariert wurde; vgl. Klinger 2004, 18–20. Reproduktive Arbeit galt fortan als bloße Naturfunktion: »In gewissem Sinne ist die biologische Reproduktion des Menschen die einzige Art von Tätigkeit, die sich fast bis in unsere Gegenwart der Vergesellschaftung weitgehend entzogen hat. […] Während die eine der beiden Arten körperlicher Arbeit einen Artifizialisierungsprozess durchläuft und damit zugleich auf die Seite des öffentlichen bzw. der modernen Ökonomie rückt, bleibt die andere Art körperlicher Arbeit gewissermaßen im Dunkel des Hauses zurück und erscheint in der Folge als archaisch, den unveränderlichen Gesetzen der Natur unterworfen.« Klinger 2004, 21. Bemerkenswerterweise wurde erst im Zuge feministischer Theoriebildung im 20. Jahrhunderts erkannt, dass die Arbeitsteilung, welche sich im 18. Jahrhundert nach und nach

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ökonomische Motive vorlagen, wurde die Zuordnung der Tätigkeiten nach Geschlecht sittlich begründet. Dem in der technisierten Arbeit von seiner Tätigkeit entfremdeten Arbeiter garantierte die Gattin zu Hause ein menschenwürdiges Leben. Dank den »weiblichen Eigenschaften« von Naturnähe, Emotionalität und Sittlichkeit wurde der Haushalt zu einer Utopie von Ganzheitlichkeit, wobei die darin zu vollziehenden Arbeiten angeblich mit den »weiblichen Bedürfnissen« korrespondierten. Reproduktive und Sorgearbeit bereiteten der Frau, so die Argumentation, aufgrund ihrer »Liebesfähigkeit« Vergnügen.68 Ausgehend von der »Verniedlichung des Haushalts« und der »Ästhetisierung weiblicher Lebenszusammenhänge«69wurde die Familie zur idyllischen Gegenwelt der industrialisierten Arbeit im öffentlichen Raum stilisiert. Die Familie wurde zum Ort sozialer Inklusion schlechthin: Sie galt fortan als exklusiver Ort legitimer Geschlechterbeziehungen und bildete als solcher den Kern der gesellschaftlichen Ordnung.70 Für Frauen resultierte die räumliche, ökonomische und soziale Separierung der Geschlechter in der Dreifachbestimmung als Gattin, Hausfrau und Mutter.71 An der Idealisierung der Frau als Gattin, Hausfrau und Mutter hatte die Religion entscheidenden Anteil. In protestantischen Kreisen wurde die Pfarrfrau zum Vorbild aller Frauen stilisiert, wobei »das Frauenbild eindeutig mit traditionellen Vorstellungen der Frau als Ehefrau verbunden [blieb]. Zu stark wirkten im Protestantismus die Abwertung der Jungfernschaft und die Konstruktion der Pfarrersfrau als die ihrem Mann untergeordnete Helferin.«72 Die Körperlichkeit und Sexualität der Frau wurden in diesem Idealbild komplett ausgeblendet. Als Gegenmodell zur Pfarrfrau fungierte die Prostituierte, welche die christliche Gesellschaftsordnung »bedrohte«. Bemerkenswerterweise ließ der hysterische Diskurs auch hier die Notwendigkeit, über den weiblichen Körper und dessen Bedürfnisse zu sprechen, obsolet erscheinen. Argumente hierfür finden sich auch in Amalie, wenn die beiden Freundinnen über die »liederlichen Frauen« und deren sittliche Besserung nachdenken (Briefe XXXIII. und XXXIV.). Diesem Schicksal stellt Fanny wiederholt das Bild der idealen Pfarrgattin gegenüber, wobei dieses ihr handkehrum auch dazu dient, das zölibatäre Leben der Nonnen zu verurteilen. Die Brieffreundinnen kritisieren das Kloster als weibliche Lebenswelt wegen der emotionalen Kälte ebenso wie wegen der mangelnden bzw. falschen Bildung. Dabei gab es, wie das Beispiel von Amalie selbst zeigt, im

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durchsetzte, überhaupt eine solche war und dass also sowohl produktive wie auch die reproduktiven Tätigkeiten als Arbeit im eigentlichen Sinne zu verstehen sind; vgl. Dalla Costa 1973. Vgl. Wägenbaur 1996, 22–23. Wägenbaur 1996, 23. Vgl. Schlögl 2013, 162 sowie 308–309 zu Hegel. Vgl. Wägenbaur 1996, 22; Corrazza 2011, 1. Schlögl 2013, 320 und 329–330 zu den folgenden Überlegungen.

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18. Jahrhundert durchaus gute Gründe, das Leben als Kostgängerin im Kloster zu suchen: »Unverheirateten Frauen des Bürgertums und Adels standen im 18. Jahrhundert kaum berufliche Möglichkeiten offen. Als Gouvernanten und Erzieherinnen fanden einige bei verwandten Familien ein Auskommen, andere traten ins Kloster ein.«73 Das Nonnenkloster war im 18. Jahrhundert ein gesellschaftlich anerkannter Ort, an dem Religiosität unter Frauen gemeinschaftlich und also in gewissem Sinne öffentlich gelebt werden konnte. Schlögl beschreibt die Ursulinen oder die Englischen Fräuleins als neue Form weiblicher, institutionalisierter Religion.74 Die katholischen Kongregationen eröffneten jungen Frauen den Weg in die Berufsbiographie, denn sie konnten in der Kranken- und Altenpflege sowie im Bildungswesen tätig werden. Zwar lebten die Frauen in den Kongregationen in strenger Hierarchie und unter unbedingtem Gehorsam, sie boten ihnen aber auch die Möglichkeit, der Dreifachbelastung von Ehe, Haushalt und Kindern zu entkommen.

Fazit Die Naturalisierung von Geschlecht und der geschlechterspezifische Zugang zu Religion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat auch in Amalie seine Spuren hinterlassen. Die religiöse Praxis und das eigene Glaubensverhältnis werden darin kaum thematisiert. Amalies Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche finden immer in einem sozialen Raum statt und beide Freundinnen tauschen sich mehrheitlich über die Rolle der religiösen Institutionen und ihrer Vertreter in der Gesellschaft aus. Diese Beobachtung verweist auf den politischen Kontext des Briefromans, der in Übereinstimmung mit der gängigen aufklärerischen Kritik an der institutionellen Verbindung von Religion und Politik gelesen werden kann. Diese Kritik findet sich bei beinahe allen Gebildeten des späten 18. Jahrhunderts.75 Weder für Fanny noch für Amalie kommt es infrage, als Schlussfolgerung all ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Religion die Konfession zu wechseln. Die Position des Menschen vor Gott – oder dieser selbst – werden nicht verhandelt. Dass sich die beiden Freundinnen be73 Stump 1995, 488, sowie Holden 2007, 36. 74 Vgl. Schlögl 2013, 315–316. 75 Vgl. Conrad 1999, 401–201. Die aufklärerische Trias ›Gott, Freiheit, Unsterblichkeit‹ sei breit rezipiert worden, meint Conrad. Pohlig/Lotz-Heumann/Isaiasz/Schilling/Bock/Ehrenpreis 2008, 89–90 beschreiben die Aufklärung in Deutschland als sehr viel gemäßigter als jene in Frankreich. Sie sei als protestantische Erscheinung »theologisch imprägniert« und in ihren Anfängen deshalb durchaus eine kirchliche Angelegenheit gewesen. Zum politischen und religiösen Charakter der Französischen Revolution vgl. das Kapitel Die Religion der Revolution in Schlögl 2013, 109–125.

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züglich einer innerlichen Verhältnisbestimmung zu Gott zurückhalten, ist mit Blick auf den geistesgeschichtlichen Kontext ebenfalls nachvollziehbar. Eine individualisierte Bestimmung der Religion als »Anschauung und Gefühl« und damit eine Trennung des Religionsbegriffs von Moral, Philosophie und Staat wird von Schleiermacher erst rund zehn Jahre nach dem Erscheinen von Amalie vollzogen.76 In einem größeren Kontext ist Ehrmanns Werk und darin auch der Briefroman Amalie ein Zeugnis des Religionsdiskurses ihrer Zeit: Spannungsvolle Konfessionalisierungstendenzen und Kritik an religiösen Institutionen sind vorherrschend, Frömmigkeit und Glaube sind eine Frage der Praxis, keine des Gewissens. Gerade, weil Religion in Amalie eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt, eignet es sich als Quelle der jüngeren historischen, literarischen und religionswissenschaftlichen Forschungen, die Religion als ein zentrales Element der Aufklärung erachten. Aufgrund der beschriebenen Naturalisierung und Idealisierung der Geschlechterzugehörigkeit scheint mir ein feministischer Zugang eigentlich zu allen Quellen im Kontext von Religion und Literatur des 18. Jahrhunderts zwingend zu sein. Ein Briefroman wie Amalie erlaubt es, vorschnelle Bestimmungen der Aufklärung als »säkular« zu vermeiden und religiöse Lebenswelten in fiktionalen Werken differenziert zu untersuchen. Diese Differenziertheit sollte nicht nur geschlechterspezifische Zugänge zu Religion umfassen, sondern auch die Verschiedenheit weiblicher Lebensentwürfe berücksichtigen. Insofern möchte ich hier zum Schluss festhalten, dass in der jüngeren Forschung zwar eine differenziertere Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Literatur in der Aufklärungszeit vorliegt, für das erweiterte Verhältnis von Religion, Literatur und Geschlecht eine solche Diskussion jedoch nach wie vor aussteht.

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Alice Kaiser

»Der homo religiosus ist männlich«. Feminismus in der Religionswissenschaft

Feminismus ist ein umbrella term, unter dem viele unterschiedliche Ansätze und Meinungen zusammengefasst werden. Als »kleinsten gemeinsamen Nenner« formuliert die Religionswissenschaftlerin Edith Franke: »›Ablehnung des Axioms Mensch = Mann‹ und […] Überwindung der Herrschaft von Männern über Frauen.«1 Dabei sollen patriarchale Strukturen analysiert und kritisiert sowie »politische Handlungsstrategien« zur Durchsetzung einer »frauenfreundlichen Kultur« entwickelt werden.2 Ebenso wie in Gesellschaft, Politik und anderen Bereichen der Wissenschaft setzen sich auch Religionswissenschaftler_innen mit dem Thema Feminismus auseinander. Die folgenden Ausführungen sollen einen Überblick über feministische Positionen in der Religionswissenschaft geben. Die Religionswissenschaftlerin Donate Pahnke hat drei Formen des Feminismus herausgearbeitet, die sich an o.g. Definition von Franke anschließen lassen: 1. Der gynozentrische Feminismus: Bei dieser Form werden Geschlechterstereotype nicht hinterfragt, sondern in ihren Wertungen umgekehrt. (Beispiel: Frauen gelten weiterhin als emotional und Männer als rational, wobei jedoch Emotionalität als positiv und Rationalität als negativ bewertet wird.) 2. Der integrative Feminismus: Hier wird ebenfalls kaum bis keine Hinterfragung von Geschlechterstereotypen unternommen, sondern ein »egalitäres Konzept von Mensch und Gesellschaft«3 als Ideal verfolgt, in dem »Männliches« und »Weibliches« gleichwertig vereint sind. 3. Der substantielle Feminismus lehnt Inhalte und Wertungen von Geschlechterstereotypen ab und die Kategorien »männlich/weiblich« werden als solche gänzlich infrage gestellt, sodass keine Aussagen bezüglich »sozialer Geschlechtsspezifizität« getätigt werden.4 1 Franke 1997, 110. 2 Vgl. Franke 1997, 110. Über die »Entwicklung politischer Handlungsstrategien« lässt sich im Wissenschaftsbereich gewiss diskutieren, dennoch waren und sind diese ein wichtiger Bestandteil feministischen Denkens und sollen daher nicht unerwähnt bleiben, auch wenn bewusster politischer Aktivismus eher außerhalb des Forschungskontextes verfolgt wird. 3 Franke 1997, 19. 4 Vgl. Franke 1997, 20.

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Alice Kaiser

Auf dieser Basis wurde feministische Wissenschaftskritik formuliert. Diese kann sich auf unterschiedliche Bereiche (Theorie, Methode, Geschichte, Organisation) jeder wissenschaftlichen Disziplin beziehen.5 Auch hier sind die Ausrichtungen vielfältig, lassen sich aber auf eine Grundüberzeugung reduzieren: [M]it dem weitgehenden Ausschluß von Frauen in der Geschichte der Wissenschaften [war und ist] auch eine inhaltliche Ausblendung gesellschaftlich und wissenschaftlich relevanter Erfahrungen verbunden […] Diese Entwicklung hat zu Leerstellen, Einseitigkeiten und Verzerrungen in der Empirie und Theorie der Fächer geführt.6

Es wurden gemäß dieser Kritik einige Forschungsbereiche nicht beachtet. Denn sie waren für »den männlichen Forscher« entweder nicht sichtbar bzw. nicht zugänglich oder wurden – aufgrund geschlechtsstereotyper Denkmuster – als irrelevant eingestuft. Daraus ergibt sich eine Lücke: Wo keine Daten erhoben werden, gibt es keine Analyseergebnisse. So fallen Hypothesen und Theorien auf Basis dieser Ergebnisse unvollständig aus. Es sei demnach davon auszugehen, dass auch religionswissenschaftliche Theoriegebilde bis zu einem gewissen Grad androzentrisch seien. Diese Lücken und Verzerrungen gelte es herauszuarbeiten, zu kritisieren und zu beseitigen.7 Doch woher kommt Androzentrismus? Für Pahnke entsteht er aus der Verbindung zwischen Sprache und Denken. An der Identifikation von »Mensch = Mann« als das westlich-abendländische Ideal und die Norm werde sich auch im kulturellen und gesellschaftlichen, politischen und religiösen Bereich orientiert.8 Zudem trage außerdem die Vorherrschaft von Männern in religiösen Texten, sei es in der Handlung selbst oder als Verfasser, zu Androzentrismus bei.9 Zuletzt führt Pahnke die Dominanz männlicher Religionswissenschaftler an: »In einer Tradition, in der Männer zu allermeist patriarchale Religionen erforschen, ergibt sich die Fokussierung auf den homo religiosus als Mann fast von selbst.«10 Aktuellere Ansätze der Genderforschung gehen über eine Engführung der Mann-Frau-Dichotomie hinaus. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, Geschlecht, also Gender, sei sozial hergestellt.11 Hier steht nicht mehr nur das Aufdecken und Kritisieren von Ungleichbehandlungen im Fokus, sondern auch Konstruktionsprozesse von Gender, Wissensproduktion über Gender, Hierarchisierungen 5 Vgl. Franke 1997, 111. 6 Franke 1997, 112. Es sei darauf hingewiesen, dass es durchaus Frauen gab, die in der Religionsforschung eine Rolle spielten. Jedoch wurden diese weitestgehend aus der Rezeptionsgeschichte verdrängt und wurden nicht in die »Klassiker« aufgenommen. Dazu: Höpflinger/Jeffers/Pezzoli-Olgiati 2008. 7 Vgl. Franke 1997, 113. 8 Vgl. Pahnke 1993, 15. 9 Vgl. Pahnke 1993, 14. 10 Pahnke 1993, 14f. 11 Vgl. Günther-Saeed 2010, 120.

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und ihre Ausschlussmechanismen unter Berücksichtigung von Interdependenzen und Intersektionalität.12 Diese Themenfelder sind keinesfalls auf Untersuchungen von Geschlechterdarstellungen in Religionen begrenzt. Auch die Disziplingeschichte selbst kann unter genderorientierten Gesichtspunkten betrachtet werden. So fordert beispielsweise die Religionswissenschaftlerin Daria Pezzoli-Oligati »eine Analyse der Wechselwirkung zwischen wissenschaftlicher Tradition und ihrem historischen Kontext«13. Ein Instrument dafür kann die (Re-)Lektüre – aus einer anderen Perspektive und unter anderen Bedingungen – religionswissenschaftlicher »Klassiker« sein wie u. a. die Religionswissenschaftlerin Susanne Lanwerd vorschlägt.14 Im Folgenden betrachte ich beispielhaft drei religionswissenschaftliche Positionen mit feministischem Ansatz. Die geübte Kritik bezieht sich dabei auf die religionsphänomenologische Kernkonzepte sui generis und homo religiosus. Ersteres geht davon aus, dass Religion ein Phänomen »seiner selbst« – also »ganz eigener Art« – ist und unabhängig von Mensch, Zeit und Raum existiert. Mit dem Konzept des homo religiosus wird Religion zur anthropologischen Konstante, d. h. jeder Mensch sei im Kern religiös bzw. habe eine religiöse Veranlagung.15 Valerie Saiving (1921–1992) studierte Theologie und Psychologie. 1976 erschien ihr Beitrag »Androcentrism in Religious Studies« im Journal of Religion. In diesem Beitrag kritisiert sie das Interpretationsmodell von Initiationsriten des rumänischen Religionsphänomenologen Mircea Eliade. Ihrer Kritik liegen folgende Annahmen zugrunde: Mit Beginn der Zivilisation habe sich das Herrschaftsparadigma als herausragendes Charakteristikum zivilisierter Gesellschaften herausgebildet. Jegliche Macht baue auf der Herrschaft von Männern über Frauen auf.16 Sie stellt die Objektivität wissenschaftlicher Ausführungen grundlegend infrage, da in sämtlichen Bereichen des Lebens Verzerrungen und Missverständnisse aufzufinden seien: angefangen bei Sprache über Philosophien bis hin zur Wissenschaft.17 Indem Frauen als »von der Norm abweichend« definiert würden, konnten sie aus dem Bewusstsein entfernt werden – auch aus dem von Frauen selbst. Da diese Annahme in sämtlichen Bereichen des Lebens

12 Vgl. Günther-Saeed 2010, 120. 13 Günther-Saeed 2010, 121. Zur Kritik am Objektivitätsideal, an »herrschaftsfreien und neutralen« Räumen der Wissenschaft und Hinweise auf die »Verschränkung von Gegenstandsfeldern, Erkenntnisinteressen, methodischen Überlegungen und Interventionsforderungen« bietet der Artikel von Marita Günther-Saeed einen Überblick zu Positionen und Denkanstöße. 14 Vgl. Lanwerd 2007. 15 Ausführungen bezüglich Religionsphänomenologie, ihrer Vertreter und Konzepte sowie der Problematiken sind zahlreich publiziert. 16 Vgl. Saiving 1976, 177f. 17 Vgl. Saiving 1976, 179f.

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»weitervererbt« würde, seien Frauen auch aus der wissenschaftlichen Betrachtung herausgefallen (»nondata«, da »nonquestions«18). Aus Saivings Feststellung, dass Religionshistoriker_innen hochgradig von ethnographischem Material abhängig seien, lässt sich mit Blick auf die »nondata« und »nonquestions« folgern: »[T]he androcentric bias of ethnography […] puts in question the accuracy and adequacy of the data on which […] their understanding [Anm. A.K.: der Religionswissenschaftler_innen] of the holy [is based]«.19 Aus dem Grund, dass ethnographische Daten in erster Linie von Männern über Männer gesammelt wurden, habe sich – im Falle der Religionsgeschichte – nur ein androzentrisches Verständnis »des Heiligen« etablieren können. Saiving vermutet sogar einen Verstärkungseffekt, da die an sich schon androzentrischen ethnographischen Daten von Religionshistoriker_innen auf Basis ihrer eigenen androzentrischen Denkmodelle interpretiert worden seien.20 Da Eliade einer der, auch öffentlich, bekanntesten Religionswissenschaftler ist, widmet sich Saiving einer (Re-)Lektüre seiner Arbeit Rites and Symbols of Initiation21 von 1965 über die Bedeutung von Initiationsriten. Saiving stellt zunächst ein Bewusstsein bei Eliade für die dünne Datenlage über Fraueninitiationen fest, der dementsprechend zurückhaltend mit der Interpretation dieser Initiationsriten ist.22 Trotz der wenigen Daten spreche Eliade Frauen eine spezifische Sakralität zu, die um Leben, Schwangerschaft und Fruchtbarkeit kreise und die nicht in männliche Begriffe übersetzt werden könne.23 Bezüglich der Männerriten arbeite Eliade sieben Kernelemente heraus, die durch Wissensvermittlung über Mythen und Gottheiten etc. und das Bestehen von Prüfungen auf die Teilhabe an Kultur hinauslaufen.24 Er nehme dies als für alle Religionen gültig und von Zeit und Ort unabhängig an und charakterisiere die Erfahrungen während eines solchen Initiationsrituals als lebenswichtig und grundlegend für das Menschsein. Saiving kann jedoch aufzeigen, dass er für sein Interpretationsmodell nur Aussagen über Männerinitiationen berücksichtigt, die zudem seinen Aussagen über Fraueninitiationen grundlegend widersprechen.25 Indem 18 19 20 21 22 23 24 25

Saiving 1976, 180. Saiving 1976, 183. Vgl. Saiving 1976, 183. Deutscher Titel: Das Mysterium der Wiedergeburt. Initiationsriten, ihre kulturelle und religiöse Bedeutung. Vgl. Saiving 1976, 184. Vgl. Saiving 1976, 184f. Vgl. Saiving 1976, 186ff. Vgl. Saiving 1976, 188f. Bei Fraueninitiationen werden, so Eliade, keine Prüfungen gestellt, ebenso werde Wissen über die »heilige Geschichte« des eigenen Volkes vermittelt oder Überwindung des Irdischen angestrebt: Sie werden von »Geistwelt und Kultur« ausgeschlossen und in den Bereich verortet, den der Mensch (= Mann) überwinden muss, um zum wahren Menschen zu werden.

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Eliade sein auf Männerriten basiertes Modell als universal geltendes Modell konzipiert, wird die von ihm festgestellte »besondere weibliche Sakralität« zu einer »subhuman sacrality«26. Bei der Bestimmung der »Natur des Heiligen« befinden sich das weibliche und das männliche Verständnis »des Heiligen« nicht nur im Spannungsverhältnis, wie es Eliade formuliert, sondern erweisen sich für Saiving als völlig inkompatibel: Für Frauen beinhalte die religiöse Erfahrung »Heiligkeit des Lebens, der Schwangerschaft, der Furchtbarkeit«; Männer sollen durch religiöse Erfahrung hingegen »irdische Fesseln lösen, Freiheit erfahren und die eigenen Grenzen auflösen«27. Saiving folgert: »Surely the conviction that life […] is something to be conquered, annihilated, or transcended is not simply in tension with the conviction that that same life is to be cherished, nurtured, and celebrated. Rather, the first conviction is at war with the second.«28 Diese Unvereinbarkeit habe die Auslöschung des weiblichen, da abweichenden, Verständnisses »des Heiligen« nach sich gezogen und habe ebenso Konsequenzen für das Verständnis von Männern, wie Saiving folgert.29 Durch Eliades ahistorisches Arbeiten verfolgte er einen evolutionistischen Ansatz: Die Bedeutung von Initiationsriten kann nach seiner Auffassung von den »higher religions« zurückgelesen werden zu den »primitive cultures« und noch weiter zurück bis in archaische Zeit.30 Eliade müsse also annehmen, so Saiving, dass sich seit Beginn der Menschheit nichts Entscheidendes an der Lebenssituation von Männern geändert habe, sodass deren Verständnis »des Heiligen« immer noch das gleiche sei.31 Da Saiving das Herrschaftsparadigma in der Entstehung der Zivilisation begründet sieht, hält sie einerseits die Annahme einer kontinuierlichen Entwicklung von archaisch zu zivilisiert für unwahrscheinlich, andererseits stellt sie die folgende Gegenhypothese auf: Das Verständnis »des Heiligen« in vorzivilisierter Zeit sei näher an dem Konzept, das Eliade nur Frauen zuschreibt.32 Saiving fordert eine Ablösung des eliadeschen Interpretationsmusters von Initiationsriten, eine Neuformulierung des Sakralitätsmodells und Offenheit gegenüber dem Verständnis »des Heiligen« der »anderen Hälfte« der Menschheit.33 Rosalind Shaw ist Anthropologin und lehrt an der Tufts University in Medford, Massachusetts.34 In ihrem Beitrag von 1994 »Feminist Anthropology and the 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Saiving 1976, 190. Saiving 1976, 192f. Saiving 1976, 192. Vgl. Saiving 1976, 193. Vgl. Saiving 1976. Vgl. Saiving 1976. Vgl. Saiving 1976, 194. Vgl. Saiving 1976, 196f. Vgl. https://ase.tufts.edu/anthropology/people/shaw.htm (zuletzt aufgerufen am 23.03. 2017).

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Gendering of Religious Studies« im Sammelband Religion and Gender plädiert sie für eine Rekonstruktion der Religionswissenschaft. Shaws Kritik richtet sich gegen den »Blick von oben« in der Religionsgeschichte und Religionsphänomenologie, der sich zum einen aus dem Fokus auf Schriftreligionen und zum anderen aus dem Verständnis von Religion als Phänomen sui generis ergebe.35 Da Schriftreligionen an Gelehrteneliten gekoppelt seien, entstehe ein Fokus auf Elitendiskurse, von denen Frauen für gewöhnlich ausgeschlossen waren (und z. T. immer noch seien).36 Dieser »Blick von oben« zeige sich besonders dann, wenn die aus elitären Schriftreligionen abgeleiteten und dekontextualisierten Konzepte auf Bereiche anderer Kulturen, die entsprechende Handlungs- und Denkmuster nicht haben, angewandt würden.37 Ein solches Konzept sei die Betrachtung von Religion als Phänomen sui generis, bei dem soziale und politische Gegebenheiten ausgeklammert würden und alles auf die Frage hinauslaufe, was denn nun »das Wesen von Religion« sei.38 Durch die genannten Ausklammerungen und Debatten über die »Unreduzierbarkeit von Religion« werde von Fragen nach Macht und Ungleichheit abgelenkt.39 Machtstrukturen hätten jedoch direkten Einfluss auf die gelebte religiöse Erfahrung, sie bedingten die Art der Erfahrung, was durch die sui generis-Prämisse ignoriert werde. Ohne Berücksichtigung der Machtverhältnisse könnten lediglich bedeutungslose Beschreibungen religiöser Geschlechterrollen erfolgen oder – gesondert von bereits vorhandenen Analysen – die Vorstellungen weiblicher transzendenter Wesen beschrieben werden.40 Shaw stellt fest, dass die Ansätze der Religionsgeschichte und Religionsphänomenologie – Interpretation und Vergleich gelebter religiöser Erfahrung durch einen hermeneutischen Zugang – aus feministischer Sicht zwar geschätzt werden können, jedoch das sui generis-Konzept feministischen Prämissen widerspreche, indem Macht als relevanter Faktor ausgeklammert werde.41 Religionswissenschaftliche Ansätze, die Macht und Gesellschaft in ihre Analysen miteinbeziehen, werden von Verteidigern des sui generis-Religionsbegriffs des Reduktionismus bezichtigt. Mit Blick auf institutionelle Machtstrukturen, in die die Disziplin 35 36 37 38 39 40

Vgl. Shaw 1994, 66ff. Vgl. Shaw 1994, 68. Vgl. Shaw 1994. Vgl. Shaw 1994, 69. Vgl. Shaw 1994, 69f. Vgl. Shaw 1994, 70. Dann kommt es zu der Forschungslücke, die Susanne Lanwerd beschrieben hat: »Der Befund, dass in einigen Untersuchungen zur weiblichen Religionsgeschichte Geschlechterdifferenz im bipolaren Modell Matriarchat / Patriarchat abgebildet wird, gehört ebenso in diesen Kontext wie die sich hartnäckig behauptende These, dass von Göttinnendarstellungen auf reale Machtbefugnisse von Frauen rückgeschlossen werden könne.« Lanwerd 2007, 5. 41 Vgl. Shaw 1994, 71.

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selbst eingegliedert sei, ergebe eine solche Engführung zum »Wesen der Religion« hin durchaus Sinn: Der klar definierte Forschungsgegenstand und die eigene Methode hätten so die immer wieder diskutierte Identitätsfrage der Religionswissenschaft die längste Zeit beantwortet.42 Birgit Heller studierte Theologie und Philosophie und ist an der Universität Wien tätig. In ihrem Beitrag »Dekonstruktion von Objektivität, Wertfreiheit und kritischer Distanz« in Frau – Gender – Queer plädiert sie für einen »intersubjektiven Diskurs der Vielfalt der Perspektiven«.43 Mit der Feststellung von Androzentrismus in den Disziplinen der Religionsgeschichte und klassischen Religionsphänomenologie sei das Wissenschaftsideal der Objektivität grundlegend infrage gestellt worden.44 Vor allem am Beispiel des homo religiosus und Eliades Werk würden sich die universalen menschlichen Konzepte als wenig objektiv erkennen lassen, da sie männliche Konzepte darstellen, wodurch das Männliche zur Norm werde und Frauen, wenn sie »im generischen Maskulinum nicht adäquat beschrieben sind, […] als Objekte außerhalb der Menschheit diskutiert« werden.45 Wie tief das androzentrische Konzept des homo religiosus im Fach verwurzelt sei, zeigt das von Heller angebrachte Beispiel des homo necans von Walter Burkert (1997), für den die echte Menschwerdung durch die Jagd bzw. das Töten erreicht werden konnte, wovon in seiner Konzeption Frauen kategorisch ausgeschlossen würden.46 Heller weist auf eine weitere Prämisse der Religionsphänomenologie – wie sie beispielsweise der berühmte Religionsphänomenologe Rudolf Otto vertreten hat – hin: die religiöse Musikalität als Voraussetzung für religionswissenschaftliches Arbeiten.47 Die im deutschsprachigen Raum weit verbreitete Ablehnung der Religionsphänomenologie und damit dieser Prämisse führte zu einem anderen ideologischen Konstrukt, dass nämlich der_die Forscher_in mindestens religiös indifferent, bestenfalls areligiös sein sollte.48 So kommt Heller zu dem Schluss, dass nur das Ideal der Transparenz, der Selbstreflexivität und der Multizentriertheit einer gerechten Wissenschaft zuträglich sein könne.49

42 43 44 45 46 47 48 49

Vgl. Shaw 1994, 71f. Heller 2010, 143. Vgl. Heller 2010, 137f. Heller 2010, 139. Vgl. Heller 2010, 139f. Vgl. Heller 2010, 143. Vgl. Heller 2010, 144. Vgl. Heller 2010, 144f. Zum Begriff »gerecht« bzw. »Gerechtigkeit«: »Viel ist gewonnen, wenn die Subjektivität offengelegt wird und nicht versteckt im Mantel des Objektivitätsanspruchs zum allgemeingültigen Maßstab der Realitätskonstruktion gemacht wird.« Heller 2010, 144f.

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Was fordern nun feministische Positionen? Die Absichten von Saiving und Shaw sind jeweils eine Rekonstruktion, Heller verfolgt eine Dekonstruktion. In Saivings Artikel geht es um die Rekonstruktion des Verständnisses des »Heiligen«. Sie stellt dabei nicht den religionsphänomenologischen Religionsbegriff an sich infrage. Vielmehr kritisiert sie die Herangehensweise zur Bestimmung des »Wesens von Religion«, leugnet aber die Existenz von Religion als Phänomen sui generis nicht. Shaws Rekonstruktionsforderung sieht anders aus: Sie möchte eine Erneuerung des Faches, da sämtliche Annahmen der Religionsgeschichte und benachbarter Disziplinen auf einem androzentrischen Weltbild aufbauen würden und so das Fach mit seinen Theorien und Methoden selbst androzentrisch strukturiert sei. Hellers Kritik an der Religionsphänomenologie lässt sie zu umfassenderen, auch die Fachgrenzen überschreitenden, Schlussfolgerungen kommen: Nämlich zur Forderung eines Überdenkens des Objektivitätsideals.50 Sie stellt zudem auch religionsphänomenologische und heutige »ideologische Konstrukte« gegenüber und macht somit deutlich, dass auch aktuelle Ansätze überdacht werden müssen und nicht einfach als »Endstufe« in der Wissenschaft betrachtet werden dürfen. Saiving und Shaw sind sich darüber einig, dass es nicht einfach nur einer Ergänzung der »Kategorie Frau« bedarf, sondern das bestehende Verständnis des »Heiligen« bzw. Konzepte und Theorien der Religionswissenschaft völlig neu unter Berücksichtigung von Herrschaft (»domination« bei Saiving) und Macht (»power« bei Shaw) im Geschlechterverhältnis formuliert werden müssen. Alle drei Positionen weisen in unterschiedlicher Ausführlichkeit nicht nur auf die Machtstrukturen bezüglich des Geschlechterverhältnisses hin, sondern auch auf Machtstrukturen in anderen Bereichen. Saiving thematisiert den imperialistischen Charakter des »Aufstülpens« westlicher Denkmodelle auf nichtwestliche Kulturen,51 Shaw die Hierarchie zwischen westlichen und nichtwestlichen Frauen (universale »female reality«) und Heller ergänzt zu Beginn ihres Artikels die von Verzerrung der traditionellen Wissensproduktion betroffenen Frauen um »sämtliche zu Minderheiten deklarierte[n] Menschengruppen«52. In ihrem Vorgehen unterscheiden sich die Autorinnen insofern, dass Saiving direkt am Material, nämlich durch die Lektüre von Eliades Rites and Symbols of Initiation, ihre Kritik am androzentrischen Verständnis »des Heiligen« entwickelt. Shaw hingegen nimmt keine ausführliche Re-Lektüre eines religionsphänomenologischen »Klassikers« vor, sondern entwickelt ihre Kritik allgemeiner 50 Vgl. Heller 2010, 145. Das Objektivitätsideal soll nur noch als »eine Art ethischer Imperativ« fungieren. 51 Vgl. Saiving 1976, 195. 52 Heller 2010, 137.

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– auch wenn an einigen Stellen der Verweis auf Eliade nicht fehlt – anhand des »typisch« religionsphänomenologischen sui generis Verständnisses von Religion und der Fokussierung auf Schriftreligionen. Heller nimmt im Unterschied zu Saiving und Shaw insbesondere auch soziohistorische Kontexte in den Blick.53 Die vorliegenden Ausführungen haben anhand dreier Positionen einen Einblick in feministische Kritik an Religionswissenschaft gegeben. Dabei wurden insbesondere das Konzept von Religion als Phänomen sui generis und das Konzept des homo religiosus aus der Religionsphänomenologie berücksichtigt. Es wurden Unterschiede, Gemeinsamkeiten sowie Entwicklungen feministischer Kritik aufgezeigt. Saiving konnte anhand Eliades Rites and Symbols of Initiation, in dem er die Ergebnisse seiner Interpretation von Männerriten als universal menschlich darstellt, dieses wissenschaftliche Verständnis »des Heiligen« als androzentrisch herausstellen. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass Saiving die grundlegenden religionsphänomenologischen Konzepte wie den sui generisReligionsbegriff, homo religiosus und »das Heilige« nicht infrage stellt. Saivings Ausführungen sind zudem auf Männer und Frauen fokussiert, sodass keine anderen Geschlechteridentitäten zur Sprache kommen. Shaw setzt mit ihrem Artikel nicht bei einem Konzept an, sondern bei der Disziplin an sich: Es brauche eine Neubildung des Faches, da sämtliche theoretischen Grundlagen auf untersuchten Elitendiskursen (von Männern) aufbauen würden. Bei ihr rückt der Begriff Gender mehr in den Fokus, sodass hier auch andere Geschlechteridentitäten berücksichtigt werden. Hellers Kritik geht einen Schritt weiter und lässt sich so auch auf anderen wissenschaftliche Fragen übertragen. Sie weist insbesondere darauf hin, dass Wissenschaft nicht im luftleeren Raum entstehe und an Machtstrukturen gebunden sei. Die Frage nach Machtstrukturen ist als Kernelement der feministischen Kritik erhalten geblieben, ebenso wie das Anzweifeln des Objektivitätsideals. Das Bewusstsein für die Vielfalt an Geschlechteridentitäten und Interdependenzen ist sowohl in der Wissenschaft als auch bei feministischen Ansätzen größer geworden.

Literatur Franke, Edith, 2002, Die Göttin neben dem Kreuz – Zur Entwicklung und Bedeutung weiblicher Gottesvorstellungen bei kirchlich-christlich und feministisch geprägten Frauen, Marburg: Diagonal-Verlag.

53 Vgl. Heller 2010, 140.

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Franke, Edith, 1997, Feministische Kritik an Wissenschaft und Religion, in: Klinkhammer, Gritt M. (Hg.), Kritik an Religionen. Religionswissenschaft und der kritische Umgang mit Religionen, Marburg: Diagonal-Verlag, 107–119. Günther-Saeed, Marita, 2010, Kritische Positionen. Frau, Gender und Religionswissenschaft, in: Lanwerd, Susanne/Moser, Marcia E. (Hg.), Frau – Gender – Queer. Gendertheoretische Ansätze in der Religionswissenschaft, Würzburg: Königshausen & Neumann, 119–136. Heller, Birgit, 2010, Dekonstruktion von Objektivität, Wertfreiheit und kritischer Distanz. Impulse der Frauenforschung/Gender Studies für die Religionswissenschaft, in: Lanwerd, Susanne/Moser, Marcia E. (Hg.), Frau – Gender – Queer. Gendertheoretische Ansätze in der Religionswissenschaft, Würzburg: Königshausen & Neumann, 137–147. Höpflinger, Anna-Katharina/Jeffers, Ann/Pezzoli-Olgiati, Daria (Hg.), 2008, Handbuch Gender und Religion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Pahnke, Donate, 1993, Feministische Aspekte einer religionswissenschaftlichen Anthropologie, in: Pahnke, Donate (Hg.), Blickwechsel. Frauen in Religion und Wissenschaft, Bamberg: Diagonal-Verlag, 13–41. Saiving, Valerie, 1976, Androcentrism in Religious Studies, The Journal of Religion 56/2, 177–197. Shaw, Rosalind, 1994, Feminist Anthropology and the Gendering of Religious Studies, in: King, Ursula (Hg.), Religion and Gender, Oxford: Wiley-Blackwell, 65–76.

Internetquellen Hobart and William Smith Colleges: Valerie Saiving: http://www.hws.edu/alumni/dfa/saiv ing.aspx (zuletzt aufgerufen am 23. 03. 2017). Lanwerd, Susanne, 2007, Die Kategorie Geschlecht in religionswissenschaftlicher Lehre und Forschung – Eine Skizze, in: http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/relwiss/lehrende/lehr stuhl_zinser/lanwerd/kategorie_geschlecht/Lanwerd__Kategorie__Geschlecht__in_RWS. pdf (zuletzt aufgerufen am 23. 03. 2017). Saiving, Valerie, 1979, The Human Situation. A Feminine View, The Journal of Religion 40/ 2, 100–112, in: http://rel.as.ua.edu/pdf/rel101saiving.pdf (zuletzt aufgerufen am 23. 03. 2017). Tufts University: Rosalind Shaw: https://ase.tufts.edu/anthropology/people/shaw.htm (zuletzt aufgerufen am 23. 03. 2017).

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Krishna-Devotionalismus und Geschlechtsrelativierung: Genderkonstruktionen in der Bengalischen Vaisnava-Tradition ˙˙

Die im Westen als Hare Krsna Bewegung bekannte Hindu-Religion bezeichnet sich ˙˙ ˙ selber als Gaud¯ıya Vaisnavismus. Gaud¯ıya bezieht sich hierbei auf Gauda, einen ˙ ˙˙ ˙ ˙ anderen Namen für Bengalen, der Heimat ihres Stifters Caitanya. Vaisnavismus ˙˙ umfasst die Verehrung von Visnu und Krsna. ˙˙ ˙ ˙˙ Am Beispiel dieser Variante der Verehrung Krsnas wird aufgezeigt, wie sich ˙˙ ˙ ein traditionell androzentrischer Devotionalismus transformiert und zur Verehrung eines göttlichen Paares wird. Die Theologie der im 16. Jahrhundert entstandenen Hare Krishna Bewegung besteht aus einem komplexen System, in dem das körperliche Geschlecht relativiert wird. Dabei bleibt eine binäre Kodierung der Geschlechter erhalten. Gott wird als männlich und die Geschöpfe als weiblich betrachtet. In der reziproken Beziehung, insbesondere im erotischen Austausch, verschwindet die Allmacht Gottes. Krsnas Lieblichkeit oder Süße wird in der Hingabe zu Gott, bhakti-yoga, ˙˙ ˙ erfahrbar. Der_die Praktizierende soll demnach einen spirituellen Körper kultivieren, der idealerweise weiblich ist, um eine amouröse Beziehung mit Krishna eingehen zu können. Entsprechend dem Thema des vorliegenden Bandes soll im Folgenden auf die verschiedenartigen Beziehungen zwischen dem weiblichen und männlichen Prinzip eingegangen werden. Hierzu werden die der Hare Krishna Bewegung zugrundeliegenden Grundideen aus der Hindu-Tradition kurz vorgestellt und ihre Bedeutung für die religiös begründeten Geschlechterordnungen verdeutlicht.

Geschlechterrollen im frühen und klassischen Hinduismus Die Hymnen des Rgveda entstanden etwa zwischen 1500 und 1200 v. Chr. und ˙ gelten als die ältesten Texte des Hinduismus. Das Feueropfer steht im Zentrum der vedischen Ritualpraxis. Zahlreiche Götter, darunter wenige Göttinnen, die meist personifizierte Naturphänomene sind, werden von den Ritualteilnehmern

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– hier dezidiert im Maskulinum – besungen. An dem Inhalt dieser überlieferten Hymnen lässt sich ein patriarchales und misogynes Denken ablesen, das Frauen als schwach und sogar gefährlich beschreibt. Ihr Wert wird an ihrer Dienstbarkeit und Fruchtbarkeit bemessen. Im Gegensatz zu Frauen nehmen Männer aktiv am Ritual teil, als Dichter oder Sänger der Hymnen und als Trinker des geopferten Rauschtranks, soma. Die vedischen Hymnen verehren in besonderem Maße Indra, einen kriegerischen Gott. Die männlichen Ritualteilnehmer stärken diesen durch ihre Lobgesänge und den soma-Trank und nehmen ihn zum Vorbild ihrer eigenen Männlichkeit. Diese rituelle und körperliche Dominanz wird im Ritual regelmäßig reproduziert und als Ideal der Männlichkeit weitertradiert. Die wenigen von Frauen verfassten Hymnen reproduzieren das Bild männlicher Dominanz.1 Diese patriarchale Tendenz setzt sich in den von Brahmanen, den männlichen Gelehrten und Ritualexperten, verfassten Schriften der darauffolgenden Epochen fort.2 Sanskrit ist die Sprache des Opferkultes, eine Sprache der Götter, und ist lange nur in diesem sakralen Kontext benutzt worden.3 Ihre Verwendung war den oberen Schichten vorbehalten, insbesondere den Priestern oder Brahmanen, denen aufgrund ihrer Mittlerfunktion zwischen Menschen und Göttern eine besondere Autorität zukam. In den von ihnen verfassten Texten fixieren sie ihre erhabene Position gegenüber den anderen Gruppen der Gesellschaft durch das sogenannte Kastenwesen.4 Ein maßgeblicher Text dieser Art ist die Manu-smrti, eine Sammlung von ˙ Regeln und Vorschriften für den Alltag aus der Zeit ab 200 v. Chr.5 Dort heißt es in Bezug auf den Umgang mit Frauen an einer vielzitierten Stelle: »Ein Mädchen, eine junge Frau oder sogar eine alte Frau sollte nicht unabhängig handeln, nicht einmal in ihrem eigenen Haus. In der Kindheit sollte eine Frau unter der Aufsicht ihres Vaters sein, in der Jugend unter der ihres Gatten, und wenn ihr Gatte gestorben ist, soll ihr Sohn sie behüten.«6 Im gleichen Kapitel werden diverse Pflichten für Männer und Frauen genannt, wobei für den Mann die rituelle Praxis im Zentrum steht. Wie der zitierte Vers andeutet, kommt der Frau eine dem Mann untergeordnete Rolle zu. Gehorsam und Treue werden von ihr erwartet, um als ehrbar zu gelten und ihrem Mann

1 2 3 4 5

Vgl. Whitaker 2011, 30–31. Vgl. Heller 2008, 111. Vgl. Pollock 2009, 1, 39–50. Vgl. Michaels 1998, 187 und 317 zum Purusa-Hymnus im Rgveda, 10.90.12. ˙ ˙ religiös motiviertes Hier ist anzumerken, dass die Verfasser ein Ideal beschreiben, was nicht zwangsläufig mit der gesellschaftlichen Realität identisch war. 6 Manu-smrti 5.147–149, Übersetzung aus dem Englischen (Doninger 2009, 325) B.H. ˙

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nach seinem Tod in die Himmelswelt folgen zu können.7 Eine von Männern dominierte und konstruierte Gesellschaftsform und deren religiöse Begründung finden hier ihren Ausdruck.8 In der Mitte des ersten Jahrtausends n. Chr. entstand das namentlich bekannte Ka¯masu¯tra, welches ausdrücklich für Männer und Frauen verfasst wurde und deren Verhältnis wesentlich undogmatischer und liberaler abbildet.9 Neben den populär gewordenen Anleitungen für ein reicheres Sexualleben behandelt der Text in wesentlich größerem Maße die sich darum herum befindlichen Themen, wie z. B. das Umwerben oder Verführen der_des Geliebten und wie die gegenseitige Zuneigung erhalten werden kann. Im Gegensatz zu den meisten SanskritTexten, die durchweg Heteronormativität und Homophobie ausdrücken, wertet das Ka¯masu¯tra ein von dieser binären Norm abweichendes sexuelles Verhalten nicht ab. Statt üblicher abwertender Termini wird der Begriff »dritte Natur«, tritiya prakrti, eingeführt, worunter verschiedene unter Brahmanen als deviant ˙ geltende Praktiken subsumiert werden.10

Verständnis von Selbst und Seele in den Upanisaden und der ˙ Bhagavadgı¯ta¯ Da die Upanisaden in ihrer Gesamtheit, entstanden zwischen dem 9. und ˙ 2. vorchristlichen Jahrhundert,11 als Offenbarung, s´ruti, gelten, besitzen sie besondere Autorität und werden gerne als Grundlage verschiedenster Beweisführungen herangezogen. Sie beschäftigen sich nicht mehr mit dem vedischen Feueropfer. Anstelle von Ritualanweisungen finden sich hier metaphysische Spekulationen und philosophische Unterweisungen zum Zweck der Selbsterkenntnis. Ihr Beiname Veda¯nta deutet an, dass sie am Ende der vedischen Zeit stehen und gleichzeitig deren Essenz oder Schlussfolgerung enthalten. Die Idee, dass die Seele als Kern der Persönlichkeit unabhängig vom Körper ist, sowie die Lehre von karma und Wiedergeburt haben hier ihren Ursprung.

7 Vgl. Manu-smrti 5.155–158. 8 Doniger nennt˙ Manu auch den »flag bearer for the Hindu oppression for women« (Doniger 2009, 327). 9 Vgl. Doniger 2009, 327–329. 10 Vgl. Doniger 2009, 331–334. Siehe dazu auch Lehnert 2008, 130f., worin er am Beispiel des Buddhismus deutlich macht, wie Sprache und deren Grammatik, sofern darin Geschlechter unterschieden werden, die Wahrnehmung der Realität mitbestimmen. Er zeigt auch, dass neben der binären Konstruktion von Geschlecht eine dritte Option besteht, die aus einem ›sowohl-als-auch‹ oder einer Negation der Dualität stammen kann. 11 Vgl. Michaels 1998, 67.

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Eine Stelle aus der S´veta¯s´vatara Upanisad (5.10) verdeutlicht den Unterschied ˙ zwischen dem Lebewesen und dem Körper so: Die individuelle spirituelle Seele ist nicht weiblich, sie ist nicht männlich und sie ist nicht Neutrum. Derartige Bezeichnungen beziehen sich nur auf unterschiedliche materielle Körper, die die Seele annimmt.12

Das Wort für Seele ist hier jı¯va, das auch als Lebewesen übersetzt werden kann.13 In der Bhagavadgı¯ta¯ wird der Unterschied zwischen Seele und Körper im zweiten Kapitel ausführlicher erläutert. Nachdem Krsna dort die Unsterblichkeit, Un˙˙ ˙ verwundbarkeit und Ewigkeit der Seele postuliert, sagt er Folgendes in Bezug auf ihr Verhältnis zum Körper: »So wie für die verkörperte Seele in diesem Körper Kindheit und Jugend und Alter sich folgen, so folgt Erlangung eines anderen Körpers; darüber wird, wer feste Einsicht hat, nicht irre.«14 In diesem Vers ist die Unterscheidung zwischen dem Körper, deha, und dem Körper-Habenden, dehin, die Seele oder das Selbst von Interesse. Die hier vorgenommene Trennung zwischen dem geistigen Selbst und dem materiellen Körper ist eine wichtige Grundlage für die spätere Krsna Theologie. ˙˙ ˙

Verehrung der göttlichen Kraft – S´akti In den theistischen Pura¯nas (ca. 300–900 u.Z.) erscheint neben Visnu und S´iva als ˙ ˙˙ die dritte Hochgottheit die Göttin mit zahlreichen Namen und Formen, wie devı¯, Göttin, oder s´akti, Fähigkeit. Verehrer_innen der weiblichen Gottheit werden allgemein S´a¯ktas genannt. Nach ihrer Lehre stehen die männlichen (Hoch-) Götter unter der Göttin, ohne deren Energie, s´akti, sie machtlos sind. Die Indologin Wendy Doniger beschreibt das Phänomen so: »Shakti is generally something that a male god, not a goddess, has and that the goddess is.«15 S´akti ist darüber hinaus der Name der persönlichen Gefährtin des Gottes S´iva. Im Süden Indiens ist die Verehrung von Laksmı¯ oder S´rı¯ prominent. Sie gilt als ˙ Gefährtin Visnus (oder Na¯ra¯yanas) und Verkörperung von Glück, Wohlstand ˙ ˙˙ und Fruchtbarkeit. Im Norden und Osten Indiens überwiegt die Verehrung Kalis in ihren verschiedenen Erscheinungen. Sie wird mit Wissen und Erlösung gleichgesetzt und ihre Verehrer_innen legen mehr Wert auf das persönliche Er12 Übersetzung aus Bhaktivinoda 2012, 437. 13 Patrick Olivelle übersetzt hier jı¯va ebenfalls als »individuelle Seele«; Olivelle 1996, 262. Der gewöhnliche Begriff für »Seele«, a¯tman, wird im Kontext dieses Verses auch als »Körper« übersetzt, eine weitere Option ist »das Selbst« sowie das reflexive Pronomen »selbst«. 14 Bhagavadgı¯ta¯ 2.13 (Übersetzung aus Schreiner 1991, 59). 15 Doniger 2009, 391 (Hervorhebung im Original).

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leben als auf Schriftgelehrtheit.16 Neben pan-indischen Göttinnen gibt es unzählige lokale und regionale Göttinnen, die oft durch Heirat oder eine andere familiäre Beziehung in die sanskritisch-brahmanische Götterwelt integriert wurden.17 Wie zu vedischer Zeit die Ehe als Voraussetzung galt, um als Mann am Feueropfer teilzunehmen, so dient die Ehe auf der mythologischen Ebene der Domestizierung einer sonst unkontrollierbaren Naturgewalt. Im ersten Fall wird der Mann durch die Ehe ermächtigt und zum vollständigen Mitglied der Gesellschaft, im zweiten Fall wird die Göttin durch die Ehe entmachtet, indem sie ihre Wildheit aufgibt. Das Ideal des Ehelebens, basierend auf binären Geschlechtsverhältnissen (oder Geschlechtsdimorphismus18), steht für eine gesellschaftliche und kosmische Ordnung, worin die Rollen, Aufgaben und Zuständigkeiten klar verteilt sind.19 Der weibliche Aspekt Gottes als seine Partnerin und als ´sakti ist im Visnuis˙˙ mus ebenso zu finden. In dessen Mythologie sowie in einer elaborierten Theologie nimmt sie eine zentrale Rolle ein. Eine Variante dieses Visnuismus ist die Verehrung Krsnas als ˙˙ ˙ ˙˙ höchster Gott, die sich im mittelalterlichen Bengalen herausgebildet hat. Die von Caitanya (1486–153320) begründete sogenannte Hare Krsna Bewegung ˙˙ ˙ predigt die Hingabe (bhakti) zum Gott Krsna, in der Form eines Kuhhirten˙˙ ˙ jungen. Caitanya kam im heutigen Westbengalen zur Welt. Er machte einen Wandel von einem Gelehrten zu einem Ekstatiker durch, ließ sich zu einem Mönch, sannya¯sı¯, weihen und predigte in der zweiten Hälfte seines Lebens die Liebe und Hingabe zu Krsna. Der sogenannte maha¯-mantra – Hare Krsna Hare ˙˙ ˙ ˙˙ ˙ Krsna Krsna Krsna Hare Hare Hare Ra¯ma Hare Ra¯ma Ra¯ma Ra¯ma Hare Hare – ˙˙ ˙ ˙˙ ˙ ˙˙ ˙ war für ihn das Mittel zur Gotteserkenntnis und das geeignetste Medium der religiösen Praxis für die Menschen der gegenwärtigen Zeit.21 Aus den Hagiographien geht hervor, dass bereits seine engen Vertrauten in ihm eine kombinierte Verkörperung von Krsna und seiner Gefährtin Ra¯dha¯ ˙˙ ˙ sahen.22 Ra¯dha¯ ist eine zentrale Figur der Krsna-Legende, die sich in einem ˙˙ ˙ Kuhdorf namens Vrnda¯vana abspielt, wo Krsna seine ersten Lebensjahre ver˙ ˙˙ ˙ brachte. Dort wurde er zum Zentrum der Liebe und Hingabe aller anderen Dorfbewohner, welche ihn statt als Gott nur als einen süßen und frechen Jungen 16 17 18 19 20

Vgl. McDaniel 2004, 4. Vgl. Hacker 1983, 14. Vgl. Lehnert 2008, 132f. In vedischer Zeit konnte nur ein verheirateter Mann aktiv am Ritual teilnehmen. Vgl. De 1961, 39; Dimock 1966, 31; Neubert 2010, 19. Die Primärquellen geben überwiegend das Jahr 1534 an. Der Grund für diese Differenz ist unbekannt. Möglicherweise erwies es sich so als praktischer, das Leben Caitanyas in die Zeit in Bengalen und die Zeit in Jaganna¯tha Puri aufzuteilen, wo er seine zweite Lebenshälfte verbrachte. ¯ di 17.21. 21 Brhanna¯radı¯ya Pura¯na 38.126, zitiert in: Caitanya-Carita¯mrta A ˙ ˙ De 1961, 424. Caitanya-Carita ˙ ¯ di 4.56–57. 22 Vgl. ¯ mrta A ˙

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sahen. Unter allen diesen Devotees ragt die Ra¯dha¯ als die Perfekte heraus. Krishna konnte ihre Liebe nicht vollständig begreifen, darum erschien er selber in der Gestalt eines Devotees, um die Ekstase der Gottesliebe zu erfahren.23 Im Caitanya Carita¯mrta, der wichtigsten Hagiographie über Caitanya, wird sie ˙ als vollständige Energie, pu¯rna-s´akti, bezeichnet und Krsna als der Besitzer ˙ ˙˙ ˙ dieser Energie, pu¯rna-s´aktiman.24 ˙ Caitanyas Lehren nach ist die höchste Destination einer individuellen Seele der Dienst zu Ra¯dha¯ in der Gestalt eines Kuhhirtenmädchens, gopı¯. Der_die Devotee bereitet sich durch seine_ihre tägliche devotionale Praxis auf dieses Ziel vor, das zuerst im Diesseits und schließlich in einer ewigen transzendenten Welt erfahren wird.25 Die wesentlichen Bestandteile dieser Art von Meditation sind das leise Aufsagen (engl. chant) der Namen Gottes in Form des maha¯-mantras, sowie das Hören, Besingen und Erinnern von Krsnas Namen, Formen, Eigenschaften ˙˙ ˙ und Aktivitäten.26

Die Liebe zu Gott in der bhakti Philosophie und ihre Kultivierung Das Bha¯gavata Pura¯na (ca. 6.–9. Jahrhundert n. Chr.27) gilt als eine der wich˙ tigsten Texte, auf die sich die spätere Theologie Caitanyas beruft. Das Werk beschreibt und glorifiziert Visnus Inkarnationen und seine Verehrer_innen, ˙˙ gefolgt von Krsnas Kindheitsspielen im Kuhdorf Vrnda¯vana, wo er verschiedene ˙˙ ˙ ˙ Götterfeinde, asuras, tötet, Milch und Joghurt aus den Häusern der Nachbarn klaut und sich an amourösen Spielen mit den jungen, bereits verheirateten Kuhhirtenmädchen, gopı¯s, vergnügt. Dieses vom traditionellen Standpunkt aus betrachtet unsittliche Verhalten des Gottes traf auf Kritik seitens der viktorianischen Brit_innen sowie bei Inder_innen selber. Zu den Rechtfertigungen seitens der Krsna-Theologie zählt ˙˙ ˙ zum einen, dass sämtliche Lebewesen als seine Energie ihm gehören und zur Verfügung stehen. Des Weiteren hat Krsna in einer vorherigen Erzählung vor˙˙ ˙

¯ di 1.6. 23 Vgl. Caitanya-Carita¯mrta A ¯ di 4.96. 24 Vgl. Caitanya-Carita¯mr˙ ta A 25 Vgl. Bhaktiveda¯nta Na¯ra¯˙yana Maha¯ra¯ja 1993, May 29, Mathura, India, in: http://www.purebhakti. ˙ com/teachers/bhakti-discourses-mainmenu-61/18-discourses-1990s/1039-causeless-mercy-mat hura-may-29-1993.html (zuletzt aufgerufen am 20. 01. 2018). 26 Vgl. Bha¯gavata Pura¯na 7.5.23–24. 27 Zur Datierung dieses˙Pura¯nas besteht kein Konsens. Nach Bryant 2007, 113 sind wesentliche ˙ Periode, 4.–6. Jahrhundert, kompiliert worden. Neubert 2010, Teile der Pura¯nas in der Gupta ˙ 17 und andere gehen von einer späteren Fertigstellung aus, ca. 9. Jahrhundert.

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übergehend die Form sämtlicher Kuhhirtenjungen angenommen und wurde deren Rolle spielend mit allen Kuhhirtenmädchen verheiratet.28 Solche Aktivitäten oder Spiele Krsnas finden ununterbrochen statt, in der ˙˙ ˙ ewigen transzendenten Welt, Vaikuntha bzw. Goloka Vrnda¯vana, und auf einem ˙˙ ˙ irdischen Planeten in einem der unzählig vielen Universen. Sowohl kosmische Schöpfungsvorgänge als auch das menschenähnliche Zusammensein mit Freunden, Eltern und Geliebten betreibt Gott zu seinem Vergnügen, als Zeitvertreib und mit der Leichtigkeit eines Kindes. Daher werden diese Aktivitäten auch Spiele, lı¯la¯, genannt. Das Bha¯gavata Pura¯na beschreibt auch andere Beziehungsformen zu Krsna, ˙ ˙˙ ˙ wie die seiner Eltern und Freunde, welche jedoch über graduell weniger Intimität verfügen als die der Liebesbeziehung. Diese Liebe der gopı¯s zu Krsna beinhaltet alle Eigenschaften der anderen ˙˙ ˙ Beziehungen und setzt diesen zusätzlich die vollständige Hingabe mit allen verfügbaren Sinnen hinzu.29 Diese amouröse Beziehung der Kuhhirtenmädchen zu Krsna ist das summum bonum in Caitanyas devotionalem Visnuismus bzw. ˙˙ ˙ ˙˙ Krsnaismus.30 Bryant merkt dazu an, dass das Bha¯gavata Pura¯na die gopı¯s als die ˙˙ ˙ ˙ erfolgreichsten Wesen überhaupt darstellt und damit die Aussage der Bhagavadgita (9.32) übertrifft, welche Frauen erstmalig zusichert, dass auch sie das höchste Ziel erreichen können.31 Zwei Arten von Lebewesen sind stets mit Krsna zusammen und dienen ihm auf ˙˙ ˙ liebevolle Weise in einer der genannten Beziehungsformen. Die eine Gruppe wird ewig perfekt, nitya-siddha, genannt und nimmt Teil an den transzendenten zeitlosen Spielen Krsnas. Die andere Gruppe hat diese Perfektion durch das ˙˙ ˙ Ausüben devotionaler Praktiken, sa¯dhana-bhakti, erlangt.32 Ob der_die Praktizierende dabei einen weiblichen oder männlichen Körper besitzt, spielt keine Rolle, da die Seele nicht identisch mit dem zeitweiligen Körper ist. Zur Verdeutlichung soll nun eine Episode aus der Krsna-Legende vorgestellt werden, die ˙˙ ˙ von Kommentatoren aus verschiedenen Epochen genutzt wurde, um zu demonstrieren, wie die Seele, unabhängig vom Körper und dessen Geschlecht, eine amouröse Beziehung mit der männlichen Gottheit eingehen kann. 28 Vgl. Bha¯gavata Pura¯na 10.13. (Brahma¯-Vimohana-Lı¯la¯: Brahma¯ entführt Kälber und Kuhhirtenjungen, um Kr˙snas Position zu testen, und wird schließlich selber von Krsna ausge˙˙ ˙ ˙˙ ˙ trickst). 29 Vgl. Caitanya-Carita¯mrta Madhya 19.231–234. ˙ ´a-tanayas tad-dha¯ma vrnda¯vanam ˙ , ramya¯ ka¯cid upa¯sana¯ vraja30 a¯ra¯dhyo bhagava¯n vrajes ˙ ˙ of Godhead, Lord Krishna, the son of vadhu¯-vargena¯ ya¯ kalpita¯. »The Supreme Personality ˙ Nanda Maharaja, is worshipped along with His transcendental abode Vrndavana. The most pleasing form of worship for the Lord is that which was performed by the gopı¯s of Vrndavana.« (Caitanya-mañju¯sa¯, Vis´vana¯tha Cakravartı¯ Tha¯kura) ˙ ˙ 31 Vgl. Bryant 2017, 85, 576. 32 Vgl. Cakravarti 2004, 297–299 (Bha¯gavata Pura¯na 10.29.9). ˙

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Vis´vana¯tha Cakravartı¯, ein Nachfolger Caitanyas und bedeutender Kommentator aus dem 17. Jahrhundert, erläutert das Thema in einem umfangreichen Kommentar zu einem Vers aus dem Bha¯gavata Pura¯na (10.29.9).33 Im Kontext ˙ dieses Verses geht es darum, dass Krsna in einer Vollmondnacht durch sein ˙˙ ˙ bezauberndes Flötenspiel die gopı¯s zu sich ruft, welche daraufhin alles stehen und liegen lassen und zu ihm in den Wald eilen. Dort findet der gemeinsame ra¯sa-Tanz statt, der eine zentrale Stellung in der Legende einnimmt und zudem mit dichterisch hochwertigen Liedern ausgeschmückt ist.34 Der eigentliche Vers besagt, dass nicht alle gopı¯s in der Lage waren, sich direkt mit Krsna zu treffen. ˙˙ ˙ Einige wurden von ihren Ehemännern oder Eltern zurückgehalten. Im Kommentar von Vis´vana¯tha Cakravartı¯ heißt es dazu, dass diese gopı¯s aufgrund des daraus entstandenen Trennungsschmerzes und zusätzlicher Entsagungen vollständig durch ihre Praxis perfektioniert (sa¯dhana-siddha) wurden, und sie sich dadurch zuerst in ihrer Meditation und später auch direkt mit Krsna treffen ˙˙ ˙ konnten.35 Der Kommentar kategorisiert verschiedene Arten von gopı¯s, darunter auch die durch Praxis zur Perfektion Gekommenen. Unter diesen gibt es zwei besondere Gruppen. Die erste davon sind die personifizierten vedischen Schriften, die im Angesicht Krsnas lustvoll wurden und den Wunsch entwi˙˙ ˙ ckelten, ihn wie die gopı¯s als ihren Liebhaber zu verehren. Die andere Gruppe besteht aus einer Gruppe von Weisen, die einst eine Begegnung mit der Inkarnation Gottes als Ra¯ma hatten.36 S´rı¯la Prabhupa¯da (1896–1977), der Gründer der »Internationalen Bewegung für Krsna Bewusstsein« (ISKCON), übersetzt den im ˙˙ ˙ Kommentar zitierten Vers aus dem Padma Pura¯na wie folgt: ˙ Dandaka¯ranya heißt der Wald, in dem S´rı¯ Ra¯macandra lebte, nachdem Er von Seinem ˙˙ Vater für vierzehn Jahre verbannt worden war. Zu der Zeit lebten dort viele fortgeschrittene Weise, die von der Schönheit S´rı¯ Ra¯macandras bezaubert waren und sich wünschten, Frauen zu werden, um den Herrn umarmen zu können. Später erschienen diese Weisen in Gokula Vrnda¯vana, als Krsna Selbst dorthin kam, und sie wurden als ˙ ˙˙ ˙ gopı¯s oder Freundinnen Krsnas geboren. So erreichten sie die Vollkommenheit des ˙˙ ˙ 37 spirituellen Lebens.

Der männliche Körper, der traditionell als Bedingung zur Teilnahme am rituellen Leben gilt, wird für die Weisen zu einem Hindernis, das sie davon abhält, auf intime Weise mit Gott zusammen zu sein. Erst die Wiedergeburt in einem weiblichen Körper ermöglicht ihnen diese Perfektion. An anderer Stelle macht 33 Vgl. Cakravarti 2004, 297–299, 297. 34 Vgl. Schweig 2005. 35 Vgl. Bha¯gavata Pura¯na 10.13. Das Kapitel beginnt mit der Beschreibung junger gopı¯s, die ˙ Durga¯s, verehrten, um einen geeigneten Ehemann (Krsna) zu beKa¯tya¯yanı¯, eine Form ˙˙ ˙ kommen. 36 Vgl. Cakravarti 2004, 297–299. 37 Prabhupa¯da 1977, 62.

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das Bha¯gavata Pura¯na einen ähnlichen Punkt, wenn Krsna von ritualistischen ˙ ˙˙ ˙ Brahmanen ignoriert wird, aber deren Frauen ihn mit spontaner Zuneigung begegnen. Wie Ra¯ma zuvor die Wünsche der Weisen erfüllte, die über ihn meditierten, so empfiehlt Krsna hier den Frauen der Brahmanen weiterhin über ihn ˙˙ ˙ zu meditieren, während sie äußerlich weiterhin ihren Pflichten als Gattinnen 38 nachgehen sollten. Die hier beschriebene Liebe zu Gott mag äußerlich wie eine gewöhnliche Liebesbeziehung unter Menschen aussehen, in der die binär gedachten Geschlechter sich voneinander angezogen fühlen. Da Krsna kein gewöhnliches ˙˙ ˙ Lebewesen, sondern Gott selber ist, wirkt er auf alle Lebewesen anziehend. Er verkörpert absolute Süße, ma¯dhurya, und sein Name wird als der Allanziehende übersetzt (die Verbwurzel krs bedeutet u. a. an-/ziehen). ˙˙ Die vorangestellten Erzählungen weisen darauf hin, dass er die Lebewesen unabhängig ihres körperlichen Geschlechts anzuziehen vermag. Bhaktivinoda Tha¯kura (1838–1914) hat am Ende des 19. Jahrhundert zahlreiche theologische ˙ Abhandlungen zu dieser Art der Gottesliebe verfasst, sowohl in Bengali als auch erstmalig in Englisch.39 Er schreibt in diesem Zusammenhang Folgendes: Obwohl er ein Mann sein mag, kann er in seinem bha¯va-deha, seinem erfahrenen spirituellen Körper, eine gopı¯ sein, man darf dies nicht für unmöglich halten. Jede Seele ist von ihrer Identität her Krsnas marginale Energie (tatastha-s´akti). Das Mannsein oder ˙˙ ˙ ˙ Frausein im groben materiellen Körper ist nur ein mentales Konzept, das im feinstofflichen Körper entstand. Weil der ewige, reine Körper der Seele spirituell ist, gibt es bei ihm nicht den Unterschied zwischen Mannsein und Frausein.40

Dieses Bewusstsein zu verwirklichen, eine Energie Krsnas zu sein, ist das Ziel der ˙˙ ˙ Devotees und dies wird von ihnen in der täglichen Praxis eingeübt. In den Vorstufen zur Vollkommenheit bedeutet dies, verschiedene Dienste auszuführen, insbesondere für den Guru und die Gemeinde. Liebe zu Gott wird unmittelbar mit dem Darbringen von Dienst gleichgestellt: Wer mehr dient, der hat mehr Liebe. Eine einfache Definition dieser Art von Gottesliebe (prema) besagt, dass sie allein der Zufriedenstellung Krsnas dienen ˙˙ ˙ soll. So wird sie unterschieden von Aktivitäten, die aus eigennützigen Motiven heraus unternommen werden.41 Der Wunsch danach, selber zu genießen, unabhängig von Gott, wird demnach als ein mit Gott konkurrierendes Bewusstsein betrachtet, ein so wörtlich männliches Bewusstsein, purusa-bha¯va. ˙ 38 Vgl. Bha¯gavata Pura¯na 10.23. Die Meditation in Trennung, viraha, wird auch als Vorbe˙ dingung des Zusammentreffens betrachtet und dient der Steigerung der Empfindungen bei der Wiedervereinigung. 39 Vgl. Dasa 1999. 40 Bhaktivinoda 2012, 427. ¯ di 4.165. 41 Vgl. Caitanya-Carita¯mrta A ˙

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Das Gegenteil dazu ist ein weibliches Bewusstsein, als s´akti, das sich bewusst in einer Gott dienenden, fürsorglichen oder liebenden Haltung ausdrückt. Durch diese Art der Kultivierung einer Beziehung (bhakti-yoga) zu Gott entsteht allmählich eine Nähe zu Gott und damit eine sich stets steigernde Gotteserfahrung. Bei dieser geht es nicht um monistische Verschmelzung, sondern um einen auf Dualität basierenden Austausch, mit der amourösen/erotischen Variante als Höhepunkt. Krsna geht in seiner Erscheinung als Kuhhirtenjunge so weit, dass er seine ˙˙ ˙ Allmacht vergisst und völlig menschliche Züge annimmt. Allein in dieser Form ist es ihm möglich, freundschaftliche, elterliche und amouröse Liebe zu kosten, die nicht vom Wissen um seine Göttlichkeit beeinträchtigt ist. Seine Freunde besiegen ihn im Ringkampf, seine Mutter bindet ihn an einen Mörser, um ihn zu züchtigen, und für ein paar Süßigkeiten tanzt er vor den gopı¯s.42 Das Ausmaß der Hingabe der gopı¯s, die ihre Ehre, das in der vedisch-brahmanischen Gesellschaft höchste Gut einer Frau, aufs Spiel setzen, um sich mit Krsna zu treffen, über˙˙ ˙ wältigt Krsna. Drückt er in der Bhagavadgı¯ta¯ aus, dass er seinen Devotees be˙˙ ˙ gegnet, wie sie ihm begegnen, so gesteht er vor den gopı¯s ein, nicht in der Lage zu sein, ihre Hingabe zu erwidern, und dass der Ruhm ihrer Taten ihnen als Kompensation genügen möge.43

Die Bedeutung der Gottesliebe für das Diesseits Nach der vorliegenden Theologie ist Krsna (oder Visnu) das einzige männliche ˙˙ ˙ ˙˙ Wesen, während alle übrigen Geschöpfe prinzipiell weiblich sind, eine s´akti.44 Ähnlich wie in anderen (monotheistischen) Religionen wird am Beispiel des Gottes Krsna das Verhältnis von Gott zu Mensch als ein Verhältnis von männlich ˙˙ ˙ zu weiblich dargestellt. Dadurch entsteht eine Hierarchisierung der Geschlechter im Diesseits, die man(n) mit religiösen Ansichten legitimiert.45 In verschiedenen Zeiten und Varianten der hinduistischen Traditionen lassen sich nahezu alle denkbaren Geschlechterordnungen wiederfinden. Misogynie und Androzentrik – sowie die Vergöttlichung der Frau in der Rolle als reine Jungfrau, nährende Mutter der universelle Kraft – gehören zu den verschiedenartigen Ausprägungen in diesem Spektrum. In Caitanyas bhakti-Bewegung werden die äußerlichen Regeln der brahmanisch-orthodoxen Hindu-Gesellschaft beibehalten. Das höchste Ziel ist für 42 43 44 45

Vgl. Bha¯gavata Pura¯na 10.9.19. Vgl. Bha¯gavata Pura¯˙na 10.32.22. Vgl. Caitanya-Carita¯˙mrta Madhya 20.108. ˙ Vgl. von Braun 2010, 24.

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Männer wie Frauen gleichermaßen erreichbar, ob sie als Mönche, Asketen oder im Eheverbund leben, macht keinen Unterschied. Geschlechtsbezogene Restriktionen bestehen weiter, z. B. bei der Weihe von sannya¯sin-Mönchen, welche Männern vorbehalten ist. Einzelne Zweige weisen dafür weibliche Meister, gurvı¯, auf, eine vom Tantrismus beeinflusste Eigenart, die von der strengen brahmanischen Orthodoxie abweicht.46 Wichtig ist allen Anhänger_innen Caitanyas die Verinnerlichung und die Meditation über den Dienst zu Krsna, den die Kuh˙˙ ˙ hirtenmädchen ausführten. Im Idealfall sorgt dies für eine Gemeinschaft, in der Menschen jeglichen Geschlechts die gleiche Wertschätzung erfahren, weil sie vor Gott alle über die gleiche Qualität verfügen. Abseits der Geschlechtsmetaphorik wird hier auch von Gott als dem Absoluten gesprochen und von einer universellen Harmonie, die darauf basiert, dass sich die Relativen, hier das individuelle Selbst jeder Person, auf dieses Absolute (Krsna) ausrichten und die eigene Re˙˙ ˙ lativität akzeptieren bzw. realisieren.47 Praktisch ist der_dem Devotee das Geschlecht ihres_seines Körpers zweitrangig, wenn für Krsna gekocht, geputzt, gesungen oder über diesen im Inneren ˙˙ ˙ meditiert wird. Die Beziehung zwischen Gott und Devotee ist eine Beziehung auf einer nichtkörperlichen, spirituellen Ebene. Sich in der eigenen relativen Position bezogen auf Krsna zu erkennen, bedeutet Selbsterkenntnis (a¯tma¯-jña¯na) oder Selbst˙˙ ˙ verwirklichung jenseits der zeitweiligen Zuschreibungen, die sich auf den materiellen Körper beziehen, inklusive dessen Geschlecht. Im Krsna-Devotionalismus nach Caitanya steht die Person Gottes im abso˙˙ ˙ luten Zentrum und ist männlich, während die relativen Lebewesen intrinsisch weiblich sind. Diese binäre Konstruktion transzendenter Realität spiegelt sich in der menschlichen Gesellschaft wieder. Hier sei angemerkt, dass Abweichungen von dieser Norm im Hinduismus durchaus normal sind. Das absolute/neutrale, unpersönliche brahman wird von vielen Hindus als das Höchste verehrt, von den Visnuiten und anderen Persön˙˙ lichkeitsphilosophen aber als sehr geringgeschätzt. Für Devotees ist das brahman lediglich die Ausstrahlung von einer Zehenspitze der Person Gottes, Krsna. Neben ˙˙ ˙ den erwähnten Abweichungen auf humaner Ebene lassen sich zahlreiche göttliche und mythologische Personen finden, die von der polaren Geschlechterkonstruktion abweichen: S´iva und Pa¯rvatı¯ werden zu Ardhana¯rı¯s´vara, der_die halb »Mann« und halb »Frau« ist, und Visnu nimmt den Körper einer Frau an, um die Gott˙˙ abgewandten (asuras) und später S´iva selber mit seiner_ihrer Schönheit zu bezaubern. Generell deutet sich hier an, dass Personen im Laufe der Zeit und entsprechend dem Ort und den Umständen verschiedene Körper mit verschiedenen 46 Vgl. Dimock 1966, 82–83, 102. 47 Vgl. Sridhar 1989, 84, 97.

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Funktionen und auch Geschlechtern haben können. Körper zu haben und Körper zu wechseln ist ein normales Phänomen im Kreislauf der Wiedergeburten. Postuliert wird aber daneben die Existenz eines ewigen Körpers, der sich in der transzendenten Beziehung zu Gott manifestiert. Die binäre Geschlechterkonstruktion bildet im Diesseits wie im Jenseits eine Konstante: Im Diesseits bestimmt durch das biologische Geschlecht – Ausnahmen bestehen, bestätigen aber diese Regel –, und im Jenseits durch die relative Position zum absoluten Gott. Während im Diesseits Männlichkeit mit Kontrolle und Dominanz assoziiert wird, findet im Reich Krsnas eine Umkehrung statt, worin er von der Hingabe der Kuhhirten˙˙ ˙ mädchen kontrolliert wird. Die Differenzen aufgrund des biologischen Geschlechts werden so entdramatisiert und die Inversionen von Geschlechtlichkeit erlauben die Überwindung einer rein androzentrisch geprägten Religiosität. In der Entwicklung der Bengalischen Vaisnava Tradition – im Kontext des indischen Devotionalismus und ˙˙ beeinflusst vom Tantrismus – kann hiermit also eine schrittweise Inklusion von Frauen in das kultische Geschehen attestiert werden. Zudem ist in den mythologischen Narrativen der Tradition ein emanzipatorisches Potential enthalten, sodass ihr gewisse feministische Aspekte im praktischen sowie im theoretischen zugesprochen werden dürfen. Neben diesem Idealtypus lassen sich aber auch – insbesondere im Kontext der Missionstätigkeit außerhalb Indiens – zahlreiche Beispiele dafür finden, wie das Ideal missverstanden und sogar missbraucht wurde, um den von Männern dominierten Status Quo aufrechtzuerhalten.48 Die jeweiligen persönlichen Konstruktionen der Genderkonstitutionen und -vorstellungen bleiben individuellen Prozessen unterworfen, die zu untersuchen noch zu leisten wäre.

Literatur ˙ rta Bhaktivinoda, Tha¯kura, 2012, Die Lehren S´rı¯ Krsna Caitanyas. S´rı¯ Caitanya S´iksa¯m ˙ ˙˙ ˙ ˙ ˙ (übers. aus der Hindiausgabe S´rı¯ S´rı¯mad Bhaktiveda¯nta Na¯ra¯yana Maha¯ra¯jas), Stutt˙ gart: Gaud¯ıya Veda¯nta Publications. ˙ Bryant, Edwyn F. (Hg.), 2007, Krishna. A Sourcebook, New York: Oxford University Press. Bryant, Edwyn F., 2017, Bhakti Yoga. Tales and Teachings from the Bhagavata Purana, New York: North Point Press. Cakravarti, Thakur Visvanatha, 2004, Sarartha Darsini. Tenth Canto Commentaries. English Translation, hg. von Mahanidhi Swami, übers. von Bhanu Swami, New Delhi: Rakmo Press. 48 Vgl. Knott 2004 und Muster 2004.

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Sektion 3: Männlichkeit(en)

Benedikt Bauer

Männlichkeit, queer… und was dann?

Früher nämlich lebten auf Erden die Stämme der Menschen weit von den Übeln entfernt und ohne drückende Plage, lästigen Krankheiten fern, die den Männern Tode bereiten.1

So beschreibt Hesiod in seinen »Werken und Tagen« (ΕΡΓΑ KAI ΗΜΕΡΑΙ) im Pandoramythos die Verbreitung der Übel unter den Menschen. Es fällt direkt ins Auge, dass Hesiod hier eine Verklärung der vorangegangenen Erdgeschichte vornimmt: »Früher nämlich« war alles gut. Bevor Pandora ihre »Büchse« öffnete lebten die Menschen frei von Übeln, ja, man möchte fast paradiesisch sagen – in der Tat erinnert die Szene ein wenig an die Paradieserzählung um Adam und Eva und die Konsequenzen ihres Handelns, die als »Sündenfall« in das kollektive Gedächtnis eingegangen sind. Bei genauerer Betrachtung des Textfragments fällt etwas Weiteres auf: Hesiod führt die Unterscheidung zwischen den »Menschen« (άνϑρώπων) und den »Männern« (ἀνδράσι) ein.2 Nun gut, aber was sagt das der_dem Lesenden? Anscheinend besteht für Hesiod eine Differenz zwischen dem Kollektivum der Menschen und der spezifischen Gruppierung der Männer – ganz entgegen den Überlegungen zum Phallogozentrismus3, die aufdecken, dass das Männliche die Norm, das Weibliche jedoch immer die Abweichung ist. In diesem Fall ist Männlichkeit das Abweichende, ja Männer sind hier in der klassisch-stereotypen »weiblichen« Opferrolle, sie sind die Betroffenen, denen »Tode bereite[t]« werden. Würde eine feministische Lesart vielleicht darauf insistieren, dass eigentlich implizit eine Viktimisierung der »Frau« vorliegt – ist es doch die Frau Pandora, der die Schuld für die Tode zugerechnet wird –, fragt die Männlichkeitsforschung hier nach dem Aussagegehalt für die Kategorie »Mann«, die queere Forschung wiederum danach, was, warum und wie eigentlich diese Männer sind, und sucht mehr die Irritation von Geschlechterordnungen bis hin zur Auflösung von Genderkategorien an sich als die Schaffung ultimativen Geschlechterwissens. 1 von Schirnding 2012, 89. 2 von Schirnding 2012, 88. 3 Vgl. Irigaray 1979.

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In der europäischen Theologie und Religionswissenschaft, so führt Björn Krondorfer zurecht an, »ist das Feld der kritischen Männlichkeitsforschung […] bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts weitgehend brach geblieben«4 so wie auch die Genderforschung noch lange nicht im Mainstream der Fachwissenschaften angelangt ist.5 In der englischsprachigen Forschung hingegen besteht ein reger Diskurs über die Verflechtungen von Religion und Männlichkeit. Maßgeblich und bahnbrechend für die Erforschung von Männlichkeit(en) war und ist die theoretische Konzeption von Raewyn Connell zur hegemonialen Männlichkeit. Connell entwickelt in ihrem Werk ein theoretisches Handwerkszeug zur relationalen Bestimmung von Männlichkeit(en) in Abgrenzung von anderen Männlichkeiten und Weiblichkeit(en), das sukzessive auf dem Prüfstand stand und steht.6 Connell definiert hegemoniale Männlichkeit als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis […], welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll).7

Durch die Offenheit und Multirelationalität des Konzeptes lässt sich Connells Ansatz nicht nur für historische sowie rezente Forschungen in den unterschiedlichsten religiösen und nationalen Kontexten verwenden, sondern es lassen sich auch diverse Männlichkeiten mit ihm denken – Connell selbst schlägt die weiteren Kategorien der »Unterordnung«, »Komplizenschaft« und »Marginalisierung« vor, die jedoch in ihrem jeweiligen Kontext durchaus weitergedacht werden können, da sie keine festen Typen darstellen.8 Wichtig ist in der Erforschung der Kategorie »Mann« keinen biologistischen oder religiösen Essentialismen zu erliegen und mit diesen positivistischen Zementierungen von »der Männlichkeit« zu produzieren, wie es z. B. in der mythopoetischen Männerbewegung zuweilen geschehen ist. Zentral in der kritischen, kritisch-theologischen und kritisch-religionswissenschaftlichen Männlichkeitsforschung oder besser, weil umfassender formuliert, Critical Men’s Studies in Religion ist das Versatzstück »kritisch«. In einer Forschungsrichtung, die »[m]ethodisch ein offenes Feld«9 oder auch theoretisch und methodisch disparat ist, ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsobjekt unabdingbar – wie sie es wohl in jeder Forschungsrichtung zu sein hat. Ist nämlich das kritische Arbeiten die

4 Krondorfer 2016, 204. 5 Für die Religionswissenschaft als immer noch maßgebende Einführung zu Gender vgl. Höpflinger/Jeffers/Pezzoli-Olgiati 2008. 6 Vgl. z. B. Dinges 2005. 7 Connell 2000, 98. 8 Connell 2000, 98–102. 9 Krondorfer 2016, 208.

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gemeinsame leitende Prämisse, so wird genau diese methodische Offenheit einer Fachrichtung für einen multiperspektivischen und produktiven Diskurs nutzbar. Männlichkeit als Konstrukt sollte daher mit ihren heteronormativen Bedingungen reflektiert und Religion kritisch anhand ihrer normativen Setzungen überprüft werden. Denn Geschlechtlichkeit und somit auch Männlichkeit, die in religiösen Weltdeutungshorizonten als conditio humana narrativ oder rituell konstruiert und inszeniert sowie mythologisch überformt wird, ist zwar in ihrer intentionalen (Hetero-)Normativität zu verstehen, muss jedoch nicht als letztgültige Faktizität – wiederum aber auch nicht als irrelevante Fiktion – rezipiert und reproduziert werden. In anderen Worten: Auch religiöse Männlichkeit(skonstruktionen) sind queerbar, indem zunächst »die Identifikation von Männlichkeit mit exklusiven Eigenschaften […] problematisier[t]«10 wird. Männlichkeit zu queeren hinterfragt also die grundlegende Einsicht des doing gender – also dass man(n) nicht einfach Mann ist, sondern Männlichkeit gemacht wird – und des doing religion in einer besonderen Weise, indem es darauf zielt, »heteronormative Komponenten und Brüche in den Konstruktionen und Inszenierungen, die mit Männlichkeit in Verbindung stehen, aufzuspüren und sichtbar zu machen.«11 Im Kontext religiöser Männlichkeit(en) heißt das nicht nur Rekonstruktion der Produktion von geschlechtlicher Binarität (z. B. Schöpfungsmythen), Zementierungen heteronormativer und heterosexuell begehrender Strukturen oder – wie im Pandoramythos – mythologischer und religiöser Legitimierung von Geschlechtszuschreibungen und Geschlechtscharakteren.12 Es bedeutet auch, dass danach gefragt wird, warum ein Mann genau dann ein Mann ist oder wird, wenn er religiöse Maßgaben erfüllt, und welche somatischen, sozio-kulturellen und identitären Muster hierbei beeinflusst und aktiviert werden, z. B.: Wie wird durch die Exklusivität des abrahamitischen Segens und Bundes und durch die Beschneidung Männlichkeit konstruiert, von anderen (religiösen) Männlichkeiten abgegrenzt, somatisch festgeschrieben und tradiert? Wie steht diese Konstruktion in Relation zu Weiblichkeit und Matrilinearität oder göttlicher Geschlechtlichkeit – ist der Bogen JHWHs in den Wolken ein Phallus und ist er daher männlich?13 Kann es eine dezidiert »männliche« Spiritualität geben und wenn ja, wie sieht diese in Geschichte und Gegenwart aus?14 Warum wird der Übergang vom wilden Menschen zum Kulturmenschen – konkreter wohl »Kulturmann« – im Gilgameschepos durch den Vollzug des heterosexuellen Geschlechtsaktes markiert und welche Rückschlüsse lassen sich für Männlich10 11 12 13 14

Degele 2007, 29. Degele 2007, 30. Zu Geschlechtscharakteren vgl. grundlegend Hausen 1976. Vgl. z. B. Eilberg-Schwartz 1995. Vgl. zum Diskurs um rezente »männliche« Spiritualität, zur mythopoetischen Männerbewegung und anderen Bewegungen z. B. Gelfer 2009.

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keit(en) ziehen? Ist die Beziehung der zunächst konkurrierenden Männlichkeiten Gilgameschs und Enkidus männerbündisch oder gleichgeschlechtlich – von einem Konstrukt von Homosexualität im modernen Sinne kann nicht die Rede sein – begehrend, betrachtet man die überaus innige Beziehung und semantischen Mehrdeutigkeiten im Epos?15 Wie werden prophetische Männlichkeiten dargestellt und wie greift ihr Prophetendasein in ihre Männlichkeitskonstruktion ein?16 Wie konstruieren sich asketische Männlichkeiten in verschiedenen religiösen Traditionen und historischen Transformationen? Welche Begründungsstrukturen und Diskurse korrelieren mit diesen und liegen Askese- und Reinheitsvorschriften zugrunde? Welche Formen religiöser Devianz oder Heteropraxie erzeugen alternative, marginalisierte oder deviante Männlichkeit(en)? Wie verbinden sich postkolonial-nationale Männlichkeiten mit religiösen Momenten in ihrer Abgrenzung zu ehemaligen christlich-kolonialen Männlichkeiten?17 Wie konstruieren sich Männlichkeiten im Feld der religiösen LGBTQI+Bewegungen?18 Religiöse Männlichkeit zu queeren bedeutet jedoch nicht nur, nach Männlichkeit(en) von »Männern« zu fragen und diese zu problematisieren, sondern ebenso die Attributierungen von »Männlichkeit« zu untersuchen: Wie wird Männlichkeit in die Transzendenz hineingedacht und welche Lehren und Praktiken resultieren aus einer männlich imaginierten Gottheit? Inwiefern verändern sich Konstruktionen von Weiblichkeit sowie Männlichkeit, wenn z. B. weiblichen Märtyrerinnen oder Wüstenmüttern ein männlicher Geist zugeschrieben wird?19 Wie werden rezente somatische Diskurse, z. B. in der devotionalen Fitness, Muscular Christianity oder Muscle Jews, mit Aspekten von Religion und Gender aufgeladen? Zuletzt kann auch die Forschung der Critical Men’s Studies in Religion abseits der materialen Deskription und Analysen als essentielle Arbeit an Kategorien wie »Mann« oder »Frau«, als fester Bestandteil systematischer Religionswissenschaft und theoretische Reflexion des eigenen Faches und Forschungsgegenstandes gelten. Sie muss nicht auf Ebene der von anderen Disziplinen vorgegebenen theoretischen Konzeptionen verweilen, sondern kann im intra- und interdisziplinären Diskurs theoriebildend, kategoriekritisch und fächerübergreifend anschlussfähig produktiv werden. Hierbei können die Critical Men’s Studies in Religion in ihrer Vielgestaltigkeit dazu beitragen, nicht nur das Bild von historischen Männlichkeitskonzeptionen der Religionen zu pluralisieren und imagi15 16 17 18 19

Vgl. z. B. Nissinen 2010, 74. Vgl. Graybill 2016. Vgl. zu Indien z. B. Banerjee 2005. Vgl. z. B. Browne/Munt/Yip 2010. Zu christlichen Märtyrer_innen und zu Männlichkeit/Weiblichkeit von Märtyrerinnen vgl. Cobb 2008, 92–123.

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nierte Vorstellungen einer vermeintlichen Kohärenz und Beständigkeit von Genderkonstruktionen und Attributzuschreibungen zu Genderkategorien durch Ergänzungen aufzusprengen, sondern auch durch – vorsichtige – Applikation ihrer Ergebnisse und durch Forschungen zu rezenten Phänomenen, naturalisierendes Geschlechterwissen zu irritieren und als Verbindungglied zwischen Forschung zu Religion(en) und Geschlecht(ern) zu fungieren, das einen interdisziplinären Austausch erleichtert. Die folgenden beiden Beiträge nähern sich der(/den) Konstruktion(en) von Männlichkeit(en) auf ganz unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen globalen und zeitlichen Kontexten, beschäftigen sich jedoch beide mit christlichen Phänomenen – hier wiederum besteht jedoch abermals ein gravierender Unterschied zwischen den verhandelten Christentümern. Manuel Stadler wendet sich in seinem Beitrag der »Kastratensekte« der Skopzen zu. Diese russische Gruppierung führte aufgrund einer Sonderoffenbarung ihrer Gründer Selivanov religiös motivierte Körpermodifikationen an den primären – bei Frauen teilweise auch an den sekundären – Geschlechtsteilen vornehmlich ihrer biologisch männlichen Mitglieder durch. Allein durch diesen gravierenden somatischen Eingriff werden die Skopzen – eine, wie Stadler überzeugend zu zeigen vermag, bisweilen von der Wissenschaft weitgehend vernachlässigte Gruppierung – zum Objekt verschiedener interagierender (Forschungs-)Felder: Durch ihre Körpermodifikationen fallen die Skopzen zugleich in den Bereich des somatic turn, der Männlichkeitsforschung sowie der Theologien und Religionswissenschaft. Die Skopzen sind somit ein anschauliches Beispiel für die fächerübergreifende Anschlussfähigkeit des Forschungsobjekts »Körperlichkeit«. So ergeben sich für somatisch ausgerichtete Ansätze der Männlichkeitsforschung z. B. Fragen zur Korrelation von körperlicher Konstitution und Männlichkeitskonstruktion, von biologischem und sozialem Geschlecht oder des Symbolcharakters des Somatischen für Genderkonzeptionen. Die Religionswissenschaft und Theologie können sich ebendiese Fragen stellen und sie durch andere Topoi erweitern: Wie greifen dogmatische Setzungen und Offenbarungen in Körperkonzepte von Glaubenden ein? Ist das Somatische bei den Skopzen der Ausgangspunkt von für Heterodoxie oder wird aus jener Heterodoxie ein somatischer Devianzmarker produziert? Ist die »Verschneidung« bei den Skopzen ein Bruch mit dem Ideal der Unversehrtheit des menschlichen Körpers und Lebens oder ist Versehrtheit eine Konstante menschlichen Seins, da Leben vulnerabel ist?20 Zudem zeigt sich im Diskurs um Orthodoxie/-praxie und Heterodoxie/-praxie der Skopzen und der Konstruktion von religiöser Devianz und politischer Dissidenz – wie Stadler schon im Titel seines Beitrags andeutet – über das Somatische die im mindesten Bilateralität des Körpers. Der Skopzenkörper wird durch die Modifikation nicht nur zum religiösen, 20 Zu ebendiesen Diskursen der theologischen Anthropologie vgl. z. B. Springhart/Thomas 2017.

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sondern auch zum politischen Körper insofern, als dass sowohl die Religion als auch in Reaktion darauf die Politik in die Privatheit des Körpers des Individuums eingreifen – es stehen sozusagen religiöse und körperliche Freiheit gegen Ansprüche der Normativität. Die Skopzen werden somit auch zu einem Forschungsobjekt historischer Politik- und Sozialwissenschaften: Welche Gründe liegen gesellschaftlicher- und staatlicherseits vor, um in religiöse Freiheit des Subjekts – vorausgesetzt die Körpermodifikation bei den Skopzen wurde willentlich durchgeführt – einzugreifen? Ist es primär der körperliche Verletzungscharakter der religiösen Gruppierung, der repressive Reaktionen hervorruft? Dem könnte so sein. Es wäre jedoch auf einer gendertheoretischen Metaebene auch denkbar, dass die vermeintliche geschlechtliche Indifferenz, die durch das Entfernen von Geschlechtsmerkmalen entsteht, als Angriff auf die »heterosexuelle Matrix«, die »tries to enforce discrete and internally coherent gender identities within a heterosexual frame«,21 gewertet wird. Die Veruneindeutlichung geschlechtlicher Merkmale wäre somit als Irritation einer heteronormativen Gesellschaft interpretierbar, eine Verunsicherung, die als solcher Angriff auf das bestehende gesellschaftliche, staatliche und religiöse System empfunden wird, dass sie vehemente Repressionen und Verfolgungen nach sich zieht. Die Männlichkeit der Skopzen konstruiert sich dann in den Intersektionen von Religion, Politik, Gesellschaft, Körper und Geschlecht und wird von diesen größtenteils zu einer marginalisierten Männlichkeit degradiert. Der Beitrag von Benedikt Bauer befasst sich mit Männlichkeit(en) in der Herrnhuter Brüdergemeine des 18. Jahrhunderts und erhält seinen Zugang durch die heteronormativ-pathologisierende Kritik des frühen 20. Jahrhunderts, die alternative Männlichkeitskonstruktionen als Perversion der heteronormativen Strukturen betrachtete. Die Brautmystik und der Wundenkult der Herrnhuter Brüdergemeine findet einen starken Ausdruck in den Gesangbüchern und der Gesangspraxis der Gemeinschaft und hat – so die These des Beitrags – direkten Einfluss auf mehrfache Männlichkeitskonstruktionen. In der Imagination Christi als Bräutigam und der Konstitution der singenden Gemeindeglieder als Bräute Christi werden mehrere Männlichkeiten zugleich konstruiert: Christus als leitende Männlichkeit, als Orientierungspunkt zur Konstruktion immanenter Männlichkeit und die innergemeindliche Männlichkeit der Herrnhuter Brüder, die sich relational zu Christus und der Männlichkeit der heterosexuellen Matrix der Gesellschaft konstituiert. Wird die Konstruktion von Männlichkeit im Beitrag von Benedikt Bauer anhand literarischer Produkte geformt, stellt sich die Frage nach einer »realen« Männlichkeitskonstruktion. Kann eine solche aus Diarieneinträgen der Gemeinde konstruiert werden, obwohl diese mit diversen Streichungen versehen sind? Inwiefern ließe sich der Befund durch Quellen21 Butler 2006, xxxiii.

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material, das außerhalb der Gemeinschaft über die Brüdergemeinde verfasst wurde, erweitern? Können die materialen Analysen auch auf andere historische Phänomene appliziert werden? Ließe sich durch komparatistische Untersuchungen mit (braut-)mystischen Richtungen anderer Religionen ein allgemeines Muster zur mystischen Konstruktion von Männlichkeit erarbeiten oder bleibt der vorliegende Befund singulär? Die vorliegenden Beiträge dieser Sektion zeigen sehr eindrücklich, dass sich Männlichkeit(en) aus unterschiedlichen Perspektiven genähert werden kann, Critical Men’s Studies in Religion also in der Tat ein methodologisch offenes Feld sind, das sich jedoch auch im deutschsprachigen Raum langsam zu etablieren versucht. Desiderat bleiben jedoch dezidiert religionswissenschaftliche Theoriekonstrukte zur Bearbeitung der primären Intersektionen von Männlichkeit und Religion, sowie deren Intersektionen mit anderen Kategorien.

Literatur Banerjee, Sikata, 2005, Make me a man! Masculinity, Hinduism, and nationalism in India (SUNY Series in Religious Studies), New York: New York Press. Browne, Kath/Munt, Sally R./Yip, Andrew K.T., 2010, Queer Spiritual Spaces. Sexuality and Sacred Places, Farnham: Ashgate. Butler, Judith, 2006, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity (Routledge Classics), New York/London: Routledge. Cobb, Stephanie L., 2008, Dying to Be Men. Gender and Language in early Christian martyr texts (Gender, theory, and religion), New York: Columbia University Press. Connell, Raewyn, 2000, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Übersetzt von Christian Stahlt, hg. und mit einem Geleitwort versehen v. Ursula Müller (Geschlecht und Gesellschaft, Bd. 8), Opladen: Leske + Budrich, 2. Aufl. Degele, Nina, 2007, Männlichkeiten queeren, in: Bauer, Robin/Hoenes, Josch/Woltersdorff, Volker (Hg.), Unbeschreiblich männlich. Heteronormativitätskritische Perspektiven, Hamburg: Männerschwarm Verlag, 29–42. Dinges, Martin, 2005, »Hegemoniale Männlichkeit«. Ein Konzept auf dem Prüfstand, in: Dinges, Martin (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute (Geschichte und Geschlechter, Bd. 49), Franktfurt am Main/New York:Campus-Verlag, 7–33. Eilberg-Schwartz, Howard, 1995, God’s Phallus And Other Problems For Men And Monotheism, Boston: Beacon Press. Gelfer, Joseph, 2009, Numen, Old Men. Contemporary Masculine Spiritualities and the Problem of Partriarchy (Gender, Theology and Spirituality), London/Oakville: Equinox. Graybill, Rhiannon, 2016, Are We Not Men? Unstable Masculinity in the Hebrew Prophets, New York: Oxford University Press.

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Hausen, Karin, 1976, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwebs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas (Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für Moderne Sozialgeschichte, Bd. 21), Stuttgart: Klett, 363–393. Höpflinger, Anna-Katharina/Jeffers, Ann/Pezzoli-Olgiati, Daria (Hg.), 2008, Handbuch Gender und Religion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Irigaray, Luce, 1979, Das Geschlecht, das nicht eins ist (Merve-Titel, Bd. 82), Berlin: MerveVerlag. Krondorfer, Björn, 2016, Religion und Theologie, in: Horlacher, Stefan/Jansen, Bettina/ Schwanebeck, Wieland (Hg.), Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.B. Metzler Verlag, 204–218. Nissinen, Martti, 2010, Are There Homosexuals in Mesopotamian Literature?, Journal of the American Oriental Society 130, 1, 73–77. Springhart, Heike/Thomas, Günther (Hg.), 2017, Exploring Vulnerability, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. von Schirnding, Albert, 2012, Hesiod. Theogonie/ Werke und Tage (Sammlung Tusculum), Berlin: Akademie Verlag, 5. Aufl.

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»du hast gebrannt, den Bräutgam zu umfassen«. Brautmystik und Wundenkult sowie deren Implikationen für die Männlichkeitskonstruktionen in der Herrnhuter Brüdergemeine

Statt die Primärerotik in den Dienst des sittlichen Ideals zu stellen und damit zu heiligen, treibt er ihre niedrigsten Komponenten, die sadistischen und masochistischen Gelüste, die homosexuellen Begierden, die polymorph perversen, die Sinnesorgane einzeln reizenden Triebe etc. ins Innerste der Religion und feiert in Form überbetonter Phantasien die unschönsten Orgien […]. So verwüstet er die sittliche Schönheit des christlichen Ehelebens ebenso wie die der Frömmigkeit Jesu und verrennt sich in die höchst minderwertige ethische Situation, die wir bereits kennen lernten. Zusammenfassend müssen wir bekennen: Zinzendorf hat die Religion auf das Häßlichste sexualisiert, der Sittlichkeit aber alle, auch die sublimierte Libido entzogen und sie total entwertet. So verfiel der Graf trotz redlichen Strebens dem tragischen Geschick, ein Verderber der Sittlichkeit und der Frömmigkeit zu sein.1

Dieses vernichtende Urteil von Oskar Pfister zeigt deutlich, welche Brisanz nicht nur die Person des Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf und Pottendorf, sondern auch seine Schriften und besonders seine Brautmystik und der damit einhergehende Wundenkult besitzen. Die Vorwürfe der Obszönität und der sittlichen sowie religiösen Verderbnis finden ihren Höhepunkt in der Irritation über und Verurteilung von Männlichkeitsvorstellungen und Rollenbildern in der Herrnhuter Brüdergemeine. Im Fokus der Kritik stehen diverse vermeintliche Perversionen heteronormativer Sexualitätsvorstellungen, die nicht nur mit Männlichkeitskonstruktionen, sondern auch mit Frömmigkeitsmustern korrelieren. Doch hinter dieser von Pfister attestieren Verderbnis des religiösen und sexuellen Lebens verbergen sich durchaus legitime Frömmigkeitsstrukturen mit einer kohärenten Eigenlogik. Der vorliegende Beitrag befasst sich ausgehend von diesem Urteil mit der Brautmystik und dem Wundenkult der Herrnhuter Brüdergemeine anhand des 1. Buchs der »Hirten-Lieder von Bethlehem« und fragt nach deren Implikationen für die Männlichkeitskonstruktionen innerhalb jener Gemeinschaft.

1 Pfister 1910, 115–116.

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Hierbei werden nach kurzen historischen Vorbemerkungen sowohl genderund queertheoretische Überlegungen getätigt, die der Analyse der untersuchten Motivik dienlich sind, als auch der Zusammenhang von Kollektividentität und Subjekt diskutiert, um dann mit dem connell’schen Ansatz der »hegemonialen Männlichkeit« nach den Männlichkeitskonstruktionen in der Brüdergemeine zu fragen, die im Gesangbuch impliziert werden. Hierbei werden zudem auch heteronormative Aspekte der Gemeinschaftskonzeption der Herrnhuter zur Diskussion gebracht.

Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine – eine historische Einordnung Die Herrnhuter Brüdergemeine hat ihren Ursprung in der Ansiedlung der aus Böhmen und Mähren stammenden Exulanten der Unitas Fratrum auf dem Grundbesitz des Grafen Zinzendorf am Hutberg.2 Den Statuten von 1727 ist zu entnehmen, dass der Gründung Herrnhuts, das »auf den lebendigen Gott erbaut und ein Werk seiner allmächtigen Hand, auch eigentlich kein neuer Ort, sondern nur eine für Brüder und um der Brüder willen errichtete Anstalt sei«3, keine separatistischen Tendenzen zugrunde lagen. Es handelte sich somit um keine konfessionelle Neugründung, sondern eine gottgefällige Lebensausrichtung. Zinzendorf selbst hatte eine pietistische Erziehung in Halle im Pädagogium Regium der Franckschen Stiftungen genossen. Diese Umstände lassen grundsätzlich eine Verwurzelung der Brüdergemeine im Pietismus vermuten, obwohl Zinzendorf diesem zeitweise ambivalent gegenüberstand und sich hiervon abgrenzte.4 Demzufolge kommt der Herrnhuter Brüdergemeine eine besondere Stellung innerhalb des Pietismus zu. Die Brüdergemeine ist als theokratische Gütergemeinschaft5 mit christozentrischer Ausrichtung6 zu verstehen, in der das gesamte Handeln auf Gott ausgerichtet ist.7 Ihr Verhältnis zur Obrigkeit war daher ambivalent und führte z. T. auch zu passivem Widerstand.8 Bekannt ist die Herrnhuter Brüdergemeine u. a. für zahlreiche erfolgreiche missionarische Reisen und die daraus resultierende weite Verbreitung ihrer Diasporagemeinden.9 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. Algermissen 1960, 276. Hahn/Reichel 1977, 70–80. Vgl. Hahn/Reichel 1977, 119–130. Vgl. Hahn/Reichel 1977, 330–331. Vgl. Hahn/Reichel 1977, 410–411. Vgl. Hahn/Reichel 1977, 212–213. Vgl. Hahn/Reichel 1977, 304. Vgl. Hahn/Reichel 1977, 350–372, 418–421.

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Der auf dem Christozentrismus beruhende ökumenische Ansatz der Brüder ist bemerkenswert, da er jeder »Religion« einen gewissen Wahrheitsgehalt zuspricht10, interkonfessionelle Unterschiede toleriert und nicht beseitigen will, sondern nur »einem jeden Menschen mit dem Haupt selbst in einen wesentlichen Gang […] helfen« will.11 Auch Zinzendorfs diverse Briefverbindungen, z. B. zu Patriarch Marcus dem 106.,12 zeugen nicht nur von ökumenischen Bestrebungen, sondern auch von taktisch-apologetischem Geschick. Die sogenannte »Sichtungszeit« ist von elementarer Bedeutung für die Kontextualisierung der Untersuchung. Die Begriffe »Sichtungszeit« bzw. »Eruptionsperiode«13 berufen sich auf Lk 22,3114, sind jedoch im 18. Jahrhundert nicht bekannt gewesen, sondern eine Kategorisierung des 19. Jahrhunderts.15 Man hat »[i]m 18. Jahrhundert […] von ›Sichtungen‹ [gesprochen]. Es ist bemerkenswert, daß dieser Terminus sich nicht auf eine einzelne Epoche bezog, sondern auf Personengruppen, die gleichsam gesichtet wurden, wie die Spreu vom Weizen.«16 Der Begriff der »Sichtungszeit« wurde zum ersten Mal von Johann Plitt benutzt, der gleichzeitig »eine wahre Hexenjagd auf die ›Orgien und Exzesse‹ dieser Periode«17 einleitete. Das Urteil über die Sichtungszeit oszilliert zwischen einer vehementen Opposition und einem Lob der literarisch-poetischen und gemeinschaftsbildenden Leistung; ihre Periodisierung ist jedoch umstritten: »In der Literatur wird die Sichtungszeit unterschiedlich datiert: die ›1740er Jahre‹, 1746–1750, 1743–1749, 1743–1750, oder sogar 1738–1753.«18 Der Historiker Paul Peucker gibt auch zu bedenken, dass »1745/46 […] die Idee des ›Creutzluftvögeleins‹« und dann »[e]in Jahr später, 1747, […] die Verehrung des Seitenhöhlchens […], die wiederum 1748 immer stärker erotisiert wurde«19 aufkamen. Obwohl die Sichtung mit Christian Renatus, Zinzendorfs Sohn, Gemeindebesuchen 1750 abgeschlossen sein sollte,20 führt Peucker weiter aus: »Zinzendorf betrachtet 1748 als das Jahr der eigentlichen Sichtung. […] Die meisten Tilgungen im Diarium des Theologischen Seminars in Marienborn sind

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Vgl. Hahn/Reichel 1977, 376. Hahn/Reichel 1977, 378. Vgl. Hahn/Reichel 1977, 394–396. Vgl. Pfister, 27–38. Uttendörfer datiert diese »Gärungszeit« auf 1743–1750. Vgl. Uttendörfer 1952, 169–287. Modrow 1994, 144. Vgl. Meyer 1981, XV. Meyer 1981, XV. Meyer 1981, XVII. Peucker 2002, 77. Peucker 2002, 78. Peucker 2002, 79.

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im Zeitraum Dezember 1748 bis Juni 1749 zu finden, was ebenfalls darauf deutet, dass die eigentliche Sichtung in diesem Zeitraum stattfand.«21 Aufgrund des prozessualen Charakters dieser historischen Episode erscheint eine enge Periodisierung nicht fruchtbar. Eingedenk dieser Überlegung wird der Periodisierungsvorschlag von Aaron Spencer Fogleman, welcher die Sichtungszeit auf 1738–1753 datiert,22 favorisiert. Die Quelle Kleines Brüder-Gesang-Buch enthält vermeintlich sichtungszeitspezifische Konzepte und Semantiken, fällt somit in den Prozess der Sichtung und stellt eine Rahmung der durch Zinzendorf selbst definierten Kernzeit der Sichtung dar.

Kleines Brüder-Gesang-Buch: Hirtenlieder von Bethlehem Buch Eins Verortung des Gesangbuchs In der Zeit des Pietismus, zu der wir jetzt kommen, quillt geradezu ein Liederborn von schier unausschöpflicher Fülle. […] wir sind in der Zeit der persönlichen religiösen Erweckung; es ist die einzelne begnadigte, erlöste Seele, die ihrem Gotte oder ihrem Heiland ihre Lieder singt.23

Das Kleine Brüder-Gesang-Buch24, das 1754 erschienen ist, besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil, die »Hirten-Lieder von Bethlehem, Zum Gebrauch für alles was arm ist, was klein und gering ist«, erschien erstmals 1742. Da er jedoch »bereits nach Verlauf eines Jahres vergriffen« war,25 wurde 1751 mit der Arbeit an einer neuen Auflage begonnen.26 Der zweite Teil des Gesangbuchs »Der Gesang des Reigens zu Saron als des kleinen Brüder=Gesang=Buchs Anderer Theil«, existiert nicht einzeln und erschien in der 2. Auflage des Kleinen Brüder-GesangBuchs 1754. Die Gesangbucharbeit war ein fluider Prozess, wie man einerseits an der Änderung bzw. der Ergänzung der Hirten-Lieder vom ersten Erscheinen hin zur vorliegenden Form sieht und andererseits daran, dass nicht nur Zinzendorf, oftmals unbemerkt, stetig Änderungen von Neuauflagen oder Weiterverwendung von Liedern vornahm, sondern es auch »von einigen Brüdern ›durchgelesen und censirt‹« wurde.27 21 22 23 24

Peucker 2002, 79. Peucker 2002, 77. Görnandt 1926, 42. Ich verwende die Textversion von Beyreuther et al. 1978. Die einzelnen Teile des Buches werden gemäß der Benennung im Syllabus zitiert. 25 Görnandt 1926, 41.Vgl. auch Meyer 1979, 59. 26 Vgl. Meyer 1980, 9–14. 27 Meyer 1979, 59. Zu Zinzendorf und seinen Änderungsarbeiten an Gesangbüchern vgl. Dose 2007, 173–184.

Brautmystik und Wundenkult in der Herrnhuter Brüdergemeine

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Bedeutung von Gesang und Gesangbüchern für Herrnhut Ey wie lieblich wirds erst klingen in der stillen ewigkeit! Engel werden mit drein singen, die sich längst darauf gefreut; wenn die schaare, paar bey paar, werden ihre harfen rühren, und die hochzeit prächtig zieren.28

Dieses Zitat steht m. E. stellvertretend für den Gesang in der Brüdergemeine. Hier heißt es »Engel werden mit drein singen«, wodurch ein direkter Bezug der irdischen Gemeinde zur himmlischen hergestellt wird. Anja Wehrend, die sich mit dem Harmoniebegriff Zinzendorfs und dem Musizieren der Gemeine im Kontext der barocken Musikanschauung beschäftigt hat, beschreibt den Konnex zwischen »oberer« und »unterer« Gemeinde und stellt heraus: Zinzendorf empfindet somit einerseits eine tiefe Kluft zwischen den beiden Polaritäten Erde – Himmel. Andererseits aber hält er es für unverzichtbar, die Gemeine wiederholt zur Überwindung dieser Kluft aufzumuntern. Die theologische Voraussetzung für diesen Gedankengang bildet die Erlösungstat Christi, auf deren Grundlage die Wiederherstellung der Harmonie zwischen Mensch und Gott ja erst möglich ist.29

Diese Wiederherstellung der Harmonie wird oben mit dem Begriff der »Hochzeit« angedeutet. Wehrend führt weiter aus, dass nur eine »mit guter Qualität ausgeführte Gemeinmusik«30 die Harmonie wiederherstellen und dieses Musizieren als ekstatisches Erleben der unio mystica aufgefasst werden kann.31 Des Weiteren betont sie, die »irdische Musik [sei] […] als eine figura der musica angelica oder ecclesia triumphans« zu deuten, also nach dem Vorbild der »neutestamentlichen Verheißung der Offenbarung«32 strukturiert. Hinter der Gesamtkonzeption stünde »die Vorstellung von der analogia entis, d. h., das geschaffene irdische Sein wird als Schatten des ungeschaffenen ewigen Seins verstanden«33 und läuft so mit durchgehendem Transzendenzbezug. Auch der Kirchenmusiker und Theologe Martin Rößler beschreibt Gesang und Musik als »tragende Element[e] des kirchlichen Lebens«34. Die sogenannten Singstunden, die »Zinzendorf als Höchstform eines geistgewirkten christlichen Gemeinschaftserlebnisses versteht«35, tragen dieser Bedeutung Rechnung. Sie hatten aber nicht nur gemeinschaftsformenden Charakter, sondern lassen sich als Predigt36 und pädagogisches Konzept37 verstehen. Das Prinzip der Singstun28 29 30 31 32 33 34 35 36

»Von der Ablegung unsrer Hütte«, 24. Wehrend 2000, 99. Wehrend 2000, 100. Vgl. Wehrend 2000, 102. Wehrend 2000, 103 (Hervorhebung im Original). Wehrend 2000, 103–104 (Hervorhebung im Original). Rößler 2000, 181. Rößler 2000, 181. Meyer benutzt hier den von Zinzendorf selbst benutzten Begriff der »Liedpredigt«, vgl. Meyer 1979, 102.

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den bestand nicht aus einer festgesetzten Reihenfolge von Liedern oder einem liturgisch vorgegebenen Ablauf, sondern aus der »spontanen Mischung variabler Einzelstrophen«38 ohne stringente Zählung, Nummerierung oder – dies gilt besonders für das Kleine Brüder-Gesang-Buch – klare Trennung.39 Zinzendorf fordert, »eine Gemeine sollte billig gar kein eigentliches Gesangbuch haben«, sondern es seien »die Lieder vorzuziehen, die ›aus dem Herzen gesungen‹«40 werden. Dies spricht dafür, dass die Lieder und deren Botschaften auswendig gelernt und deren Inhalte inkorporiert werden sollten, da das Gesangbuch nur als Stütze für eine uninspirierte Gemeinde diente. Gemäß der Singpraxis kombiniert auch dieser Beitrag Einzelstrophen zu neuen Sinneinheiten. Frömmigkeit und (Braut-)Mystik – eine Verhältnisbestimmung Zunächst ist eine Klärung der Begriffe »Brautmystik« und »Mystik« erforderlich. »Brautmystik« ist »im engeren Sinne [als] christl., durch das Hohe Lied inspirierte personale Spiritualität, die das Verhältnis des Menschen zu Gott mit der Symbolik der geschlechtlichen Liebe vorstellt« zu verstehen und umfasst »in einem typolog. Sinn auch affektiv-ekstat. Ausdrucksformen der Sehnsucht nach dem göttlichen Geliebten und erot.-sinnlicher Gottesliebe in anderen religiösen Traditionen«41, z. B. im Islam und Hinduismus.42 Die Brautmystik der Herrnhuter erhält durch den Wundenkult einen passionsmystischen43 Impetus, zeichnet sich aber sonst auch durch »klassische« mystische Elemente, wie die paradox anmutende Sprache, aus. Diese »klassische« Mystik wird basal als Phänomen intensiver Frömmigkeit verstanden […]. Das Kernelement dieses Phänomens ist die religiöse ›Spitzenerfahrung‹ in der unio mystica, die in ›radikale[r] innere[r] Transformation (transformatio mystica) und […] vertiefte[m] Wahrnehmen und Erkennen‹ mündet. In Anschluss an Annette Wilke ist die Definition der unio als ›Verdichtung von Transzendenz ins Personale hinein[.] (Luhmann / Fuchs)‹ zu bevorzugen.44

Dieser Transformationsprozess schlägt sich unweigerlich in kollektiver/subjektiver Identität und in den Männlichkeitskonstruktionen, im Sinne eines Identitätsmarkers, nieder. Frömmigkeit lässt sich als der »sichtbare Ausdruck« von 37 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. Meyer 1979, 104. Rößler 2000, 181. Vgl. Meyer 1979, 59–60. Meyer 1980, 2.3. Wilke 2006, 81. Wilke 2006a, 360. Vgl. Wilke 2006b, 396. Bauer 2017, 179.

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Religiosität und »intensive[.] religiöse[.] Betätigung«45 von Glaubenden verstehen, die essentiell für den Diskurs um Religionspragmatik und für die Gemeinschaftsbildung ist. Doch wie operiert Frömmigkeit? Frömmigkeitspraxis evoziert einen »konkreten Lebensvollzug[,] […] eine bestimmte Lebensgestaltung«46. Die Theologin Sabine Bobert-Stützel konstatiert dazu: »Die Begriffe ›Lebensvollzug‹ und ›Lebensgestaltung‹ umfassen dabei sowohl die Dimension innerseelischer Aneignungs- und Neuschöpfungsprozesse als auch äußerer Praxis von Individuen und Gruppen in jeweiligen Beziehungsgeflechten.«47 Sie fasst für Pietismus und Brüdergemeine zusammen, dass sich »[i]m pietistischen Umfeld […] das Wort [Pietismus, in Bezug auf die praxis pietatis] u. a. auch in einen Selektionsbegriff [wandelt], anhand dessen Glaubensstufen bzw. Christen und Nichtchristen voneinander unterschieden wurden.«48 Diese Selektion innerhalb der Frömmigkeit ist ein spezifischer Demarkationsprozess, der sich religionsphänomenologisch beschreiben lässt. Im Gesangbuch der Herrnhuter Brüdergemeine und der daraus resultierenden Frömmigkeitspraxis wird dies in der Brautmystik und dem Wundenkult ausgedrückt, in dem gemäß dem Religionsphänomenologen Rudolf Otto das mysterium fascinans und das mysterium tremendum in den Wunden Jesu und dessen Bräutigamstatus für die Gemeinde und den_die jeweilige_n Gläubige_n kumulieren.49 Die Wunden werden somit unter Perspektivierung der unio mystica als Ausdruck des »Heiligen« sowohl zum Punkt der Erkenntnis der abstoßenden eigenen Sündhaftigkeit und Niedrigkeit als auch zum Attraktionspunkt der heilsvergewissernden Liebe des Seelenbräutigams.

Brautmystik und Wundenkult Ave Latus saucium!50

Um die Brautmystik und den Wundenkult zu erfassen, wurde die relative Häufigkeit der entsprechenden Semantiken ermittelt, aufgrund derer nun die Charakterisierung Jesu Christi analysiert wird, um danach die anthropologischen Aussagen im Gesangbuch zu betrachten. In einem dritten Schritt wird nach der Herstellung der Verbindung zwischen dem Begriffspaar Braut/Bräutigam, der Wundensemantik und dem wiederkehrenden Begriff »Kleid« gefragt. 45 46 47 48 49 50

Auffarth 2006, 157–158. Bobert-Stützel 2000, 30. Bobert-Stützel 2000, 31. Bobert-Stützel 2000, 27. Zum mysterium fascinans und mysterium tremendum, vgl. Otto 1922, besonders: 135–170. »Anhang«, 14.

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Jesus Christus Der Eigenlogik einer christozentrischen Ausprägung von Theologie und Gemeinschaftsvorstellung ist die starke Betonung und mannigfaltige Verwendung des Namens Jesu inhärent – so auch dem Brüder-Gesang-Buch.51 Epitheta des Namen Jesu sind innerhalb des Gesangbuchs sehr geläufig. Der Fokus liegt im Folgenden auf den wichtigsten Epitheta, deren Kontext und Erläuterung. Der Begriff »Bräutigam« (48) ist im Kontext der Brautmystik unweigerlich von enormer Bedeutung, sodass das eher geringe Aufkommen zunächst irritiert. Dieser ist zwar zentral, jedoch schwingt der Bräutigamstatus Christi auch subkontextuell mit und wird durch andere Begriffe ausgedrückt. So läuft der Vers »Hast Du mich doch schon geliebt, da ich Doch gleich hoch betrübt? hast Du deine werbung nicht, Bräutigam! auf mich gericht?«52 vom Bräutigamstatus Jesu parallel zu Stellen wie »Welcher unter allen denen, die natur verbinden kan, die sich nach geliebten sehnen, welcher gleichet meinem Mann? 2. Welcher wird sein eigen leben für das leben seiner braut williglich zum opfer geben? wo wird solch ein paar getraut?«53 in denen Mann54 synonym zu Bräutigam verwendet wird. Entsprechend werden auch »Seelen=Bräutigam« und »Seelen=Mann« parallel gebraucht.55 Das sprachliche Äquivalent »Ehemann« wird nur einmal verwendet, fällt an dieser Stelle aber mit dem Begriff des »Heilands«56 zusammen, wenn es heißt: »Mein Heiland! wär ich armes kind, das sich um deine füsse windt, und Dich, du Seelen=Ehemann, nicht eine stunde missen kan, und das Dich über sich und alles liebt, in dieser sprache etwas mehr geübt«.57 Diese gemeinschaftliche Nennung zeigt an, dass in der Brautmystik Jesus Christus durch seinen Bräutigamstatus eine primär erlösende Funktion innehat. Außerdem verweist die Formulierung »das sich um deine füsse windt« kontextuell eindeutig, auf die Wunden Jesu. Die Jesus im Kult auszeichnenden fünf

51 So findet sich das Wort »Jesu/m/s« insgesamt 317 und »Christ/e/o/um/us« insgesamt 187-mal. Das Diminutiv »Jesulein« hingegen wird nur an 5 Stellen gebraucht. Im weiteren Verlauf werden in den Nennungen immer auch abweichende Formen in der Grundform mitgedacht, sodass eine ausführliche Nennung der Wortvarianten und -derivate nicht mehr vorgenommen wird. Z. T. wird die Häufigkeit direkt in Klammern hinter dem jeweiligen Wort angegeben. 52 Hirten-Lieder, 84. 53 Hirten-Lieder, 108. 54 Der Begriff »Mann« findet sich insgesamt 62-mal. Hierbei ist aber auch zu bedenken, dass sich bei der Verwendung des Wortes »Mann« auch vereinzelt nicht auf Jesus bezogen wird. 55 Vgl. z. B. »Gebetelein«, 7. 56 »Heiland« findet sich insgesamt 68-mal. 57 »Hirten-Lieder«, 41.

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Wunden58 (Hände, Füße, Seite) spielen eine enorme Rolle im Heilsdenken der Brüdergemeine. Hierbei liegt der Fokus nicht auf den Händen (40) oder den Füßen (33), sondern auf der Seitenhöhle. Sie zeichnen Jesus Christus als den Erlöser59 und »Marter=Mann«60 aus und zeigen die Hingabe für die Sünden der Beter als (Marter-)Lamm (161), das zugleich als fürsorglicher Hirte (33) für die Gemeinde gedacht wird. Er erscheint also in seiner Funktion als Mittler61 mit starker Immanenzbetonung als Sohn (59) Gottes und wird in ambivalenter Weise in mysterium fascinans (der liebende Bräutigam, oft nur als »Liebe«62 angesprochen) und mysterium tremendum (»Wunden«, »Seite/Seitenhöhle«, »Striemen/Striemlein«, »Leichnam«, »Blut«, »Schweiß«, »Thränen«, »Beulen«)63 erfahren. Jesu geschlechtliche Darstellung ist ambivalent. Er wird z. T. als Mutter beschrieben, aus deren Seite die Gemeinde geboren wurde: »Ich bin ja seine eigne seel, gesalbt mit seinem freuden=öl, dieweil Er mich auch mit gebar, als sein Herz unsre mutter war.«64 In diesem Sinne erhält Jesus zwar weibliche Attribute und Funktionen. Jedoch ist es für die Herrnhuter Brüdergemeine auch unproblematisch »aller der Va-

58 Die »fünf Wunden« werden im Kleinen Brüder-Gesang-Buch sechsmal angesprochen. Vgl. »Hirten-Lieder«, 35.79.102; »Das Evangelium«, 2; »Der Herzens-Katechismus«, 3; »Anhang«, 10. 59 »Erlöser« ist nur an neun Stellen als Epitheton zu finden, davon direkt abgeleitete Worte wie »Erlösung« oder »erlöset« finden sich an 24 weiteren Stellen. 60 Vgl. »Anhang«, 20. 61 Vgl. »Hirten-Lieder«, 57.97; »Vom Wandel im Licht«, 1. 62 Begriffe, die direkt von »Liebe« abgeleitet werden (so z. B. liebt, Liebster, liebend, liebespflicht, etc.), kommen 418-mal vor. 63 Das Wort »Wunde« wird 117-mal, »Seite« 50-mal, »Striemen/Striemlein« siebenmal, »Leichnam/Leiche« 14-mal, »Blut« und »blutig« 160-mal, »Schweiß« 26-mal (und ein Beleg für »durchschweissen«), »Thränen« 41-mal benutzt. Die »Beulen« Jesu kommen nur an zwei Stellen vor. Peucker macht am Brüderchorfest vom 2. Mai 1748, welches ganz dem Seitenhöhlchen gewidmet war, fest, dass »das Seitenhöhlchen [dessen Synonyme die oben erwähnten Begriffe sind, B.B.] nicht länger nur eine Wunde noch ein pars pro toto für den Heiland [war], sondern ausserdem eine mystische Kraft, die alles durchzieht und alle Anwesende auf extatische Weise ausser Sinnen bringt.« Peucker 2002, 58. 64 »Vom Wandel im Licht«, 7. Die Idee der Geburt der Kirche aus der Seitenhöhle ist keine originär zinzendorf ’sche oder herrnhuterische Idee, sondern geht, nach Matthias Graf, »wohl auf Johannes Chrysostomus (349–407) zurück. An diese Vorstellung knüpft man in der Brüdergemeine an und der Karfreitag 1747 wird erstmals als der Geburtstag der Gemeinde gefeiert.« Graf 2006, 150. Peucker bezeichnet die Geburt aus der Seite als »Kern von Zinzendorfs Seitenhöhlchentheologie« und fügt dem Bericht des Karfreitags von 1747 noch die Beobachtung hinzu: »Es war der Anfang des Seitenhöhlchenkultes, der vor allem von den ledigen Brüdern sofort aufgegriffen wurde. Am Abend des nächsten Tages, am grossen Sabbat, stand mit roten leuchtenden Buchstaben über der Tür des Brüderhauses: ›Ehre dem Seitenmaal!‹« Peucker 2002, 56. Diese Formulierung des »Ehre dem Seiten=maal« findet sich auch im Kleinen Brüder-Gesang-Buch, vgl. »Vom Wandel im Licht«, 12.

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ter=sorg, aller der Mutter= und Bräutigams=treun«65 Jesu, der auch als »Liebes Mutter=herz, heilger Geist«66 angesprochen werden kann, zu beschreiben. Christus konnten also nicht nur mehrere Genderrollen, sondern auch alle Funktionen der Trinität zugeschrieben werden. Neben einer weiblichen Seite Jesu findet sich eine Betonung von Aspekten, die in der zeitgenössischen Welt eher mit Männlichkeit verbunden wurden, z. B. als Held (15), König (38), Fürst (19), Ritter67, »Heerführer«68, Meister (14) und »Seelen=freyer«69. Es wird dabei eine Hierarchie zwischen Christus und Beter expliziert. Diese Hierarchie ist jedoch nicht einseitig, denn alles Handeln Christi wird in Liebe begründet. Z. B. werden Menschwerdung und Opfer Christi belohnt, indem Jesus die Gemeinde geschenkt bekommt: »Der Vater schenkte dem einigen Sohn, alle die sünder zu seinem lohn; Er nahm sein geschenke mit GOttes=freuden, mit dem bedinge, den tod zu leiden für seinen lohn.«70 Die Betonung von Jesu Immanenz geschieht mit Fokus auf seine Männlichkeit, denn: »Die GOttes=gestalt kam in Mannsgestalt, äussert’ sich aller der Gottes=gewalt, ward wie unsers gleichen, in allen stükken, trug unser elend auf seinem rükken, so sah Er aus«.71 Die darauffolgenden Kurzbeschreibung, Jesus sei »[a]rm, unansehnlich und sehr veracht, daß es den satan verwegen macht’, mit Ihm anzubinden«72, irritiert vor dem Hintergrund der sonstigen Betonung seiner Stärke73 und Schönheit (23) 74 zunächst. Doch in Verbindung mit der Immanenz und den später im Lied folgenden Wunden wird das Bild klarer. Das Immanente – auch wenn die Immanenz Jesu, im Sinne seiner Heilshandlung durch Menschwerdung, Tod und Hochzeit mit den Seelen, in der Brüdergemeine eine große Rolle spielt – ist mit Vergänglichkeit, Sünde und Welt konnotiert; all das was der Beter noch ist, Jesus aber ändern wird. So spiegelt sich in der Darstellung Jesu Christi nicht nur eine Ambivalenz zwischen 65 »Vom Wandel im Licht«, 24. Das Wort »treu« ist auch ein wichtiges Charakteristikum Jesu, besonders in der Gestalt des Bräutigams, und lässt sich 106-mal belegen. 66 »Von der Ablegung unsrer Hütte«, 3. 67 Jesus Christus wird nicht direkt als »Ritter« bezeichnet, jedoch achtmal als »ritterlich« beschrieben. 68 »Von der Ablegung unserer Hütte«, 3. 69 Der Begriff kommt nur an einer Stelle vor und kann in doppelter Weise verstanden werden: Zum einen als Befreier der Seele aus Sünde, Verdammnis und Tod und zum anderen auch als jemand der eine Frau/Braut freit. Dass der Fokus hier wohl auf Letzterem liegt, die Doppeldeutigkeit aber durchaus gewollt sein wird, verrät die Stelle selbst: »Mein Auserkorner, innigst Herz=geliebter, mir geborner, bis zum tod geübter, treuer, reiner Seelen=freyer!« »Hirten-Lieder«, 69. 70 »Hirten-Lieder«, 7. 71 »Hirten-Lieder«, 7. 72 »Hirten-Lieder«, 7. 73 Das Wort »stark« kommt 13-mal vor, »Stärke« 24-mal. 74 Vgl. z. B. »Hirten-Lieder«, 32.80–81.

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verschiedenen Rollen – mit Betonung seiner Männlichkeit und seines Bräutigamstatus – sondern auch das Bild des Menschen wider, da dieser die Kontrastfolie zu Jesus als dem mächtigen, transzendenten und doch immanenten, für den Menschen sich erniedrigenden und doch erhöhten, gelittenen, heilsbringenden Bräutigam der Gemeine darstellt. Der Mensch Leib und kraft will ich bewahren, wenn es Christo dienen kan, leib und leben laß ich fahren für den treuen Seelen=mann.75

Diese Worte charakterisieren sehr eindeutig die starke Hingabe des Sängers an Christus. Der Beter ist gewillt, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Christus näher zu sein. Die Hingabe lässt sich als Erkenntnisprozess beschreiben, der, wenn er einmal begonnen ist, unwiderruflich an Christus bindet: »Wer einmal die Wunde in seiner Seit kennt, als die ursach der seligkeit; wer die Nägel=maale, an Händ und Füssen, einmal erblikt: der wird sagen müssen, Mein HErr, mein GOtt!«76 Die Unterordnung unter den Willen Christi, bis hin zur Selbstaufgabe und Weltentsagung, der permanente Drang zur Nähe Christi, aber auch die Schwierigkeit, dies in der Welt zu finden und die Suche nach der erwünschten Erlösung in den Wunden Christi, zeigen die folgenden Zeilen: Mein Heiland hier kan ich mich recht erkennen, daß ich bin eine schlechte mad’, ein faules holz, nichts werth, als zu verbrennen; und doch erhält mich deine gnad: dein licht zeigt mir den kleinsten staub der sünden, die ich sonst nicht glaub, das legt den stolz sein bey mir nieder, und bringt mich in die armuth wieder. Laß mich Dich und mich erkennen, meine kälte, deine brunst, und vor sehnen ganz entbrennen nach der unverdienten gunst. Bräutigam! entreiß mich allen, was nicht in dein reich gehört, laß mich in die wüste wallen, wo mich kein geräusche stört. Aber wo, wo ist die stille, die gewünschte wüsteney, da mein ungezogner wille fein genau gehalten sey? Wo, wo ist die enge höhle, da die von dem überfluß eigner kraft entblöste seele sich hinein verbergen muß? Keine weiß ich, als die Wunden, die Dir aufgerissen sind: da, da find ich alle stunden platz für so ein kleines kind.[…]

75 »Hirten-Lieder«, 92. 76 »Evangelium«, 7–8.

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Also mag die welt verbrennen, mich verstört nichts in der ruh; also mag mich niemand kennen, deine taube kennest du.77

Der Sänger stellt sich mittels sprachlicher Selbsterniedrigung als »schlechte mad’« dar. Die verwendeten Worte verweisen auf die marginale Stellung des Selbst gegenüber der Leitfigur Jesus Christus ( »klein« (38), »arm« (119), »Made« (10), »Würmlein« (6), »Staub/Stäublein« (7), »Flämmlein«78). Doch die Selbsterniedrigung kann nicht als erzwungener Zustand betrachtet werden, sondern muss eher als begrüßenswerte Tatsache, als wünschenswerter Pfand für die Heilstaten des Bräutigams verstanden werden, da der Sänger skandiert: Ihr aufgerissnen Wunden! wie lieblich seyd ihr mir, ich hab in euch gefunden ein plätzgen für und für: wie gerne bin ich nur ein staub, wenn ich nichts desto wenger auch bin des Lammes raub! [.] Mein herze wallt vor liebe nach dir, mein liebstes Lamm, und alle meine triebe sind, um dem Bräutigam zu leben, Dem, der mich versöhnt und ward für mich aus liebe ans creutz hinan gedehnt.79

Die Begriffe der Erniedrigung verdeutlichen die »unverdiente[.] gunst«, die Sünder_innen (240) – die geläufigste Selbstbeschreibung – zukommt. Diese Zuwendung erfährt der Einzelne wiederum im »täglichen Umgang mit dem Heiland«.80 Dieser tägliche Umgang, der in den Wunden Jesu mündet, wird als Existenzgrundlage des Sängers sehnsüchtig kommuniziert.81 Die alte, eigene Existenz löst sich in der heilsbringenden Kraft der Wunden des Bräutigams auf, wenn dem geäußerten Wunsch »es sterbe täglich mehr in mir der eigenwille«82 nachgekommen wird. Der Sänger fleht: »Denke doch, o GOttes= Lamm! daß du bist mein Bräutigam: denke, daß Dirs will gebühren, deine braut zur ruh zu führen.«83

77 »Vom Wandel im Licht«, 23–24. 78 »Flämmlein« ist nicht prinzipiell als Erniedrigung zu sehen. Nur im Kontext kann hier verstanden werden, wie der Sänger sich durch das Diminutiv konstituiert: »Ach wie kriecht mein flämmlein noch zusammen, gegen eine seiner liebes=flammen!« »Von der Ablegung unserer Hütte«, 17. Durch folgende Analogien wird die Bedeutung noch deutlicher: »Das zweiglein blüht nur an dem stamme, das tröpflein folget seinem bach, das flämmlein lodert mit der flamme, das schäfgen geht der mutter nach, der fisch verläßt sein wasser nicht: ein Christ lebt in dem Blutgen Licht, das ihn zum lichtes=kind erkoren, und aus der Brunnen=gruft geboren.« »Hirten-Lieder«, 24. 79 »Hirten-Lieder«, 89. 80 Vgl. auch »Gebetlein«, 12; »Vom Wandel im Licht«, 6.24; »Hirten-Lieder«, 32; »Anhang«, 8.10. Meyer konstatiert »täglicher Umgang mit dem Heiland« (Meyer 1983, 93) wäre das Leitmotiv der Christusmystik. 81 Vgl. z. B. »Vom Wandel im Licht«, 30. 82 »Von der Fröhlichkeit in der Hoffnung«, 8. 83 »Von der Fröhlichkeit in der Hoffnung«, 3.

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Diese Ruhe (131) kann auf Erden einzig in den Wunden Christi, in der unio mystica von Bräutigam und Braut84, hergestellt werden. Sich in diese zu versetzen, bedeutet den Betrachtungsfokus nicht nur auf die Liebe des Bräutigams zu legen, sondern auch immer das geschlachtete Gotteslamm in passions-/brautmystischer Sprache zu bedenken, das nur durch seine Leiden der Seele (239) Heil und Erlösung bringen kann. Ebendiese Akzente der Passion evozieren durch Christi Leid die Freude und Liebe im Sänger und binden ihn an Christus.85 Deshalb kann der Beter singen: »Da liegt das täublein in der ruh, und stellt sein fliegen ein, sieht seines Bräutgams Marter zu: denn wo kans selger seyn?«86 Die Worte »Täublein« und »Bienlein« stellen einen sichtungszeitspezifischen Sprachgebrauch und Entwicklungsprozess heraus, denn »[v]on einer Frömmigkeit, in der sich alles um das Lämmlein, um Blut und Wunden drehte, kam man 1745/1746 auf die Idee des ›Creutzluftvögeleins‹, das ein ungeheures Potenzial an sprachlicher Kreativität und Spielerei freisetzte.«87 Diese Spielereien und die Einwebung des Täubleins in den Wundenkult lassen sich an folgendem Vers nachvollziehen: Wie machts ein creutz=luft=täubelein, wenns ’raus will aus dem hüttelein? die glieder sind ein wenig krank: der seele wirds kurz oder lang, den Bräutigam zu sehn; so sieht sie Ihn bald stehn, sie sieht die Seite, Hand und Fuß, das Lämmlein gibt ihr einen kuß, aufs matte herze. Der frieds=kuß zieht die seele ’raus, und in dem munde mit nach hause: der hütte sieht man den kuß an, und wird dann auf den test gethan; wenns gar ist, hohlt die seele sie nach zur Wunden=höhle.88

Im »creutz=luft=täubelein« werden die spielerisch-liebevolle Art des Umgangs der Sänger mit Christus und seine vollkommene Angewiesenheit auf ihn deutlich.89 Christus übernimmt den aktiven Part, der die Seele (be-)freit und ihr einerseits im Jetzt ein pseudotranszendentales Gefühl verleiht, also ihr den Brautstatus durch den Kuss sozusagen verspricht, sie andererseits aber, durch das Bild der Hütte und der Seele, aufs Eschaton, die »Wunden=fahrt ins heilige daheim«90 verweist.

84 Das Wort »Braut« kommt nur 28-mal vor, wird aber, äquivalent zu dem Begriff »Bräutigam«, auch durch andere Begriffe ausgedrückt. Hier wären z. B. »Jungfrau« (9) oder »Weib« (6) zu nennen. Außerdem wird auch der Brautstatus des Sängers konstant mitgedacht. 85 Vgl. z. B. »Hirten-Lieder«, 83; »Anhang«, 12. 86 »Von der Ablegung unsrer Hütte«, 12. 87 Peucker 2002, 78. 88 »Von der Ablegung unsrer Hütte«, 8. 89 Zum Bienlein vgl. z. B. »Von der Ablegung unsrer Hütte«, 13. 90 »Von der Ablegung unsrer Hütte«, 23.

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Verbindung der Begriffe Braut/Bräutigam, Wunde, Kleid Ich bitt mir aus dein’ heilge Wundn zur ruh, dein wort zur artzeney, dein’s leidens kraft zur letzten stunden, des Vaters herz, des Trösters treu, dein Blut zu cron und sterbe=kleid, zuletzt zum grabe deine Seit.91

Die Wunden Jesu sind die zentrale kultische Institution der Brüdergemeine, in der nach Erkenntnis der Sündhaftigkeit Zugang zum Bräutigam gesucht wird. Dies geschieht mit dem Wunsch »salb mich mit deiner Wunde, wasch mich mit deinem Todes=schweiß«92, »[d]amit der Leib, so wie er war, kan in den himmel gehen, noch unverwest, mit haut und haar, und in der Wunden=schön«93. Das »Verweilen« in den Wunden wird als Freude, Ruhe, Frieden, Schutz und Glückseligkeit beschrieben.94 Der wichtigste Impetus des Wundenkultes ist die Rechtfertigung. So kann das »arme[.] sünder=herz […] in den Wunden finden Vergebung aller sünden«95. Denn »weil Christi Blut beständig schreyt, Barmherzigkeit, barmherzigkeit!«96 kann der Sänger nach »blut=gerechtigkeit«97 verlangen, um danach voller Hingabe festzustellen: »Ich bin gerecht durch deine Wunden, es ist nichts sträflichs mehr an mir; ich bin durch dich versöhnt mit Dir, drum bleib ich auch mit Dir verbunden.«98 Aufgrund dessen wird dann freudig jubiliert: »LAmm, Lamm, o Lamm, mein herzens=Lamm! ich küsse deine Wunden, Du bist mein GOtt und Bräutigam, ich bin mit Dir verbunden.«99 Konstatiert der Sänger zusätzlich: »Liebe! die mit so viel Wunden gegen mich, als seine braut, unaufhörlich sich verwunden, und mich wieder ihr vertraut: Liebe, laß auch meine schmerzen, meines lebens jammer=pein, in dem Blut verwundten herzen, sanftiglich gestillet seyn!«100 wird deutlich, dass dieses Handeln Christi, das dem_der Einzelnen Gerechtigkeit schenkt, aus Liebe und dem Bräutigamstatus resultiert. Die Verbindung zum Begriff des Kleids (34) lässt sich anhand einer längeren Passage erläutern, welche in aufeinanderfolgenden Versen und Liedern die Thematik des Kleids in Verbindung mit der Wundenverehrung entfaltet und so die Funktion dessen expliziert:

91 92 93 94 95 96 97 98 99 100

»Zun Heimgangs-Lieder«, 22. »Von der Ablegung unsrer Hütte«, 9. »Anhang«, 22. Vgl. z. B. »Vom Wandel im Licht«, 10. »Worte unsers Zeugnisses«, 5. Meyer spricht deshalb auch von einer »Rechtfertigungsmystik«; vgl. Meyer 1983, 98. »Hirten-Lieder«, 107. »Hirten-Lieder«, 19. »Anhang«, 6. »Hirten-Lieder«, 55. »Von der Ablegung unsrer Hütte«, 9.

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Also, HErr Christ! mein zuflucht ist die höhle deiner Wunden: wenn sünd und tod mich bracht in noth, hab ich mich drein gefunden. 3. Darinn ich bleib, ob hier der leib und seel von einander scheiden: so werd ich dort bey Dir, mein hort, seyn in ewigen freuden, 94 In dich wolst Du mich kleiden ein, dein unschuld ziehen an! daß ich, von allen sünden rein, vor GOtt bestehen kan. 95 Wenn krig ich mein kleid, das mir ist bereit, mein HErr und mein GOtt! das kleid, das so weiß ist, besprenget mit roth. 2. Verwahrst du es mir zur ewigen zier? ich brauch es izt gleich, man kömt ohne kleid nicht ins selige reich. 3. Nun ist es gethan, ich ziehe mich an: das walt der es heißt, der Vater der Sohn und der Heilige Geist.101

Die erste Passage führt erneut die erlösende und sündenvergebende Kraft Jesu Wunden vor Augen. Wenn direkt im Anschluss die Rede davon ist, ein von den Sünden befreiendes »kleid, das so weiß ist, besprenget mit roth«, zu bekommen, ohne das es nicht möglich sei ins Himmelreich zu kommen, wird deutlich, was der Ausdruck »In dich wolst Du mich kleiden ein« zu bedeuten hat. Der Sänger verlängert hier die Metapher der Rechtfertigung in den Wunden102 durch das Kleid. Das bedeutet, dass die Wunden nicht nur imaginiert werden, sondern es tatsächlich darum geht, sie anzuziehen und sich in sie hineinzulegen. Die vormals weiße Farbe des Kleides spielt hier auf brautmystische Vorstellungen an und wird somit zum Hochzeitskleid: »Ein kleid von reiner seide, o JEsu, meine freude! ein blut=besprengtes kleid, das möcht ich gerne haben, vor allen andern gaben: ich brauch es, es ist hohe zeit.«103 Die Formulierung des Hochzeitskleides wird explizit, wenn es heißt: »Weil Du nun, HErr JEsu Christ! mir selbst angezogen bist, so ist auch das hochzeitkleid für mich fertig und bereit.«104 Des Weiteren wird die Braut abermals mit Heil und Gerechtigkeit geschmückt, da ihre Sünden verdeckt wurden, für die Hochzeit mit dem Bräutigam vorbereitet und im Vorhinein beglückwünscht:

101 »Hirten-Lieder«, 36–37. 102 Vgl z. B. »Hirten-Lieder«, 19. 103 »Vom Wandel im Licht«, 19. »hohe zeit« muss hier nicht unbedingt auf die Hochzeit anspielen, sondern kann auch im Sinne von »höchste Zeit« verstanden werden, was wiederum auch auf die bevorstehende Vereinigung hindeuten könnte. 104 »Hirten-Lieder«, 85. Diese Hochzeit kann effektiv erst nach dem Tod vollzogen werden und alles Weltliche ist nur figura des Jenseitigen und ein Vorgeschmack vgl. z. B. »Hirten-Lieder«, 95.

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All sünd ist nun vergeben und zugedekket fein, darf mich nicht mehr beschämen vor GOtt dem HErren mein. Ich bin ganz neu geschmükket, mit einem schönen kleid, gezieret und gestikket mit heil und g’rechtigkeit.105 Glük zu der theuren braut des Lamms, dem selgen weib des Bräutigams, der kirche, die den Mann ergötzt, die sein Vater selbst köstlich schätzt.106

Die Notwendigkeit der weiteren Vorbereitung zeigt die Nennung des »trauer=kleid« im folgenden Vers: »Gib, für das trauer=kleid, den Geist der freuden, schenk die gerechtigkeit, die weisse seiden, der seel, die Du zur braut hast wolln erwehlen: ach ja, mein Bräutigam, Schatz meiner seele!«107 Der Beter, der zunächst um sein »heilskleid« bittet, bekommt dann für sein »trauer=kleid« das blutbesprengte »feyer=kleid« zur Hochzeit geschenkt.108 Das »trauer=kleid« beschreibt somit die menschliche Existenz ante notitia Christi, ist also noch von Sünde besetzt, negativ konnotiert und der Sänger somit noch nicht geschmückt und zur Braut auserkoren.109 Dieser Prozess bedarf also des beidseitigen Handelns, welches einerseits das Bekenntnis des Sängers zu Jesus als seinem Bräutigam und sein Versenken in die Wunden erfordert und andererseits Jesu aktives Annehmen des Beters als seine Braut, der er das Kleid eigenhändig anzieht.110 Im Verlauf dieses Transformationsprozesses erhalten die Sänger ihr Kleid, das sie »in des Lammes Blut ihr kleid rein gewaschen« haben.111 Aus dem Wunsch des einzelnen Sängers ist somit Realität geworden: Er hat den alten Menschen abgelegt und ist zur Braut geworden, die jetzt voller Überzeugung behaupten kann: »Das schöne feyer=kleid am tag der herrlichkeit glänzt vom Blut des Lammes: seine gerechtigkeit, die frucht des creutzes=stammes, die mich droben meld’t, ist mein lösegeld.«112 Aus dieser Perspektive wird der Appell an alle ausgesprochen, diese Transformation nachzumachen.113 Dass diese Transformation kein rein literarisches Konstrukt ist, sondern tatsächlich im Gemeindeleben nachgeahmt wurde, wird am »Mannesfest in Herrnhaag am 4. Dezember« deutlich, bei dem »die ledigen Brüder rote Festbänder statt ihrer gewöhnlichen grünen ausgeteilt bekommen, und beim Gemeindeabendmahl […] Christel, Rubusch und Johann Nitschmann keine weissen Talare, sondern rote [trugen].«114 Im Zuge dieses Transformationsprozesses 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114

»Der Herzens-Katechismus«, 5. »Von der Ablegung unsrer Hütte«, 21. »Vom Wandel im Licht«, 17. Vgl. »Gebetlein«, 2. Vgl. »Hirten-Lieder«, 78. Vgl. z. B. »Hirten-Lieder«, 31; »Von der Ablegung unsrer Hütte«, 21; »Gebetlein«, 12. »Hirten-Lieder«, 53. »Vom Wandel im Licht«, 8. Vgl. »Von der Ablegung unsrer Hütte«, 21. Peucker 2002, 70.

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erklärte Christian Renatus alle ledigen Brüder zu ledigen Schwestern, da »[a]lle Seelen […] nach ihm weiblich (›animas‹), und die Männer […] nur vorübergehend männlich [sind].«115

Implikationen für die Männlichkeitskonstruktionen Theoretische Explikationen Da im vorliegenden Beitrag nicht nur Männlichkeitskonstruktionen analysiert, sondern diese auch in den Kontext der Queer Theory/Queer Studies gestellt werden, wird nun, mittels begriffs- und kategoriekritischer Überlegungen das Material »gequeert«116. Dazu muss zunächst der Zusammenhang zwischen dem einzelnen Subjekt und der kollektiven Identität, die in der Brüdergemeine produziert wurde, hermeneutisch beleuchtet werden. Kollektive Identität (KI) wird hier nach Rico Hauswald verstanden, der diverse Prämissen zur Identifikation aufgestellt hat: I ist eine kollektive Identität genau dann, wenn KI-1 I einer tatsächlich existierenden oder angenommenen sozialen Pluralität P entspricht, KI-2 hinreichend viele Subjekte sich mit P identifizieren*, KI-3 es gemeinsames Wissen unter den sich mit P identifizierenden Subjekten ist, dass viele Subjekte sich mit P identifizieren*.117

Die Prämissen treffen für die Brüdergemeine zu: Bedingung KI-1 ist erfüllt, da es sich um eine tatsächlich existierende soziale Pluralität (P)118 handelt, hier in der spezifischen Form einer Gemein(d)e. Auch KI-2, die hinreichende Identifikation119 mit der sozialen Pluralität, und KI-3, das gemeinsame Wissen um die Vielheit sich Identifizierender*, sind gegeben, denn die Brüder und Schwestern nahmen sich als Teil der Gemeine, in der sie lebten und die ihren Alltag und ihr Selbstempfinden prägte, wahr und wussten um die parallele Identifikation der, nicht nur lokalen, anderen Gemeindeglieder. 115 Peucker 2002, 71. Zinzendorf selbst stimmt dem nur bedingt zu, für ihn fallen die Geschlechtergrenzen lediglich beim Abendmahl. Vgl. Peucker 2002, 72. 116 Zu prinzipiellen Schwierigkeit der Präzisierung des Begriffes, »weil die Verweigerung einer Definition bereits im Begriff selbst steckt«, und den normierungs- und normalitätskritischen Implikationen vgl. Degele 2008, 11–12. 117 Hauswald 2013, 146. 118 Vgl. Hauswald 2013, 141. 119 Vgl. Hauswald 2013, 143.

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Durch die gegebenen Explikationen lässt sich der Zusammenhang zwischen kollektiver Identität und einzelnem Subjekt verstehen: Die Zugehörigkeit zu und die Identifikation mit der Brüdergemeine als »creutz=leut«120 aus den »Creutz= Gemeinen«121, waren elementarer Bestandteil des Selbst-/Identitätsverständnisses des Subjekts in der Gemeine. Die Beziehung zwischen kollektiver Identität und Individuum in seiner Wichtigkeit kann auf Männlichkeit appliziert werden, da Männlichkeit als Identitätsmarker unweigerlich in dieser Bezüglichkeit enthalten ist. Der Konnex zwischen Kollektiv und Individuum kann mit der australischen Soziologin Raewyn Connell durch die körperreflexive Praxis beschrieben werden. Diese beschreibt den Zusammenhang zwischen Gender- und Geschlechtsannahmen – also sozialem und biologischem Geschlecht –, die von außen (Gesellschaft, das Gegenüber, etc.) an das Subjekt herangetragen werden, und deren Produktion, Inkorporation, der Reaktion des Subjekts, ihrer Verarbeitung und letztendlichen Reproduktion.122 Es handelt sich hierbei also um relationale soziale Interaktionen und Situationen, die durch Strukturierung bestimmte Optionen eröffnen oder disqualifizieren.123 Männlichkeit kann, besonders historisch betrachtet, »kein starr, über Zeit und Raum unveränderlicher Charakter«124 sein, da sie sich im sozialen Beziehungsgeflecht unaufhörlich neu konstituiert und durch neue Impulse unweigerlich, mittels körperreflexiver Praxis, umkonstruiert wird. Das Feld, in dem sich diese Praxis ausformt, ist hier die wechselseitig durch den theokratischen Alltag bedingte Frömmigkeit der Brüdergemeine, wie sie sich in den Aussagen des Gesangbuchs widerspiegelt. Mit dem Hegemoniebegriff des marxistischen Philosophen Antonio Gramsci formuliert Connell dann das Konzept der hegemonialen Männlichkeit, die »man als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren [kann], welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll).«125 Diese hegemoniale Form der Männlichkeit besitzt eine interne Relationalität. Eine »herrschende« Form von Männlichkeit, die momentane Akzeptanz besitzt, ist ohne antagonistische Männlichkeiten (Unterordnung, Komplizenschaft, Marginalisierung) und einem Konzept von »Weiblichkeit« als Negativfolie un120 Z. B. »Von der Ablegung unserer Hütten«, 21. 121 »Hirten-Lieder«, 48. 122 Für eine ausführliche und mit Beispielen aus soziologischen Untersuchungen exemplifizierten Darstellungen vgl. Connell 2000, 79–85. 123 Vgl. Connell 2000, 84. 124 Connell 2000, 97. Zur historischen Applizierbarkeit des connell’schen Ansatzes vgl. Dinges 2005. 125 Connell 2000, 98.

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konstruierbar.126 Es sind jedoch nur quasi-antagonistische Männlichkeiten, da ihre Gegenläufigkeit durch sich allein durch die Hegemonie des »herrschenden« Relatums konstituiert. In dieser internen Relationalität können somit die einzelnen Relata nicht von den Relationen zu den anderen Relata getrennt werden aus denen sie sich ergeben. Die Option, über zwei potentielle hegemoniale Männlichkeiten nachdenken zu können, wird durch die Offenheit des connell’schen Konzeptes ermöglicht, das als Rahmen zur Analyse spezifischer Männlichkeiten dient, die vorgegebenen »Typen« also das Feld analytisch aufspannen. Das gesamtgesellschaftliche Fundament des besagten Feldes lässt sich als ein heteronormatives beschreiben, denn: Heteronormativität ist ein binäres, zweigeschlechtlich und heterosexuell organisiertes und organisierendes Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkschema, das als grundlegende gesellschaftliche Institution durch eine Naturalisierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit zu deren Verselbstverständlichung und zur Reduktion von Komplexität beiträgt – beziehungsweise beitragen soll.127

Mit dem Fokus auf »Heteronormativität« lässt sich beobachten, wie sich die Männlichkeiten in der Brüdergemeine entlang der Linie von binären und heteronormativen Handlungs- und Denkstrukturen konstituieren und inwiefern heteronormative Kräfte von außen sie als deviant markierten. Der Problematik von Reifizierung und Nostrifizierung wegen, der schwerlich entflohen werden kann,128 wird der weber’sche Weg von »Idealtypen« zu »Realtypen« gegangen, sodass reifizierende und nostrifizierende Momente zwar im Raum stehen, aber als idealtypisch markiert werden können.129 Denn besonders im Geschlechterdiskurs ist es problematisch, wenn [d]ie im Alltagswissen so selbstverständliche und vor der theoretischen und empirischen Forschung stattfindende Sortierung zweier Geschlechter bestätigt [wird] und […] die Verschiedenheit von Frauen und Männern immer wieder aufs Neue [verfestigt wird], statt sie zu hinterfragen.130

Zudem besteht die Gefahr, als Antwort auf die Wahrnehmung einer Differenz Vergleiche anzustellen und so durch Kategorisierungen, die durch begriffliche Bestimmungen vorgenommen werden, eine »klassifizierende Leitdifferenz von

126 Zur »innere[n] Relationalität«, wie Connell formuliert, sowie der Abhängigkeit von »Weiblichkeit« vgl. Connell 2000, 88. Zu den Typisierungen von Hegemonie, Unterordnung, Komplizenschaft und Marginalisierung, vgl. Connell 2000, 98–102. 127 Degele 2008, 89. 128 Zu Überlegungen der Vermeidung dessen vgl. Degele 2008, 134–141. 129 Vgl. Weber 1980, 321–348. 130 Degele 2008, 133.

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›traditional‹ und ›modern‹«131 zu eröffnen. Dadurch kann es geschehen, dass »[d]ie projektiv gewonnene theoretische Vergleichsgröße […] wie auch die retrospektiv konstruierte Stufenleiter zu ihr […] dabei als Maße für anderes gesetzt [werden].«132 In diesem Sinne werden Kategorien wie Mann und Frau als idealtypische Konstrukte demaskiert. Sie sind somit selbst Kategorien, die konstruiert sind und entbehren jeglicher vermeintlichen Natürlichkeit, entsprechen also keinem Realtypus, sondern dienen lediglich zur Konturierung des Befundes.

Männlichkeitskonstruktionen in der Herrnhuter Brüdergemeine und die Relevanz eines Fokus auf Heteronormativität Auf diß selge leben wollen wir uns die, als so sünder, geben, die Ihm wohl bekannt; und ihr sünderinnen, inniglich entbrannt! wenn die Wunden rinnen, gebt euch auch die hand!133

Nach dem Konzept von Connell gibt es immer mehrere Männlichkeiten. Dass auch gleichzeitig mehrere Hegemoniale Männlichkeiten denkbar sind, lässt sich an der Brüdergemeine zeigen. Zunächst kann Jesus Christus als die erste hegemoniale Männlichkeit betrachtet werden. Laut Definition muss die hegemoniale Männlichkeit dem Anspruch genügen, die momentanen Legitimationsprobleme einer Gesellschaft zu lösen. Die Figur Jesu als erlösende Heilsgestalt des Bräutigams hat genau diese Legitimierungsfunktion für die Gemeinde- und Sittenordnung der Herrnhuter durch den implementierten Wundenkult inne. Da Jesus Christus nicht realiter in der Mitte der Gemeine lebt, will ich diesen ersten Typus als transzendierte hegemoniale Männlichkeit bezeichnen. Transzendierte hegemoniale Männlichkeit umfasst eine Projektion von Männlichkeitsvorstellungen in eine transzendente Dimension. Die zweite hegemoniale Männlichkeit, die sich herauskristallisieren lässt, ist die dominante Vorstellung, die für menschliche Männer gilt. Es gibt somit zwei konkurrierende und sich ergänzende Männlichkeiten: Jesus Christus und die Herrnhuter Brüder. Jesus Christus kann dabei als Leitmännlichkeit bezeichnet werden, die als transzendent gedacht wird, jedoch als Ideal immanent in die Welt der Brüder einwirkt und somit als Leitinstanz dient, um jegliche Männlichkeit zu konstruieren.134 Anhand der Leitmännlichkeit konstituiert sich nun die innergemeindlich hegemoniale Männ131 132 133 134

Degele 2008, 133. Degele 2008, 133. »Hirten-Lieder«, 52. Connell ermöglicht diesen erweiterten Gedankengang durch die Anmerkung zu Hegemonie und Vorbildern, vgl. Connell 2000, 98. Eine »Leitmännlichkeit« Jesu Christi ist hier naheliegend. Auch Craig D. Atwood geht in eine ähnliche Richtung, wenn er konstatiert: »Ultimately, Christ is the only true male«; Atwood 1997, 36.

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lichkeit, die sich als an dieser orientierte untergeordnete bzw. marginalisierte Männlichkeit präsentiert.135 Heteronormative Positionen außerhalb der Gemeine bezichtigten »Moravian men of taking on ›female customs‹: exhibiting sweet and affectionate behavior, laughing and crying, and referring to everything as ›hearty‹, ›cordial‹, ›lovely‹, and ›sweet‹.«136 Aus mehreren Gründen erhält diese Bezichtigung Plausibilität: Der Brautstatus ist zumeist von Passivität geprägt137 – ein idealtypisch weibliches Charakteristikum. Eine weibliche Seele ist Identitätsmarker der Herrnhuter Männlichkeit. Diese Männlichkeit ist nur eine irdische Daseinsform und Christian Renatus segnete sogar den gesamten Stand der ledigen Brüder zu Schwestern um. Aufgrund dessen ist es nicht erstaunlich, dass über eine Art ritualisierte Homosexualität diskutiert wird. Die Fixierung der Seitenhöhle Christi des Bräutigams als primärer religiöser Bezugspunkt im Kontext einer »Ehereligion«138 mit starker sexueller Aufladung,139 lässt eine symbolische Homosexualität vermuten. Dafür gibt es im Gesangbuch und in Berichten über Herrnhut durchaus Hinweise. Aus dem Kleinen Brüder-Gesang-Buch können hier stellvertretend zwei Beispiele angeführt werden. Ein früh zu datierendes: Deine roth=gefärbte Wunden, deine nägel, cron und grab, deine schenkel fest gebunden wenden alle plagen ab: deine pein und Blutigs schwitzen, deine striemen, narb’n und ritzen, deine Marter, Angst und Stich, o HErr JEsu! trösten mich.140

und ein Beispiel aus dem Anhang: Mein herze lebt in Jesu Seit’; ich küß mit innger zärtlichkeit die narb’ auf Händ und Füssen. Ich küß den speer; wie wollte ich, o kriegs=knecht! dich für diesen stich noch

135 Da Connell mit »Unterordnung« m. E. hauptsächlich homosexuelle Männlichkeiten bezeichnet, soll hier im weiteren Verlauf die Kategorie der »Marginalisierung« verwendet werden. Zur komplizenhaften und marginalisierten Männlichkeit vgl. Connell 2000, 100, 102. 136 Peucker 2006, 53. 137 »By remaining passive the individual was playing the female role appropriate for a bride.« Peucker 2006, 58. 138 Zinzendorf selbst bezeichnet sie so, vgl. Hahn/Reichel 1977, 299. 139 Zur Sexualisierung der Seitenhöhle vgl. z. B. das Fest der ledigen Brüder 1748 als Inszenierung, in der eine blutverschmierte Christusfigur von einem als römischer Soldat verkleideten Bruder die Seitenwunde zugefügt wurde, aus der dann Blut strömte: »After Christian Renatus washed his hands in the stream of blood the Christ figure disappeared, only to leave behind a huge image of the sidehole, large enough for a person to bend down and enter the choir house through it. And this is exactly what Christian Renatus, Rubusch, and all the others in attendance did; thus they physically penetrated the sidehole.« Peucker 2006, 48. 140 »Hirten-Lieder«, 36. Auch die Erwähnung des Schoßes Jesu kann als sexuelle Andeutung gewertet werden, vgl. »Hirten-Lieder«, 76.

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selber gehen küssen, säh ich, nur dich, zu der stunde, wenn die Wunde hält gerichte, mit versöhntem angesichte.141

Die sexuelle Primärfixierung richtet sich nicht nur auf Wunden und Ritzen, sondern auch auf die Schenkel Jesu und den eine phallische Implikation142 tragenden Speer, der Jesu Seite verwundet hatte und geküsst werden soll. Der homoerotische Impetus wird im Kontext deutlich: The adoration of the sidehole, the numerous songs about going into the sidehole, and even reenactments of penetrating the sidehole all seem to suggest that penetrative sex would fit the metaphor. […] Penetrative homosexual intercourse as part of religious ritual makes the most sense if the anus were considered to be an image of the sidehole.143

Besonders vor dem Hintergrund des Ideals der Streiterehe144, in der die Vereinigung zwischen Mann und Frau symbolisch für die Vereinigung von Jesus und Kirche stand, ist es möglich, dass »unmarried men might also experience Christ’s ›nuptial embrace‹ through physical intimacy with one another.«145 Die Berichte von »außen« deuten auch auf tatsächlich stattfindende homosexuelle Verbindungen hin. So verlangte z. B. der Zeitgenosse H.J. Bothe, »that the prayer group within the Berlin Moravian congregation had to be dissolved because of homosexual activities (›Man mit Man Schande‹) that had supposedly taken place among its male members.«146 Christian David Nitschmann wiederum, der in der Brüdergemeine aufgewachsen war, musste, laut Berichten, die Gemeinschaft aufgrund homosexueller Aktivitäten, bei denen er beschuldigt wurde, der »Verführer« gewesen zu sein, verlassen.147 Es ist aber wichtig zu betonen, dass das Vergehen die »Verführung« zur generellen fleischlichen Lust war,148 denn in der Gemeine wurden »homo141 »Anhang«, 8. 142 Phallische Implikationen lassen sich in Verbindung mit Atwoods Berichten über das Fest der Beschneidung Christi, »during which they spoke openly about Jesus’ penis«, verstärkt vermuten; Atwood 1997, 26. 143 Peucker 2006, 61. 144 Die Streiter- oder Prokuratorehe, die zum Sinnbild der Vereinigung Jesu mit der Gemeinde stilisiert wurde, erhielt eine regelrecht liturgische Stellung und gab der »trinitätstheologische[n] Begründung von Kirche einen christologischen Schwerpunkt«. Innerhalb der Ehe repräsentierte für Zinzendorf der Mann Jesus Christus, der liebevoll regiert, und die Frau die Gemeinde. Wenn diese Beziehung richtig gelebt werde, so Zinzendorfs Überzeugung, werde die Gottebenbildlichkeit wiederhergestellt, und Mann und Frau werden so zu »Vice-Christen«. Seibert 2003, 103–104. 145 Peucker 2006, 63. 146 Peucker 2006, 30. 147 Peucker 2006, 37–40. 148 Peucker 2006, 38. Auch Zinzendorfs Strafbrief vom 10. Februar 1749 beweist, dass hauptsächlich Sexualität zur reinen Lustbefriedigung und unter Unverheirateten negativ bewertet wurde. So sollten »fleischliche[.] oder fleischlich klingende Diskurse« sowie »Spezialumgang« zwischen den Geschwistern versagt und bestraft und gleichgeschlechtliche Tendenzen

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sexual acts […] not considered crimes for which people should be prosecuted by the secular authorities«.149 Sexualität, die nicht in direkter Abbildung der unio mystica geschah, wurde verdammt, deshalb wurden die Brüder auch dazu angehalten, »to turn to the wounds of Jesus rather than masturbation for release«.150 Somit wurde Sexualität, die nicht in der religiösen Symbolik blieb, unterdrückt und als Sublimierung auf Christus projiziert. Eine ritualisierte Homosexualität gab es in der Brüdergemeine nicht. Es bestand aber eine theologische und gemeinschaftsspezifische Option, Homosexualität zu leben und dabei einen gewissen Grad an Toleranz bis hin zu Akzeptanz zu finden. Homosexualität als dezidierter Identitätsmarker in der Herrnhuter Männlichkeitskonstruktion lässt sich somit ausschließen. Dass dies jedoch von außen so erschien, liegt zum Teil an den Berichten, aber auch an gesamtgesellschaftlichen Männlichkeitskonstruktionen und -idealen. Wenn die umliegende Männlichkeit als gesamtgesellschaftlich hegemoniale Männlichkeit betrachtet und diese als WHM (»white heterosexual males«)151 identifiziert wird, lässt sich zeigen, wie die Herrnhuter Männlichkeitskonstruktion einem Marginalisierungsprozess unterworfen wird. Denn die WHM sind als die Unmarkierten zu markieren.152 Sie sind die heterosexuelle, gesellschaftliche, hier auch religiös-frömmigkeitsspezifisch orthodoxe Norm, die die Herrnhuter Brüder in ihrer Männlichkeitskonstruktion aus phallogozentristisch-patriarchaler und heteronormativer Perspektive als effiminiert und abweichend markieren. Aus dieser Perspektive ergibt sich die Annahme, das Verhältnis von Jesus als Bräutigam, der Gemeine und ihren Mitgliedern als Braut als von vornherein tendenziell homosexuelle und, wie bei Pfister, als pathologische Beziehung zu sehen. Auch unter dem Gesichtspunkt einer »komplizenhaften« Männlichkeit in der Gesamtgesellschaft ergibt sich, selbst wenn eine prinzipielle Ablehnung der Konstruktion der Brüdergemeine nicht vorliegt, dieses Urteil und die daraus resultierende Attitüde, um die Teilhabe an der patriarchalen Dividende zu erhalten und/oder zu stabilisieren und nicht selbst unter heteronormativen Gesichtspunkten als abweichend markiert zu werden.153

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unterbunden werden; vgl. Hahn/Reichel 1977, 172–174. Dies ist jedoch eine nachträgliche Normierung Zinzendorfs, die durch (hetero-)normative Impulse von außen evoziert wurde. Peucker 2006, 39. Atwood 1997, 46. Vgl. Di Blasi 2013, 17. Auch wenn Di Blasi seine Beobachtungen auf die Gegenwart bezieht, kann eine Mehrfachschonung für die Frühe Neuzeit angenommen werden. Vgl. Di Blasi 2013, 75. In diesem Denk- und Handlungsmuster ist m. E. auch »Das Entdeckte Geheiminis« von Volck zu sehen, das Zinzendorfs Strafbrief vermutlich auslöste und »Zinzendorf dazu bewogen [hat], einzugreifen und seine Gemeinde in eine andere Richtung zu bewegen.« Peucker 2002, 51. Somit löst der akute Einfluss normativer und heteronormativer Reaktionen von außen wiederum normative und heteronormative Impulse innerhalb der Gemeinde aus.

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Daraus ergibt sich im Abgleich mit der Umwelt für die Herrnhuter Männlichkeitskonstruktion eine polyvalente Struktur. Sie ist innergemeindlich, zumindest in der Sichtungszeit, hegemonial konstituiert, konstruiert sich aber gegenüber ihrer Leitinstanz Jesus Christus in einer gegenseitigen Verwiesenheit und Unterordnung. Das macht sie zu einer gesamtgesellschaftlich marginalisierten Männlichkeit, die sich der gesamtgesellschaftlich hegemonialen unterzuordnen hat bzw. von dieser einem Unterordnungsprozess unterworfen wird. Die im Gesangbuch implizierte Männlichkeitskonstruktion präsentiert sich daher als komplexe, mehrfach relationale und zwischen Hegemonie und Marginalisierung oszillierende Männlichkeit.

Ausblick Der vorliegende Beitrag hat den Konnex zwischen Brautmystik, Wundenkult und Männlichkeitskonstruktion(en) in der Herrnhuter Brüdergemeinde aufgezeigt. In diesem Sinne kann der Beitrag als Plädoyer für mehrere Punkte gelesen werden: Die Neuperspektivierung von historischen Phänomenen und religionswissenschaftlich-theologischen Topoi durch gender- und queertheoretische Prämissen stellt einen fruchtbaren Ansatz dar. Eine Homogenisierung historischer Gender(re)konstruktionen kann aufgebrochen werden, indem deutlich wird, dass die Kategorien Mann und Frau zwei Pole auf einem Kontinuum von Genderkonstruktionen darstellen, dessen Varianzen in ihrer historischen Phänomenologie eine hohe Fluidität besitzen. Zudem ermöglicht diese Neuperspektivierung auch ein Aufbrechen der Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz – in der Mystik fallen diese beiden im Momentum der unio ineinander. Im Aufbrechen dieser Differenz wird deutlich, dass transzendente Figuren wie Christus eine Matrize für Gendervorstellungen bilden können. Als Resonanz auf diese Impulse lassen sich Auswirkungen auf Frömmigkeitsstrukturen und deren Wahrnehmung, die Korrelation von Genderkonstruktionen und Ortho-/Heteropraxie rethematisieren. Auch die Wechselwirkung zwischen religiös determinierten Männlichkeitskonstruktionen und gesamtgesellschaftlichen Genderdiskursen lässt sich durch diesen Ansatz fokussiert hinterfragen. Letztendlich ließe sich eine Pluralisierung kirchen- bzw. christentumsgeschichtlicher Forschung und eine Neuerschließung historischer Phänomene unter genderund queertheoretischer Perspektive erzielen.

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Benedikt Bauer

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Manuel Stadler

Zwischen religiöser Devianz und politischer Dissidenz. Die »Kastratensekte« der Skopzen1

Ach, heiliger Vater! Ersichtlich ist die Zeit gekommen, dir die ganze Wahrheit zu sagen. Ich hatte eine Erscheinung im Traum, als ob der Herr Zebaoth erschien und spricht: »Du hast Sünde, und wenn du sie nicht von dir fortwirfst, so wirst du nicht im Himmelreich sein«. Und er zeigte mir ein grosses Messer, welches im Schuppen lag und stark glühend gemacht war, und er sprach: »Nimm dieses Messer und führ es über deinen Körper, anfangend vom grossen Zeh des rechten Fusses bis zum geheimen Gliede; und wann das Messer beim geheimen Gliede angelangt, so schneide es ab, und du wirst glücklich und gerettet sein«. Als ich erwachte, so ging ich in den Schuppen und fand dort das Messer, das mir im Traume gezeigt war. Ich nahm es und ging in die Riege, die damals geheizt wurde (gefüllt) mit Getreide zum Mahlen; ich legte das Messer ins Feuer und machte es glühend, wie ich es im Traum gesehen hatte; darauf nahm ich es, führte es, anfangend vom grossen Zeh, über den ganzen Schenkel meines rechten Beines bis zum geheimen Gliede selbst; und sobald ich bis zu ihm das Messer geführt, in derselben Minute schnitt ich es mir ab […] und warf sie ins Feuer, welche auch vor meinen Augen verbrannten. Siehe ich habe die wirkliche Wahrheit gesagt. Darauf vollzog ich auch an meinen Schülern eine solche Operation.2

Dieses Zitat schildert die Episode der Selbstkastrierung des Gründers der Skopz_innen infolge einer göttlichen Traumvision. Der Penis und die damit zusammenhängenden sexuellen Bedürfnisse werden darin als »Sünde« bezeichnet. Die Entfernung dieses »geheimen Gliedes« wird als die Pforte zu Glück und Errettung gedeutet. Die Erlangung »spiritueller« Reinheit durch die operative Entfernung der äußeren Geschlechtsteile ist nicht nur für männliche, sondern auch für weibliche Anhänger_innen dieser religiösen Gemeinschaft belegt.3 Doch was steckt genau dahinter? 1 In Erinnerung an den Wert des Lächelns und der Freundschaft ist dieser Artikel Victoria Vitanova gewidmet, die mich mir bislang unbekannte Welten entdecken ließ. 2 Diese Episode soll der Gründer der Skopz_innen Selivanov dem Kerkeraufseher im Klostergefängnis 1821 anvertraut haben. Grass 1966, 26–29. 3 Vgl. Koch 1921, 3–4; Engelstein 1999, 13. Koch ist zu entnehmen: »Die Verschneidung wird bzw. wurde bei Männern und Frauen ausgeführt. Bei den Männern bestand dieselbe entweder in der Ausführung des kleinen Siegels […], d. h. in der Abtragung der Hoden, des ›Schlüssels

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Die Geschichte dieser russischen »Sekte«4 der Skopz_innen sowie ihrer Verfolgung wird im Folgenden genauer beleuchtet. Die Anhänger_innen dieser religiösen Gemeinschaft, deren Existenz über 150 Jahre lang belegt ist, sollen davon überzeugt gewesen sein, dass sie die Erlösung im Jenseits nur durch die radikale Entfernung ihrer Geschlechtsorgane erlangen könnten.5 Darüber hinaus sollen sie die Ehe abgelehnt, sowie auf Fleisch und Alkohol verzichtet haben.6 Ausgehend von einer Rekonstruktion der Forschungsgeschichte wird im Folgenden zuerst dargelegt, dass viele der bis dato vorliegenden Informationen über die Skopz_innen kritisch zu hinterfragen sind. Mit der Ausnahme einer Publikation aus der Feder von Laura Engelstein (1999) liegen im nicht-russischsprachigen Raum keine weiteren Studien vor, die wesentlich über den Kenntnisstand der Arbeiten Karl Konrad Grass’ aus dem Jahre 1914 hinausgehen. Die religionswissenschaftliche Forschung hat diese Arbeiten zwar zur Kenntnis genommen, doch bislang nicht näher analysiert, ob die Verfolgung der zur Hölle‹ oder des großen Siegels […] mit Abtragung von Hoden und Penis, letzterer ›Schlüssel zum Abgrunde‹ genannt, wobei sie unter Abgrund die weiblichen Genitalien verstehen. Die Kastration geschah mittels Glüheisens, durch Abbinden mit Schnur, durch Abschneiden mit den verschiedensten Schneideinstrumenten, wie Küchenmesser, Rasiermesser, Sense, Beil, Sichel usw. Die Blutstillung wurde mit Alraun, Kupfervitriol und ähnlichen Chemikalien versucht, der Verband mit Baumöl, Wachs u. dgl. angefertigt. Gegen Harnfluß und um narbige Strukturen der Harnröhre zu vermeiden, sollen sie Zinnägel benutzt haben, welche in die Harnröhrenmündung eingeführt wurden. Bei Verschneidung der Weiber erreichten sie naturgemäß nie eine echte Kastration mit Entfernung der Ovarien, sondern sie nahmen verstümmelnde Eingriffe vor, durch welche sie den geschlechtlichen Trieb der Frau einschränken und die Möglichkeit zum Koitus beschränken wollten. Es wurden daher die Brustwarzen ausgeschnitten oder gespalten, auch größere Drüsenteile der Mamma entfernt, die kleinen Labien ausgeschnitten oder beseitigt, die Klitoris samt Nymphen abgetragen, so daß es zur Verengung des Scheideneingangs kommen konnte.« Koch 1921, 3–4. Die Unterscheidung zwischen »großem und kleinem Siegel« dürfte auf Initiationsgrade hinweisen. 4 Der Begriff »Sekte« wird hier nicht als politischer Kampfbegriff gebraucht, sondern im Sinne eines normalen sozialen Phänomens der Religionsgeschichte. In der religionswissenschaftlichen Terminologie kann der Begriff »Sekte« als objekt- und metasprachlicher Begriff verwendet werden, um Konkurrenz- und Verfolgungssituationen von der Norm divergierender religiöser Gemeinschaften zur dominanten sozialen Ordnung zu beschreiben. Vgl. Mauss 1905, 97–100; Wustmann/Neef 2011, 58, Anm. 4. Ich danke Frau Bernadett Bigalke für diesen Hinweis. 5 Nach Ausweis der Quellen dürften sich nur wenige Anhänger_innen selbst kastriert haben. Ein Großteil führte diese Operation nicht eigens durch, sondern erduldete sie. Das betrifft vor allem Knaben. Vor Gericht gaben Angeklagte auch an, dass sie unfreiwillig kastriert wurden. Ob diese Aussagen im Falle von Erwachsenen ausschließlich dazu dienten, einer Verurteilung zu entgehen, ist fraglich. Demzufolge ist aber auch die von Engelstein (XI) getroffene Charakterisierung der Selbstkastration irreführend. Diesen Widerspruch löst sie nicht auf. Zu den Fällen von kastrierten Kindern vgl. Engelstein 1999, 89–92.97; zu Fremdkastrationen bei Erwachsenen vgl. Engelstein 1999, 25; zur Selbstkastration vgl. Engelstein 1999, 114. Weitere Beispiele von Kastrationserzählungen finden sich bezüglich rumänischer Skopz_innen in: Koch 1921, 4–16. 6 Nach Aussage von Zeugen in einem Skopzenprozess aus dem Jahre 1886. Grass 1914, 543.

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Gemeinschaft durch die Obrigkeit religiös oder politisch motiviert war – oder beides. Im Werk von Max Weber finden sich bislang in der Religionswissenschaft weitgehend unberücksichtigte Ausführungen zum Erlass der Religionsfreiheit 1905 in Russland, die es erlauben einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen. Dies wird anhand einer historischen Rekonstruktion der Verfolgung dieser Gemeinschaft im Folgenden angestrebt. Angesichts der Praxis der »Genitalverstümmelung« und dem mit ihr verbundenen Ideal strenger sexueller Askese wird abschließend die Frage aufgeworfen werden, inwiefern die physischen Eingriffe Auswirkungen auf die Zuschreibungen von weiblichen und männlichen Rollenbildern hatten.

Religionswissenschaftliche Forschungsgeschichte Der Großteil der Informationen, die wir über die Skopz_innen verfügen, entstammt polizeilichen Verhörakten.7 Der »Wahrheitsgehalt« der darin enthaltenen Aussagen ist zweifelhaft, was stets mitbedacht werden sollte, auch wenn sie Topoi entsprechen, die sich in den liturgischen Schriften der Skopz_innen wiederfinden.8 Dass sich diese Reflexion nicht von selbst versteht, verdeutlicht eine Passage bei Paul Möbius: »Überall werden aus den Acten Beispiele und Ausführungen beigebracht, sodass man ein sehr genaues Bild von der trotz aller Anstrengungen der Regirung immer neuauflebenden Verkehrtheit bekommt.«9 Die religionswissenschaftliche Forschung hat sich bislang kaum mit den Skopz_innen auseinandergesetzt. Erst in der vierten Auflage des Handwörterbuches für Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) aus dem Jahre 2004 wurde ihnen ein eigener Eintrag gewidmet.10 In der zweiten und dritten Edition werden sie lediglich kurz unter dem Eintrag »russische Sekten« erwähnt.11 Als Wissensgrundlage der beiden älteren Ausgaben diente Karl Konrad Grass, in der jüngeren werden zusätzlich Laura Engelstein (1999) und Alexander Panchenko12 7 Vgl. Grass 1914, III. 8 Darunter zählen der Glaube an die Notwendigkeit der Kastration (Vgl. Grass 1904, 7–8), an einen kommenden Erlöser (Vgl. Grass 1904, 9), die Anweisung an Männer, das andere Geschlecht zu meiden, nicht einmal neben Frauen zu sitzen (Vgl. Grass 1904, 40), sowie die Ablehnung des Geschlechtsverkehrs, weil dieser die Seele verderbe (Vgl. Grass 1904, 41). 9 Möbius 1906, 24. 10 Vgl. Hagemeister 2004, 1389–1390. 11 Vgl. Haase 1931, 2162; Stupperich 1986, 1232. 12 In der RGG wird auf eine Arbeit von Panchenko auf Russisch aus dem Jahr 2002 verwiesen. Einen Eindruck seiner Forschung auf Deutsch übersetzt bietet: Panchenko, Alexander, »Heterodoxes« Christentum im modernen Russland, 4/2015, in: Ost-West Europäische Perspektiven: https:// www.owep.de/artikel/841/heterodoxes-christentum-im-modernen-russland (zuletzt aufgerufen am 23. 12. 2017).

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genannt. Sowohl in dem Eintrag im Handwörterbuch aus der Feder von Michael Hagemeister als auch bei Laura Engelstein wird suggeriert, dass der Grund für die sowohl religiös als auch politisch motivierte Verfolgung der Skopz_innen die Praxis der Kastration gewesen sei. »Mit Berufung auf Mt. 19,12 u. a. Bibelstellen propagieren die S.[kopz_innen] Selbsterlösung durch die als ›Feuertaufe‹ bez. teilweise oder vollständige Entfernung der Geschlechtsteile bei Männern und (seltener) Frauen. Trotz Verfolgung verbreitete sich die Sekte über ganz Rußland sowie nach Sibirien und Rumänien.«13 Bei der Historikerin Engelstein erfahren wir: Among these spiritual dissenters, the community to which Latyshev belonged [= die Skopzen] occupied a special place in the hierarchy of deviation, as the most stimagtized of them. Decried by civil and ecclesiastical authorities in tsarist times and by the militant atheists who replaced them, the fellowship was persecuted throughout the 150 years of its existence. The feature that so disturbed the guardians of orthodoxy and of public order under two very different regimes was not the fact of spiritual error (until 1917) or the fact of devotion itself (thereafter). The feature that set the group apart was the strange and shocking practice of ritual castration.14

Dieser Einschätzung zufolge sei die Kastration der entscheidende Grund für die Verfolgung gewesen, wohingegen die religiösen sowie politischen Vorstellungen lediglich sekundäre Aspekte gewesen seien. Anhand des Materials, das Engelstein selbst liefert, und unter Zuhilfenahme weiterer Literatur soll im Folgenden dargelegt werden, dass die Autorin damit den Faktor der religiösen sowie politischen Repräsentationen im Kontext der Verfolgung unterschätzt. Max Weber hat in seiner Auseinandersetzung mit der Russischen Revolution 1905 das damals geltende religionspolitische Strafrecht im Zarenreich unter religionshistorischen Gesichtspunkten betrachtet und festgehalten: »Strikt verboten bleiben ›unsittliche‹ Sekten, insbesondere die Kastratensekte (Skopzen) […].«15 Weber zählte sie zu den »pneumatischen Sekten« mit antipolitischer Ausrichtung.16 13 Hagemeister 2004, 1389–1390. Der Verweis darauf, dass um 1970 Skopz_innen noch im Gebiet von Tambov, auf der Krim und im Kaukasus existiert haben, muss Panchenko entstammen. Grass scheidet als Quelle aufgrund seiner Lebensdaten (gest. 1927) aus und Laura Engelstein, weil sie die Geschichte der Skopz_innen auf Grundlage von Archivmaterial nur bis in das Jahr 1939 bearbeitet. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Unklarheit, die sich ergibt, folgt der_die Lesende den im Eintrag »Skopzen« erfolgenden Verweis auf »russische Sekten«. Dort nämlich schreibt Hans-Christian Diedrich, dass »die Skopzen (›Eunuchen‹, wegen der bei ihnen nach Mt. 19,12 geübten Selbstverschneidung) […] gegenwärtig nicht mehr anzutreffen« (Diedrich 2004, 684–686) sind. Vollständige Gewissheit scheint hier nicht vorzuliegen. Diedrich 2004, 684–686. »Denn es gibt Verschnittene, die vom Mutterleibe so geboren sind; und es gibt Verschnittene, die von Menschen dazu gemacht wurden; und es gibt Verschnittene, die sich um des Himmelreiches willen selbst verschnitten haben. Wer es fassen kann, der fasse es!« Mt, 19,12. 14 Engelstein 1999, 2. 15 Weber 1989, 335 (Hervorhebung im Original).

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Geschichte der Verfolgung Der früheste Beleg für die Existenz dieser Gemeinschaft sind Akten eines 1772 gegen Skopz_innen geführten Prozesses.17 Erste gedruckte Zeugnisse über die »Sekte« sind in Russland seit 1819 greifbar.18 1844 publizierte Vladimir Dahl, ein Lutheraner deutsch-dänischer Abstammung, unter Zar Nikolas I. in Kooperation mit dem Innenministerium seine Nachforschung über die skopzische Häresie.19 Das Motiv für die Abfassung bestand darin, den staatlichen Behörden den Nachweis über die »Gefährlichkeit« dieser religiösen Gruppe zu erbringen.20 Der Zar, der mit seiner Politik das Ziel verfolgte, eine Einheit des orthodoxen Glaubens im Staat herzustellen und eine Beseitigung der widersprechenden Meinungen in religiösen Fragen einzuleiten, hielt es jedoch für unangemessen, dem Heiligen Synod eine Schrift als Referenz in Glaubensfragen vorzulegen, die selbst von einem Nicht-Orthodoxen verfasst worden war.21Aus diesem Grund wurden die von Dahl zusammengestellten Materialien an Nikolai Nadezhdin übergeben, dessen Werk 1845 gedruckt wurde.22 Darin führte der Autor aus, dass die Skopz_innen Staatsfeinde seien, und leistete damit einen Beitrag für die Legitimation polizeilicher Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Anhänger_innen. 1872 legte der Professor für forensische Medizin an der Militärakademie zu St. Petersburg, Eugen Pelikan, eine kriminalmedizinische Studie vor, die von Experten vor Gericht genutzt wurde, um »objektiv« anhand der Narben darüber urteilen zu können, ob die Kastrationen der Angeklagten aus eigenem Willen, infolge von Krankheiten oder im Zuge von Unfällen durchgeführt worden waren.23 Wohingegen Nadezhdin vor allem mit Rekurs auf die Glaubensvorstellung 16 Vgl. Weber 1989, 163–164. 17 Vgl. Engelstein 1999, 56–58. 18 Vgl. Grass 1914, 1, Anm. 1. Ein weiteres Werk erschien 1834 unter dem Titel Aufdeckung der Heimlichkeiten und Ueberführung der Häresie der Skopzen aus der Feder von Dosifé Némtschinow. Vgl. Grass 1914, 2, Anm. 1. 19 Vgl. Engelstein 1999, 56–58. Grass gibt das Jahr 1845 für die Publikation an, das auch Comtet übernommen hat. Vgl. Grass 1914, 1, Anm. 1; Comtet 1997, 196. 20 Vgl. Engelstein 1999, 57–58. Dahl hatte bereits zuvor auf Anfrage des Innenministeriums eine Schrift vorgelegt, in der er »nachwies«, dass Juden* aus rituellem Anlass Kinder von Christ_innen essen. 21 Vgl. Edward 1978, 154–169. Zur Einschränkung der Meinungsfreiheit unter Nikolas I. siehe: Onasch 1993, 52–53. Dass die Politik Nikolas’ I. durch das »justinianische Symphonie-Modell« beschrieben werden kann, demzufolge die Herrschaft über die Kirche dem höchsten Laien obliegt, kann hier nur angedeutet werden. Vgl. Onasch 1993, 15. Ich danke Herrn Dr. Heinz Mürmel für den Hinweis auf Onasch. 22 Vgl. Engelstein 1999, 60–61. 23 Vgl. Engelstein 1999, 60–64. Pelikans Werk enthielt gezeichnete Darstellungen der Genitalverletzungen bei Männern und Frauen sowie der verwendeten Schneidinstrumente. Pelikans Untersuchungen erschienen 1876 auf Deutsch. Vgl. Grass 1914, 2, Anm. 2. Eine Auswahl der Abbildungen findet sich bei Engelstein 1999, 62–65.

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der Skopz_innen argumentierte, dass die Anhänger_innen Staatsfeinde seien,24 griff Pelikan auch auf pathologisierende Zuschreibungen zurück. Ihm zufolge waren die »religiösen Selbstverstümmeler« zwar geistig minderbemittelt, ihre Handlungen ihm nach womöglich das Resultat von Massenhysterien. Doch seien sie keineswegs geisteskrank, sondern durchaus zurechnungsfähig, weswegen sie auch angeklagt werden könnten.25 Während in Nadezhdins und Pelikans Arbeiten somit argumentative Rechtfertigungsgrundlagen für die Verfolgung der Skopz_innen durch die Obrigkeit in der Epoche des russischen Zarenreiches enthalten sind, findet sich eine Legitimationsbasis für die Repression während der Sowjetunion in dem Werk des Ethnologen Nikolai Volkov formuliert.26 Das Buch erschien im Kontext des ersten Skopzenprozesses in Sowjetzeiten, in dem der Direktor der Wissenschaftsakademie für Ethnologie und Leiter der Leningrader Liga militanter Gottloser Nikolai Matorin 1929 die Schlussrede gehalten hatte.27 Matorin charakterisierte das Skopzentum als klassenfeindlich, nach einer individualistischen, akkumulierenden Ideologie hin ausgerichtet, demnach feudalistisch und kapitalistisch. Volkovs 1930 erschienene Schrift war unter der Schirmherrschaft von Matorin angefertigt worden.28 Neben der Darstellung »grausamer« Verstümmelungen von Frauen und Männern formulierte er analog zu seinem Lehrer die Zuschreibung, dass die Skopz_innen geldgierige, egoistische Klassenfeinde seien. Die Werke von Nadezhdin und Pelikan zählen zu den Hauptquellen, auf deren Grundlage das Bild über die Skopz_innen außerhalb von Russland unter Historiker_innen, Theolog_innen sowie Psychiater_innen bekannt geworden war.29 Eine der frühesten Erwähnungen dieser religiösen Gemeinschaft in deutscher Sprache findet sich in dem Werk von August von Haxthausen, der Russland 1843 bereist hatte und 1847 eine umfangreiche Darstellung der diversen »russischen Sekten« veröffentlichte.30 In den Grundzügen enthält seine Schilderung bereits alle grundlegenden Topoi über die Glaubensvorstellungen sowie Praktiken der Skopz_innen: Sie sollen sich zu »Eunuchen« verstümmeln, daran glauben, dass Christus in Personalunion mit Zar Peter III. noch lebe und auf seine Thronbesteigung warte, um das ewige Reich einzuläuten. Die meisten ihrer Mitglieder seien Juwelier_innen, Gold- und Silberhändler_innen, die »sehr eifrig [sind], um 24 Vgl. Engelstein 1999, 59. 25 Vgl. Engelstein 1999, 67. 26 Vgl. Beauvois 1995, 528; Salomini 1997, 636–639; Engelstein 1999, 214–218. Die französische Übersetzung des russischen Originals wurde 1995 publiziert. 27 Vgl. Engelstein 1999, 211–212. 28 Vgl. Engelstein 1999, 214–218. 29 Vgl. Grass 1914; Leroy-Beaulieu 1898, 479–495; Gehring 1898, 137–173; Möbius 1906. 30 Vgl. von Haxthausen 1847, 1, 337–420.

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Andere zu ihren Lehren zu bekehren und dann jene Operation an diesen ihren Schülern vorzunehmen«.31 Er gibt einen Bericht wieder, demzufolge einem fünfzehnjährigen Mädchen rituell die linke Brust abgeschnitten und diese dann von der Gemeinde verspeist wurde. Schließlich erwähnt er auch die »swalnij griech«32 genannten sexuellen Ausschweifungen der Chlüst_innen und Skopz_innen im Vollzug ihrer ekstatischen Rituale.33 Obgleich näher zu erforschen wäre, ob und wenn ja, welchen Einfluss34 das Werk von Haxthausens auf die Verfolgung der Skopz_innen hatte, scheint es notwendig, hier auf einen fundamentalen Unterschied zwischen den russischen »Auftragsarbeiten« gegenüber den ausländischen Abhandlungen hinzuweisen. Die Schriften von Nadezhdin, Pelikan und Volkov generierten eine sozialontologische Wirkkraft, indem sich Akteur_innen an ihnen orientierten, um in einem ersten Schritt anhand bestimmter Merkmale die Kategorie »Skopze/ Verdächtiger« festzumachen.35 Nachdem diese Zuschreibung erfolgt war, konnte dies entweder toleriert oder in einem zweiten Schritt den Justizbehörden gemeldet werden, die Anklage erhoben.36 Vor Gericht dienten diese Werke schließlich neben Zeugenaussagen, bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmtem Beweismaterial, darunter liturgische Schriften,37 und den jeweils geltenden Gesetzesvorschriften als Orientierungen, um die soziale Kategorie »schuldig« bzw. »unschuldig« zu »ermitteln«. Wie die Zuschreibung dieser Statusfunktion im Einzelnen funktionierte, wird aus dem bislang in Übersetzungen aufgearbeiteten Material nicht ersichtlich. Es ist in diesem Zusammenhang jedoch zu betonen,

31 von Haxthausen 1847, 342. 32 In der Forschung wird davon ausgegangen, dass sich die Skopz_innen Ende des 18. Jahrhunderts von den Chlüst_innen abgespaltet haben, die auch Askese gepredigt hatten. Im Zuge ekstatischer Ritualhandlungen sei es in letztgenannten Gemeinschaften wiederholt zu »sexuellen Ausschweifungen« gekommen. Die Skopz_innen hätten sich dann durch eine Radikalisierung der Askesepraxis von den Chlüst_innen als soziale Einheit abgegrenzt. Bereits Grass hatte jedoch darauf hingewiesen, dass sich für die »sexuellen Orgien« keine Hinweise unter den Chlüst_innen finden und ihnen der Begriff »swalnij griech« unbekannt sei. Es handelt sich wohl eher um ein Stereotyp, das häufig auf verfolgten Minderheiten lastet. Vgl. Comtet 1997, 192–193. Eine religionswissenschaftlich wertvolle Gegenüberstellung der Unterschiede der Glaubensvorstellungen und Praktiken von Chlüst_innen und Skopz_innen mit Bezug auf die Normen der orthodoxen Kirche findet sich in: Hertz 1928, 178–190. 33 Vgl. von Haxthausen 1847, 344, Anm. *. 34 Vgl. Engelstein 1999, 69. Die Autorin postuliert, dass das Werk einflussreich gewesen sei, führt dies aber nicht weiter aus. 35 Die Grundlagen der hier formulierten Überlegungen finden sich bei: Searle 2008, 443–459. 36 Vgl. Engelstein 1999, 103–105; Grass 1914, VI–VII. 37 Vgl. Grass 1904, III. Auf eine Auseinandersetzung mit der hierin zugänglichen Mythologie der Skopz_innen wurde im vorliegenden Beitrag weitestgehend verzichtet, um der Geschichte der Verfolgung den Vorrang zu geben.

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dass der Nachweis, an den Genitalien verstümmelt zu sein, nicht der hinreichende Grund für eine Verurteilung war.38 Nicht alles, was in Russland über Skopz_innen geschrieben wurde, sollte ihre Verfolgung legitimieren. Die in den 1860er Jahren veröffentlichten Darstellungen Kel’sievs zeugen zwar von der im öffentlichen Diskurs vorherrschenden Ablehnung der Skopz_innen, jedoch betont der Autor im Gegensatz zu Nadezhdin und Pelikan, dass die Skopz_innen keine Staatsfeinde seien. Engelstein fasst die Hauptargumente von Kel’siev wie folgt zusammen: »Die Skopzen mögen die Gesetze der Natur verletzen und von der religiösen Norm abweichen, doch seien sie nur allzu bereit, sich einer sozialen Konvention zu unterwerfen. Sie seien sogar politisch loyal. […] ›[S]ie wären froh‹, schreibt Kel’siev, ›ihr Blut für beide Zaren zu vergießen: den unsichtbaren und den sichtbaren.‹«39 Demnach gab es auch einen Gegendiskurs, in dem versucht wurde, die Skopz_innen von der sozialen Kategorie »Staatsfeind« freizusprechen. Im Gegensatz dazu führte die Rezeption dieses Wissens unter anderem in Deutschland und Frankreich nicht dazu, die soziale Kategorie »Skopze_in« zu entwerfen, da in der Gesellschaft keine entsprechende Referenz als soziale Gruppe existierte, auf die sie in dieser Form anwendbar gewesen wäre.40

Die rechtlichen Grundlagen für die Verfolgung der Skopz_innen im Wandel der Zeit Das erste Rechtsdokument, das mit einem Skopzenprozess in Verbindung steht, sind die Anweisungen Katharinas der Großen für das polizeiliche Vorgehen im Vorfeld des ersten Gerichtsverfahrens in Orel gegen Anhänger_innen dieser »Sekte« vom 2. Juli 1772 an Oberst Wolkow. Darin findet sich folgender Zusatz 38 Vgl. Grass 1914, 347, 402, 420, 494, 535–536, 987; Engelstein 1999, 48–49. 39 Engelstein 1999, 74. [Ü. d. V.]. 40 1906 publizierte der Psychiater Paul Möbius eine Abhandlung über Kastration in zweiter Auflage. Er postuliert, dass die Valesianer_innen aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. die Vorgänger_innen der Skopz_innen seien. (Vgl. Möbius 1906, 18–19) Seine Quelle war Pelikan. (Vgl. Möbius 1906, 23) Möbius formuliert: »In den Ländern abendländischer Cultur kommt die Castration von Menschen, abgesehen von Unfällen, Verbrechen, Selbstcastrirungen Geisteskranker, nur noch als ärztliche Operation, d. h. zu Heilzwecken vor.« Möbius 1906, 24. Damit sei nicht gesagt, dass die Rezeption außerhalb Russlands lediglich »intellektuelle« Interessen der Wissensakkumulation verfolgt habe. Alleine die Titel theologischer und historischer Abhandlungen mit »Russische Sekten« mögen durchaus wiederum bei den Rezipient_innen dieser Werke Ängste vor den »Sekten« im eigenen Land geschürt haben oder von den Autor_innen gar mit dieser Intention verfasst worden sein. Eine Untersuchung dieser »Mechanismen des Imaginären« kann im Rahmen dieses Beitrages nicht geleistet werden. Zur Wirkung wissenschaftlicher Kategorienbildungen im Zusammenspiel mit neuen Medien auf die Konstruktion eines »wissenschaftlichen Imaginärs« vgl. Kreinath 2015, 407–449.

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formuliert: »Wir finden es nötig, hier hinzuzufügen, dass Sie bei der Untersuchung zur Ermittlung der Wahrheit ohne jede Misshandlung verfahren und auf die allermildeste Weise und wenn Sie finden, dass unschuldige Leute eingebracht sind, so bemühen Sie sich, sie schnellstens ungeschädigt in ihre Wohnorte zu entlassen.«41 Die Untersuchungen wurden eingeleitet, um Gerüchten über eine »gewisse Häresie« unter Bauer_innen im ländlichen Milieu nachzugehen, was auf Anweisung der Zarin als »Zivilvergehen« geahndet werden sollte.42 Es war bekannt geworden, dass eine »Sekte« bestünde, deren Anführer_innen Männer kastrieren.43 Hinsichtlich der Rechtspraxis erwähnt Grass an einer Stelle seines Werkes, dass die Verfahren gegen Skopz_innen als Kriminalverbrecher vor weltlichen Gerichten nicht auf Veranlassung der kirchlichen Konsistorien eingeleitet wurden.44 Demnach wäre die Verfolgung nicht einer religiösen, sondern einer politischen Institution zugefallen. Engelstein gibt hingegen an, dass in diesem Fall am 16. Juli 1772 durch kirchliche Ermittler_innen Anklage gegen mehrere Frauen und Männer erhoben wurde.45 Grundlage für die Klage waren zwei Dekrete des Heiligen Synods.46 Das erste aus dem Jahre 1722 untersagte selbstzugefügtes Leiden infolge krimineller Handlungen sowohl als politische Dissidenz, als auch als »häretische« Praxis. Das zweite Dekret aus dem Jahre 1756 stellte den Versuch von »Häretiker_innen«, sich zu verstecken, unter Strafe. In ihren Anweisungen hatte die Zarin Oberst Wolkow jedoch explizit angeordnet, dass »Sie sich auch um die Klassifizierung [zu bemühen haben], dass Zivilvergehen angegeben werden.«47 Über das Urteil ist bekannt, dass drei Männer zu Knutenschlägen in ihrer Heimatstadt und anschließender Verbannung bzw. harter Arbeit verurteilt wurden, weil sie Kastrationen durchgeführt hatten. Die übrigen Angeklagten wurden freigelassen und unter Aufsicht ihrer Grundherren oder Priester gestellt.48 Über die juristischen Aspekte der Verhandlungen sowie des Urteils ist weder bei Grass noch bei Engelstein kaum mehr zu erfahren. Die gebotenen 41 Grass 1914, 13–15, Anm. 2. 42 Grass hat lediglich die deutsche Übersetzung dieser Anordnung abgedruckt, in der von einer »Häresie« die Rede ist. In der Regel scheinen die »Sekten«, die sich der Übernahme der Liturgiereformen im 17. Jahrhundert verweigerten, aus der Sicht der Obrigkeit zu den »Schismatikern« (Raskolniki) gezählt worden zu sein, während die »Abweichler« die »offiziellen« Repräsentant_innen der Kirche als »Häretiker« (Eretikami) bezichtigten. Vgl. Schneidegger 1998, 178.192. 43 Vgl. Engelstein 1999, 24–30. 44 Vgl. Grass 1914, VI–V, Anm. 1. 45 Vgl. Engelstein 1999, 29–30.242, Anm. 52. 46 Es handelt sich um das oberste Verwaltungsorgan der russisch-orthodoxen Kirche, das 1721 unter Peter I. eingerichtet war. Vgl. Weber 1989, 153, Anm. 9. Die Anmerkung stammt vom Herausgeber der Edition, nicht von Weber selbst. 47 S. o., Anm. 47. 48 Vgl. Engelstein 1999, 30.

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Informationen lassen die Frage unbeantwortet, worin der Unterschied der angewandten Sanktionen zwischen einem religiösen und einem zivilen Vergehen bestand. Von Interesse ist aber, dass die Frauen der kastrierten Männer darum gebeten haben sollen, mit anderen Personen in die Ehe treten zu dürfen. Für die Aufhebung der Ehe waren die lokalen Behörden der orthodoxen Kirche zuständig.49 Es scheint sich demnach eher um eine komplexe Verschachtelung religiöser und politischer Zuständigkeiten, denn um eine klar erkennbare Trennung zu handeln. Aufschlussreich ist der Fall des Gründers der »Sekte«, Kondratii Selivanov. Er wurde in den Glaubensvorstellungen der Skopz_innen in Personalunion mit Zar Peter III. als Reinkarnation von Christus betrachtet. 1775 befand er sich wegen der Gesetzeslage auf der Flucht. Schließlich wurde er gefasst und nach Sibirien verbannt. 1802 wurde er unter Alexander I. begnadigt und es wurde ihm gestattet, sich in St. Petersburg niederzulassen, wo er seine Lehren auch unter Adligen verbreitet haben soll, bevor er auf Anordnung des Zaren 1820 zum Arrest im Kloster verurteilt wurde. Dort soll er 1832 verstorben sein.50 Die Hoffnung von Katharina der Großen, dass sich durch ihre Anweisungen »eine solche Unsinnigkeit [nicht] in den unverständigen Köpfen festsetzen«51 und der Gedanke unter den Leuten verschwinden werde, hat sich nicht erfüllt. Dies dokumentiert die Fülle der Prozesse gegen Skopz_innen aus weiten Teilen Russlands, die seither bis in sowjetische Zeit hinein geführt wurden.52 Die rechtlichen Grundlagen waren jedoch keineswegs statisch, sondern variierten im Laufe der Zeit. Während die Regierungszeit Alexanders I. in der Forschung als relativ liberal gegenüber religiöser Devianz charakterisiert wird, sodass auch von einem »Goldenen Zeitalter« für die Ausbreitung der »Schiffe«53 der Skopz_innen gesprochen wird, verschärfte sich die Gesetzgebung unter Nikolas I.54 Das erste Dekret, das wohl explizit gegen Skopz_innen erlassen wurde, stellte seit 1816 Selbstkastration unter Strafe, wurde jedoch nicht rückwirkend ange49 Vgl. Grass 1914, 46. Aus Webers Ausführungen geht hervor, dass im Bereich der Ehe politische und religiöse Institutionen miteinander verschränkt waren, die Rechtslage aber hinsichtlich Apostasie und konfessionellen Mischehen beständig im Wandel war. Vgl. Weber 1989, 327– 330. 50 Vgl. Engelstein 1999, 32–33, 37. 51 Engelstein 1999, 32–33, 37; vgl. Grass 1914, 15. 52 Die bei Grass aufgearbeiteten Akten bezeugen Prozesse in Ingermanland, Riga, Moskau, Orel, Tula, Tambow, Kaluga, Smolensk, Mohilew, Kursk, Cherson, Rumänien, Rjasan, Simbirsk, Kaukasien, Wladimir, Kostroma, Nischni-Nowograd und St. Petersburg. Vgl. Grass 1914, 338–448. 53 Als Schiffe werden die Gemeinden der Chlüst_innen und Skopz_innen bezeichnet. Vgl. Engelstein 1999, 14. Es handelt sich wohl um eine Eigenbezeichnung der Skopz_innen und nicht um eine Fremdzuschreibung. Vgl. Engelstein 1999, 164. 54 Vgl. Engelstein 1999, 46–47.

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wandt.55 Genitalverstümmelungen bei Frauen unter den Skopz_innen sind erst ab 1817 dokumentiert, wobei unklar ist, ob sie zuvor im Zuge von Prozessen schlichtweg nicht untersucht worden waren oder es sich um ein »neues« Element in der Glaubenspraxis handelte.56 Von jemand anderem »kastriert« worden zu sein, stellte grundlegend kein Verbrechen dar. Während Männer bis in diese Zeit entweder zum Militärdienst oder bei Untauglichkeit zur Verbannung abgeurteilt wurden,57 bestand die Strafe für Frauen in der Verschickung in die Textilfabriken Sibiriens.58 Unmündige Knaben konnten ebenfalls als Trommler zum Militärdienst verurteilt werden. Es gab demnach Möglichkeiten, durch Beschuldigung anderer oder Angabe, die Kastration habe vor 1816 stattgefunden, einer Verurteilung zu entgehen.59 1832, unter der Herrschaft Nikolas I., wurden in das Strafgesetzbuch Statuten übernommen, die »Häresie« als Straftat ahndeten, jedoch wurden die Regularien geheim gehalten.60 Zwar wurden 1863 die Körperstrafen abgeschafft, doch sollten die religiösen Deviant_innen, darunter Chlüst_innen und Skopz_innen, weiterhin hart bestraft werden.61 Generell implizierte eine Verurteilung für Skopz_innen auch den Verlust des Bürgerstatus. 1864 wurden religiöse Deviant_innen im Zuge einer Justizreform unter Alexander II. auf Grundlage allgemeingültiger Gesetze und nicht mehr durch »geheime Rundschreiben, Anordnungen und Befehle«62 verurteilt. In der Rechtssprechung wurde »[d]ie Zulassung der Gründung von schismatischen und sektiererischen Schulen […] immer wieder angeregt, aber nie effektuiert […].«63 Derartige Zugeständnisse hatte es jedoch für die »Kastratensekte« nicht gegeben. Entsprechend eines Senatsbeschlusses wurde 1870 verfügt, 55 Vgl. Engelstein 1999, 48. 56 Vgl. Grass 1914, 715–717. Zu den dokumentierten Verletzungen/Initiationsmalen bei Frauen zählen das Abtragen der Klitoris, der inneren und äußeren Schamlippen sowie der Brustwarzen (486–487). Bei Männern wird das Abtragen der Hoden »das kleine Siegel« genannt. Das »zweite Siegel« besteht in der Entfernung des Penis (717). Bei Männern wird davon ausgegangen, dass es sich um Initiationsgrade handelt. Bezüglich Frauen bleiben die Quellen dahingehend unklar (721). 1834 ist zuletzt das Abbrennen der Geschlechtsteile belegt. Danach verwendete man Schneidinstrumente. 57 Vgl. Grass 1914, 96, 423, 426. 58 Vgl. Engelstein 1999, 48. 59 Grass erwähnt ein Gnadenmanifest vom 30. August 1814, demnach alle Verbrechen außer Totschlag, Raub und Plünderung nach zehn Jahren als verjährt galten. Auf dieser Rechtsgrundlage wurden 1822 kastrierte Angeklagte freigesprochen. Vgl., Grass 1914, 347. 60 Vgl. Engelstein 1999, 49. Bei Weber findet sich der Verweis auf »ein entscheidendes antisektiererisches Gesetz, die Allerhöchste Verfügung vom 13. Februar 1837«, das nicht in die Gesetzessammlung aufgenommen worden war. Die Umsetzung schien recht willkürlich. Vgl. Weber 1989, 329–330. 61 Vgl. Engelstein 1999, 49–51. 62 Engelstein 1999, 53. [Ü. d. V.]. 63 Weber 1989, 331. (Hervorhebung im Original) Gemeint sind Schulen als Bildungsinstitutionen.

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dass das »Entfernen der Genitalien an sich keine illegale Handlung darstelle, ausgenommen im Kontext des Fanatismus, der durch die Lehre der Skopzen verbreitet wird.«64 Erst um 1880 wurde Skopz_innen die Wiedereinschreibung in den Bauernstand als Bürgerstatus nach Verbringung einer bestimmten Haftzeit gewährt und um 1905, als die Regierung das Prinzip religiöser Toleranz verkündet hatte, auch die Möglichkeit der Rücksiedlung aus der Verbannung, wobei die Umsetzung der Gesetze häufig durch lokale Behörden verhindert wurde.65 Zusätzlich war bis 1917 ein Dekret in Kraft, das den Vermerk der Kastration im Pass vorschrieb.66 Neben diesen von der zaristischen Obrigkeit gegebenen Anordnungen und Gesetzen, verfügten die Provinzautoritäten über jeweils unterschiedliche »Präventionsmaßnahmen«, wie öffentliche Bloßstellung der männlichen kastrierten Skopzen in Frauenkleidung.67 In einem 1807 verfassten und bald darauf weit bekannten Memorandum hatte bereits Alexander I. »die Skopzen als ›Feinde der Menschheit, moralisch Pervertierte sowie Übertreter der religiösen und bürgerlichen Gesetze‹« beschrieben.68 Derartige Meinungsäußerungen begünstigten wohl die staatliche Repression, sind aber hinsichtlich ihrer sozialen Wirkung von Verordnungen und Gesetzen zu unterscheiden, wobei nach Weber des Weiteren zwischen geltendem Recht und geltender Praxis zu differenzieren wäre.69 Während eine Reihe von »Sekten« spätestens ab 1905 den Status Religionsgemeinschaft erhielt, die Lage für »Duchoborzen, Judaisten, Chlysten«70 nach wie vor unsicher war, blieben die Skopz_innen weiterhin verboten. Die Gründe für die Anklagen changierten zwischen politischen und religiösen Motiven. Der vermeintlich freiwillige Akt der Kastration stellte dabei einen entscheidenden Faktor dar, jedoch in der Regel im Zusammenspiel mit den entsprechenden Glaubensvorstellungen. In einem 1910 in Kharkov eingeleiteten Prozess wurden die Angeklagten zuerst aufgrund der ärztlichen Diagnose einer »sexuellen Massenpsychose« freigesprochen. Der medizinische Gutachter bekundete, dass es sich in dem Fall nicht um ein Religionsverbrechen, sondern um 64 Weber 1989, 51. Scheinbar war Skopze_in im Strafgesetzbuch ein eigenständiger Rechtsbegriff, siehe: Gretener 1882, 22, Anm. *. 65 Vgl. Engelstein 1999, 53–54. 66 Vgl. Engelstein 1999, 128. Es wäre zu überprüfen, wann dieses Dekret in Kraft trat und ob es auch für Frauen mit Genitalverletzungen bindend war. Ab wann Skopz_innen das Recht auf einen Pass erhielten, ist unklar. Der Herausgeber der Gesamtausgabe Webers schreibt in einer Anmerkung, dass mit einem Gesetz aus dem Jahre 1883 »den Altgläubigen und Sektanten (mit Ausnahme der Skopcen) das Recht auf einen Paß, auf Betreiben eines und auf die Bekleidung einiger Ämter […]« gegeben wurde. Vgl. Weber 1989, 327, Anm. 30. 67 Vgl. Engelstein 1999, 55. 68 Vgl. Engelstein 1999, 48. [Ü. d. V.] 69 Vgl. Weber 1989, 341–342. 70 Weber 1989, 335.

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eine pathologische Störung handele. Die Verhandlungen wurden auf Geheiß des Senats 1911 neu aufgerollt. Die Begründung des Urteils lautete 1913 auf politische Devianz. Stein des Anstoßes scheint nicht die Kastration an sich, auch nicht die unorthodoxe Glaubenspraxis gewesen zu sein, sondern ein bei Hausdurchsuchungen gefundenes Schriftgut, das aus Sicht der Autoritäten Pläne der Skopz_innen belegte, den Thron des regierenden Zaren übernehmen zu wollen.71 Aus der Perspektive der Obrigkeit mag sich dies aus der historischen Erfahrung legitimiert haben, denn im Laufe der Geschichte hatte es im Zarenreich wiederholt Bauernaufstände gegeben, deren Führer_innen sich als Reinkarnationen des »wahren« Zaren ausgaben und damit die geltende soziale Ordnung infrage stellten.72 Anstatt die Kastration bei Männern sowie die »Verstümmelung« der weiblichen Geschlechtsteile als substantielles Merkmal für die Verfolgung zu betrachten, scheint es lohnend, die Quellen über die Skopz_innen sowie die Gesetzgebungen innerhalb ihres jeweiligen sozio-historischen Kontextes unter dem Gesichtspunkt multifaktorieller sozialer (religiöser, politischer sowie medizinischer/pathologischer) Devianz neu zu betrachten.73 Das entscheidende Merkmal konnte sich, wie Engelstein andeutet, im Laufe der Zeit wandeln: Die Unterscheidung zwischen Glaube und Praxis, auf die sich unter Alexanders Regierung berufen wurde, ist dünn geworden. Mitgliedschaft in einer Sekte, die »wilden Zelotismus« und »abscheuliche sowie unnatürliche Handlungen« anpreist, wurden zu Begründungen für einen Schuldspruch an und für sich. Ein unkastrierter Gläubiger, der niemals jemanden anderen kastriert hatte, beging alleine dadurch ein Verbrechen, dass er die Praxis befürwortete.74

Es scheint aber nicht alleine um die Praxis gegangen zu sein, sondern auch um die von der Obrigkeit als »wilden Zelotismus« gebrandmarkten Glaubensvorstellungen. Die Verfolgung der Skopz_innen zeigt, wie eng politische oder religiöse Motivation miteinander vernetzt waren: Zum einen eignete sich der Staat 1832 mit der Übernahme von »Häresie« ins Strafgesetzbuch sukzessive eine Entscheidungskompetenz an, die zuvor in den Händen der orthodoxen Kirche lag. Zum anderen waren aber bis 1905 Strafgesetze gegen die Skopz_innen in Kraft, die eine »Überweisung der Häretiker an die Kirchenbehörde zur Verwarnung, Belehrung und Behandlung nach kirchlichen Regeln« vorgesehen hatten.75 71 Vgl. Engelstein 1999, 117–118; Grass 1914, 563, Anm. 1.987. 72 Vgl. Grass 1914, 21–22; Onasch 1993, 95–96. 73 Eine relativ junge Forschungsperspektive, die der Klassifikation normabweichender religiöser Phänomene im Spannungsverhältnis zwischen »religiöser Devianz« und »religiösem Wahn« um 1900 nachgehen, liefern Greisiger/Schüler/van der Haven 2017. 74 Engelstein 1999, 52. [Ü. d. V.]. 75 Vgl. Weber 1989, 332–333. Um auch einer Antwort auf die Frage näher zu kommen, welche Gesetze im Endeffekt angewandt und umgesetzt wurden, müssten die einzelnen Anklage-

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Die Zuschreibung männlicher und weiblicher Rollenbilder bei den Skopz_innen Angesichts der Unsichtbarkeit der Genitalien im Alltag76 stellt sich die Frage, woran die Obrigkeit die Devianz der Skopz_innen festzumachen suchte. Einen Ausgangspunkt bildet hierbei der Körper, der, als Symbolsystem betrachtet, auf die Zugehörigkeit zu spezifischen Gemeinschaften verweist.77 Im Bereich des Symbolischen gibt es jedoch keine »Wahrheit«, sondern »eine Vielzahl von Wahrnehmungen ihm bezüglich, entsprechend der Blickwinkel, Erwartungen sowie der sozialen und kulturellen Zugehörigkeiten.«78 Der Körper sowie seine Attribute (z. B. Schmuck) als Symbolsystem betrachtet macht erkenntlich, dass die Akteur_innen in der Art und Weise ihrer Bewegungen sowie der äußeren Erscheinung sozialen Werten Ausdruck verleihen. Diese »Botschaften« werden von der sozialen Umwelt (z. B. dem Staat) wahrgenommen und gemäß der von ihr gesetzten Normen als konform oder nonkonform interpretiert. Insofern beispielsweise ein Staat danach trachtet, »innere Feinde« »objektiv« zu erkennen, besteht die Gefahr, dass nicht mehr nach dem intrinsischen Willen der einzelnen Akteur_innen gefragt wird. Es wird suggeriert, dass die Analyse des körperlichen Symbolsystems es »objektiv« erlaube, den vermeintlichen »Feind« zu erkennen, von der äußeren Erscheinung auf das Innere zu schließen. Die Gerichtsprotokolle sowie die Beschreibungen bei Kel’siev, Nadezhdin und Volkov zeugen von Versuchen, die Devianz der Skopz_innen am Körper abzulesen. In den Akten findet sich dokumentiert, dass Mädchen und Frauen keine Ohrringe tragen und das Haar mit schwarzen Kopftüchern verhüllen, die sie unter dem Kinn zusammenbinden.79 Nadezhdin zufolge seien sowohl die weiblichen wie auch männlichen Mitglieder der »Sekte« am Verhalten, an der Haut und an dem Schrecken, den sie bei den Betrachtenden auslösen, erkennbar.80 Kel’siev, dessen Schrift intendierte, die Skopz_innen vom »Stigma« Staatsfeind freizusprechen, hatte bezüglich der Kleidung formuliert, dass »gefleckte Hemden, Westen und Tücher nicht ihr Dogma widerspiegeln; diese sind kein Zeichen ihres Glaubens. Das ist ihre Mode.«81 Volkov hatte in seine Arbeit eine Ablichtung von vier männlichen Skopzen aufgenommen, um zu zeigen, wie sich die Skopzen

76 77 78 79 80 81

schriften und Urteilsbegründungen, sofern dokumentiert und erhalten, aufgearbeitet werden. Vgl. Gildemeister/Hericks 2012, 290–291. Vgl. Le Breton 2015, 15. Le Breton 2015, 14. Vgl. Grass 1914, 752. Vgl. Engelstein 1999, 60; Grass 1914, 737. Interessanterweise unterschlägt Engelstein im Gegensatz zu Grass, dass Nadezhdin diese Aussage auch über Frauen getroffen hat. Engelstein 1999, 74. [Ü. d. V.].

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in ihrem Äußeren an die moderne kommerzielle Welt anpassen.82 Lediglich ein Mann würde sich durch ein weißes, über seinen Oberschenkel gelegtes Tuch als Mitglied der »Sekte« verraten. Die Reformen des Patriarchen Nikon um 1655, die innerhalb der orthodoxen Kirche ein Schisma bedingten, werden in der Forschung als Anfangspunkt für die Heterogenisierung des religiösen Feldes angesetzt.83 Änderungen in der Kleiderordnung sowie Bartvorschriften wurden von den Gegner_innen der Neuerung als Sünde und Verkehrung der natürlichen Ordnung angesehen.84 Bartlosigkeit sowie neu eingeführte Kopfbedeckungen für Kleriker galten unter den Verweigerern der Reformen als »Verweiblichung«. Insofern ist die Wahrnehmung, ob es sich bei der Kleidung der Skopzen um »Mode« oder eine deviante religiöse Botschaft handelt, nicht zuletzt vom Interesse der Betrachtenden geleitet. Deviantes Verhalten wird jedoch nicht nur anhand der symbolischen Repräsentation des Körpers abgeleitet, sondern auch anhand der gruppenspezifischen Interaktionsmuster. Bezüglich der Chlüst_innen, aus denen sich die Skopz_innen abgespalten haben, hat Robert Hertz folgende Beobachtung formuliert: Wenn vor allem die Frauen mehr noch als die Männer anfällig für die Propaganda der Chlüsten sind, so liegt dies daran, dass der Kontrast zwischen der demütigen Stellung, zu der die Kirche sie verdammt und die unendlichen Hoffnungen, die ihnen die Sekte bietet, beeindruckend ist. […] Mit seinem ungestümen Hauch stürzt der Heilige Geist die legalen Schranken ein, die Unterschiede zwischen dem Rang und den Geschlechtern.85

Während »die Annahme der Gleichheit der fleischlichen Natur beider Geschlechter und der gleichen Möglichkeit der Ekstase [bei den Chlüst_innen] für beide zu einer Art Gleichberechtigung geführt hat, die den Verkehr zwischen ihnen ganz ungezwungen macht«86, weisen die Berichte über die Skopz_innen darauf hin, dass die Differenz der Geschlechter wieder stark betont wurde. Die Konventionen der Geschlechtertrennung wurden bei den Chlüst_innen im Vollzug des Rituals aufgehoben.87 Womöglich hat dieser Normbruch die Imagination der orthodoxen »Sektengegner_innen« beflügelt, die den Gläubigen sexuelle Unzucht bei ihren Orgien nachsagten. Für dieses Narrativ finden sich jedoch keine verifizierenden Belege.88 Auffällig ist demnach, dass die Vermischung der Geschlechter bei den Skopz_innen wieder aufgehoben und sowohl im Alltag als auch im Ritual eine strikte Trennung eingehalten wurde. In den li82 83 84 85 86 87 88

Vgl. Engelstein 1999, 211. Vgl. Engelstein 1999, 11–12; Hertz, 1928, 179. Vgl. Schneidegger 1998, 188. Hertz 1928, 186. [Ü. d. V.]. Grass 1914, 737–738. Vgl. Hertz 1928, 184. Vgl. Hertz 1928, 185; Comtet 1997, 192–193.

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turgischen Schriften, die den Mythos für die rituelle Praxis bereitzuhalten scheinen, lautet es: »Entfernet euch von der bösen Wollust und habt nicht mit den Schwestern und die Schwestern nicht mit den Brüdern müssige Gespräche und Gelächter, wovon bereits Wollust entsteht.«89 Selbst Mütter sollen jeglichen körperlichen Kontakt zu ihren Söhnen vermieden haben.90 Seit 1820 liegen Berichte vor, demnach Männer und Frauen bei ihren Ritualen getrennt tanzten.91 Obgleich die »Kastrationen« den Leib beider Geschlechter im »ursprünglichen ungeschlechtlichen Zustand wiederherstellen soll« und die »Verschnittenen […] zu unschuldigen Kindern«92 wiedergeboren werden, galten Frauen als mit Sünde befleckt. Das blutige Initiationsritual scheint demzufolge nicht dazu gedient zu haben, die Geschlechterdifferenzen aufzulösen, wie eine der Anschuldigungen seitens der Obrigkeit lautete.93 Die körperliche Transformation, die in einen Zustand spiritueller Reinheit versetzte, hat im Unterschied zu den Chlüst_innen wieder eine Trennung der männlichen und weiblichen Sphären etabliert. Auf eine strikte Geschlechtertrennung deutet auch die Selbstinszenierung von Skopz_innen in Gruppenporträts hin.94

Überschreitung kollektiver Normen als Grundlegung »neuer« sozialer Normen Die Skopz_innen bildeten eine religiöse Gemeinschaft, die sowohl dem Staat als auch der Kirche als deviant galt. Obgleich ihre Existenz nicht bestritten werden kann, erweist ein Blick in die Geschichte, dass die Informationen, aus denen sich unser Bild zusammenspeist, vorwiegend von externen Zuschreibungen stammen. Die Quellen, die über die Verfolgung der Skopz_innen zeugen und die Schriften der »Sektengegner_innen« lassen erkennen, dass die Legitimation für die Verfolgung von Seiten des Staates wandelbar war. Die Kastration stellt hierbei einen, 89 90 91 92 93 94

Grass 1904, 7. Vgl. Grass 1914, 736–737. Vgl. Grass 1914, 738. Grass 1914, 692. Vgl. Engelstein 1999, 94. Inwiefern das soziale Merkmal eines »Berührungstabus« zwischen Männern und Frauen das Stereotyp homosexueller Unzucht unter den Skopz_innen generierte, wäre näher zu untersuchen. Vgl. Grass 1914, 725–726. Grass merkte an, dass dieser Topos vor allem von »Sektengegner_innen« formuliert wurde, während sich für nachweisbare »Unzucht« unter Skopz_innen kaum Belege in den Gerichtsakten finden lassen.

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jedoch nicht den einzigen Faktor dar. Der Nachweis, dass der Akt der »Genitalverstümmelung« in Zusammenhang mit den religiös und/oder politisch devianten Vorstellungen steht, war in der Regel die notwendige Bedingung für eine Verurteilung. Auffällig ist, dass die gegen diese religiöse Gemeinschaft kursierenden Topoi sexueller Amoralität, Kindesmisshandlung, Gefährdung der religiösen und politischen öffentlichen Ordnung und der finanziellen Motivationen ihres Handelns, sich weitestgehend mit jenen Vorurteilen decken, die auch in mitteleuropäischen »Sektendiskursen« bis heute greifbar sind.95 Obgleich angenommen werden könnte, dass die physischen Eingriffe in die Geschlechtsorgane auch zu einer Transformation der binären Geschlechtertrennung zwischen Männern und Frauen führen, deuten die verfügbaren Informationen darauf hin, dass die Genderrollen strikt voneinander abgegrenzt wurden. Dieser Umstand könnte sich durch die Verwischung der Geschlechtskategorien innerhalb der Chlüstengemeinden erklären, von denen sich die Skopz_innen abgespalten und abgegrenzt hatten. Eine »Kastration«, also eine körperliche Veränderung der Geschlechtsteile, bedeutet also, wie der Fall der Skopz_innen zeigt, nicht automatisch, dass auch eine Transformation binärer Gendervorstellungen vonstattengehen muss. Daraus ist zu schließen, dass Geschlecht in diesem Fall nicht nur über das Genital definiert, sondern weit komplexer im Zusammenspiel von Körper, seiner symbolischen Repräsentation (Kleidung, Haartracht und Schmuck) sowie von religiösen Weltanschauungen geformt wurde. Die Glaubensinhalte bildeten dabei mit der Idee einer religiösen Perfektionierung des Körpers die Grundlage zur »Kastration«, die jedoch das Konzept von »Mannsein« nicht tangierte. Ebenso wenig führte die Abtragung der weiblichen Geschlechtsorgane bei Frauen zu einer vollständigen Negation ihrer Weiblichkeit. Eher scheint dieses »Opfer« die ihnen im Kontext der »Sekte« zugeschriebene Fähigkeit der Prophetie erst voll zur Entfaltung gebracht zu haben.96 Die Transformationen der Geschlechtsteile wurden demzufolge innerhalb der religiösen Gemeinde mit Charisma assoziiert; sie symbolisierten hierarchische Positionen und waren Ausdruck der Heilserwartung, wie der Fall der Skopz_innen prägnant zeigt. Unter Außenstehenden dagegen konnte der besondere Umgang mit dem Körper und mit Gender unter Skopz_innen ein Grund für die Ausgrenzung sein und sogar Verfolgung bewirken. In beiden Positionen wird Geschlecht mit Machtprozessen gekoppelt: Auf der Ebene der Gemeinschaft mit der Konstruktion einer binären Geschlechtsordnung und einer Hierarchie von »Reinen« (kastriert) und »Unreinen« (nichtkastriert); aus der Sicht der Verfolgenden wird eine Differenz zwischen denen, die die Genitalien verändern und denen, die es nicht tun, gezogen. Die Über95 Vgl. Wustmann/Neef 2011, 56, 65–68, 71, 73, 76. 96 Vgl. Grass 1966, 865–866.

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schreitung eines als normativ erachteten Körperbildes erweist sich aus der Sicht der Verfolgenden also als eine Basis für Devianzzuschreibung.

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Manuel Stadler

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Sektion 4: Intersektionalität

Benedikt Bauer / Kristina Göthling-Zimpel

Jede_r nur ein Kreuz!? Intersektionalität, Gender und Religion

Aber die Frau entfernte den großen Deckel des Kruges, leerte ihn aus und sann den Menschen schmerzliche Leiden. Einzig die Hoffnung verblieb im unzerbrechlichen Hause drinnen untern den Lippen des Kruges, und nicht aus der Öffnung flog sie heraus; sie hatte zuvor den Deckel des Kruges zugeworfen nach Willen des Zeus des Wolkenversammlers. Sonst aber zahllose Leiden entschwirrten unter die Menschen.1

Pandora öffnet ihre Büchse – von Schirnding übersetzt (πίθος) zurecht mit »Krug«, ikonographisch ist Pandora jedoch klassischerweise mit einer Büchse abgebildet – und siehe da: »zahllose Leiden entschwirrten unter die Menschen«. Das vom Text produzierte Bild der Öffnung des Kruges und der Freisetzung von Leid in die Welt vermag in den Leser_innen die Vorstellung von einer chaotischen Ausschüttung des Übels, den hin und her schwirrenden, sich gegenseitig überlagernden und wieder trennenden, sich unüberschaubar in der Welt verbreitenden einzelnen partiellen Problemlagen zu evozieren. Die Leiden überschneiden sich also in dem Bild des Entschwirrens kurzzeitig und überlagern einander – sie bilden Intersektionen. Das Konzept der Intersektionalität, dem sich die folgenden Beiträge widmen, geht zurück auf die Überlegungen der Juristin Kimberlé Crenshaw, die von unterschiedlichen »intersections« der Diskriminierung spricht.2 Das von ihr bemühte Bild der Kreuzung (intersection) drückt aus, dass Menschen nicht nur einfach diskriminiert bzw. benachteiligt sein können, indem sie zum Beispiel der Kategorie »Frau« angehören, sondern auch andere Benachteiligungskategorien, wie race oder class hinzutreten können. Wie viele Differenzkategorien aufgemacht werden, ist jedoch im wissenschaftlichen Diskurs umstritten. Helma Lutz und Norbert Wenning gehen von nicht weniger als 14 Differenzlinien aus: Gender, Sexualität, »Rasse« oder Hautfarbe, Ethnizität, nationale Zugehörigkeit, Klasse, Kultur, Religion, Gesundheit, Alter, Sesshaftigkeit, Besitz, geographische Position und gesellschaftlicher Entwicklungsstand.3 Diese werden jedoch nicht einfach 1 von Schirnding 2012, 89–91. 2 Vgl. Crenshaw 1997. 3 Vgl. Lutz/Wenning 2001.

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zusammenaddiert, sondern treffen sich an Kreuzungspunkten und interagieren jeweils spezifisch. Möchte man zum Beispiel die Figur der Pandora intersektional lesen, könnte sich dies in etwa wie folgt gestalten: Die Informationen, die der Text zu Pandora gibt, sind spärlich. Pandora ist hier primär »Frau« – die Kategorie Frau ist textimmanent die prominenteste Charakterisierung der Figur, die Annahme der Kongruenz von sex, Gender und Sexualität scheint anhand der heterosexuellen Matrix, innerhalb derer Hesiod schreibt, gegeben. Über ihre Hautfarbe, Ethnizität, nationale Zugehörigkeit, Gesundheit, Kultur, Sesshaftigkeit und geographische Position – arbeitet man sich an Lutz und Wennings Differenzlinien ab – teilt der Text von Hesiod nichts Explizites mit, was jedoch nicht umgekehrt bedeutet, dass er keine Informationen hierzu kommunizieren würde. So ist vermutlich anzunehmen, dass Hesiod Pandora in denselben Kulturraum imaginiert, in dem er auch selbst verwurzelt ist, ihr aufgrund fehlender Zuschreibung von Fremdheit die gleiche oder ähnliche Ethnizität, Hautfarbe, nationale Zugehörigkeit und grobe geographische Position wie sich selbst zuschreibt – diese Informationen sind wohl aber für Hesiod irrelevant, da sie nicht in das Spektrum seiner intendierten Aussageabsicht fallen. Mit anderen Worten: Von Hesiods Lebenswelt kann auf die Pandoras geschlossen werden. Was an einem Beispiel der griechischen Mythologie gelingt, ist für heutige gesellschaftliche Verhältnisse noch leichter möglich: Ein intersektionales Zusammenspiel und das Ziehen einer Verbindungslinie von einer Lebenswelt zur anderen führt zu verdichteten kulturellen Rassismen, Sexismen und weiteren Diskriminierungen. Yasemin Shooman hat beispielsweise den antimuslimischen Rassismus direkt auf die Verschränkung, die Überkreuzung von Kultur, Religion, Ethnizität und Geschlecht zurückgeführt.4 Intersektionalität ist demnach nicht nur zur Beschreibung aus der individuellen Sicht ein sinnvolles Konzept, sondern auch als Instrument der Zuschreibung von außen. Rassismus ist genauso wenig einfach Rassismus wie Sexismus: Es bilden sich spezifische Unterkategorien die intersektional benachteiligte Personen zum Opfer haben, wie u. a. Antisemitismus. Menschen werden so zu dem Anderen, sie werden verandert – ganz in Anlehnung an die Literaturwissenschaftlerin und postkoloniale Feministin Gayatri Chakravorty Spivak. Spivak prägte den Begriff des Otherings – eine Methode der Privilegierten, Marginalisierte aus ihren Diskursen auszuschließen.5 Mit den Subaltern Studies prägt Spivak klar den Ansatz der Postcolonial Studies, dem zum Teil auch die folgenden Beiträge verhaftet sind. Mittels dieses Ansatzes werden die intersektional Benachteiligten erst greif- und sichtbar – und im besten Fall selbst aktiver. 4 Vgl. Shooman 2012. 5 Vgl. Spivak 2007.

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Religion ist nicht nur eine von 14 Differenzlinien, Lutz und Wenning folgend, sondern als Mittel des Othering, beispielsweise im kulturellen Rassismus, eine bestimmende Größe. Historische Dichotomien wie »Häresie« und »Orthodoxie«, verengte Sichtweisen auf »den Islam«, Blackness-Diskurse etc. rekurrieren u. a. oder maßgeblich auf ein spezifisches Religionsverständnis, das zur Norm erhoben und als diese akzeptiert wurde. Abweichler_innen glauben nicht bloß das Falsche, nein, sie weisen meist noch andere (angebliche) Merkmale auf, die sich in komplexen Stereotypen verdichten – wie abweichendes soziales Verhalten. Verstöße gegen als Norm festgelegte Gesetze, daraus abgeleitete Geschlechterverhältnisse und daran wiederum rückgebundene Verhaltensweisen, Kleiderordnung etc. können in der vermeintlichen Wahrnehmung eines abweichenden Sozialverhaltens inkludiert sein. Die Intersektionalitätsforschung zu Religion(en) ist hierbei viel mehr als nur eine Ergänzung zu bestehenden feministischen Forschungen und Untersuchungen der Gender Studies. Sie vermag Muster der Konstitution von Inklusion und Exklusion anhand unterschiedlicher Differenzlinien – eben nicht nur sex oder Gender – von den Ursprüngen religiöser Traditionen und ihrer Aushandlungen6 bis hin zu rezenten Diskursen um z. B. Migration und Religion aufzudecken. Die Geschichte der Religion(en) zeigt sich unter dieser Perspektive als eine Geschichte der Macht bzw. besser als eine Geschichte der Mächte, denn: Die religiösen Machtdiskurse, die über die Differenzlinien ausgetragen werden, bilden wiederum eigene Intersektionen mit außerreligiösen Machtdiskursen anderer Systeme wie dem Staat, der Politik, der Bildung oder der Wirtschaft. Religionsgeschichtliche bzw. religionswissenschaftliche Intersektionalitätsforschung kann also Differenzlinien und deren Aushandlungen auf mehreren Ebenen betreiben. Beispiele hierfür aus der Religionsgeschichte sind vielfältig: Scheinen die Geschehnisse der Reformation in Deutschland vorranging als religiöse Machtdiskurse – im Sinne einer Aushandlung der Wahrheit der biblischen Aussagen, der Dogmatik sowie der Religionspragmatik – treten hier jedoch auch noch andere Faktoren hinzu. Die Oeconomia- oder »Hausväterliteratur« zum Beispiel, die 1529 mit Justus Menius, einem protestantischen Pfarrer, ihren ersten Vertreter fand, regelt nicht nur konfessionelle, sondern auch familiäre, geschlechtsund genderspezifische Belange – sie reglementiert den gesamten Hausstand als soziales Gefüge und Nukleus sowie als Analogie des frühneuzeitlichen Staates. Hierbei werden dezidiert konfessionelle Identitäten, soziales Verhalten und Genderkonstruktionen konstituiert und im selben Atemzug Ausschlüsse produziert. In Auseinandersetzung mit dem Täufertum greifen reformatorische Vertreter – vornehmlich im Maskulinum – zudem in heterodoxe Religiosität und vermeintlich überbordende und deviante Sexualitäten ein, interagieren hierbei 6 Für die drei abrahamitischen Religionen vgl. z. B. Eisen 2013.

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auch mit landesherrlichen Obrigkeiten, um soziale und geographische Ausschlüsse zu erzielen. Letztendlich steht auch der Dreißigjährige Krieg, der eben nicht nur ein Konfessionskrieg war, paradigmatisch für eine machtspezifische Differenzlinienziehung auf mehreren Ebenen – es greifen mindestens die Kategorien Religion, Besitz, geographische Position und »nationale« Zugehörigkeit ineinander, bei genauerer Untersuchung z. B. von Feldpredigten, Flugschriften u. a. z. T. aber auch Gender, sex und Kultur. Es ließen sich weitere Beispiel aus gegenwärtigen Phänomenen finden, wie zum Beispiel die Diskurse um migrierte Männlichkeit und ihre vermeintliche Gewaltbereitschaft oder Abweichungen von »westlichen« sexualmoralischen Vorstellungen und ihre Einbettung in dominante Repräsentationsregime7 – die Intersektionen liegen hierbei auf der Hand. Die vorliegenden Beiträge nähern sich dem Thema »Religion« aus mehr oder weniger offengelegter intersektionaler Perspektive – benennen zwar nicht alle Beiträge Intersektionalität theoretisch und methodologisch klar, sind sie nichtsdestotrotz diesem Ansatz verhaftet. Jessica Albrecht weist in ihrem gelungenen Aufsatz auf die Verflechtung von Körper, Religion und Normen hin. Albrecht zeigt die Funktion von Mode als kulturelle Praxis auf, die in Relation zu Individuum und Gesellschaft gelesen werden muss. Auf welche Körperideale verweist Mode? Wie sind diese entstanden? Wie wirkt sich diese auf das gelebte Geschlecht aus? All diese Fragen schneidet die Autorin in ihrem Aufsatz an und verweist dabei auch auf die Funktion von Religion. Einem postkolonialen Ansatz verhaftet, dekonstruiert die Autorin zudem die Verbindungslinien von kollektiver und kultureller Identität. Hierbei ist es Albrecht wichtig, auf die Funktion von Sprache zu verweisen, die im Zuge des Kolonialismus und in der darauffolgenden Geschichte dazu diente, eine Gemeinschaft zu konstruieren, einen neuen »Hindu-Nationalismus«, so eine der Thesen der Autorin. Aus diesem Gemeinschaftsgefühl werden, so argumentiert der Beitrag, Körperideale abgeleitet, die wiederum Einfluss auf die Modeindustrie nehmen. Mode ist »ein wichtiges Element der neu entstandenen Narrative um nationale Identität.« Aus der Perspektive der Intersektionalität bezieht die Autorin die Kategorie class stark ein. Albrecht verschränkt diesen in überzeugender Weise mit Gender und Sexualität – vermittelt Mode doch Körperideale und -vorstellungen – sowie mit Besitz und Kultur. Am Beispiel der Mittelklasse verweist sie auf Kreuzungen von Klasse, Etikette und gleichzeitig auf den wichtigen Aspekt der Abgrenzung gegenüber anderen Klassen als Prozess der Identitätsbildung. Mit einem spezifischen Blick auf Geschlecht und Geschlechterrollen verweist die Autorin weiter auf den Aspekt der Konstruktion von Gender: ein performativer Prozess, der u. a. durch spezifische Mode bedingt wird. Ge7 Vgl. Hall 2004, 115.

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schlecht und Religion werden hier als Intersektion verstanden, die erhebliche Auswirkungen auf die kollektive und individuelle Identität hat. Der Aufsatz setzt an bedeutenden postkolonialen Ansätzen an und wendet diese spezifisch auf das Feld der Mode in Indien an. Hierbei wirft die Autorin mitunter die Fragen auf, wie sich Konflikte mit dem als Norm gelesenen Westen bestreiten lassen, ob westliche Konzepte des Feminismus etc. anwendbar sind, und wie dies gegebenenfalls postkolonial erweitert werden können. Zudem verweist Jessica Albrecht auf intersektionale Verknüpfung von Klasse, Religion und Geschlecht und stellt dies am Medium der Mode heraus. Der zweite Beitrag, der unter dem Stichwort Intersektionalität gefasst wird, wurde von Tobias Köhler verfasst und thematisiert das Konzept des Homeschoolings in Deutschland an dem konkreten Beispiel der Philadelphia Schule. Köhlers Expertise zu dieser Thematik speist sich vor allem aus seiner durchgeführten Feldforschung, die das christliche Netzwerk analysierte. Köhler vermag es überzeugend auf den Netzwerkaspekt des Homeschoolings zu verweisen, indem er herausstellt, dass die Philadelphia-Schule gerade für die Eltern einen wichtigen Ort des Austausches bildet. Dieser Aspekt ist gerade deswegen so bedeutend, da Homeschooling gegen die in Deutschland geltende Schulbesuchspflicht verstößt. Der Autor schafft es, in seinem Beitrag überzeugend die Intersektionen von Bildung, Geschlecht und Religion herauszustellen. Köhler verweist auf die Geschlechtskonstruktionen, die christlich geprägt sind und so ein spezifisches Ideal vermitteln, das mitunter vom anerkannten Bildungsziel abweicht. So entsteht eine Benachteiligung der Schüler_innen des Homeschoolings, da diese eine spezifische Bildung erfahren, die zudem ein spezifisches Geschlechterrollenbild vermittelt, das im weiteren Verlauf u. a. zu geminderten Karrierechancen, beispielsweise für Frauen, führen kann. Köhler verweist auf die Heterogenität des Feldes und die unterschiedlichen Gründe für Eltern, ihre Kinder in diesem Bildungskonzept einzugliedern: Der Aspekt der Religion ist hier nur ein Aspekt von vielen – wenn auch ein bedeutender –; so sind auch die Organisation, das Netzwerken oder der soziale Status mögliche Gründe für die Entscheidung für Homeschooling. In Bezug auf die Kategorie Geschlecht verweist der Beitrag zudem auf die Funktion von Müttern, die zumeist das Homeschooling leiten. Hier reproduzieren sich klassische Geschlechtsideale, die erneut die Kreuzung von Religion und Geschlecht aufzeigen. Mütter haben so die Möglichkeit, der These des Beitrags folgend, ihre eigene Geschlechterrolle durch eine Lehrtätigkeit aufzuwerten. Für Köhler »bewegt sich Homeschooling [im] […] Spannungsfeld zwischen Individualisierung, veränderten Vorstellungen von Elternschaft und der Frage nach der Grenze zwischen staatlicher und elterlicher Verfügungsgewalt über die Entwicklung der eigenen Kinder.« Elternschaft, konkreter Mutterschaft, ist der Aspekt, den der Autor in seinem überzeugenden Beitrag dekonstruiert. Er zeigt die Verschränkungen von Ge-

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schlecht, Bildung, Religion und Kultur auf und zeigt zudem, dass Machtdiskurse im, über und quer zum untersuchten Feld verlaufen. Der Beitrag verortet sich demnach konkret im Bildungskontext und tangiert hierbei kritische Fragen zur Partizipation von Religion im Schulunterricht. Der Ansatz der Intersektionalität wurde zwar bereits 1989 entwickelt, aber nach wie vor ist das Konzept in den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht umfassend etabliert. Intersektionalität entwickelt sich weiter und so auch das Bild der Kreuzungen: Festgehalten werden kann, dass jede_r nicht nur ein Kreuz zu tragen hat, sondern viele Kreuze, die einander gegenseitig bedingen. Weiterentwicklungen des Konzepts der Intersektionalität kritisieren beispielsweise den statischen Ausdruck der Kreuzung und präferieren eher den relationalen Ausdruck der Interdependenz.8 Zu hinterfragen wäre zudem, ob intersektionale Theorien nur für Benachteiligungen oder auch für Privilegierungen fruchtbar gemacht werden können. Der weiße, heterosexuelle, reiche Pastor einer Megachurch ist vielfach privilegiert und profitiert von der Überkreuzung dieser Privilegien zudem, wird er beispielsweise mit einer weiblichen, schwarzen, queeren Katholikin verglichen. Während Ersterer in der Gesellschaft voll anerkannt ist, wird Letztere als Abweichung von der Norm gelesen und vermutlich vielfach diskriminiert. Der Aspekt der Religion wurde im Zusammenhang intersektionaler Theorien noch nicht zureichend dekonstruiert. Die Differenzlinie race hingegen schon: Das Konzept von critical whiteness dient als antirassistische Praxis und zur Reflexion der eigenen gesellschaftlichen und biologischen Vorteile. Dennoch muss auch dieser Ansatz kritisch gesehen werden, stellt er doch die Kategorie race über die anderen Kategorien und blendet z. T. Intersektionen aus.9 Zudem bleibt offen, ob die Anzahl der bis jetzt eruierten Differenzlinien der Komplexität jedweder Forschungsgegenstände gerecht wird. Zumindest für die religionsgeschichtliche Forschung wäre die Einbringung einer temporalen Kategorie wie z. B. der »Tradition« zur besseren Erfassung von historischen Transformationen und Legitimationen zu diskutieren. Ist die religionswissenschaftliche Intersektionalitätsforschung zwar unbestritten eine fruchtbare Ergänzung zu »klassischeren« Forschungsansätzen, gestaltet sich jedoch zuweilen ihre Applikation auf religionswissenschafltiche Topoi als recht diffizil, sodass ein Ankommen im Mainstream der Fachwissenschaften sich nur sehr allmählich gestalten kann. Der Einbezug von Privilegierungsstrukturen – anstatt nur nach Benachteiligungsmustern zu suchen – könnte jedoch eine vermehrte Verwendung intersektionaler Theorien bedingen.

8 Vgl. Walgenbach/Dieze/Hornscheid/Palm 2007. 9 Vgl. Tißberger 2017.

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Jessica Albrecht

»I am what I wear, I wear what I am«. Mode als Abbildung und Konstitution von hindu-nationaler Identitätsbildung und Geschlechterdifferenzierung in Indien

Zu ihrem zehnjährigen Jubiläum 2017 stellte Vogue India ihre erste Fashion Show in der AIFW unter das Motto »Vogue Empower«. Ziel war »to empower Indian fashion«.1 In dieser Show stand der Sari im Vordergrund, der zwar in der Ausgestaltung variierte, jedoch als Sinnbild für eine indische Mode benutzt wurde.2 Dieses Beispiel zeigt, dass sich zwischen Mode und Identität – in diesem Fall hindu-nationalistischer Identität – rege Wechselwirkungen feststellen lassen. Identitätsfragen spielen in der kulturwissenschaftlichen Diskussion eine zentrale Rolle und mit ihnen auch Mode, die als kulturelle Praxis stets in Beziehung zur sozialen Rolle und dem Selbst des Individuums steht. Wie Zoi Arvanitidou und Maria Gasouka schreiben, ist »Fashion« the subject of intense sociological, historical, anthropological and semiotic analysis in contemporary social theory. The phenomenon of fashion, the impact of which is recognized by the famous cliché: »You are what you wear«, offers a dense, rich set of costume options and reveals multiple and unexpected ways through which fashion is part of the concrete, tangible, profound, complicated and symbolic process of forming of the modern and postmodern Self, identity, body and social relations.3

Vorliegend wird unter Mode diejenige Kleidung verstanden, die sich zur kulturellen Praxis als »ästhetische Übereinstimmung mit und Formensprache in einer jeweiligen Epoche«4 entwickelte. Gemeint ist damit, dass Mode gewissen ästhetischen und formalen Regeln folgt, die aber zeit- und kulturspezifisch sind. Mode entsteht in der Verbindung zwischen Materialität (dem Kleidungsstoff), Diskurs (den Debatten um richtige und falsche Kleidung) und Handlungen (dem Tragen von Kleidung). Hierbei wirkt Mode auf der einen Seite auf ihre soziale Umge-

1 Times of India: »Highlights from Day 1 of Amazon India Fashion Week«. 2 Vgl. hierzu: http://www.vogue.in/content/vogue-presents-sari-247-amazon-india-fashion-weekautumnwinter-2017/ (zuletzt abgerufen am 06.05. 2017). 3 Arvanitidou/Gasouka 2012, 2. 4 Wenrich 2015, 17.

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bung, aber orientiert sich auf der anderen Seiten stets an dieser.5 Die Anthropologin Emma Tarlo hat für den indischen Kontext aufgezeigt, dass in Indien insbesondere ein sogenanntes »problem of what to wear« beobachtbar ist.6 Damit kritisierte sie die weit verbreitete Annahme, die sowohl im populären als auch im wissenschaftlichen Diskurs anzutreffen ist, dass nämlich indische Identität größtenteils durch das Kastenwesen und weitere religiöse Traditionen beschrieben werden könne und diese entscheidenden Einfluss auf die Kleidung von Inder_innen haben würden.7 Es besteht ein breiter wissenschaftlicher Konsens, dass die Rolle von Mode bei der Identitätsbildung in Indien spätestens seit dem Neoliberalismus der 1980er Jahre neu zu vermessen sei.8 Der vorliegende Artikel befasst sich mit der Frage, in welchen Wechselwirkungen zeitgenössische Mode in Indien sowie hindu-nationalistische und wie geschlechtliche Identitätsbildungen stehen. Im Folgenden werden die Prozesse um die Entstehung kollektiver Identitäten nachgezeichnet, die es ermöglichen, religiöse und geschlechtliche Selbstverständnisse kritisch zu hinterfragen. Meine Methode ist eine historische, die sich, basierend auf poststrukturalistischen und postkolonialen Theorien, mit der Diskursivität historischer, also konkreter und einmaliger geschichtlicher Phänomene befasst. Ich werde anhand der Beispiele von hindu-nationaler Tradition und Geschlecht veranschaulichen, dass andauernde Abgrenzungen für die Etablierung sozialer Identitäten konstitutiv sind. Diese werden dann im Rückblick als Traditionen deklariert, wodurch sie sich als Selbstverständlichkeiten verfestigen und Identitäten gebildet werden.

Der aktuelle Modediskurs und indische Identität Der rezente indische Hindu-Nationalismus ist zurückzuführen auf die Unabhängigkeit Indiens von 1947 und die dahin führenden Debatten seit dem 19. Jahrhundert. Unter dem europäischen Vorbild der Nationalstaaten und der zeitgleichen globalen Aushandlungsprozesse der Bedeutung von »Religion« entstand eine Verbindung von Indien und Hinduismus. Im Zuge hegemonialer Aushandlungsprozesse im Kolonialismus vollzog sich eine Gleichsetzung von indisch sein und Hindu sein. Wie oben erörtert, entstehen Identitäten stets durch Differenzie5 6 7 8

Vgl. Lehnert 2015, 233; Scorzin 2016, 7. Tarlo 1996, 1. Vgl. Tarlo 1996, 1. Neoliberalismus bezeichnet hier politisch-ökonomische Entwicklungen, wie Prozesse der Privatisierung, Deregulierung, Dezentralisierung und den wachsenden Einfluss wirtschaftlicher (transnationaler) Akteur_innen. Vgl. hierzu die Ausführungen zu Neoliberalismus Brown 2015, 20–40; sowie kritische Einbettung des Begriffes in den indischen Kontext Abu-Er-Rub 2017, 260ff.

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rungsprozesse. Ein Beispiel hierfür ist der vom Literaturwissenschaftler Edward Said behandelte hegemoniale Diskurs des »Orientalismus«, der auch im vorliegenden Fall des kolonialen Indiens beobachtet werden kann. Said zufolge ist der »Orient« eine Erfindung des »Westens«. »Orientalismus« ist für ihn ein Denkschema, basierend auf der ontologischen und epistemologischen Unterscheidung zwischen dem »Orient« und dem »Okzident«. Letzterer habe dabei den »Orient« als sein Gegenüber konstruiert. Der »Orient« wird als eine soziale Identität imaginiert, die vom eigenen Standpunkt aus betrachtet das Andere ist.9 Das Aufoktroyieren dieser Vorstellung beinhaltet den Zwang, die eigene Identität ebenso durch eben jene Dichotomisierung zu definieren.10 Demzufolge wurde die hegemoniale Gleichsetzung von Hinduismus und Indien der Britischen Kolonialmacht im Zuge einer sogenannten Selbst-Orientalisierung von den Kolonisierten übernommen und positiv umgedeutet. So fielen nationale und religiöse Identität in Indien schon in der Kolonialzeit zusammen. Diese hindu-nationalistische Tendenzen lassen sich über den Prozess der Unabhängigkeit Indiens bis heute feststellen.11 Identitäten, die sich unter dem Namen »Hinduismus« begreifen, werden oft auch mit einem nationalen Hindutum gleichgesetzt, im Zuge dessen politische Ziele wie die Verstärkung oder der Aufbau einer nationalen Identität verfolgt werden. Zusätzlich gewannen seit den 1980er Jahren politische Parteien und andere Akteur_innen an Bedeutung, die einen Nationalismus auf religiöser Grundlage propagierten, und die auch im gegenwärtigen Indien als Abgrenzung gegenüber dem »Westen« eine politische Hindu-Identität konstruieren.12 Wenn im Folgenden von einer »nationalen Identität« die Rede ist, ist dieser Hindu-Nationalismus gemeint. Die nationale kollektive Identität ist unter anderem abhängig von einem sich verändernden wirtschaftlichen Umfeld; im vorliegenden Kontext lässt sich vor allem ein großer Einfluss durch den Neoliberalismus seit den 1980er Jahren verzeichnen. Sichtbar ist eine Neuformierung des indischen Nationalstaates durch politische und wirtschaftliche Reformen. Seit den 1980er Jahren steht die indische Innen- und Außenpolitik unter den Vorzeichen von Liberalisierung, Globalisierung und Modernisierung. Dies resultierte unter anderem in neuen Körperidealen und Körperpraktiken: Physische Attraktivität, durch den Markt definiert, wurde zu einem bestimmten und bestimmenden Imperativ für beide Geschlechter und führte, so die Kulturwissenschaftlerin Laila Abu-Er-Rub, zu einem fast ungebremsten Wachstum der indischen Modeindustrie.13 Von da an war die Produktion von Kleidung die Aufgabe von Designer_innen und unterlag dem globalen Jahreszyklus der Mode. Mode ist 9 10 11 12 13

Vgl. Said 2003, 2; Bhabha 1994, 101. Vgl. Bergunder 2012, 97. Vgl. Michaels 2012, 64; King 1999, 190, 212; Conrad 2016, 592; Anderson 1996, 198ff. Vgl. Anderson 1996, 159; Michaels 2012, 29. Vgl. Michaels 2012, 1, 260f.

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daher im neoliberalen Indien spätestens seit den 2000er Jahren ein wichtiges Element der neu entstandenen Narrative um nationale Identität.14 In Verbindung mit dem sich entwickelnden Neoliberalismus brachen innerhalb der indischen politischen und medialen Sphären Diskussionen über neue urbane Mittelklassen aus, die aktuell im Fokus des Diskurses um die nationale Identität stehen. Sie reproduzieren dabei einen hegemonialen politischen Diskurs um einen modernen indischen Staat, der um die seit den 1980er Jahren entstandenen neuen urbanen Mittelklassen zentriert ist. Mit deren konstantem wirtschaftlichem Wachstum ging also auch ein Anstieg ihrer bildlichen Repräsentation einher. Darin spiegelte sich auch der Stolz auf eine neu gefundene indische Identität der Mittelklassen wider.15 Nach dieser Lesart stehen die urbanen Mittelklassekonsument_innen also in den politischen und medialen Diskursfeldern ikonenhaft für die indische Nation. Sie sind mediale Marker für eine hindu-nationale Identität, abgegrenzt gegenüber dem globalen Anderen. Hierdurch wurde in den 1980er Jahren das Selbstverständnis der indischen Nation signifikant verändert, das heute auch über den Konsumwillen und die Konsummöglichkeiten der Bürger_innen definiert wird.16 Doch warum bekam die sogenannte neue indische urbane Mittelklasse in den letzten 20 Jahren große politische und mediale Aufmerksamkeit? Der Südasienwissenschaftlerin Amanda Gilbertson zufolge ist diese Aufmerksamkeit ein Zeichen für das Gelingen des neuen Modells wirtschaftlicher Entwicklung und damit ein Vehikel für die Hoffnungen der indischen Nation.17 Auch wenn die Neuheit der indischen Mittelklassen strittig ist, so gebe es doch, gemäß ihm, Einigkeit bezüglich ihrer wichtigen symbolischen Rolle als Repräsentant_innen eines globalen, modernen und sich im wirtschaftlichen Aufschwung befindenden Indiens. Doch genau diese Rolle versetze die Mittelklassen in einen komplexen Balanceakt zwischen traditionell und modern, der sich auch in der Mode zeige: Ein zu traditionelles, in anderen Worten zu wenig modernes, »westliches« Auftreten verhindere die Unterscheidung zur urbanen Armutsklasse oder der ländlichen Bevölkerung, ein zu modernes ließe sie als »excessive and foreign«18 erscheinen. Die Veränderungen durch den Neoliberalismus und die Symbolisierung der indischen Nation durch die urbanen Mittelklassen lassen sich also auch in deren Tragen von Mode erkennen. Zum einen wird durch Mode eine Differenzierung der Mittelklassen mit den höheren Klassen geschaffen und gleichzeitig abgebildet. Denn Letztere besitzen nicht nur das ökonomische Ka14 15 16 17 18

Vgl. Michaels 2012, 1, 260f. Vgl. Michaels 2012, 19ff. Vgl. Michaels 2012, 22. Vgl. Gilbertson 2013, 121. Gilbertson 2013, 121.

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pital, sich modische Kleidung leisten zu können, sondern auch das Wissen darum, welche Kleidung angemessen für welches Ereignis oder welches Umfeld ist – kurzum, welche Kleidung wann Mode ist. Das Erscheinungsbild durch Mode zeigt also hier ganz deutlich die Klassenzugehörigkeit.19 Der Khadi, ein handgesponnenes und -gewebtes, meist von Männern getragenes Kleidungsstück, und der Sari, ein von Frauen getragenes Kleidungsstück, bestehend aus einem um den Körper drapierten Tuch, sind zwei besonders eindrucksvolle Beispiele wie innerhalb des indischen Modediskurses die Tradition von indischer Mode konstruiert wird. Der Sari, der aktuell von vielen indischen Designer_innen als Zeichen indischer Tradition eingesetzt wird und im Ausland oft stereotyp für Indien steht, wurde in den letzten Jahren als Teil der High Fashion Indiens etabliert.20 Eine Geschichte des Sari lässt sich zwar bis ins 2. Jahrhundert v.u.Z. zurückführen, zur heutigen Bedeutung kam er jedoch erst durch Indiens Unabhängigkeitsbestrebungen. Dabei wurde er zum Symbol für die indische Nation stilisiert und als mother india bezeichnet. Auch heute noch sind 70 bis 90 Prozent der Modekreationen vom Sari inspiriert, und er spielt als Teil der ethnic wear21 eine große Rolle bei Hochzeiten oder anderen rituellen Anlässen. Die Assoziationen des Sari mit Tradition und Religion, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, werden heute von Designer_innen genutzt, um die oben genannte ethnic wear zu kennzeichnen. Daneben wandelt sich jedoch aktuell auch diese Zuschreibung, denn es etablieren sich verschiedene Arten, den Sari zu tragen: modern und traditionell in der Stadt oder bei der Arbeit, für Hochzeiten und andere Feste.22 Dass der Sari mit Tradition verknüpft wird, lässt sich auch in der Intention der zu Beginn dieses Aufsatzes angeführten »24/7 Sari Show« der Modezeitschrift Vogue India in der Amazon India Fashion Week (AIFW) atumn/winter 2017 ausmachen. Beim Khadi lassen sich ähnliche Prozesse feststellen. Er wurde durch Mahatma Gandhi, der im indischen Freiheitskampf symbolisch die englische Kleidung ablegte,23 zu einem essentiellen Zeichen der entstehenden indischen Nation und der Einheit der indischen Bevölkerung stilisiert und stellt eine Dichotomisierung zwischen »westlicher« und »indischer« Kleidung dar. Seit den 2000er Jahren wurden diese Zuschreibungen durch die Modeindustrie zu Legitimationszwecken zwar übernommen, dabei aber stark transformiert: Der Khadi wurde zur Luxusware. Zahlreiche Designer_innen haben ihn in ihre Kollektionen auf-

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Vgl. Gilbertson 2013, 146. Siehe hierzu Beispiele unten. Ethnic wear bezeichnet hier eine emische Bezeichnung im Modediskurs. Vgl. Joshi 1992, 215; Abu-Er-Rub 2017, 1; Albrecht 2016, 60f. Siehe zu Gandhi, Kleidung, der Bildung der indischen Nation und seinem Fokus auf die Einfachheit des weißen Leinentuchs: Tarlo 1996.

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genommen und so dessen Image stark verändert.24 Auch die indische Regierung unter Narenda Modi versucht seit 2014 den Khadi als globale Marke zu etablieren. Goldene Attribute, wie beispielsweise Nähte, die innerhalb der letzten 20 Jahre zum Referenzpunkt von indischer Kleidung wurden, wurden auch der neuen Marke Khadi aufgesetzt, die nun die wirtschaftlichen goldenen Zeiten Indiens durch die Regierung unter Modi seit 2014 abbilden soll. Gandhis weißer Khadi bleibt ein nationales Merkmal, wird aber durch die Referenz auf eine andere Tradition (Gold als Zeichen des indischen Adels) erweitert. Der hier stattfindende Verweis auf »goldene Zeiten« Indiens bietet eine Identifikationsmöglichkeit mit Luxus, der dabei historisch neu verortet und durch das Attribut »traditionell« legitimiert wird, wie die Anthropologin Laila Abu-Er-Rub ausführt: In den Kommunikationsstrategien indischer Marken und ebenso in der Kommunikation des Staates […] wird Indien als das Land konstruiert, in dessen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft goldene Zeiten liegen. […] Diese Bilder zeugen davon, wie Indien sich selbst imaginiert, wie das Land gesehen werden möchte, und eine neue am »Globalen« orientierte Tradition konstruiert.25

Wie oben bereits erörtert, ist die Unterscheidung zwischen verschiedenen Kleidungsstilen vor allem an Debatten über »Verwestlichung« und »kulturelle Authentizität« gebunden.26 Hierbei zeigen sich signifikante geschlechterspezifische Unterschiede. Denn als Zeichen für »patriotic respectability«27 wird von indischen Frauen erwartet, indische Kultur zu verkörpern, wie die indische Soziologin Maitrayee Chaudhuri argumentiert: »If ›the nation is home and home is mother‹ women cannot but be signifiers of ethnic/national differences. They participate centrally in the ideological reproduction of the collectivity and as transmitters of its culture.«28 Chaudhuri betont, welche besondere Rolle Frauen in der Konstitution der indischen Nation innehatten und haben. Sie macht unter anderem Frauen als Symbole der wirtschaftlichen Entwicklung ebenso wie der hindu-nationalen Kultur aus und stellt heraus, dass in einem hegemonialen patriarchalen Machtdiskurs in Indien »natürlicherweise« die nationale Kultur von der »Frau« getragen werde.29 Kultur und Nation werden als »natürlich« gesehen. Hierbei werden sie aus ihren historischen, kolonialen, Kontext gezogen und diskursiv ahistorisch und universal mit der indischen »Frau« verknüpft.30 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. Abu-Er-Rub 2017, 273. Abu-Er-Rub 2017, 271. Vgl. Abu-Er-Rub 2017, 271. Abu-Er-Rub 2017, 271. Chaudhuri 2000, 127. Vgl. Chaudhuri 2000, 127. Vgl. Chaudhuri 2000, 127.

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Das Zusammenspiel von Mode und Geschlecht Dieser Zusammenhang zwischen sozialem und biologischem Geschlecht und nationaler Identität wird mit den Theorien der Philosophin Judith Butler analysiert. Butler fundiert ihre Theorie vor allem auf dem Konzept der Performativität, durch welches Identitäten sedimentiert und infolgedessen naturalisiert werden. Für Butler verfestigen sich kulturelle Bedeutungen erst durch ihre historische Sedimentierung. Dies heißt, dass durch ständige Wiederholungen, durch Bekräftigungen oder Veränderungen, Bedeutungen verfestigt werden und in der Folge als natürlich wahrgenommen werden. Diese sedimentierende Wiederholbarkeit nennt Butler Performativität. Für Butler ist jedes kulturelle Handeln performativ, so auch Geschlechterrollen.31 Dies wird durch den vorliegenden Blick auf Mode besonders deutlich: Mode interagiert mit der Inszenierung von Körpern und damit der Konstitution, Sedimentierung und Durchbrechung der Bedeutung von Geschlechtern. Kleidung bildet beispielsweise durch Farben, Schnitte, Materialien oder Dekorationen Geschlechterrollen ab und schafft diese zeitgleich.32 Dies macht Mode zu einem Beispiel für die Art und Weise, in der Körper geschlechtsspezifisch werden können.33 Mode ist insofern nicht nur Ausdruck von Geschlecht, sondern Kleider formen Geschlechtsvorstellungen mit. Diese entstehen durch Inszenierungs- und Attributionsprozesse, bei denen beispielsweise das eigene Geschlecht inszeniert und von den anderen nicht nur wahrgenommen, sondern zugeschrieben und somit verstärkt wird. Eine Darstellung von Geschlecht ist gleichzeitig die Konstitution von Geschlecht. Ich gehe also mit Judith Butler davon aus, dass Körper nicht natürlich oder der Kultur vorgängig sind, da sie nur diskursiv wahrnehmbar und vermittelbar sind. Identitätsprozesse, die durch die Performativität von Geschlecht geschaffen werden, sind kein Zustand, sondern ein Prozess ohne Abschluss.34 Die Materialisierung von Geschlecht findet als historischer Prozess statt, bei dem durch ständige performative Wiederholung eine Bedeutung ständig aufgegriffen und verfestigt wird. Zeitgleich treten allerdings durch diese Wiederholung, die nie gleich ist mit ihrem Motiv, Elemente der Transformation ein. Somit können Geschlechtervorstellungen durch ihre performative Zitation sowohl erhärtet als auch subversiv unterwandert werden.35 Auch Mode funktioniert im Zusammenspiel von Innovation und Rezeption: Bestehende Schnittweisen, 31 Vgl. Butler 1993. 32 Vgl. Lehnert 2013, 39. 33 Vgl. Entwistle 2000, 141; für weitere Ausführungen zur Korrelation von Mode und Geschlecht abseits des vorliegenden Fallbeispiels vgl. Arvanitidou/Gasouka 2012. 34 Vgl. Lehnert 2013, 38. 35 Vgl. Butler 1993, xii.

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Materialien, Farben und Formen werden wiederverwendet und dabei transformiert, um so Mode zu schaffen. Mode nimmt schon Dagewesenes auf, verändert es, und ist in diesem Moment konstitutiv für die Bedeutung, auf die sie verweist (beispielsweise die Konstruktion von Geschlecht).36 Diese Materialisierung von Geschlechterrollen in der Mode durch performative Sedimentierung von Bedeutung kann deshalb als Materialisierung von Geschlecht durch Mode gesehen werden.37

Mode und die indische Mittelklassenfrau* im Spannungsfeld von Tradition und Moderne Übertragen auf den indischen Modediskurs kann festgestellt werden, dass hier die Rolle der Frauen als symbolisch für das hindu-nationale Indien konstituiert und repräsentiert wird: Für indische Frauen liege, so Gilbertson, die hauptsächliche Schwierigkeit darin, mit ihrer Inszenierung zugleich eine indische Tradition, die historisch mit der Konstruktion einer hindu-nationalen Identität steht, zu verkörpern und den nationalen wirtschaftlichen Aufstieg, einem Diskurs, der seit den 1980er Jahren wirkt, dazustellen. Fundamental für eine angemessene Weiblichkeit sei es, als indisch angesehen zu werden. An die urbane Frau der indischen Mittelklassen werden konkurrierende Anforderungen gestellt. Zum einen soll sie respektabel sein, folglich moderate Kleidung in der Öffentlichkeit tragen, zum anderen aber durch eine modische Weiblichkeit und den Konsum in den elitären öffentlichen Orten ihren Status verbessern, ohne in die Gefahr von »Verwestlichung« zu kommen.38 Dazu müsse sie die Balance halten zwischen einer »cosmopolitan due«,39 verpflichtend zu einer angemessenen Freizügigkeit in der Kleidung, und der Bewahrung der weiblichen sexuellen Reinheit als ihre kulturelle Identität.40 Besonders schwer sei es für junge, unverheiratete Frauen, weil deren Sexualität und damit Ehre als verletzlich und damit als zu beschützen angesehen werden.41 Trotzdem sind sie medial dazu angehalten, in einer öffentlichen konsumorientierten Jugendkultur zu leben. Sie müssen in ihrer Kleidung einen Ausgleich finden zwischen Mode und Respektabilität.42

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Vgl. Wenrich 2015, 69. Vgl. Butler 1993, xii. Vgl. Gilbertson 2013, 122. Gilbertson 2013, 122. Vgl. Gilbertson 2013, 122. Vgl. hierzu: Schaflechner 2016 sowie Chaudhuri 2000. Vgl. Gilbertson 2013, 122f.

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Da sich Frauen in der Öffentlichkeit, in der Kontakt zu Männern der unteren Klassen entstehen kann, moderat kleiden sollen, sie aber gleichzeitig ihren Status nur durch das Tragen freizügigerer Mode im Umfeld der höheren Klassen darstellen können, sind aufgrund von Mode in der indischen Öffentlichkeit klassenspezifische Segregationen vorzufinden. Frauen können nur in geschlossenen Gruppen »moderne«, freizügige Kleidung tragen, ohne ihre Ehre einer Gefahr auszusetzen.43 Nicht nur der konstante Wechsel zwischen verschiedenen Orten und den daraus folgenden Anforderungen, sondern auch die Materialität der Mode selbst führt zu einer zunehmenden Komplexität. So gibt es unterschiedliche Schnitte, Stoffe wie auch Art und Weisen, Kleider zu tragen. Ebenso macht es einen Unterschied, ob die Kleidungsstücke fertig gekauft oder individuell von dem_der Schneider_in angepasst oder angefertigt wurden. Diese feinen Differenzierungen sind vor allem für die Abgrenzung der Mittelklassen zu den unteren Klassen von Belang. Beispielsweise wird der Sari in den unteren Klassen nur bis zum Knöchel, in den Mittelklassen bis zum Boden getragen. Da es schwerer ist, mit längerem Sari zu laufen oder zu arbeiten, vermutet Gilbertson hier eine Inszenierung von Differenzierung.44 Innerhalb des hindu-nationalistischen Diskurses lassen sich also zwei divergierende Haltungen bezüglich der Mode der urbanen Frauen der Mittelklassen feststellen: Das als zentral für die Bewahrung der indischen Kultur konstruierte Frauenbild wird von zwei Seiten als bedroht angesehen. Frauen können aufgrund ihrer Kleidung sowohl als zu freizügig und entwürdigend, ebenso wie als rückwärtsgewandt und abgewendet vom globalen Kosmopolitismus kritisiert werden. Dabei werden sie jedoch aufgrund ihres Geschlechts von Orten ausgeschlossen, an denen Männer der unteren Klassen sind, an denen sie aber traditionelle indische Kleidung tragen könnten; und aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit werden sie von elitären Orten ausgeschlossen, an denen sie moderne oder »westliche« Mode konsumieren und sich darin zeigen könnten.45

Die diskursive Verknüpfung von Mode, hindu-nationaler Tradition und Geschlecht Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass erstens in Indien die Diskursfelder um Religion und Nation miteinander verwoben sind und so eine gemeinsame hindu-nationale Identität bilden. Mode stellt dabei ein materielles Medium zur Formung und Vermittlung dieser Identität dar. Indische Designer_innen pro43 Vgl. Abu-Er-Rub 2017, 262; Gilbertson 2013, 124, 147. 44 Vgl. Gilbertson 2013, 143. 45 Vgl. Gilbertson 2013, 155.

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duzieren nicht nur Waren, sondern auch Marken, die auf dem globalen Markt ihr Alleinstellungsmerkmal dadurch erhalten, dass sie Narrative über nationale, indische Identität konstruieren und verbreiten.46 Diese Narrative werden mit Vorstellungen einer Vergangenheit konnotiert, wodurch Traditionsprozesse in Gang gebracht werden. Hierbei werden im Sinne des Britischen Kulturwissenschaftlers Stuart Hall Gegenwart und Vergangenheit zum Zweck der Identitätsbildung verbunden.47 Im geschaffenen Narrativ werden die Produkte indischer Designer_innen gleichzeitig über Diskurse um eine moderne nationale Identität und die konstruierten Tradition(en) artikuliert. Ob diese Traditionen nun erfunden sind oder nicht, sie sind in einem spezifischen historischen Kontext entstanden und haben Auswirkungen auf die Identitätsbildung Indiens bzw. indischer Modetragender. An diesem indischen Modediskurs wird zweitens sichtbar, dass die Artikulation von Differenz einen wichtigen Aspekt von Kultur darstellen kann. Die »eigene Andersheit und Besonderheit wird einem nationalen und internationalen Publikum kommuniziert und so als gewünschte Identität präsentiert«.48 »Indische« und »westliche« Designermode sind miteinander verknüpft. Identität »indischer« Mode wird durch eine gleichzeitige Abgrenzung und Identifikation mit »westlicher« Mode geformt.49 Oft liegt die Herausforderung darin, »indisch« auszusehen, wobei dieses Ideal unter anderem vom Umfeld, der Intention und dem Geschlecht abhängig ist. Doch scheint »the very idea of ›looking Indian‹«50 erst durch die Begegnung mit »Nicht-Indischem« entstanden zu sein. Eine weitere Distinktion findet innerhalb des indischen Modediskurses zwischen den Klassen, vor allem um die urbanen Mittelklassen, statt. Indische Mode kann demnach als »leerer Signifikant« im Sinne des politischen Theoretikers Ernesto Laclau gesehen werden.51 Unter einem »leeren Signifikanten« versteht Laclau, dass sich kollektive Identitäten durch den gemeinsamen Ausschluss ihres Gegenteils bilden. Das sogenannte »Andere« ist demnach notwendig für die eigene Identität. Die Stile, Kreationen und Trageweisen der jeweiligen Mode können sich innerhalb einer Identität, wie hier der »indischen« Mode unterscheiden, denn die eigene Identität wird durch das konstitutive »Außen« gebildet. Nicht nur ist ein Sari kein Khadi, und goldene Verzierungen waren bei Gandhi nicht vorzufinden, sondern auch regionale Variationen zeigen die innewohnenden Differenzen »indischer« Mode. Vereint werden diese Ausprägungen erst durch die Gegenüberstellung zu »westlicher« 46 47 48 49 50 51

Vgl. Abu-Er-Rub 2017, 256. Vgl. Hall 1994. Hall 1994, 230. Vgl. Hall 1994, 217. Tarlo 1996, 331. Siehe hierzu die theoretischen Ausführungen zu Beginn.

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Mode. Hierbei werden die Differenzen zu Äquivalenzen, »indische« Mode besteht nur durch ihr konstitutives Außen: »westliche« Mode. Der indische Modediskurs ist drittens paradigmatisch dafür, wie Traditionen konstruiert, Identitäten durch einen antagonistischen Partner gebildet und diese Bedeutungen dann performativ sedimentiert und naturalisiert werden. Mode als Teil von materieller Kultur ist ein Beispiel dafür, welchen Mehrwehrt die Anwendung der Theorien Stuart Halls, Ernesto Laclaus und Judith Butlers haben. Sie erlauben es, Identitätsbildungen in ihrer Verflechtung mit politischen und wirtschaftlichen Dynamiken analysierbar und nachvollziehbar zu machen. Dabei ist soziale Realität nicht objektiv gegeben, sondern eine Folge diskursiver, machtförmiger und performativer Aushandlungsprozesse. Die indische Modewelt wird zum Symbolproduzenten, der »durch ihre materiellen und visuellen Produkte Vorstellungen individueller, kollektiver, klassen- und geschlechterspezifischer sowie nationaler Identität vermittel[t]«.52 Diese neue, in den 1980er Jahren entstandene hindu-nationalistisch geprägte Identität wird dabei ausgedrückt durch einen Selbst-Orientalismus53 um die nationale Tradition, wie der von Designer_innen selbst gewählte Name ethnic wear zeigt. Diese Mode wird als Kulturerbe konstruiert, wodurch sie zugleich »indische« Identitätsmerkmale stiftet und abbildet. Viertens bietet Mode einen Ansatzpunkt, um Religion und Geschlecht aus einem kulturwissenschaftlichen Blickwinkel zu verbinden. Geschlecht und Religion sind beide untrennbar mit anderen gesellschaftlichen Bereichen verbunden und dabei keine feststehenden Identitäten. Durch eine kulturwissenschaftliche Sicht können dominante Diskurse und Deutungsmuster dekonstruiert sowie Machtstrukturen und -verhältnisse aufgezeigt werden, die Begriffen und Kategorien innewohnen. Religion und Geschlecht konstituieren und legitimieren sich dabei gegenseitig oder stehen zumindest in einer aufzeigbaren Wechselwirkung zueinander. Mode bietet als empirisches Feld das Potential, Religion, Geschlecht und andere kollektive Identitätsbildungen in ihrer Interrelation zu untersuchen.

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Tobias Köhler

»Ohne Gottes Hilfe geht es nicht«. Eine Einführung in das Feld des christlichen Homeschoolings in Deutschland am Beispiel der Philadelphia-Schule

Es ist Dienstagmorgen, als im Untergeschoss eines christlichen Freizeitheimes in Mitteldeutschland ein knappes Dutzend Kinder im Vorschulalter in das Lied »Grün, grün, grün sind alle meine Farben« einstimmt und so unter Anweisung ihrer Tutorin auf spielerische Art und Weise in verschiedenen Aspekten von Sprache unterwiesen wird. Zeitgleich werden in den Stockwerken darüber ältere Kinder in den Grundlagen des Bruchrechnens und der Mechanik unterrichtet. Was auf den ersten Blick an klassischen Schulunterricht erinnert, entspricht dabei jedoch nicht zwangsläufig der Art und Weise, in der die Kinder für gewöhnlich unterrichtet werden. Denn das Familienseminar, an dem ich hier teilnehme, wird von der Philadelphia-Schule veranstaltet, dem größten und mit seiner über drei Jahrzehnte zurückreichenden Geschichte auch ältesten Netzwerk christlicher Homeschooling-Familien in Deutschland.1 Entsprechend weist die Veranstaltung auch Aspekte christlicher Praxis auf, wie gemeinsame Tischgebete, offene Gebetskreise und tägliche morgendliche Andachten. Die Teilnehmenden des Seminars weisen verschiedene denominationale Hintergründe auf, wobei eine Orientierung der eigenen Lebensführung am biblischen Schriftlaut ein weitgehend geteiltes Merkmal des religiösen Selbstverständnisses darstellt.2 Für 1 Die Herkunft des Namens wird in der Eigendarstellung der Schule auf die in Offenbarung 3,7– 13 erwähnte Philadelphia-Gemeinde zurückgeführt: »Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, und der zuschließt, und niemand tut auf: Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, die niemand zuschließen kann; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet.« Off 3,7f.; LU. Siehe: https://www.philadelphia-schule.de/Wir-ueber-uns.9.0.html (zuletzt aufgerufen am 06. 10. 2017). Darüber hinaus weist die hier vorgenommene Verwendung des Begriffes als Bezeichnung für eine konfessionsübergreifende christliche Gemeinschaft deutliche Parallelen zur Ende des 17. Jahrhundert in England gegründeten Philadelphischen Sozietät auf, welche sich im Austausch mit Teilen des deutschsprachigen Pietismus befand. Vgl. hierzu Schneider 1993, 405f. 2 Vertreten waren u. a. Mitglieder aus adventistischen, pfingstlerischen, baptistischen und ElimGemeinden, ein Vater zählte sich zu den Duchoborz_innen und einige Eltern bezeichneten sich als bibeltreue Christ_innen ohne Gemeindezugehörigkeit. Ich bin auf dem Seminar nur mit

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die teilnehmenden Eltern stellt das Seminar eine Möglichkeit der gegenseitigen Vernetzung und des Austauschs über die Praxis des Heimschulunterrichts dar. Eine Möglichkeit, die für die Anwesenden keineswegs selbstverständlich ist, denn in Deutschland ist die schulische Ausbildung von Kindern durch deren Eltern oder private Lehrkräfte außerhalb staatlich anerkannter Schuleinrichtungen im Normalfall weder vorgesehen noch möglich.3 Homeschooling stellt damit in Deutschland eine Verletzung der Schulbesuchspflicht dar, weswegen Eltern, die ihre Kinder in Eigeninitiative zu Hause unterrichten wollen, mit rechtlichen Sanktionen von Bußgeldbescheiden bis hin zum Sorgerechtsentzug rechnen müssen. Bedingt durch diese Rechtslage stellt Homeschooling in Deutschland ein absolutes Nischenphänomen dar.4 Da in vielen anderen europäischen Staaten hingegen legale Möglichkeiten für Formen häuslichen Unterrichts existieren, wandern deutsche Homeschooling-Familien oft ins benachbarte europäische Ausland ab,5 bleiben dabei aber zumeist innerhalb formeller oder informeller Netzwerke für deutsche Homeschooler aktiv.6 Auf der Basis christlicher Selbstverortung gestellte Fragen nach den Grenzen von elterlicher gegenüber staatlicher Autorität sowie Kontroversen um die Einbindung von Sexualerziehung als Teil schulischer Bildungspläne stellen dabei bis heute wichtige Anliegen für viele christliche Homeschooling-Familien in Deutschland dar. Gleichzeitig setzt sich die deutsche Homeschool-Bewegung aus verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen religiösen Selbstverortungen zusammen und lässt sich in ihrer Gesamtheit nicht allein auf dezidiert christliche Familien reduzieren. Vor diesem Hintergrund soll der vorliegende Beitrag am Beispiel der Philadelphia-Schule eine Einführung in dieses Feld geben.

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einer Familie ins Gespräch gekommen, die in einer landeskirchlichen Gemeinde aktiv ist. Der liberalen Haltung der Landeskirche, insbesondere zur Homosexualität, stand die Familie zwar kritisch gegenüber, hob zugleich aber den Freiraum in der eigenen religiösen Lebensgestaltung hervor, der durch den geringen Grad an sozialer Kontrolle durch die Gemeinde geboten wurde. Zwar sind in den Regelungen der meisten Bundesländer in Ausnahmefällen Möglichkeiten zur Befreiung von der Pflicht vom Schulbesuch vorgesehen, diese finden jedoch im Falle weltanschaulich oder religiös begründeter Verweigerung des Schulbesuchs grundsätzlich keine Anwendung. Vgl. hierzu die Zusammenfassung der deutschen Rechtslage bei Spiegler 2008, 191– 214. Weiterführende Überlegungen zur Rechtslage in Deutschland finden sich bei Reimer 2012 und Krampen-Lietzke 2013. Verlässliche quantitative Erhebungen zur Größe des Feldes sind aufgrund der prekären rechtlichen Lage von Home Education in Deutschland kaum möglich. Schätzungen hierzu schwanken zumeist zwischen 300 und 500 Familien. Besonders häufig werden hierfür Großbritannien, Österreich, Frankreich oder Dänemark gewählt. In allen vier Ländern besteht eine Bildungspflicht der Kinder nach den Vorgaben staatlicher Bildungspläne, während der Besuch einer öffentlichen Schule nicht verpflichtend ist. In der Schweiz bestehen hierzu verschiedene Regelungen je nach Kanton. Neben der christlich orientierten Philadelphia-Schule ist dabei vor allem das Netzwerk Bildungsfreiheit e.V., sowie der vornehmlich durch Freilerner_innen getragene Bundesverband Natürlich Lernen! e.V. hervorzuheben.

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Die Philadelphia-Schule im Kontext der deutschen Homeschool-Bewegung Da Homeschooling-Familien in Deutschland ein zahlenmäßig kleines Feld darstellen und die faktische Illegalität dieser Bildungspraxis eine Kontaktaufnahme für Außenstehende deutlich erschwert, ist die Forschungslage hierzu vergleichsweise überschaubar. Die hauptsächliche Forschung zu Homeschooling als Bildungsform stammt aus den USA, und selbst hier wird die Forschungslage als grundsätzlich desiderat eingeschätzt.7 Als Grundlagentext zur Situation in Deutschland kann die 2008 erschienene soziologische Studie Home Education in Deutschland: Hintergründe – Praxis – Entwicklung von Thomas Spiegler gesehen werden, die neben weiteren theoretischen Ansätzen aus der englischsprachigen Forschungsliteratur auch für die hier vorgenommene Betrachtung einen entscheidenden Ausgangspunkt darstellt. Ergänzt wird diese durch Ergebnisse eigener Feldforschung, die 2017 durchgeführt wurde. Diese umfasste neben Einzelinterviews mit Eltern aus dem Feld der deutschen Home-Education-Bewegung die teilnehmende Beobachtung eines mehrtägigen Elternseminars der Philadelphia-Schule im Oktober 2017 mit knapp über 100 teilnehmenden Eltern und Kindern sowie eines informellen Treffens baden-württembergischer Freilerner-Familien im Juni 2017.8 Die Wahl des Begriffes Homeschooling gegenüber dem wissenschaftlich präziseren Ausdruck Home Education stellt mit Blick auf den einführenden Charakter des vorliegenden Beitrags eine bewusste Annäherung an die alltagssprachliche Verwendung des Terminus innerhalb öffentlicher Debatten und des betrachteten Feldes dar. Unter Homeschooling wird im Rahmen dieser Studie die häusliche Bildung schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher durch deren Eltern verstanden, die in bewusster Abgrenzung zu einem existenten öffentlichen Schulsystem durchgeführt wird. Diese sehr verkürzte Definition eröffnet dabei Randbereiche, die im Kontext dieser Arbeit nicht ausreichend aufgearbeitet werden können. So wäre beispielsweise zu klären, inwieweit Fernschuleinrichtungen und Bildungsansätze, die auf einer Mischung von elterlichen Heimun-

7 Dies hängt vor allem damit zusammen, dass quantitative Studien in diesem Feld durch divergierende Gesetzgebungen zur Meldepflicht von Homeschooling in einzelnen Bundesstaaten deutlich erschwert werden. Vgl. hierzu Belfield 2004, 4. 8 Aufgrund der rechtlich prekären Lage der teilnehmenden Familien habe ich auf die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen im Rahmen der Treffen bewusst verzichtet und stattdessen vor Ort handschriftliche Notizen zu Beobachtungen und Gesprächen mit den teilnehmenden Eltern angefertigt. Die Interviews umfassen ein persönlich geführtes mit Helmut Stücher, dazu via Skype durchgeführte Interviews mit einem Vorstandsmitglied des Netzwerk Bildungsfreiheit e.V. und in Frankreich aktiven deutschen Homeschooler_innen, die dort Vernetzungsarbeit für deutsche Familien leisten.

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terricht und klassischem Schulunterricht basieren, nach dieser Definition als Formen von Homeschooling gewertet werden könnten.9 Ebenso könnten nach dieser Definition Gruppierungen, die sich aufgrund einer stark kommunalen Lebensweise von staatlichen Strukturen und damit auch vom Bildungssystem distanzieren, als Vertreter_innen von Homeschooling in Deutschland verstanden werden.10 In beiden Fällen würde die Definition dadurch Gruppen umfassen, die ihren Bildungsansatz weder als Homeschooling bezeichnen, noch als Teil einer politisch aktiven Homeschool-Bewegung in Deutschland in Erscheinung treten. Hinzu kommt, dass der Begriff Homeschooling zur Bezeichnung pädagogischer Praxis sowohl unter Familien, die häusliche Bildungsansätze wählen, als auch innerhalb der Forschungsliteratur zum Thema nicht unumstritten ist. Denn der Begriff Homeschooling wird oftmals mit einer bewusst »schulisch« gehaltenen Pädagogik in Form fester Stundenpläne und klassischen Frontalunterrichts in Verbindung gebracht, von der sich beispielsweise Familien, welche ihren Bildungsansatz als Freilernen oder Unschooling11 bezeichnen, deutlich distanzieren. In wissenschaftlichem Kontext wird daher zumeist das Begriffspaar Home Education zur Beschreibung des Gesamtfeldes verwendet, da es nicht auf eine spezifische Form der Pädagogik eingeschränkt ist.12 Von dieser offenen Definition ausgehend ließe sich Homeschooling als Bildungsform geschichtlich sehr weit zurückverfolgen. Obgleich eine derart weit zurückreichende Betrachtung aufschlussreiche Fragestellungen mit Blick auf die Geschichte des Protestantismus aufwerfen könnte,13 bietet sie für das Anliegen dieses Beitrags nur einen begrenzten Erkenntnisgewinn. Denn die Entstehung einer deutschen, wie auch einer internationalen Homeschool-Bewegung in gegenwärtiger Form steht in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen und

9 Für diese Fälle schlägt Clive Belfield die Unterscheidung zwischen Homeschooling und Homebased Education vor, vgl. Belfield 2004, 3. Als Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum könnte hierfür das Schulmodell Uracher Plan aufgeführt werden, welches personelle Überschneidungen mit dem Netzwerk Bildungsfreiheit e.V. aufweist. 10 Als konkretes Fallbeispiel hierfür kann die deutschsprachige Gemeinschaft der Zwölf Stämme gesehen werden, die nach langjähriger Auseinandersetzung mit deutschen Behörden aufgrund von Schulpflichtverweigerung und späterer Kontroverse aufgrund der körperlichen Bestrafung von Kindern mittlerweile nach Tschechien ausgewandert ist. 11 Vereinfacht gesagt umfassen diese Formen von Home Education Ansätze, die sich auch auf pädagogischer Ebene gezielt von schulischen Lernmethoden distanzieren. 12 Zur Begriffsproblematik vgl. Spiegler 2008, 11f.; Reimer 2012, 9–16. Im Kontext der hier betrachteten Familien fand der Ausdruck Homeschooling allerdings weitgehend unumstritten als Selbstbeschreibung Verwendung, unabhängig von der pädagogischen Praxis, nach welcher der Unterricht gestaltet wurde. 13 So geht beispielsweise Ralph Fischer in seiner Arbeit zu Homeschooling in Deutschland davon aus, dass diese Bildungsform ihre hauptsächlichen Wurzeln im Protestantismus habe. Vgl. Fischer 2009, 69–75.

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politischen Veränderungsprozessen der letzten 50 Jahre.14 Aus religionswissenschaftlicher Perspektive ist dabei vor allem die stark evangelikale Prägung der internationalen Homeschool-Bewegung von Interesse. Zwar wäre es unzutreffend, Homeschooling in seiner Gesamtheit als christliches Phänomen zu bezeichnen, da innerhalb des Feldes eine große Zahl von Eltern und Netzwerken existiert, die sich selbst außerhalb des Christentums verorten oder davon bewusst distanzieren. Dennoch waren christliche Gruppierungen aufgrund ihrer guten Vernetzung und Organisation für die heutige Situation der Bewegung in Deutschland wie auch auf internationaler Ebene in besonderem Maße prägend.15 Die Begründungen von Eltern für die Wahl von Homeschooling können dabei kaum auf Einzelfaktoren reduziert werden. Zwar werden von dezidiert christlichen Eltern häufig religiöse Erwägungen, insbesondere mit Blick auf spezifische Inhalte staatlicher Lehrpläne, als primärer Entscheidungsgrund vorgebracht, doch spielen pädagogische Überlegungen und generelle Kritik am öffentlichen Schulsystem ebenso eine Rolle, wobei sich die Begründungsstrukturen von Homeschooling-Eltern im Laufe der Zeit verändern können.16 Auch die Weltanschauungen christlicher Homeschooling-Familien in Deutschland lassen sich nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Obgleich so zum Beispiel die hier betrachtete Philadelphia-Schule und ein großer Teil der mit ihr assoziierten Familien in einem wertkonservativen und bibelorientierten christlichen Milieu eingeordnet werden kann, ist innerhalb dieser Definition immer noch ein recht breiter Spielraum für individuelle Ausprägungsformen religiöser Praxis gegeben. Im Rahmen meiner Feldforschung außerhalb der Philadelphia-Schule bin ich dabei auch mit Eltern in Kontakt gekommen, für welche die Ausrichtung des Netzwerks in einem deutlich wahrgenommenen Widerspruch zu ihrer eigenen religiösen Selbstverortung stand.17 Ebenso konnte ich mit Eltern sprechen, für 14 Eine übersichtliche Zusammenfassung der Geschichte der amerikanischen HomeschoolingBewegung bieten Gaither 2008; Vieux 2014; Isenberg 2007. Für Deutschland kommt hinzu, dass die nationalsozialistische Diktatur eine historische Zäsur für bis dahin bestehende Ansätze häuslichen Unterrichts, wie sie beispielsweise durch den Pädagogen Berthold Otto vertreten wurden, bedeutete. Vgl. hierzu Spiegler 2008, 143–145. 15 In diesem Zusammenhang ist vor allem die in den USA beheimatete Home School Legal Defense Association (HSLDA) hervorzuheben. Dieser formell unkonfessionelle, aber durch seine Entstehungsgeschichte deutlich evangelikal geprägte Interessenverband strebt eine internationale Legalisierung von Homeschooling als Bildungspraxis an. In dieser Funktion steht der Verband auch mit deutschen Homeschooler_innen in Kontakt. Vgl. hierzu Spiegler 2008, 159; Fischer 2009, 76; Patterson et al. 2007, 73; Isenberg 2007, 388. 16 Vgl. Spiegler 2008, 41–75; Patterson/Gibson/Koenigs/Maurer/Ritterhouse/Stockton/Taylor/ Mary 2007, 76. 17 Dies war insbesondere für Eltern aus dem Bereich der Freilern-Bewegung der Fall, die sich aufgrund der in diesem Beitrag dargelegten Konfliktmomente zwischen Alternativen und Frommen von Letzteren oft stark distanzierten. Aber auch christliche Eltern sahen die stark konservative Haltung des Schulgründers bisweilen als problematisch an, insbesondere wenn

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welche die Philadelphia-Schule weniger aufgrund ihrer religiösen Ausrichtung, sondern hauptsächlich aufgrund ihres hohen Organisationsgrades als Bezugspunkt für Unterrichtsentwürfe und Lernmaterialen von Interesse war. Allerdings fokussiert sich die mediale Berichterstattung zu christlichem Homeschooling in Deutschland zumeist auf Familien, welche durch ihre dezidiert konservative religiöse Grundhaltung auffallen. Hierfür sind meiner Einschätzung nach drei Hauptgründe ausschlaggebend: Zunächst sind diese Familien aufgrund ihrer religiösen Überzeugung oft deutlich gewillter, sich in einen offenen Konflikt mit staatlichen Behörden zu begeben und treten daher, im Gegensatz zu Familien die aufgrund der deutschen Rechtslage Homeschooling im Verborgenen durchführen, als namhaft greifbare Personen auf.18 Zweitens entspricht ihre dezidierte Orientierung am biblischen Schriftlaut, aus welchem heraus die Entscheidung zum Homeschooling hauptsächlich begründet wird, nicht der gesellschaftlichen Norm eines grundsätzlich säkular orientierten Christentums, was Berichten über solche Familien einen höheren Nachrichtenwert verleiht.19 Drittens war die Entstehung einer organisierten deutschen Homeschool-Bewegung stark durch evangelikal-konservative Bildungsproteste der 1960er und 1970er Jahre geprägt, wie im folgenden Kapitel darzustellen sein wird. Hierdurch erhielten zentrale christliche Netzwerke wie die Philadelphia-Schule von Anfang an eine stark konservative Prägung, die wiederum Rückwirkungen auf die Wahrnehmung der Bewegung als Ganzes hat. Eltern, die sich selbst im Christentum, jedoch nicht innerhalb eines wertkonservativen oder bibelorientierten Spektrums verorten, sehen sich daher schnell dem Vorwurf des religiösen Fundamentalismus ausgesetzt, wenn sie ihre christliche Überzeugung in Zusammenhang mit Homeschooling erwähnen. Die praktische Durchführung von Homeschooling wird – sowohl in Deutschland, wie auch international – in erster Line durch Mütter getragen. Väter, die sich im gleichen Umfang wie Mütter an der Durchführung von Homeschooling beteiligen, stellen den Ausnahmefall dar.20 Üblicher ist es, dass Väter sich aufgrund von paralleler Berufstätigkeit meist nur partiell an der Unterrichtung der Kinder beteiligen. Dabei besteht die Tendenz, Vätern vor allem eine Befähigung zur Unterrichtung von technischen und naturwissenschaftlichen Fächern zuzusprechen, wobei es in der Praxis auch hier für gewöhnlich die Mütter sind, für sie in ihrer Selbstdarstellung kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen ihrer christlichen Selbstverortung und ihrer Entscheidung zum Homeschooling bestand. 18 Einen Überblick über Konfliktstrategien und Verhaltensweisen deutscher Homeschool-Aktivist_innen bietet Spiegler 2008, 228–245. 19 Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Astrid Reuter zum doppelten Dilemma von Säkularität und Religionsfreiheit, speziell mit Blick auf Konflikte um das säkular verstandene Schulsystem. Reuter 2007. 20 Vgl. Spiegler 2008, 115.

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welche langfristig die Unterrichtung dieser Fächer vornehmen.21 Für die Mütter bedeutet die Durchführung von Homeschooling dabei einen beachtlichen Zeitund Arbeitsaufwand, der zu bereits bestehenden Verpflichtungen hinzu kommt und sich nicht nur auf die Durchführung des eigentlichen Unterrichts selbst beschränkt. Ebenso ist für die Praktizierenden, insbesondere für jene ohne eine entsprechende pädagogische Vorausbildung, die eigenständige Erarbeitung entsprechender fachlicher und didaktischer Grundlagen nahezu unumgänglich. Dass in heterosexuellen Partnerschaften daher meist ein Elternteil (üblicherweise der Vater) berufstätig bleibt, um das ökonomische Einkommen der Familie zu sichern, während der andere (üblicherweise die Mutter) eine mögliche Erwerbstätigkeit zugunsten der vollzeitlichen häuslichen Betreuung der Kinder zurückstellt, stellt vor diesem Hintergrund nicht einfach nur eine Erfüllung konservativ-bürgerlicher Rollenideale von Kernfamilie dar. Es ist auch mit Blick auf die (zeit-)ökonomischen Rahmenbedingungen des häuslichen Unterrichts eine naheliegende Vorgehensweise. In Anbetracht dieser Überlegungen und der prekären Rechtslage ist die Wahl von Homeschooling als Bildungsform in Deutschland aus rein ökonomischen und zweckrationalen Handlungsmotiven heraus nur schwer zu erklären. Daher verwundert es kaum, dass Thomas Spiegler in seiner Studie dem politischen und religiösen Weltbild der Eltern eine hohe Bedeutung für die Wahl dieser Bildungsform zumisst.22 Dabei unterscheidet er zwei grundsätzliche Typen von Eltern, welche die Bewegung in Deutschland hauptsächlich prägen: Den in diesem Beitrag fokussierten Typ des christlich orientierten Frommen und den zumeist areligiösen Typ des Alternativen. Nach dieser Gegenüberstellung würde demnach vor allem der überwiegende Teil der deutschsprachigen Freilern-Bewegung Merkmale des Typs des Alternativen aufweisen, während Eltern aus dem Umfeld der Philadelphia-Schule eher zum Typ des Frommen tendieren.23 Diese Unterscheidung geht dabei auf eine der frühesten wissenschaftlichen Arbeiten zur US-amerikanischen Homeschool-Bewegung durch die Soziologin Jane van Galen aus dem Jahr 1988 zurück, welche die von ihr betrachteten Eltern auf Grundlage ihrer Begründung für die Wahl von Homeschooling als Bildungsform in ideologues und pedagogues unterteilte. Die pedagogues störten sich dabei vor allem an der schulischen Unterrichtsstruktur selbst, die sie als zu eingeengt und dadurch als nicht kindgerecht empfanden. Die mehrheitlich einem konservativprotestantischen Milieu entstammenden ideologues hingegen wendeten sich vor 21 Zur Situation in den USA vgl. Lois 2012, 120. Hierbei sei angemerkt, dass auf dem Seminar der Philadelphia-Schule das Verhältnis von Tutorinnen zu Tutoren bei Workshops zu naturwissenschaftlichen Themenbereichen (Mathematik, Physik, Chemie und Biologie) ausgeglichen war. 22 Vgl. Spiegler 2008, 88–101. 23 Vgl. Spiegler 2008, 75–87.

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allem gegen Lehrplaninhalte öffentlicher Schulen, die aus ihrer Sicht im Widerspruch zu ihren religiösen und moralischen Überzeugungen standen.24 Der amerikanische Soziologe Mitchell L. Stevens griff in seiner Studie Kingdom of Children: Culture and Controversy in the Homeschooling Movement diese Unterscheidung van Galens auf, richtete den Fokus aber noch stärker auf die kulturellen und weltanschaulichen Differenzen zwischen den beiden Gruppen, woraus er weitere Unterscheidungen mit Blick auf die religiöse Selbstverortung von Homeschooling-Familien innerhalb der USA konstruierte. Konservativprotestantische Eltern, die sich durch ihre dezidierte Betonung christlicher Identität bei gleichzeitiger Abgrenzung von nicht-protestantischen Homeschoolern auszeichneten, fasste er unter dem Sammelbegriff der believer zusammen, während er Homeschooling-Familien ohne expliziten Distinktionsanspruch aufgrund ihrer religiösen Identität unter dem Sammelbegriff der inclusives fasste.25 Da unter den believern religiösen Inhalten in der alltäglichen Lebensführung ein sehr hoher Stellenwert beigemessen wird, zeichnet sich Homeschooling bei ihnen auch in der Praxis durch eine spezifisch protestantische Prägung aus, was sich auf die pädagogische Gestaltung des Unterrichts auswirkt. Während unter den inclusives und speziell unter Vertreter_innen von als Unschooling bezeichneten Bildungsansätzen Kindern in der Gestaltung des Unterrichts eine hohe Autonomie und Gestaltungsfreiheit eingeräumt wurde, war dies für Eltern, die von Stevens zur Gruppe der believer gezählt wurden, zumeist nur schwer mit ihren religiösen Überzeugungen zu vereinen. Für Eltern aus diesem Kontext gelten Kinder als moralisch noch ungefestigt, wodurch sie aufgrund der angenommenen inhärenten Sündhaftigkeit des Menschen von einer grundsätzlich negativ wahrgenommenen Umwelt auch negativ beeinflusst werden können.26 Für believer erscheint daher ein möglichst hoher Grad an elterlicher Kontrolle über die Entwicklung ihrer Kinder als moralischer und religiöser Imperativ.27 Aus dieser Perspektive erscheint auch eine mögliche Sozialisation durch außerfamiliäre Erziehungsinstanzen, insbesondere in Form von gleichaltrigen peer groups, als potentielles Risiko.28 Auch der hohe Organisationsgrad evangelikal geprägter Interessenverbände von Homeschoolern in den USA steht nach Stevens in direktem Zusammenhang mit dem religiösen Kontext der believer. Abgesehen von der im Vergleich zu den inclusives deutlich 24 Vgl. van Galen 1988, 55; zur späteren Rezeption van Galens vgl. Spiegler 2008, 41–48. 25 Vgl. Stevens 2001, 19f. 26 Vgl. Stevens 2001, 25. Diese Überlegungen finden sich in vergleichbarer Form auch in den pietistischen Pädagogikkonzepten August Hermann Franckes wieder, welche heute im Bereich der evangelikalen Bekenntnisschulbewegung rezipiert werden. Vgl. hierzu Lehmann 2015, 177f.; Roßkopf 2016, 55. 27 Vgl. Stevens 2001, 45–60. 28 Vgl. Stevens 2001, 52.

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stärker ausgeprägten Selbstwahrnehmung als geschlossene Bewegung und einer höheren Tendenz zur formellen Organisationsbildung, profitieren believer bis heute stark vom Rückgriff auf existente religiöse Netzwerke im Umfeld des konservativen US-amerikanischen Protestantismus.29 Dabei lässt sich diese Frontstellung in vergleichbarer Form auch unter deutschen HomeschoolingFamilien feststellen, weshalb der von Spiegler konstruierte Typ des Alternativen Aspekte von pedagogues und inclusives aufweist, während der Typ des Frommen Merkmale von believern und ideologues vereint. Obgleich diese Binnendifferenzierungen auch durch Eltern im Feld der deutschsprachigen HomeschoolingBewegung selbst vorgenommen werden, sind diese Klassifizierungen auf individueller Ebene nicht vollkommen trennscharf und das Weltbild vieler Familien lässt sich nicht in dieses binäre Spektrum eingliedern. Gerade im Blick auf die pädagogische Praxis bewegen sich die meisten Familien aufgrund pragmatischer Erwägungen fließend zwischen diesen beiden Polen. Dabei ist auch unter den eher »schulisch« orientierten Frommen ein großer Spielraum für individualreligiöse Aushandlungsprozesse gegeben, anhand derer eine große Bandbreite pädagogischer Praktiken im Rahmen der eigenen christlichen Selbstverortung plausibel legitimiert werden kann.30 Obgleich seit mehreren Jahrzehnten Tendenzen zur Brückenbildung zwischen diesen beiden Lagern bestehen, wirkt die Illegalität von Homeschooling in Deutschland hierfür als retardierendes Moment, da sie nicht nur die formelle Vernetzung deutlich erschwert, sondern beide Gruppen ihren zwangsläufigen Rechtsbruch auch aus unterschiedlichen Motiven heraus legitimieren. Thomas Spiegler vermutet hierin auch einen wichtigen Grund für die stark christliche Prägung der deutschen Homeschool-Bewegung. Der permanente Konfliktzustand mit staatlichen Behörden, in welchem sich deutsche Homeschool-Familien aufgrund der Verletzung der Schulpflicht befinden, ist nach Einschätzung Spieglers für dezidiert christliche Eltern durch den Rückgriff auf eine dem Staat übergeordnete transzendente Instanz einfacher zu legitimieren und zu verarbeiten.31

29 Vgl. Stevens 2001, 170f. 30 So interpretierte beispielsweise ein Vater, der im Rahmen des Seminars einen PädagogikWorkshop anbot, die beiden in Genesis zu findenden Schöpfungsberichte als mögliche biblische Fundierung sowohl für einen durch die Eltern vorstrukturierten als auch für einen durch die Kinder mitgestalteten freieren Bildungsansatz. 31 Vgl. Spiegler 2008, 99. Für die USA ist hierbei anzumerken, dass Homeschooling auch nach der Legalisierung in den 1980er Jahren weiterhin stark evangelikal geprägt geblieben ist. Vgl. Belfield 2004, 5; Isenberg 2007, 401.

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Die Geschichte der christlichen Homeschool-Bewegung in Deutschland Nach Einschätzung Ralph Fischers stellt die ursprüngliche Gründung der Philadelphia-Schule den Beginn einer organisierten Homeschool-Bewegung in Deutschland dar.32 Die Gründung der Schule geht auf die Initiative der Familie Stücher zurück und steht in engem Zusammenhang mit den westdeutschen Bildungsreformen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Helmut Stüchers eigenen Angaben zufolge beginnt sein Konflikt mit dem deutschen Schulsystem mit der Einführung des verpflichtenden Sexualkundeunterrichts in NordrheinWestfalen.33 Von diesem möchte er zunächst 1973 seine Tochter befreien lassen. Er tut dies in schriftlicher Form unter Berufung auf seine christliche Überzeugung, die er vor allem durch eine Untergrabung seiner elterlichen Autorität gegenüber seinen Kindern angegriffen sieht. Nach und nach versuchen die Stüchers auch ihre anderen Kinder vom Sexualkundeunterricht befreien zu lassen, was zunächst mit gemischten Erfolgen gelingt.34 Ab 1980 entschließen sich die Stüchers dann erstmals dazu, zwei ihrer Kinder nicht weiter zur Schule zu schicken. Schriftlich teilt Helmut Stücher der Schule mit, dass er seine Kinder »nicht mehr dem gottlosen, materialistischen und unsittlichen Geist des Sozialismus, dessen Stimme und Werkzeug die Schule hier und allerwärts geworden ist«,35 aussetzen möchte. Was folgt, ist ein mehrjähriger Rechtsstreit mit diversen Behörden, der nach einem nicht bezahlten Bußgeldbescheid und daraus resultierender fünftägiger Haft für Helmut Stücher 1983 zwischenzeitlich in einem gerichtlich angeordneten Sorgerechtsentzug für die Stüchers gipfelt. Dass dieser in der Praxis nie vollständig ausgeführt und ein Jahr später schließlich wieder revidiert wurde, interpretierte Helmut Stücher als einen göttlichen Eingriff zu seinen Gunsten, wie auch der gesamte Kampf mit den Behörden von ihm immer wieder religiös gedeutet und unter Rückgriff auf biblische Inhalte erzählt wird.36 In das Jahr 1983 fällt auch die offizielle Gründung der Schule, die zunächst nur aus der Familie Stücher selbst besteht. Ab 1984 wird die Existenz der Schule behördlich geduldet und es werden erstmals Kinder aus anderen Familien auf32 Vgl. Fischer 2009, 78–81. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Spiegler 2009, 154. Die Entwicklung einer organisierten und nicht primär christlich orientierten Freilern-Bewegung in Deutschland setzte demgegenüber deutlich später ein. 33 Die im Folgenden genannten Daten zur Geschichte der Philadelphia-Schule basieren auf Buyny 2016; Spiegler 2008; Stücher 2014, der Website der Philadelphia-Schule sowie einem persönlichen Interview des Autors mit Helmut Stücher im April 2017. 34 Insgesamt hat das Ehepaar Stücher elf Kinder, von denen sieben häuslichen Unterricht erhielten. Vgl. Stücher 2014, 163; Spiegler 2008, 149. Zu den Auseinandersetzungen um die Unterrichtsbefreiung der Kinder vgl. Buyny 2016, 54–58. 35 Zitiert nach Buyny 2016, 60. 36 Vgl. Stücher 2014, 164–167.

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genommen, wobei abschließende Schulprüfungen durch externe Institutionen durchgeführt werden müssen. Neben seiner Tätigkeit als Schulleiter ist Helmut Stücher dabei bis heute publizistisch tätig geblieben, wobei er den von ihm seit den Bildungsreformen der 1960er Jahre als desolat empfundenen Zustand des deutschen Schulsystems in einer christlich-apokalyptischen Weltdeutung eingebettet sieht.37 Die Entstehung der Philadelphia-Schule kann dabei im Kontext gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozesse der 1960er und 1970er Jahre gesehen werden, die von Teilen konservativ-christlicher Milieus als krisenhafte Entwicklung empfunden wurden.38 Die in diese Zeit fallenden politischen Debatten um die Einführung der schulischen Sexualerziehung in der Bundesrepublik waren dabei stark von der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit geprägt, weswegen es hier im Kontext der Studentenproteste zu einer besonders engen Verschmelzung zwischen sexualrevolutionären und gesellschaftskritischen Forderungen kam. Inspiriert durch die Überlegungen der Frankfurter Schule39 sowie in Anlehnung an den österreichischen Psychoanalytiker Wilhelm Reich wurde innerhalb der deutschen Studentenbewegung die These diskutiert, dass der Erfolg des Faschismus in Europa in einem direkten Zusammenhang mit einer durch die christlichen Kirchen gestützten restriktiven Sexualmoral und konservativen Idealen der patriarchalischen Kernfamilie stehen würde. Nach dieser Lesart stellte eine Revolutionierung der Sexualität zur Abschaffung autoritär-faschistischer Gesellschaftsstrukturen ein gesellschaftspolitisches Kernanliegen dar, für dessen Durchführung der Institution Schule eine Schlüsselrolle zukommen würde.40 Im Zusammenspiel mit politischen Debatten um die Reformbedürftigkeit des Bildungssystems in der Bundesrepublik wurden die Entwicklung antiautoritärer Erziehungskonzepte und die Einführung eines fächerübergreifenden Sexualkundeunterrichts zu Kernanliegen der Studentenbewegung. Für konservative christliche Gruppen, die bis dahin kaum durch politisches Engagement aufgefallen waren, wurde in Reaktion hierauf der 37 Vgl. Stücher 2014, 164–167. Zum religiösen Kontext Stüchers vgl. auch Spiegler 2008, 149. 38 Umfassend hierzu McLeod 2010, zur Bedeutung der Einführung der Sexualerziehung in Deutschland vgl. Roßkopf 2016; Koch 2013, 32f. Sabine Krampen-Lietzke weist in ihrer Arbeit zum Dispens von Schulunterricht aus religiösen Gründen darauf hin, dass der Sexualkundeunterricht nach wie vor den Hauptgegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen um inhaltsbezogene Unterrichtsbefreiungen seitens christlicher und mittlerweile auch vermehrt muslimischer Gruppen darstellt. Vgl. Krampen-Lietzke 2013, 223, 234. 39 Bei der Frankfurter Schule handelt es sich um eine auf das Institut für Sozialforschung in Frankfurt zurückgehende ideologiekritische und disziplinübergreifende Theorieschule, die auf Ansätze aus marxistischer Theorie und Psychoanalyse zurückgreift. Als zentrale Vertreter des hier betrachteten Zeitraums sind Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno hervorzuheben. 40 Vgl. McLeod 2010, 148f.

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Erhalt von als traditionell wahrgenommenen Familienstrukturen und Sexualnormen zu einer vehement vertretenen Forderung.41 Im Jahr 1970 reichte der Rechtsanwalt Dr. Dieter Hauke vor dem Verwaltungsgericht Hamburg Klage ein, dass die Einführung des Sexualkundeunterrichts in Hamburg ohne gesetzliche Grundlage erfolgt sei und obendrein das Grundrecht der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder verletze. Der Rechtsstreit dauerte letztlich sieben Jahre an und zog sich durch verschiedene Instanzen bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Dieses fasste im Dezember 1977 den Beschluss, dass die Sexualerziehung an öffentlichen Schulen unter der Schulhoheit des Staates stehe und räumte Eltern nur ein Informations-, nicht aber ein Mitbestimmungsrecht in der Ausgestaltung des schulischen Sexualkundeunterrichts ein, solange dieser in weltanschaulich neutraler Art und Weise erfolge.42 In Reaktion auf dieses Urteil veröffentlichte der Theologische Konvent der Konferenz Bekennender Gemeinschaften43 1979 eine Publikation, die auch Helmut Stücher bekannt war.44 Der Pädagoge Immanuel Lück betitelte das von ihm herausgegebene Werk dabei folgendermaßen: Alarm um die Schule: Kritische Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen ErziehungsSituation – die neomarxistische Unterwanderung. Die in den 1960ern begonnenen Bildungsreformen stellen dabei in der Lesart Lücks eine gezielte Ideologisierung der Schulen mit einem neomarxistischen Weltbild nach Vorbild der Frankfurter Schule dar, die mit einer gezielten Ablehnung einer christlichen Werteordnung und der völligen Auflösung familiärer Strukturen einhergehe. Mit diesen Kernthesen kann das Werk als paradigmatisch für eine sich seit den 1960er Jahren formierende und bekenntnisevangelikal geprägte Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland gesehen werden, für welche die Einführung der fächerübergreifenden Sexualerziehung ein Schlüsselereignis darstellt.45 Nachdem spätestens mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Sexualerziehung 1977 abzusehen war, dass ein politischer Widerstand gegen die Reformen auf Länder- und Bundesebene wenig Aussicht auf Erfolg haben würde, wurde von Teilen der Bewegung ein Rückzug aus dem staatlichen Schulsystem in Erwägung gezogen. Am deutlichsten sichtbar wurde dieser Rückzug in einer 41 Vgl. Roßkopf 2016, 179–230. Zum umfassenderen Kontext vgl. Bauer 2012. 42 Vgl. Roßkopf 2016, 332–340; Lück 1979, 318–332. 43 Bei der Konferenz Bekennender Gemeinschaften in den Evangelischen Kirchen Deutschlands handelt es sich um eine 1970 gegründete konservative Arbeitsgemeinschaft innerhalb der evangelischen Landeskirchen. Sie kann ihrerseits auf die sogenannte Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« zurückgeführt werden, die sich in dezidierter Ablehnung historisch-kritischer Theologie konstituierte. Vgl. hierzu Bauer 2012; Scheerer 1997; Hempelmann 2009. 44 Vgl. Stücher 2014, 73, 276. 45 Vgl. Lehmann 2015, 294; ausführlicher behandelt in Roßkopf 2016. Ein weiterer zentraler Streitpunkt war die ebenfalls in diese Zeit fallende Abschaffung landeskirchlich getragener Konfessionsschulen.

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Reihe privater christlicher Schulgründungen, von denen die meisten im 1981 gegründeten Verband Evangelischer Bekenntnisschulen (VEBS) organisiert sind.46 Christliches Homeschooling hingegen blieb aufgrund der Rechtslage zur Schulpflicht in der Bundesrepublik von Anfang an eine Randerscheinung.47 Die im Rahmen der Bildungsreformen ebenfalls aufkommenden Ansätze zu antiautoritären Erziehungskonzepten stellten dabei bisweilen auch den institutionellen Rahmen der Schule selbst infrage und wurden damit zur Basis der von Alternativen getragenen Ansätze des Freilernens und Unschoolings.48 Für Fromme wie Helmut Stücher hingegen war genau diese wahrgenommene Auflösung autoritärer Erziehungs- und Familienstrukturen einer der Hauptgründe für den Rückzug aus dem öffentlichen Schulsystem, wie er auch rückblickend festhält: Wir spürten den negativen Einfluss der Schule durch die ideologische Pädagogik, die seit Anfang der 70er-Jahre von der linken Emanzipationsbewegung eingeschleust worden war, sodass uns klar wurde: Wir müssen handeln. Uns wurde bewusst, dass wir als Eltern allein verantwortlich sind, für unsere Kinder und Gott Rechenschaft geben müssen, wem wir sie überlassen.49

Die deutsche Homeschool-Bewegung entstand damit an den entgegengesetzten Rändern einer politischen und pädagogischen Auseinandersetzung um Grundsatzfragen zu Sexualität, Familienstrukturen und gesellschaftlicher Ordnung. Diese historisch bedingte Konfliktstellung trägt auch mit dazu bei, dass sich eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Lagern bis heute als schwierig erweist.

Homeschooling im Kontext einer Neubewertung von Mutterschaft und Kindheit Rolf-Heiko Buyny, Hauptschullehrer und langjähriger Begleiter der Familie Stücher, fasste das Kernanliegen des Streits Helmut Stüchers mit den schulischen Behörden wie folgt zusammen: 46 Bei der Gründung 1981 noch als Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Bekenntnisschulen (AEBS) bezeichnet, die Umbenennung erfolgte 2006. Zur Geschichte des VEBS vgl. Lehmann 2015 sowie Roßkopf 2016. 47 Vgl. Spiegler 2008, 145–148. Die genannten Entwicklungen weisen auffällige Parallelen zur Frühphase der evangelikalen Privatschul- und Homeschool-Bewegung in den USA auf, wobei hier vor allem die Abschaffung des Schulgebets und der verpflichtenden Bibellektüre durch den Surpreme Court Anfang der 1960er Jahre hervorzuheben sind. Vgl. hierzu Vieux 2014, 557f.; sowie Gaither 2008, 230–233. 48 Vgl. Spiegler 2008, 146f. Eine Verbindung, die auch Milton Gaither für die USA zieht, wenn er die außerschulische Kindererziehung durch Hippie-Kommunen dieser Zeit als eine der frühesten belegbaren Formen modernen Homeschoolings einschätzt. Vgl. Gaither 2008, 228f. 49 Stellungnahme durch Helmut und Elisabeth Stücher, zitiert nach: Stücher 2014, 163f.

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Es ging also nicht nur um die sog. Geschlechtserziehung im Biologieunterricht, um bedenkliche Haltungen von Lehrern zu elterlicher Autorität, um verwerfliche Texte und Abbildungen in Schulbüchern, sondern um bzw. gegen den Geist der Zersetzung, der Unmoral und der Auflehnung gegen überlieferte Wertvorstellungen und gegen Gottes Ordnungen in der Schule.50

Es liegt vor dem Hintergrund dieser Lesart nahe, den Konflikt zwischen Helmut Stücher und dem deutschen Bildungssystem, welcher den Initialpunkt der deutschen christlichen Homeschool-Bewegung darstellt, auf Grundlage der religionssoziologischen Überlegungen Martin Riesebrodts als Ausdrucksform eines patriarchal und traditionalistisch orientierten religiösen Protestes gegen einen umfassenden gesellschaftlichen Wertewandel zu interpretieren:51 Die Auflösung patriarchalischer Normen und Strukturen findet primär im Bereich der Familie und Sexualmoral statt. […] Gegenüber der jüngeren Generation findet dieser Prozeß vor allem durch den Wandel im Bildungswesen statt, der großen Teilen der jüngeren Generation gegenüber der Elterngeneration die Erlangung eines höheren Bildungsstatus sowie eines veränderten, in der Regel stark säkularisierten Bildungswissens vermittelt.52

Diese Perspektive mag auch für das weiter gesteckte Feld der christlich-konservativen Bildungsproteste der 1960er und 1970er Jahre einen möglichen Interpretationsrahmen anbieten.53 Allerdings ist sie auf theoretischer Ebene weder dafür geeignet, das zunehmend offener werdende Feld christlichen Homeschoolings als Ganzes zu erfassen, noch den hohen Involvierungsgrad von Müttern als hauptsächliche Trägerinnen von Homeschooling in der Praxis zu erklären. Um hierfür einen angemessenen theoretischen Rahmen anbieten zu können, müssen veränderte Vorstellungen von Mutterschaft und Kindheit im Kontext der Moderne mit in den Blick genommen werden. In ihrer Arbeit zur historischen Genese des Konzeptes der »Mutterliebe« geht die französische Philosophin Élisabeth Badinter davon aus, dass sich das Konzept von Mutterschaft in Europa um das Ende des 18. Jahrhunderts grundlegendend gewandelt habe. Indem von einer natürlich gegebenen Liebe und Aufopferungsbereitschaft von Müttern für ihre leiblichen Kinder ausgegangen wurde, vollzog sich ein Wandel vom Ideal des autoritären Vaters hin zu dem der liebenden Mutter als der primär für die Erziehung der Kinder verantwortlichen Instanz.54 Im Rahmen dieser Entwicklung kamen auch zunehmend Überlegun50 51 52 53

Buyny 2016, 59. Vgl. zu dieser Einschätzung auch Spiegler 2008, 174f. Riesebrodt 1990, 245. Gisa Bauer hält dabei in ihrer Betrachtung bekenntnisevangelikal geprägter Bewegungen in Deutschland fest, dass diese bis in die 1970er-Jahre durch einen weitgehenden Ausschluss von Frauen gekennzeichnet waren. Vgl. Bauer 2012, 44. 54 Vgl. Badinter 1981, kurz zusammengefasst auf 113–115. Vgl. hierzu auch Allen 2005.

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gen zu einer natürlich gegebenen pädagogischen Begabung von Müttern auf, die für die Selbstwahrnehmung vieler Homeschooling-Mütter in Deutschland bis heute von entscheidender Bedeutung geblieben sind.55 Die Vorstellung, dass Eltern und zwar insbesondere Mütter aufgrund ihrer engen Bindung zu ihren Kindern am besten wissen, wie diese zu erziehen sind, stellt sowohl unter Frommen wie auch unter Alternativen eine häufige Begründung für die Entscheidung zum Homeschooling dar. Zugleich sind die gesellschaftlichen Anforderungen an elterliche Sozialisationsleistungen mit Herausbildung eines bürgerlichen Familienideals, in welchem die Erziehung der Kinder nicht mehr primär als ökonomische Existenzabsicherung, sondern als Möglichkeit elterlicher Selbstverwirklichung gewertet wird, zunehmend angestiegen.56 Nach Einschätzung von Mitchell Stevens und – daran anschließend – Thomas Spiegler stellt Homeschooling daher eine Möglichkeit für Mütter dar, das mittlerweile in Kritik geratene Bild der nicht berufstätigen Vollzeit-Mutter durch die Übernahme einer Lehrerinnenrolle aufzuwerten. Die hiermit einhergehende Erarbeitung pädagogischer Kompetenzen ermöglicht es Homeschooling-Müttern, sich innerhalb ihrer Lehrerinnen-Rolle eine Form von Expertenstatus zu erarbeiten, über welchen sie ihre Tätigkeit legitimieren und durch Außenstehende Anerkennung erfahren können.57 Der Anspruch einer autodidaktisch angeeigneten pädagogischen Professionalisierung seitens der Eltern ist daher auch einer der wichtigsten Punkte, welcher Homeschooling von vormodernen Formen häuslicher Bildung innerhalb der Familie unterscheidet. Nach Einschätzung von Barbara Thiessen und Paula-Irene Villa besteht derzeit innerhalb deutschsprachiger massenmedialer und politischer Diskurse allerdings auch eine deutliche Tendenz dazu, diese Konstruktion einer biologisch determinierten mütterlichen Naturbegabung zur Kindererziehung infrage zu stellen. Diese Neuinterpretation basiert dabei nach Einschätzung der Autorinnen auf einer »reflexive[n] Modernisierung und Individualisierung von Mutter- und

55 Vgl. Allen 2005, 207–212. Diese Betonung einer naturgegebenen pädagogischen Begabung von Müttern, die sich auch in der Selbstdarstellung der Philadelphia-Schule wiederfindet, lässt sich bis in die frühesten deutschsprachigen Texte über häusliche Pädagogik zurückverfolgen, vgl. Spiegler 2008, 143–145. 56 Vgl. Baader 2014, 414–417; Allen 2005, 10–12. Zur Bedeutung des American cult of the child für die Geschichte der US-amerikanischen Homeschool-Bewegung siehe Gaither 2008, 234. Die Soziologin Jennifer Lois stellt mit Blick auf US-amerikanische Homeschooling-Mütter aus christlichem Kontext fest, dass für diese das gesellschaftliche Ideal der aufopferungsbereiten Mutter eine der wichtigsten Grundlagen darstellt, um sowohl Kritik durch Außenstehenden zu begegnen, wie auch die mit Homeschooling oft verbundenen biographischen und zeitlichen Einschränkungen gegenüber sich selbst zu legitimieren. Vgl. Lois 2012. 57 Vgl. Spiegler 2008, 123–126; Stevens 2001, 83.

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Vaterschaft«,58 welche deutlich die Möglichkeit eines elterlichen Scheiterns aufgrund individueller Verfehlungen bei gleichzeitiger Unterbetonung struktureller Begrenzungen vorsieht: Biologische Mutterschaft selbst scheint keine Garantie mehr dafür zu sein, es auch richtig zu machen. Damit ist der Mutterschaft (und auch der Vaterschaft) der naturalistische Boden entzogen, über den sie hierzulande zwei Jahrhunderte lang zumindest diskursiv und rhetorisch verfügt hat. […] Und damit ist der normativen Expertisierung von Mutter- und Vaterschaft Tür und Tor geöffnet. Mutterschaft kann nicht nur erlernt werden – sie muss es auch, so der Tenor.59

Dabei bewegt sich Homeschooling in genau diesem Spannungsfeld zwischen Individualisierung, veränderten Vorstellungen von Elternschaft und der Frage nach der Grenze zwischen staatlicher und elterlicher Verfügungsgewalt über die Entwicklung der eigenen Kinder. Denn letztlich kann Homeschooling aus elterlicher Perspektive als eine Form individueller Professionalisierung der Erziehung der eigenen Kinder bei zugleich minimalem Eingriff durch externe staatliche Institutionen gesehen werden. In dieser Ablehnung institutioneller Vormundschaft bei gleichzeitiger Betonung individueller Deutungshoheit erweist sich Homeschooling in evangelikalen Kontexten auch anschlussfähig an eine Tradition freikirchlich-protestantisch begründeter Kritik eines institutionalisierten Staatskirchenwesens. Dies zeigt sich auch darin, dass seitens der von mir interviewten Eltern, der Ausdruck »Religion« zur Beschreibung ihres christlichen Selbstverständnisses nicht unumstritten gewesen ist. Prägnant wurde dieser Sachverhalt während des Seminars von einer Mutter auf den Punkt gebracht, die mir auf meine Frage danach, wie sie sich selbst religiös verorten würde, antwortete, dass sie keine Religion habe, sondern »einfach nur Christin« sei. Die kritische Distanzierung gegenüber dem Religionsbegriff wurde mir dadurch erklärt, dass man den Begriff mit institutionalisierten Formen christlicher Praxis assoziiere, die als unpersönlich und traditionalistisch wahrgenommen wurden. Konkret richtete sich die Kritik dabei zumeist gegen die Institutionen der evangelischen und katholischen Landeskirchen als Träger einer aus Sicht der Eltern unpersönlichen und unreflektierten Form von Religiosität, welcher man eine alltägliche Glaubenspraxis und individuelle Reflexionsleistung auf Grundlage biblischer Texte entgegenhielt.60 Damit spiegelte sich im religiösen Selbst-

58 Thiessen/Villa 2008, 283. Hintergrund hierfür ist unter anderem ein staatliches Interesse an einer zweckrationalen Optimierung der Kindererziehung mit Blick auf ökonomische und gesellschaftliche Erfordernisse, wie sie historisch auch für die hier dargestellte Idealisierung von Mutterschaft bedeutsam gewesen war. 59 Thiessen/Villa 2008, 281f. 60 Es ist hierbei anzumerken, dass diese Kritik gegenüber institutionalisierten Formen von Religiosität nahezu deckungsgleich von sich selbst als areligiös bezeichnenden Freilerner-

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verständnis der Eltern eine ähnlich institutionenkritische Grundhaltung wider, mit der auch dem öffentlichen Schulsystem begegnet wurde und aus der heraus Homeschooling als Bestandteil christlich verstandener Alltagspraxis gedeutet werden kann. Für die Religions- und Kulturwissenschaft bietet das Feld christlichen Homeschoolings hier Anschlussmöglichkeiten für weiterführende Forschungsfragen zum Zusammenspiel von Religionen und Erziehungspraktiken im Kontext sich wandelnder Vorstellungen zu Mutter- und Vaterschaft.

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Response

Stefanie Knauß

Wenn Pandoras Büchse erst einmal offen ist…: Geschlecht und Religion, Macht und Wissen

Der Mythos von Pandoras Büchse (oder richtiger, Krug) erinnert mich als katholische Theologin in vielem an die biblische Geschichte von Eva und dem Apfel (oder richtiger, eine nicht-spezifizierte Frucht). In beiden Fällen hat die Handlung einer Frau ernste Folgen: schmerzliche Leiden für die Menschheit bei Pandora, Vertreibung aus dem Paradies mit ebenfalls unangenehmen Folgen für menschliche Arbeit, Beziehungen und Fortpflanzung bei Eva. Und in beiden Fällen ist eine Gottheit maßgeblich an dem Geschehen beteiligt – vielleicht um damit der gegebenen Situation, in der Menschen sich befinden, göttliche Legitimation zu verleihen: Der biblische Gott pflanzte den Baum der Erkenntnis in den Garten und erließ gleichzeitig das Gebot, ihn nicht zu berühren (und jeder vernünftige Mensch hätte Gott sagen können, dass das nicht gut gehen kann), während der unheilvolle Krug vom Göttervater Zeus geschickt wurde. Die Rolle der Männer – Adam, der den Apfel nicht hätte essen müssen, und Prometheus, dessen eigener Ungehorsam erst die Erschaffung von Pandora motivierte – geriet im Lauf der Zeit in Vergessenheit. Wie immer, so möchte frau sagen, sind die Frauen schuld: Eva pflückte die Frucht, Pandora öffnete den Krug, und in beiden Fällen spielt die weibliche Verführungskraft eine entscheidende Rolle. Frauen sind, so die Mythen, ein Problem in unserer Welt, weil sie so sind, wie sie sind: schön, verführerisch, neugierig, falsch. Obwohl Jahrtausende alt, erkennen doch wohl viele heutige Leser_innen das in den Mythen gespiegelten Geschlechtermodell und die mit Männlichkeit und Weiblichkeit assoziierten Eigenschaften und Werte. Aus unterschiedlichen religiösen Traditionen stammend, haben sie und viele andere religiöse Mythen, Normensysteme und durch sie geprägte Verhaltensweisen das Leben, Selbstverständnis und Weltverhältnis von Menschen tief geprägt, bis heute in unsere sogenannte post-säkulare Zeit. Obwohl wohl nur wenige heute diese Mythen in allen Details rezitieren können (Büchse? Krug? Apfel? Frucht?), ist die Grund-

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botschaft doch weitgehend bekannt: Frauen sind die Quelle allen Übels und Männer sind die unschuldigen Opfer ihrer Intrigen.1 Dass es aber doch ganz so einfach nicht ist, zeigen die Beiträge in diesem Band in ihrer Vielfalt. Sie komplizieren diese Botschaft, indem sie die Vielfalt von religiösen und nicht-religiösen Geschlechtermodellen, die Brüche in Vorstellungen von Frauund Mannsein und die Differenz gelebter Geschlechtsidentität von Idealvorstellungen aufzeigen und dabei gleichzeitig die Frage nach den (Macht-)Interessen stellen, die die Entwicklung und Fortführung von bestimmten Geschlechterrollen motivieren. Dabei erfüllen die Fallstudien aus unterschiedlichen historischen, kulturellen und religiösen Kontexten eine zweifache Aufgabe: Einerseits tragen sie mit der Analyse spezifischer Phänomene, in denen Religion, Geschlecht und Sexualität in je unterschiedlicher Weise fraglich werden, zu der Erweiterung unseres Wissens von den vielfältigen Interaktionen dieser drei Phänomene in Geschichte und Gegenwart bei. Andererseits werden in ihnen grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis von Wissen und Macht, Religion und Geschlecht angesprochen. Und hier möchte ich mit meinen abschließenden (aber nicht abgeschlossenen) Überlegungen ansetzen und weiterdenken. Angeregt von den Beiträgen dieses Bandes interessieren mich vor allem die Funktion von Geschlecht als Kategorie des Wissens, die Möglichkeiten und Grenzen von Religion(en) und ihren Geschlechtermodellen im Verhältnis zu den Gesellschaften, in denen sie sich realisieren, das Verhältnis von Körper, Sex (im Sinn von Begehren) und Geschlecht sowie die Rolle von Religionswissenschaft und ihren Methodologien, darunter der noch relativ junge Ansatz der Intersektionalität. Obwohl mir diese Themen bei der Lektüre der Beiträge als verbindende und weiterführende Fragen in den Sinn kamen, erschöpfen sie keineswegs die Vielfalt der in diesem Band angesprochenen Aspekte, noch soll damit impliziert werden, dass damit das Gebiet Religion und Geschlecht insgesamt umrissen sei.

(Geschlechter-)Kategorien, Wissen und Macht Wie die Herausgeber_innen in der Einführung anmerken, sind Kategorien wie männlich oder weiblich (und auch bisexuell, intersexuell, transsexuell etc.) Hilfsmittel zur Welterschließung: Die Phänomene, denen wir jeden Tag ausgesetzt sind, müssen sortiert und in Beziehung miteinander gesetzt werden, damit wir sinnvoll damit umgehen können. Kategorien sind nicht (nur) das Ergebnis unserer Weltbeobachtung, sondern prägen unsere Sicht der Welt grundlegend. Wir sehen das, wofür wir eine Kategorie haben, und fühlen uns verunsichert, 1 Zu vergleichbaren Beobachtungen bezüglich des Motivs des Apfels aus der biblischen Erzählung vgl. Knauß 2015.

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wenn nicht sogar bedroht, von dem, was nicht in diese Schublade passt. Wie Michel Foucault gezeigt hat, sind diese Wissenskategorien und die Systeme, in denen sie miteinander verbunden werden, nie neutral, sondern etablieren Hierarchien und dienen (Macht-)Interessen.2 Um diese zu verfestigen, werden Kategorien naturalisiert und damit als zwingend festgeschrieben. Religionen spielen dabei eine wichtige Rolle, indem sie Kategorien nicht nur als natürlich, sondern gottgewollt festschreibt. Queere Theorie und queere Theologie, oft in Verbindung mit postkolonialen Ansätzen, setzen sich die Aufgabe, diese Naturalisierungsprozesse und ihre theologische Fundierung infrage zu stellen und damit das in ihnen implizierte Verhältnis von Macht und Wissen zu kritisieren und aufzubrechen.3 Dabei müssen sie immer wieder aber auch selbstkritisch fragen, wo durch die queere Kritik erneut Kategorien festgeschrieben und Machtverhältnisse etabliert werden, zum Beispiel das Konzept »queer« selbst, das als Fremdwort den wissenschaftlichen Diskurs in vielen Sprachen »kolonialisiert«, oder zwischen der kritischen Forschung, die meist in westlichen Universitäten beheimatet und gut bezahlt ist, und ihren »Objekten« in oft prekären Situationen an den Rändern der westlichen oder in nicht-westlichen Gesellschaften. Obwohl diese enge Verbindung von Geschlecht, Wissen und Macht beileibe keine neue Forschungserkenntnis ist, wird »Macht« gerade in der Diskussion von Geschlecht und Religion seltener reflektiert, obwohl sie doch offensichtlich und weniger offensichtlich alle Geschlechterbeziehungen und -kategorien prägt, wie in den Beiträgen dieses Bandes deutlich wird. Mag es sich dabei wie im Fall der Witwe um soziale Stellung und ökonomische Selbständigkeit handeln, wie im Fall der Skopz_innen um politische Macht, kombiniert mit religiöser Macht im Fall der »besessenen« Nonnen von Loudun, oder im Fall der Höllenschlund- und Hexenikonographie um die moralische Macht über Erlösung und Verdammnis – machtneutral sind die gesellschaftlichen, religiösen und eben auch wissenschaftlichen Diskurse um Geschlecht und die aus ihnen entstehenden Beziehungen nie und müssen deshalb immer wieder daraufhin hinterfragt werden, wenn wir sie verstehen wollen.

Religion, Gesellschaft und Geschlecht Religionen potenzieren in gewisser Weise diese machtvollen Geschlechterdiskurse, weil nun nicht nur weltliche Macht, sondern die absolute Macht einer Gottheit und eine letztgültige gottgewollte Weltordnung (wobei nicht alle reli2 Vgl. z. B. Foucault 1978; Foucault 1994. 3 Vgl. z. B. Althaus-Reid 2000.

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giösen Systeme ihre Welt- und/oder Jenseitsvorstellungen in diesen Begriffen formulieren) zur Debatte steht. Religionen bieten Systeme an, um die Phänomene der Welt und die aus ihnen entstehenden und sie ordnenden Kategorien in Beziehungen zu setzen, die als letztgültig und deshalb besonders tragfähig betrachtet werden. Darüber hinaus tragen sie zur inhaltlichen Füllung von Konzepten wie männlich oder weiblich bei und entwickeln Ideale von Männlichkeit oder Weiblichkeit in Normen weiter, deren Erfüllung oder Durchbrechung Konsequenzen nicht nur für das Leben in dieser Welt haben, sondern für die ewige Existenz eines Menschen in einem wie auch immer gedachten jenseitigen oder nicht-weltlichen Zustand. Religiös begründete kollektive Geschlechtsstereotype tragen somit, wie in der Analyse des Briefromans Amalie gezeigt, zur Ordnung von gesellschaftlichen Beziehungen bei. Dass dabei gerade religiöse Geschlechterideale eine herausragende Markierung für die Selbstdefinition einer Gruppe und ihre Abgrenzung von anderen Gruppen darstellen, zeigt sich nicht zuletzt in aktuellen politischen Debatten. Anders als in anderen sozialen Modellen stellen Religionen also Geschlecht sozusagen auf (mindestens) zwei Ebenen vor, im Bereich der immanenten Wirklichkeit und einer zweiten, wie auch immer vorgestellten Wirklichkeitsdimension (Jenseits, Transzendenz, ewiges Leben, Nirwana usw.). Das Verhältnis dieser Dimensionen ist keineswegs eindeutig, wie zum Beispiel die Analysen der Hare Krishna-Bewegung, der Raelistischen Religion oder der Herrnhuter Gemeinschaft zeigen: Jenseitige Geschlechterordnungen können die diesseitigen reflektieren, abwandeln oder ihnen widersprechen, sie infrage stellen oder (paradoxerweise manchmal sogar gleichzeitig) verstärken, nicht zuletzt dann, wenn egalitäre oder gerechte Geschlechterverhältnisse auf ein Jenseits projiziert werden, das diesseitige Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht antastet. Während in der Krishna-Bewegung zum Beispiel das menschliche Geschlecht als relevant nur für die grobstofflichen menschlichen Körper angesehen wird, während die Seele nicht an dieses Geschlecht gebunden ist, wird doch die Vorstellung der Vereinigung der Seele mit der Gottheit in Begriffen von weiblich und männlich gedacht und spiegelt diese Relationen zurück auf die weltlichen Beziehungen innerhalb der Bewegung, in denen Frauen untergeordnet bleiben. Während also die Einführung einer jenseitigen Dimension für Religionen in gewisser Weise neuen Spielraum für die Vorstellung von Geschlecht schafft, so ist dieser Spielraum doch auch wieder stark begrenzt durch die gesellschaftlichen Modelle, die den weltlichen Kontext einer Religion prägen und die durch religiöse Diskurse verstärkt werden. In den Fallstudien dieses Bandes fällt auf, dass zumindest die hier diskutierten Religionen bei aller innovativen Kraft und kritischen Haltung gegenüber immanenten Verhältnissen durch die Beharrlichkeit zweier Grundelemente in ihren Geschlechtermodellen eingeschränkt zu sein scheinen: der Binarität von Geschlecht als männlich und weiblich und der daraus

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abgeleiteten Heteronormativität, die zum Beispiel die Raelistische Religion selbst bei Außerirdischen wiederfindet. Selbst wenn ein drittes (oder viertes oder fünftes) Geschlecht gedacht wird, wird es als eine Abwandlung oder Kombination von zwei Geschlechtern – ob zwei distinkte Kategorien oder Pole eines Kontinuums –, die die notwendigen Vergleichsgrößen darstellen, vorgestellt.4 Auch wenn dieses Binär vielleicht im Jenseits oder in der Vorstellung einer geschlechtslosen Seele aufgelöst wird, so bleibt es doch als grundlegende Prägung unseres Zugangs zur Wirklichkeit bestehen, nicht nur in Bezug auf Geschlecht, sondern auch in Bezug auf andere Kategorien der Welterfassung, die von diesem Grundbinär abgeleitet und immer wieder darauf bezogen werden. Die Vielfalt von religiösen Geschlechtermodellen erscheint also eher in der kreativen Kombination und Neukombination von grundlegend binär und heterosexuell gedachtem Geschlecht, wobei Religionen durch die Einziehung einer zweiten Wirklichkeitsdimension zusätzliche Variationsmöglichkeiten haben.

Körper, Begehren und Geschlecht Eine ähnliche Variabilität bei bleibendem Bezug zeigt sich in den Beiträgen dieses Bandes im Blick auf die Bedeutung der Körperlichkeit für Geschlechtsidentität in religiösen Systemen. Die Vielfalt der Vorstellungen und ihre Brechungen legen nahe, dass die einfache, wenn auch politisch zunächst hilfreiche theoretische Unterscheidung von körperlichem und kulturellem (oder religiösem?) Geschlecht nicht aufrechterhalten werden kann, auch wenn Körperlichkeit in religiösen und nicht-religiösen Geschlechterdiskursen eine bleibende, wenn auch beileibe nicht eindeutige Rolle spielt. Das körperliche Geschlecht bleibt zum Beispiel im Geschlechtermodell der Krishna-Bewegung bestehen, wird aber in seiner religiösen Bedeutung relativiert, während die Entfernung von körperlichen Geschlechtsmerkmalen durch Kastration bei Skopzen und Skopzinnen nicht zur Aufhebung der Geschlechtsidentität und der darin implizierten moralischen Differenzierung von Männern und Frauen führt. Bei diesen Beispielen wird deutlich, dass Körperlichkeit in vielfältiger Weise wichtig ist für die Vorstellung und Zuschreibung von Geschlecht, jedoch nicht in dem Sinne, dass sich Geschlecht eindeutig vom Körper ablesen ließe, sondern eher in dem Sinn, dass Körper und Materialität Inszenierungsräume von Geschlecht sind, wobei Körper durchaus auch einen gewissen »Eigensinn« entwickeln können, der die materielle Inszenierung sozialer Normen oder individueller Vorstellungen 4 Zur Vielfalt von Geschlechtermodellen in Kulturen weltweit siehe z. B. http://www.pbs.org/in dependentlens/content/two-spirits_map-html/ (zuletzt aufgerufen am 29. 04. 2019).

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unterwandern kann.5 Körperlichkeit steht dabei in der Spannung zwischen Normierung von Geschlecht und Widerstand: Sichtbare, konkrete Körper können als Realisierung von Geschlecht leicht kontrolliert werden, aber in ihnen kann auch eine widerständige Materialisierung von Geschlecht realisiert werden, ob in Form von drag oder den desexualisierten Körpern der Skopz_innen. Diese Inszenierungen finden nicht nur in der konkreten Sichtbarkeit des materiellen Körpers und seiner Erweiterungen durch Kleidung statt, wie die Analyse von Mode im nationalreligiös-geschlechtlichen Diskurs in Indien zeigt, sondern integrieren auch phantastische Vorstellungen von geschlechtlichen Körpern, wie die der Vagina Dentata oder, etwas wirklichkeitsnäher, Spekulationen über die meist von Kleidung versteckten Geschlechtsorgane. Körperlichkeit ist auch eine, jedoch nicht die einzige, Dimension, in der der Zusammenhang von Geschlecht und Begehren verhandelt wird. Während, wie oben schon erwähnt, Heterosexualität, also der lineare Zusammenhang eines binären Geschlechtermodells mit dem Begehren von Individuen des jeweils anderen Geschlechts, meist als Norm für irdische und jenseitige Beziehungen zwischen Menschen wie auch zwischen Menschen und Gottheiten vorausgesetzt wird – man denke an die heterosexuell vorgestellte Vereinigung der als weiblich gedachten Seele mit dem Gott Krishna –, zeigt zum Beispiel die Analyse der Männlichkeitsvorstellungen der Herrnhuter Gemeine, dass das heterosexuelle Ideal hier durch die symbolische Homosexualität in der Verehrung der erotisierten Seitenwunde Jesu aufgebrochen werden kann, ohne deshalb grundsätzlich infrage gestellt zu werden. Es ließe sich spekulieren, dass durch diese spirituelle Sublimierung von homosexuellem Begehren gerade die potentielle Destabilisierung der Ordnung der Gemeinde durch reale schwule Beziehungen vermieden und Heteronormativität bestärkt wird. Die soziale Sprengkraft von Sexualität und damit die Notwendigkeit ihrer Kontrolle durch religiöse und soziale Normen, die Georges Bataille theoretisiert und in seinem eigenen kreativen Schaffen imaginiert hat,6 zeigt sich gerade in ihrer moralischen Aufladung: Sex wird, in den meisten religiösen Diskursen, nicht in Kategorien von lustvoll oder unbefriedigend gedacht, sondern in den miteinander verbundenen moralischen Kategorien von gut und schlecht und medizinischen Kategorien von gesund und krank, die soziale Stabilität durch regulierte eheliche und familiäre Beziehungen und in diesen Beziehungen stattfindende Reproduktion garantieren. Soziale oder religiöse Transgression wird durch diesen Zusammenhang zwischen Sexualisierung und Moralisierung kontrolliert und bestraft, wie in der Figur der Hexe; aber gleichzeitig zeigt das Genre der Nunsploitation-Filme, dass diese Verbindung gerade auch zu lust5 Vgl. Reuter 2011. 6 Vgl. z. B. Bataille 1998.

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voller Transgression genutzt werden kann: Normen und ihre Subversion wie auch die Mechanismen, die ihnen zugrunde liegen, scheinen oft zwei Seiten derselben Medaille zu sein, ein Paradox mit ebenso interessanten wie frustrierenden Möglichkeiten für Wissenschaft ebenso wie den gelebten (geschlechtlichen) Alltag von Menschen.

Religionswissenschaftliche Selbstreflexion Es scheint, als ob die religionswissenschaftliche Reflexion auf Geschlecht so weit in die Jahre gekommen ist, dass ihr ein selbstkritischer Blick auf ihre Vorannahmen, Theoriebildung und methodologischen Entscheidungen gut tut, um weitere Entwicklungen auf den Weg zu bringen. Alice Kaisers Diskussion von drei wichtigen Positionen leistet dazu einen expliziten Beitrag, doch das Thema wird auch in anderen Beiträgen, teils als Ergebnis ihrer jeweiligen spezifischen Fallstudien, angesprochen. Zwei herausragende und miteinander verbundene Aspekte sind dabei die Objektivitätskritik und die methodologische Präferenz für das Besondere. Der Anspruch der Objektivität und damit verbunden Neutralität der Religionswissenschaft wurde vielfach kritisiert, ist jedoch immer noch ein prägendes Element ihrer Methodologie, sodass die fortlaufende Selbstreflexion auf eigene Vorannahmen und Perspektiven, die die Wahrnehmung der Welt im Allgemeinen und eines bestimmten Forschungsobjekts im Besonderen prägen, oft nicht ausreichend stattfindet. Welche eigenen Vorstellungen von Weiblichkeit habe ich zum Beispiel, die meine Haltung gegenüber den Müttern, die ihre Kinder in der Homeschooling-Bewegung zu Hause unterrichten, prägen, und welchen Einfluss hat diese Prägung auf meine Analyse und die Bewertung meiner Ergebnisse? Religionswissenschaftliche Geschlechterstudien sind zwar nicht primär eine politische Bewegung, beziehen aber gelegentlich auch kritisch Position gegenüber Beziehungen der Ungleichheit und Unterdrückung, was diese Selbstreflexion umso wichtiger macht.7 Das ist besonders der Fall in der Analyse fremder Kulturen, bei der die Beziehung zwischen (westlichen) Forschenden und (nichtwestlichen) Forschungsobjekten von einer prinzipiellen Ungleichheit in verschiedenen Dimensionen geprägt ist. Lila Abu-Lughod’s postkoloniale Reflexion auf anthropologische Praktiken von Feministinnen und halfies (also Anthropolog_innen, die der »fremden« Kultur angehören, ihr aber aus westlicher wissenschaftlicher Perspektive begegnen), auf die hierarchisierenden Konsequen7 Inwiefern ein solches (politisches) Engagement für Gerechtigkeit Teil des wissenschaftlichen Auftrags ist oder über ihn hinausgeht, ist eine ethisch-methodologische Frage, die z. B. auch in der Anthropologie diskutiert wird.

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zen des Begriffs Kultur und ihr Plädoyer für eine »Ethnographie des Besonderen« kann auch für die Religionswissenschaft hilfreich sein, um Machtverhältnisse und Positionalität auch methodologisch einzuholen.8 Der Fokus auf das Besondere, im Gegensatz zu früheren Versuchen, universale Theorien zu entwerfen, macht außerdem die Vielfalt gelebter Geschlechtsidentitäten und darin die Brüche und Verschiebungen im Vergleich zu normativen Idealen von Geschlechterrollen und -verhältnissen, die dadurch infrage gestellt werden, sichtbar. Dolores Zoé Bertschingers Analyse des Briefromans Amalie ist ein gutes Beispiel dafür, wie selbst in einem eng umrissenen historischen und kulturellen Moment viele verschiedene Vorstellungen von Frausein miteinander verhandelt werden müssen. Damit nähern sich die religionswissenschaftlichen Geschlechterstudien auch an eine theoretische Ausrichtung innerhalb der Religionswissenschaft an, die die gelebte Religion (lived religion) als primäres Forschungsobjekt versteht und eine Religion oder ihre Aspekte in ihrer alltäglichen Praxis statt in theologischen Entwürfen oder formal rituellen Vollzügen untersucht und dabei oft bemerkenswerte Unterschiede feststellt, die ein Umdenken verlangen.9 Die Analyse des Verständnisses von Weiblichkeit in der Homeschooling-Bewegung ist ein gutes Beispiel, das zeigt, dass die inhaltliche Füllung einer Geschlechterkategorie in der gelebten Praxis – eben im doing gender – geschieht, die zwar von Idealen und Normen geprägt ist, aber auch eine Eigendynamik entfalten kann. In der Erfassung dieser je unterschiedlichen Realisierungen von Geschlecht spielt die intersektionale Analyse eine wichtige Rolle, wie viele der Fallstudien in diesem Band zeigen. Zum Beispiel eröffnen Klassenzugehörigkeiten neue Spielräume oder setzen spezifische Grenzen in der Aneignung und Vereinbarung von verschiedenen Modeströmungen und ihren Inszenierungen von Geschlecht und Nation in Indien. Klasse ist auch eine zentrale Kategorie in der Analyse des Witwenstandes, der sich in dieser Weise überhaupt nur in der Mittelschicht ausprägen konnte. Hier kann die Religionswissenschaft ihren eigenen Beitrag zu einer theoretischen Weiterentwicklung der Intersektionalität leisten, indem sie einerseits Religion als einen bisher meist übersehenen Faktor in der Analyse von Beziehungen von Macht und Diskriminierung in den Vordergrund stellt, und andererseits zeigt, dass in den Kreuzungspunkten von zum Beispiel Religion und Geschlecht keineswegs vorhersagbare Machtverhältnisse entstehen, sondern diese je nach spezifischer Situation unterschiedlich ausfallen können (und durch weitere Faktoren wie Klasse oder Ethnie weiter kompliziert werden). Auch hier ist die Aufmerksamkeit für das Besondere in der Analyse unerlässlich für das Verstehen. 8 Vgl. Abu-Lughod 1991. 9 Vgl. McGuire 2008.

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Die Diskussion der Herrnhuter Gemeine und ihres Männerbildes verweist schließlich auf eine weitere Komplizierung der Analyse und Bewertung von Geschlechterbeziehungen, nämlich die Frage der Perspektive. Denn das innerhalb der Gemeinde vorherrschende Männerbild wird in der Restgesellschaft keineswegs ebenso positiv bewertet, sodass sich je nach emischer oder etischer Perspektive eine Gleichzeitigkeit von hegemonialer und marginalisierter Männlichkeit ergibt, in deren Spannung die Männer der Gemeinde ihr Geschlecht je nach Kontext aus unterschiedlichen Positionen heraus realisieren. Wenn nun, wie in den meisten der hier vorliegenden Beiträgen, ein konstruktivistisches Verständnis von Geschlecht und die kritische Analyse von Naturalisierungs- und Hierarchisierungsprozessen prominent ist, so stellt sich für die Religionswissenschaften auch die Frage, inwiefern sie, als immer noch von westlichen Akademikern dominierte Wissenschaft, zu der Festschreibung des Konzepts Geschlecht und Geschlechterkategorien wie weiblich oder männlich beigetragen haben. Eine ähnliche kritische Reflexion auf den Begriff Religion erfolgt bereits, doch in religionswissenschaftlichen Geschlechterstudien muss nun auch das Konzept Geschlecht an die Reihe kommen: Ist zum Beispiel die grundlegende Binarität, die sich – wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Ausformungen – in der ganzen Bandbreite der hier diskutierten Modelle feststellen lässt, vielleicht eher das Ergebnis der angewendeten Analysekategorien »männlich«, »weiblich«, »alles andere«, als ein Zeichen der Beschränktheit menschlicher Vorstellungskraft, was Geschlecht angeht? Welche Konsequenzen hat dies für weitere Forschungen zu Geschlecht? Inwiefern prägt die Entstehungsgeschichte der Religionswissenschaften (zum Beispiel ihre Nähe zu Ethnologie und Soziologie) ihre theoretischen und methodologischen Entscheidungen auch in Bezug auf die religionswissenschaftliche Konstruktion von Geschlecht? Wie sind die religionswissenschaftliche Konstruktion von Geschlecht und die wissenschaftliche Anwendung des Begriffs in (zum Beispiel postkoloniale) Machtverhältnisse integriert? Mit diesen Fragen (und anderen) eröffnet sich ein weiter Raum für die kritische Weiterentwicklung religionswissenschaftlicher Geschlechterstudien.

Zum Abschluss In ihren Einzelanalysen und breiteren theoretischen und methodologischen Reflexionen bieten die hier gesammelten Beiträge kein einheitliches Bild von Geschlecht und Religion oder religionswissenschaftlichen Geschlechterstudien, auch wenn dies vielleicht unseren Ansprüchen an wissenschaftliche Theorien und Analysen entgegensteht, die doch möglichst kohärent und widerspruchsfrei sein sollten und darin erst ihren Wert erweisen. Stattdessen werden in ihnen die

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Stefanie Knauß

Brüche zwischen unterschiedlichen Vorstellungen von Geschlecht, unterschiedlichen Formen, Geschlecht zu leben, und unterschiedlichen theoretischen und analytischen Ansätzen, Geschlecht zu untersuchen, deutlich. Diese Brüche und inneren Widersprüchlichkeiten sind jedoch, so meine ich, nicht Anzeichen von theoretischem oder analytischem Versagen, sondern gerade ein Zeichen der Hoffnung für eine kritisch-engagierte Reflexion von Geschlecht: In diesen Widersprüchen kann Widerstand entstehen und Bruchstellen können Orte sein, an denen kreative Ideen davon, wie Geschlecht neu verstanden und gerecht gelebt werden kann, hervorbrechen, die – hier spricht vielleicht die Theologin in mir – wohl nie an ein vollends und für alle befriedigendes Ende kommen werden. Aber das ist vielleicht auch gut so.

Literatur Abu-Lughod, Lila, 1991, Writing Against Culture, in: Fox, Richard G. (Hg.), Recapturing Anthropology. Working in the Present, Santa Fe: SAR Press, 137–162. Althaus-Reid, Marcella, 2000, Indecent Theology. Theological Perversions in Sex, Gender and Politics, London: Routledge. Bataille, Georges, 1998, Essential Writings, hg. von Michael Richardson, London: Sage. Foucault, Michel, 1978, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel, 1994, Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Knauß, Stefanie, 2015, The Journey of a Symbol through Western Imaginaries. The Curious Case of the Apple, in: Pezzoli-Olgiati, Daria (Hg.), Religion in Cultural Imaginary. Explorations in Visual and Material Practices, Baden-Baden: Nomos, 279–302. McGuire, Meredith, 2008, Lived Religion. Faith and Practice in Everyday Life, Oxford: Oxford University Press. Reuter, Julia, 2011, Geschlecht und Körper. Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit, Bielefeld: transcript Verlag.

Internet A Map of Gender-diverse Cultures, in: Independent Lens: http://www.pbs.org/independent lens/content/two-spirits_map-html/ (zuletzt aufgerufen am 29. 04. 2019).

Kurzbiographien

Jessica Albrecht, MSc., hat im Sommer 2017 zu dem Thema ihres Artikels ihre Bachelorarbeit in der Religionswissenschaft an der Universität Heidelberg geschrieben. Im September 2018 hat sie den MSc Gender History an der University of Glasgow abgeschlossen. Derzeit studiert sie im Masterstudiengang Kommunikation, Literatur und Medien der Südasiatischen Neusprachen und ist Lehrbeauftragte an der Universität Heidelberg. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der religionswissenschaftlichen und religionshistorischen Untersuchung von Gender und Religion im globalgeschichtlichen, kolonialen Kontext Südasiens. Benedikt Bauer, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Reformation und Neuere Kirchengeschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gender- und Männlichkeitskonstruktionen, Mystik und Frömmigkeitsgeschichte. Dolores Zoé Bertschinger, M.A., Doktorandin an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, hat Religionswissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Sanskrit und Tibetisch in Zürich, Bern und Venedig studiert. Sie hat die Zeitschrift RosaRot – Zeitschrift für feministische Anliegen und Geschlechterfragen mitaufgebaut und schreibt regelmässig für verschiedene Zeitschriften. Sie arbeitet an einem Dissertationsprojekt über zeitgenössische tibetische Wandmalerei. Charlotte Diedrich hat einen B.A. in Religionswissenschaft mit dem Nebenfach Sprache, Literatur, Kultur und einen M.A. in Religions- und Kulturwissenschaft. Ihre Masterarbeit befasste sich mit dem Witwenstatus im 19. Jahrhundert. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Gender Studies sowie Studien zu Körper, Materialität und Medialität. Inzwischen arbeitet sie im Verlagswesen. Kristina Göthling-Zimpel, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Interkulturelle Theologie und Körperlichkeit der Evangelisch-

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Kurzbiographien

Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Sie studierte an der RuhrUniversität Bochum und der Karl-Franzens-Universität Graz Kunstgeschichte, Religionswissenschaft und Gender Studies. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Erforschung religionsgeschichtlicher Transformationsprozesse, hier vor allem die Wandlung von intersektionalen Diskriminierungen und Stereotypisierung und deren Medialisierung unter besonderer Betrachtung der Kategorie Geschlecht. Benjamin Heimann, M.A., studierte Allgemeine Religionswissenschaft an der Westfälische Wilhelms-Universität Münster und promoviert dort über aktuelle Strömungen und Verzweigungen innerhalb der Hare Krishna-Bewegung. Neben indischer Religiosität liegt sein Forschungsschwerpunkt auf ritueller Bewusstseinsveränderung vom Schamanismus bis zur Gegenwartskultur. Anna-Katharina Höpflinger, PD Dr., hat Religionswissenschaft an der Universität Zürich studiert und dort 2010 über Drachenkampfmythen promoviert. 2019 folgte die Habilitation an der Universität Luzern über Religion und Black Metal. Seit 2016 lehrt und forscht sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Gender, Körper, Kleidung und Religion, Heavy Metal und Religion sowie europäische Bestattungskultur. Alice Kaiser, M.A., ist Diplomassistentin am Lehrstuhl Religionswissenschaft der Universität Freiburg (CH). Sie studierte an der Georg-August-Universität Göttingen und der Universität Bayreuth Religionswissenschaft und Ägyptologie/ Koptologie. Ihr Forschungsinteresse liegt bei dem Verhältnis von Religion(en) und Sinneswahrnehmungen; insbesondere stehen (religiöse) Hörgewohnheiten als soziale Praxis und Embodiment im Fokus. Stefanie Knauß, Dr. theol., Associate Professor am Department of Theology and Religious Studies der Villanova University (USA). Forschungsschwerpunkte im Bereich Theologie, Gender Studies und Queer Theory, Film und visuelle Kultur, Körper und Sexualität. Mitherausgeberin des Journal for Religion, Film and Media und von Concilium: International Journal for Theology. Kilian Knop, B.A., Studium der Religionswissenschaft und Geschichtswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen (Abschluss: 2-Fach B.A.) Gegenwärtig: Masterstudium an der Georg-August-Universität Göttingen (Hauptfach: Religionswissenschaft/Nebenfach: Transkontinentale Europäische Geschichte der Moderne). Forschungsinteressen: Theorie und Methoden der Religionswissenschaft, Neue Religiöse Bewegungen (UFO-Religionen, Esoterik, Spiritismus und Theosophie), Synkretismusforschung und Hybridisierungsdynamiken in aktuellen politisch-sozialen Bewegungen (Beispiel: Reichsbürger_innen). Teilnehmer des

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Lehrforschungsprojektes »Der Lutherweg im Kontext des Reformationsjubiläums« unter Prof. Dr. Alexander-Kenneth Nagel und Thorsten Wettich. Studentische Hilfskraft in der Abteilung Religionswissenschaft (Theologische Fakultät) an der Universität Göttingen. Tobias Köhler, M.A., studierte Religionswissenschaft. Er promoviert an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg zur ästhetischen Praxis von Großevangelisationen am Beispiel der Eventreihe proChrist LIVE. Weitere Forschungsschwerpunkte liegen auf Religionssoziologie, evangelikalen Bewegungen in Deutschland und Religionen in Konfliktsituationen. Denise Polaczuk, M.A. studierte von 2014–2019 an der LMU in München Religionswissenschaft – im Bachelor zusätzlich mit Nebenfach Kunst, Musik, Theater. Ursprüngliche Motivation waren ihre Leidenschaft für die Semiotik und Themen zum Christentum um die Zeit des Mittelalters. Diesen Schwerpunkt erweiterte sie im Verlauf des Studiums auf die generelle Rolle von Religion in der aktuellen globalen Politik und die jeweiligen historischen Hintergründe. Manuel Stadler, M.A. hat einen B.A in Ägyptologie und einen M.A. in Religionswissenschaft. Derzeit promoviert er in Leipzig im Fach Religionswissenschaft über die Religionspolitik während der Französischen Revolution und war bis Ende 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1199: Processes of Spatialization under the Global Condition. Zu seinen Forschungsinteressen zählen unter anderem Anthropologie des Körpers und die französische Religionssoziologie. Publiziert liegen bislang folgende Artikel vor: »Dionysos in der Psychiatrie. Über einige vernachlässigte Aspekte in der Rezeption von Nietzsches Wahn« (2017) – und »Die Reise zum Heiligtum des San Besso« (2018). Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitet Manuel Stadler in einer Unterkunft für minderjährige unbegleitete Asylbewerber_innen.