Macht und Reflexion 9783787330119, 9783787330102

Reflexion kann und soll Macht entfalten und Macht kann reflexiv werden. Doch: Nicht jede Reflexion ist mächtig und nicht

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Macht und Reflexion
 9783787330119, 9783787330102

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Deutsches Jahrbuch Philosophie Band 6

Deutsches Jahrbuch Philosophie Herausgegeben im Auft rag der Deutschen Gesellschaft für Philosophie Band 6

F E L I X M E I N E R V E R L AG



H A M BU RG

MACHT UND REFLEXION Herausgegeben von HEINER HASTEDT unter Mitarbeit von HANNO DEPNER, TOBIAS GÖTZE, CHRISTIAN KLAGER und DENNIS WUTZKE

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Die Publikation wurde dankenswerterweise finanziell gefördert aus Mitteln des Rostocker Graduiertenkollegs »Deutungsmacht«.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3010-2 ISBN eBook: 978-3-7873-3011-9

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT

Dominik Perler Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. MACHT UND REFLEXION ZWISCHEN INDIVIDUELLER NACHDENKLICHKEIT UND GESELLSCHAFTLICHER PRAXIS Heiner Hastedt Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans Blumenberg Nachdenklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Konrad Ott Der slippery slope im Schatten der Shoa und die Aporien der bürgerlichen Gesellschaft angesichts der Zuwanderung . . . . . . . . . . . . . .

47

♪ Erstes Zwischenspiel Von Birgitta Flick (in Zusammenarbeit mit Hanno Depner) Zur Macht des Augenblicks. Fünf Kompositionen und ihre Aufführungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

II. MACHT, INTELLEKTUELLE SINNPRODUKTION UND DIE SEMANTISCHE AUTONOMIE Petra Gehring Macht und Kritik. Über Machtanalyse als Kritikform . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Clemens Albrecht Sinnspezialisten der Verbindlichkeit. Legitimation und Kontrolle durch Intellektuelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Michael Hampe Kollektive Macht und semantische Autonomie: Sprache, Technik und Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

♪ Zweites Zwischenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 III. POLITIK UND ÖKONOMIE Julian Nida-Rümelin Die Macht der Reflexion. Über das Verhältnis philosophischer und politischer Rationalität . . . . . .

147

Lisa Herzog Gibt es eine Macht der Reflexion in der Welt der Wirtschaft? . . . . . . . . . .

165

Dieter Thomä Die Macht des Störenfrieds in der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

♪ Drittes Zwischenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 IV. ÖFFENTLICHKEIT, BILDUNG UND LEIBLICHKEIT Georg Franck Reflexion in einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Nur noch eine Illusion im mentalen Kapitalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

Konrad Paul Liessmann Ist Selbstveränderung von Individuen und Gesellschaften durch Bildung möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Sigridur Thorgeirsdottir Die Transformationsmacht der feministischen Philosophie für die Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

♪ Viertes Zwischenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Inhalt

7

V. ZUR REFLEXIVEN AUSEINANDERSETZUNG MIT DER MACHT DER NEUROBIOLOGIE UND IHRER GRENZEN Holm Tetens Über das Rätselhafte der Selbstreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

255

Dirk Baecker Neurophysiologie und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267

Reinhard Merkel Ist ein »freier Wille« Bedingung strafrechtlicher Schuld? . . . . . . . . . . . . .

285

♪ Fünftes Zwischenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dominik Perler

Vorwort

Was sind Macht und Reflexion? Welche Macht hat die Reflexion? Und welche Macht ist erforderlich, damit Reflexion überhaupt möglich wird? Diesen komplexen und weitreichenden Fragen widmen sich die Beiträge dieses Bandes. Sie gehen auf eine Tagung zurück, die als Forum der Deutschen Gesellschaft für Philosophie vom 8. bis 10. Oktober 2015 an der Universität Rostock stattgefunden hat. Mit einem Forum, das jährlich ausgerichtet wird und sich an ein breites Publikum richtet, verfolgt die Deutsche Gesellschaft für Philosophie stets drei Ziele. Erstens soll es Philosophinnen und Philosophen, die in ganz unterschiedlichen Teilgebieten des Faches tätig sind, zusammenführen und miteinander ins Gespräch bringen. Zweitens soll es ein Thema aufgreifen, das in der aktuellen Forschungsdebatte von besonderer Bedeutung ist. Drittens schließlich soll es eine Brücke von der universitären Philosophie zur Öffentlichkeit schlagen und verdeutlichen, dass philosophische Debatten von unmittelbarer gesellschaftlicher Relevanz sind und nicht einfach einem akademischen Selbstzweck dienen. Die Rostocker Tagung verfolgte alle drei Ziele und war daher geradezu ein exemplarisches Forum. Dies zeigt sich auch im vorliegenden Band. Zunächst ist es offensichtlich, dass die Tagung Philosophinnen und Philosophen aus ganz unterschiedlichen Gebieten zusammenführte: aus der Anthropologie, der politischen Philosophie, der Rechtsphilosophie, der Wirtschaftsphilosophie und der Philosophie des Geistes, um nur einige zu nennen. Der besondere Reiz des Themas »Macht und Reflexion« liegt ja darin, dass es zwei Begriffe miteinander verbindet, die häufig getrennt analysiert werden. So ist es selbstverständlich, dass sich die politische Philosophie den Fragen widmet, was unter Macht zu verstehen ist, welche Strukturen der Macht es gibt und wie Machtausübung legitimiert wird. Ebenso selbstverständlich ist es, dass in der Philosophie des Geistes darüber nachgedacht wird, was unter Reflexion zu verstehen ist, welche Struktur reflexive Zustände haben und welchen Platz derartige Zustände in einem kognitiven System einnehmen. Es ist aber keineswegs selbstverständlich, danach zu fragen, welche Macht überhaupt erforderlich ist, damit Reflexion möglich wird, oder wie umgekehrt Reflexion eine bestimmte Art von Macht ermöglicht. Und es ist auch nicht selbstverständlich, die Frage aufzuwerfen, ob Reflektieren tatsächlich dazu beiträgt, dass Macht besser erkannt und besser ausgeübt wird. Häufig wird ja angenommen, dass Reflektieren ohnehin etwas

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Dominik Perler

Wertvolles ist und dass es zur Verbesserung aller menschlichen Aktivitäten – also auch der Machtausübung – unweigerlich beiträgt. Indem die Tagung ganz grundsätzlich der Frage nachging, wie das Verhältnis von Macht und Reflexion zu verstehen ist, machte sie auf fundamentale Probleme aufmerksam und forderte dazu auf, eine Verbindung zwischen verschiedenen Gebieten – etwa zwischen der politischen Philosophie und der Philosophie des Geistes – herzustellen. Dies scheint mir besonders reizvoll und auch besonders wichtig zu sein. In den Stellungnahmen von Universitäten und Forschungsorganisationen wird nämlich immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig die interdisziplinäre Arbeit ist. So werden Philosophinnen und Philosophen immer wieder aufgefordert, enger mit der Biologie, der Psychologie oder anderen empirischen Wissenschaften zusammenzuarbeiten. Viel seltener wird aber erwähnt, dass auch die intradisziplinäre Arbeit von zentraler Bedeutung ist und dass gerade aus der Zusammenarbeit verschiedener Teildisziplinen der Philosophie neue Einsichten entstehen können. Die Rostocker Tagung betonte die Intradisziplinarität (freilich ohne die interdisziplinäre Dimension ganz auszublenden) und war daher auch forschungspolitisch gesehen wichtig. Es besteht nämlich die Gefahr, dass sich die Teildisziplinen der Philosophie immer mehr nach außen orientieren und dabei den Kontakt nach innen, das heißt zu anderen Teildisziplinen, verlieren. So kooperieren Philosophinnen des Geistes häufig mit empirischen Kognitionswissenschaftlern oder politische Philosophinnen mit Sozialwissenschaftlern. Dass Philosophinnen des Geistes mit politischen Philosophinnen ins Gespräch kommen, ist im Forschungsalltag aber keineswegs selbstverständlich. Die Tagung bot die Gelegenheit zu einem solchen Gespräch und eröffnete dadurch neue Perspektiven. Auch das zweite Ziel, nämlich die Fokussierung auf ein aktuelles Forschungsthema, war ganz eindeutig ein Ziel der Tagung. Natürlich haben Analysen von Macht und Reflexion in philosophischen Debatten schon immer eine Rolle gespielt. Doch in den aktuellen Diskussionen haben sie einen neuen Auftrieb erhalten. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass scheinbar selbstverständliche Annahmen in Frage gestellt worden sind. Ich möchte nur ein Beispiel nennen, das aus der Philosophie des Geistes stammt. Lange Zeit schien es selbstverständlich, dass sich Fragen rund um Macht und Reflexion nur mit Bezug auf Menschen stellen, da ja nur Menschen als sprachfähige Lebewesen reflektieren können und somit auch nur Menschen durch Reflexion eine besondere Macht gewinnen können. Doch in jüngster Zeit ist dieser Konsens in Frage gestellt worden. So ist argumentiert worden, dass Sprachfähigkeit keineswegs eine notwendige Bedingung für Reflexion darstellt. Auch Schimpansen und andere hoch entwickelte Säugetiere, so nehmen einige naturalistisch gesonnene Philosophen an, können nicht nur Gedanken erster Stufe haben, das heißt Gedanken, mit denen sie Gegenstände in ihrer Umgebung erfassen,

Vorwort

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sondern auch Gedanken zweiter Stufe, mit denen sie über die Gedanken erster Stufe nachdenken, diese evaluieren und gegebenenfalls auch korrigieren. So können Schimpansen darüber nachdenken, ob sie die runden und viereckigen Gegenstände in ihrer Umgebung korrekt sortiert haben, und sie können ihre ursprüngliche Sortierung korrigieren. Einige Philosophen nehmen sogar an, dass Schimpansen über eine sogenannte »theory of mind« verfügen und über die Gedanken anderer Schimpansen nachdenken können. Wenn dies der Fall ist, sind auch Schimpansen reflektierende Lebewesen, und zwar gleich in zweifacher Hinsicht: Sie können über eigene und fremde Gedanken reflektieren. Durch diese Reflexion gewinnen sie auch eine zweifache Macht: Sie können einerseits die eigenen Gedanken kontrollieren und gegebenenfalls korrigieren, andererseits auch die Gedanken ihrer Artgenossen – etwa deren Täuschungsabsichten – durchschauen und entsprechend darauf reagieren. Natürlich ist es höchst umstritten, ob Schimpansen tatsächlich reflektieren können. Doch wie das Beispiel zeigt, ist es keineswegs selbstverständlich, nur Menschen Reflexion zuzuschreiben, und dogmatisch anzunehmen, dass Reflexion ohne Sprachfähigkeit unmöglich ist. Umso wichtiger ist es, genau zu analysieren, worin Reflexion besteht und welchen Lebewesen Reflexion zugeschrieben werden kann. Ebenso wichtig ist es natürlich, genau zu bestimmen, welche Macht aus der Reflexion resultiert und wie diese Macht ausgeübt werden kann. Auf jeden Fall ist es angesichts der aktuellen Debatte über die Frage, wer überhaupt zu Reflexion fähig ist, ganz entscheidend, die notwendigen Bedingungen für Reflexion und damit auch die notwendigen Bedingungen für eine besondere Art von Machtausübung zu klären. Die Rostocker Tagung leistete philosophische Grundlagenarbeit, indem sie diese Probleme aufgriff. Als drittes Ziel eines Forums habe ich den Brückenschlag zwischen akademischer Philosophie und Öffentlichkeit genannt. Natürlich wäre es unangemessen, von jedem philosophischen Beitrag zu erwarten, dass er unmittelbar öffentlichkeitswirksam ist. Auch rein philosophische Untersuchungen haben als eine Form der theoretischen Aktivität ihre Berechtigung, und mir scheint es wichtig, in einer Zeit, in der immer stärker nach der praktischen Verwertbarkeit gefragt wird, den Wert einer theoretischen Aktivität zu verteidigen. Aber auch eine theoretische Aktivität kann für eine breitere Öffentlichkeit von Bedeutung sein. Dies ist zum einen der Fall, wenn sie sich Fragen widmet, die jeden Menschen betreffen, ganz gleichgültig, ob er sich nun professionell mit Philosophie beschäftigt oder nicht. Zum anderen ist dies auch der Fall, wenn sich eine theoretische Aktivität mit der Analyse besonderer Phänomene beschäftigt, die für eine breitere Öffentlichkeit von aktueller Bedeutung sind. Beides war bei der Rostocker Tagung der Fall. Sie widmete sich zum einen ganz grundlegenden und einfachen Fragen, die sich wohl jeder einmal stellt. Eine dieser scheinbar simplen Fragen lautet:

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Dominik Perler

Wie gelingt es mir, nicht nur durchs Leben zu stolpern und dabei mal diesen und mal jenen Gedanken zu haben, sondern meine Gedanken irgendwie in den Griff zu bekommen? Erst wenn ich sie in den Griff bekomme, kann ich sie doch irgendwie kontrollieren, und erst dann kann ich Herr meiner selbst werden. Doch wie mache ich das? Es scheint eine ganz einfache Antwort zu geben: Ich muss über meine Gedanken nachdenken und prüfen, welche gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen sind. Mag diese Antwort auch trivial erscheinen, so erweist sie sich bei näherem Hinschauen doch als äußerst erklärungsbedürftig. Es stellt sich nämlich sogleich die Frage, wie dieses Nachdenken denn erfolgen soll. Kann man die eigenen Gedanken genauso zu Objekten machen wie Tische und Stühle, auch wenn sie im Gegensatz zu Tischen und Stühlen nicht sinnlich zugänglich sind? Kann man sie geistig sehen? Wenn ja, wie kann man sicher sein, dass man sie auch richtig sieht? Und wie kommt man überhaupt dazu, sie zu sehen? Muss man sich mit dem Willen gleichsam einen Ruck geben und nach innen blicken? Dies würde bedeuten, dass das Nachdenken gleich zwei Aktivitäten erfordert, nämlich – technisch gesprochen – eine Volition und eine Introspektion. Es ist aber vollkommen unklar, was jede dieser beiden Aktivitäten ist und wie die beiden zusammen auftreten können. Und es ist ebenso unklar, wie durch diese Aktivitäten irgendeine Kontrolle über die eigenen Gedanken gewonnen werden soll. Es ist ja eine Sache, die eigenen Gedanken irgendwie zu sehen oder zu erfassen. Eine ganz andere Sache ist es, sie auch zu evaluieren und zu verändern. Dazu ist offensichtlich eine Reihe von weiteren Aktivitäten erforderlich. Doch worin bestehen diese Aktivitäten? Und wie verhalten sie sich zu den beiden bereits genannten? Es ist nicht mein Ziel, diese Fragen hier zu beantworten. Ich will nur darauf hinweisen, dass die scheinbar einfache Ausgangsthese, man müsse einfach über die eigenen Gedanken nachdenken, um sie in den Griff zu bekommen, eine Fülle von kniffligen Problemen aufwirft. Genau diesen Problemen widmen sich philosophische Untersuchungen. Sie sind, wie mir scheint, nicht einfach eine Form von »l’art pour l’art«, sondern dienen der Selbstaufklärung. Das heißt: Sie bieten eine Strukturanalyse für jene geistigen Vorgänge, die wir häufig wie selbstverständlich annehmen. Und in diesem Sinn sind sie auch allgemein relevant, denn sie bieten eine Analyse für Vorgänge, die jeder an sich feststellt und auf die auch in außerakademischen Diskussionen immer wieder hingewiesen wird. Die theoretische Aktivität des Philosophierens ist aber, wie bereits erwähnt, noch in einer weiteren Hinsicht allgemein relevant, nämlich wenn sie sich Phänomenen widmet, die für eine breitere Öffentlichkeit von aktueller Bedeutung sind. Eines dieser Phänomene ist das Internet, das – wie es scheint – an die Stelle einer reflektierenden Instanz getreten ist. Anstatt selber über die eigenen Gedanken nachzudenken, sie selber zu evaluieren und zu korrigieren, bietet

Vorwort

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es sich an, einfach auf das allwissende Internet zurückzugreifen, das jederzeit zur Verfügung steht. Dann stellt sich aber sogleich die Frage, ob das Internet tatsächlich den Platz einer reflektierenden Instanz einnehmen kann oder ob es nicht vielmehr zur Reflexion herausfordert. Denn je größer und unübersichtlicher die Fülle an zugänglichen Informationen wird, desto mehr muss man einen reflektierenden Standpunkt einnehmen und sich fragen, welche Informationen überhaupt erforderlich oder auch nur wünschenswert sind und welche Chancen und Risiken im zunehmenden Informationsgewinn liegen. Man kann derartige Fragen rein medientheoretisch diskutieren, aber man kann sie auch philosophisch angehen, etwa indem man klärt, welcher Begriff von Reflexion hier verwendet wird, oder indem man untersucht, wer überhaupt eine Reflexionsleistung mit Bezug auf das Internet vollbringen kann. Auch hier geht es mir nicht darum, die relevanten Probleme zu analysieren. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass eine theoretische Aktivität durchaus einen praktischen Beitrag leisten kann, nämlich wenn sie Begriffe analysiert, die in öffentlichen Debatten immer wieder verwendet werden. Meistens handelt es sich dabei um höchst diffuse und mehrdeutige Begriffe. Es ist schon viel gewonnen, wenn hier Klarheit geschaffen wird, das heißt, wenn ausbuchstabiert wird, welche Art von Reflexion überhaupt möglich ist und wem Reflexion zugeschrieben werden kann. Wie nicht nur die Vorträge, sondern auch die intensiven Diskussionen gezeigt haben, besteht tatsächlich Klärungsbedarf. Einige Fragen konnten in Rostock ausgiebig erörtert und zumindest teilweise geklärt werden. Andere blieben offen und regten zu weiteren Untersuchungen an. Auf jeden Fall bot die Tagung, die in einer inspirierenden Atmosphäre stattfand, eine Fülle an Analysen, begrifflichen Klärungen und neuen Einsichten. Ich danke allen, die mitgewirkt haben, für ihre aktive Teilnahme. Ganz besonders danke ich Heiner Hastedt sowie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die perfekte Organisation der Tagung, aber auch für die zügige Vorbereitung dieses Bandes. Jede Gesellschaft ist bekanntlich nur so aktiv und stark wie ihre Mitglieder. Dies gilt auch für die Deutsche Gesellschaft für Philosophie, die von der Initiative und der Aktivität ihrer Mitglieder an verschiedenen Standorten lebt. Wie die Tagung deutlich gezeigt hat, ist Rostock ein quicklebendiger Standort, der im besten Sinne des Wortes ein Forum für die Philosophie bietet. Dominik Perler Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie

I. Macht und Reflexion zwischen individueller Nachdenklichkeit und gesellschaftlicher Praxis

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Heiner Hastedt

Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen

»Das ist das Bitterste für einen Menschen: bei allem Wissen doch keine Macht zu haben«, so formuliert Herodot, zitiert nach einer deutschen Übersetzung1, eine Sichtweise, die auch manchem Philosophen bis heute die Freude an seinem Beruf raubt. Gleichwohl wird die Machtfrage in der Tradition der Philosophie meist nicht ausdrücklich gestellt. Die Philosophie scheint machtvergessen zu sein, während Reflexion thematisch zum Standardrepertoire des Faches gehört und als ihre gängige Selbstbestimmung gilt.2 Im Alltag wird Macht oft mit Gewalt und Herrschaft assoziiert; Ziel muss bei einem solchen Machtbegriff eine Welt ohne Macht sein. Reflexion wird demgegenüber gerade in der Philosophie als der Inbegriff des Anzustrebenden angesehen und als etwas, von dessen Steigerung die Welt auf jeden Fall profitieren würde. Kann es aber nicht auch ein Übermaß an Reflexion geben? Und basiert Reflexion womöglich auf kulturellen und natürlichen Voraussetzungen, die in einer bloß innerphilosophischen Diskussion nicht einzuholen sind? Die Frage nach der Macht der Reflexion berührt nicht nur das Selbstverständnis der Philosophie, sondern ebenso den anthropologischen Stellenwert des Nachdenkens und die sozialphilosophisch zu untersuchende Rolle, die der Reflexion gesellschaftlich zuzuschreiben ist. Speziell in Deutschland wird besonders seit der Romantik das innere Streben des Geistes in eine grundsätzliche Opposition zur Macht gebracht. Eine solche Konstellation wirkte sich auf eine verhängnisvolle Weise in der Weimarer Republik aus, in der es viele mit den reflexiven »Betrachtungen eines 1

Herodot: Historien [9,16]. Übersetzt von August Horneffer. Neu herausgegeben und erläutert von Hans W. Haussig. Stuttgart 41974, S. 589. Vgl. die alternative Übersetzung: »Der bitterste Kummer auf der ganzen Welt aber ist der, dass man bei aller Einsicht über nichts Gewalt in den Händen hat.« In: Herodot: Historien. Herausgegeben und übersetzt von Josef Feix. Düsseldorf, Zürich 2004, S. 592. 2 Der Titel des Buches von Ariely, Dan: Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen. München 2015 enthält einen schönen Kalauer, beantwortet die Frage nach der Wirksamkeit der Reflexion aber nicht. Vgl. Forst, Rainer: Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen. Berlin 2015, S. 58, der abweichend von der hier für die allgemeine Philosophie gestellten Diagnose der Machtvergessenheit zumindest für die politische Philosophie und für die Sozialphilosophie die Allgegenwart des Machtthemas behauptet.

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Heiner Hastedt

Unpolitischen« (Thomas Mann) hielten und die vermeintlich schmutzige Politik den Anderen überließen – philosophisch assistiert durch Carl Schmitt, der das nicht-reflexive Freund-Feind-Denken zum Wesen des Politischen erklärte, und selten genug kritisiert durch Philosophen wie Helmuth Plessner, der früh vor der Sehnsucht nach der reinen Innerlichkeit warnte und die fundamentale Distanz zur Macht für falsch hielt.3 Ein Antagonismus von Macht und Reflexion, der für viele so nahe liegt, kann mit Plessner als anthropologisch unangemessen und als politisch gefährlich ausgewiesen werden. Wenn nun dieser Gegensatz zu Unrecht angenommen wird, dann entfällt der Grund, sich in der eigenen Machtlosigkeit und Reinheit der Reflexion zu gefallen oder sie, wie Herodot, nur folgenlos zu beklagen. So lautet das Kontrastprogramm, zu dem dieser Band beitragen möchte: Reflexion kann und soll Macht entfalten und Macht kann reflexiv werden. Doch: Nicht jede Reflexion ist mächtig und nicht jede Macht ist reflexiv. Die einzelnen Beiträge des Bandes arbeiten sich an den Begriffen »Macht«, »Reflexion« oder an ihrer Beziehung zueinander ab. Sie sind nach vier Schwerpunkten gegliedert: Grundlagentheoretische Klärungen finden sich bei Petra Gehring, Clemens Albrecht und Michael Hampe; Vertiefungen im Feld von Politik und Ökonomie bieten Julian Nida-Rümelin, Lisa Herzog und Dieter Thomä. Die Rolle besonders von Öffentlichkeit, Bildung und Leiblichkeit erörtern Georg Franck, Konrad Paul Liessmann und Sigridur Thorgeirsdottir. Über die Macht der Neurobiologie denken Holm Tetens, Dirk Baecker und Reinhard Merkel indirekt nach, indem sie sich bewusstseins- und existenzphilosophisch, systemtheoretisch und strafrechtsbezogen mit ihr und ihren Grenzen auseinandersetzen. In dieser den Beiträgen vorangestellten Einleitung gehe ich zunächst auf den Stand der Diskussion um Reflexion und Macht ein und komme nach einer deutungstheoretischen Vergewisserung zu Vorschlägen, wie Reflexion gesellschaftlich mächtig werden kann, auch wenn sie anthropologisch nicht so selbstverständlich ist, wie es philosophisch oft unterstellt wird. Der ebenfalls einleitende Wiederabdruck der Rede4 von Hans Blumenberg, die dieser als Dank für die Verleihung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1980 gehalten 3

Plessner, Helmuth: Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht. In: ders.: Macht und menschliche Natur. Gesammelte Schriften V. Hg. v. Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker. Frankfurt am Main 1991, S. 135–234. Vgl. Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. In: ders.: Macht und menschliche Natur, S. 7–134; Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Berlin 1963. 4 Blumenberg, Hans: Nachdenklichkeit. Zuerst gedruckt in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch II/1980, S. 57–61.

Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen

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hat, fasst eindrücklich die Ansprüche an die individuelle Nachdenklichkeit zusammen, während Konrad Ott die gesellschaftliche Praxis mit ihren Deutungsmachtkonflikten angesichts der Zuwanderung mit ihren divergierenden Ansprüchen der Gesinnungs- und Verantwortungsethik reflektiert. Zwischen den Teilen des Buches finden sich Musiknotationen, die vom Birgitta-FlickTrio als Free-Jazz-Vorlagen genutzt werden. In Verbindung mit kurzen Kommentaren zur Aufführungspraxis verweisen sie auf einen Umgang mit Macht, der – anders als es der Wissenschaft möglich ist – nicht primär auf Reflexion setzt, sondern das Bewusstsein für die Einzigartigkeit des Augenblicks und für spontanes (wenngleich nicht willkürliches) Handeln weitgehend unbegrifflich kultiviert.

1. Reflexion und Macht. Zum Stand der Diskussion um beide Begriffe Nachdenken gehört zum Innersten der Philosophie. Die neuzeitliche Philosophie hat den aristotelischen Gedanken des Menschen als animal rationale weiterentwickelt und den Reflexionsbegriff als bewusste Introspektion eines inneren Quasi-Raums und als »Spiegel der Natur« verstanden.5 Ausgehend von René Descartes und John Locke steht die Reflexion für die Subjekt- und die Wirklichkeit für die Objektseite. Die großen philosophischen Systeme der Neuzeit bis hin zu Georg Friedrich Wilhelm Hegel arbeiten sich an diesem Verhältnis ab; Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger verabschieden dann jenes bewusstseinsphilosophische Subjekt-Objekt-Schema sprachanalytisch und daseinshermeneutisch, indem sie Sprache beziehungsweise Sein jenseits von Subjekt und Objekt als grundlegend ansehen. Um heute das vertiefte nochmalige Nachdenken mit seinen Chancen der Distanzierung und Infragestellung in Bezug auf die eigene Person und auf unser Wissen über die Welt zu denken, ist der Reflexionsbegriff von den bewusstseinsphilosophischen Annahmen mit ihren Spiegel- und Raummetaphern zu lösen.6 Nicht allein die geschilderte immanente philosophische Entwicklung, auch der interdisziplinäre Streit verändert den traditionellen Reflexionsbegriff. In der Auseinandersetzung um die Reichweite der Gültigkeit neurobiologischer Erkenntnisse konzentriert sich die philosophische Debatte in den letzten Jah-

5

Siehe Rorty, Richard: Philosophy and the Mirror of Nature. New Jersey 1979 mit seiner Kritik. Siehe auch den Beitrag von Holm Tetens in diesem Band, der die fortbestehende Rätselhaftigkeit des Bewusstseins besonders herausarbeitet. 6 Siehe schon Schnädelbach, Herbert: Reflexion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie. Frankfurt am Main 1977.

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Heiner Hastedt

ren auf die Frage nach der Möglichkeit der Willensfreiheit. Nicht zuletzt Gerhard Roth und Wolf Singer haben mit starken Thesen, die den Determinismus stützen, die philosophischen Verteidiger der Willensfreiheit und damit indirekt die These der Wirksamkeit von Reflexion in die Defensive gedrängt.7 Wie die in der Reflexion erforderliche Selbstdistanz mit ihrem Veränderungspotential überhaupt möglich wird, ist also nicht nur intradisziplinär zu prüfen, sondern auch interdisziplinär. Wer reflektiert, stellt die Annahmen und damit das vermeintliche Wissen über sich und die Welt in Frage. Reflexion lässt sich sprachanalytisch verstehen als die Auseinandersetzung um sprachlich gefasste Selbst- und Weltcharakterisierungen; auch Deutungen sind in der Tradition der Hermeneutik solche sprachlichen Entitäten, die sich in der Reflexion sowohl auf uns selbst als Personen als auch auf unsere Formen der Weltaneignung beziehen lassen.8 Ein sprachanalytisch und hermeneutisch profilierter Reflexionsbegriff steht für die sprachlich formulierte deutende Stellungnahme des Menschen zu sich selbst und zugleich die Infragestellung des konventionellen Wissens; als solche bleibt Reflexion für Individuen und auch Institutionen behauptbar – trotz der berechtigten Kritik an ihrer bewusstseinsphilosophischen Fassung und trotz humanwissenschaftlicher Anfechtungen wie denen aus der Neurobiologie. Die Frage, ob Reflexion ein Definitionsmerkmal der Philosophie ist, beantwortet Hans Blumenberg eher abschlägig. Er nimmt die Perspektive des Sokrates ein, der mit seiner Einsicht »Ich weiß, dass ich nichts weiß« die Infragestellung der je eigenen Selbstverständlichkeiten und nicht Positivergebnisse der Reflexion herausgestellt hat: Reflexion als Ausdruck einer Haltung der individuellen Nachdenklichkeit ist für Blumenberg selbst in der Philosophie selten. Nachdenklichkeit ist begrifflich nicht nur bei ihm die Disposition zum Nachdenken, die als Tugend einzustufen ist; Nachdenken kann als der alltägliche Ausdruck für Reflexion verstanden werden, der in gleicher Weise das nochmalige gründliche Überlegen betont, aber weniger belastet ist von traditionellen Spezifikationen aus der Bewusstseinsphilosophie. Evolutionär kann – so Blumenberg – Nachdenklichkeit für den »zögernden Menschen« von Vor7

Roth, Gerhard: Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt am Main 2009; Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Gehirnforschung. Frankfurt am Main 2003. Siehe beispielhaft für die umfangreiche Debatte in der Philosophie Pauen, Michael: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung. Frankfurt am Main 2004; Nida-Rümelin, Julian: Über menschliche Freiheit. Stuttgart 2005; Recki, Birgit: Freiheit. Wien 2009; Keil, Geert: Willensfreiheit und Determination. Stuttgart 2009; Falkenburg, Brigitte: Mythos Determination: Wieviel erklärt uns die Hirnforschung? Berlin 2012. Siehe den Beitrag von Reinhard Merkel in diesem Band, der danach fragt, ob Willensfreiheit als Bedingung strafrechtlicher Schuld einzustufen ist. 8 Siehe noch im folgenden Abschnitt die Präzisierungen zum Deutungsbegriff, die auch den verwendeten Sprachbegriff erläutern.

Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen

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teil sein, denn sie helfe, das Banale, das kurzschlüssig Selbstverständliche und die »raschen Lösungen« zu meiden.9 Die Tätigkeit des Philosophen als solche sei nicht gleichzusetzen mit der von ihm herausgestellten Nachdenklichkeit: »Denken und Denken über Denken mag eine Fachkompetenz verleihen«, aber nicht jede Philosophie sei nachdenkliche Philosophie; und selbstverständlich gedeihe auch außerhalb der Philosophie anspruchsvolle Nachdenklichkeit, auch wenn diese angesichts ihrer Neigung zur Verzögerung nicht immer mit Lob bedacht werde. In der Philosophie und in den Wissenschaften gelte: »Geregeltes Denken erscheint weit entfernt von bloßer Nachdenklichkeit.« Sokrates hätte nach dem Maßstab des Regeldenkens als schlechter Philosoph zu gelten, weil seine Stärke gerade nicht in fixierbaren Ergebnissen liegt.10 Nachdenklichkeit lässt sich im sokratischen Sinne von Blumenberg nicht in Regeln fassen und dingfest machen. Dies zu betonen, kommt keiner Bescheidenheitsfalle gleich, sondern eher einer Warnung; denn selbst die Reflexionsphilosophie (gerade in ihren deutsch-idealistischen Systemen) könnte ihren Namen zu Unrecht tragen, sollte ihr die Nachdenklichkeit mit ihrer Selbstinfragestellung fehlen. Das Nachdenken über Reflexion in seinen Machtbezügen steht in der Tradition von Blumenberg, wenn Reflexion nicht einfach nur als leeres Ritual genommen, sondern das sokratische Nicht-Wissen auch konsequent auf die je eigenen Wissensansprüche bezogen wird. So führt Nachdenklichkeit für Blumenberg zur Einsicht: »Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.«11 Diese von Blumenberg unterstellte Veränderbarkeit ist zunächst bloß eine intellektuelle. Führt von einer solchen bescheiden anmutenden Wirkung der Reflexion ein Weg zur mächtigen Veränderung auch der gesellschaftlichen Welt? Was ist überhaupt Macht? Jenseits der negativen Assoziationen einer kritikwürdigen Unterdrückung von Menschen scheiden die Überlegungen der Philosophie besonders einen personalen Machtbegriff von einem nicht-personalen, einen modalen von einem relationalen und kausalen12 sowie potentia von potestas. Solche jeweils voneinander unabhängigen Differenzierungen erlau9

Siehe unten in diesem Teil S. 41 »Der Mensch … ist das Wesen, das zögert.« Die folgenden Zitate S. 42. 10 Michael Hampe hat jüngst seine Kritik an den machtvollen »Lehren der Philosophie« ebenfalls so gebündelt, dass das sokratische Fragen wieder an Bedeutung gewinnt. Siehe Hampe, Michael: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Berlin 2014. Siehe auch seinen Beitrag in diesem Band, der die Sprachabhängigkeit der Reflexion betont und die semantische Autonomie bei umgangssprachlichen Begriffen in der Tradition der Aufklärung herausarbeitet. 11 Siehe Blumenberg: Nachdenklichkeit, S. 45. 12 Siehe die grundlegende Klärung von Machtbegriffen im Beitrag von Petra Gehring in diesem Band, der profiliert den modalen Machtbegriff stark macht und diesen von einem kausalen und einem relationalen abgrenzt.

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ben es, den Widerspruch zwischen produktiven, ermöglichenden und restringierenden, unterdrückenden Momenten der Macht in Beziehung aufeinander zu denken, ohne dass die Pole der Machtbegrifflichkeit auf einen einzigen reduziert werden müssten. Schon Max Weber umschreibt Macht positiv als »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«.13 Im Sinne des modalen Begriffs von Macht, der zugleich die Tradition der potentia als Ermöglichung aufgreift, und in Beziehung auf den Begriff realer Macht besonders von Machthabern (potestas) versucht Weber, mit einem personalen Machtbegriff ausgehend von der Möglichkeit auch die Verwirklichung der Chance in den Blick zu nehmen. Während empirische Sozialforschung insbesondere in den Politikwissenschaften heute primär an Macht als potestas in ihren unterschiedlichen Erscheinungen von Personen und Institutionen interessiert ist, konzentriert sich Michel Foucault mit seiner Analyse stärker modaltheoretisch auf Macht als potentia. Foucault will Macht in ihren »positiven Mechanismen« untersuchen, sie vom verbreiteten negativen Machtbegriff abgrenzen und die Ausübung von Macht verstehen als »Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten«.14 In dieser Formulierung steht Foucault Weber nahe; zugleich arbeitet er die Wichtigkeit der Semantik heraus, wonach Macht über die »Erzeugung und den Austausch von Zeichen« laufe und jeder, der etwas wisse, Macht ausübe.15 Hannah Arendt setzt die Begriffe von Macht und Gewalt (sowie indirekt auch Herrschaft) gegeneinander ab.16 Für sie ist Macht ein positiv besetzter Relationsbegriff des kollektiven Handelns, während Gewalt durch ihren instrumentalen Charakter das Gegenüber nur beziehungslos zum Objekt mache. Bei Weber und Arendt findet sich gemeinsam ein personaler Machtbegriff, in dessen Mittelpunkt (als Subjekte und Objekte) Personen stehen. In der neueren Forschung dominieren demgegenüber überpersonale, medialisierte und systemtheoretische Machtbegriffe.17

Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 51980, § 16, S. 28. 14 Foucault, Michel: Die Maschen der Macht. In: ders.: Die Analytik der Macht. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Frankfurt am Main 2005, S. 220–239, hier S. 224. 15 Foucault, Michel: Subjekt und Macht. In: Foucault, Michel: Die Analytik der Macht. Frankfurt am Main 2005, S. 240–263, hier S. 253. Siehe auch Gehring, Petra: Foucault: Die Philosophie im Archiv. Frankfurt am Main 2004. 16 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. München 71990. 17 Siehe besonders Röttgers, Kurt: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik. München 1990 sowie Luhmann, Niklas: Macht. Konstanz, München 42012. Vgl. als Ausnahme eines weiterhin vertretenen personalen Machtbegriffes Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht. Tübingen 21992 sowie den Popitz-Schüler Anter, Andreas: Theorien der Macht zur Einführung. Hamburg 2014. Siehe ebenso den soziologischen Beitrag von Clemens Albrecht, der den Machtbegriff vom Herrschafts- und Autoritätsbegriff 13

Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen

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Entgegen der Tendenz zu einer modalen Ausrichtung lässt sich Macht weiterhin zugleich verstehen als personal oder nicht-personal gedachte Ermöglichung (potentia) und als reale Macht von Personen und Institutionen (potestas). Der modale Machtbegriff allein läuft Gefahr, alle Katzen grau werden zu lassen, auch wenn er ausgehend von der potentia intellektuell besonders attraktiv sein mag (gerade für feinnervige Analysen subtiler Macht, die einen Beitrag zur Weiterentwicklung von Sensibilität leisten): Ausgehend von Foucaults Theorie der Macht, mit der die Einseitigkeit der marxistischen Ökonomiefixierung mit ihrer fast manischen Suche nach Drahtziehern der Macht überwunden werden soll, lassen sich auch Machtverhältnisse in der Psychiatrie, in der Medizin und besonders auch in den Gefängnissen (und heute wohl überfällig auch in Pflegeheimen) analysieren. Allerdings neigt ein solcher modaler Machtbegriff dazu, das Leben im Totalitarismus mit seinen grausamen Erscheinungsformen zu verharmlosen, wenn alles gleichermaßen unter die Überschrift der Macht gestellt wird.18 Handfestere Machtbegriffe, ausgehend von der potestas, tendieren jedoch in ihrer Anknüpfung an spezifische Herrschaftsverhältnisse zur begrifflichen Einseitigkeit. Das nicht einfach aufzulösende Spannungsverhältnis dieser beiden Machtbegriffe lässt sich mit der Differenzierung von Macht und Gewalt, wie sie Hannah Arendt vornimmt, verstehen, ohne wie sie die Begrifflichkeit vollständig trennen zu müssen. Im freien Anschluss an Arendt lässt sich in der Macht ein Oberbegriff sehen, der gradualisiert auf der einen Seite vor allem Gewalt und Herrschaft in den Blick nimmt und auf der anderen Seite einen fließenden Übergang von Institutionen und Charisma bis hin zu Interpretationen von Texten für denkbar hält und so für symbolische Dimensionen sensibel wird. Sowohl Gewalt als auch Textlektüre können demnach Macht ausüben, auch wenn sie normativ vielleicht unterschiedlich einschätzbar sind. Auf jeden Fall ist klar: Auch Machtbegriffe – seien sie negativ oder positiv, personal oder nicht-personal, modal, relational oder kausal, an potentia oder potestas ausgerichtet – sind selbst nicht neutral, sondern deutungsabhängig und bedürfen in ihren sich überlagernden Polaritäten der Reflexion.

absetzt und die sinnproduzierende Macht der Intellektuellen mit Hilfe der Differenzierungen von Heinrich Popitz im Hinblick auf ihre Aktionsmacht, instrumentelle Macht, autoritative Macht und durchsetzende Macht analysiert. 18 Vgl. als Dokument von zerstörerischen Machtbeziehungen im Unrechtsstaat der DDR Seite, Berndt/Seite, Annemarie/Seite, Sybille: Gefangen im Netz der Dunkelmänner. Ein Gespräch von Berndt, Annemarie und Sibylle Seite mit dem fiktiven Gesprächspartner Klaus Feld über die Akten, die das MfS über die Familie Seite angelegt hatte. Weimar 2015.

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2. Die Macht der Deutungen19 Reflexion nimmt im Medium der Sprache Stellung – sei es im Hinblick auf die Deutungen der eigenen Person oder auf solche der Welt. Diese sind nicht nur in den Geisteswissenschaften oder gar nur in der Hermeneutik als Spezialdisziplin relevant, sondern sie sind allgegenwärtig (selbst in den harten Wissenschaften wie Physik, Ökonomie und Neurobiologie). Doch ihre Allgegenwart verweist nicht auf Beliebigkeit (als wenn wir erst dort deuteten, wo die Fakten aufhören). Ob die Deutungsvarianten angemessen sind, das hat wiederum Reflexion zu klären. Die These der Allgegenwart impliziert nicht, dass alle Kontroversen immer mit dem einschränkenden Zusatz zu führen wären, dass es nur um die richtige Deutung ginge. Der Hinweis auf ihre Allgegenwart erinnert wie bei sprachanalytischen Rekonstruktionen, die die Nicht-Hintergehbarkeit der Sprache betonen, an den grundsätzlichen Deutungscharakter, damit im Konfliktfall deren Verschiedenheit leichter explizit gemacht und reflexiv diskutiert werden kann. Deutungen sind unter Einschluss solcher reflexiver Brechungen sprachliche, nicht notwendigerweise im Subjekt repräsentierte und bewusste, meist intentionale (also gerichtete, nicht nur dispositionelle) Erschließungen von Teilen objektiver, subjektiver und fiktionaler Wirklichkeit (zum Beispiel Menschen, Texte, Sachverhalte der Natur, kulturelle Muster, wobei das Ganze der Welt als solches nicht deutungsfähig ist). Sie können sowohl deskriptive als auch normative Komponenten enthalten. In einer reflexiven Selbstanwendungsfigur sind die Elemente dieser Umschreibung von »Deutung« selbst deutungsabhängig und philosophisch strittig. Zu dem in dieser Erläuterung verwendeten Sprachbegriff gehören auch musikalische, mimische und gestische Ausdrücke. Deutungen beziehen sich intentional auf etwas; dieses Etwas wird als Wirklichkeit gedeutet, ohne dass hiermit objektivistische oder realistische Metaphysiken transportiert werden; denn sogar Fiktionen wird Wirklichkeit zugesprochen. Auch wenn der Reflexionsbegriff ursprünglich immer an ein Subjekt gebunden ist, so ergibt sich aus der vorgeschlagenen Abwendung von der Bewusstseinsphilosophie, dass reflexive Deutungen zwar weiterhin von Subjekten stammen und erwogen werden können, sie aber ein überindividuelles Eigenleben in der Tradition und im gemeinschaftlichen Leben entwickeln.20

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Der folgende Abschnitt gibt indirekt auch einen Einblick in Selbstverständigungsdebatten, die im Rostocker Graduiertenkolleg »Deutungsmacht« über Macht und Deutung geführt werden. 20 Dieser Absatz folgt teilweise Hastedt, Heiner: Was ist Deutungsmacht? Philosophische Klärungsversuche. In: Stoellger, Philipp: Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten. Tübingen 2013, S. 89–102, hier S. 91 f.

Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen

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Wenn Deutungen als allgegenwärtig angesehen werden, beinhaltet dies erkenntnistheoretisch nicht unbedingt ein Bekenntnis zum radikalen Konstruktivismus. Vielmehr ist diese These weitgehend mit einem Neuen Realismus vereinbar, der in seiner Sinnfeldontologie die Pluralität der Realität herausstellt.21 Gemeinsam ist allen drei philosophischen Positionen vom Konstruktivismus über die Deutungsphilosophie bis zum Neuen Realismus, dass monistische Reduktionen von Situationen durch Experten abgelehnt werden. Das Expertenprogramm der neuzeitlichen mathematisierten Naturwissenschaft beispielsweise, die die Physik zunächst zum Inbegriff einer erfolgreichen Wissenschaft machte, hatte von Anfang an reduktive Tendenzen. Eine Vielfalt der Weltzugänge galt als zu überwinden. Bis ins 20. Jahrhundert hinein gibt es Versuche, zu einer naturwissenschaftlich basierten Weltformel zu kommen. Erst nach und nach gelingt es, sich von dieser Fixierung zu lösen und festzustellen, dass es die eine Welt im Sinne ihrer ein-eindeutigen Beschreibbarkeit nicht gibt, sondern dass es interpretationsabhängig ist, welche Weltzugänge gewählt werden. Auch manche Experten in der Ökonomie orientieren sich am Wissenschaftsideal der Physik und suggerieren, dass sie über eindeutiges Wissen der Wirtschaft verfügen und Wissenschaftler, die in anderen Schulen der Ökonomie abweichende Akzente setzen, nicht in ihre Auseinandersetzung einbeziehen müssen. Tatsächlich sind sie nur Deuter von Sachverhalten, die um Einfluss und Macht für ihre spezifische Sichtweise ringen. Das sokratische Eingeständnis des Nicht-Wissens ist solchen Wissensanmaßungen von Experten überlegen. Disziplinäre Deutungszugänge zur Welt können deshalb sogar an Überzeugungskraft gewinnen, wenn sie ihre Grenzen verdeutlichend mitführen und keine wissensimperialen Ansprüche erheben. Die selbstreflexive Abkehr von der Gewissheitspose des Experten ist gerade keine Preisgabe von 21

Markus Gabriel hat sich selbst mit seinem Neuen Realismus zwischen Konstruktivismus und dem alten metaphysischen Realismus positioniert und ganz unbefangen von der Realität von Atomen, Gegenständen, Gedanken und Fiktionen gesprochen. Siehe Gabriel, Markus: Weshalb es die Welt nicht gibt. Berlin 2013 sowie Gabriel, Markus (Hg.): Der neue Realismus. Berlin 2013, wo Umberto Eco und Susan Haack mit den von ihnen bevorzugten Begriffen eines negativen bzw. unschuldigen Realismus nicht das Neue des Realismus betonen, sondern das vom Epistemischen Unabhängige der Realität, deren Gestalt gleichwohl nur epistemisch erschließbar wird. Vgl. Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Zürich, Berlin 2007, S. 20 f.: »Trotz meines Tons versuche ich nicht, kehrtzumachen, reaktionär zu werden, zu bereuen, was ich tat, zu schwören, dass ich nie wieder ein Konstruktivist sein will. […] Die Frage war nie, von den Fakten loszukommen, sondern näher an sie heranzukommen, den Empirismus nicht zu bekämpfen, sondern ihn im Gegenteil zu erneuern.« Vgl. im Kontrast Foerster, Heinz von: Entdecken oder erfinden. Wie lässt sich Verstehen verstehen? In: Einführung in den Konstruktivismus. Hg. v. Heinz Gumin u. Heinrich Meier. München 132012.

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Wahrheitsansprüchen, sondern eine Souveränität, die im bescheidenen Grenzbewusstsein die eigene Stärke findet.22 Weil sie dies vernachlässigt, tendiert besonders die populäre Neuropublizistik dazu, ihre Grenzen der Erkenntnis bei der gedanklichen Auswertung ihrer Experimente zu übersehen und in der Gesellschaft Neuromythen zu verbreiten.23 Deutungen können zu Ursachen werden; ihr mächtiges Eingreifen in die Welt ist prinzipiell kein Rätsel. Immer wenn sie einen Unterschied machen, entfalten sie Macht und überführen Möglichkeit in Wirklichkeit.24 Dies lässt sich beispielsweise an Christopher Clarks Analyse der Ursachen des Ersten Weltkrieges gut verdeutlichen.25 Clark arbeitet im Detail heraus, wie die Deutungen der späteren Kriegsgegner im Sommer 1914 dadurch Macht gewinnen, dass sie der jeweils anderen Seite mit worst-case-Annahmen begegnen. Die Eskalation findet statt, weil die deutende Erwartung im Raum steht, dass sie von der anderen Seite ohnehin kommen wird. Die Vorwegnahme rechtfertigt die antizipierende Eskalation von der eigenen Seite, was wiederum den zukünftigen Gegnern als Legitimation eigener Eskalationsschritte dient. Ein Dualismus, der Deutungen von einzelwissenschaftlichen Ursachenerklärungen trennt, unterstellt einen verengten Ursachenbegriff, der sich immer noch an dem frühneuzeitlichen Konzept der Ursache aus der Mechanik orientiert, wonach echte Ursachen wie im Billardspiel nur durch Kraftübertragung wirken.26 Ursachen in einem weiten Begriffssinne führen lediglich zu 22

Vgl. Dewey, John: Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln. Frankfurt am Main 32013, der zugunsten einer an Wahrscheinlichkeiten orientierten experimentellen Methode die Orientierung an Gewissheit komplett aufgibt. 23 Baecker, Dirk: Neurosoziologie. Ein Versuch. Frankfurt am Main 2014; Hasler, Felix: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld 2012; Janich, Peter: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung. Berlin 2009. Siehe auch den Beitrag von Dirk Baecker in diesem Band, der sich mit den Folgen der Neurophysiologie beschäftigt. 24 Siehe den Beitrag von Julian Nida-Rümelin in diesem Band, der die Welt der Gründe, die in einer anderen Kategorisierung parallel zu Deutungen verstanden werden können, in ihrer eigenständigen Bedeutung für das Handeln herausstellt. 25 Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog. München 2013. 26 Mackie, John L.: The Cement of the Universe. A Study of Causation. Oxford 1974 hat die sogenannte INUS-Bedingung als Kriterium für den Ursachenbegriff eingeführt und so die Gegenstellung des Kausalitätsverständnisses zu Modalbegriffen überwunden. INUS steht für insufficient, but necessary part of an unnecessary but sufficient condition. Mackie pluralisiert das Kausalitätskonzept, lässt in einer komplexen Ursachenforschung auch eine Vielfalt von Ursachen zu, hält aber im Anschluss an David Hume an der Unterstellung der Generalität fest. So muss beispielsweise bei der Untersuchung der Ursachen für den Ersten Weltkrieg (fiktiverweise) unterstellt werden, dass gleiche Ursachen auch zu gleichen historischen Wirkungen geführt hätten.

Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen

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einem Unterschied im Weltenlauf: Wenn auch Deutungen zu einem solchen Unterschied führen, kann ihnen ebenfalls Macht zugesprochen werden. Wenn sie nur vorgeschoben sind, fehlt ihnen die kausale Wirksamkeit und sie entwickeln jedenfalls nicht in dem intendierten Sinne Macht. Ob sie mächtig sind, lässt sich nicht prognostisch, sondern nur in nachträglicher Rekonstruktion feststellen. Nicht alle Deutungen sind machtvolle Ursachen, sondern sie können sich als vorgeschobene Rationalisierungen im Sinne von Sigmund Freud herausstellen. Auch Reflexion als eine Form der Auseinandersetzung mit Deutungen gehört prinzipiell in das Spektrum der ursächlich wirksamen Macht: Weil Deutungen generell als Ursachen in Frage kommen, ist es nicht rätselhaft, dass auch Reflexionen über sie mächtig werden können, so dass Menschen als Wesen einzustufen sind, die selbst- und fremdregulierend über reflexive Deutungen Wirkungen erzielen können. Diese Sicht führt zu neuen Fragen, die im Rahmen dieser Einleitung nicht mehr beantwortet werden können: Gewinnt Reflexion Macht durch sich selbst beziehungsweise durch intellektuelle Argumentation und Kommunikation? Oder basiert die Macht der Reflexion eher auf sozialen Bezügen wie Institutionalisierungen und Charisma (so Max Weber)? Welche Rolle spielen für die Machtentfaltung der Reflexion Aspekte ihres sozialen Gebrauchs wie Gewöhnung, Denkstile und habituell verankerte Weisen der Weltund Selbstwahrnehmung (wie sie mit Pierre Bourdieu zu analysieren wären)?27 Foucaults Konzept der Disziplinarmacht wirft nach Byung-Chul Han die Frage auf, ob es eher auf Reflexe oder auf Reflexionen zurückgreife.28 So stellt sich im Foucault-Kontext das Problem, wie jenseits der Reflexe überhaupt auf Reflexion zur Infragestellung von Üblichkeiten zu setzen ist. Macht, so Hans Vorschlag, ist im Sinne von Heidegger besonders präsent in den Selbstverständlichkeiten des Man. Reflexion ist nur dann als wirksam zu bezeichnen, wenn sie auch eine Veränderungschance gegenüber den Üblichkeiten entfaltet. Der Reflexion wird so keine leichte Aufgabe gestellt, da sie – um als mächtig gelten zu können – sowohl die Selbstverständlichkeiten als solche aufdecken als auch zu ihrer wirkungsvollen Infragestellung beitragen muss.

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Siehe beispielsweise Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht enthüllen. In: ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1. Hamburg 1992, S. 81–86; Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt am Main 2001. 28 Han, Byung-Chul: Was ist Macht? Stuttgart 2005, S. 52. Der folgende HeideggerBezug dort S. 62.

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3. Der Mensch verfügt über die Macht der Reflexion – jedenfalls gelegentlich Zum Menschsein gehört Reflexion, aber der Stellenwert der Reflexion könnte – der kantischen Metapher vom krummen Holz29 folgend – geringer sein, als in der Tradition der neuzeitlichen europäischen Philosophie vielfach angenommen wird. Wenn neben innerphilosophischen Einwänden gegen das cartesianische Cogito als Einführungskontext der Reflexion heute neurobiologische Infragestellungen und nicht zuletzt auf den Spuren von Foucault kulturelle Abhängigkeiten des Reflexionskonzeptes zu berücksichtigen sind, dann ist es angesichts solcher Infragestellungen nicht mehr selbstverständlich, dass Menschen überhaupt durch Reflexion und nicht nur durch Reflexe Macht gewinnen können. Die Standarddeutung von Philosophischen Anthropologen wie Helmuth Plessner, für den der Mensch in seiner exzentrischen Positionalität von Offenheit geprägt ist, und Arnold Gehlen, für den der Mensch gerade als Mängelwesen von Natur aus der Kultur bedarf, schließt ein, dass der Mensch durch Reflexion beeinflussbar ist.30 Ein geschlossenes, perfekt in eine ökologische Nische eingepasstes (Natur-)Wesen bedürfte nicht der Reflexion, weil diese – anthropologisch ganz grundsätzlich gedacht – überhaupt erst Macht gewinnen kann, wenn die Machtfrage nicht schon rein naturalistisch durch feste Verdrahtung geklärt ist. Nach Plessners »Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen« befindet sich dieser in einer »Relation der Unbestimmtheit zu sich«, nach der er sich für sein »Leben, theoretisch und praktisch, als offene Frage« entdeckt.31 Der Mensch sei von Natur aus »künstlich und nie im Gleichgewicht« und lebe »jede Unmittelbarkeit nur in einer Vermittlung, jede Reinheit nur in einer Trübung, jede Ungebrochenheit nur in einer Brechung«. Nach der anthropologischen Standarddeutung ist die Sache klar: Der Mensch verfügt über die Macht der Reflexion. Hat diese Deutung auch weiterhin Bestand, oder nötigen humanwissenschaftliche Einsichten zu einer neuen Sichtweise?

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So Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Immanuel Kant: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Werkausgabe Band XI. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 1996, S. 31–50, hier S. 41: »Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.« 30 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Gesammelte Schriften IV. Frankfurt am Main 1981; Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiesbaden 131986. Der spätere Gehlen hat sich in Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Wiesbaden 51986 allerdings negativ zur zersetzenden Kraft der Reflexion geäußert. 31 Plessner: Macht und menschliche Natur, S. 160. Das folgende Zitat S. 199.

Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen

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Im Deutungsmachtkonflikt um die Reichweite von Erkenntnissen der Neurobiologie werden deren wissenschaftliche Einsichten und die Reflexion als Ausdruck der Freiheit meist in einer Gegnerschaft gesehen. Dass wissenschaftliche Erklärungen in der Neurobiologie notwendigerweise einen Freiheit ausschließenden Determinismus erfordern, dürfte allerdings mehr durch weltanschaulich zu nennende Interpretationen der Neurobiologie behauptet als durch die wissenschaftliche Alltagsarbeit der Neurobiologie belegt werden. Auch wenn Neurobiologen die Grenzen des Nachdenkens im Gefüge des menschlichen Lebens in seinen nicht-kognitiven Dimensionen aufzeigen und oft zu einem methodischen Determinismus neigen, lassen sich beispielsweise selbst bei Gerhard Roth, der die Narration der Gehirnforschung als deterministische besonders populär gemacht hat, Stellen finden, die im Rahmen der autonomen Selbststellungnahme die gehirnbasierte Leistung der Reflexion denkbar erscheinen lassen.32 Grundsätzlich könnten neurobiologische Erklärungen sowohl von sinnlichen Daten als auch von der Reflexion möglich sein. Aus einer sinnes- und neurophysiologischen Erklärungsarbeit, die auf Ursachenforschung abzielt, ergibt sich keine vollständige Unterminierung der Reflexion, zumal es sich ohnehin lediglich um sekundäre Erklärungsversuche handelt. Wissenschaft zielt nicht auf die Identifikation der einen wahren Ursache, sondern arbeitet im Medium vermutlich pluralistisch bleibender Deutungen. Deterministische Deutungen der Neurobiologie informieren nicht nur über Forschungsergebnisse – genauso wie es falsch wäre, die Macht der Reflexion einfach mit Indeterminismus gleichzusetzen. Die Debatte über die Macht der Reflexion kann also unabhängig von der durch die Neurobiologie ausgelösten Kontroverse um Freiheit und Determinismus geführt werden. Von den Anregungen der Neurobiologie lässt sich aber auch jenseits der Freiheitsdebatte lernen, wenn es um die Erarbeitung eines realistischen Menschenbildes geht, die Reflexion einbezieht, aber nicht überschätzt.33 Ein Nachdenken über Sucht könnte beispielsweise Anlass bieten, die einfache Alternative von Freiheit und Determinismus in der philosophischen Dis32

Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt am Main 2001, unter anderem S. 448 f. Vgl. auch die engagierte Orientierung am Konzept der Persönlichkeit in Roth, Gerhard: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart 2011. 33 Was Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main 1981, S. 11 f. generell zu unserem Verhältnis zur Wissenschaft ausführt, gilt ebenso für die Neurobiologie als einem Teil theoretischer Neugierde: Die Bedeutung der Neurobiologie als Wissenschaft einzugrenzen, ist nicht mit Wissenschaftsverachtung gleichzusetzen, weil »jede Verkennung des unüberbietbaren Lebensdienstes der neuzeitlichen Wissenschaft nicht nur fern liegt, sondern ungeheuerlich erscheint, folglich Kokettieren mit deren Verachtung verächtlich ist. Dass sie nicht alles ist, was sein kann, ist freilich auch mehr als eine Trivialität«.

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kussion zu überwinden.34 Wenn auch bei körperlich induzierten Süchten wie Drogen- und Alkoholsucht, aber ebenso bei lediglich psychisch ansetzenden Süchten wie Internet- und Spielsucht die Abhängigkeit schon begrifflich das Gegenteil von Freiheit unterstellen muss, so wird keine Suchttherapie ohne die aktive Mitwirkung eines freien Menschen auskommen. Suchterfahrungen nur im Dualismus von Freiheit und Determinismus zu beschreiben, ist phänomenologisch unterkomplex. Betroffene und Therapeuten verdienen bessere Analysen als die selbst unreflektierte Verwendung philosophischer Kategorien wie Freiheit und Determinismus, die stets auch klischeeverdächtig sind. Grundsätzlich sehe ich die Bedeutung der Reflexion und die Behauptung ihrer Macht weniger durch grenzbewusste Untersuchungen der Neurobiologie infrage gestellt als durch philosophisch-psychologische Einsichten und interkulturelle Betrachtungen, die den Menschen nicht primär als reflektierendes Vernunftwesen deuten. Der Deutungsmachtkonflikt um die Möglichkeit von Reflexion hat viele Facetten. Für Daniel Kahnemann als deutenden Entscheidungstheoretiker, der heute in der Psychologie die alten Einsichten von Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud zur eher marginalen Bedeutung bewusst ratio-naler Entscheidungen empirisch nachvollzieht, ist das menschliche Denken anfällig für »systematische Fehler«.35 Der Autor kontrastiert das schnelle Denken eines von ihm so genannten Systems 1, das »automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung« arbeite, mit dem langsamen Denken eines Systems 2, das logisch und bewusst auf der Basis von Überzeugungen agiere, wobei solche Operationen mit dem »subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration« beziehungsweise in meiner Interpretation auch mit der Reflexion verbunden sind. Zum System 2 gehöre Selbstkontrolle, die Aufmerksamkeit und Anstrengung erfordere, so dass es schnell ausgelastet und erschöpft sei (was sich experimentell in einem sinkenden Blutzuckerwert manifestiere). Hieraus folgert Kahnemann, dass es gelte, Ansprüche an die Rationalität von praktischem Handeln nicht zu übertreiben. Arnold Gehlens Pointe, dass das Mängelwesen Mensch der Entlastung bedarf, erlebt in der psychologischen Entscheidungstheorie eine deutende 34

Vgl. Tretter, Felix: Suchtmedizin. Der suchtkranke Mensch in Klinik und Praxis. Stuttgart 2000. Siehe auch das Memorandum Reflexive Neurowissenschaft, das Tretter in Kritik am »Manifest der Neurowissenschaften« 2014 maßgeblich auf den Weg gebracht hat http://www.psychologie-heute.de/home/lesenswert/memorandum-reflexive-neurowissenschaft/ (Stand: 8. März 2016). 35 Kahnemann, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken. München 72014, hier S. 21 und im Folgenden S. 33 sowie S. 58 f. zum Blutzuckerwert. Siehe den Beitrag von Sigridur Thorgeirsdottir in diesem Band, der feministisch im Anschluss an Nietzsche und Luce Irigaray die Orientierung an der Leiblichkeit in Überwindung verkürzter Vernunftkonzepte herausstellt.

Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen

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Bestätigung. Das uns überfordernde System 2 einschließlich der Distanz ermöglichenden Reflexion mag vielfach realitätsgerechter sein, aber wir schaffen es nach Kahnemann nicht, ihm im Alltag routinemäßig zu folgen, so dass sich die vom System 1 geschürte Kompetenzillusion durchsetzt. Kahnemanns Perspektive legt nahe, sich nicht zu stark auf die individuelle Reflexion zu verlassen. Reflexion erfordert die Einbeziehung des denkbar besten Expertenwissens nach dem System 2, um dann urteilskräftig Einschätzungen und Gewichtungen vorzunehmen. Eine solche Reflexion ist auch mit Kahnemann als möglich einzuschätzen, aber sie wird nicht routinemäßig stattfinden. Reflexion kann ausnahmsweise gelingen und mächtig werden, aber als verlässliche Basis für das Tägliche ist sie zu aufwändig. Nachdenken hilft zwar, aber vermutlich weniger tiefgreifend und vor allem viel seltener, als dies im Bild des animal rationale in der philosophischen Tradition behauptet wird. Die menschliche Reflexion als Ausnahmeleistung ist nicht rein kognitivistisch als Gegensatz zu Trieben und Gefühlen zu begreifen, sondern als nachdenkliches Selbstverhältnis, in dem – quasi in guten Stunden – unser Umgang mit Trieben, Gefühlen und Kognitionen über uns und die Welt gleichermaßen bedacht wird.36 Der Mensch reflektiert in diesem Verständnis zwar als Mängelwesen in exzentrischer Positionalität, aber dies in einem wenig emphatischen Sinne und eher selten mit mächtig werdendem Erfolg. Freudianischer Pessimismus und nietzscheanischer Perspektivismus – von Kahnemann aktualisiert – dämpfen hier die Euphorie; ein Hohelied auf den Menschen als Reflexionswesen steht im Konflikt mit der Empirie. In interkultureller Perspektive, die allerdings angesichts der Schwierigkeiten für das Verstehen anderer Kulturen nur unter Vorbehalt erschlossen werden kann, drängt sich für mich zur weiteren Klärung des anthropologischen Stellenwertes der Reflexion die Beschäftigung mit der japanischen Kultur auf. 37 Die Kulturanthropologin Ruth Benedict berichtet, dass in Japan – nicht zuletzt beeinflusst durch Formen des auf das Jetzt konzentrierten Zen-Buddhismus – ein »Zustand der Erfahrenheit« als anzustreben gelte. Gerade der Zwiespalt der Selbsterfahrung, in dem Reflexion Üblichkeiten distanziert, ist in diesem Zustand überwunden. Das »beobachtende Ich« werde als das »störende Ich« verstanden, das durch Aufmerksamkeitsübungen und Konzentration möglichst »nur in eine Richtung« zu lenken sei.38 Roland Barthes arbeitet in seiner Beschäftigung mit dem »Reich der Zeichen« in Japan heraus, dass das »Denken 36

Vgl. Hastedt, Heiner: Gefühle. Philosophische Bemerkungen. Stuttgart 22009. Teile dieses Textes sind in Japan entstanden, wo ich im Spätherbst 2015 an der Universität Chiba in der Region Tōkyō dankenswerterweise einen Forschungsaufenthalt, gefördert durch die »Japan Society for the Promotion of Science«, verbringen durfte. 38 Benedict, Ruth: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur. Frankfurt am Main 2006, S. 207. 37

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über das Denken« in der buddhistischen Tradition als »Blockierung« erscheine und als sekundäres Denken zu überwinden sei.39 Reflexion wäre demnach keineswegs positiv zu bewerten, sondern als Gefährdung für ein gelingendes Leben einzuschätzen. Der japanische Philosoph Wataru Hiromatsu, bei dem eine höchst individuelle Auseinandersetzung mit buddhistischen und marxistischen Traditionen zu finden ist, gibt der Distanz zur Reflexion ein differenziertes Echo.40 Sein Denken geht – den alltäglichen Pluralismus in Japan aufnehmend – von einer viergliedrigen Struktur der subjektiven und objektiven Welt aus, die in realer und idealer Gestaltung gebildet wird aus dem Einzelnen (nicht zu verwechseln mit dem Besonderen bei Hegel), dem Universellen, dem Ich und dem Wir. Im Zentrum der Überlegungen bei Hiromatsu steht die Kritik an der Versachlichung, die sowohl das Konzept der Entfremdung des frühen Marx überwindet, das fälschlicherweise als Kontrast eine Wesensbestimmung des Menschen unterstellt, als auch die immer noch bewusstseinsphilosophisch ausgerichtete Verdinglichung von Lukács. Dieser Begriff mag in der deutschen Übersetzung missverständlich sein, weil er positive Assoziationen im Sinne einer sachlichen Diskussion mitführt. Doch gemeint ist eher die Kritik des späten Marx am Warenfetischismus (als besonders markanter Erscheinung des Kapitalismus), die in Anlehnung an das Englische als Kritik einer objectification auftritt. Ausgehend von der Entlarvung des Fetischismus im Kapitalismus verallgemeinert Hiromatsu seine Überlegungen zu einer Kritik an jeder isolierten Weltannäherung, die Kontexte und Situationen zerstört. Daraus ergibt sich die Zurückweisung falscher Einheitskonzepte in der Philosophie, die lediglich auf den Spuren eines der genannten Glieder wandeln. Speziell für die Reflexion, die sich auf das Wirken des Ich bezieht, lässt sich zugleich eine Rechtfertigung als wichtiges Teilmoment und eine Zurückweisung ihrer Grenzüberschreitung herleiten. Reflexion ist topologisch rückzubinden an die Orte ihrer Praxis. Eine Reflexion, die sich die Infragestellung aller Zusammenhänge und damit auch aller Dispositive im Sinne von Foucault zutraut, folgt einer Illusion. Reflexion ist nicht allzuständig und allmächtig, sondern geerdet und lokalisiert zu denken. Bei Hiromatsu findet sich kein Verzicht auf Reflexion, aber eine starke Eingrenzung ihrer Bedeutung. In einer topisch ausgerichteten Kultur wie der japanischen kann Reflexion nicht universell als Suche nach dem unerschütterlichen Fundament inszeniert werden: Die Orientierung am angemessenen Platz, den jede Person einnimmt, begrenzt auch das Denken. Eine ortlose 39

Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main 1981, S. 102. Die Werke von Hiromatsu liegen nicht in deutscher Übersetzung vor. Ich verdanke die Interpretation seiner Überlegungen seinem Schüler Keizo Kutsuna (Universität Chiba). 40

Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen

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Reflexion wäre selbst eine Form der kritikwürdigen Versachlichung; lediglich als lokale Reflexion kann sie dieser entgehen. Der jeweilige Platz in der Welt ist nicht selbst geschaffen, und er kann aus bloßer Reflexion heraus auch nicht vollständig verändert werden – kantisch ausgedrückt in der Variation seiner bekannten Formulierung: Reflexion ohne Lokalität und Situiertheit ist leer. Umgekehrt müsste dann aber auch gelten: Lokale Situiertheit ohne Reflexion ist blind. Die Macht der Reflexion an sie ermöglichende Gelegenheiten zu binden, heißt keineswegs, sie nicht für entwicklungsfähig zu halten oder die Möglichkeit zu bestreiten, sie auch zurückzunehmen, falls sie Konzentration und Aufmerksamkeit in einem gelingenden Leben stört oder gar wie bei Buridans Esel zur Entscheidungsunfähigkeit führt. Ob Reflexion individuell nie, selten oder häufiger zur Macht gelangt, kann sogar eine Frage von Übung und Training sein. Ein zögerndes Noch-einmal-Bedenken lässt sich zu einem Habitus entwickeln, der die Chancen einer mächtig werdenden Reflexion erhöht.41 Eine Philosophie, die die Haltung der Nachdenklichkeit im Sinne von Blumenberg kultiviert, kann die Macht der Reflexion auch im Alltag stärken und sie im zwischenmenschlichen Wir mit seinen überindividuellen Institutionen verankern.

4. Die Welt braucht mehr Nachdenklichkeit! Aber wie? Der Zustand der Welt verlangt nach mehr Nachdenklichkeit. Gründe für diese Forderung lassen sich mit folgenden Fragen markieren, die mehr auf Sofortevidenz als auf ausführliche Zeitdiagnosen setzen: Ist die Finanzkrise 2008 durch ein ungebremstes Zutrauen in finanzmathematische Risikoberechnungen möglich geworden, die in ihrer Komplexität und Automatisierung nicht mehr durchschaut wurden und die deshalb den »schwarzen Schwan« nicht auf der Rechnung hatten?42 Steht hinter Krisen des Kapitalismus eine Reflexionslosigkeit, die zu einem Mangel an Nachhaltigkeit für Natur und Ökonomie gleichermaßen führt?43 Haben Bildungsinstitutionen wie Schulen und Univer41

Vgl. für die Erörterung der Frage, ob ein reflexives Kontingenz-Bewusstsein mit der ernsthaften Bereitschaft, eigene Praktiken nicht nur verbal in Frage zu stellen, sondern diese auch zu ändern, über kognitive Voraussetzungen hinaus einen tugendethischen Hintergrund erfordert: Seel, Martin: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste. Frankfurt am Main 2014 sowie ders.: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie. Frankfurt am Main 2002. 42 Taleb, Nassim Nicholas: The Black Swan. The Impact of the Highly Improbable. London 2008; Riedel, Frank: Die Schuld der Ökonomen. Was Ökonomie und Mathematik zur Krise beitrugen. Berlin 2013. 43 Ott, Konrad/Döring, Ralf: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. Marburg

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sitäten – die eigenen Grenzen selbst technokratisch verkennend – das aufklärerische Ideal der Selbstbildung als Kern der Bildung aus dem Auge verloren?44 Führen entgrenzte Transparenz, der Verzicht auf Privatheit gegenüber Konzernen und Geheimdiensten sowie euphorische Big-Data-Anwendungen zum Verlust der Voraussetzungen von Reflexion, der letztlich zur Auflösung einer bürgerlichen Öffentlichkeit beiträgt?45 Der Suggestion der Fragen folgend drängt sich die Vermutung auf, dass gesellschaftliche Verhältnisse davon profitierten, wenn Macht reflexiv und die Reflexion mächtig wäre. Eine ungebrochene Selbstgewissheit der Macht ist genauso wenig attraktiv wie die reine Sonderwelt des nachdenklichen Philosophierens. Reflexives Denken verlangt nach Nachdenklichkeit als Haltung der Offenheit, als Fähigkeit innezuhalten und Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen – nicht zuletzt solche der eigenen Praxis.46 Dabei tritt die positionelle Festlegung zurück gegenüber dem Einlassen auf fremde Kontexte, um diese in ihrem berechtigten Kern verstehen zu können. Sozialphilosophisch müssen anspruchsvolle Voraussetzungen erfüllt sein, damit in Feldern gesellschaftlicher Praxis Offenheit, die Infragestellung von Selbstverständlichkeiten und die Einsicht in Grenzen ermöglicht oder jedenfalls nicht erschwert werden, besonders wenn Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte wirklich als Ausdruck eines systematischen Reflexionsmangels gedeutet werden können. Reflexionsmangel wäre in diesem sozialphilosophischen Sinne dann nicht allein oder zu2011. Vgl. Nida-Rümelin, Julian: Verantwortung. Stuttgart 2011 und siehe den Beitrag von Lisa Herzog in diesem Band, der individuelle Akteure auch in Systemzusammenhängen, die von vielen als alternativlos gedeutet werden, nicht aus der Verantwortung entlässt. 44 Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien 32009; Nida-Rümelin, Julian: Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg 2013; Bude, Heinz: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München 2011; Hastedt, Heiner (Hg.): Was ist Bildung? Eine Textanthologie. Stuttgart 2012. Siehe Konrad Paul Liessmanns Auseinandersetzung mit den Chancen auf Selbstveränderung durch Bildung in diesem Band. 45 Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien 1998; Franck, Georg: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München, Wien 2005; Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft. Berlin 2012; Han, ByungChul: Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns. Berlin 2013; Bunz, Mercedes: Die stille Revolution. Wie Algorithmen Wissen, Arbeit, Öffentlichkeit und Politik verändern, ohne dabei viel Lärm zu machen. Berlin 2012. Siehe den Beitrag von Georg Franck in diesem Band, der die Strukturen der Aufmerksamkeit im mentalen Kapitalismus analysiert und ihre Nicht-Hintergehbarkeit auch für die Reflexionspraxis herausarbeitet. 46 Siehe den Beitrag von Konrad Ott in diesem Band, der in engagierter Nüchternheit die Aporien von Handlungsoptionen im Umgang mit gegenwärtiger Zuwanderung aufzeigt und so Reflexion praktiziert.

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erst ein individuelles Defizit der Reflektierenden, sondern eine machtkritisch aufzuschließende Verstelltheit des Zu-Reflektierenden; denn gesellschaftliche Praxis muss der Reflexion, des Reflektiert-werden-Könnens und damit ihrer Infragestellung zugänglich sein. Ist reflexives Fragen und Nachdenken gesellschaftlich als mächtig zu begreifen, auch wenn Anlass zur Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer breitenwirksamen individualpsychologischen Macht der Reflexion besteht? Diese Frage markiert den sozialphilosophischen Deutungsmachtkonflikt um die Rolle der Reflexion und um ihre gesellschaftliche Macht. Dieser Konflikt hat seinen Ort an der Schnittstelle von politischer Theorie und Anthropologie, denn die aufklärerische Koalition eines anthropologischen Reflexionsoptimismus mit egalitären und demokratischen Konzepten prägt uns gerade als problematisch gewordene bis heute. Wer Macht und Reflexion verbinden will, greift den Grundgedanken von Hegels Sittlichkeit als Aufhebung von Moralität und Recht aus seinen »Grundlinien der Philosophie des Rechts« in einer verschobenen Form wieder auf. Während die reine Reflexivität in Hegels Ausführungen direkt zur Moralität gehört, lassen sich Macht und das abstrakte Recht nur assoziativ aufeinander beziehen. Die Gedankenfigur der Vermittlung, die die bloße Reflexion ebenso überwindet wie die reine Macht, vermeidet den leeren Moralismus, an dem die Welt zu genesen hat, ebenso wie die selbstgenügsame Macht und rechtfertigt die Sittlichkeit als wirksame und in diesem Sinne mächtige Form der Reflexion. Die Wirksamkeit der Reflexion wird bei Hegel durch das gelebte Recht und die gelebten Konventionen ermöglicht, wenn in ihnen reflexive Einsichten der Vergangenheit erfolgreich und mit Macht inkorporiert sind. Das Recht, das lediglich in der Verfassung oder im Gesetzbuch fixiert ist, und die Moralität, die nur formal bleibende Grundsätze der Reflexion ohne Kontexte47 hochhält, sind nicht als mächtig einzuschätzen, sondern erst Sittlichkeit als gelebtes Recht und als gelebte Moralität. Der Grundgedanke, dass Reflexion der Vermittlung zu realen gesellschaftlichen Prozessen bedarf, um mächtig zu werden, überzeugt wohl nur in teilweiser Absetzung von Hegels eigener provokanter Bemerkung: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.«48 Ohne Wirklichkeit und damit ohne Macht wäre die Reflexion – umgangssprachlich als reine Kopfgeburt zu qualifizieren – auch nicht in einem vollgültigen Sinne 47

Vgl. Marquard, Odo: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 1981, S. 4, der von seiner persönlichen Wende zur Skepsis spricht und diese von einer als »Reflexion zelebrierte[n] Dummheit« abgrenzt, die charakterisierbar sei als »ein frei flottierender quasimoralischer Revoltierbedarf auf der Suche nach Gelegenheiten, sich zu entladen« (S. 10). 48 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Frankfurt am Main 41995, S. 24.

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vernünftig, sondern bliebe in einem zur Selbstillusion und zur Moralisierung neigenden Impuls stecken. Nur eine mächtige Reflexion, die in der Wirklichkeit einen Unterschied bewirkt, erreicht ihr Ziel. Um Reflexion allerdings in Institutionalisierungen als Formen der Sittlichkeit mächtig werden zu lassen, muss der von Gehlen formulierte Entlastungscharakter der Institutionalisierung zusammengedacht werden mit der Veränderbarkeit und Rationalität von Institutionen. Gesucht werden institutionelle Arrangements, die gleichermaßen reflexive Wirkungen sowie eine reflexive Ansprechbarkeit haben und die im Sinne von Blumenberg den reflexiv zögernden Menschen gesellschaftlich zu evolutionären Vorteilen führen können, ohne dass die Reflexion einzelner Menschen dauerhaft der Überlastung und Übererwartung ausgesetzt ist. Auch eine Technik wie das nudging, die – vom Staat oder überhaupt von außen praktiziert – als Manipulation kritisierbar ist, könnte als Strategie der Selbstveränderung und als Reflexionsanlass durchaus akzeptabel sein.49 Wenn von der individuellen Reflexion nicht zu viel erwartet werden darf (und sie interkulturell nicht immer als erwünscht anzusehen ist), sind sozialphilosophische Konzepte diskussionsbedürftig, die im Glauben an die Wirkung der Reflexion Einzelner ein allzu positives Menschenbild unterstellen. Auch bei besten Reflexionsabsichten bleibt das Motto (mit seinem allerdings vereinfachten Machtbegriff) gültig: »Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.«50 Typischerweise sind aristokratische Konzepte, zu denen auch Platons Modell des Philosophenkönigs gehört, und einige demokratische Konzepte, zu denen sich Jean-Jacques Rousseaus Orientierung am Gemeinwillen mit seinem Risiko zur stellvertretenden Inanspruchnahme rechnen lässt, besonders empfindlich für Überlastungen, die zu viel von den Entscheidungen weiser Herrscher oder von den Konsensbemühungen weiser Bürger erwarten. Nicht nur erstere stehen in der Gefahr, durch Macht korrumpiert zu werden, sondern auch letztere, wenn sie es zulassen, anstrengungsarm jede Meinung ohne Reflexion als eine letzte Instanz in die Debatte einzubringen. In der Epoche der Aufklärung gehören im 18. Jahrhundert ein anthropologischer Optimismus, die Orientierung an Bildung und die Hoffnung auf eine demokratische Gestaltung der Gesellschaft zusammen. Wenn ein Reflexionsoptimismus an Selbstverständlichkeit verliert, dann bedarf es umso mehr einer gelingenden Bildung als Hintergrund für demokratische Institutionen. Nur wenn Bildung mehr ist als kognitive Wissensaneignung und wenn sie die ganze Person einbezieht, kann sie die menschliche Fähigkeit zur Reflexion erweitern und 49

Thaler, Richard. H./Sunstein, Cass R.: Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Berlin 2011. 50 Vgl. das Original von Dalberg-Acton, John E. E. Baron: Historical Essays and Studies. London 1907, S. 504.

Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen

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demokratischen Entscheidungen über bloße Meinungsadditionen hinaus Substanz verleihen. Gesellschaftlich begünstigen Gewaltenteilung, Prozeduren und Regeln die Macht der Reflexion, weil sie die absolute Macht Einzelner (sei es jene von Herrschern oder jene von Bürgern) eindämmen und Deutungsdivergenzen zulassen.51 Schon ein ernst genommenes Vier-Augen-Prinzip zum Beispiel bei der medizinischen Diagnose, der Kreditvergabe oder der Bewertung von Examina, das zur kritischen Selbstüberprüfung beiträgt, erzielt gewohnheitsmäßig praktiziert augenöffnende Qualitäten und daran anschließend auch oft Reflexionserfolge. Gewaltenteilung, die den Absolutismus einer Instanz mit Erfolg bricht, trägt zur Ermöglichung institutioneller Nachdenklichkeit bei, weil bei den Begegnungen an den Rändern der mächtigen Gewalten Reflexion durch Irritation befördert wird. Die moderne Gesellschaft hat mit dem demokratischen Staat (vorzugsweise in nicht-rousseauistischen Lesarten) und dem Markt (als einer der gesellschaftlichen Sphären) zwei sich ergänzende Institutionen gestärkt, die reflexiven Charakter entfalten können.52 Beide verkörpern das Prinzip der Gewaltenteilung, da – nationalstaatlich gedacht – Millionen von Menschen ohne Vorabkoordination ihre Sichtweisen bei Abstimmungen, Konsum- und Produktentscheidungen und Debatten über diese in der Öffentlichkeit einbringen können. Dabei wirkt die reflexive Kraft beider Institutionen sowohl durch das positive Streben, Wahlen zu gewinnen und am Markt zu bestehen, als auch durch die Gefahr des Verlierens. In beiderlei Gestalt entwickelt sich Reflexionsdruck, um durch verzögernde und strittige Interessen integrierende Nachdenklichkeit viele zu überzeugen oder quasi in der nächsten Runde – sei es die kommende Wahl oder die zukünftige Produktentscheidung – eventuell doch noch zum Zuge zu kommen. Die Demokratie, die zum Populismus ausarten kann, und der Markt, der viele unter die Räder kommen lässt, sind zwar nicht per se reflexiv, aber sie bergen durchaus die Chance auf »Außenhalt«53 als Reflexionsanlass, der selbst durchlebt oder auch nur gedanklich antizipiert wird.

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Siehe den Beitrag von Dieter Thomä in diesem Band, der indirekt die Bedeutung des Störenfrieds für die Ermächtigung der Reflexion herausstellt. 52 Vgl. Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt am Main, New York 2006, der die Pluralität der gesellschaftlichen Sphären in ihrem Verzicht auf Grenzüberschreitungen als Kriterium der Gerechtigkeit herausstellt. Die gewaltenteilende Sphärenunterscheidung bei Walzer überzeugt im Sinne der Reflexionsbegünstigung meines Erachtens mehr als die ebenfalls anzutreffende Gemeinschaftsorientierung mit ihren hohen Ansprüchen an die kollektive Verständigung. 53 So Riesman, David: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Reinbek 81964.

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Eine sehr viel weitergehende Hoffnung, dass durch Reflexion eine ganz neue Gesellschaftsform etabliert werden könnte, ist unberechtigt, weil sie die reflexionsstützende Gewaltenteilung schon gedanklich vernachlässigt und in Selbstüberschätzung des individuellen Nachdenkens letztlich doch zu einem anti-demokratischen Konzept des Philosophenkönigs führt. Zur Gestaltung des globalisierten Kapitalismus ist es schwer genug, die Grenzen von Markt und staatlich-demokratischer Steuerung zu bestimmen, zumal gesellschaftliche Debatten wenig überzeugend zwischen Überregulierung und Nicht-Regulierung schwanken und so kluge Ergänzungen der Stärken von Markt und Staat nicht erreicht werden. Der Druck zur sofortigen Entscheidung, der stellvertretend für andere Zwänge steht und der in der vernetzten Onlinegesellschaft stetig zunimmt, minimiert die Chancen der gesellschaftlichen Reflexion. Da die Moderne auf Beschleunigung setzt, könnten wir Zeuge eines Prozesses sein, der Reflexion gesellschaftlich entwurzelt.54 Daran schließt sich die offene Frage an, ob Gegengewichte zur Beschleunigung immer zur Reflexion beitragen oder ob sie zur »Diktatur des Sitzfleisches«55 und zu Institutionen im Stillstand führen.

5. Topologische Philosophie56 Die deutende Vermittlung von Macht und Reflexion kann nicht allein begrifflich in einem philosophischen System gelingen, sondern sie erfordert anwendungsorientiert und im Bewusstsein eigener Situiertheit Anstrengungen in vielen Feldern des Denkens und der Praxis. Situierte Anwendungsorientierung verbindet – so ist zu hoffen – einen praktisch-engagierten Impuls mit der reflexiven Orientierung der Philosophie. Wenn Reflexion Ortlosigkeit vermeiden will, dann darf sich auch das Nachdenken über die Welt nicht zu viel zumuten

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Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005. Die Finanzkrise 2008 kann mit Rosa auch als Beschleunigungskrise gedeutet werden. 55 Weinrich, Harald: System, Diskurs, Didaktik und die Diktatur des Sitzfleisches. In: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Beiträge zur Habermas-Luhmann-Diskussion. Hg. v. Franz Maciejewski. Frankfurt am Main 1974, S. 145–161. 56 Pörtner, Peter/Heise, Jens: Die Philosophie Japans. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1995 bevorzugen »topische Philosophie« in ihrer Charakterisierung japanischen Denkens, indem sie sich zugleich europäisch auf Aristoteles, Cicero und Giambattista Vico beziehen. Wenn ich den Ausdruck »topologische Philosophie« nutze, akzentuiere ich das Theoretische im Umgang mit den Orten der Reflexion. Philosophische Reflexion kann nicht auf den Logos verzichten, selbst wenn die Verortung der Reflexion in der Tradition der Topik stärker betont wird.

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und muss in einzelnen Feldern agieren.57 Auch wenn Philosophie jenseits der rein angewandten Problemlösungskompetenz die großen Zusammenhänge in orientierender Absicht bedenkt, so zählt doch das Einzelne, das als Welt, Wir und Ich nicht hinter dem bloß Allgemeinen verschwindet. Ideal wäre meines Erachtens eine Philosophie, die in ihrem Nachdenken den denkbar größten Horizont erschließt und zugleich das Große und Ganze auf brisante Gegenwartskonflikte beziehen kann, während sie ihre eigene Position mitreflektiert. So gibt es angesichts der erforderlichen Balance zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen den nicht leicht zu erfüllenden Anspruch der Philosophie, zu wichtigen Themen in Deutungsmachtkonflikten mehr oder zumindest anderes sagen zu können als viele, die als Experten auftreten. Dieser Anspruch erfordert auch Unparteilichkeit, weil ein noch so großes Engagement für das Gute in der Welt nicht zum Parteigängertum mutieren darf, denn ein solches mag zwar mächtig sein, hat aber mit Philosophie nichts mehr zu tun. Ob philosophische Reflexion mächtig werden kann, entscheidet sich nicht zuletzt an den einzelnen Beiträgen, die unser Fach beispielsweise im Nachdenken über Politik und Ökonomie, über Big Data, Internet und Bildung, Geschlechterverhältnisse, aber immer wieder auch über die Grenzen und Potentiale der Neurobiologie zu leisten vermag.58

Danksagung Dieses Buch und die Rostocker Tagung »Macht und Reflexion«, die vom 8. bis zum 10. Oktober 2015 als »Forum für Philosophie« der Deutschen Gesellschaft für Philosophie stattfand, wurden ermöglicht durch mannigfache Unterstützung. Zuerst danke ich der Deutschen Gesellschaft für Philosophie mit ihren Präsidenten Michael Quante (2012–2014) und Dominik Perler (ab 2015) sowie mit ihrer Geschäftsführerin Andrea M. Esser, dass sie mir die Aufgabe übertragen haben, das Forum unserer Gesellschaft in Rostock zu veranstalten. Den Vortragenden, die sich faszinierend leicht für die Tagung und das Buchprojekt gewinnen ließen, gebührt ein besonderer Dank. Als Mitveranstalter, die vor allem auch die Finanzierung übernahmen, traten dankenswerterweise 57

Theodor W. Adorno gehört zu den philosophischen Kritikern der Topologie, weil er in ihr einen autoritären platzanweisenden Gestus identifiziert. Die über die japanische Tradition eingeführte Topologie betont demgegenüber geradezu mit einem Höflichkeitsgestus die Unverfügbarkeit des Einzelnen. 58 Für die zahlreichen Verbesserungsvorschläge beim Schreiben dieser Einleitung danke ich besonders Ulrike Wesser, Hanno Depner und Dennis Wutzke. – Für ihre Verdienste um die Schlusskorrektur und die Vorbereitung der Drucklegung des ganzen Bandes geht der Dank an Antje Maaser.

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auf das Rostocker Graduiertenkolleg »Deutungsmacht« und unsere Interdisziplinäre Fakultät mit ihrem Department »Wissen – Kultur – Transformation« sowie das Institut für Philosophie. Aus diesem Kreis ließen sich auch mühelos jetzige und ehemalige Kolleginnen und Kollegen für die diversen Moderationsaufgaben der Tagung gewinnen. Martina Kumlehn als Sprecherin der »Deutungsmacht« und Franz-Josef Holznagel als Leiter des Departments leisteten bedeutende Unterstützung genauso wie mein Philosophie-Kollege Michael Großheim. Ganz besonders möchte ich schließlich meinem Team – im Kern bestehend aus Hanno Depner, Tobias Götze, Ruben von der Heydt, Anita Holtz, Christian Klager, Antje Maaser, Julia Mindt, Lisa Schulmeister, Dennis Wutzke, Florian Zacher – danken, das die vielen Aufgaben rund um die Tagung und das Buch so engagiert gemeistert hat.

Hans Blumenberg

Nachdenklichkeit*

Alles Leben strebt danach, seine Antworten auf die Fragen, die sich ihm stellen, unverweilt und unbedenklich zu geben. Zwar ist das Schema von Reiz und Reaktion eine zu große Vereinfachung der Sachverhalte, aber doch das heimliche Ideal für die Funktionstüchtigkeit organischen Verhaltens. Der Mensch allein leistet sich die entgegengesetzte Tendenz. Er ist das Wesen, das zögert. Dies wäre ein Versäumnis, wie es das Leben nicht verzeiht, wenn der Nachteil nicht durch einen großen Aufwand an Leistungen ausgeglichen würde, dessen Resultat wir Erfahrung nennen. Daß wir nicht nur Signale, sondern Dinge wahrnehmen, beruht darauf, daß wir abzuwarten gelernt haben, was sich jeweils noch zeigt. Die riskante Unentschiedenheit vor der Alternative: Flucht oder Angriff mag der erste, in keiner Ausgrabung jemals nachweisbare Schritt zur Kultur als einem Verzicht auf die raschen Lösungen, die kürzesten Wege gewesen sein. An der Norm glatter Funktion gemessen, kann man das Zögern durchaus als Folge einer Störung verstehen: Ein Wechsel des Biotops oder eine Veränderung von Flora und Fauna durch Klimaschwankung könnte die Eindeutigkeit und Vertrautheit von Umweltdaten für Verhalten getrübt, verformt, entstellt haben. Die erkenntnistheoretisch berühmte Synthese einer Mannigfaltigkeit von Empfindungen wäre dann aus dem Mangel an Deutlichkeit, aus der Entfremdung der Umwelt hervorgegangen. Im Zögern steckt keine Funktionslust, aber im erzwungenen Aufschub der Aktion könnte Lust am Zögern gefunden worden sein. Jedes neu gewonnene Stück Geborgenheit hätte erlaubt, den Spielraum für solchen Lustgewinn zu erweitern. Das Leben verlangt Zweckmäßigkeit, doch seinen Günstlingen gewährt es das Erlebnis der Zweckfreiheit. Daraus wächst jede Kultur. Noch in ihren primitivsten Äußerungen, dem Schmuck, dem Ornament auf Nutzgerät, ist der Gestus des Gewinns von Zweckfreiheit, von suspendierter Ökonomie, enthalten. Aus dem Zögern als momentaner Ratlosigkeit, als bloßer Ausnutzung eines Aufschubs, kann Zuständlichkeit werden, die einen anderen Lebenswert als den der Abwägung von Optionen hat. * Erstveröffentlichung in Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch II/1980, S. 57–61; Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

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Für diesen Lebenswert erscheinen die sprachlichen Äquivalente weithin als abgenutzt. Etwa jene Beschaulichkeit des Alters, von der man einmal sprach und in der es nicht darauf ankommen sollte, etwas zu beschauen, um mit ihm fertig zu werden. Auch Nachdenklichkeit genießt nicht das Wohlwollen der Zeitgenossen, die Entscheidungsfreudigkeit zumindest verlangen. Nachdenklichkeit gilt als unziemlich müßiger Zeitverbrauch. Denken und Denken über Denken mag eine Fachkompetenz verleihen; Nachdenklichkeit wird von keiner Profession oder Disziplin als ihr Teil beansprucht. Unser Bild vom Denken ist, daß es die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten herstellt, zwischen einem Problem und seiner Lösung, zwischen einem Bedürfnis und seiner Befriedigung, zwischen den Interessen und ihrem Konsens – entlang an dem diskursiven Seil, an dem schon kritische Kinder zu raschen Folgerungen und Emanzipationen kommen sollen. Der Nachdenkliche genießt allenfalls Nachsicht. Resultate werden von ihm nicht erwartet, wenn er sich erhebt. Es regt niemand auf, was er tut oder vielmehr nicht tut, am wenigsten ihn selbst. Eine der Beschreibungen von Nachdenklichkeit lautet, man lasse sich durch den Kopf gehen, was und wie es gerade kommt. In der Nachdenklichkeit liegt ein Erlebnis von Freiheit, zumal von Freiheit der Abschweifung. Die Bandbreite, in der auf Abschweifung reagiert wird, reicht von den Höhepunkten des Humors bis zur blanken Verzweiflung derer, die mit einer Sache vorankommen möchten. Keine Intersubjektivität kann ihren Mitgliedern das Ausscheren aus dem Funktionsverbund gestatten. Der Exkurs beansprucht Freiheitsgrade, die man sich im Diskurs der Denkvermögen nicht leisten kann. Dialogstrategien überlassen keinen seiner Nachdenklichkeit. In ihr nämlich wäre erlaubt, dieses für jenes hingehen zu lassen, die Strenge der Kontrolle zu lockern und dafür der Größe der Fragen kein Maß anzulegen. Ob über den Sinn des Lebens ein Denken nach Regeln der Kunst möglich ist, läßt sich bezweifeln; nachdenklich wird man darüber sein dürfen, ohne je einer Antwort – auch nur einer unter vielleicht vielen möglichen und schließlich doch nicht möglichen – näherzukommen. Philosophie gilt als methodische Disziplinierung solcher Fragen, im Grenzfall als deren Verbot wegen erwiesener Unerreichbarkeit ihrer Antworten auf zuverlässige Weise. Geregeltes Denken erscheint weit entfernt von bloßer Nachdenklichkeit. Aber viele Figuren der Philosophie sprechen gegen diese Trennung. War Sokrates ein Denker im Sinne solcher Strenge? Sein Ertrag wäre dann der dürftigste aller möglichen gewesen: Was konnte damit gewonnen sein zu wissen, daß man nichts weiß? Und was damit, sogar die anderen, die sich im Besitz von Wissen glaubten, ironisch hereinzuziehen oder hineinzutreiben in die Ratlosigkeit? Es sei denn, man versteht dies als Zurück-

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führung des Denkens auf die Nachdenklichkeit als seinen Ursprung und Boden, den es zwar verlassen, zu dem es aber auch immer wieder zurückkehren muß. Man mag dies den Boden der Lebenswelt nennen. Auf ihm hat die Philosophie alle Bezweiflungen ihrer Existenzberechtigung zum Erstaunen ihrer Totsager überstanden. Ich setze Philosophie nicht gleich mit Nachdenklichkeit, lasse sie aber ihre Herkunft von dieser und ihren Dienst an dieser nicht verleugnen. Der nach allen Regeln der Kunst sich absichernde und vor lauter Methodenreflexion am Gehen gehinderte ›Denker‹ ist nicht ausschließlich ihre Idealgestalt. Wären Sokrates, Diogenes, Kierkegaard oder Nietzsche sonst in ihre Geschichte eingegangen? Sokrates hat im Kerker vor seinem Tod zu den Fabeln des Äsop gegriffen, die den Griechen von Kindesbeinen an vertraut waren. Dieser winzige Zug ist ein Hinweis, dem ich für einen Augenblick nachgehen möchte. Die äsopische Fabel ist ein Gebilde von großer und doch kunstvoller Einfachheit. Ich gebe ein Beispiel: Ein Greis fällte einst Holz, lud es sich auf und ging eine lange Strecke. Der Weg ermüdete ihn. Er lud seine Last ab und rief nach dem Tod. Der erschien alsbald und fragte, weshalb er ihn gerufen habe. Der Greis antwortete: Um mir die Last wieder aufzuladen. Man spürt, daß die kleine, die kleinstmögliche Geschichte, wenn man sich ihr überläßt, nachdenklich macht. Nichts weiter und nichts mehr als nachdenklich. Nun sind die unter dem Namen des Äsop überlieferten Fabeln mit dem, was sie erzählen, noch nicht am Ende. Sie haben Sprüche über das bei sich, was sie angeblich lehren sollen oder gesollt haben: ihr Epimythion, die Moral von der Geschicht’. Seit je ist den Humanisten und Philologen das Mißverhältnis oder Unverhältnis dieser Lehrsprüche zu den Geschichten, denen sie zugeordnet sind, aufgefallen. Hat man sich auf die Nachdenklichkeit eingelassen, die die Fabel induziert, so ist ihre ›Moral‹, als das ihr vermeintlich abzulesende Resultat, oft nicht nur ernüchternd, sondern bestürzend und quälend in seinem Unverstand. Obwohl fast keine dieser Lehren als ganz falsch bezeichnet werden kann, haben sie etwas eigentümlich und unerklärt Unpassendes an sich. Im Fall der von mir gewählten Fabel »Der Greis und der Tod« steht da seit alter, aber vielleicht nicht ältester Zeit, die Geschichte (logos) zeige, daß jeder Mensch ein Lebensliebhaber (philózoos) sei, und dies sogar, wenn es ihm schlecht ergeht. Sicher nicht falsch, und doch enttäuschend. Nicht nur eine traurige Reduktion des Fabelsinns, sondern die Störung der gerade geweckten Nachdenklichkeit. Sie wird dazu genötigt, an der Banalität der Moral die Bedeutsamkeit des

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kargen Vorgangs zu messen; gezwungen zu dem Verdacht, ein solches Wunderwerk könnte wirklich auf diese Quintessenz hin erdacht worden sein. Versucht man sich nun selbst darin, die vermeintliche Mitteilung der Fabel zu extrahieren, so bemerkt man schnell, daß jeder Satz, den man hier spricht, die Tiefe dessen verflacht, was nur in der Nachdenklichkeit umfaßt, nicht erfaßt werden kann. So richtig es sein mag, daß es keinen Grad der Miserabilität des Lebens geben kann, durch den dieses selbst völlig entwertet würde, es schließt zu vieles aus, als daß es akzeptiert werden könnte. Nun möchte ich einen kleinen Schritt weitergehen, indem ich sage, die Nachdenklichkeit, die die Fabel bewirkt, habe es zu tun mit der Nachdenklichkeit, die sich in der Fabel darstellt. Der Greis, von dem erzählt wird, ist ja kein ›Denker‹, der zwischen dem Abwerfen der Last und der Ankunft des Todes eine Feststellung über den Unwert des Lebens geändert hätte. Aber er ist einer, der in der Verzögerung den Gewinn erfährt, den erst sie zuläßt. Er hat die unerträgliche Last abgeworfen, weil er zum Ende entschlossen ist und den Tod erwarten will. Doch das Abwerfen der Last gewährt ihm den Aufschub, Atem zu holen, sich umzusehen, die unter der Bürde unbeachtete Welt noch einmal anzublicken, um nun wahrzunehmen, was der Preis für die Endgültigkeit des Loskommens von der Last sein würde. Über solcher Nachdenklichkeit tritt der Tod heran, wie gerufen; und es scheint, daß der Alte von ihm Verlängerung des Aufschubs erlangt, den er sich doch erst durch Überdruß am Leben verschafft hatte. Die Fabel erzählt nichts von dem, was dem Greis durch den Kopf gegangen war, um den Tod als Helfer zum weiteren Tragen der Last zu bewegen, als sei er dazu gerufen worden. Eben durch das, worauf die Fabel verzichtet, gewährt sie uns den Spielraum der Nachdenklichkeit. Nachdenklichkeit stellt sich aber auch dar im Mißverhältnis von Fabel und Moral. Fast möchte man glauben, die Epimythia seien eigens dazu erfunden, Hörern und Lesern zu demonstrieren, wie wenig damit getan sei, eine Lehre aus der Geschichte zu ziehen, sie auf einen abschließenden und bequem transportablen Satz zu bringen – wogegen alles darauf ankomme, einen Zustand, eine Einstellung, eine Bedächtigkeit zu bewirken, die vor solchen Sätzen bewahrt. Nachdenklichkeit ist auch Aufschub gegenüber den banalen Resultaten, die uns das Denken gerade dann liefert, wenn nach Leben und Tod, Sinn und Unsinn, Sein und Nichts gefragt wird. Mein Resultat – denn von Berufs wegen muß ich eins vorweisen – ist, daß die Philosophie etwas von ihrem lebensweltlichen Ursprung aus der Nachdenklichkeit zu bewahren, wenn nicht zu erneuern, hat. Deshalb darf sie nicht gebunden werden an bestimmte Erwartungen über die Art ihres Ertrages. Die Rückbindung an die Lebenswelt würde zerstört, sollte der Philosophie ihr Recht zu fragen eingeschränkt werden durch Normierung der Antworten oder

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auch nur durch den Zwang, sich die Frage nach der Beantwortbarkeit der Fragen schon von vornherein und zu deren Disziplin zu stellen. Die Philosophie vertritt nur einen allgemeineren Befund an jeder Kultur: den der Ununterdrückbarkeit ihrer elementaren Bedürfnisse und Fragen durch deren vermeintliche Überwindung. Kultur ist auch Respektierung der Fragen, die wir nicht beantworten können, die uns nur nachdenklich machen und nachdenklich bleiben lassen. Heine hat über Kant seinen Spott ausgeschüttet, er habe die zweite Kritik, die der praktischen Vernunft, mit den Themen der Nachdenklichkeit: Freiheit, Existenz Gottes, Unsterblichkeit, nur seinem alten Diener Lampe zuliebe geschrieben. Wenn der Übermut des Spötters verklungen ist, wird man nachdenklich: Ob das nicht gar wahr sein könnte? Man braucht die ehrwürdigen Namen nicht zu nennen. Lebensweltlich wollten und wollen wir wissen, woran wir sind. Und obwohl wir inzwischen sicher sein müssen, daß darauf keine Antworten zu formulieren und formulierte Antworten nicht durchzusetzen sein werden, lassen wir uns doch zum Verzicht nicht leicht, nur zeitweise, nur im Vertrauen auf Antwortersatz bewegen. Woran wir sind, daran denken wir, weil wir dabei gestört wurden, nicht daran zu denken. Nachdenklichkeit heißt: Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war. Das ist alles.

Konrad Ott

Der slippery slope im Schatten der Shoa und die Aporien der bürgerlichen Gesellschaft angesichts der Zuwanderung1

1. Einleitung Hannah Arendt musste wie viele aus ihrer Generation als Jüdin die bittere Erfahrung machen, dass die Berufung auf Menschenrechte allein wenig hilft, sofern es keinen Staat gibt, der diese moralisch begründeten Ansprüche dessen, was einem Menschen an Rechten zusteht, rechtlich positiviert, das heißt in Geltung setzt.2 Die Emigranten und Staatenlosen, die seit dem Ende des Ersten Weltkrieges vor terroristischen Staatsapparaten fliehen mussten, waren angewiesen auf die wohlwollende Bereitschaft anderer Staaten, ihnen Zuflucht zu gewähren. Faktisch hatten sie in dieser existentiellen, ja existenzbedrohenden Hinsicht keine wirklichen Rechte. Sie waren Bittsteller, die hofften und bangten. Alle in Geltung befindlichen Rechte waren faktisch Bürgerrechte von Staatsangehörigen; Staatenlose schienen die Menschenrechte verloren zu haben. In ihrer Begründungsdimension mochten die Menschenrechte zwar einen universalistischen Anspruch erheben; in den Genuss ihrer Gewährleistung kamen jedoch nur die Personen, die zufälligerweise das Glück hatten, Bürgerinnen bestimmter Staaten zu sein. Diese Situation wurde nicht nur als existentiell prekär erlebt, sondern vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg auch als moralisch und politisch unbefriedigend erkannt. Die Genfer Flüchtlingskonvention war die Folge. Moralisch erscheint es fast unmittelbar einsichtig, dass eine Vertreibung durch totalitäre Staatsapparate nicht zum Verlust der Menschenrechte führen darf. 1

Für kritische Kommentare bedanke ich mich bei Veronika Surau-Ott und Moritz Riemann. 2 »Die Menschenrechte waren als ›unveräußerlich‹ bezeichnet worden, weil man annahm, dass sie von allen Regierungen unabhängig sein würden; aber es stellte sich heraus, dass in dem Augenblick, wo Menschen keine eigene Regierung mehr hatten und auf ihre Minimalrechte zurückgeworfen waren, keine Autorität mehr da war, die jene Menschenrechte schützte, und keine Institution sich bereitfand, sie zu garantieren.« Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt am Main 1958, Schlussbemerkungen zur ersten Auflage. Diese Schlussbemerkungen gehen auf den Essay »The Rights of Men«: What are they? zurück; dies.: »The Rights of Men«: What Are They? In: Modern Review 1 (1949), S. 24–37. Ebenfalls lesenswert ist und bleibt dies.: Wir Flüchtlinge. In: Zur Zeit. Politische Essays. München 1989, S. 7–21.

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Die als »Mütter und Väter des Grundgesetzes« bezeichneten Personen, die unter dem Eindruck der jüngsten Vergangenheit über ein Grundgesetz für die Bundesrepublik berieten, hatten anerkennungswürdige moralische Gründe dafür, Bürgerinnen anderer Staaten ein Individualgrundrecht für den Fall einer politischen Verfolgung einzuräumen. Dieses Recht gemäß Artikel 16a(1) GG ist von seiner Genese her nicht nur ein Recht für weiße männliche AntiKommunisten, sondern universell.3 Für Verfassungspatriotinnen ist das Asylrecht daher mit der politischen Geschichte Deutschlands direkt verknüpft. Die Erinnerung an dramatische Fälle, in denen Menschen politische Verfolgung in all ihren Facetten erleiden und erdulden mussten (Entlassung, Entrechtung, Entehrung, Enteignung, Inhaftierung, Folter, Vertreibung, Vernichtung), gibt gute Gründe an die Hand, an dem Recht auf Asyl nach Art. 16a(1) GG festzuhalten. Joseph Carens sagt in diesem Sinne: »Contemporary reflection about refugees begins in the shadow of the Holocaust.«4 Dieser Schatten lastet auf uns besonders schwer in einem geschichtlichen Moment, in dem Deutschland das Zielland vieler Flüchtlinge und Migranten geworden ist und es absehbar auch bleiben wird. Dieser Schatten ist allerdings für uns Deutsche wohl ein dialektischer Schatten, in dem sich a) Analogien zwischen damaliger und heutiger Flucht, b) der Wunsch, sich aller Welt als besseres Land zu präsentieren,5 c) archaische Visionen, die Blutschuld der Ahnen durch die Aufnahme der Lebenden zu sühnen, d) Bestrebungen, das während der Finanzkrise entstandene Bild des kaltherzigen ökonomischen Hegemons zu korrigieren6 und weitere Motive sich auf schwer zu durchschauende Weise durchmischen. Wir können aufgrund unserer besonderen Verantwortung nicht nach Gutdünken aus diesem Schatten der Shoa heraustreten, sondern müssen ihn bei allen unseren Überlegungen zu Flucht und Migration in all seiner Dialektik präsent halten. Interessanterweise spielt das Recht auf Asyl weder in der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls noch in der Demokratietheorie von Jürgen Habermas eine wesentliche Rolle. Bei Rawls liegt dies daran, dass sein innerstaatliches System der Kooperation weder Ein- noch Ausbürgerung oder Migration kennt.7 Die später von Rawls in The Law of Peoples entwickelten Prinzipien der Staaten3

Siehe hierzu Pieroth, Bodo/Schlink, Bernhard/Kingreen, Thorsten/Poscher, Ralf: Grundrechte. Staatsrecht II. Heidelberg 312012, § 24. 4 Carens, Joseph: The Ethics of Immigration. Oxford 2013, S. 192. 5 So schreibt Volker Schlöndorff: »Ja, wir wollten ein Land, zu dem wir uns – wenn auch nicht mit stolzem Brustklopfen, so doch immerhin – bekennen konnten. 60 Jahre später schien sich dieser pubertäre Traum nun mit der Willkommenskultur zu erfüllen.« Schlöndorff, Volker: Eine verunsicherte Republik. In: Focus-Magazin 10 (2016). 6 Über die Berechtigung dieses Bildes sei hier nicht geurteilt. Siehe aber Ott, Konrad: Solidarität in Europa und der »Fall Griechenland«. In: Vorgänge 4 (2011), S. 34–47. 7 Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge 1971.

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welt enthalten ein solches Individualrecht nicht.8 Für die Begründung des Systems der Rechte in Habermas’ Faktizität und Geltung gilt, dass Bürgerinnen und Bürger ihr Zusammenleben mit den Mitteln des positiven Rechts auch dann auf demokratische Weise regeln könnten, wenn sie Nicht-Bürgern kein Asylrecht einräumten. Die Begründungsfigur von Habermas impliziert kein Recht für Nicht-Bürgerinnen, und so findet sich denn in Faktizität und Geltung nur eine unbefriedigende Bemerkung zu Migration und Einbürgerung.9 Michael Walzer hat das Thema der Mitgliedschaft und Zuwanderung gründlicher behandelt und Gründe für die Aufnahme von Asylsuchenden genannt.10 Walzer hat es in das Ermessen demokratischer Politik gestellt, ein Asyl- und Einwanderungsrecht zu institutionalisieren, mit dem Nicht-Bürgerinnen zunächst nur konfrontiert werden. Diese Institutionalisierung von Asyl- und Ausländerrecht ist für Walzer Kernbestand politischer Souveränität partikularer Gemeinwesen und als solche politisch und moralisch legitim. Hingegen wohnt dem menschenrechtlich interpretierten normativen Individualismus der zeitgenössischen Ethik, wie zu zeigen ist, eine wirkmächtige Tendenz zum Expansionismus der Menschenrechte inne, die sich am Recht für Flüchtlinge paradigmatisch studieren lässt. Die These dieses Aufsatzes lautet, dass dieser Expansionismus in Verbindung mit einer Kritik an »Privilegien« und mit bestimmten Begründungslasten mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu dem präsumtiven Recht jedes Menschen führt, sich überall auf Erden möglichst frei bewegen und sich nach Belieben niederlassen zu dürfen. Das heißt er führt zu einem kosmopolitischen Recht auf globale Freizügigkeit, dem eine Pflicht von Staaten korrespondiert, ihre Grenzen zu öffnen (open borders) und ihre Beherbergungspflichten auszuweiten. Der Expansionismus endet bei der Forderung nach open borders im Sinne von Carens, also bei der willentlichen Aufgabe staatlicher Souveränität in diesem Punkt.11 Die Leitfrage lautet, ob gegen diesen Expansionismus eingewendet werden kann, die Konsequenzen von open borders seien angesichts der realen Weltverhältnisse und Zeitläufte »absurd«. Was als »absurd« gilt, steht in der Ethik freilich nicht fest. Eine reductio ad absurdum ist voraussetzungsreich.

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Rawls, John: The Law of Peoples. Cambridge 1999. »Immigration, also die Erweiterung der Rechtsgemeinschaft um Fremde, die Angehörigkeitsrechte erwerben wollen, [erfordert] eine Regelung, die im gleichmäßigen Interesse von Mitgliedern wie Anwärtern liegt.« Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt am Main 1992, S. 158. Die Formulierung »im gleichmäßigen Interesse« beider Seiten, die für Habermas ein Strukturmerkmal gültiger Moralnormen ist, dürfte bei Fragen der Zuwanderung faktisch unerfüllbar sein. 10 Walzer, Michael: Spheres of Justice. New York 1983, Kapitel 2. 11 Carens: The Ethics of Immigration. 9

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Der expansionistische Diskurs wird im Folgenden als ein diskursiver slippery slope vorgestellt.12 Ein slippery slope ist dann ein moralisches Problem, wenn a) der Endzustand, hin zu dem Einzelne oder Kollektive hinabrutschen, für die Mehrheit der Betroffenen unerträglich oder verwerflich ist, oder b) wenn nicht doch irgendwo auf diesem Abhang ein fester Halt gefunden werden kann. Wenn (Fall a) eine Willkommenskultur ungeachtet der Anzahl der Aufzunehmenden auf Dauer gestellt werden könnte und sich Zuwanderer und Altbürgerinnen prächtig miteinander arrangierten, gäbe es keinen wirklichen slippery slope, sondern nur gesellschaftliche Veränderungen hin zum Besseren. Wenn sich eine moralisch vertretbare Position der Begrenzung von Zuwanderung deutlich vor den open borders halten ließe, ist der Abhang nicht allzu glitschig. Insofern erfolgt die hypothetische Konstruktion des slippery slope im Sinne eines risikoscheuen verantwortungsethischen Konsequentialismus. Folgen wir Carens, so liegt dieser slippery slope für uns im Schatten der Shoa. Viele glauben, eine Variante von Gesinnungsethik sei hier die beste Leuchte auf diesem Weg.13 Meine Untersuchung verfolgt in mehreren Schritten die expansionistische Denkrichtung selbst: Diese Denkrichtung interpretiert zunächst das geltende Asylgrundrecht möglichst anspruchsvoll. Dann weicht sie die Unterscheidung zwischen Flucht und Migration auf. Hernach weitet sie die Anzahl echter Fluchtgründe aus. Zuletzt wird dann der Schritt zu open borders gefordert und gerechtfertigt, wobei die allgemeine Bewegungsfreiheit und die Freizügigkeit herangezogen werden. An einigen dieser Punkte werde ich dieser Denkrichtung widersprechen.

2. Das Recht auf Asyl für politisch Verfolgte Rein empirisch lassen sich nur Ortsveränderungen von Menschen registrieren, es sei denn, der Grund für diese Ortsveränderungen ist unmittelbar einsichtig: Flucht vor einem wilden Tier, einem Lavastrom, einem bewaffneten Angreifer. Ob Ortsveränderungen Flucht vor politischer Verfolgung sind, sieht man ihnen meist nicht unmittelbar an, sondern Flucht muss geltend gemacht, anerkannt und insofern behördlich »festgestellt« werden. Nach unserem Verfassungsverständnis ist Asylrecht für politisch Verfolgte unmittelbar geltendes Recht. Das Recht auf Asyl gemäß Art. 16a (1) GG ist 12

Vgl. Zoglauer, Thomas: Dammbruchargumente in der Bioethik. In: Angewandte Ethik im Spannungsfeld von Begründung und Anwendung. Hg. v. Hans Friesen u. Karsten Berr. Frankfurt am Main 2004, S. 309–326. 13 Im Sinne von Ott, Konrad: Zuwanderung und Moral. Stuttgart 2016. Der vorliegende Aufsatz ist aus diesem Essay hervorgegangen.

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ein konditioniertes Recht. De lege lata genießen es alle Personen, solange ihnen in ihrem Herkunftsland politische Verfolgung droht. Diese Konditionalität des Rechtsanspruches muss näher bestimmt werden, wie dies in Verfassungskommentaren und in der juristischen Fachliteratur ausgiebig getan wurde. Im Kern ist das Asylrecht ein Recht auf ein individuelles Verfahren der rechtsstaatlichen Prüfung in allen Fällen, in denen es beantragt wird. Das Asylgesuch kann gewährt oder versagt werden. Diese Prüfung hängt von Annahmen über die politische Lage in unterschiedlichen Ländern und von der Beurteilung der Narrative ab, die die Asylbewerber vortragen. Wird der Antrag auf Asyl abschlägig beschieden, steht dem Betroffenen ein Klageweg offen. Wird die Klage abgewiesen, wird der Betreffende ausreisepflichtig, sofern nicht andere Gründe (etwa nach der Genfer Flüchtlingskonvention) für eine Duldung aus humanitären Gründen sprechen. Kommt der Betroffene der Ausreisepflicht nicht nach, wird als ultima ratio der Aufenthalt durch den Einsatz von Rechtszwang beendet (»Abschiebung«). Zum Verfassungsrecht zählen auch Bestimmungen, wer sich nicht auf Art. 16a (1) GG berufen kann. Das Grundgesetz geht seit seiner Novellierung des Art. 16a im Jahre 1993 davon aus, dass die eigentliche Flucht endet, sobald ein sicherer Drittstaat erreicht wurde. Dass diese Regelung angesichts der geographischen Mittellage für Deutschland komfortabel war, ist offensichtlich, ändert aber zunächst nichts an der Rechtslage. Verfassungspatriotismus endet nicht vor Art. 16a (2). Damit fragt sich sogar, ob die Bearbeitung vieler hunderttausender Asylanträge, die 2015 gestellt wurden, weil die Kanzlerin entschieden hatte, die Grenzen zu öffnen, überhaupt rechtens ist, was ich mangels juristischer Kompetenz nicht vertiefen möchte. Ich halte nur fest, dass das Grundgesetz davon ausgeht, dass Menschen nicht mehr auf der Flucht sind, sobald sie die Außengrenzen der EU überschritten haben. In vielen Fällen werden Fluchtgründe in Narrativen geltend gemacht. Deren Glaubwürdigkeit ist unterschiedlich hoch. Es scheint der Fall zu sein, dass auf den Fluchtrouten Versatzstücke von Narrativen ausgetauscht und variantenreich rekombiniert werden – was ein interessantes Forschungsgebiet für die kulturwissenschaftliche Narratologie wäre. Dieses Problem der Narrative betrifft vor allem Herkunftsstaaten, in denen politische Verfolgung nicht ausgeschlossen werden kann, aber nicht direkt von der staatlichen Gewalt ausgeht, sondern zum Beispiel von Milizen, Terrorgruppen, warlords, drug gangs oder Bürgerkriegsparteien. Das ethische Problem ist, dass es der moralische Anstand der in Sicherheit lebenden Bürger eigentlich verbietet, Geschichten gegenüber misstrauisch zu sein, in denen von Gewaltandrohung, Brandschatzung, Tod und Verstümmelung von Freunden und Angehörigen und Grausamkeiten aller Art die Rede ist. Andererseits lehren Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, dass Geschichten erfunden und dramatisiert werden kön-

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nen. Folgt man Carens, so müssen wir alle diese Geschichten gleichsam im Schatten der Shoa anhören. Auch bei nüchterner rechtsethischer Betrachtung, a fortiori aber im Schatten der Shoa, ist es prima facie schlimmer, wenn tatsächlich politisch Verfolgten fälschlicherweise kein Asyl gewährt wird, als wenn nicht politisch Verfolgte fälschlicherweise als Asylanten anerkannt werden. Moralisch wiegt ein false negative schwerer als ein false positive, denn es ist schlimmer, wenn Unschuldige im Gefängnis sitzen, als wenn Schuldige auf freiem Fuß bleiben. Vor diesem Hintergrund erscheinen Länderlisten heikel oder unstatthaft, da sie einen Kerngedanken des Asylrechts, nämlich das Anrecht auf Einzelfallprüfung, aushöhlen. Ein Problem, das sich hier auftut, liegt in der Frage, ob Asylanträge aus EU-Ländern überhaupt individuell geprüft werden müssen, da ein Land, in dem politische Verfolgung nicht ausgeschlossen ist, kein Mitglied dieser Wertegemeinschaft namens EU sein kann. Müssen Asylanträge von rumänischen oder ungarischen Sinti und Roma aber nicht vielleicht doch geprüft werden, weil die Diskriminierungen, denen diese Gruppen ausgesetzt sind, in ihrer Summenwirkung einer politischen Verfolgung nahe- oder gleichkommen könnten? Und wir sind im Schatten der Shoa den Sinti und Roma besonderes Entgegenkommen schuldig. Manche Gesinnungsethiker meinen, strategisches Verhalten der Flüchtlinge und Migranten gegenüber Behörden sei prima facie berechtigt. Da Flüchtlinge und Migranten mit den Regulierungspraktiken der Aufnahmeländer nur konfrontiert werden, seien ihnen zweckrationale Strategien gestattet, um zum Erfolg zu gelangen: Verschleierung der Identität durch Vernichtung der Ausweispapiere, Mehrfach-Identitäten, Umgehung von Registrierung, non compliance, temporäres oder dauerhaftes Untertauchen, Scheinehen usw. sind für manche Gesinnungsethiker und für manche politischen Unterstützer legitime Widerstandshandlungen gegen ein repressives Flüchtlingsregime. Mitwirkungspflichten im Verfahren bestehen in dieser Sicht nicht, denn schließlich seien Angeklagte vor Gericht auch nicht zur Mitwirkung verpflichtet, sondern müssten ihrer Schuld erst überführt werden. Kollaboration könnte für viele Vertreter der Refugees-welcome-Szene den falschen Eindruck erwecken, das Flüchtlingsregime sei insgesamt legitim. Bei endgültiger Ablehnung des Asylgesuchs sollen humanitäre Gründe für eine weitere Duldung geprüft werden. Das Refoulment-Verbot vermittelt dabei zwischen Recht und Humanität. Auf der einen Seite ist es ein Prinzip der Genfer Flüchtlingskonvention. Auf der anderen Seite ist es interpretationsoffen. Was »drohende Verstöße gegen die Menschenrechte« sind, ist abhängig vom System der Menschenrechte, das interpretatorisch zugrunde gelegt wird, und von einer risikotheoretischen Bestimmung des Drohenden. Gegen Sätze wie: »Bedenke, was ihr/ihm in ihrem/seinem Lande womöglich drohen könnte« lässt

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sich kaum argumentieren, denn wer wollte sich anmaßen, über das (wie immer geringfügige) Risiko anderer zu befinden, den Schergen der Autokraten ausgeliefert, inhaftiert, gefoltert oder hingerichtet zu werden. Das RefoulmentVerbot müssen wir, wenn wir Carens weiterhin folgen, ebenfalls im Schatten der Shoa interpretieren. Das Ende des rechtlichen Asylverfahrens ist für viele der Beginn der Mitmenschlichkeit. Fast immer, wenn Abschiebungen drohen, bilden sich Initiativen aus moralisch motivierten Personen, die humanitäre Gründe geltend machen. Dies geschieht auch dann, wenn eine Abschiebung in EU-Länder wie Malta droht, wo die Unterbringungslage deutlich schlechter ist als in Deutschland. Die humanitäre Duldungspflicht solle, so die Argumentation der Initiativen, auch dann gelten, wenn die ursprünglichen Fluchtgründe fortgefallen sind. Auch ein bevorstehender Winter kann ein Grund sein, Abschiebungen auszusetzen. Unangekündigte Abschiebungen gelten als besonders perfide. Kranke Personen sollen nicht abgeschoben werden dürfen. Die letzte Schutzlinie der Krankheiten auch von Frauen und Kindern bringt die an Rückführungen beteiligten Ärztinnen in eine schwierige medizinethische Situation. Die schiere zeitliche Dauer des Asylverfahrens und der Duldung bei Ablehnung kann als ein Grund für weitere Duldung beziehungsweise für eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis gedeutet werden. Bildet sich ein Antragsstau, verfestigt sich der Aufenthalt. Damit bringt man Behörden und Justiz in Bedrängnis, die wissen, dass rechtsstaatliche Lösungen Zeit brauchen und dass der Rechtsstaat endliche Kapazitäten hat. Der Sinn des Asylrechts spricht für Einzelfallprüfung, für Rechtsweggarantien, für humanitäre Duldung – und die Zeit der Prüfung und der Duldung spricht für ihr Fortwähren, bis man sagen kann, nun müsse die rechtliche Unsicherheit, in der Menschen zu leben genötigt seien, ein Ende haben. Kettenduldungen gelten dann nicht etwa als Ausdruck von Großzügigkeit, sondern erlegen das Schicksal auf, unter dem Damoklesschwert der drohenden Abschiebung leben zu müssen. Aus der Großzügigkeit der Duldung wird dann unversehens eine Art von seelischer Grausamkeit, derer wir uns schuldig machen. Der Umstand, dass die Gründe, aufgrund derer politisches Asyl zu gewähren ist, im Laufe der Zeit auch fortfallen können, ist für Carens kein Grund, Asylanten zur Rückkehr bewegen zu dürfen: »Within a few years at most, what happens in their country of origin should become irrelevant to the question of whether refugees have a right to remain in the place where they have started a new life. […] No one should force them to leave«.14 Wir dürfen also nicht kontrafaktisch unterstellen, dass politisch Verfolgte nach dem Ende der Verfol-

14

Carens: The Ethics of Immigration, S. 205.

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gung den starken Wunsch verspüren, in ihr Herkunftsland zurückzukehren.15 Dies bedeutet praktisch die Pflicht, das konditionierte Asylrecht in ein unkonditioniertes Aufenthaltsrecht umzuwandeln, sofern etwas Zeit vergangen ist (»höchstens wenige Jahre«). Wenn sich ein Antragsstau bildet und die Rechtsweggarantien ausgeweitet werden, kann jede Asylbewerberin zuversichtlich sein, dass genügend Zeit verstreichen wird. Dies alles sind expansionistische Tendenzen, die bereits dem konditionierten Recht auf politisches Asyl innewohnen. Insofern ist die rechtsstaatliche Institutionalisierung dieses Grundrechts keine Kleinigkeit. Für eine bestimmte Moral, die ich unter Rekurs auf Max Weber als Gesinnungsethik bezeichnet und charakterisiert habe, ist das Asylrecht bei politischer Verfolgung allerdings nur ein erster Schritt auf dem Weg hin zu Rechten für Flüchtlinge.16

3. Flucht und Migration Der Oberbegriff für Flucht und Migration sei im Folgenden »Wanderung«, unterschieden nach Ab- und Zuwanderung. Flüchtlinge seien definiert als Schutzsuchende, denen ein Verbleiben in ihren Heimat- und Herkunftsländern unzumutbar ist. Paradigmatische Fluchtgründe sind politische Verfolgung, Krieg und Bürgerkrieg. Epidemien, große Naturkatastrophen und akute Hungersnöte kommen ebenfalls in Betracht. Wer flieht, hat keine sinnvolle Alternative mehr. Zur Flucht ist man gezwungen, weil man von etwas oder von jemandem zur Flucht gezwungen wird. Fliehen heißt: nicht bleiben können, weil die Gefahr zu hoch ist. Politische Verfolgung im Sinne des Art. 16a GG ist eine spezifische Art der Verfolgung, die von staatlichen Organen ausgeht. Es handelt sich um eine Teilmenge von Fluchtgründen. Der Begriff der Flucht kann umfangslogisch (extensional) variiert werden. Der Begriff des Flüchtlings ist seiner Bedeutung nach (intensional) intrinsisch normativ: Man versteht seine Bedeutung nicht, ohne zu wissen, dass sein korrekter Gebrauch moralische Personen in die Pflicht nimmt. Allen Rechten korrespondieren die jeweiligen Pflichten, Personen, die ihre Rechte in Anspruch nehmen, nicht an etwas hindern zu dürfen oder ihnen im Falle materieller Teilhaberechte bestimmte Güter zu verschaffen. Wenn eine Person A als ein Flüchtling anzuerkennen ist, dann haben moralische Personen B, C, D usw. gegenüber A bestimmte Verpflichtungen. Wir können summarisch von »Pflichten der Beherbergung« sprechen, die Sicherheit der Person, Unterkunft, Verpflegung und medizinische Betreuung gemäß festzu15 16

Ott: Zuwanderung und Moral. Vgl. ebd.

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legender Standards umfassen. Das Recht auf Asyl hat somit teilhaberechtliche Aspekte. Die Pflichten der Beherbergung lösen aber nur Probleme der »äußeren Not«, sie lindern keine Probleme der »inneren Not«, zum Beispiel der psychischen Traumata, der bohrenden Erinnerungen und der seelischen Verwundungen.17 Wer sich legal im Staatsgebiet Deutschlands aufhält, befindet sich im Schutzbereich aller Menschenrechte des Grundgesetzes. Daher dürfen aufgrund des Rechtes auf Freiheit der Person die Unterkünfte für Asylsuchende nicht haftähnlich ausgestaltet sein, da das Stellen eines Asylantrags keine rechtswidrige Handlung ist. Die Verpflegung muss auf religiöse Speisevorschriften Rücksicht nehmen. Weil die Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung steht, bestehen Rechte auf Familiennachzug. Der Staat muss auch den Schutz des verbliebenen Eigentums von Flüchtlingen und Migranten gewährleisten. Es fragt sich daher, ob die Konfiskation von Geld und Schmuck, die in Dänemark praktiziert wird, zulässig ist. Die Aufgaben der Beherbergung sind Staatsaufgaben, aber jede Bürgerin hat das Recht, zusätzliche moralische Leistungen zu erbringen, wie etwa für Flüchtlinge zu spenden, ihnen unentgeltlich Sprachunterricht zu erteilen oder sie in der privaten Wohnung aufzunehmen. Der privaten Hilfsbereitschaft sind wenig Grenzen gesetzt, aber die institutionelle Verantwortung für Flüchtlinge liegt beim Staat, der als Gewährleistungsstaat zu verstehen ist. Die Kosten der Beherbergung sind aus Steuermitteln aufzubringen. Hierzu können Budgets umgeschichtet, Staatsschulden aufgenommen und/oder Steuern erhöht werden. Hier fragt sich freilich, ob die Standards der Versorgung analog zu den Niveaus der Transfers sein müssen, auf die Mitbürgerinnen einen sozialrechtlichen Anspruch haben. Die Kosten, die für die Erfüllung aller Beherbergungspflichten anfallen, sind Opportunitätskosten, die für andere Zwecke nicht mehr zur Verfügung stehen. Im Schatten der Shoa wirkt es freilich moralisch fast schon obszön, von Kosten auch nur zu sprechen. Viele Personen, die Staatsgrenzen überschreiten, sind ersichtlich keine Flüchtlinge, sondern zum Beispiel Touristen oder Gastwissenschaftler. Auch wer aus steuerlichen Gründen seinen Wohnsitz in einen anderen Staat verlegt, ist kein Flüchtling. »Steuerflucht« ist keine wirkliche Flucht. Binnenmigration innerhalb der EU etwa zum Zwecke der Arbeitssuche ist ebenfalls keine Flucht. Touristen, Gastarbeiter und Migranten sind begrifflich von Flüchtlingen zu unterscheiden. Migrantinnen möchten ihre Lebensaussichten und die ihrer Angehörigen auf dem Wege der Einwanderung verbessern. Historische Beispiele

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Daoud, Kamel: Das sexuelle Elend der arabischen Welt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (18.2.2016), S. 9.

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für Migration gibt es viele.18 Migrationsgründe sind in der Regel wohlüberlegt, nachvollziehbar und verständlich. Sie sind, von Ausnahmen abgesehen,19 moralisch nicht verwerflich und können von Bürgern, die wie wir im Wohlstand leben, nicht verübelt werden. Migranten träumen vom besseren Leben, von Aufstieg, Karrieren und Erfolg. Ein Migrationsgrund kann auch im Vorhaben liegen, durch Auslandsüberweisungen die wirtschaftliche Lage des Familienverbandes zu verbessern oder sich als erster Emigrant der Familie um den Nachzug weiterer Familienmitglieder zu bemühen. Migranten treffen eine existentiell bedeutsame Entscheidung, die ihren weiteren Lebensweg und den ihrer möglichen Nachkommen prägen wird, die aber im Prinzip auch hätte anders ausfallen können. Wie leicht oder schwer die Entscheidung zur Migration bei Abwägung aller Gründe fällt, ist kulturell unterschiedlich und hängt von den jeweiligen Bindungen und Loyalitäten ab. Sofern Migranten eine Bleibeperspektive wollen und wir Flüchtlingen, Carens folgend, nach wenigen Jahren eine Bleibeperspektive bieten, ist es eine rationale Strategie, Asylanträge zu stellen, Fluchtgründe in Narrativen vorzutragen, die Beherbergung in Anspruch zu nehmen und den legalen Aufenthalt in die Länge zu ziehen. Zu Migrantinnen dürfen wir uns legitimerweise anders verhalten als zu Flüchtlingen; wir dürfen es auch von unseren wohlerwogenen Interessen abhängig machen, welchen Gruppen wir aus welchen Gründen die Einwanderung (nicht) erlauben wollen. Ein Menschenrecht auf Einwanderung in ein bestimmtes Land besteht völkerrechtlich de lege lata nicht. Wir können durchaus für Zuwanderung sein, wenn uns dies aus Gründen des Arbeitsmarktes oder des demographischen Wandels sinnvoll erscheint. Wir könnten aber auch überlegen, ob es nicht für die Herkunftsländer besser wäre, wenn junge, ehrgeizige und schlaue Menschen dort verblieben, anstatt bei uns niedere Arbeiten zu verrichten, da Migranten die attraktiven Karrierewege in der ersten Generation auch dann verschlossen bleiben, wenn wir sie intensiv fördern und beruflich bilden.20

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Auch Deutschland war im 19. Jahrhundert ein Auswanderungsland, da die Lebensaussichten in der »Neuen Welt« als günstiger eingeschätzt wurden. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 gingen viele Demokraten auf die Schiffe nach Westen. Auch heute noch wandern Bundesbürger aus und niemand käme auf den Gedanken, sie als Flüchtlinge zu bezeichnen. 19 Etwa die Intention, im Zielland einer kriminellen Tätigkeit nachzugehen oder eine terroristische Zelle zu gründen. 20 Persönlich halte ich den brain drain in den Westen nicht nur für ein ökonomisches oder technologisches, sondern für eines der größten politischen Probleme der Länder des globalen Südens. Viele Personen, die das Zeug dazu hätten, Staatssekretär oder Minister eines demokratischen Staates zu werden, schlagen sich im Norden als Reinigungskräfte und in der Gastronomie durch.

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Die Unterscheidung zwischen Flucht und Migration ist nicht so zu verstehen, als gäbe es zwei Mengen mit eindeutiger Zuordnung. Vielmehr spannt die Unterscheidung ein Kontinuum zwischen zwei Polen auf. Letztlich muss nach bestimmten Kriterien entschieden werden, wer wann und wo als Flüchtling und wer als Migrant eingestuft wird. Kriterien haben die Aufgabe, Unterschiede festzulegen, also im logischen Sinne zu diskriminieren. Diese logische Diskriminierung ist nicht mit einer moralischen Diskriminierung gleichzusetzen. Der Begriff der Diskriminierung ist zweideutig. Jede Einstufung, die einen normativen Status festlegt, diskriminiert. Dies gilt für den Status einer Studentin, einer Schwerbehinderten, einer Inhaftierten, einer Ärztin, einer Asylantin usw. In diesem Sinne kann es weder eine diskriminierungsfreie Gesellschaft noch eine diskriminierungsfreie Sprache geben. Daher kann eine Person sowohl Flüchtling als auch Migrant zugleich sein. So lautet die Frage, ob eine Person, die aus ihrem Herkunftsland A fliehen musste und sich in Land B in Sicherheit, aber in prekären Lebensumständen befindet, ein A-Flüchtling bleibt, wenn sie sich aus B in ein anderes Land C begibt, das bessere Lebensaussichten bietet, oder ob sie in diesem Fall von B nach C migriert. Es wäre prinzipiell möglich, dass eine Kurdin vor politischer Verfolgung aus der Türkei fliehen muss (also Anspruch auf Asyl hat), während ein Syrer, der aus Syrien flüchten musste, aus der Türkei oder dem Libanon nach Europa auswandern möchte (also keinen Anspruch auf Asyl hat). Welchen Status hat ein palästinensischer Staatsbürger, der aus Syrien geflohen ist und anschließend in der Türkei im Flüchtlingslager lebte, wenn er danach Lesbos erreicht hat? Angesichts der Facetten individueller Schicksale streuen moralische Intuitionen. Während die einen den Flüchtlingsstatus durchgängig erhalten wissen wollen, wollen andere den Status zwischen Flucht und Migration veränderlich halten. Das ist das Problem der »sicheren Drittstaaten«. Wer aus diesen Ländern einreisen möchte, ist nicht (mehr) »auf der Flucht«. Ob die Perspektivlosigkeit des Lagerlebens ein Fluchtgrund ist, wäre zu diskutieren. Die Beispiele zeigen, dass die Unterscheidung zwischen Flucht und Migration analytische Arbeit leistet und beibehalten werden sollte. Die Beispiele zeigen auch die gegenläufigen Optionen, Fluchtgründe weit oder eng zu definieren. Es geht also um die Extension (den Umfang) des Flüchtlingsbegriffs. Nun ist es bei vielen Begriffen so, dass die Zunahme der Extension auf Kosten der Intension geht. Im Falle des Begriffs des Flüchtlings könnte es eher so sein, dass die Extension ausgeweitet und die Intension beibehalten wird. Könnte uns der Schatten der Shoa zu dieser Bestimmung des Flüchtlingsbegriffs hinsichtlich Extension und Intension verpflichten? Dieser Frage möchte ich in den folgenden zwei Abschnitten nachgehen.

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4. Das sich erweiternde System der Rechte Eine Mehrheit der Ethiker vertritt den normativen Individualismus. Der letzte Referenzpunkt moralischer Urteile und Regeln sind demnach die Rechte und/ oder das Wohlergehen einzelner Personen. Belange von Kollektiven als solchen (Völker, Staaten usw.) sind demgegenüber nachrangig oder unbeachtlich. Nicht nur politisch Verfolgte können geltend machen, sie seien auf der Flucht. Auch die anderen Flüchtlinge können sich auf den normativen Status des Flüchtlingsbegriffs berufen: Er verpflichtet zur Hilfe, und es wäre Willkür, den einen zu helfen und den anderen nicht. Wohlhabende Staaten haben damit eine moralische Pflicht, nicht nur politisch Verfolgten Asyl zu gewähren, sondern Flüchtlinge aufzunehmen. Dieser Grundsatz ist noch unspezifisch hinsichtlich des verwendeten Plurals »Flüchtlinge«. Zwischen dem unbestimmten Plural und dessen möglicher Bestimmung durch den All-Quantor (»alle«) klafft ein moralisches Problem: Ist ein Gemeinwesen verpflichtet, so viele Flüchtlinge zu beherbergen, wie es nach Maßgabe politischer und ökonomischer Erwägungen »verkraften« zu können glaubt, oder vielmehr dazu, aufgrund der Rechte von Flüchtlingen (möglichst) alle Flüchtlinge zu beherbergen und die Leistungen bis an Grenzen des für seine Bürgerinnen Zumutbaren zu steigern? Gemäß jener Lösung handelt ein Staat bereits dann meritorisch (im Sinne Kants21), das heißt verdienstlich, ehrenwert und löblich, wenn er (zusätzlich zur Menge der politisch Verfolgten) größere Kontingente von Flüchtlingen aufnimmt. Gemäß dieser Lösung ist die Praktik der Kontingentierung moralisch immer defizitär und menschenrechtswidrig. Was als Hilfspflicht meritorisch wäre, ist im Rahmen eines Systems der Menschenrechte ein Unrecht gegenüber all jenen, denen ihr Recht dann vorenthalten wird, wenn sie keinen Platz in den Kontingenten gefunden haben. Der normative Individualismus ist zumeist eine right based morality: Flüchtlinge sind demnach keine Bittsteller, sondern haben Rechte auf Schutz in der Not. Die Institution der Menschenrechte zählt gemäß ethischer opinio communis zu den größten moralischen Errungenschaften der Moderne. Der Umfang des Systems der Rechte ist offen; die Logik moralischer Diskurse läuft aber fast immer auf dessen Expansion hinaus.22 Rechte sind generell, wie Dworkin sagt, politische Trümpfe, die Individuen in Händen halten,23 und, wie Caney formuliert, »demands«, d. h. Ansprüche, die, wenn sie anerkannt werden, von irgend21

Siehe hierzu Hill, Thomas E.: Kant on Imperfect Duty and Supererogation. In: Kant-Studien 62 (1971), S. 55–76. 22 Münch, Richard: Globale Dynamik, lokale Lebenswelten. Frankfurt am Main 1998, S. 99. 23 Dworkin, Richard: Menschenrechte ernstgenommen. Frankfurt am Main 1984, S. 14.

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wem zu erfüllen sind.24 Nach unserer universalistischen Moral sind alle Menschen gleich an Rechten, unabhängig davon, wie viele Menschen ihre Rechte in Anspruch nehmen. Man kann dies als die Irrelativitäts-Prämisse bezeichnen. Ungeachtet einiger Kritiker des permanenten right claiming25 generiert der rezente Diskurs um Menschenrechte, der in der Ethik und in der Gerechtigkeitstheorie seit Jahrzehnen geführt wird, mehr und mehr präsumtive Rechte, darunter viele materielle Teilhaberechte.26 Hierzu zählen in unsystematischer Auflistung: – das Recht auf Ernährungssicherheit (oder -souveränität) – das Recht auf Trinkwasser und gesundheitlich unbedenkliche sanitäre Einrichtungen – das Recht auf angemessene Wohnverhältnisse – das Recht auf Energiedienstleistungen – das Recht auf Arbeit und Land – das Recht auf Schutz vor Verfolgung und Schutz in existentiellen Notlagen – das Recht auf Bildung – das Recht auf Zugang zu gesundheitlichen Dienstleistungen – das Recht auf Asyl in allen Fällen von Flucht – das Recht auf Freizügigkeit auf der ganzen Erdkugel. Diese Teilhaberechte werden zumeist als Menschenrechte verstanden und nicht als Bürgerrechte, die partikular und relativ zum Wohlstand und zur sittlichen Kultur bestimmter Gemeinwesen sind. Je umfassender das System der Rechte ist, umso leichter fällt es natürlich, weitere Rechte aus ihm abzuleiten. Die Elemente dieser Liste können auch herangezogen werden, um Fluchtgründe über die politische Verfolgung hinaus auszuweiten. Es kommt also in diesem Diskurs über Rechte zu Formen der Expansion von Rechtsansprüchen. Und je mehr Rechte es gibt, umso mehr Verstöße gegen Menschenrechte wird es weltweit geben und umso mehr Fluchtgründe lassen sich vorbringen. Das System der Rechte und die präsumtiven Fluchtgründe sind also intrinsisch aufeinander bezogen.

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Caney, Simon: Responding to Global Injustice: On the Right of Resistance. In: Social Philosophy & Policy 2 (2015), S. 51–73. 25 Steiner, Hillel: An Essay on Rights. Oxford 1994. 26 Hierzu siehe statt vieler vor allem Shue, Henry: Basic Rights: Subsistence, Affluence, and U.S. Foreign Policy. Princeton 1996; Pogge, Thomas: The International Significance of Human Rights. In: Journal of Ethics 1, 2 (2000), S. 45–69; Ingram, David: Between Political Liberalism and Postnational Cosmopolitanism: Towards an Alternative Theory of Human Rights. In: Political Theory 3 (2003), S. 359–391 und Beitz, Chares: The Idea of Human Rights. Oxford 2009.

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Rechte gelten gemeinhin als unabhängig von der Anzahl der Rechtsträgerinnen. Hilfspflichten sind begrenzt, Menschenrechte sind es nicht. In einer right based morality ist der All-Quantor unausweichlich: Alle Flüchtlinge haben ein moralisches Anrecht darauf, Schutz zu finden. Damit ist der Übergang von einer Moral der Hilfsbereitschaft zu einer Moral der Erfüllung von Rechtsansprüchen unwiderruflich vollzogen. Dieser menschenrechtliche Individualismus lässt keine Kontingentierungslösungen für Flüchtlinge zu. Zu jedem beliebig hohen Kontingent an Flüchtlingen (»zig-tausend«) lässt sich immer der »Zigtausendunderste« Flüchtling hinzudenken, der die gleichen Rechte hat wie sämtliche Flüchtlinge vor ihm und nach ihm. Man kann nie definitiv sagen, ab wann die Menge zu hoch ist, da Territorialstaaten keine Rettungsboote oder Sportarenen sind. Länder sind niemals bis auf den letzten Platz besetzt. Wer diesen Übergang zur Moral der Rechte vollzieht, kann sich nicht mehr mit der Einsicht beruhigen, dass alle irdischen Kapazitäten endlich sind. Die Kapazitätsgrenzen sind auch in Deutschland noch längst nicht erreicht, und sie ließen sich bei Ausschöpfung aller Rechtsgrundlagen weiter ausdehnen: Liegenschaften können beschlagnahmt und Steuern erhöht werden. Irgendwo muss und wird sich für die »Zigtausendunderste« noch ein Platz finden lassen. Wie rechtfertigt sich die relativ dünne Besiedlung einiger deutscher Bundesländer in einer Welt, in der Abermillionen auf der Flucht sind? Für Carens kann es Überforderungen wohlhabender Aufnahmeländer jedenfalls praktisch nicht geben: »When is this limit reached? When are we justified in turning away genuine refugees? This turns out to be a troubling question […]. My own answer is‚ almost never.«27 Man sieht an diesem Zitat, dass auch für Ethiker einfache Antworten auf beunruhigende Fragen zulässig sind. Es ist fair zu sagen, dass Carens zugunsten seiner Position vereinfacht. Wenn man obigen Grundsatz der Aufnahme von Flüchtlingen akzeptiert, stellt sich die Frage, ob diese Verpflichtung relativ zum Verhalten anderer Staaten ist oder nicht. Wenn viele gutwillige Gemeinwesen den Grundsätzen des Flüchtlingsschutzes beipflichten, können sie untereinander überlegen (und verhandeln), wie sie Flüchtlinge unter sich (»fair«) aufteilen, da Beherbergung mit Aufwand und Kosten verbunden sind. Das wäre die »EU-weite Lösung«. Dabei ist es freilich möglich, dass alle beteiligten Staaten ihre Belastungen niedrig halten wollen oder sich der Kooperation verweigern. Gründe hierfür finden sich immer. Dies führt dann dazu, dass einige besonders moralische Länder überproportional hohe Lasten tragen müssen, sofern am Grundsatz selbst keine Abstriche gemacht werden dürfen. Nun argumentieren Ethikerinnen wie Anja Karnein, dass der moralische Absentismus anderer ein Grund

27

Carens: The Ethics of Immigration, S. 218–219.

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für erhöhte eigene Anstrengungen sein sollte.28 Denn müssen moralische Personen nicht zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um ertrinkende Kinder zu retten, wenn andere Badegäste nur »gaffen«? In einer triadischen Struktur, in der sowohl A als auch B prima facie verpflichtet sind, C zu helfen, verändert sich für Karnein die Verpflichtungsrelation von A zu C nicht, wenn sich B aus seiner Verantwortung stiehlt.29 A darf dann über B empört sein, muss aber den Pflichtenteil von B mit übernehmen. Dies gilt für Karnein offenkundig nicht nur für individuelle face-to-face-Situationen (wie im Falle ertrinkender Kinder), sondern für Hilfspflichten generell.30 Insofern könnten wir Deutsche uns im Schatten der Shoa verpflichtet fühlen, Flüchtlinge aufzunehmen, obschon sich andere Länder dieser Aufnahme verweigern. Hätte nicht irgendein Staat verfolgte Juden auch dann aufnehmen müssen, wenn alle anderen Länder ihre Grenzen geschlossen hielten? Intuitiv bejahen wir diese Frage. Gilt das Argument von Anja Karnein aber auch für die politische Ethik angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen der Globalisierung, die sich nur kooperativ, aber nicht durch moralisch motivierte Alleingänge bewältigen lassen? Zweitens fragt sich, ob Flüchtlinge und Migranten aus eigener Kraft die Grenzen aufnahmewilliger Staaten erreichen müssen oder ob diese eine Verantwortung für die Sicherheit der Fluchtwege haben, d. h. eine Verpflichtung, es (unbegrenzt vielen) Menschen zu ermöglichen, möglichst sicher das Territorium zu erreichen, in dem sie dann endgültig in Sicherheit sind. Kann es moralischen Personen gleichgültig sein, was Flüchtlingen auf den Reiserouten Schlimmes widerfahren kann? Wer dafür eintritt, Fähren zwischen der türki28

Karnein, Anja: Putting Fairness in Its Place: Why There is a Duty to Take up the Slack. In: Journal of Philosophy 111 (2014), S. 593–607. Wenn sich, um dieses Problem auf die reale Situation umzumünzen, EU-Länder, die kein Individualrecht auf politisches Asyl in ihren Verfassungen haben, nur zur Aufnahme kleinster Kontingente von Flüchtlingen bereitfinden und sich unter Berufung auf nationale Souveränität jeder EULösung verweigern, so müssen immer weniger EU-Staaten die Gewährung der Schutzrechte und die Erfüllung der Beherbergungspflichten sicherstellen. Dies war Ende 2015 und Anfang 2016 in der EU auf eine Weise zu beobachten, die das Vertrauen in die Solidarität der EU-Staaten enttäuschte und schmälerte. Die EU scheint gut zu funktionieren, wenn Ressourcen zur Verteilung anstehen (wie etwa Agrarsubventionen), nicht aber, wenn es Belastungen zu verteilen gilt (Klimaziele, Hilfskredite für Mitgliedsländer, Flüchtlinge). 29 Meines Erachtens liegt der Grundfehler von Karnein darin, dass sie von individuellen Verpflichtungen ausgeht. Der Rettungssituation angemessener wäre es, von einer kollektiven Verpflichtung aller Badegäste auszugehen: »Wir müssen die Kinder retten!« Nicht jeder Einzelne soll ins Wasser springen, sondern es soll sich stante pede ein effektives Rettungskollektiv bilden. Individualpflichten sind derivativ gegenüber dieser kollektiven Verpflichtung, die sich an ein situatives »Wir« richtet. 30 Carens äußert sich an diesem Punkt des »obliged to take up the slack« ausweichend. Vgl. Carens: The Ethics of Immigration, S. 221.

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schen Küste und den griechischen Inseln einzusetzen, müsste auch für sichere Schiffverbindungen von Westafrika auf die kanarischen Inseln eintreten. Da viele Westafrikaner in der Wüste ums Leben kommen, wären (mit Zustimmung der jeweiligen Staaten) auch Landkorridore durch Mali und Niger einzurichten – oder sichere Routen zwischen den libanesischen Flüchtlingslagern und der EU. Und Fähren von Tripolis nach Palermo und von der türkischen Küste auf die griechischen Inseln. Theoretisch sind große Kapazitäten vorhanden; so könnte man Kreuzfahrtschiffe umfunktionieren. Auch Luftbrücken sind vorstellbar. Was manchen schon reichlich absurd anmutet, ist für andere zwingend geboten. Das Recht auf Asyl für politisch Verfolgte steht also nur am Beginn einer Debatte um Fluchtursachen und Fluchtgründe. Wenn das Recht auf Asyl bei politischer Verfolgung anerkannt wird, so konstituieren alle übrigen echten Fluchtgründe ein nämliches Recht. Andernfalls würden wir manche Flüchtlinge willkürlich diskriminieren. Wir könnten jemanden, der für einige Tage in Polizeiarrest genommen wurde, weil er sich an einer regierungskritischen Demonstration beteiligt hat, anderen Personen gegenüber begünstigen, die vom Hungertod bedroht sind. Art. 16a (1) GG begünstigt eine Teilmenge von Flüchtlingen, und diese Begünstigung könnte moralisch diskriminieren, wäre also ungerecht. Das Recht auf Asyl wirkt im Diskurs über Fluchtgründe wie ein Brückenkopf des »Rechts der Anderen«, von dem aus sich expansiv neues Terrain gewinnen lässt.

5. Ausweitung der Fluchtgründe Gesinnungsethiker neigen dazu, für die Ausweitung von Fluchtgründen einzutreten.31 Carens definiert den Flüchtlingsbegriff folgendermaßen: »A refugee is someone whose situation generates a strong claim to admission to a state in which she is not a citizen.«32 Diese anspruchsgenerierenden Situationstypen sind vielfältig; begründete Furcht vor Verfolgung (im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention) ist nicht mehr erforderlich. Carens fordert »a more flexible and expansive reading of the Conventions’s requirements«.33 Der Expansionismus wird fortgesetzt. Der Begriff des Flüchtlings wird gleichbedeutend mit Menschen in Situation dringlicher Not. Die begriffliche Verschiebung von Verfolgung zu situativer Notlage leitet eine Ausweitung der Schutzpflichten ein. Alle Menschen, die in nicht-trivialen, existentiellen Notlagen sind, haben 31 32 33

Vgl. Ott: Zuwanderung und Moral. Carens: The Ethics of Immigration, S. 196. Ebd., S. 200.

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somit echte Fluchtgründe. Unter den Begriff einer Notlage fallen über die klassischen Fluchtgründe hinaus beispielsweise auch 1) die Stigmatisierung und Strafverfolgung von sexuellen Orientierungen, 2) extreme oder absolute Armut, 3) patriarchale Nötigung und Gewalt, 4) politische Unruhen, hohe Kriminalität, Terrorismus, Korruption, drohende Sezessionen im Herkunftsland, 5) Hunger und mangelnde Ernährungssicherheit, 6) Klimawandel und 7) existentielle Perspektivlosigkeit. Damit ist die Liste der Situationstypen nicht erschöpft. Ähnlich wie bei den Menschenrechten ist eine Ausweitung möglich. Die Not auf Erden ist unermesslich. Je länger die Liste der Notlagen und der entsprechenden Fluchtgründe wird, umso mehr verschieben sich die weiterhin auftretenden Grenzfälle von Flucht in die Details der Staatenwelt: Ist es zum Beispiel ein Fluchtgrund, wenn die Rechtsordnung des Herkunftslandes drakonisch ist und etwa Auspeitschungen und die Todesstrafe vorsieht (SaudiArabien)? Was, wenn sich nach einer Sezession rasch herausstellt, dass der neue Staat zu einem anomischen failed state wird, in dem Greueltaten an der Zivilbevölkerung endemisch sind (Süd-Sudan)? Was ist mit gewalttätigem Tribalismus, der nie endgültig zur Ruhe zu kommen scheint (Burundi, Kongo)? Was ist mit Ländern, in denen persistente politische Konflikte sich immer wieder aufs Neue gewaltsam entladen (Palästina)? Was mit diktatorisch induzierter Hungersnot, die sich durch El Niño ausweitet (Zimbabwe)? Was mit einem Leben in den Slums tropischer Metropolen (Nigeria, Ägypten und viele andere)? Wenn man den Begriff der Notlagen weit genug fasst, lebt wohl weitaus mehr als die Hälfte der Menschheit in mindestens einer dieser Notlagen. Die Personengruppe der Flüchtlinge erweitert sich extrem, wenn Hunger, absolute Armut und unwirtliche Lebensbedingungen als Fluchtgrund anzuerkennen sein sollten.34 Man kann und sollte bei allen präsumtiven Fluchtgründen ins Detail gehen. Zumeist sieht man eine endlose Liste diffiziler Probleme. Unbestritten ist, dass Genitalverstümmelung das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit massiv verletzt. Was aber ist, wenn ein Staat diese Praktik gesetzlich verbietet, aber Frauen geltend machen, dass Klitorisbeschneidungen in entlegenen Landesteilen weiterhin ausgeübt und strafrechtlich nicht konsequent verfolgt werden? Was, wenn Inderinnen geltend machen, dass Frauen trotz staatlicher Gesetze in manchen Gegenden ernsthaft befürchten müssen, als Witwen von ihren Angehörigen verbrannt zu werden? Zweifellos läuft die strafrechtliche Verfolgung von Homosexualität den Menschenrechten zuwider. Aber wie will man rechtsstaatlich feststellen, ob eine Person, die aus einem entsprechenden Land stammt und behauptet, homosexuell veranlagt zu sein, dies auch tatsäch34

In Ostafrika zwischen Äthiopien und Zimbabwe zeichnet sich Anfang 2016 eine schwere Nahrungskrise ab.

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lich ist? Diese Behauptung ist leicht aufzustellen und schwer zu widerlegen.35 Und was ist, wenn (ähnlich wie im Deutschland der späten 1960er Jahre) das Strafrecht zwar noch einen entsprechenden Paragraphen enthält, der aber längst nicht mehr angewendet wird? Und was, wenn Homosexualität zwar kulturell verächtlich gemacht wird, aber nicht staatlicherseits verfolgt wird?36 Ähnlich sieht es bei beim Problem der Klimaflüchtlinge aus. Auch hier ist unstrittig, dass der beginnende Klimawandel in vielen Gebieten dieser Welt die Lebensbedingungen verschlechtern wird. Die Definition eines »Klimaflüchtlings« bereitet erhebliche Schwierigkeiten, da sich, von flachen pazifischen Inselstaaten abgesehen, klimatisch bedingte Umweltveränderungen, sonstige Landnutzungsänderungen, Risikoeinschätzungen und Grenzen der Anpassung im Einzelfall kaum auseinanderhalten lassen. White sieht hier ein »continuum of volition«, das sich zwischen »voluntary« und »fully forced« aufspannt. »Most is somewhere in between.«37 Der Begriff eines Klimaflüchtlings hängt daher keineswegs von klimatisch bedingten Umweltveränderungen allein ab, sondern von der Frage, ab wann solche Veränderungen als Fluchtgründe anerkannt werden. Hierzu werden in der Literatur neue moralische Begriffe wie etwa »compelled migrant«, »survival migrant«, »pressured environmental migrants« gebildet.38 Schellnhuber schlägt folgende Kriterien vor: erstens tiefgreifende klimatische Veränderungen vor Ort, zweitens Verursachung durch Dritte.39 Bei der Anerkennung von Migranten als Klimaflüchtlinge wird viel von der Glaubwürdigkeit von Narrativen und der Verteilung der Darlegungslasten abhängen. Einige Autoren sprechen all denen, deren (gesamtes) Land in Zukunft unbewohnbar wird, ein Recht auf Immigration in andere Länder sowie einen Anspruch auf souveräne Herrschaft über ein bestimmtes Territorium zu.40 Welche Staaten und/oder Bevölkerungsgruppen auf ihre Ansprüche zugunsten welcher Klimaflüchtlinge verzichten müssen, ist ungeklärt. Die Aufnahme von Migranten und die Bereitstellung von Territorien sollte als eine 35

Feststellungsmethoden wie etwa die Phallometrie (»sexual arousal testing«) verstoßen meines Erachtens gegen die Würde der Person. 36 Zu den Detailproblemen von sexueller Orientierung als Asylgrund aus rechtlicher Sicht siehe Weßels, Jana: Sexual Orientation in Refugee Status Determination. In: Refugee Study Centre (RSC) Working Paper Series No. 74 (2011). Ein Problem für viele: »A prevailing homophobic atmosphere and discrimination may also amount to persecution under certain circumstances« (S.16). Aber wie bestimmt man solche Atmosphären und Umstände in einzelnen Ländern wie etwa Marokko? 37 White, Gregory: Climate Change and Migration. Oxford 2012, S. 27. 38 Ebd. und Marshall, Nicole: Toward Special Mobility Rights for Climate Migrants. In: Environmental Ethics 3 (2015), S. 259–276. 39 Schellnhuber, Hans Joachim: Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff. München 32015, S. 677. 40 Nine, Cara: Global Justice and Territory. Oxford 2012.

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mögliche Form der Kompensation gesehen werden, die allerdings politisch extrem konfliktträchtig sein dürfte. Haben die ursprünglichen Bewohnerinnen das Recht, auf ihrem angestammten Territorium als dann ausländische Minderheit verbleiben zu dürfen und, wenn ja, stehen ihnen die Rechte ethnischer und kultureller Minderheiten zu (etwa Unterricht in der Muttersprache)? Die zwangsweise Umsiedlung zugunsten von wie auch immer definierten Klimaflüchtlingen würfe das moralische und auch ethische Problem auf, durch die Beseitigung von Unrecht neues Unrecht zu schaffen. Die Extension des Begriffs der Flucht nimmt im rezenten Moraldiskurs also zu, die normative Intension, die wir mit dem Begriff des Flüchtlings verbinden, bleibt dabei unverändert. Die Anzahl der Narrative, in denen die erweiterte Menge der Fluchtgründe auftaucht, ist unendlich und die einzelnen Narrative entziehen sich mehr und mehr der Überprüfbarkeit. Über staatliche Unterdrückung lässt sich einiges in Erfahrung bringen; Ernährungssituationen, Umweltveränderungen, kulturelle Stigmatisierungen, informelle Praktiken, die sich teils in entlegenen Gebieten abspielen, lassen sich mit vertretbarem Aufwand nicht mehr genau ermitteln. Es ist praktisch unmöglich, all die Narrative zu überprüfen, durch die all diese Fluchtgründe geltend gemacht werden können. Wenn der Staat diese Narrative im Einzelfall widerlegen müsste, weil ihm das onus probandi zugeschoben wird, muss er kapitulieren und allen Narrativen, in denen Fluchtgründe auftauchen, Glauben schenken. Die Ausweitung von Fluchtgründen und der mit ihr verknüpften Anerkennungspraxis impliziert dann pragmatisch halboffene Grenzen und ein Bleiberecht für alle, denen es gelungen ist, die Außengrenze zu passieren.

6. Die Forderung nach »open borders« Von vielen Intellektuellen werden kosmopolitische Gründe der Art vorgebracht, es sei schlechterdings kontingent, an welcher Raumzeitstelle ein Mensch geboren werde und aufwachse. Diese Stellen böten höchst unterschiedliche Lebensaussichten. Eine der Aufgaben von Moral und Gerechtigkeit sei es, solche Kontingenzen zu korrigieren. Es könnte sein, dass hier eines der tiefsten Probleme der Ethik überhaupt thematisiert wird. Das Gebot der Korrektur von kontingenten Lebensumständen und -aussichten spielt bei John Rawls eine große Rolle bei der Begründung des Differenzprinzips.41 Versuche, die Kontingenzen von Herkunft, Erziehung, Talenten, Glück und Geschick, verdienten und unverdienten (Miss)erfolgen, förderlichen und hemmenden Umständen auszugleichen, stoßen allerdings auch für Rawls bald an Grenzen. Die naturräum41

Rawls: A Theory of Justice.

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liche Ausstattung unterschiedlicher Erdstriche ist ebenfalls höchst ungleich: Im Norden gibt es mehr Wasser und bessere Böden, dafür ist die tropische Vegetation üppiger und vielfältiger; es gibt rohstoffreiche und rohstoffarme Staaten, aber Rohstoffreichtum kann auch ein Nachteil sein. Egalitaristische Ethiktheorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie solche Kontingenzen ausgleichen wollen, die sie für moralisch willkürlich halten.42 Umverteilen und Umsiedeln sind Mittel hierzu. Der Ausgleich kontingenter Ungleichheiten ist auch ein Motiv für Carens, der sich mit den »ordinary inequalities of the modern world« nicht abfinden möchte.43 Was bei Rawls das Differenzprinzip im Innern eines gerechten Gemeinwesens leisten soll, leisten mutatis mutandis die open borders im globalen Kontext. Natalität ist ebenfalls kontingent; als Individuen sind wir allesamt Zufallswesen. Es ist kein persönliches Verdienst, als Bürger eines reichen und freien Staates geboren worden zu sein. Aber ist es eine Art Privileg, das – wie alle Privilegien – auf den Prüfstand der Gerechtigkeit gehört? Man müsse, so Carens, diese Bürgerschaft mit dem einstmaligen Geblütsadel analogisieren.44 Als EU-Bürger wäre man demnach ähnlich privilegiert wie im Feudalismus Adlige privilegiert waren. Ich glaube, dass der Ausdruck »Privileg« mehrdeutig ist. Von Geburt an deutsche Staatsbürgerin zu sein, ist nicht das Gleiche wie von einer Rechtsordnung zu profitieren, in der nur Adlige Offiziere werden dürfen. Das Dienstzimmer des Professors ist nicht im selben Sinne ein Privileg wie das Privileg des Königs, zum Tode Verurteilte begnadigen zu dürfen. Carens analysiert den mehrdeutigen Begriff des Privilegs in seinen Facetten und Nuancen nicht weiter, sondern appelliert an das schlechte Gewissen derer, die sich bereits dadurch privilegiert fühlen, dass sie Mitglieder bürgerlicher Gesellschaften des Nordens sind. Auch an diesem Punkt vereinfacht er. Sodann wendet er den Ausdruck des birthright privilege auf die Immigrationsfrage an: »Limiting entry to rich democratic states is a crucial mechanism for protecting a birthright privilege.«45 Wenn man die Menschenrechte ernst nehme, so müsse man solche Privilegien bekämpfen. Anschließend erfolgt Carens’ eigentliches Plädoyer für offene Grenzen. Die Forderung nach open borders betrifft für Carens nur Staaten, die sich zu demokratischen Prinzipien und zu der Institution der Menschenrechte beken42

An diesem Punkt müsste genauer analysiert werden, wie die Begriffe der Kontingenz und der moralischen Willkür aufeinander bezogen werden. Darauf kann ich hier nicht eingehen. 43 Carens: The Ethics of Immigration, S. 210, siehe auch ders.: An Interpretation and Defense of the Socialist Principle of Distribution. In: Social Philosophy & Policy 20, 1 (2003), S. 145–177. 44 Carens: The Ethics of Immigration, S. 226. 45 Ebd.

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nen. China und Russland dürften demzufolge ihre Außengrenzen schützen, Australien und Kanada dürften dies nicht, Deutschland dürfte es im Schatten der Shoa erst recht nicht. Carens’ case for open borders fordert die dauerhafte Einstellung aller staatlichen Kontrollen gegenüber Zuwanderung.46 Nur durch open borders könne man das Paradox auflösen, dass es zwar ein Menschenrecht auf »freien Zug«, d. h. auf Emigration gibt, diesem aber bislang kein Recht auf Immigration korrespondiert. Wer aber nicht daran gehindert werden darf, sein Land zu verlassen, der/die müsse schließlich irgendwo einen Platz auf Erden finden. Unter dieser Bedingung seien open borders eine freiheitliche Lösung. Die Ausweitungen der Fluchtgründe erscheinen jetzt als Zwischenschritte auf dem Weg hin zu der klaren und einfachen Lösung: open borders. Alle Unterscheidungen werden hinfällig, die Glaubwürdigkeit von Narrativen spielt scheinbar keine Rolle mehr, kein Diskriminierungsgespenst geht mehr um, und die Privilegien werden, wie es scheint, abgebaut. Carens bestreitet nicht, dass damit ein Anreiz für Zuwanderung gesetzt wird: »If the borders were open, millions more would move.«47 Der unbestimmte Plural lässt die Zahl offen. Diese Migration der Millionen ist für Carens als Beitrag zur größerer globaler Gleichheit wünschenswert: »The control that democratic states exercise over immigration plays a crucial role in maintaining unjust global inequalities and in limiting human freedom unjustly.«48 Carens interessiert sich nicht für die Details der ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen seines Vorschlags; sein case for open borders ist, wie er sagt, »a matter of principle«49, wobei er Prinzipien und Ideale gleichsetzt.50 Diese Berufung auf ideale Prinzipien verlangt eine kritische Prüfung der eigentlichen Argumente, die die Forderung nach open borders begründen sollen. Ich sehe im Wesentlichen derer zwei: die Ausweitung eines Rechts auf Bewegungsfreiheit und die Ausweitung des Rechts auf Freizügigkeit. Ad 1: »The right to go where you want is an important human freedom in itself.«51 Gibt es ein Recht zu gehen, wohin man gehen will? Die Bewegungsfreiheit ist in der allgemeinen Handlungsfreiheit enthalten. Diese wiederum ist nicht nur durch die Rechte anderer, sondern durch die Schrankenwirkungen der gesamten Rechtsordnung recht erheblich eingeschränkt. In National46

Es ist fair, darauf hinzuweisen, dass der Vorschlag auch aus marktliberalen Kreisen formuliert wurde, die das Wachstum ankurbeln wollten. Im Wall Street Journal wurde am 3. Juli 1984 sogar eine Ergänzung der US-Verfassung gefordert: »We propose a five-word constitutional amendment: There shall be open borders«, zitiert nach Cafaro, Philip: How many is too many? Chicago 2015, S. 81. 47 Carens: The Ethics of Immigration, S. 228. 48 Ebd., S. 230. 49 Ebd., S. 229. 50 Ebd., S. 201, 229, 234, 255. 51 Ebd., S. 227.

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parks herrscht Wegegebot, vor der Ernte sind die Weinberge für Spaziergänger gesperrt, die Gleisanlagen dürfen nicht betreten werden, und die Bewegungsfreiheit übertrumpft nicht das Hausrecht. Vielfach gilt gemäß einfachem Recht: »Betreten für Unbefugte verboten.« Staatsgrenzen sind also nur eine von vielen Begrenzungen der Bewegungsfreiheit. Carens konzediert, dass die Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden kann und darf, aber er fordert (in der modischen Begründungslastverschiebung) eine »moral justification.«52 Aber sind wir immer moralische Gründe schuldig, wenn wir festlegen, dass nur Mitglieder das Vereinsgelände betreten dürfen und nur ins Schwimmbad eingelassen wird, wer Eintritt zahlt? Carens meint, Grenzkontrollen erforderten eine moralische Begründung, die zeigen könne, warum sie im Interesse aller Betroffenen seien. Diese Bedingung, die sich vielleicht für moralische Unterlassungsgebote erfüllen lässt, kann bei Staatsgrenzen wohl praktisch nie erfüllt werden, da es immer Personen geben wird, in deren Interesse es nicht ist, außen vor bleiben zu müssen.53 Carens fordert mittels onus probandi also etwas Unmögliches. Im Hintergrund stehen egalitäre Vorstellungen von globaler Chancengleichheit, die durch Grenzkontrollen eingeschränkt werden. Aber das ist ein anderes Argument als das einer radikal ausgeweiteten Bewegungsfreiheit. Die Expansion des Rechts auf Bewegungsfreiheit ergibt also kein Argument zugunsten der open borders. Ad 2: Carens’ zweites Argument betrifft ein präsumtives Recht auf globale Freizügigkeit (das sogenannte Cantilever-Argument).54 Dies wäre ein neues Element im System der Rechte. Carens wehrt sich gegen die Möglichkeit, dieses Recht nur als ein Bürgerrecht auf Freizügigkeit in einem bestimmten Staatsgebiet zu begreifen. Für das Grundgesetz ist das Recht auf Freizügigkeit gemäß Art. 11 GG faktisch eindeutig ein Recht deutscher Staatsbürger. Aus Sicht einer Verfassungspatriotin kann man für eine großzügige Anwendung dieses Deutschenrechts für ausländische Mitbürgerinnen eintreten, aber auch dann liegt kein ersichtlicher Grund vor, dieses Bürgerrecht im Sinne der open borders auszuweiten. Die korrekte Ausweitung dieses Bürgerrechts zum Menschenrecht besagt nur: Alle Menschen haben ein Recht, sich als Bürgerinnen frei in ihrem jeweiligen Land zu bewegen. Daraus folgt jedoch nicht: »Alle Menschen haben das Recht auf Freizügigkeit in allen Staatsgebieten.« Dies wäre eine logisch unzulässige Verdopplung und Verschiebung des All-Quantors.55 52

Ebd. Carens supponiert hier offenbar ein »all-affected«-Prinzip, wie es auch die Diskursethik vertritt. Alle von der Normgeltung Betroffenen sollen ja an Diskursen über die fragliche Norm beteiligt werden. Carens überträgt dieses Prinzip auf Grenzkontrollen. An dieser Stelle müsste auf die Begriffe des Interesses und der Betroffenheit reflektiert werden, um die Zulässigkeit dieser Übertragung zu klären. 54 Ebd., S. 237 ff. 55 An diesem Punkt wäre das Verhältnis des ethischen Universalismus bzw. der Uni53

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Carens beruft sich auf Art. 13 der Menschenrechtskonvention von 1948. Diese Berufung geht jedoch deshalb fehl, weil Art. 13 nur ein Bürgerrecht formuliert: »Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl seines Wohnsitzes innerhalb eines Staates.«56 Damit ist nicht jeder beliebige Staat gemeint, sondern nur der jeweilig betroffene Staat. Art. 13 (2) formuliert das Recht jedes Menschen, in sein Land zurückkehren zu dürfen, also ein klares Bürgerrecht. Es gibt jedoch kein Menschenrecht darauf, in jedes Land zurückkehren zu dürfen, in dem man sich einmal aufgehalten hat. In der Lesart von Carens würde Art. 11 GG den Menschenrechten widersprechen, was meines Wissens noch niemand behauptet hat. Das Cantilever-Argument beruht auf der Verwechslung von Menschen- und Bürgerrechten. Diese Verwechslung geschieht im Diskurs über Rechte wohl deshalb so häufig, weil jedes Bürgerrecht auch einen menschenrechtlichen Aspekt hat. Beispiel: Es gibt Menschenrechte auf politische Freiheiten, eine Regierung frei zu wählen, aber nur Deutsche haben das Recht, den Bundestag zu wählen oder sich zu Abgeordneten wählen zu lassen. Ein starkes Argument für den case for open borders hätte man dann, wenn man zeigen könnte, dass die Unterscheidung zwischen Menschenund Bürgerrechten mit dem normativen Individualismus und dem ethischen Universalismus unvereinbar wäre. Dies aber hat Carens nicht gezeigt. Begründungstheoretisch gesehen sind beide Argument in ihrer vorliegenden Form also nicht haltbar. Gleichwohl können wir uns hypothetisch mögliche Konsequenzen von open borders vor Augen führen. Zunächst dürften sich nur wenige Staaten an diesem Moralexperiment freiwillig beteiligen. Viele EU-Länder praktizieren das Gegenteil von open borders. Für einen Staatenbund wie die EU wären open borders einiger Länder das Ende jeglichen tieferen Zusammenhalts. Alle Errungenschaften des EU-Prozesses einschließlich der Euro-Zone, der Osterweiterung und des Schengen-Raumes würden hierdurch aufs Spiel gesetzt. Europäische Union ist rebus sic stantibus mit open borders inkompatibel; wer die open borders fordert, ist daher kein »guter Europäer« (Nietzsche).

versalisierbarkeit moralischer Forderungen zum Gebrauch des All-Quantors in Normsätzen genauer, d. h. mit Hilfe der deontischen Logik zu analysieren. 56 Im Original lautet Art. 13: »Everyone has the right of freedom of movement and residence within the borders of each state.« Der Wortlaut lässt tatsächlich die Lesart zu, jede und jeder habe das Recht sich in jedem Staat niederzulassen. So ist Art. 13 aber nicht gemeint. Der geschichtliche Kontext der Gründungsphase der UN spricht gegen die Deutung von Carens, denn der Art. 13 richtet sich explizit gegen staatliche Umsiedlungen von Teilen der eigenen Bevölkerung im eigenen Land, also zum Beispiel gegen das Verbringen von Minderheiten in Reservate. So sieht es auch Cafaro: »The right of movement of residence is clearly limited to a citizen’s home country.« Cafaro: How many is too many? S. 208.

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Angesichts etwaiger open borders dürfte sich außerdem das bewahrheiten, was Michael Walzer befürchtet:57 Wer die Grenzen öffnet, also die »Festung Europa« schleift, schafft viele kleine befestigte Burgen im Innern. Es würden sich gated communities und selbsternannte Bürgerwehren bilden, wie dies Anfang 2016 in vielen Städten bereits geschieht. Bei open borders stehen weite Teile der Rechts- und Sozialordnung zur Disposition. Wie sollte man mit der fast unvermeidlichen Bildung von Ghettos, mit Verslumung und mit halblegalen squatter-Siedlungen umgehen? Welche Geschäftsmodelle sollen wir dulden, welche Steuern sollen wir bei wem wofür erheben, wer hat Zugang zu welchen Sozialleistungen,58 mit welchen Sanktionen dürfen wir bei welchen Delikttypen drohen? Einschränkungen der Freizügigkeit im Innern etwa zu Zwecken der gleichmäßigeren Verteilung wären mit dem Prinzip von open borders unvereinbar. Es wäre intuitiv absurd, die Grenzen zu öffnen und im Innern eine Residenzpflicht einzuführen. Verantwortungsethiker fragen, welche Verpflichtungen Staaten im Falle von offenen Grenzen gegenüber den Zuwanderern haben. Die alten Unterscheidungen würden nämlich auf den zweiten Blick keineswegs obsolet: Haben Staaten, deren Grenzen für alle offen sind, weiterhin Beherbergungspflichten gegenüber echten Flüchtlingen? Auch bei open borders könnten die echten Flüchtlinge Versorgungsansprüche an den Staat stellen, während die Migranten selbst sehen müssten, wie sie sich durchschlagen, da die open borders für sie ein reines Freiheitsrecht auf Einwanderung wären. Damit würde das alte Spiel der Anerkennung echter Fluchtgründe unter verschärften Bedingungen von neuem beginnen: Wir müssten alle Zuwanderer ins Land lassen, um dann administrativ die Teilmenge der Flüchtlinge zu identifizieren und sie materiell zu versorgen. Dies würde bedeuten, die im Innern gestellten Asylanträge weiterhin wie bisher üblich prüfen zu müssen. Dann würden die Asylanträge auch bei open borders weiter (exponentiell) ansteigen. Soll vielleicht gar auch bei open borders die im Abschnitt fünf dargestellte Ausweitung der Fluchtgründe Bestand haben, sodass eine große Teilmenge der Einwandernden teilhaberechtliche Ansprüche auf Beherbergung haben sollen? Also letztlich: open borders in Verbindung mit Hartz-IV für alle? 57

Vgl. Walzer: Spheres of Justice. Vgl. Eichenhofer, Eberhard: Wohlfahrtsstaat und Migration. In: IMIS Beiträge 47 (2015), S. 99–115. Der historische und politische Zusammenhang zwischen Wohlfahrtsstaat und Nationalstaat löst sich, so Eichenhofer, zunehmend auf, denn der deutsche Wohlfahrtstaat habe sich faktisch gegenüber Nichtbürgern geöffnet, insbesondere gegenüber EU-Bürgerinnen. Eichenhofers Aussicht auf eine »Welt transnationaler Wohlfahrtsstaatlichkeit« (S. 100) bleibt aus verantwortungsethischer Sicht utopisch-nebulös. Auch für ihn markiert Migration aber die Grenzen des traditionellen Wohlfahrtstaates. Das Problem der Zuwanderung in den Wohlfahrtsstaat ist also keine Erfindung von Fremdenfeinden. 58

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Es fragt sich, wie unter den Bedingungen von open borders ökonomische Integration und politische Inklusion noch konzipiert werden können. Wenn wir glauben, dass die Integration und Inklusion von ein bis zwei Millionen Zuwanderern eine Herausforderung ist, die uns über Jahre und Jahrzehnte hinweg viel abfordern wird, und wenn wir innerhalb von drei Jahren mit kumulierten Kosten der Zuwanderung von ca. 50–55 Milliarden Euro zu rechnen haben,59 dann steht es in den Sternen, was bei open borders eigentlich darüber hinaus noch geschehen soll. Und das bei Carens als ungerecht verurteilte Privileg der Staatsbürgerschaft bestünde weiterhin fort. Offene Grenzen implizieren keine Einbürgerung. Aber die Logik von Carens’ Argument beruhigt sich wohl erst bei Einbürgerungen großen Stils und den vollen politischen Teilnahmerechten für alle, die die offenen Grenzen passieren. Es ist zudem ein gedanklicher Fehler, wenn man meint, Rechte, die aus moralischen Gründen gewährt werden, würden nur mit moralisch lauteren Gründen in Anspruch genommen. Man unterstellt den Anderen die eigene Motivationsstruktur. So können aus moralischen Gründen Transferleistungen eingeführt werden, die rein strategisch abgeschöpft werden. In diesem Sinne werden sie, sofern Menschenkenntnis, Lebenserfahrung und das, was Aristoteles Klugheit in den veränderlichen irdischen Angelegenheiten nennt,60 in Anschlag gebracht werden darf, höchst unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Zielen und Motiven anlocken. Für Carens besteht die Mehrheit der Flüchtlinge und Migranten aus »ordinary, peaceful people, seeking only the opportunity to build decent, secure lives for themselves and their families.«61 Dies ist selbst dann, wenn es für die Mehrzahl derer, die die open borders passieren würden, zuträfe, eine vereinfachende (»only«) Idyllisierung, die den Sozialisations- und Habitualisierungsprozessen der Herkunftsländer nicht angemessen Rechnung trägt. Die Zugewanderten werden, wenn man die kulturphilosophischen Diskurse über »(radikale) Alterität« auch nur im mindesten ernst nimmt, mehrheitlich Menschen sein, die ihre Überzeugungen und ihre Religion, ihre Ehrvorstellungen, Loyalitäten und Fehden, ihre Geschäftsmodelle und Tricks, ihre seelischen Verwundungen und Traumata, ihre Phantasien und Träume, ihr Imaginäres und ihr Begehren mitbringen werden.62 59

So das Institut der Deutschen Wirtschaft in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2.2.2016) S. 15. Die errechneten Zahlen sind abhängig von der Anzahl der aufgenommen Personen und der Quote der bis dahin Beschäftigten. 60 Kersting, Wolfgang: Der einsichtige Staatsmann und der kluge Bürger. In: Klugheit. Hg. v. dems. Weilerswist 2005, S. 15–41. 61 Carens: The Ethics of Immigration, S. 225. 62 Vgl. Daoud: Das sexuelle Elend der arabischen Welt. Hierzu auch Collier, Paul: Exodus. London 2013, S. 33–36, der auf die Bedeutung von unterschiedlichen »social models« in Herkunfts- und Aufnahmeländern aufmerksam macht.

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Daher würden wir auch bei open borders polizeilich und kriminalistisch aufmerksam bleiben müssen. Wer im Landesinnern straffällig wird, kann, so er noch nicht eingebürgert wurde, dann vielleicht nach Verbüßung seiner Strafe zwar ausgewiesen werden, darf aber sofort zurückkehren, da andernfalls die Grenzen nicht wirklich für alle offen wären. Wie sollen sich die polizeilichen Befugnisse unter open-order-Bedingungen verändern, da ja Rechtssicherheit auch weiterhin ein hohes Gut bleibt? Hat es moralisch, rechtlich und politisch Sinn, Grenzsicherungen aufzugeben und im Innern zugleich einen »harten« Polizeistaat einrichten zu müssen, weil anomische Verhältnisse drohen, sich no-go-areas herausbilden und bestimmte Delikttypen epidemisch werden, während die Aufklärungsquoten sinken? Oder entpuppt sich der Kosmopolitismus am Ende als Kommunismus oder Anarchismus, der nicht nur staatliche Außengrenzen perhorresziert, sondern Staatlichkeit generell in Frage stellt? Einige Gruppen gehen ja explizit in diese Richtung. Aktivistengruppen wie No Borders folgen der Linie einer »anti-capitalist No Border politics«.63 In ihrem von Marx, Foucault und Agamben geprägten Jargon wird deutlich, worum es ihnen eigentlich geht. Migration ist für sie eine Form des globalen Klassenkampfes. Die Rechte, die es zu bewahren und zu erkämpfen gilt, sind nicht, wie noch bei Carens, ausgeweitete bürgerliche Grundrechte. Vielmehr sind »rights to move/stay« Komponenten eines Systems von »common rights«, die aus der kollektiven Praxis des »commoning« (das heißt der Bewirtschaftung von Gemeingütern) hervorgehen und nur »rights of the commoners« sind. Es gibt sogar Autoren, die im (pseudo)linken Jargon den Übergang zum Faustrecht fordern: »Das Recht auf Migration, das Recht auf Bewegungsfreiheit entsteht noch vor seiner politischen Institutionalisierung durch die Praxis derjenigen, die es sich nehmen.«64 Es ist aus der Perspektive einer kritisch-reflexiven Theorie der Menschenrechte interessant zu sehen, wie die Ausweitung der Menschenrechte dann, wenn sie begründungstheoretisch an Grenzen stößt, in agonale Konzepte umschlägt, denen zufolge Rechte von partikularen Gemeinschaften (»commoners«) für deren Mitglieder erkämpft werden. Der idealistische Normativismus von Carens schließt sich dann politisch mit den Ansätzen zusammen, die Karl Marx und Carl Schmitt in linksradikaler und post-demokra-

63

Anderson, Bridget/Sharma, Nandita/Wright, Cynthia: Editorial: Why no borders? In: Refuge 2 (2009), S. 5–18, hier S. 7: »A radical No Border politics acknowledges that it is part of revolutionary change.« 64 Oulios, Miltiadis: Die Grenzen der Menschlichkeit. Warum Abschiebung keine Zukunft hat. In: Kursbuch 183. Wohin flüchten? Hg. v. Murmann Publishers. Hamburg 2015, hier S. 79.

Der slippery slope im Schatten der Shoa

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tischer Manier zusammendenken.65 Slavoj Ži̯ žeks diverse essayistische Aufrufe zum Klassenkampf gehen in eine ähnliche Richtung.66

7. Schlussbetrachtung Zusammenfassend gesagt, erscheinen die Konsequenzen der open borders unannehmbar. Wir sehen (hoffentlich) diesen slope, den wir eingangs im Schatten der Shoa betreten haben, nun etwas deutlicher vor unseren Augen. Weder die universalistischen Prinzipien etwa der Diskursethik noch der Verfassungspatriotismus und das Erbe des Antifaschismus zwingen uns, diesen expansionistischen Weg bis an seine Endpunkte zu gehen. So bleibt die Hoffnung, Halt auf dem slippery slope zu finden. So gesehen erscheint die Politik der Kanzlerin nicht von vornherein verfehlt, in allmählicher Korrektur der gesinnungsethischen Euphorie des Sommers 2015 politische Mittel und Wege zu suchen, wenngleich die Erfolgsaussichten dieser Politik sich bei der Niederschrift des Aufsatzes (Februar 2016) fast täglich verschlechterten. Was aber, wenn die Gigantomachie des Streits um massenhafte Zuwanderung am Ende auf die scharf konturierte Alternative hinauslaufen würde, entweder die Grenzen weiter offen zu halten (Faktizität von open borders) oder sie effektiv zu sichern (Festung Europa 2.0)? Die meisten moralisch gesonnenen Personen werden dieser Alternative so lange wie möglich ausweichen wollen, da die »Festung«-Strategie ihren eigenen slippery slope mit beklemmenden Aussichten bereithält. Die »Rechten« machen ja selbst in den Medien keinen Hehl mehr aus ihren militanten Verteidigungsphantasien. Mein Essay über Zuwanderung und Moral endet aporetisch beziehungsweise dilemmatisch.67 Die Gesinnungsethik, die zu den open borders und über sie hinaus führt, lässt sich politisch nicht durchhalten, sofern einem am Bestand der bürgerlichen Gesellschaft und der Integration der EU gelegen ist, während die Verantwortungsethik, die zur effektiven Sicherung der EU-Außengrenzen führt, zu völkerrechtlich68 und moralisch kaum erträglichen Konsequenzen führt.69 Beide Extremlösungen sind mit unserem rechtlichen, 65

Hierzu höchst instruktiv Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Frankfurt am Main 12010. 66 Ott: Zuwanderung und Moral, S. 47–51. 67 Ebd. 68 Die EU ist zum Beispiel nicht frei zu entscheiden, die Seenotrettungen einzustellen. 69 Hierzu zählt auch die Option, Art. 16a (1) GG in eine Staatszielbestimmung »Flüchtlingsschutz« umzuwandeln, um dem Expansionismus die Grundlage zu entziehen. Staatszielbestimmungen verpflichten alle drei staatliche Gewalten, auf hohem

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Konrad Ott

moralischen, politischen, kurzum: unserem sittlichen Selbstverständnis unvereinbar. Beides sind Kapitulationen. Wie also soll es weitergehen, wenn der Plan der Kanzlerin nicht aufgeht, durch Sicherung der EU-Außengrenzen und mit Hilfe der präsidial-autoritär regierten Türkei, die selbst Zielland von Terror ist und militärisch gegen Kurden in Syrien und im eigenen Land vorgeht, zu einer »deutlichen« und »spürbaren« Reduktion der Zuwanderung zu gelangen? So meint etwa Fabrice Leggeri, Direktor von Frontex, wenn die Zahl der Flüchtlinge und Migrantinnen im Jahre 2016 gegenüber 2015 stabil bliebe, »wäre das schon sehr positiv«.70 Das Innenministerium hat im Februar 2016 die Richtgröße von 500.000 Flüchtlingen und Migranten an die Behörden übermittelt. So warten wir in den Spätwintertagen 2016, was kommen mag. Gerade wenn man die Doppelperspektive aus nationalstaatlicher und EUBürgersicht anlegt, die Habermas allen guten Europäerinnen abfordert,71 so müssen wir Deutschen unsere moralisch motivierte Willkommenskultur und unseren »Schatten der Shoa« auch aus der Perspektive der anderen EU-Mitgliedsländer sehen lernen, selbst wenn uns deren teilweise offen nationalistischen Gründe nicht behagen. Auch Anhängerinnen der »Willkommenskultur« sollten einsehen, dass diese innerhalb weniger Monate realpolitisch ein europäischer Sonderweg geworden ist, für den es zwar Lob von Seiten der UNHCR72 und der internationalen Medien gibt, aber massive Kritik von Regierungen vieler EU-Staaten. Während es sich aus deutscher Sicht so darstellt, dass die übrigen EU-Staaten uns Deutsche mit der Lösung eines humanitären Problem allein gelassen haben, stellt es sich aus anderer Perspektive so dar, dass die Deutschen die übrigen EU-Staaten auf eine Politik verpflichten wollten, die sie nun einmal aus unterschiedlichen Motiven heraus nicht billigen. Der EU-Integration hat die deutsche Willkommenskultur faktisch nicht gedient. Sie stärkt ungewollt die Kräfte auch im EU-Parlament, die (zurück) zu einem »Europa der Vaterländer« wollen. Sofern Verfassungspatrioten auch auf das Staatsziel einer immer tieferen Einigung Europas gemäß Art. 23 (1) GG verpflichtet sind, müssen sie abwägen dürfen zwischen der Erneuerung des Zusammenhaltes der EU-Staaten und den menschenrechtlichen Ansprüchen Niveau ein bestimmtes Politikfeld zu bearbeiten. Die Verfassung des Grundgesetzes kennt in diesem Sinne das Staatsziel Umweltschutz gemäß Art. 20a GG. Allerdings ist das Eingedenken der Shoa an diesem Punkt besonders dringlich. 70 Interview in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (4.2.2016), S. 4. 71 Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas. Frankfurt am Main 2011. 72 Grandi, Filippo: Beim Thema Registrierung und Verteilung hat Europa völlig versagt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.2.2016), S. 2: »Deutschland ist heute der Grundpfeiler in der Verteidigung dieser bedrohten Grundsätze [des Flüchtlingsschutzes, K.O.]«. Für Filippo Grandi ist die Politik der Kanzlerin »couragiert«, aber »unglücklicherweise ist sie mit ihrer Haltung ein wenig isoliert«.

Der slippery slope im Schatten der Shoa

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auf Asyl, Schutz in der Not und Zuwanderung. Da die europäische Einigung ebenso wie das Asylrecht moralische und politische Reaktionen auf die Katastrophe des Faschismus sind, hilft die Rückbesinnung auf den Schatten der Shoa, der uns bis hierher begleitet hat, bei dieser heiklen Abwägung zwischen heterogenen Zielen und Ansprüchen nicht viel. Die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik hingegen leistet, so ist zu hoffen, bei dieser Abwägung gute Dienste.

Erstes Zwischenspiel

Zur Macht des Augenblicks. Fünf Kompositionen und ihre Aufführungspraxis Von Birgitta Flick (in Zusammenarbeit mit Hanno Depner)

Der Moment ist beim Musizieren für unser Ensemble das Wesentliche. Besonders beim Improvisieren treten wir immer neu in Kontakt miteinander – sowie mit einem Publikum, seinen Erwartungen und Reaktionen, einem Raum mit seiner Akustik, einer Situation und ihrer Atmosphäre – und beginnen ein Gespräch. Die Wirkung mag als »Macht der Musik« beschrieben werden, aber sie wird nicht bewusst oder gezielt erzeugt. Es geht darum, so intuitiv zu spielen, wie nur möglich, und dabei gemeinsam die Musik entstehen zu lassen, gleichsam durch uns hindurchfließen zu lassen – sowohl wenn wir frei improvisieren (also ohne oder fast ohne Absprachen) als auch, wenn komponiertes Material unsere Basis ist. Auch wenn uns vorher nicht klar ist, welchen Verlauf der musikalische Fluss nehmen wird, so gestalten wir ihn doch mit Verantwortung und Achtsamkeit, nicht nur gegenüber den Beteiligten, sondern vor allem gegenüber der Musik. Dabei spielt eine Reihe von relativ beständigen Vorbedingungen eine entscheidende Rolle: etwa unsere musikalische Ausbildung, Prägung, Technik und Kommunikationsweise. Dahinter stehen Übung und Erfahrung, die es erst ermöglichen, der Intuition Raum zu geben. Auch Reflexionen spielen eine Rolle, aber sie müssen verinnerlicht sein, um aus dem Moment heraus wirksam zu werden. Nicht zuletzt musikalische Notationen sind oft ein wichtiger Anhaltspunkt. Meine fünf Kompositionen, die hier abgedruckt sind, sind so angelegt, dass sie »improvisatorisch behandelt« werden können und man sehr frei mit ihnen umgehen kann und muss. Zudem ist die Instrumentation flexibel, es ist also nicht zwingend erforderlich, dass eine Besetzung aus Tenorsaxophon, Piano und Kontrabass das Stück spielt – wie beim Gesprächskonzert in der Universitätskirche Rostock zum Thema »Musik, Macht und Reflexion« als BirgittaFlick-Trio mit Andreas Schmidt und Andreas Edelmann. Es könnten beispielsweise auch noch ein Schlagzeug oder andere Blas- oder Streichinstrumente dabei sein, wobei das Register oder die Funktionsweise der Instrumente bestimmt, welche Stimme oder Teile der Komposition für das jeweilige Instrument möglich sind oder sich anbieten. Traditionell wird die Notation instrumentenspezifisch umgesetzt: Bei der Angabe von Akkordsymbolen beispielsweise werden auf dem Klavier oft diese Akkorde ausgespielt (quasi als Mittel-

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Erstes Zwischenspiel

stimmen), der Kontrabass improvisiert auf dieser Basis eine Bassstimme und das Saxophon übernimmt die notierte Melodie. Natürlich können diese Rollen variiert werden. Auch mit dem Saxophon kann ich eine Basslinie spielen oder die Akkorde so ausspielen, dass sie gut erkennbar sind. Die Töne können natürlich nicht simultan erklingen, und der Tonumfang ist kleiner als auf dem Klavier, doch kann das so Gespielte trotzdem als zusammenhängende Akkorde empfunden werden. Neben verschiedenen kontrapunktischen Elementen gibt es als zumeist vorherrschendes Prinzip in allen fünf Stücken eine Melodie, das Thema, das von Akkorden begleitet wird, die mehr oder weniger genau ausnotiert sind. Der so entstehende »liedhafte Charakter« bewirkt unter anderem die Unabhängigkeit von einem bestimmten Tempo. Auch das bewusste Fehlen von Angaben zu Dynamik, Artikulation und Ablauf trägt zu einer großen improvisatorischen Freiheit bei. So kann und muss aus dem Moment heraus entschieden werden, welche Musik entsteht, und das Verhältnis zwischen Notiertem und Improvisiertem gestaltet sich laufend neu. »Song Without Words« ist – die schlichte Notation der 32taktigen Melodie und der Akkordsymbole zeigen es – in der Form eines leadsheets notiert, wie es die traditionellen Jazzstandards oder Songs des sogenannten »Great American Songbook« sind. Als Spielanweisung findet sich »even 8«: gerade, gleichmäßige Achtelnoten, keine Swingphrasierung. Da wir alle aus einer ähnlichen musikalischen Tradition kommen, gehen wir mit diesem Stück zunächst so um, wie wir es mit einem Jazzstandard tun würden: Wir wiederholen die harmonische Form so lange, wie es uns in dem Moment angemessen scheint, obwohl keine Wiederholungszeichen notiert sind. Das Spiel eines solchen Stückes folgt üblicherweise dem Ablauf: Intro (optional) – Thema (also die Melodie) – Improvisationen über die Akkorde der Melodie – Thema – Ending. Obwohl unser Vorwissen die Grundlage unseres Spiels ist, versuchen wir, es nicht zu etwas Automatisiertem werden und unsere Routine nicht Macht über den Improvisationsprozess gewinnen zu lassen. Oft werden die letzten vier Takte von Jazzstandards zwei Mal wiederholt oder ein Ritardando zum Schlusston hin gespielt. Welche dieser Möglichkeiten und ob wir sie aufgreifen, entscheiden wir meist intuitiv, manchmal bewusst – oder wir improvisieren einen ganz anderen Schluss. Beispielsweise können wir die Form des Stücks öffnen, das heißt auf einem Akkord oder einer Akkordverbindung verweilen oder eine solche ein- oder hinzufügen – oder sogar das Stück durch Improvisation mit den vorhergehenden oder nachfolgenden verbinden.

Zur Macht des Augenblicks

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© Birgitta Flick, Edition Double Moon

*Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Edition Double Moon Volker Dueck.

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Erstes Zwischenspiel

Improvisation findet bei allen Instrumenten durch das ganze Stück hinweg statt und kann sogar so weit gehen, dass ich die Melodie stellenweise gar nicht mehr spiele, sondern eine andere improvisiere, während ich die notierte Melodie im Kopf und Gefühl behalte, so dass sie sich immer wieder mit ihr verzahnt. Kontrabass und Klavier improvisieren auf der Basis der Akkordsymbole und der Melodie ihre Begleitung dazu und verteilen dabei simultan die Rollen. Wie das Verhältnis von Melodie und Begleitung ist, entscheidet sich dabei aus dem Moment heraus. Ich empfinde es eigentlich nicht als begleitete Melodie, sondern als dreistimmige Improvisation mit eher gleichberechtigten Stimmen.

II. Macht, intellektuelle Sinnproduktion und die semantische Autonomie

Petra Gehring

Macht und Kritik. Über Machtanalyse als Kritikform

»Die Wirklichkeit, der Beweis, durch den die philosophische Veridiktion sich als wirkliche erweisen wird, ist die Tatsache, dass sie sich an den wendet, wenden kann oder den Mut hat, sich an den zu wenden, der die Macht ausübt.«1

Macht war nie ein philosophischer Grundbegriff und ist auch in der Epoche der Sozialwissenschaften kein solcher geworden. Für die Philosophie blieb Macht vielmehr eine unscharfe Grenzgröße: einerseits womöglich mit metaphysischen Fragen nach Weltschöpfung oder Allmacht befrachtet, andererseits unangenehm nah dem politischen Exekutivblick, dem Gewaltproblem also und Herrschaftsfragen. Wer sich auf die Seite eines philosophischen Wahrheitsverständnisses schlagen will, schiebt beides beiseite. Neben der Distanz zu politischer »Anwendung« von Macht, der anti-kallikleischen Geste, beobachten wir zudem nicht erst in der Moderne auch forschungsmoralische Vorbehalte gegen Machttheorie. Umso interessanter sind Fragen nach dem Verbleib solcher Probleme, welche die Philosophie zwar durchaus als »machthaltig« erkannte, dann aber doch nur ansatzweise oder mittels Maximen der Selbstzurückhaltung verfolgte. Denn ein Gespür für derartige Problemstellungen, für das Lauern und das Hervorkommen konkreter Machtfragen, hat die philosophische Theoriebildung ja sehr wohl. Ich vermute sogar, es spricht für eine hohe Machtsensibilität des Fachs, dass es den bequemen Weg einer Naturalisierung von auf Macht verweisenden Problemen (im Unterschied zu den Sozialwissenschaften) nicht ging, und dass es auch den Kollektivsingular – die Macht – traditionell selten nutzt. Frontale Verfahren werden verwickelten, zur Selbstreflexion zwingenden Problemlagen nicht gerecht: Wer dies ahnt, wählt ein eher laterales Verhältnis zu der Macht wie auch zu der Politik. Es gilt somit nicht, der Philosophie Machtvergessenheit vorzuwerfen, sondern die Machtfrage gleichsam aus der Unterbühne eines philosophischen Diskurses hervorzuholen, in welchem sie ihren Platz – wenngleich wenig beachtet – durchaus hat. »Genealogien« der Macht heißen Projekte, die hierzu historisierende Mittel einsetzen; sie beziehen den philosophischen Diskurs, etwa das Postulat des gnothi seauton oder ihren forensisch anmutenden Urteilsstil,

1

Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83. Frankfurt am Main 2009, S. 290.

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Petra Gehring

mit ein.2 Aber auch systematische Überlegungen, wie ich sie hier im Hinblick auf das Verhältnis von Machtanalyse und philosophischer Kritik anstellen werde, laufen auf ein Stück Selbstreflexion von Philosophie hinaus. Der nachfolgende Diskussionsbeitrag umfasst drei Teile. Wo von Macht die Rede ist, sind begriffliche Vorklärungen wichtig, daher gebe ich zunächst (1.) einen kurzen Überblick über verschiedene Typen von Machttheorien. Diese akzentuieren ihren Gegenstand nicht nur unterschiedlich, sondern entwerfen ihn derart verschieden, dass Diskurse über Machtfragen sich in gänzlich differenten Paradigmen bewegen. Letztlich wird man Macht allerdings nicht modellieren können, ohne Problemen der Selbstbezüglichkeit Rechnung zu tragen, denn Theoriebildung, Thesen, denkend auftretende Aussagen »beanspruchen« oder »haben« Macht beziehungsweise »sind« ihrerseits machtvoll – mindestens, indem sie mit Macht(-verhältnissen) kollidieren, darüber hinaus aber auch, weil bereits Wahrheits- oder Vernunftansprüche alles andere als machtneutrale Phänomene sind. Es existieren vielmehr Verbindungen zwischen dem Anspruch auf Wahrheit und der Sache der Macht. Von der Frage nach der Art dieser Verbindungen hängt viel ab, ihr gehe ich (2.) im Anschluss nach. Ein Primärreflex mag zwar lauten, zwischen Wahrheit und Macht bestehe eine Beziehung negativer Art, der wissenschaftliche Wahrheitsbezug begrenze nämlich seinem Wesen nach Durchgriffe herrschaftlicher, interessengeleiteter oder populistischer Art. Für den philosophischen Diskurs formuliert der platonische Sokrates in zeitloser Weise dieses Ideal: Die epistemische Haltung beruhe darauf, sich von der Blaupause der Doxa loszusagen, um nach der Wahrheit und nur nach Wahrheit zu fragen. Moderner gesprochen: Sie neutralisiert Legitimitätsglauben, sie hält sich also auch abseits jeder Politik. Allerdings stellt sich schon bei Platon die Lage komplizierter dar: Treibt Sokrates in der Apologie das Philosophieren ins antipolitische Extrem, so macht er doch deutlich, dass eben dies um des Wohls der Polis willen geschieht. Die philosophische Politikverweigerung verhält sich also durchaus politisch, wie sie neutralisiert, forciert. So ist die Apologie nicht zuletzt ein Lehrstück über die Re-Relationierung von philosophischer und politischer Macht.

2

Den Titel »Genealogie« hat, wie man weiß, Friedrich Nietzsche in eher generalisierender Manier für den moralhistorischen Kontext geprägt; einschlägig ist er inzwischen – im Gefolge Foucaults – auch für kleinteiligere wissenschafts-, sozial- und technikhistorische Studien. Gemeinsam ist den Rekursen auf Nietzsche die Absicht, sich in Sachen »Macht« gleichermaßen von geistesgeschichtlicher Idealisierung wie von ideologiekritischen Reduktionen zu lösen; vgl. Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie [1971]. In: Dits et Écrits. Schriften 2: 1970–75 [1994]. Frankfurt am Main 2002, S. 166–191.

Macht und Kritik. Über Machtanalyse als Kritikform

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Seither hat gerade die Philosophie, trotz des Sophisten als Feindbild, stets durchblicken lassen, dass es ganz weiße Handschuhe im Feld der Wahrheit nicht gibt. Auch die Wahrheit, und vielleicht: gerade sie, darf nicht als einsame Spinnerei vergehen, sondern hat (und braucht) – wenngleich eigene – Formen der Macht. Denken kommt mittels auf bestimmte Weise eingesetzter und kontextualisierter, dem Vergessen sich entziehender Worte zum Zuge, Wissenschaft schafft hierfür Schonräume. Gleichwohl stabilisiert und tradiert sich Wissen herrschaftsverbunden – und namentlich neues Wissen verdankt sich machtvollen Interventionsstrategien. Zudem sind auch im innerwissenschaftlichen Betrieb Zwänge und Gewalt nicht weit. Alle relevanten Philosophien reagieren auf diesen Sachverhalt, sind sich also einer aus der Arbeit des Denkens selbst herausgeschobenen, aber fortbestehenden Brisanz von Machtproblemen bewusst. Und von der Ironie über das Pathos bis hin zur gleichsam technischen Neutralisierung durch »Methode« existiert eine Vielfalt von Verfahren, implizit, aber doch aktiv und auch konfrontativ mit einer Latenz der Machtfrage im Rücken des philosophischen Wahrheitsanspruches umzugehen. Ein in diesem Zusammenhang besonders prominenter Sammelbegriff lautet »Kritik«. Es ist die Funktion des Kritikbegriffs, den Regeln der, sei es bürgerlich verständigen, sei es wissenschaftlichen, Autorisierung von Wissen als »wahr« eine Form des »vernünftigen« Ungehorsams entgegenzusetzen – und zwar im Namen der Wahrheit. Es geht also um einen Ungehorsam, welcher die Wahrheit gleichsam vorsätzlich und gewissermaßen zum Besseren spaltet – und dabei, das ist wichtig: eine Art Selbstanzeige mit einschließt. Kritik erklärt, was sie tut, indem sie es tut. Sie schließt eine Reflexion und also eine philosophische Durchschaubarkeit ihrer eigenen Vollzüge – eine Selbstkritik der Macht der Machtkritik also – mit ein. »Kritik« ist eine moderne Machtform, auf deren Historie ich nicht eingehe, denn meine abschließende Problemstellung (3.) ist eine engere. Sie lautet in drei Schritten: Kann Machtanalyse eine Form der Kritik sein, wie wird das Freilegen konkreter Machtverhältnisse seinerseits »kritisch« wirksam, und mit welcher Art von Machttheorie wäre eine »kritische« Machtkritik zu verbinden? Ich beantworte die erste Teilfrage mit »ja« und komme, was die »Wie«-Frage angeht, erneut auf die (in 1. und 2.) diskutierten Unterschiede der Machttheorien zurück. Denn nicht nur implizieren differente Machtbegriffe differente Formen der Machtanalyse, sie stellen auch die Weichen sehr unterschiedlich, im Blick auf die Sensibilität von Kritikformen für die Wirklichkeit der Macht. Für die Wirklichkeit von Machtverhältnissen »da draußen« sowieso. Aber eben auch für jene prekären Machtverstrickungen philosophischer Theorie.

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1. Divergente Machtkonzepte Trotz eines in der Moderne fächerübergreifend großen Interesses an Fragen politischer und sozialer Machtverhältnisse ist die Sensibilität für die tiefgreifende Verschiedenheit von Machtbegriffen erst in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Zu verdanken ist dies zum einen einem hohen Theorieniveau in der Soziologie. Diese hat nicht nur im Anschluss an die klassische Machtdefinition von Max Weber,3 sondern auch darüber hinaus wichtige Abstraktionsschritte getan.4 Daneben wurden nach dem Niedergang der sprichwörtlichen »großen Erzählungen« des zwanzigsten Jahrhunderts – Geschichtsmaterialismus, Behaviorismus, Psychoanalyse, Kybernetik – philosophische Theoriebestände wiederentdeckt, welche grundlegend bestimmungsbedürftige Aspekte des Machtproblems neu aufbrachten. Einen demokratietheoretischen Impuls setzte unter anderen Hannah Arendt, namentlich Habermas hat hier angeknüpft.5 Für die deutsche Diskussion war es darüber hinaus das Verdienst der philosophischen Begriffsgeschichte, die Breite der machttheoretischen Überlieferung gesichtet und wieder ins Gespräch gebracht zu haben, die Arbeiten von Kurt Röttgers möchte ich ausdrücklich nennen.6 Und schließlich hat im Anschluss an Nietzsche wie auch an die Wissenskritik der französischen Epistemologie7 der Historiker Michel Foucault eine entschlossene Schneise durch die postmarxistische Machttheorie geschlagen. Foucaults Werk eröffnete eine nicht nur begrifflich erneuerte, sondern auch historisch-vergleichend sowie gegenwartskritisch angelegte, vielleicht sogar gedankenpolitische Diskussion über Macht.8

3

Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft (revidiert von Johannes Winckelmann). Tübingen 51972 [1921], S. 28 u. 541. 4 Für die auf empirische Forschungen aufsetzende Machttheorie der 1960er und 1970er Jahre haben Peter Bachrach und Morton S. Baratz, Steven Lukes sowie Heinrich Popitz Meilensteine gesetzt; für die systemtheoretische Sicht Talcott Parsons und dann vor allem Niklas Luhmann, vgl. Luhmann, Niklas: Macht. [1975]. Stuttgart 21988. 5 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. München 121998 [1970]; Habermas, Jürgen: Hannah Arendts Begriff der Macht [1976]. In: ders.: Philosophisch-politische Profile. Frankfurt am Main 31998, S. 228–248. 6 Röttgers, Kurt: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik. Freiburg im Breisgau 1980; ders.: Macht. In: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Christian Bermes u. Ulrich Dierse. Hamburg 2010, S. 221–233; ders.: Macht. In: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hg. v. Petra Kolmer u. Armin Wildfeuer. Freiburg, München 2011, S. 1480–1493. 7 Stellvertretend für ein Forschungsfeld, das im Übrigen nicht umstandslos mit dem Schlagwort »Strukturalismus« belegt werden sollte, nenne ich Gaston Bachelard, Georges Dumézil und Georges Canguilhem. 8 Vgl. zu den einschlägigen Argumenten und Definitionen Foucault, Michel:

Macht und Kritik. Über Machtanalyse als Kritikform

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Vor dem Hintergrund dieser vielfach belebten Theorielage kennen wir heute sowohl überkommene, vergleichsweise schlichte Vorstellungen einer Macht, die jemand individuell oder auch von Amts wegen oder in Gruppen, etwa im Rahmen bestimmter staatlicher Rollen oder Funktionen, ausübt, einer Macht, die von irgendwo ausgeht, an einer Stelle entspringt, und die von hier aus dann etwas bewirkt, prägt, erzwingt oder auch dominiert respektive bestimmt beziehungsweise »determiniert«. Wir kennen zweitens jenseits davon voraussetzungsreichere Modelle einer gern als »relational« bezeichneten, was heißen soll: nicht kausal, sondern anderswie etwas induzierenden, sozial mobilisierenden, gleichsam ansteckenden Handlungsmacht. Und ein Drittes sind noch komplexere Theorien einer nicht dergestalt ansteckungsartig wirkenden (oder überhaupt einer Handlungsfolge gleichenden), sondern primär ermöglichenden sowie die realen Umstände des Ermöglichens verändernden und also modalen Macht. Eine solche Macht wäre eine, die nicht bloß Verhältnisse ändert, regelt oder legitimiert, sondern Wirklichkeiten (und Realitäten) konstituiert.9 [1.1.] Machttheorien der ersten Familie modellieren Macht nach dem Urbild eines physikalischen Mechanismus. Sind sie Herrschaftstheorien, dann kommt ihnen zufolge, wo den einen Macht zuwächst, den anderen Macht abhanden, unterstellt wird also ein Nullsummenspiel der Kräfte. Machtvorstellungen dieses Typs korrespondiert – man könnte sagen: eine manometrische Anthropologie, ein Menschen- oder auch Gesellschaftsmodell also von »Druck«, »Gegendruck«, »Antrieben« mitsamt mehr oder weniger folgerichtig erwartbaren Umwälzungen, sei es individuell oder im Großmaßstab. Vorstellungen des Habens, Speicherns und Verlierens, des Zuteilens und insbesondere der »Quellen« von Macht (zu denen der Wille zählen kann) gehören ebenfalls hierher. Gewalt wird zwar von Macht unterschieden – das tun, anders als zuweilen suggeriert wird, die meisten Machttheorien –, aber Gewalt wird doch gleichsam als Eskalationsstufe auf einer Machtskala, als physisch sich manifestierende Steigerungsform der Machtausübung begriffen. [1.2.] Machttheorien der zweiten Art lehnen sich zwar an Kraftvorstellungen an, deuten Macht jedoch im Sinne einer eher metaphysischen Energetik, einer – Symbolgebrauch gegebenenfalls einschließenden – Form des indirekten Bewirkens, einer Alchemie oder vielleicht sogar Magie im Medium des Sozialen. Hier ist Macht dann etwas Instantanes, ein spontaner TransformaSexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main 1977, namentlich S. 101–124. 9 Mein Aufsatz nutzt die um 1800 scharfgestellte, spezifisch deutsche Begriffsdifferenz von gegebener, strukturierter »Realität« und – aktual durchaus auf Unmögliches ausgreifender – situationsgebundener »Wirklichkeit«. Die Differenzierung (ihr zufolge kann beispielsweise auch Irreales wirklich sein) kommt einer modalen Analyse der spezifischen Leistungen philosophisch-kritischer Wahrheitsansprüche entgegen.

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tor. Sie zeitigt autorisierende, legitimierende Wirkungen, und mindestens hinsichtlich der Möglichkeit des Ausbleibens gehorcht sie einer Ökonomie der Unberechenbarkeit: Macht hat zwar »Quellen«, aber sie kann fehlen, ohne dass sie sich deswegen irgendwo anders (bei einem Gegner, auf Seiten übermächtiger Instanzen) befinden müsste. Von Gewalt hebt sich Macht in diesem Paradigma qualitativ ab, steht ihr vielleicht sogar direkt entgegen; Macht stellte dann die in Freiheit gegründete Alternative zu einer als Gewaltmaschinerie vorgestellten, im mehrfachen Wortsinn »unmenschlichen« Kräfte-Mechanik dar. Nicht nur Arendts (oder schon Rousseaus) Idee einer politischen Legitimationswirkung von aus gemeinsamem Handeln erwachsender, verfassunggebender Macht, sondern auch unter Stichworten wie Identifikation, Partizipation oder prozeduraler Rationalität verhandelte Hoffnungen auf Demokratie erhaltende Machteffekte knüpfen sich hier an. [1.3.] In der dritten Perspektive ist Macht nicht nur per se von Personen oder Institutionen abgelöst sowie diffus verteilt, hat also keine »Quellen« und ist auch nicht mehr im sozialwissenschaftlichen Sinne »empirisch« manifest beziehungsweise lesbar, vielmehr kommt sie als Machbarkeits- oder Wirklichkeitsgrenze ins Spiel: Domäne der Macht ist die Vor-Organisation oder aber Re-Organisation gegebener Möglichkeiten und Selbstverständlichkeiten (diesseits des handlungsförmig Verfügbaren, wenngleich als Form oder Element von Handlungskontexten potenziell durchaus handlungsrelevant). Machtstrukturen sind so im Grunde deckungsgleich mit dem Sosein der (stets in irgendeiner konkreten Konstellation mit Möglichkeiten aufgeladenen) Verhältnisse. Und situative Dynamiken, Machtprozesse,10 liegen sogar vor der Klammer ausgemachter Realitäten. Sie greifen im Zweifel auch über das »real« Mögliche hinaus. Der entscheidende Wechsel der Optik: Macht (re-)produziert oder transformiert nicht Formen, sondern Formen des Formens: Ihrerseits dynamisch, organisiert sie Infrastrukturen des Möglichwerdens wie auch der Restabilisierung des Gegebenen, also dessen, was Titel trägt wie »notwendig«, »möglich«, »machbar« oder »normal«. Hinzu kommt – als der im Ergebnis seltenere Fall des wirklich Neuen – die Überwindung des realen Unmöglichseins. Macht ist so besehen nicht Kraft oder Energetik, sondern Modalisierungsmodus und in einem gewissen Sinne »transzendental«. Temporal gesehen 10

Darauf, dass der Prozessbegriff, wo es um Praktiken geht, eine eigentlich metaphorische Verlegenheitslösung bleibt, sich also nur in der Gegenüberstellung zu »Struktur« präzisieren lässt, hat Luhmann verschiedentlich hingewiesen, vgl. Luhmann, Nik las: Temporalstrukturen des Handlungssystems. Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie. In: Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Hg. v. dems. Opladen 31993, S. 126–150. Statt von »Machtprozessen« von »Machtdynamiken« zu sprechen, mag im konkreten Fall adäquater sein, nähert sich freilich einer Tautologie.

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betrifft sie die verbindliche Gestalt einer Gegenwart an der Schwelle zur Zukunft. Sozial gesehen gibt sie Konflikten um das, »was geht«, ihre realen Bahnen. Machtökonomien sind im modalen Paradigma nicht nur ereignisoffen, sondern gewissermaßen ontologisch steigerbar: Nicht im Gegebenen gibt es Spielräume, sondern mögliche Wirklichkeiten können mittels dessen, was sie selbst an unerwarteten Optionen freisetzen, »wuchern«. Mikrologisch wie im Epochenmaßstab mag man hier versucht sein, von einer fundamentalen »Produktivität« der Macht zu sprechen – Macht sei produktiv, das ist eine durch Foucault geprägte, aber leider substanzontologisch missverständliche Vokabel.11 Glücklicher wäre es wohl, zu sagen: Macht ist findig, listig, transgressiv: in einem weder instrumentellen noch völlig aleatorischen, sondern Kontexten entstammenden, vielleicht auch technologischen Sinn.12 Foucault hat sich als Wissens- und Institutionenhistoriker für epochentypische europäische »Machtformen« interessiert. Er hat mit Typologien historischer Machtformen experimentiert (Disziplinarmacht im Unterschied zu juridischer und pastoraler Macht, Biomacht im Unterschied zu Disziplinarmacht sowie den genannten Machtformen älteren Typs),13 und er hat so ein Denken in Formen im Zusammenhang mit dem Funktionieren und Zusammenwirken historisch bestimmbarer Machtmechanismen zum Terminus erhoben. Tatsächlich beschreibt das Wort »Machtformen« wandlungsfähige Bahnen für in sich wiederum Wandelbares; insofern fügt sich das Wort »Strukturen« ins Modalparadigma nicht gut hinein – darauf hat unlängst auch Christoph Hubig hingewiesen, der vorschlägt, auf einer hochaggregierten Betrachtungsebene von Machtverhältnissen als »Machtnetzen« zu sprechen und die Rede von »Strukturen« auf Fragen starrer, potenziell zwangsbehafteter etablierter Herrschaft zu beschränken.14 11

Vgl. »Tatsächlich ist die Macht produktiv [le pouvoir produit, also besser: produziert die Macht, pgg]; und sie produziert Wirkliches.« Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1976, S. 250. Die oft reproduzierte Formel, die Macht sei »produktiv«, ist in der Gegenüberstellung zum zurückgewiesenen Attribut »repressiv« womöglich hilfreich. Sie hat inzwischen allerdings viel Schaden angerichtet, sofern sie – isoliert betrachtet – nahelegt, Macht wirke doch irgendwie verfahrenstechnisch (sowie kausal?) auf stoffartige Substrate ein. Dadurch wird die modale Perspektive eher verbaut. 12 Natürlich ist hier nicht von Gerätetechnik die Rede, sondern von »Technik« auf der gedanklichen Linie von Blumenberg oder Luhmann. Dass gute Machttheorien und gute Techniktheorien eine Vielzahl von Berührungspunkten aufweisen, wurde als Sachverhalt schon vielfach vermerkt. Leider dient oft einfach nur eines für das andere als absolute Metapher, weswegen Theorien, die beides explizit adressieren, umso wertvoller sind. 13 Vgl. zum Überblick über Foucaults Machttypenlehre Gehring, Petra: Foucault – die Philosophie im Archiv. Frankfurt am Main, New York 2004. 14 Hubig, Christoph: Kunst des Möglichen III: Macht der Technik. Bielefeld 2015.

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Was stabile (oder aber kippende) Machtökonomien diskursiver – also in Form geordneter Aussageregeln etablierter – Art angeht, weist der frühe Foucault den durchaus zwanglos determinierenden Zug auf, der beispielsweise wissenschaftlichen Aussagesystemen zu eigen ist: Die vormoderne Wirtschaftslehre betrachtet Bodenerträge und angesparten Reichtum im Rahmen einer Gesamtordnung, für die eine dynamische Größe wie »Arbeit« schlichtweg keinen Wirklichkeitswert besitzt, die vormoderne Naturkunde kennt zwar »Kräfte« und auch »Beseelung«, aber keine verborgene Sondergröße namens »Leben« und vormoderne Grammatiken kommen ohne den Kollektivsingular »Sprache« aus – jeweils fehlt den entsprechenden wissenschaftlichen Formationen nichts, sondern in ihren Aussagesystemen ist ganz realistisch betrachtet kein Platz für das, worauf die Moderne grundbegrifflich setzt.15 Es gibt somit Ausschlusseffekte, die nicht erst ein verbotsförmiger Zwang dem Denken auferlegen muss, sondern »Determination«16 steckt bereits in der Konstitution von – zum Beispiel: rational genannten – Realitäten selbst. Neben ganzen wissenschaftlichen Diskursen oder auch beispielsweise medizinisches Wissen exekutierenden Institutionen als historisch kompakten Macht-Wissens-Formationen betrachtet Foucault auch das Gewicht situativer Macht, wie sie beispielsweise in Gestalt von widerständigen Ereignissen oder in der exponierten öffentlichen Rede freigesetzt werden kann. Selbst im Erfolgsfall sind die historischen Spuren minimal, aber die Grenzen von Diskursrealitäten werden auch herausgefordert – und hier hätte womöglich die fragile Macht philosophischer Kritikstrategien ihren Platz. Der späte Foucault hat in Ergänzung seiner wissensgeschichtlichen und machtgeschichtlichen Perspektive das neue Forschungsfeld einer Geschichte der Ethosformen vorgeschlagen – womit namentlich auch solche Haltungen verstanden werden, die darauf hinauslaufen, im politisch riskanten Disput mit persönlichem Wahrhaftigkeitsanspruch das Wort zu ergreifen. Untersucht werden soll also die Zeittypik der jeweils unabgesicherten Selbstexposition dessen, der im Zeichen der Wahrheit streng genommen verrückte, nämlich politisch wie ontologisch zuweilen eigentlich unhaltbare, aber eben doch anerkannte und damit wirkungsvoll »wahre« Aussagen tätigt. Eine solche Geschichte oder Dass schon Foucault sich stets gegen die Zuschreibung wehrte, er sei »Strukturalist«, weist in dieselbe Richtung. 15 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 1974, S. 269 ff. 16 Der Terminus meint dann nicht überzeitliche, sondern historische (also einem Wandel zugängliche) Notwendigkeit, zu übersetzen wäre er vielleicht sogar besser als »Bestimmung« (was nicht nur an Hegel, sondern auch an Husserl und die Tradition phänomenologischer Differenzbegriffe denken lässt, sofern die Bestimmung eines Etwas qua Bestimmtheit elementar die wirkliche Unmöglichkeit dessen, was dann nicht dieses Etwas sein kann, determiniert).

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Genealogie der – Achtung, Kunstwort! – »Veridiktionsformen«, für welche die gelingenden Volten philosophisch genannter Einwände oder Argumente in der griechischen Antike frühe Beispiele darstellen,17 würde nachzeichnen, wie Macht und Wahrheit – Geltungsbedingungen oder Adäquation an Realitäten punktuell gerade außer Acht lassend – in Gestalt eines neuen Wie für sagbar »Wahres« konkret zusammenkommen. So habe sich der Modus, »wirklich möglich« zu sein – und damit vielleicht auch in überlieferungsträchtiger Form paradigmatisch dafür zu bleiben, wie Diskurse mittels Wahrheit gerade gegen herrschende Stereotype und Dogmen aufzurütteln sind – mit der sokratischplatonischen Dialektik, mit der Verweigerungsgeste des Kynismus, mit dem christlichen Bekenntnis etc. geändert.18 Wie das Thema »Kritik« in modaler Perspektive zu verorten wäre, lässt sich also mit Foucault umreißen. Halten wir, was die Machttheorie angeht, fürs erste aber fest: Zwischen den hier grob sortierten Paradigmen – Mechanismus, schöpferische Energetik, Modalisierung – liegen Welten. Die Trennlinien der Ansätze, mit Fächergrenzen sind sie keineswegs deckungsgleich, laufen auf inkompatibles Reden über Machtverhältnisse hinaus, und entsprechend unterschiedlich konfigurieren sich auf ihrer Basis Größen wie Gewalt, Herrschaft, personale Autorität oder deren jeweiliges Wirken.

2. Wahrheit, Macht und die Manövrierspielräume von »Kritik« Damit gehe ich nun der bereits kurz andiskutierten Frage nach, wie die – spezifischen? – Wahrheits- und Machtansprüche philosophischer Kritik zu charakterisieren sind. Hat jenseits objektstufiger Modellierung von Macht in Machttheorien auch die aktive, die sozusagen selbst sich verstrickende, gleichwohl aber auf »Wahrheit« dringende Auseinandersetzung mit Machtproblemen einen Ort? Wissenschaft – »Theorie« jedenfalls, und mit gewissen Abstrichen auch Forschung – versteht sich ja als Diskursgefüge, in dessen Innerem sich rhetorische oder anderswie brachiale Zwangsmittel zugunsten der »Sache selbst« gerade verbieten. Und gerade philosophische Theorie muss auf Distanz setzen, um zu ihren ureigensten Beobachtungsmodi (Hinterfragen eines

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Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen. Ders.: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen. 2. Vorlesung am Collège de France 1983/84. Frankfurt am Main 2010. 18 Foucault hat vor allem die Zeit zwischen 1600 und 1900 mehrfach gründlich untersucht und hier zunächst auch nicht die gelingende Kritik (und den elitären Diskurs namens Philosophie) im Fokus, sondern den viel häufigeren Fall des mit Schweigen bedachten Scheiterns kritischer Gesten oder Interventionen.

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logischen oder praktischen modus operandi, Begriffsanalyse, Fürmöglichhalten des Gewordenseins des Selbstverständlichen, Selbstreflexion, Freilegen transzendentaler Vorformen, Sprach-, Wissens- und Wissenschaftskritik, Spekulation oder andere Verfahren des Entwerfens etc.) tatsächlich im Sinne einer Methodik auch zu kommen. Es treten Spannungen auf, trennt man Machtfragen nicht positivistisch, durch ein glaubwürdiges Pathos der Distanz (oder anderswie »neutralisierend«) ab. Wie denkt man also Macht und Wahrheit, Macht und Erkennen, zusammen, ohne dass der Wille zum »wahren« Wissen sich nicht letztlich selbst als bloßer Herrschaftswunsch oder jedenfalls Spielart eines Willens zur machtvollen Intervention entlarvt, die dem schieren Rechthabenwollen gleicht, einer willkürlichen Demontage des Vertrauten, der rhetorischen Inwertsetzung schlechter Abstraktion, der bloßen »Störung« oder Schlimmerem? Eine modernetypische Auskunft in dieser Frage bieten Konzepte philosophischer »Kritik«: Wer Kritik übt, lässt sich mit der Macht ein, weil auch Wahrheit von dieser Welt ist und damit gerade die gelehrte Begrenzung des Feldes möglicher Wahrheiten (um der Wissenschaftlichkeit willen) erforderlich oder auch die Verteidigung dieses Feldes (denkpolitisch) nötig ist. Für die begrenzende Funktion hat »Kritik« eines der bis heute zeitgenössisch wirkenden Vorbilder in Kant, der sich ihre Aufgabe als streitschlichtende vorstellt: Auf dem »metaphysischen Kampfplatz« kehrt Ruhe ein, und sichere Wege in die Wissenschaft hinein lassen sich dauerhaft ausbauen.19 Mit Hegel und Marx setzen sich demgegenüber Varianten kämpferischer (auch angreiferischer) Kritikvorstellungen durch. Diesen Vorbildern gemäß darf die nicht allein vernünftige, sondern vor allem »freie« Macht der Kritik dem zu Kritisierenden nicht äußerlich bleiben, da Begreifen nicht Befriedung, sondern Veränderung intendiert. Kritik stellt sich folglich »in den Umkreis« der »Stärke« des Gegners, nutzt dessen Kraft und lenkt sie um, teils um diese gegen ihn zu wenden, teils um etwas zu Widerlegendes »aus sich selbst« auf einen höheren Standpunkt zu bringen und in die begrifflich zu erfassenden Realitäten hineinzutreiben.20 Im Gefolge Hegels gehört »Macht« zur Energetik von Begriffsarbeit. Philosophie kann (und muss) nicht leugnen, die Sprache der Macht sprechen zu können – sie gibt vielleicht sogar den Einsatz machtvoller (mit Marx womöglich auch gewaltsamer, jedenfalls aber partiell »destruktiver«) Mittel zu.

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Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. In: Kants Werke, Bd. 3. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 1974 [1781/21787], S. 11, 24 (A VIII, B XV). 20 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil: Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff. In: Werke in 20 Bänden, Bd. 6. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1969 [1812], S. 243–573, S. 250.

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Kritik wäre also zwangsabstinent und fern von politischer Herrschaft »Wahrheit« – aber doch Wahrheit qua Macht? Tatsächlich kennen wir eine enorme Formfülle zwar nicht regelrechter Kritiktheorien auf dieser Basis, aber doch von Rekonstruktionen (sowie prospektiv auch Selbstautorisierungsgesten)21 einer spezifischen Macht, eines spezifischen Machtarrangements philosophischer Kritik. Auch sie lassen sich wieder grob gemäß der oben skizzierten Dreiteilung ordnen. [2.1.] Mit dem mechanischen Ansatz in Sachen Macht korrespondiert das Ideal einer Kritik »von unten«. Die Kritik gehört hier22 auf die Seite der Schwachen, auf der sie einen Machtmangel (oder gar völlige Ohnmacht) ausgleichen soll. Sie hätte also im Sinne eines zusätzlichen Vektors in einem asymmetrischen Kraftgefüge für »Kräftigung« zu sorgen, für Druckaufbau oder das Umlenken von Druck in Gegendruck. Kritik wäre erlaubtermaßen polemische, parteiliche, notfalls abseits der Wahrheit sozusagen konträr verzerrend operierende, antirepressiv gerechtfertigte Kritik. Ideales Ziel wäre dabei der völlige Kraftausgleich: eine Situation ohne Gefälle. Realistischer und ziviler gedacht, sorgte Kritik lediglich (aber immer wieder) für Schwächung des Gegners, etwa durch Entlarvung des Faktums, dass dessen Wahrheitsanspruch »eigentlich« auf Machtausnutzung beruht. Philosophische Kritik fungierte dann als Ideologiekritik (sowie Kritik der Ideologiekritik als ideologisch etc.) – oder eben, »radikaler«, als gerechter Krieg. Legitimationsgrund ist in beiden Fällen der Druck, der bereits existiert: »Unter Druck« darf/muss das Denken auch kämpfendes Denken sein; das Moment der Ohnmacht erlaubt es, trotz wissenschaftlich eigentlich gebotener und auch zu bejahender Distanz gleichsam ausnahmsweise auf Sieg zu spielen. Eine Dialektik der Aufklärung ist freilich programmiert: Mit Sieg, Etablierung, Verwirklichung wird auch die kritischste Kritik zur hegemonialen Wahrheit, und damit mangels Druck »von oben« und Bewegungsrichtung »von unten« falsch. [2.2.] Dem als energetisch-magisch umschriebenen Machtverständnis korrespondieren die Besonderheiten dissidenter, irritierender oder auch »poetischer« Kritik, die gleichsam ein Abseits oder Außerhalb der Macht in Anspruch nimmt, versprechen möchte oder kreieren soll – zugunsten der glückhaften Alternative anderer Verhältnisse (und sei es in Gestalt eines transitorischen Ereignisses oder Moments). Neben der romantischen Kritik, die Aufbrüche oder Ausbrüche erstrebt und Wege dorthin als Formen einer via negationis stilisiert, pflegen auch liberale Kritikmodelle den Glauben an kleine Magie: den Sinnes21

Die meisten Kritikideale laufen allerdings darauf hinaus, dass eine ordentliche Selbstautorisierung zur Kritik diese Kritik dogmatisch und damit unkritisch mache. 22 Ich bleibe, wenn ich hier »Ansätze« charakterisiere, bewusst beim summarischen Umriss und nenne keine Texte oder Namen. Es geht ums Idealtypische. Zuordnungsfragen stehen auf einem anderen Blatt.

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wandel dank vernünftiger Einsicht, die Überredung zum Guten, den zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Auch jede dank menschlicher Anstrengungen überzufällige »Chance« auf Rationalität,23 wie sie etwa im Rahmen von kollektiven Bildungs- oder Fortschrittsprozessen wirksam wird, schreiben wir in der Regel nicht bloß dem deterministischen Zufall zu: Historische Kausalität ist eben keine Kausalität, die alles bereits erklärt.24 Eher schon hilft Macht, im Gegenteil, Bestehendes zu überschreiten und reißt damit erklärungsbedürftige Löcher in Kausalketten üblichen, erschöpfenden Typs. Für das Motiv sich durchsetzender Freiheitlichkeit gilt das in gesteigertem Maße. Die besondere, durch Freiheit gestiftete (und nicht nur kompensatorisch sich der Ohnmacht verdankende) moralische oder ästhetische Legitimität jener Praxis namens »Kritik«, ihre Nähe zu Kunst, zu persönlichem Charisma, zur Imposanz von Diskursen qua Moralität, lässt sich mit einem Machtdenken des zweiten Typs deutlich besser verbinden als mit Repressionstheorien der Macht. Philosophische Kritik würde demgemäß nicht primär bloß »kämpfen«, sondern brächte durch kreative Wendungen – Abweichung, Reflexionen – Zusätzliches ins Spiel: das Unwahrscheinliche, das Bessere, das Schönere, die Zukunft. Einem Zauber gleich nutzte sie Chancen, die sie nicht hat. [2.3.] Modalkonzepte der Macht kennen kein Außen, sie erzwingen Immanenzmodelle von Kritik und lassen eine Metaphysik außerordentlicher Freiheitsmomente oder des Ausbruchs aus Machtverhältnissen nicht zu. Allerdings ist nun nicht mehr von einem Kausalnexus oder überhaupt von gegenständlichen Ordnungen oder Sozialbeziehungen die Rede. Es interessieren vielmehr solche vorgelagerten Modi, denen zufolge Gegenstände oder Beziehungen als notwendig, gewichtig, veränderbar etc. firmieren – oder eben nicht. Brisant erscheinen zum einen die Schwellenwerte der Form »Wirklichkeit« mit ihrer Grenze des »real« Unmöglichen, zum anderen jene Bahnen, in welchen Hinnahmebereitschaft, aber auch Engagement, Glauben, Vertrauen ihren alltagsweltlichen Rahmen finden – im Fall der Philosophie ist dies das fragile europäische Konstrukt einer (epistemischen, wissenschaftlichen) »Wahrheit« aus persönlich-authentischer, mindestens ebenso aber auch verallgemeinerbarer »Vernunft«, mittels derer sich beispielsweise die Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft, aber auch deren Humanität und Güte sowie politische Wünschbarkeit »wirklich« grundlegen ließe. Philosophische Kritik hätte hier zwar Erfindungen zu tätigen, aber eben – mit Macht gegen Macht – solche, die sich weniger durch das Pathos ihres Vollzugs auszeichnen als (erst) durch das Gewicht ihrer Effekte. Im Anschluss an 23

»Chance« hier frei nach Weber, der ja ebenfalls Machtverhältnisse als Spiel von »Chancen« jenseits einer spieltheoretischen Nullsummenlogik ansetzt. 24 Art. Ursache IV. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie 11. Basel 2001, Sp. 399–402.

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Hegel hatte im neunzehnten Jahrhundert die Programmformel hierfür »Verwirklichung« gelautet: Kritik sollte nicht allein in der Welt, sondern »an« Welt etwas verändern (zugunsten einer revolutionierten, »künftigen« und also bis dato tatsächlich noch irrealen Weltform). Die Macht der Kritik wäre so gerade nicht lediglich eine sich selbst im Sinne eines Ausstiegs aus Vermachtung minimierende Macht, sondern gleichsam in einem gesteigerten Sinne Macht: eine Überbietungsleistung, welche »radikaler« eingreift als alle lediglich »realen« Zwänge.25 Der Heroismus revolutionärer Kritik, die eine neue Welt (womöglich eigenhändig) »verwirklichen« möchte, und zwar durch die Werkzeuge eines philosophisch gleichsam geadelten Kriegshandwerks, ist kurzschlüssig, aus modaler Perspektive liegt das auf der Hand: In der Hoffnung, mit den Herrschaftsverhältnissen werde man auch die »Realitäten« ändern, setzt man physische Gewalt ein, wo es um Effekte gegangen wäre, die allenfalls auf der Ebene einer Ökonomie der Macht zu induzieren gewesen wären. Gewalt aber affirmiert realen Zwang, anstatt die Realität des Realen zu unterminieren. Die Ebene der Bedingungen gegebener Strukturen und (machthaltiger) Normalitäten wird verfehlt. Würde es nicht vielmehr für Transformationen sorgen, die gegebene Ordnung in ihren Möglichkeiten in einer diese Möglichkeiten – zugunsten von Unmöglichem – übererfüllenden Weise zu verändern? Dieser Leitfrage folgen die weniger revolutionären als in einem »ästhetischen« Sinne existenziellen Ideale philosophischer Kritik,26 solche Kritikformen also, die (wie in extremer Form etwa Nietzsche im Zeichen des »Werths«)27 den Status des Seins als überhaupt nur ontologisch stabiler Notwendigkeit hinterfragen. Ob Immanenz der Macht hier eher eine affirmative Widerständigkeit meint, wie sie Werke (und Künstler?) des (modernen) Kunstsystems den »realen« Normalitäten entgegensetzen, oder ob etwa akademischen oder vielleicht auch öffentlichen 25

Bekanntlich sieht Marx an diesem Punkt allerdings dann gerade nicht mehr die Philosophie oder überhaupt das begriffliche Denken am Zug, sondern materialistische Analysen und Waffen im materiellen Sinn – was dann bestimmte Dimensionen der paradoxen Oppositionslage der Kritik (etwa die Infragestellung der Realität von »Natur«) auch gleich wieder kassiert. 26 Die Bezeichnung »ästhetisch« – etwa für die Kritikstrategien Nietzsches, Kierkegaards und anderer – ist sicher ungenau und auch unfair, sofern so charakterisierte Kritikstrategien eben keineswegs auf Intervention verzichten; sie operieren nur eben, was Effekte angeht, ich würde sagen: eher modal. 27 »Der Gesichtspunkt des ›Werths‹ ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf complexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens.« Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889, 2. Teil: November 1887–März 1888. In: Kritische Studienausgabe 13. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1980, S. 36 (Fragment 11 [73]).

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Interventionen mehr »wahres« Veränderungspotenzial zuzusprechen wäre, ist eine nicht ohne weiteres zu beantwortende, weil historisch gesehen »epochale«, durch und durch politische Frage. Tatsächlich spricht auch Foucault, der »Macht« modaltheoretisch als Gesamtlage definiert,28 von der Kritik als einer »Kunst«, was aber wohl eher in einem generellen Wortsinn heißen soll: einer Technik, sich einer realen Form des Regiertwerdens entgegenzustellen.29 Und die Philosophie hat für ihn hier – ob exklusiv oder nicht, bleibt offen – ihren Ort. In seinem Spätwerk hat Foucault dieses zuvor allenfalls in Interviews und jeweils nur kurz gestreifte Thema breit entfaltet. Mittels einer Analyse der in antiken griechischen Quellen variierten Figur des »Parrhesiasten« entwirft er das historisch frühe Schema eines möglichen Verwirklichens philosophischpolitischer Performanz: Jemand, kein Redner, sondern ein spontan das Wort ergreifender Sprecher, exponiert sich öffentlich – um den Preis potenzieller Lebensgefahr. Er äußert sich formlos, ohne rhetorisches Korsett, der normalen Wirkungsgarantien für Gesagtes also sich entschlagend, »ohnmächtig« provokativ – aber im (seltenen) Gelingensfall stellt sich nicht nur dennoch, sondern auch gerade deshalb ein Verstandenwerden ein. Aus machtanalytischer Sicht interessieren hier nicht Personen (deren Charisma oder deren Ethos), sondern Foucault deutet die parrhesiastische Konstellation als Muster, etwas im Situationszusammenhang Neues als authentisch »wahr« zu exponieren: Obzwar – so – eigentlich unerhört, wird ein Gesagtes (oder eigentlich: ein Sagen) ausnahmsweise als »wahr« (auch: weil »wahrhaftig«) anerkannt.30 Die Parrhesia wäre die vielleicht historisch früheste Form jener schon erwähnten »Veridiktion«. Als Urszene einer nach dem platonischen Sokrates dann tatsächlich auch »philosophisch« sich nennenden Kritik bleibt die parrhesiastische Rede auf die typischerweise mündliche, bürgerlich-öffentliche oder aber halbprivate Argumentationskultur der Antike zugeschnitten. Gleichwohl sieht Foucault hier eine Art lose Erbfolge: Auch andere Epochen werden Formen der Veridiktion kultivieren – in der Tradition jener 28

»Allgegenwart der Macht: […] weil sie sich in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeugt. […] [D]ie Macht ist nicht eine Institution, nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.« Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 114. 29 Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 12 ff. 30 Vgl. Foucault: Der Mut zur Wahrheit, S. 22 ff. Zu beschreiben wäre demnach neben (fertigen) Systemen wahren Wissens auch die »Veridiktion«: »Die Gliederung zwischen den Veridiktionsmodi, den Techniken der Gouvernementalität und der Selbstpraktiken ist im Grunde das, was ich immer zu beschreiben versucht habe.« (S. 23) Man beachte, wie hier im Grunde dreimal »Techniken« in eine letztinstanzliche Rolle einrücken. Gerade der späte Foucault denkt Technik als »die« Manifestationsform von Macht.

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spezifisch gebrochenen Nähe zum jeweiligen politischen Raum, für die die sokratische Provokation das Vorbild bleibt. Die Ohnmacht der Rede führt sich selbst ins Feld: indirekt subversiv, zugunsten einer fortan »lehrbaren« Intellektualität. Neben den antiken Kynikern, welche das parrhesiastische Wort bis zum brüsken Schweigen steigern,31 den frühneuzeitlichen Fürstenberatern, welche den Gedanken des politische Gewalt filternden Staats erfinden, und neben romantisch-revolutionären Veridiktionsgesten ist für Foucault paradigmatisch nicht zuletzt Kant. Weniger dessen Kritikbegriff als das kantische Postulat des Ausgangs aus selbstverschuldeter Unmündigkeit interpretiert Foucault als politisch-kritisch (wie zugleich auch, prospektiv jedenfalls, konstruktiv): Kant gelingt es, die Frage eines privaten politischen Gehorsams abzutrennen von derjenigen des dafür erstmals wirklich freien bürgerlichen Nachdenkens: eines öffentlichen, im Zeichen der Vernunftwahrheit universellen Verstandesgebrauchs. Und er bringt wohl auch ein zukunftsweisendes politisch-liberales Kalkül auf den Weg: dasjenige des aus Freiheit künftig womöglich wachsenden privaten Gehorsams.32 Foucault wird im Folgenden auch noch einmal als Methodiker der Machtanalyse interessant sein. Halten wir zunächst aber fest, dass er einer der sehr wenigen Theoretiker ist, die ein modales Machtkonzept auf das Problem der Kritik ausdrücklich anwenden. Niklas Luhmann hingegen setzt zwar ebenfalls modaltheoretisch an, bleibt aber in der Frage nach der Eigenart philosophischer Kritik oder überhaupt »kritischen« Spielräumen kühl. Luhmann nennt Macht ein (codiertes!) »Medium«, das »die Relationierbarkeit von Relationen« gewährleistet, in konkreten Situationen als »Möglichkeit« erscheint und damit dann »Modalisierung kommunikativer Interaktionen« nach sich zieht beziehungsweise nach sich ziehen kann.33 Auch bei Luhmann setzt Macht Freiheit nicht als irgendetwas der Macht Externes voraus, sondern Macht gewinnt sie, wenn überhaupt, dann aus sich heraus – und dies eben nur im kontingenten Gelingensfall sowie ineins mit einer gewissermaßen »emergenten« Änderung 31

Andreas Gelhard vermerkt zu Recht, dass in Foucaults Behandlung antiker Kritikfiguren die Skepsis fehlt – was dieser nicht gerecht wird, vgl. Gelhard, Andreas: Zwischen Skeptizismus und Kynismus. Prüfen und Bewährung bei Hegel und Foucault. In: Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit. Hg. v. Petra Gehring u. Andreas Gelhard. Berlin, Zürich 2012, S. 161–185. 32 Vgl. Foucault: Die Regierung des Selbst und der Anderen, S. 59 ff. Den zuletzt genannten Aspekt erörtert Foucault auf S. 61: »Je mehr Freiheit man dem Denken lassen wird, umso sicherer kann man sein, dass der Geist des Volkes zum Gehorsam gebildet wird.« 33 Macht ist damit auch für die Soziologie niemandes Fähigkeit oder Eigenschaft und überhaupt nichts Empirisches oder anderswie erlebbar. Vgl. Luhmann, Niklas: Macht. Stuttgart 21988, S. 15 f. (zum Kommunikationscharakter) sowie 23 f. (zur Modalisierung).

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eines gegebenen Stücks Welt. Den Kritikbegriff nutzt Luhmann kaum; die Vorstellung, »die Kompetenz zur Kritik« sei gebunden »an die Fähigkeit, selbst Wahrheiten vorzuschlagen«, ordnet er vormodernen Zeiten zu. Für moderne Wissenschaft sei es demgegenüber typisch, dass man »eine Phase der Selbstkritik« durchlaufe, bevor man einen »Wahrheitsvorschlag« äußere, »oder anders gesagt: dass die Kommunikation sich an Rezeptionserwartungen kontrolliert«.34 Zur Verortung eigener kritisch-machtvoller Gesten nimmt Luhmann auch das Attribut »philosophisch« nicht in Anspruch. Stattdessen läuft der Leser auf eine auf mehrere Ordnungsebenen sich aufteilende Perspektive und eine iterierte Beobachtermetaphorik auf.35 Darüber hinaus trägt das Vorgehen pauschal den Namen Soziologie. Es bleibt also ein Szientismus und eine Leerstelle, die Luhmann eher einrahmt als begrifflich fasst. Auch für modale Machttheorien bleibt Kritik letztlich paradox. Allerdings faszinieren eben weniger ihre Kraft, ihr Ursprung, ihre Transzendenz und Unmöglichkeit als ihre durch und durch innerweltliche, die Machtfelder im Vorhandenen sogar besonders intensiv durchdringende List. Was über das Reale hinausführt, sind konstellativ angereicherte Möglichkeiten mitsamt dem politischen wie auch existenziellen Weltzuwachs, den sie – zugunsten von Dispositionsräumen von morgen – verkörpern können. Die Aufklärung sprach hier von »Vernunft«, in der Antike wie auch zu anderen Zeiten blieb man vorsichtiger und sagte »Idee« (oder auch »Wahn«), und die Titel »Philosophie« oder auch »Theorie« sind mit dem, was Foucault »Veridiktion« nennt, in der europäischen Wissenstradition eng, wenn auch nicht exklusiv verbunden. Um Verkopftes geht es nicht. Um Wissenschaft allein auch nicht. Sondern es wäre von Praxen des Denkens zu reden – von »Arbeit« des Begriffs etwa, oder eben vom Kanon: von paradigmatischen Aussagen: Stimmen, Texten, Werken.

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Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 31998, S. 347 f. 35 Beobachter beobachten nach Luhmann Beobachter und sind so Beobachter »zweiter« bzw. (beobachten sie die so bezeichnete Relation, wie der Systemtheoretiker, der darüber schreibt) auch »dritter« Ordnung; zu diesem selbstironischen Modell vgl. Luhmann, Niklas: Stenographie und Euryalistik. In: Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien? Hg. v. Niklas Luhmann, Humberto Maturana et al. München 1990, S. 119–137.

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3. Machtanalytik als Realitätskritik »Der philosophische Diskurs bezieht die Garantie, dass er nicht bloß logos, dass er nicht bloß geträumte Rede ist, sondern in der Tat die Hand am ergon hat, aus der politischen Wirklichkeit, aus dem, was die Wirklichkeit selbst ausmacht.«36

Mit dem dritten Punkt komme ich auf das Problem von Kritik als – wobei sogleich noch einmal gesagt sei: nicht machtneutralem – Teilaspekt oder auch Ziel und Effekt philosophischer Methodik. Denn Philosophie ist nicht nur eine sich zuweilen um ihre Unterscheidbarkeit von der geträumten Rede sorgende Haltung oder ein Fach, sondern eine wissenschaftliche Disziplin im Gefüge anderer Disziplinen ist sie auch, und die Sache namens Kritik gehört grundlegend zum philosophischen Methodenrepertoire – in welchem Maße mag umstritten sein, denn es gibt szientifische oder experimentelle (bis hin zu künstlerischen) Philosophieideale, aber dieser Frage gehe ich hier nicht nach. Der Kanon belegt, was Formen der philosophischen Kritik angeht, auf der einen Seite große Konstanz. So hat die agonale Dialektik des Sokrates über Jahrtausende hinweg für unser Fach eine ähnliche Funktion wie die euklidische Geometrie für die Mathematik, und zahlreiche weitere, später hinzukommende Elemente einer gedanklich kühnen Gestensprache, die rhetorische Züge hat, aber in diesen nicht aufgeht, gehören zum Grundbestand des Philosophierens hinzu. Andererseits haben sich aber nicht nur Kritikprogramme gewandelt, sondern gerade auch die impliziten philosophischen Kritikformen sind in hohem Maße Teil ihrer jeweiligen Zeit. Dem Gewagten sieht man seine Verstricktheit an – ob im betonten Minimalismus der pyrrhonischen Skepsis, ob im antimetaphysischen Furor Rousseaus oder im Zerglühen von Materialismus und Psychoanalyse bei Deleuze und Guattari. Einerseits glänzen Kritikgesten wie zeitlos aus sich heraus, andererseits hat spätestens im Rückblick keine Wahrheit ein zeittypischeres Gesicht als diejenige, die unorthodox über eine gegebene normalwissenschaftliche Lage (einschließlich bereits klassisch gewordener) Kritikstile hinausgreift. Es handelt sich um Operationen mit »wirklicher« Signifikanz. Das berührt Diskursgrenzen. Wirkungsvolles etabliert sich freilich, bleibt kanonisch, und mischen darf es sich auch. So kennt die Theoriegeschichte eine Fülle jeweils hoch präziser, aber eben in der Variation lebendiger Kritikformen. Pfeilsichere Dialektik mit Humor und Frivolität, diskret gegeneinander ausgespielte Autoritätsbeweise, poetische Analogien, virtuose Nutzung des mos geometricus, gründliche und doch unterschwellig maliziöse Prosa, romantische Ironie, »kritische Kritik« und politisierende Pamphlete – sowie eine ganze Forensik logischer Defizienz und 36

Foucault: Regierung des Selbst und der anderen, S. 355.

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die damit verbundene Kritikstrategie des Aufweises von Unwissenschaftlichkeit. Machtanalytiken, die nicht empirische oder normative Situationen oder Szenen adressieren, sondern Formen freilegen, denen sich letztlich ganze Realitätslagen verdanken, laufen auf weit ausgreifende Untersuchungen und im Wesentlichen deskriptive Anstrengungen hinaus: Bei Foucault, der eine Vielzahl materialgesättigter historischer Studien vorgelegt hat, ist dies ebenso der Fall wie bei Luhmann, der mehrere Serien systematisch ineinander greifender Untersuchungen zu sozialen Subsystemen (Wirtschaft der Gesellschaft, Wissenschaft der Gesellschaft, Kunst der Gesellschaft etc.), zu sogenannten »Medien« generalisierter Kommunikation (unter anderem Macht) sowie zur Soziologischen Aufklärung und zur Begriffsgeschichte (Gesellschaftsstruktur und Semantik) geschrieben hat. Foucault wie Luhmann pflegen einen sich von romantisch-revolutionärer Kritik, von methodisch ungeschützter Selbstexposition, von parrhesiastischen Gesten deutlich absetzenden Forschungsstil. Beide halten den »philosophischen« Diskurs auf Abstand, beide betonen, ihre Arbeiten folgten einer empirischen beziehungsweise sogar »positivistischen« Intention.37 Dennoch fungiert, mit dieser Überlegung möchte ich schließen, auch die modale Machtanalyse im philosophisch radikalisierten Sinne als eine auf »Wahres« ausgehende Kritik. Indem sie nicht nur Abhängigkeiten, Hierarchien, Herrschaftsgefälle aufzeigt, und indem sie auch nicht lediglich »die Verhältnisse«, »die eigene Zeit« oder »Gegenwart« fraglich macht, sondern tatsächlich das Prinzip »Realität«, verfremdet sie die gegebenen Diskurse sogar in fundamentaler Weise. Erstmals vielleicht sogar steht Wirklichkeit (stehen die schon erwähnten Wirklichkeitswerte eines Unmöglichen) ausdrücklich gegen Realität im Ganzen. So wird im Modalparadigma Machtanalytik im Wortsinn zur Realitätskritik. Philosophische Kritik kann sich gegen die unbegründete bloße Meinung wenden, gegen gedankliche Willkür, gegen Dummheit und falsche Dogmen, gegen fehlende Distanz zur eigenen Erfahrung, Geschichte, Sprache, gegen Unfreiheit oder gegen Borniertheit gegenüber selbst ausgeübter Gewalt. Gegen falsche Hierarchien und Herrschaft wendet sie sich fast immer – meist als Wissenschaft und also im Zeichen einer »vernünftig« zu verbessernden Welt. Seit dem neunzehnten Jahrhundert lebt die philosophisch-politische Auseinandersetzung von Kritikstrategien, die – etwa im Zeichen der Selbstreflexion des Denkens als gesellschaftlicher Praxis – auch die Wissenschaft und ihre Methoden als historisch bloß gewordene Instanz kritisch durchleuchten. »Vernunft« 37

Bekannt ist Foucaults Äußerung, er sei sofort damit einverstanden, sich als »Positivisten« bezeichnen zu lassen, er sei dann ein »glücklicher Positivist«; vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 1973, S. 182.

Macht und Kritik. Über Machtanalyse als Kritikform

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wurde im Zeichen der »Interessen« oder der »Ideologien« historisiert. Seither ist der machtkritische Anspruch auf neue Weise integraler Bestandteil denkender Texte geworden – steht aber auch unter besonderem Druck, selbst keinen unterkomplexen Machtbegriff (und sei es ungewollt) zu verwenden. Kritik sollte in der gezeigten Weise nicht (ähnlich der bloßen »Falschheit« eines Wahren) lediglich falsche Realitäten entlarven wollen oder das paradoxe Bild einer irrealen »machtfreien« (oder auch nur herrschaftsfreien) »anderen« Welt aufblitzen lassen – ob im Sinne von Dissidenz, Ekstase, Utopie oder eschatalogisch, als Versprechen (zum Beispiel von Demokratie).38 Auf der Linie von Machttheorien des dritten Typs, also Modalkonzepten der Macht, rücken vielmehr Kritikformen in den Blick, welche nicht bloß der eigenen Zeit oder Gegenwart, sondern auch der Notwendigkeitsform des Realen die bedingungsund alternativlose Gefolgschaft zugunsten veränderter Wirklichkeiten versagt. Zu den methodologischen Konsequenzen noch wenige Sätze. Sie führen mich ein letztes Mal zurück auf das Beispiel der Arbeiten Foucaults. Wie bereits angedeutet, wählt Foucault bemerkenswerter Weise nicht Hegel, sondern Kant als Gewährsmann für den Anspruch moderner Kritik, den Ort des eigenen Denkens im Text so zu organisieren, dass Selbstreflexion auch praktisch wirksam zu werden vermag – hier konkret: in Gestalt jenes weitreichenden, im Grunde unerhörten Anspruchs des öffentlichen Vernunftgebrauchs, der die diskursiven Realitäten der Zeit nachhaltig verändert. In Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? bestimmt Kant auch explizit die Gegenwart als etwas, von dem man sich zu befreien vermag und befreit. In Foucaults Lesart lassen sich im Anschluss daran zwei kritische Verfahren oder Wege entwerfen: zum einen die transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit wahren Wissens, kurz: das Programm einer geschichts- und auch machtenthobenen »Analytik der Wahrheit«.39 Und dann wäre da die »andere kritische Tradition«, die eher kleinteilig fragt: »Was ist die Gegenwart? Was ist das gegenwärtige Feld unserer Erlebnisse? Was ist das gegenwärtige Feld möglicher Erlebnisse?«40 Nach Foucault handelt es sich bei dem zweiten Weg um »etwas, das man eine Ontologie der Gegenwart nennen könnte, eine Ontologie der Aktualität…«.41 Dass es hierbei nicht in einem naiv-realistischen Sinn um – etwa sozialwissenschaftliche – Empirie gehen kann, versteht sich von selbst. Als scharfer Kritiker der im neunzehnten Jahrhundert entstehenden »Humanwissenschaften« hat Foucault vielmehr gerade zeigen wollen, dass 38

Vgl. zur utopieartigen Figur des politisch »Versprochenen«, das »im Kommen« bleibt, Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt am Main 1992, S. 57. 39 Foucault: Die Regierung des Selbst und der Anderen, S. 39. 40 Ebd., S. 39. 41 Ebd.

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die erfahrungswissenschaftliche Wende um 1800 letztlich weitgehend philosophiefreien politischen Theorien entgegenkam.42 Wie also sähe die »kritische« Analytik der Macht aus, die allein aus den so-und-nicht-anders gegebenen Realitäten herausliest, wie diese ihren zeitund situationstypischen Notwendigkeitscharakter gewinnen – und zwar eben: letztlich durch Macht geformt? Die modale Fragestellung nach den Bedingungen der Unmöglichkeiten der eigenen Zeit wie den Wirklichkeitsspielräumen der eigenen Gegenwart (mögliche kritische Operationen einschließlich) hätte hier gewissermaßen den Charakter einer doppelt reflexiven Arbeit: Sie rückt die Macht ins Feld einer durchaus transzendental zu nennenden Analyseperspektive hinein – bleibt aber auch eine Art von kritischer Phänomenologie. Man kennt die Foucault’sche Lösung – es ist das Ja zur geschichtswissenschaftlichen, vor allem zur diskursgeschichtlichen Mikrologie bei gleichzeitigem Umweg über das historische Apriori, das sich aus dem Abstand der Archivarbeit ergibt. Der historische Vergleich wendet sich vergangenen Epochen zu, gräbt aber in Sachen Realität unter den eigenen Füßen. Was dann hervortreten kann, ist der Wahnsinn als abgeschattete Kehrseite von Unvernunft und Medikalisierung, ist das Kranksein in seinen gewesenen Wirklichkeiten abseits der Klinik, ist das Verbrechen an den Rändern der Delinquenz, sind Existenzweisen diesseits von bioökonomischem »Leben«. Die Analyse entlarvt nicht mittels des Schemas Schein/Sein, sie behauptet nichts »Eigentliches«, und sie verweigert auch Transzendenz. Sie schildert lediglich andere Welten, in welche hinein sich das allzu Vertraute aufhebt. Im Kontrast liegt der realitätskritische und damit machtbezogene Effekt. Foucaults Rede von der »Ontologie« der Machtverhältnisse der eigenen Zeit mag philosophisch nicht sehr glücklich sein, zeigt aber den aufs Ganze gehenden, realitätskritischen Anspruch an. Auch die machtsensitive, ebenfalls historisch-kontrastiv argumentierende Gesellschaftstheorie Luhmanns ließe sich auf einer ähnlichen Linie als »kritische« (nämlich auf die Totalität von Realität abzielende) Machtanalytik deuten. Was hier als Methode oder besser »Verfahren« namhaft zu machen wäre, ist eine offene Frage. Schon die Unterschiede der beiden Beispiele zeigen: Rezeptwissen lässt sich nicht einfach anführen, begrifflich geschärfte Auskünfte klingen formal. »Möglichkeitsräume werden in andere Möglichkeitsräume transformiert«, würde Kurt Röttgers sagen,43 Luhmann würde auf das seinerseits machtvolle »Setzen« neuer Unterscheidungen verweisen, auf dem wissenschaftliche Irritationen beruhen, und Foucault würde raunen von einer »Tech-

42

Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge. Diese Wendung entnehme ich Röttgers, Kurt: Eine modaltheoretische Interpretation von Allmacht. Unveröffentlichtes Manuskript 2014. 43

Macht und Kritik. Über Machtanalyse als Kritikform

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nik der Macht« oder vielleicht auch von der Unvermeidlichkeit einer gewissen Selbstexposition in der philosophischen Rede. Macht, Wissen und philosophische Kritik gehören jedenfalls aufs engste zusammen – das streitet keiner der Autoren ab. Eben darum setzen machtanalytische Kritikverfahren allein darauf, wechselseitige Immanenzen auszuleuchten: dies dann aber möglichst umfassend und zugleich auch möglichst konkret. Eben daher muss man anfügen, dass der machtanalytische Kritiktyp Mühe macht. Eben weil er sich nicht außerhalb dessen bewegt, wovon er redet, nimmt er die volle Last einer Wissenschaftlichkeit auf sich, deren Realitäten er zugleich – wirklich – gewillt ist, zu hinterfragen.

Clemens Albrecht

Sinnspezialisten der Verbindlichkeit. Legitimation und Kontrolle durch Intellektuelle

Kritik wird überschätzt – zumindest dort, wo Intellektuelle auf Macht reflektieren. Denn Kritik als Methode zur Freisetzung von überlieferten Sinnfiguren und Sozialstrukturen ist nur die Vorarbeit für die Etablierung neuer Formen, die wahrer oder gerechter sein sollen als die alten. Und überall dort, wo bereits Ansätze des Richtigen zu finden sind, gehören diese gepflegt und überwacht – durch Intellektuelle. Zudem richtet sich Kritik nicht nur gegen Machthaber, sondern auch gegen abweichende Gesinnungen, nicht selten im Dienste von Machthabern.1 Kritik ist somit eine Methode der Freisetzung wie der Bindung, und Intellektuelle haben neben der Aufklärung eine zweite zentrale Funktion: Legitimation und Kontrolle; Legitimation erzeugt die Verbindlichkeit von Sinn, Kontrolle die von Handeln. Man kann an dieser Polarität von Freisetzung und Verbindlichkeit eine Kartierung der ideellen und politischen Positionen von Intellektuellen vornehmen.2 Herbert Marcuse etwa, die Verkörperung der revolutionären Protestbewegungen zwischen 1918 und 1968, überdehnt als Virtuose der Negation die Kritik ins Anthropologische, wenn er den Protest gegen den Tod als einzig richtige Haltung ihm gegenüber propagiert, da jeder Trost schon eine Affirmation an das schlechte Bestehende sei.3 Und Sergei Tretjakow, ein Virtuose der Affirmation, hielt der Partei und ihrer Wahrheit gegen eigene und fremde vitale Interessen die Treue – Verbindlichkeit durch Kritik und Selbstkritik bis in den Gulag und den Tod.4 1

Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Intellektuellen und die Macht. Hg. v. Irene Dölling. Hamburg 1991; Lepsius, M. Rainer: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 75–91. 2 Vgl. dazu nach anderen Maßstäben: Michels, Robert: Historisch-kritische Untersuchungen zum politischen Verhalten der Intellektuellen. In: ders.: Masse, Führer, Intellektuelle. Politisch-soziologische Aufsätze 1906–1933. Frankfurt am Main, New York 1987, S. 189–213. 3 Marcuse, Herbert: Die Ideologie des Todes. In: Der Tod in der Moderne. Hg. v. Hans Ebeling. Königstein/Taunus 1979, S. 106–115; vgl. zu den Gegenpositionen innerhalb der Kritischen Theorie auch Albrecht, Clemens: Marcuse, Horkheimer und der Tod oder: Ist die »Kritische Theorie« eine Weltanschauung? In: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1995 (1999), S. 173–190. 4 Vgl. dazu Riegel, Klaus-Georg: Kaderbiographien in marxistisch-leninistischen

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Wenn man Funktion und Bedeutung von Intellektuellen in der modernen Welt verstehen möchte, muss kultursoziologisch die Sektoralität zwischen Politik und Kultur aufgebrochen, die Struktur des Politischen in den Sinnformen und die Ideen in den Machtformen identifiziert werden. Nicht die »Beziehung« an sich politikferner Intellektueller zur Herrschaft und umgekehrt ist das Problem, sondern die Frage, welche spezifischen Formen von Macht Intellektuelle in den einzelnen gesellschaftlichen Formationen ausüben.

Autorität, Macht, Herrschaft Eine Grundlage für diese Überlegungen liefern die klassischen begrifflichen Unterscheidungen: • Autorität meint die Tatsache, dass einer Person (Gruppe, Institution) in irgendeiner Hinsicht von anderen eine Überlegenheit zugesprochen wird. Autorität ist ein Zuschreibungsphänomen. • Macht »bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«.5 • »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.«6 Insofern schränkt Herrschaft Macht ein, stellt eine regelgebundene Anwendungsform von Macht dar. Auf der Grundlage dieser Definitionen wird deutlich, warum Intellektuelle als Intellektuelle keine Herrschaft ausüben, sofern man diese Bezeichnung rollentheoretisch deutet.7 Wenn sie trotzdem die Chance haben, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden, dann liegt das an der Tatsache, dass sie eine andere Rolle ausführen: als Minister, als Chefin einer Redaktion, als Lehrerin, als Professor gegenüber seinen Mitarbeitern, als Vater von Kindern. Anders steht es mit der Autorität: Intellektuellen wird meist eine spezifische Überlegenheit zugesprochen. Sie verfügen über ein höheres Wissen als die AllVirtuosengemeinschaften. In: Leviathan 22 (1994), S. 17–46; und zur Funktion von Kritik und Selbstkritik Riegel, Klaus-Georg: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus. Graz, Wien, Köln 1985; generalisierend: Courtois, Stéphane: Warum? In: ders.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. München, Zürich 1998, S. 793–825. 5 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 51980, S. 28. 6 Ebd., S. 28. 7 Vgl. als Überblick Bluhm, Harald/Reese-Schäfer, Walter (Hg.): Die Intellektuellen und der Weltlauf. Schöpfer und Missionare politischer Ideen in den USA, Asien und Europa nach 1945. Baden-Baden 2006; Gilcher-Holtey, Ingrid: Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen. Weilerswist 2007.

Sinnspezialisten der Verbindlichkeit

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gemeinheit, aus dem sich ein stärkeres Differenzierungs- und Urteilsvermögen ergibt, das sprachlich seinen Ausdruck findet und auf jene Art von Gefolgschaft hoffen darf, wie sie die Eloquenz und die Logik (in dieser Reihenfolge) erzeugen. Autorität ist außerdem ein Gruppenphänomen. Sie basiert auf dem Autoritätsglauben, und der verstärkt sich durch den Glauben anderer und die gruppeninternen Interaktionsprozesse. Insofern steht – eine strukturelle Affinität zur Herrschaft – dem Intellektuellen keine komplementäre Einzelrolle gegenüber wie dem Arzt der Patient, dem Richter der Angeklagte, sondern eine Gruppe: das Publikum, an das sich die Botschaften des Intellektuellen richtet und das umgekehrt seine Autorität anerkennt.8 Die Anerkennung von Autorität ist zugleich auch immer die Anerkennung der Werte, die durch diese Autorität repräsentiert werden. Autorität erzeugt Verbindlichkeit, sie hat in der Transformation persönlicher Maximen und Wertsetzungen ihre traditionsbildende Kraft.9 Für Intellektuelle ist Autorität deshalb von entscheidender Bedeutung, weil sie ihre einzige Machtquelle ist. Durch den Autoritätsglauben haben Intellektuelle innerhalb einer sozialen Beziehung eine erhöhte Chance, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, und diese Chance beruht auf den Eigenschaften, die ihnen – nicht ohne Grund – von anderen zugesprochen werden. Letztlich handelt es sich um die Kraft zur Überzeugung anderer, aus der sich ihre Autorität speist – und folglich auch ihre Machtchancen. Wenn für die Philosophie ein Verweis auf »Vernunft« oder »Logik« zur Begründung dieser Autorität ausreichen mag, so ergibt sich aus der Perspektive von philosophischer Anthropologie und symbolischem Interaktionismus eine weitere Ebene, die es erlaubt, Intellektuelle als einen spezifischen historischen Typus von Sinnspezialisten einzugrenzen. Sprache und Handlung gelten uns seit Arnold Gehlen10 als ein Gesamtkomplex, weil sich Handeln (im Gegensatz zum Verhalten, das auf bloßer Nachahmung beruhen kann) intentional reproduziert und damit von den Vorgaben durch Reize abkoppelt: Handeln beruht auf subjektiv gemeintem Sinn. Dieser Sinn ist kommunizierbar auch ohne Handlung, wir haben also im Handlungssystem bereits ein Schisma angelegt, das den Sinn vom Tun trennt und ihn in Sprache objektiviert. Die sprachliche Objektivation kann die Situation 8

Vgl. Hübinger, Gangolf: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte. Göttingen 2006. 9 Vgl. dazu ausführlich die Analysen von Sofsky, Wolfgang/Paris, Rainer: Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition. Frankfurt am Main 1994, S. 22 ff. 10 Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiebelsheim 142009 [1940], bes. S. 46 ff.

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überspringen, sie bildet das Latenzpotential der Handlungen, womit sie unabhängig von der konkreten Lage auch eine Handlung evozieren lässt, die jenseits der sozial vorgegebenen Handlungslogik liegt – etwa die rechte Wange hinzuhalten, wenn einem auf die linke geschlagen wurde, und eben nicht davonzulaufen oder zurückzuschlagen. Sinn hat, überspitzt formuliert, einen Hang ins Ideologische, das Handlungssystem im Allgemeinen einen strukturellen Sinnüberschuss, in dem latente oder potentielle Handlungen gleichsam bevorratet werden, um als Optionskarten einsetzbar zu sein. Das macht Handlungswahl überhaupt erst möglich. Eine auf Sinnproduktion spezialisierte Rolle ist also schon im Handlungssystem selbst angelegt, sie ist anthropologisch gegeben. In diesem Sinne existieren Sinnspezialisten, solange es Menschen gibt. Sie deuten die Lage, in der sich die Gruppe befindet, und kommunizieren diese Deutung in einer Form, die sich andere zu eigen machen, um dann – mit welchen Konsensfiktionen auch immer11 – ihr Handeln sozial koordinieren, die Perspektive anderer übernehmen zu können. Der Intellektuelle ist eine spezifische historische Ausprägung des Sinnspezialisten.12 Die Sprachgebundenheit des Handelns erzeugt in Gruppen irgendeine Form von Sinnspezialisten, die dann als Geronten, Schamanen, Priester, Richter, Kleriker, Scholaren etc., und später dann als Experten und Intellektuelle eine vergleichbare Position in unterschiedlichen Gesellschaftsformen einnehmen. Die Funktion des Sinnspezialisten generiert Autorität und erlaubt ihm, diese in Macht zu transferieren, allerdings nur in spezifische Formen von Macht.

Formen der Macht Auf der Grundlage von Webers Herrschaftssoziologie hat Heinrich Popitz vier Formen von Macht unterschieden:13 • Aktionsmacht beruht auf der Tatsache, dass der Mensch verletzungsoffen ist. Aktionsmacht ist punktuell. Sie greift in das Hier und Jetzt einer Situation ein und zwingt dem anderen den eigenen Willen auf, etwa durch physische Gewalt. 11

Vgl. Hahn, Alois: Kontingenz und Kommunikation. In: Kontingenz, Poetik und Hermeneutik, Bd. XVII. Hg. v. Odo Marquard u. Gerhard von Graevenitz. München 1998, S. 493–521. 12 Vgl. Ebertz, Michael N./Schützeichel, Rainer (Hg.): Sinnstiftung als Beruf. Wiesbaden 2010. 13 Vgl. Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht. Tübingen 21992, S. 23 ff.

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• Instrumentelle Macht erzeugt den gewünschten Effekt nicht durch physischen Zwang, sondern durch die Handlungsgenerierung im anderen. Instrumentelle Macht arbeitet also mit Sinn und seiner Kommunikation als Mittel, etwa über die Definitionsmacht der Situation. Jede Erziehung arbeitet mit instrumenteller Macht, denn sie dispositioniert über Sinnmuster das Handeln dauerhaft, weil innerlich reproduzierbar als Werkzeug eines fremden Willens. • Autoritative Macht resultiert nicht aus dem Willen des Mächtigen, sondern aus der Orientierungsbedürftigkeit des Maßstabsbedürftigen. Sie ist wie Autorität ein Zuschreibungsphänomen und wird überall dort aktiviert, wo Menschen um Rat fragen. Noch stärker als bei der instrumentellen Macht wirkt autoritative Macht über ihren unmittelbaren Kontrollbereich hinaus, indem sie Gefolgschaft auch dort erzeugt, wo keine intendiert ist. Die Kommunikation – zudem, wenn medial gestützt – kann den Kreis der sozialen Beziehungen überschreiten. Ihr zentrales Mittel ist Anerkennung und die Drohung auf Anerkennungsentzug. • Datensetzende Macht entsteht, wo der Mensch als homo creator handelnd in die natürlichen Verhältnisse eingreift und sie verändert – auch als Ausgangslage für das Handeln anderer. Eine Grenze, ein Zaun, eine Zugangsberechtigung sind ihre Ausdrucksformen. Datensetzende Macht ist deshalb objektvermittelt, und muss über Popitz’ Beispielreihe hinausgehend heute durch die in Medien objektivierte Datensetzung auch von Sinnstrukturen ergänzt werden. Macht als soziales Phänomen muss wie die Funktion von Sinnspezialisten auf anthropologischer Ebene verankert werden. Popitz resümiert: »Wir leben eine verletzbare Existenz, angewiesen auf Artefakte, zukunftsbezogen und begründungsbedürftig in unserem Handeln. Daher müssen wir Macht erleiden.« »Die Wurzeln sozialer Macht liegen in der Entsprechung vitaler Abhängigkeiten und konstitutiver Handlungsfähigkeiten des Menschen. Vitale Abhängigkeiten: seine Verletzbarkeit, seine Sorge um die Zukunft, seine Maßstabs- und Anerkennungsbedürftigkeit, seine Angewiesenheit auf Artefakte. Konstitutive Handlungsfähigkeiten: die Fähigkeit zur verletzenden Aktion, die Fähigkeit, Angst und Hoffnungen zu erzeugen, die Fähigkeit, Maßstäbe zu setzen, die Fähigkeit zum technischen Handeln.«14

14

Ebd., S. 33.

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Machtform

vitale Abhängigkeit

konstitutive Fähigkeit

Aktionsmacht

Verletzbarkeit

verletzende Aktion

instrumentelle Macht

Sorge um die Zukunft

Angst und Hoffnung erzeugen

autoritative Macht

Anerkennungsbedürfnis

Maßstäbe setzen

datensetzende Macht

Angewiesensein auf Artefakte

technisches Handeln

Auf der Grundlage dieser Landkarte der Machtstrukturen sozialen Handelns können nun etwas genauer die Territorien abgegrenzt werden, auf denen Sinnspezialisten (darunter: Intellektuelle) aktiv sind: • Aktionsmacht wird von Sinnspezialisten nicht ausgeübt, sofern sie als Sinnspezialisten agieren. Wohl aber können sie zur Begründung von Aktionsmacht eingesetzt werden, denn: »Alle Macht strebt nach Legitimation.«15 Sobald dies geschieht, wird Aktionsmacht auch in dem sinnhaft reproduziert, der ihr unterliegt: Sinnspezialisten transformieren Aktionsmacht durch Produktion von Legitimitätsglauben in • instrumentelle Macht. Hier nun entfalten sich die spezifischen Fähigkeiten von Sinnspezialisten, ja sie werden selbst zu einem zentralen Träger der Macht, indem sie Situationen definieren (etwa durch Geisterkontakt, kosmologische Ordnungsschemata, Narrationen, die Erklärungen von Situationen tradieren und sie dadurch legitimieren) und damit anderen oktroyieren. Wo ihre Stellung durch Einbindung in einen Herrschaftsapparat – instrumentelle Macht, auf Dauer gestellt, transformiert sich in Herrschaft – institutionalisiert ist, erzeugen Sinnspezialisten schließlich • institutionalisierte autoritative Macht, das heißt, das Orientierungsbedürfnis der anderen richtet sich auf spezifische soziale Positionen, ohne dass diese von sich aus aktiv werden oder sich gar auf den exekutiven Apparat von Aktionsmacht stützen müssten (Orakel, Kirche, Wissenschaft). Dort aber, wo Sinnspezialisten in den Planungsvorgang der • datensetzenden Macht eingebunden sind (Aufbau von Tempelanlagen, generell: kosmologische Architektur, Ritualablauf im Wirtschaftsjahr, aber auch: Kommunikationsstruktur bei Facebook, Qualitätsmanagement etc.), werden die von ihnen produzierten Sinnstrukturen selbst in Artefakten objek15

Ebd., S. 66.

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tiviert und erhalten damit eine Tradierungsdauer jenseits mündlicher Kommunikation und konkreter Handlungssituationen. Mit Hilfe dieses Tableaus können nun unterschiedliche Typen von Sinnspezialisten mit dem Ziel herauspräpariert werden, sie im Kontext von spezifischen sozialen Struktur- und Kulturmustern durch ihre Machtformen zu charakterisieren. Ich folge dabei einem Schema, das sich in der Soziologie bewährt hat: der Unterscheidung zwischen Stammeskulturen, Hochkulturen und modernen Kulturen.16 Manche meinen: zwischen Gesellschaften segmentärer, stratifikatorischer und funktionaler Differenzierung; aber aus kultursoziologischer Perspektive ergibt sich erst auf der Ebene funktionaler Differenzierung so etwas wie »Gesellschaft« – und mit ihr »Intellektuelle«.

Sinnspezialisten in Stammeskulturen Niemand weiß, wie genau sich aus dem Verhalten der höheren Primaten allmählich ein sinngesteuertes und sprachvermitteltes Handlungssystem herausgebildet hat, trotz aller Einsichten der neuen Evolutionsforschung.17 Denn nur als Gesamtkomplex bietet das Handlungssystem Überlebensvorteile, alle vorstellbaren Zwischenstufen dagegen generieren Verhaltensunsicherheit. Jedenfalls kann man den entscheidenden Schritt als Übergang zwischen Aktionsmacht (die es auch in den Statushierarchien von Primaten gibt) zu instrumenteller Macht sehen, die sinngestützt ist. Deshalb ist die Fähigkeit zur Intentionalität das entscheidende Differenzmerkmal im Tier-Mensch-Übergangsfeld.18 Über instrumentelle Macht entsteht eine asymmetrische Beziehung, indem die sinngestützte Definition der Situation legitimiert und von einem Interaktionspartner auf den anderen übertragen wird. Stammeskulturen sind gekennzeichnet durch flache Hierarchien, schwache Häuptlingstümer, die sich permanent bewähren müssen, um anerkannt zu sein, und zwar in der überzeugenden Sinndeutung von Situationen, in den rhetorischen Fähigkeiten beim Palaver – und natürlich durch Aktionsmacht im Kampf. Entscheidend ist ein weiterer Aspekt: Handlungen sind nicht nur »nach vorne« motivierungs-, sondern auch »nach hinten« begründungsbedürftig. Diese Maßstabs- und Anerkennungsbedürftigkeit aber führt auf die für

16

Vgl. dazu noch differenzierungstheoretisch, deshalb gesellschaftlich begründet: Tenbruck, Friedrich H.: Geschichte und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft, Bd. 14. Berlin 1986, S. 251 ff. 17 Vgl. etwa Hurford, James R.: The Origins of Language. A Slim Guide. Oxford 2014. 18 Tomasello, Michael: Warum wir kooperieren. Frankfurt am Main 2010.

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Stammeskulturen zentrale Machtform, die autoritative.19 Walter Burkert hat den Ursprung der Religion aus der Bewältigung des Tötungsschocks von Jägerkulturen abgeleitet: In den Augen des sterbenden Tieres erkennen sie ihre eigene Sterblichkeit, und die nachträgliche Bewältigung dieser Handlung bedarf der Sinndeutung im Mythos und der symbolisch-wiederholenden Wiedergutmachung im Ritual.20 Die Narrative, die in diesem Zusammenhang entstehen und die Zweckirrationalität und Liminalität der Rituale begründen, sind nicht gleich verteilt, sondern generieren Spezialisten, die sich alsbald zur Rolle der Ritualführer verdichten. Hier bilden sich die ersten Machtpotentiale von Sinnexperten aus, die sich dann in der Orakelpraxis als datensetzende Macht mit hochspezialisiertem Rollengefüge institutionalisieren.

Sinnspezialisten in Hochkulturen Historisch entwickeln sich Hochkulturen aus der Überschneidung und Verdichtung verschiedener Stammeskulturen in Wirtschafts- und Herrschaftsräumen. Damit entstehen Herrschaftsordnungen, steile Hierarchien der Machtausübung, bis hin zur Divination der Herrschaftsfiguren, und gleichzeitig ein Netz von Institutionen, die von Sinnspezialisten geleitet werden. Mit der sozialen Distanz des Herrschers entsteht ein großer Legitimationsbedarf instrumenteller Macht, der die Sinnspezialisten nun in eine direkte Beziehung zur Herrschaft setzt. Ihre zentrale Funktion ist es, das die Herrschaft begründende Ordnungsgefüge zu entwerfen, und da die Normen verschiedene Lebenswelten umgreifen müssen, löst sich ihre Begründung aus der exemplarischen Ursituation im Mythos und wird zum transzendent vorgegebenen Gebot abstrahiert. Gott tritt als Normgeber auf, Offenbarungsreligionen entstehen, immer im Zusammenhang mit Schriftkulturen, der neuen Qualifikationsstufe für Sinnspezialisten und neuen Quelle ihrer Autorität. Sie beginnen, das kommunikative Gedächtnis über das kulturelle zu kontrollieren: Die überlieferten heiligen Texte werden Maßstab für die Richtigkeit des Denkens, Sagens und Tuns. Dass dabei Normen verschiedenster Herkunft und Geltungsbereiche (Ethnien, Stände) in einem gemeinsamen Sinnsystem miteinander in Beziehung gebracht werden müssen, generiert den Rationalisierungszwang, den nun die Sinnspezialisten umsetzen. Im Ergebnis entstehen »sekundäre Religionen«,21 19

Vgl. Müller, Klaus E.: Die Siedlungsgemeinschaft. Grundriss der essentialistischen Ethnologie. Göttingen 2010, S. 132 ff. 20 Vgl. Burkert, Walter: Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten, Bd. 32. Berlin, New York 1972. 21 Wagner, Andreas: Primäre/sekundäre Religion und Bekenntnis-Religion als

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die parallel zum unbedingten Herrschaftsanspruch des Regenten einen Wahrheitsanspruch der göttlichen Gebote legitimieren. Jan Assmann hat in Umkehrung des berühmten Schmitt-Diktums22 an der Genese des Aton-Kultes in der Amarna-Zeit gezeigt, dass alle prägnanten theologischen Begriffe aus dem politischen Raum stammen.23 Diese zentrale legitimatorische Funktion, die sich zunächst an der Kritik des Mythos und der lokalen Kulte primärer Religionen übt, ist es jedenfalls, die Sinnspezialisten in Hochkulturen auf das Rationalisierungspotential von Theologien hinführt – ein Erbe, das die modernen Intellektuellen auch säkular weiter betreiben, sei es in der Anhänglichkeit an Geschichtsphilosophien (heute: Modernisierungstheorien) oder in der Erfindung politischer Religionen.24 Zu erklären, warum ein bestimmtes Normengefüge, eine gegenwärtige oder künftige Herrschaftsordnung in irgendeiner Form mit dem Lauf der Welt übereinstimmt – das wird zu einer zentralen Aufgabe von Sinnspezialisten, heißen sie nun Moses, Mohammed, Voltaire, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx, Oswald Spengler, Ulrich Beck, Francis Fukuyama, Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann. Sie treten insofern das Erbe der Aton-Priester an, als sie über große Leiterzählungen neue Verbindlichkeiten erzeugen. Deshalb greift die moderne Intellektuellenkritik (von Intellektuellen) auf die Analogiebegriffe »clercs«25 (Julien Benda) und »Priesterherrschaft«26 (Helmut Schelsky) zurück.

Thema der Religionsgeschichte. In: Primäre und sekundäre Religion als Kategorie der Religionsgeschichte des Alten Testaments. Hg. v. dems. Berlin, New York, S. 3–20. 22 »Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.« Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 82004 [1922], S. 43; vgl. Assmann, Jan: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. München 2000. 23 Prägnant zusammengefasst in Assmann, Jan: Monotheismus. In: Monotheismus. Jahrbuch Politische Theologie. Bd. 4. Hg. v. Jürgen Manemann. Münster 2002, S. 122–132; ausführlich ausgeführt in Assmann, Jan: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. München 2000, bes. S. 29. 24 Vgl. Voegelin, Eric: Die politischen Religionen. München 21996 [1938]; Rudolph, Kurt: Intellektuelle, Intellektuellenreligion und ihre Repräsentation in Gnosis und Manichäismus. In: Die Religion von Oberschichten. Hg. v. Peter Antes u. Donate Pahnke. Marburg 1989, S. 23–34. 25 Benda, Julien: Der Verrat der Intellektuellen. Frankfurt am Main 1983 [1927]. 26 Schelsky, Helmut: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. Opladen 21975; vgl. Aron, Raymond: Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung. Köln, Berlin 1957.

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Sinnspezialisten in der modernen Kultur Der Historiker Otto Brunner hat schon in den 1940er Jahren gefragt, inwiefern sich die zentralen Begriffe neuzeitlicher Wissenschaften historisch übertragen ließen. Sein Ergebnis: Der moderne Gesellschaftsbegriff setze die Trennung von Staat und Gesellschaft voraus, er impliziere die Möglichkeit eines nichtpolitischen Gemeinwesens, und die sei im Mittelalter nicht gegeben. Insofern kenne das Mittelalter keine Gesellschaft.27 In diesem ewigen Universalienstreit gibt es gute begriffsgeschichtliche Argumente, mit denen sich Brunners nominalistische Position stützen lässt. Untersucht man in den frühen Wörterbüchern ab dem 16. Jh. das Wortfeld society/société/societas/Gesellschaft, so stößt man auf drei Bedeutungen: 1. einen anthropologischen Begriff, der die reine Tatsache der Soziabilität des Menschen benennt (der Mensch lebt in Gesellschaft). Dieser Begriff kennt keinen Artikel und hat keinen Plural. 2. das alte Gegenstandsfeld des Staats- und Naturrechts, »societas civilis« etc. Es benennt in antiker Tradition (polis, res publica) die Einheit von politischem und sozialem Verband. 3. einen partikularen Begriff, der eine angebbare Kleingruppe umfasst (»Societas Jesu«). In der französischen Sozialphilosophie der Aufklärung entfaltet sich jenseits der politisch-juristischen Begriffstradition der societas civilis dann ein neuer Begriff von Gesellschaft, der einen in seiner konkreten Größe nicht benannten sozialen Verband benennt, heute würde man sagen: eine Gruppe. Bei Holbach etwa wird alles zur »société« erklärt, von der Familie über die Religionsgemeinschaft bis zum Staat.28 Das ist der neue, der soziologisch-universale Gesellschaftsbegriff. Dieser neuzeitliche Gesellschaftsbegriff taucht in Frankreich zum ersten Mal in der Moralistik auf, genauer bei La Rochefoucauld in einer kleinen »Réflexion« mit dem Titel »De la société«.29 La Rochefoucauld reflektierte hier auf sein tägliches soziales Umgangsfeld, die Salons. In ihnen traten Personen 27

Brunner, Otto: Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte. In: ders.: Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, S. 7–32. 28 Holbach, Paul-Henri Thiry de: Système social ou principes naturels de la morale et de la politique avec un examen de l’influence du gouvernement sur les mœurs. Hildesheim 1969 [1773]. 29 La Rochefoucauld: Réflexions ou Sentences et Maximes morales suivi de Réflexions diverses et des Maximes de Madame de Sablé. Paris 21976 [1664], S. 163ff; vgl. dazu auch Albrecht, Clemens: Zivilisation und Gesellschaft. Bürgerliche Kultur in Frankreich. München 1995.

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jenseits ihres Standes in einen sozialen Raum ein, der egalitär strukturiert war und sich seine interne Hierarchie dann über kulturelle Leistung (politesse, civilité) schuf. In diesen freien Assoziationen (Salon, Club, Verein) trat zum ersten Mal gleichsam mikrokosmisch das egalitäre Prinzip der modernen bürgerlichen Gesellschaft jenseits des Ständeschemas auf, und dieses Prinzip verbreiterte dann seine soziale Basis, bis es nach 1789 zum allgemeinen Strukturprinzip moderner Gesellschaften wurde.30 Wenn man die großen Sozialgeschichten der Intellektuellen durchsieht, dann stößt man auf mehrere Gründungsmythen: die Scholastik (Jacques Le Goff),31 die Aufklärung (Benda: Voltaire als erster Intellektueller),32 1789 (Napoleons Diktum von den idéologues), dann die Dreyfus-Affäre (Wolf Lepenies,33 neuerdings umfassend: Dietz Bering),34 das 20. Jh. (Michel Winock).35 Hier ist es plausibel, sich Benda anzuschließen: Intellektuelle sind die Sinnspezialisten der Sozialform »Gesellschaft«: des nicht-strukturierten, nicht-festgelegten, wabernden, sozialen Phänomens ohne feste Gestalt, ohne innere Ordnung, ohne Telos, dessen im Vergleich zu Stämmen, Kasten oder Ständen spezifische Form- und Strukturlosigkeit nicht zufällig den Begriff der »Masse« nahelegt.36 Es gibt nur zwei Aussagen über die »Gesellschaft«: Alle gehören dazu, und alle sind in ihr gleich. Gerade deshalb bedarf es der neuen Dauerbeobachtung, der Deuter und Warner, der Prognostiker und Propheten, der Entdecker geheimer Strukturen (Klassen etwa) und der Ankläger »ungesellschaftlicher« Elemente, sozialer Ungleichheit. Intellektuelle sind deshalb die Kontrolleure des Egalitätsgrundsatzes der modernen Gesellschaft, der im Individualismus seine Grundlage findet: Jeder einzelne bildet ein Atom, dessen kontingente Ausformung in sozialer Prägung, Überzeugungen, Kulturformen, Netzwerken eine »Gesellschaft« ergibt, deren innere Ordnung dann über Funktionen (Arbeitsteilung) legitimiert werden muss.37

30

Dann, Otto (Hg.): Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. München 1981; François, Étienne (Hg.): Sociabilité et société bourgeoise en France, en Allemagne et en Suisse 1750–1850. Paris 1987. 31 Le Goff, Jacques: Die Intellektuellen im Mittelalter. Stuttgart 21987. 32 Benda, Julien: Der Verrat der Intellektuellen. Frankfurt am Main 1983 [1927]. 33 Lepenies, Wolf: Fall und Aufstieg der Intellektuellen in Europa. In: Neue Rundschau 102 (1991), S. 9–22. 34 Bering, Dietz: Die Epoche der Intellektuellen. 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal. Berlin 2010. 35 Winock, Michel: Das Jahrhundert der Intellektuellen. Konstanz 2003. 36 Tarde, Gabriel: Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt am Main 2009 [1890]. 37 Vgl. Dumont, Louis: Individualismus. Zur Ideologie der Moderne. Frankfurt am Main, New York 1991.

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Karl Mannheims Diktum von den »freischwebenden Intellektuellen«38 trifft ins Schwarze, denn die Gesellschaft schwebt, auf die sie sich beziehen. Intellektuelle sind nicht mehr eingebunden in die steile Hierarchie einer Herrschaftsordnung, für deren kosmologische Begründung sie sorgen, sondern sie treten im Namen der Gesellschaft der Herrschaft gegenüber, und weil sie nichts als die Beobachtung und das Egalitätsideal in der Hand haben, oszillieren sie zwischen universalistischen Prinzipien (Gleichheit, Freiheit) und partikularen Bindungen (Klasse, Nation, soziale Bewegung), die aufgrund ihres Festgelegtseins sie alsbald in Widerspruch zum Nicht-Festgelegtsein der Gesellschaft bringen. Das ist das Dilemma der modernen Intellektuellen, und dies ist der Hintergrund für die Tatsache, dass als Gegenüber des Intellektuellen häufig nicht die (strukturierte) Gesellschaft gedacht wird, sondern die unstrukturierte Masse, der gegenüber der Intellektuelle dann nur Distinktionsgewinne einfahren kann.39 In alldem aber verlieren Intellektuelle nicht ihre zentrale Machtressource: die Orientierungsbedürftigkeit ihres Gegenübers, die permanente Frage einer sozialen Gruppe, die sich als »Gesellschaft« dauerhaft fragen muss, was sie ist und wohin sie sich entwickelt. Denn wenn die Politik ohne den Ordnungsrahmen einer überzeitlichen, kosmologischen oder theologischen Normgeltung über die Frage Auskunft erlangen will, was diese oder jene neue Erscheinung bedeute, greift sie auf die einzige Instanz zurück, die als Sinnspezialist für allgemeine Fragen (im Speziellen macht das der Experte, der hier als zweite spezifisch neuzeitliche Figur ausgeklammert werden muss) Auskunft geben kann: die Intellektuellen. In Stammesgesellschaften und in Hochkulturen waren die Sinnspezialisten Bewohner zweier Welten. Der Schamane ging auf seine Geisterreise, der Priester kannte die heiligen Texte. Ihre Klienten durften das nicht. Sinnspezialisten hatten also durch ihren Zugang zu einem wie auch immer gedachten Jenseits eine für andere nicht verfügbare Quelle, Verbindlichkeit zu erzeugen. Das ist bei den Intellektuellen anders. Als neue Ressource, Verbindlichkeit zu plausibilisieren, tritt nun neben die prinzipiell unterbestimmte und entwicklungsoffene Gesellschaft auch im Bereich der Semantik ein unterbestimmtes und entwicklungsoffenes System: die Wissenschaft. Und genau wie bei der Gesellschaft ist es nun die Funktion der Sinnexperten, Verbindlichkeit in der Deutung von zwei Dimensionen zu schaffen: die innere Struktur, das heißt die Regeln der Erkenntnisgenerierung, und die Zukunftsdeutung, das heißt einen Konsens über das Wissen, das auch in Zukunft Bestand haben wird. 38

Vgl. Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. Frankfurt am Main 71985 [1929],

S. 136. 39

Vgl. Carey, John: Hass auf die Massen. Intellektuelle 1880–1939. Stuttgart 1996.

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Sozialform

Sinnspezialist

Machtausübung

Stammeskultur

Gemeinschaft (Stämme)

Schamanen Geronten

Ritualkontrolle Situationslegitimation

Hochkultur

Hierarchie der Gemeinschaften (Stände)

Priester Gelehrte

Lebensführungskontrolle Ordnungslegitimation

moderne Kultur

Gesellschaft (Masse)

Experten Intellektuelle

Normkontrolle Zukunftslegitimation

In diesem Viereck zwischen Gesellschaft, Wissenschaft, Regelkontrolle und Zukunftslegitimation entfalten sich die Chancen der Intellektuellen, ihre Autorität in instrumentelle und autoritative Macht umzusetzen. Drei Beispielfelder in dem Übergang zwischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Verbindlichkeiten können das illustrieren. 1. Wissenschaft ist die institutionalisierte Form aufklärender Kritik. Sie zielt auf eine systematische Ablösung von veraltetem Wissen durch neues nach methodischen Regeln. Deshalb besteht ein großer Anteil der innerwissenschaftlichen Diskussion aus Methodenkritik, das heißt der Regelkontrolle. Wenn auch die klassischen Wissenschaftstheorien vorsehen, dass die Methode ausreiche, um das gültige vom ungültigen, wissenschaftliches von nicht-wissenschaftlichem, legitimes von illegitimem Wissen zu unterscheiden,40 so zeigt doch die neuere Wissenschaftsgeschichte, dass, ähnlich wie in der Politik, kontingente Machtkämpfe eine bedeutende Rolle bei der Selektion des anerkannten Wissens spielen, das dann außerhalb der Wissenschaft mit ihrer Autorität Verbindlichkeit einfordern kann.41 Auch innerdisziplinär wird etwa die Frage, ob in der Psychologie dem psychoanalytischen Ansatz oder der experimentellquantifizierenden empirischen »science«, ob in der Ökonomie der Spieltheorie oder der Wirtschaftsgeschichte, ob der analytischen Philosophie oder dem Pragmatismus die Zukunft gehöre, über Macht- und Deutungskämpfe der unterschiedlichen Richtungen und Schulen entschieden, nicht über ein gemeinsam anerkanntes Methodenset, dessen Einhaltung dann über die Richtigkeit der einzelnen Positionen entscheidet.42

40

Vgl. als pars pro toto: Popper, Karl R.: Logik der Forschung. Tübingen 71982 [1935]. Vgl. beispielsweise Erdbeer, Robert M.: Epistemisches Prekariat. Die qualitas occulta Reichenbachs und Fechners Traum vom Od. In: Pseudowissenschaft. Hg. v. Dirk Rupnow, Veronika Lipphardt, Jens Thiel u. Christina Wessely. Frankfurt am Main 2008, S. 127–162. 42 Klassisch dazu: Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaft41

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Dieser innerdisziplinäre Kampf um die Legitimation der richtigen Zukunft des Wissens arbeitet also in einem Kontinuum von aufklärender und kontrollierender Kritik. Während das Gutachterwesen, die Berichte über einen Forschungsstand, die Rezensionsteile der Zeitschriften, die Kommentare zu den Papers sich gewöhnlich im Feld der aufklärenden Kritik bewegen und methodisch nicht haltbare, veraltete oder unbegründete Bestandteile des Wissens identifizieren, geht es in der Frage, welche Disziplinen »seriös« oder generell »unwissenschaftlich« sind, bei der Unterscheidung zwischen exoterischem und esoterischem, zwischen »orthodoxem« und »heterodoxem« Wissen,43 klar um eine kontrollierende Kritik. Während die Skeptiker-Organisationen44 sich in der Regel durch methodische Kritik legitimieren, de facto aber von einem sozialen Konsens über »richtiges« Wissen leben, das außerhalb ihrer Gruppen in dieser antiquierten Radikalität auch im Zentrum der Disziplinen kaum geteilt wird, arbeitet die Gegenseite ebenfalls an der methodischen Legitimation ihres Wissens. Die Ufo-Forschung etwa hat einen Glaubwürdigkeitsindex für Ufo-Sichtungen entwickelt, bei dem Ufo-Skeptiker, die der Überzeugung sind, einer Illusion aufgesessen zu sein, gerade der höhere Indexwert zugesprochen wird. In die Fachgesellschaft Mufon durften nur promovierte Naturwissenschaftler eintreten.45 Ähnliche Machtkämpfe lassen sich auf vielen Feldern der Wissenschaft beobachten, etwa in der Auseinandersetzung der Schulmedizin mit der Homöopathie. Immer geht es um ein Anerkennungsbedürfnis von Wissensformen, dem dann Maßstäbe durch Intellektuelle gesetzt werden. 2. Während solche innerwissenschaftlichen Debatten nur darüber entscheiden, was nach außen mit dem Siegel legitimen wissenschaftlichen Wissens auftreten darf, und die Intellektuellen gut damit leben können, wenn es außerhalb der Wissenschaft auch Esoterikgläubige gibt (sie werden »vergangenheitsexkludiert«, das heißt als Reste veralteter, unaufgeklärter Wissensbestände marginalisiert), gibt es auch einen Typus der Intervention von Intellektuellen, der auf die Kontrolle der Wissensbestände des Publikums zielt, indem ganz klassisch Situationen definiert werden. lichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main 1980 [1935]. 43 Vgl. dazu grundlegend Bauer, Eberhard/Schetsche, Michael (Hg.): Alltägliche Wunder. Erfahrungen mit dem Übersinnlichen – wissenschaftliche Befunde, Grenzüberschreitungen, Bd. 1. Würzburg 2003. 44 Die Plattform esowatch (http://www.esowatch.de/home) trägt die Kontrolle bereits im Titel, ansonsten vgl. die »Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V.« (https://www.gwup.org). 45 Vgl. Ludwiger, Illobrand von: Der Stand der UFO-Forschung. Frankfurt am Main 21992.

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Zu diesem Typus zählt etwa der deutsche »Historikerstreit«.46 Habermas’ berühmte Intervention gegen die vermutete Tendenz, eine neue, konservative politisch-historische Identität in der Bundesrepublik zu installieren,47 zielte im Verbund mit seinen Mitstreitern Wehler, Mommsen, Winkler etc. auf die Hegemonie eines bestimmten politischen Diskurses. Sie arbeitete mit den Mitteln der instrumentellen Macht von Intellektuellen, indem sie in der deutschen Bevölkerung Zukunftsängste vor einem Wiedererstarken nationalsozialistischer Tendenzen weckte und umgekehrt die Hoffnung erzeugte, die demokratische Zukunft und die richtige »Bewältigung der Vergangenheit« sei dann gesichert, wenn man einer bestimmten Lesart folge. Im Ergebnis zeigt sich so deutlich wie in wenig anderen Beispielen die autoritative Macht: Ganze Generationen von Intellektuellen wurden in ihrem Anerkennungsbedürfnis gelenkt durch die diskursiven Maßstäbe, die mit dem Singularitätsgebot und dem Vergleichsverbot auf der Ebene der politischen Moral verbindlich gemacht wurden und noch heute die Sprachregeln festlegen, die, im bekennenden Teil der Ausführungen wiederholt, dann erst den diskursiven Teil des erlaubt Umstrittenen eröffnen. Erst unter dem Stichwort »Historisierung« tastet sich als Erkenntnisfortschritt aufklärender Kritik das Sag- und Diskutierbare allmählich an die Untergrabung des Verbindlichen heran, genau wie es mit der These vom »deutschen Sonderweg« bereits geschehen ist. 3. Ein weiteres Beispiel für die Produktion von Verbindlichkeit durch kontrollierende Kritik von Intellektuellen zeigt sich in dem Feld, das gewöhnlich mit dem Ausdruck »political correctness« gekennzeichnet wird, aber weit umfassender als eine der vermuteten gesellschaftlichen Entwicklung (»diversity«) vorauseilende Normkontrolle analysiert werden muss (Zukunftslegitimation). Hier sind Intellektuelle die zentralen Kontrolleure einer öffentlichen Moral. An amerikanischen Universitäten etwa verbreitet sich gegenwärtig unter dem Stichwort »Mikroaggression« ein neuer Verhaltensstandard, der unter dem Stichwort »Anti-Diskriminierung« auf eine hohe Sensibilität im Umgang mit unterschiedlichen sozialen Gruppierungen einlernt. So sollten Dozenten nicht die Sprache des Referenten loben, weil sich dahinter eine diskriminierende Stellungnahme gegenüber ihrer sozialen Herkunft verbergen könnte. Auch die beliebte Eingangsfrage für den Smalltalk, woher man komme, wo man geboren sei, führe leicht zur diskriminierenden Fixierung prekärer sozialer Herkunft. Und unter dem Stichwort »Intersektionalität« wird Frauen empfohlen, 46

Vgl. als Übersicht zum Ablauf, den Positionen etc. Kailitz, Steffen: Die politische Deutungskultur im Spiegel des »Historikerstreits«. What’s right? What’s left? Wiesbaden 2001; Dworok, Gerrit: »Historikerstreit« und Nationswerdung. Ursprünge und Deutung eines bundesrepublikanischen Konflikts. Köln 2015. 47 Habermas, Jürgen: Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. In: Die Zeit 29 (11.7.1986), S. 40.

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nie Verständnis für Minderheiten auszudrücken.48 Amerikanische Komiker meiden inzwischen die Universitäten, weil ihr Witz – als aufklärende Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse gemeint – selbst der kontrollierenden Kritik der Political Correctness unterliegt und eine Vorlage für Diskriminierungsklagen ist. Hier wie auch in zahllosen vergleichbaren Bewegungen (in Oxford der anti-kolonialistische »Rhodes must fall«-Protest49 etc.) zeigen sich die vielfältig fragmentierten Kämpfe Intellektueller um die instrumentelle Macht, die Verbindlichkeit bestimmter Formen des öffentlichen Bewusstseins festzulegen. Das Beispiel Political Correctness und ihre Rationalisierungs- und Institutionalisierungsstufen in Sprach- und Verhaltensnormen zeigt jedenfalls das Dilemma moderner Intellektueller in der Moralkontrolle durch Kritik: Sie verlieren genau in dem Maße ihre autoritative Macht, in dem sie sich der instrumentellen bedienen.50 Freisetzung durch aufklärende Kritik und Verbindlichkeit durch kontrollierende Kritik lassen sich eben nur schwer vereinbaren. Aber für beide gibt es keine funktionalen Äquivalente in der modernen Kultur.

48

Vgl. etwa Thiel, Thomas: Das letzte Wort hat das verletzte Gefühl. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 22 (27.1.2016), S. N 4. 49 Vgl. Thomas, Gina: Tyrannei des Biedersinns. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 13 (16.1.2016), S. 11. 50 Vgl. als paradigmatische Studie über die Oszillation zwischen diesen beiden Formen der Kritik Eßbach, Wolfgang: Die Junghegelianer. Zur Soziologie einer Intellektuellengruppe. Übergänge, Bd. 16, München 1988.

Michael Hampe

Kollektive Macht und semantische Autonomie: Sprache, Technik und Aufklärung

1. Sprache als Technik Reflexion hat bei Menschen viel (wenn auch nicht nur etwas) mit der Verwendung von Sprache zu tun. Der Ursprung menschlicher Sprache ist letztlich unklar und wird es wohl immer bleiben. Eine der gegenwärtig in der empirischen Forschung viel diskutierten Hypothesen zum Sprachursprung sieht das Gestikulieren und Assoziieren, wie schon Wilhelm Wundt und Étienne Bonnot de Condillac, an ihrem Anfang.1 Weil die hirnanatomischen Strukturen, die für die Gestik verantwortlich sind, und die, die das Sprechen ermöglichen, nahe beieinanderliegen und weil Mutationen des FoxP2-Gens sowohl die Feinmotorik wie die Sprachfähigkeit beziehungsweise, bei Singvögeln, deren Fähigkeit, ihre »Lieder« zu lernen, betreffen, scheint es biologisch wahrscheinlich, dass die Entwicklungen, die zu einer Veränderung der Feinmotorik geführt haben, und die, die Sprachfähigkeit betreffen, miteinander zusammenhängen.2 1

Vgl. Condillac, Étienne Bonnot de: Essai über den Ursprung der menschlichen Erkenntnisse. Hg. u. aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Ricken. Leipzig 1977, S. 193: »Als die Lautsprache an die Stelle der Gebärdensprache trat, bewahrte sie deren Charakter. Diese neue Art, unsere Gedanken mitzuteilen, konnte nur nach dem Modell der ersteren ersonnen werden. So hob und senkte sich zum Beispiel die Stimme mit sehr merklichen Unterschieden, um an die Stelle lebhafter Körperbewegungen zu treten.« Wilhelm Wundt hat in seiner Völkerpsychologie (Leipzig 1904) im zweiten Kapitel »Die Gebärdensprache« für diese historische Priorität der Handzeichen gegenüber den Lautzeichen argumentiert, allerdings galten damals noch Überlegungen über den Ursprung der Sprache als fruchtlose Spekulationen, nachdem diese in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts »ins Kraut geschossen« waren. (Die Linguistische Gesellschaft von Paris nahm ab 1865 und die Londoner Philologische Gesellschaft ab 1873 für ihre Tagungen keine Beiträge zum Sprachursprungsproblem mehr an.) Gegen die These der historischen Priorität der Geste und für eine Ko-evolution von Gestik und Sprache argumentiert McNeill, David: How Language Began. Gesture and Speech in Human Evolution. Cambridge 2012. 2 Vgl. Fisher, Simon E./Scharff, Constance: FOXP2 as a Molecular Window into Speech and Language. In: Trends in Genetics 25, 4 (2009), S. 166–177; Wohlgemuth, Sandra/Adam, Iris/Scharff, Constance: FoxP2 in Songbirds. In: Current Opinion in Neurobiology 28 (2014), S. 86–93; A.R. Luria hat in Sprache und Bewusstsein (Berlin 1982) die These vertreten, Sprache hätte ursprünglich der sozialen Koordination von Arbeitsteilung gedient. Daniel Dor hat in The Instruction of Imagination. Language as a Social and Communication Technology (Oxford 2015) diese Sichtweise erneuert und vertieft, indem

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Solche Spekulationen über die Rolle der Gestik bei der Sprachentstehung gehen davon aus, dass frühe Menschen über Handzeichen ihr Jagdverhalten in der Gruppe koordinieren konnten und so im Nahrungserwerb in der Savanne einen evolutionären Vorteil erwarben. Jagdverhalten kommunikativ zu koordinieren und die Beute zu teilen, setzt voraus, eine »Wir-Intentionalität« entwickeln zu können, was, wenn es gelingt, wiederum die soziale Bindung von Menschen aneinander erhöhen dürfte.3 Die Komplexität solcher sozialer Koordination dürfte höhere Ansprüche an die kognitiven Leistungen der Menschen gestellt haben, was wiederum ihre Intelligenzentwicklung und Reflexionsfähigkeit beschleunigt haben könnte. Das hat eventuell wiederum positiv auf ihre Kommunikationsfähigkeiten mithilfe von Zeichen zurückgewirkt, so dass sich hier ein sich verstärkender Entwicklungstrend zwischen sozialen Koordinationsfähigkeiten, Zeichengebrauch und kognitiver Leistungsfähigkeit ergeben haben könnte. Es ist plausibel, dass ein solcher Konnex für die menschliche Entwicklung sehr bedeutsam gewesen sein kann.4 Diese Betrachtungen betreffen die menschliche Gattung, das biologische Wesen Homo sapiens im Unterschied zu anderen Arten, etwa Pongo (Orang Utan) oder Pan (Schimpanse). In der Biologie ist in diesen Zusammenhängen nicht viel von Macht die Rede. Doch wenn die Sprache dort als etwas verhandelt wird, das es Menschen erlaubte, sich gemeinsam besser mit Nahrung zu versorgen, so wird etwas thematisiert, was in der Philosophie seit Thomas Hobbes »Macht«, »power«, genannt wird: »The Power of a Man, (to take it Universally)«, schreibt Hobbes zu Beginn des 10. Kapitels seines Leviathan, »is his present means, to obtain some future apparent Good.«5 Die Phrase »Man, (to take it Universally)« zeigt an, dass Hobbes hier ebenfalls auf so etwas wie den Gattungscharakter rekurriert. Hobbes ist einer der ersten Philosophen (vielleicht sogar der erste?), der eine philosophische Anthropologie um das Problem der Ressourcen und der Machtverhältnisse in der Konkurrenz um sie entwickelt. Nahrungsmittel sind zweifellos ein sehr eleer Sprache explizit als eine Sozialtechnologie zur Kommunikation mit der Einbildungskraft anderer Menschen deutete; David F. Armstrong, William C. Stokoe und Sherman E. Wilcox argumentieren in Gesture and the Nature of Language (Cambridge 1995) dafür, dass die Sprache aus der Gestik entstanden sei. Vgl. Armstrong, David. F./Wilcox, Sherman E.: The Gestural Origin of Language. Oxford 2007. 3 Zur Bedeutung der »Wir-Intentionalität« im Anschluss an Vygotzki siehe Tomasello, Michael/Carpenter, Melinda: Shared Intentionality. In: Developmental Science 10, 1 (2007), S. 121–125. 4 Dass die Sprache wie die Technik den Geist formt, hebt Ernst Cassirer mit Bezug auf Cusanus in Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Darmstadt 1963, S. 60 f. hervor. Vgl. dazu: Müller, Oliver: Selbst, Welt und Technik. Eine anthropologische, geistesgeschichtliche und ethische Untersuchung. Berlin 2014, S. 100. 5 Hobbes, Thomas: Leviathan. Ed. by Richard Tuck. Cambridge 1991, S. 62.

Kollektive Macht und semantische Autonomie

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mentares zukünftiges Gut für Menschen im Allgemeinen. Wenn die Sprache ursprünglich die Fähigkeit von Menschen vergrößerte, sich Nahrung durch Jagd zu verschaffen, so steigerte sie die kollektive menschliche Macht in diesem Sinne von Hobbes. Andere Macht steigernde Mittel, die den gleichen Effekt hatten, wären der Speer oder Pfeil und Bogen. Solche Jagdwaffen werden auch als technische Errungenschaften bezeichnet. Wenn man die Sprache mit ihnen zusammen als ein Mittel ansieht, Nahrung oder später andere Güter zu erlangen, und Mittel zur Erreichung solcher äußeren Zwecke als Techniken bezeichnet, dann ist Sprache ursprünglich eine Technik gewesen und bis heute, wenn auch vielleicht mit anderen Funktionen, geblieben: eine Technik der sozialen Koordination innerhalb einer Gruppe, ursprünglich vielleicht von Jägern, die genauso wie andere erfolgreiche Techniken die Macht derjenigen, die sie beherrschten, gesteigert hat. Durch die Technik des Sprechens konnten die Menschen nicht nur in der Welt anders agieren, sondern diese auch aufgrund ihres gewandelten Handelns anders begreifen – ein Veränderungsprozess, der bei allen technischen Entwicklungen zu beobachten ist. Doch die Sprache unterscheidet sich in diesem genealogischen Bild von Jagdwaffen wie Stein, Speer, Pfeil und Bogen. Diese können theoretisch von einer einzelnen Person, die ein Tier erlegen will, erfunden, hergestellt und benutzt werden. Sprache als eine Technik, sich in seinem Verhalten mit anderen zu koordinieren, kann dagegen weder von einzelnen Menschen erfunden, noch von einzelnen Menschen genutzt werden. Sie ist eine Technik, die in ihrer Genese und in ihrer Anwendung notwendig kollektiv und arbeitsteilig ist.6 Es gibt immer Sender und Empfänger von Zeichen, die Zeichen müssen für andere Sender reproduzierbar und für Empfängern nachvollziehbar sein. Erst dann funktioniert diese Technik. Intuitiv dürfte für die meisten von uns das Wort »Technik« mit der Vorstellung von Apparaten und Dingen, auf die man zeigen und die man in die Hand nehmen kann, verbunden sein. Wendet man jedoch das Maschinenverständnis von Lewis Mumford an, so ist auch jede Organisation von Arbeitskräften und ihren Bewegungen zu einem bestimmten Zweck eine maschinelle Technik.7 Auch die in ihren Bewegungen koordinierten Sklaven der Ägypter, die die 6

Dor (op. cit., S. 3) weist unter Rückgriff auf Humboldt auf diese Tatsache hin. Mumford spricht bei sozialen Organisationen von »invisible machines«, die ursprünglich durch Könige, die als göttlich galten (»Divine Kingship«) erschaffen wurden. Sie bestanden darin »to assemble the manpower and to discipline the organization that made possible the performance of work on a scale never attempted before«. Es wurden sowohl »labor machines«, beispielsweise zur Errichtung von Bauwerken, als auch »military machines« zur Durchführung von Aufgaben der »coercion and destruction« geschaffen. Mumford, Lewis: The Myth of the Machine. Technics and Human Development. New York 1966, S. 188. 7

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Pyramiden bauten, bilden miteinander eine Mumford’sche Maschine, wie auch der Hobbes’sche Leviathan, der Staat, der seine einzelnen Mitglieder durch ein polizeiliches und militärisches Gewaltmonopol schützt und durch eine vorsorgende Nahrungsmittelerzeugung, -verwaltung und -verteilung ihre Versorgung und damit ihre Selbsterhaltung sicherstellt. Folgt man Philip Pettits Interpretation von Hobbes,8 so war es die Sprache, diese vielleicht bedeutendste Technik der sozialen Koordination, durch die sich die kognitiven und politischen Fähigkeiten überhaupt erst so entwickelten, dass Wesen entstanden, die sich selbst als »Menschen« bezeichnen, von »den Tieren« unterscheiden und eine entsprechende »Wir-Intentionalität« ausbilden. Man muss also unterscheiden zwischen einerseits der Machtsteigerung, die ein einzelner Mensch für sich erlangt, der ein kluges Mittel zum Erreichen eines Zwecks erfindet, indem er sich beispielsweise eine Jagdwaffe baut und anwendet oder eine Bewegungskoordination für sich selbst erlernt, wie das Spannen, Zielen und Abschießen eines Pfeiles von einem Bogen, und andererseits der Machtsteigerung, die ein einzelner Mensch erreicht, weil er Teil eines Kollektivs ist, das eine bestimmte Technik, wie beispielsweise die der Sprache zwischen allen Mitgliedern des Kollektivs, realisiert. Die einzelne Person partizipiert dann an der kollektiven Macht ihrer Gruppe. Techniken der sozialen Koordination und die Verwendung von technischen Dingen werden natürlich auch kombiniert. Wenn sich eine Jägergruppe abspricht, dass die einen mit Trommeln das Wild aus den Büschen treiben und die anderen es dann mit Speeren erlegen, dann gibt es eine durch Handzeichen oder verbal gesteuerte Koordination der Bewegungen und eine Anwendung von technischen Dingen, den Trommeln und den Speeren. Auch wenn Ruderer auf einem Schiff lange Riemen benutzen, um ein Fahrzeug voranzutreiben, verwenden sie einerseits technische Dinge. Wenn sie andererseits sich durch einen Taktgeber, meistens den Steuermann oder die Steuerfrau, so koordinieren, dass sie ihre Ruder gleichzeitig im Wasser einsetzen, so synchronisieren sie wie eine Mannschaft, die an einem Tau zieht, oder wie die getakteten Kolben eines Verbrennungsmotors, aber eben durch Zeichen, ihre Bewegungen zu einer gemeinsamen Bewegung, weil sie auf diese Weise schneller vorankommen. Am bedeutsamsten ist diese Kombination von dinglicher Maschinentechnik und sozialer Koordinationstechnik vielleicht in der arbeitsteiligen Industrieproduktion. Weil technische Dinge gehandhabt werden müssen, haben sie wohl immer einen Effekt auf das Verhalten von Menschen, und weil Verhaltensänderungen bei Menschen zu neuen kognitiven Fähigkeiten und eventuell zu neuen Bedürfnissen führen, können sie die Erzeugung neuer technischer 8

Pettit, Philip: Made with Words. Hobbes on Language, Mind, and Politics. Princeton 2008.

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Dinge nach sich ziehen, so dass auch hier eine Rückkopplung zwischen Verhaltensmodifikationen und Kreativität im Bereich des Dinglichen besteht. Technische Dinge werden von einzelnen absichtlich hervorgebracht. Techniken der Bewegung, des Verhaltens und der sozialen Koordination stellen sich dagegen oft durch Selbstorganisation bei einzelnen Menschen oder zwischen Menschen ein: Jeder Mensch erlernt von selbst die Bewegungstechniken des Laufens, Springens, Werfens in seiner Kindheit durch die Selbstorganisation seines Bewegungsapparates, durch Ausprobieren und natürlich auch sozial bedingt durch Nachahmung. Ruderer können von selbst in eine bestimmte Handhabung ihrer Gerätschaften und in einen gemeinsamen Takt verfallen.9 Sobald sie in einem Reflexionsprozess merken, dass sie mit einer bestimmten Rudertechnik und vor allem, wenn sie gleichzeitig die Ruderblätter ins Wasser eintauchen und aus ihm herausnehmen, schneller sind, mögen sie diese Selbstorganisation ihres individuellen und kollektiven Verhaltens durch eine Steuerung von außen ersetzen. Vielleicht war auch die Gesten-Sprache unserer frühen Menschen das Ergebnis einer solchen Selbstorganisation: Eine Person zeigte spontan, ohne das ausführlich zu planen, auf ein Wild, das die andere noch nicht sah, um ihre Aufmerksamkeit auf diese zu teilende Nahrung zu lenken und mit ihr gemeinsam das Tier als Jagdbeute ins Auge zu fassen. Dass diese Selbstorganisation möglich war, hing sicher von bestimmten physiologischen Umständen ab. Denn nur Wesen, die in der Lage sind, ein Handzeichen gleichzeitig oder in kurzem Zeitabstand mit einem sichtbaren Gegenstand assoziativ zu verbinden, können einer solchen Lenkung der Aufmerksamkeit folgen oder sie veranlassen. Sofern diese Assoziationsfähigkeit an die Existenz bestimmter neuronaler Verknüpfungen gebunden ist, die durch Allele des FoxP2-Gens gesteuert werden, gibt es eine neuronale und letztlich genetische Bedingung für die Möglichkeit, dieses semiotische Sozialverhalten zu entwickeln. (Eine solche Koordination des Verhaltens durch Zeigehandlungen funktioniert allerdings nicht nur zwischen Menschen, sondern bekanntlich

9

Hume argumentiert in seinem Ruderer-Beispiel gegen die Vertragstheorie des Staates und des Rechts und für einen Konventionalismus: »Two men, who pull the oars of a boat, do it by an agreement or convention, tho’ they have never given promises to each other. Nor is the rule concerning the stability of possession the less deriv’d from human conventions, that it arises gradually, and acquires force by a slow progression, and by our repeated experience of the inconveniences of transgressing it.« Hume, David: A Treatise of Human Nature. Ed. by Lewis Amherst Selby-Bigge, Second Edition by Peter H. Nidditch. Oxford 1978, S. 490. Im Liberalismus von Friedrich August von Hayek fungiert dieser Gedanke Humes (zusammen mit dem der »invisible hand« von Adam Smith) als einer der Grundgedanken der Selbstorganisationstheorien der Gesellschaft. Vgl. Hayek, Friedrich August: Law, Legislation and Liberty, Bd. 1. Rules and Order. Kapitel 2: Cosmos and Taxis. London 1973, S. 35–54.

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auch zwischen Menschen und Affen oder Menschen und Hunden.)10 Dass es genetische und neuronale Bedingungen der gegenseitigen Lenkung von Aufmerksamkeit durch Blicke, Zeigehandlungen und Sprache gibt, bedeutet natürlich nicht, dass sich Aufmerksamkeitsdisziplin, Gestik und Sprechen in genetischen und neuronalen Bedingungen erschöpfen oder gar mit ihnen identisch wären. Ohne Beine kann man auch nicht Fußball spielen, aber Fußballspielen erschöpft sich nicht in Beinbewegungen, sondern ist eine kognitiv und sozial komplexe Angelegenheit, die jedoch nicht entstünde, wenn es keine laufenden Wesen gäbe. Doch diese laufenden Wesen müssen sich zuerst auf dem Spielfeld spontan selbst organisieren und werden, sofern sie ihrem Sport ernsthaft oder sogar professionell nachgehen, die Bewegungen, die sich auf dem Spielfeld als erfolgreich erwiesen haben, reflektieren, sie zu wiederholen versuchen und trainieren, beispielsweise indem sie Schusstechniken üben und Spielzüge einstudieren.11

2. Autoritäten für Techniken Hat sich eine Technik der Koordination eines Kollektivs, das einen bestimmten gemeinsamen Zweck verfolgt, einmal von selbst zwischen Menschen eingestellt, können Menschen, wenn sie auf diese Technik aufmerksam geworden sind, sie absichtlich stabilisieren und weiterentwickeln. Nichts anderes dürfte 10

Vgl. Tomasello und Carpenter (op. cit., S. 123a) und Gaunet, Florence: How do guide-dogs of blind owners and pet dogs of sighted owners (Canis familiaris) ask their owners for food? In: Animal Cognition 11 (2008), S. 475–483. Tomasello und Carpenter zeigen, dass große Affen zunächst nicht kooperativ, sondern manipulativ miteinander kommunizieren. Gelingt es einer Versuchsperson, in ein kompetitives Verhältnis zu einem Affen zu treten (beispielsweise hinsichtlich Nahrung), so kann sie dieses Verhältnis in ein kooperatives erweitern. Kooperatives Verhalten zwischen Menschen und Hunden, einschließlich Zeigeverhalten, sind aus dem Einsatz von Jagd-, Drogenspür-, Hüte-, Blinden- oder Rettungshunden allgemein bekannt. 11 Die Spielmetapher für die Sprache legt nicht fest, ob man die Sprache normativistisch deutet oder als eine Koordinationstechnik, die sich zwischen Menschen spontan in einem Selbstorganisationsprozess vollzogen hat. Spiele können zuerst spontane Ordnungen sein, die dann im Nachhinein regelgeleitet, beispielsweise mit einem Schiedsrichter, durchgeführt werden. Robert B. Brandom verfolgt im Anschluss an David Lewis bekanntlich die Strategie, diese Metapher zu verwenden, um die Sprache rein als Regelsystem, in dem »Score-keeping« stattfindet, zu deuten. Ich halte das für ein sekundäres und vor allem nur in theoriesprachlichen Kontexten relevantes Phänomen. Vgl. dazu: Lewis, David: Scorekeeping in a Language Game. In: Journal of Philosophical Logic 8 (1979), S. 339–359; Brandom, Robert: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung. Übersetzt v. Eva Gilmer und Hermann Vetter. Frankfurt am Main 2000; Hampe, Michael: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Berlin 2014, S. 173–180.

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die Verschriftlichung und die Einführung syntaktischer und semantischer Regeln im Falle der Sprache gewesen sein als eine solche reflexive Stabilisierung und Weiterentwicklung der vielleicht aus dem spontanen Gestikulieren entstandenen Sprache als Technik der sozialen Koordination. Sobald eine Technik der sozialen Koordination in Prozessen der Stabilisierung, Regulierung und Entwicklung bewusst verwaltet wird, wird sie als Kulturtechnik von einer Generation an die nächste weitergegeben. Weil Menschen erfahren haben, dass sie kollektiv und als einzelne mehr Macht besitzen, wenn sie sich sozial koordinieren, geben sie die Techniken der sozialen Koordination an ihre Nachkommen weiter, um auch sie in den Genuss dieser Machtinstrumente kommen zu lassen und die Macht ihrer Gruppe zu erhalten. Die Technik wird, wenn sie sich einmal eingestellt hat oder erfunden worden ist, wie Heinrich Popitz hervorhebt, zu einem »Datum« und die, die in eine Gesellschaft hineingeboren werden, die Techniken wie die des Sprechens verwendet, werden zu »Datenbetroffenen«, die den Regeln der Sprachverwendung ausgesetzt sind, ohne sie gemacht oder an ihrer Entstehung teilgehabt zu haben.12 Sie müssen sich dann an diese Technik und die Regeln ihrer Handhabung anpassen und werden auf ihre Verwendung abgerichtet. Das ist bei dinglich vorliegenden Techniken ebenso wie bei Techniken der sozialen Koordination. Wenn sich bei den ersten Ruderern ein Rhythmus von selbst einstellte, so müssen die, die in eine rudernde Gesellschaft hineingeboren werden, die Rudertechnik von anderen lernen, sich zuerst den Erfordernissen der Boots- und Ruderbeherrschung und, wenn ihnen das gelungen ist, an einen vorgegebenen Takt anpassen. Sie gehorchen dann dem Steuermann oder der Steuerfrau, weil sie wissen, dass sie schneller sind, wenn sie sich in einem gemeinsamen Rhythmus bewegen. Der Steuernde wird zu einer Autorität an Bord. (Es ist philosophisch deshalb nicht uninteressant, dass der ehemalige Steuermann des deutschen Männer-Nationalachters, Peter Thiede, in einem Interview feststellte: »Was ich sage, ist Gesetz im Boot.« Ein Muster, das sich ausbildet, wird erst beobachtet, dann reflexiv bewertet und wenn es positiv bewertet worden ist, zu einer Vorschrift, einem Gesetz.) Während der erste Bogenschütze noch ausprobierte, wie ein Bogen am besten hergestellt und verwendet wird, müssen die, die in eine Gesellschaft von Bogenschützen hineingeboren werden, von anderen lernen, wie man Bögen zu schnitzen, zu spannen und die Pfeile von ihrer Sehne abzuschießen hat. Gaben sich unsere frühen Menschen noch spontan gestische Zeichen, so müssen die nachgeborenen Kinder irgendwann eine Sprache lernen, sowohl die Regeln des Zeichengebens, die Syntax, wie auch die Bedeutungen der Zeichen, die Semantik.

12

Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht. Tübingen 1992, S. 30 f.

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Wenn eine Technik ein Datum geworden ist und als solches nach Regeln verwaltet wird, heißt das aber natürlich noch nicht, dass sie das bestmögliche und endgültige Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zweckes ist. Selbstorganisation führt ebenso wenig zu optimalen Verhältnissen wie Planung. Man kann statt Pferde zu dressieren und vor Kutschen zu spannen, Ottomotoren entwickeln, die dann Abgase produzieren. Statt Bögen zu schnitzen und das Pfeileschießen zu erlernen, kann man Gewehre bauen und sich ihre Handhabung aneignen usw. Sich selbst organisierende Muster mögen von den Datenbetroffenen als ineffizient erkannt oder als ungerecht empfunden werden, etwa wenn das römische Zahlennotationssystem als für die Division unbrauchbar oder die Umgangssprache als einseitig das männliche Geschlecht berücksichtigend kritisiert wird. Die Etablierung einer Technik ist ebenso wenig wie die Etablierung einer Theorie eine Sache für die Ewigkeit. Techniken, egal ob sie sich selbst organisieren oder kontrolliert verwaltet werden, entstehen und verschwinden wieder, werden durch andere, neue, abgelöst. Das ist für diejenigen, die diese Techniken als Autoritäten verwalten, eventuell so bitter wie für die Vertreter wissenschaftlicher Paradigmen, die umgestürzt werden. Auch die Entwicklung der Sprache ist, wie wir noch sehen werden, von diesem Autoritätsproblem betroffen. Denn durch Zeichen lenken nicht nur Menschen gegenseitig ihre Aufmerksamkeit, sondern vor allem die semantischen Regeln lenken auch ihre Assoziationen, die Hinsichten, unter denen etwas erfahren wird. Wird mit dem Wort für »Beute« oder »Nahrung« zum ersten Mal in einer Jagdsituation auf einen Frosch gezeigt, so nimmt ein Mensch, der bisher Frösche vielleicht nie als Nahrungsmittel betrachtet hat, wenn er die Assoziation von Zeigehandlung und Lautäußerung durchführen kann, vielleicht zum ersten Mal einen Frosch als potentielle Nahrung wahr. Wer gelernt hat, dass Kaninchen und Wale Säugetiere sind, Frösche und Schwanzlurche dagegen Amphibien, wird Kaninchen den Walen für ähnlicher ansehen als den Fröschen, weil er jetzt Wale als Säugetiere und Frösche als Amphibien wahrnimmt. Sprache steuert nicht nur unsere kurzzeitige Aufmerksamkeit, sondern auch die Ordnung unserer erinnerten und präsentischen Welterfahrung und damit das, was man Denken nennen kann. Eine Person, die eine Autorität im Erlernen und in der Verwendung der Sprache ist, hat deshalb eine erhebliche Macht: Sie beeinflusst nicht nur, worauf die Menschen ihre Aufmerksamkeit lenken, während sie ihnen eine Sprache beibringt, sondern auch langfristig ihre Welterfahrung und ihr Denken.13 13

Dieser Zusammenhang ist als die sogenannte Theoriegeladenheit der Beobachtung in der Wissenschaftsphilosophie ausführlich diskutiert worden. Vgl. dazu: Hanson, Norwood R.: Patterns of Discovery. An Inquiry into the Conceptual Foundations of Science. Cambridge 1958. Die Theoriegeladenheit der Beobachtung sollte einen jedoch

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Sicher haben alle Techniken eine Rückwirkung auf diejenigen, die sie verwenden: Wer sich schwimmend durchs Wasser bewegt, macht nicht nur andere Bewegungen als ein Ruderer oder ein Motorschiffskapitän, sondern alle drei erfahren jeweils das Wasser als Element und das Gewässer als Landschaftsmerkmal aufgrund der unterschiedlichen Fortbewegungstechniken auf unterschiedliche Weise (beispielsweise als kühles, erfrischendes Medium, als eine Oberfläche, auf der man schnell dahingleiten kann oder als einen Transportweg). Doch bei kaum einer Technik dürfte die Rückwirkung auf die Welterfahrung und das Denken so erheblich sein, wie bei der Verwendung der Sprache. Das bemerken vor allem diejenigen, die sich durch Formen des Sprechens ungerecht in einer Sprachgemeinschaft repräsentiert und ihre Sicht der Dinge sprachlich unterrepräsentiert sehen: etwa wenn Frauen in bestimmten Sprachen die männliche Form der Personenkennzeichnung als Standardform kritisieren. Auch eine »nachgebesserte« selbstorganisierte Sprache wird jedoch allerlei Unangemessenheiten und Ungerechtigkeiten nicht aus der Welt schaffen.14 Deshalb ist die Tatsache, dass man viele verschiedene Sprachen und Symbolsysteme, die Umgangssprache, die Fach- und Sondersprachen und die mathematischen Symbolismen für die Organisation und den Ausdruck menschlicher Erfahrung heranziehen kann, ein möglicher Korrekturmechanismus der Einseitigkeiten bestimmter partikularer Sprachen. Techniken, die als Daten gesetzt sind, stellen selbst eine unpersönliche Macht dar: Sie steigern nicht nur menschliche Macht, sondern, sobald sie zu einem gewissen Grad kulturell »eingegraben« sind, fordern sie Menschen Anpassungsleistungen ab und üben in diesem Sinne Macht auf sie aus. Das ist bei technischen Daten nicht viel anders als bei den Anpassungsleistungen, die Menschen von so genannten natürlichen Mächten, wie dem Wetter, den Gezeiten oder den Fruchtbarkeitszyklen der Pflanzen und Tiere abgefordert wernicht dazu verleiten, begriffliche Zusammenhänge, die die Erfahrung formen, als Theorien misszuverstehen. Ein Kleinkind, das sein Kuscheltier als sein Kuscheltier erkennt, hat keine Theorie über sein Kuscheltier. Vgl. dazu: Jacquette, Dale: Theory and Observation in the Philosophy of Science. In: Philosophiegeschichte und logische Analyse, Bd. 7. Schwerpunkt: Geschichte der Naturphilosophie. Hg. v. Uwe Meixner u. Albert Newen. Paderborn 2004, S. 177–196; und Hampe: Die Lehren der Philosophie, S. 205–208. 14 So kritisieren Prozessphilosophen wie Alfred North Whitehead und Wilfrid Sellars, dass die gewöhnliche Sprache eine Strukturierung der Welt in Substanzen und Eigenschaften nahelegt statt eine Strukturierung von Prozessen. »Der Tisch ist weiß« und »Der Ton ist hoch« legen vermeintlich nahe, dass es die Substanzen Tisch und Ton gibt, die bestimmte Eigenschaften haben. Sellars war der Meinung, ein Ausdruck wie »Es ist dort in der Ecke« für den Bericht über das Erklingen eines Tones sei der Weltverfassung, die die modernen Wissenschaften nahelegen, eigentlich angemessener. Vgl. Whitehead, Alfred North: Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition by David Griffin and Donald Sherburne. New York 1979, S. 11 f.; Sellars, Wilfrid: Foundations for a Metaphysics of Pure Process. The Carus Lectures. In: The Monist 64 (1981), S. 3–90.

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den. Man kann nicht zu beliebigen Zeiten Getreide essen, wenn man es nicht aufspart und anbaut, man kann es in vom Äquator weit entfernten Weltgegenden nicht immer, sondern nur im Sommer warm haben, wenn man sich nicht einen Unterschlupf und Kleider verschafft, beziehungsweise ein Heizungssystem erfunden hat usw. So wie Jahreszeiten, Wachstums- und Fruchtbarkeitszyklen, Wetter und Klima für Menschen unverfügbar sind, sind die Techniken, die Menschen entwickelt haben, um mit diesen natürlichen Unverfügbarkeiten zurande zu kommen, für diejenigen, die in die entsprechend kultivierten und technisierten Gesellschaften hineingeboren werden, zunächst auch nicht verfügbar, sondern unverfügbare Gegebenheiten.15 Man kann als Kind nicht entscheiden, ob man in eine Gesellschaft mit oder ohne Auto, mit oder ohne Atombombe hineingeboren wird, und auch nicht, welche Sprache man als Muttersprache sprechen möchte. Und weil diese Technologien Experten haben, die sie verwalten und die deshalb entsprechend Macht in Erziehungsprozessen besitzen (man denke nur an die Macht der IT-Experten in unseren Instituten, die uns beibringen, wie wir ein neues Programm handzuhaben haben), sind heutige Menschen mit mindestens drei Mächten konfrontiert: erstens den natürlichen Mächten, die unabhängig von dinglichen Erfindungen und sozialen Koordinationen existieren, zweitens den technischen Daten, die zur Geburt der betroffenen Menschen als dingliche Systeme und soziale Koordinationen existieren, und drittens den personalen Autoritäten, die die Verwendung der dinglichen Techniken und die soziale Koordination steuern und das Erlernen des Umgangs mit ihnen in den Händen haben. Weder die natürlichen Unverfügbarkeiten noch die technischen Dinge oder sozialen Koordinationen besitzen einen Willen. Trotzdem ist es möglich, von ihnen als »Mächten« zu sprechen. Denn schon Kant benutzt in seiner »Analytik des Erhabenen« in der Kritik der Urteilskraft den Begriff der Macht im Zusammenhang mit natürlichen Gegebenheiten, wenn er sagt, »die Natur« errege »die Ideen des Erhabenen am meisten«, »wenn sich nur Größe und Macht blicken lässt« und zwar auch »in ihrem Chaos oder ihrer wildesten, regellosesten Unordnung und Verwüstung«.16 Kant hat hier wohl an die Macht von Vulkanausbrüchen und Erdbeben gedacht, die bis heute in der Rede von »Naturgewalten« angesprochen wird und hinter der nur noch wenige Menschen einen Willen vermuten. Schon vor Kant spricht Spinoza von der Kraft und Macht der Natur (»virtus et potentia naturae«), die unbeschränkt (»infinita«) sei und 15

Ich folge hier Lutz Wingert. Vgl. Wingert, Lutz: Was ist und was heißt »unverfügbar«? Philosophische Überlegungen zu einer nicht nur ethischen Frage. In: Sozialphilosophie und Kritik. Hg. v. Rainer Forst, Martin Hartmann, Rahel Jaeggi u. Martin Saar. Frankfurt am Main 2009, S. 384–408. 16 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Werkausgabe, Band X. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1957, § 23, A78, S. 167.

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sich in ihren Gesetzen und Regeln (»leges et regulae naturae«) manifestiere.17 Sowohl die universalen Notwendigkeiten der Naturgesetze wie auch das kaum zu beherrschende Zerstörungspotential der sich zufällig in diesem naturgesetzlichen Rahmen einstellenden und für die menschlichen Interessen manchmal als katastrophal einzustufenden Prozesse werden also mit dem Begriff der Macht in Zusammenhang gebracht. Wegen Max Webers viel zitierter Definition der Macht als »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«,18 mag uns die Rede von Mächten, hinter denen kein Wille steht, metaphorisch vorkommen. Es handelt sich hier jedoch um relativ ursprüngliche Redeweisen, wie die Beispiele Spinozas und Kants zeigen, die es auch berechtigt erscheinen lassen, weiterhin von einer Macht der natürlichen Umstände und der technischen Gegebenheiten zu sprechen. Wer sich Mächten anzupassen hat, egal ob hinter ihnen ein Wille steht oder nicht, ist in seiner Lebensgestaltung eingeschränkt. Er kann selbst nicht immer machen, was er will, er kann nicht beliebigen Regeln folgen, respektive er ist nicht autonom, wenn man unter Autonomie in der Nachfolge Kants die Fähigkeit versteht, eigenen (selbstgesetzten) Regeln entsprechend handeln zu können. Menschen (im Unterschied zu reinen Vernunftwesen im kantischen Sinne) sind deshalb nicht autonom, weil sehr viele natürliche Umstände für sie unverfügbar sind und weil die technischen Gegebenheiten, die ihre Vorfahren erfunden haben, um mit diesen natürlichen Umständen halbwegs zurande zu kommen, für sie als einzelne ebenfalls nicht verfügbar sind. Die Frage, die ich eben gestellt habe, welche Bedeutung eigentlich der Machtbegriff hat und ob Unverfügbarkeiten, hinter denen kein Wille steht, auch als »Mächte« angesprochen werden können, verweist selbst auf ein zeichentheoretisches Machtproblem: Wer hat eigentlich die Macht, über die Verwendung eines Wortes wie »Macht« und damit über die Bedeutung eines Begriffs zu entscheiden? Mit meinem Verweis auf Spinoza und Kant habe ich alte Autoritäten herangezogen, um eine bestimmte Verwendungsweise als berechtigte auszuweisen. Sokrates hätte das vermutlich nicht gefallen. Im Euthyphron verweist der Namensgeber des Dialogs, der seinen Vater wegen Totschlags vor Gericht anzeigt, auf die Art und Weise, wie das Wort »fromm« (osios) in Geschichten über Zeus und seinen Vater Chronos verwendet wird. Zeus gelte ja auch als fromm und gerecht. Aber er habe seinen eigenen Vater, der seine Söhne fressen wollte, gefesselt. Nichts anderes tue er, Euthyphron, wenn er jetzt seinen Vater wegen Totschlags vor Gericht verklage. Einen Totschläger 17

Spinoza, Baruch de: Tractatus theologico-politicus. In: Opera/Werke I. Hg. v. Günter Gawlick u. Friedrich Niewöhner. Darmstadt 1979, Kapitel 7: De miraculis, S. 194 f. 18 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1976, S. 28.

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zu verklagen, auch wenn es der eigene Vater ist, entspreche der Frömmigkeit. Frömmigkeit sei, was den Göttern gefalle.19 Sokrates zeigt dann, dass den unterschiedlichen Göttern Unterschiedliches gefalle und nicht gefalle, weshalb der Verweis auf die göttliche Autorität bei der Frage, wie »fromm« zu verstehen sei, nicht viel tauge. Das gleiche Argument kann man natürlich auch in Bezug auf Verweise auf vergangene Begriffsbedeutungen vorbringen. Sie sind ebenso schwankend wie die Ansichten der Bewohner des Olymps. Deshalb ist es eine Hoffnung aufgeklärter Menschen spätestens seit Sokrates, dass die natürlichen Umstände, über die wir nicht verfügen, uns darüber aufklären, wie wir die Wörter zu verwenden haben, denn – so können wir abweichend von Sokrates sagen – wir haben unsere Sprache ja schließlich entwickelt, um mit den natürlichen Umständen irgendwie zurande zu kommen. Oder einfach ausgedrückt: Nicht die Tradition und irgendwelche Autoritäten sollen festlegen, wie wir sprechen, sondern die Sachen selbst. Weil die Sachen selbst aber nichts sagen und wir sie immer unter bestimmten Hinsichten sehen, die bekanntlich wieder durch unser Sprechen bedingt sind, ist es mit der Ablehnung der Tradition und der Autoritäten des Sprechens nicht so einfach. Wir stecken gleich in den Verwicklungen von Idealismus und Realismus, in denen sich ja auch Sokrates verfangen hat. Zu Beginn des Euthyphron stellt Sokrates fest, dass die Athener sich wohl nicht um einen Schrulligen, der abweichend spricht, kümmern würden, solange er nicht andere zu belehren versuche. Weil er selbst aber die jungen Leute in seiner Art befragt habe, er sie also scheinbar seine Weisheit zu lehren versucht habe, zürnten die Athener ihm nun und hassten ihn.20 Deshalb hätten sie ihn verklagt und müsse er zum Gericht, wo er dem Euthyphron in dem Dialog ja begegnet. Wer abweichend spricht, so können wir das Geschilderte aktualisierend auffassen, weil es ihm Spaß macht oder weil er damit lediglich einen ästhetischen Effekt erzielen will, stellt kein Problem für Autoritäten dar. Doch wer andere seine abweichende Sprechweise lehren will, kann Probleme bekommen, wenn er selbst keine Autorität in der Verwaltung der Sprache ist und von den Regeln abweicht, die die anerkannten Autoritäten verwalten. Denn er mag dadurch die Hinsichten, unter denen wir die Dinge betrachten oder, pathetisch gesprochen, unsere Weltsicht auf eine Weise beeinflussen, die denen, die sich als Autoritäten für die Sprechweisen betrachten, nicht lieb ist. Unter Autorität sei hier ebenfalls mit Popitz eine »maßgebende Person« verstanden, also jemand, der die Maßstäbe gesetzt hat oder zumindest kennt, nach denen eine Handlung, auch eine Sprechhandlung, zu beurteilen ist. Eine 19

Platon: Euthyphron. In: Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Deutsche Übersetzung v. Friedrich Schleiermacher, Bd.1. Hg. v. Gunther Eigler. Darmstadt 1977, S. 351–397, 6a und 7a. 20 Ebd., 3d.

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semantisch maßgebende Person wird aufgrund ihrer Erfahrung, beispielsweise in einem Labor, oder ihrer sozialen Rolle und der in ihr gesammelten Erfahrung, etwa als Gesetzgeber oder Experte der Rechtspflege, als jemand anerkannt, der sagen kann, wie ein Wort zu verwenden ist oder was ein Begriff bedeutet. Wir anerkennen beispielsweise jemanden, der lange als Teilchenphysiker am CERN oder DESY gearbeitet hat, als jemanden, der uns sagen kann, wie die Worte »Fermion« und »Boson« zu verwenden sind. Er ist eine maßgebende Person in Bezug auf diese Wörter. Eine Strafrichterin werden wir als eine maßgebende Person hinsichtlich der Verwendung der Begriffe »Totschlag« und »Mord« anerkennen.

3. Semantische Anmaßung und semantische Autonomie Nun gibt es aber einen großen Bereich der Sprache, der nicht auf Autoritäten in bestimmten Fachsprachen bezogen ist. Ich kenne keine Autoritäten, die ich ohne weiteres ebenso wie den eben genannten Teilchenphysiker und die Richterin anerkennen würde, wenn es um die Bedeutung von »Freiheit«, »Gerechtigkeit«, »Schönheit«, »Liebe«, »Hass«, »Gewalt«, »Natur« oder »Glück« geht (auch Aristoteles und Kant nicht). Es gibt hier meines Erachtens deshalb keine maßgebenden Personen, weil die Sprache nicht nur zu Anfang ihrer Entstehung nicht durch den Willen einzelner Personen gelenkt wurde, sie sich also selbstorganisierend entwickelt hat, sondern weil sie sich auch weiterhin als natürliche Sprache ungelenkt entwickelt. Es gibt allerdings anmaßende Personen, die sich gerne als Autoritäten für die Bedeutungsfestlegung derartiger Begriffe geben, ohne dass sie als solche allgemein anerkannt worden wären: Das sind meist entweder Politiker oder Philosophen. Schon Carl Schmitt stellte fest: »Der Kaiser ist auch Herr über die Grammatik«,21 und meinte damit wohl, dass es im Interesse der politisch Mächtigen liegt, die Verwendung der Wörter zu steuern, um so Einfluss auf die Weltsicht der Beherrschten zu haben. Weil die Philosophen, wie wir seit Platon wissen, gerne Kaiser wären, spielen sie diese Rolle manchmal einfach so, ohne von irgendwem als semantisch maßgebend anerkannt worden zu sein oder über politische Macht zu verfügen. Was aber ist der Unterschied zwischen einer semantisch maßgebenden Person und einer semantisch anmaßenden? Er ist in den Gründen zu suchen, die für die Anerkennung einer vermeintlichen Autorität benannt werden können. Die Teilchenphysiker sind als Autoritäten über die Begriffe »Fermion« und »Boson« anerkannt, weil sie aufgrund ihrer experimentellen Erfahrung bestimmte Theorien entwickeln konnten, mit denen sie explanatorischen und 21

Schmitt, Carl: Positionen und Begriffe. Berlin 1994, S. 171.

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prognostischen Erfolg hatten. Die Richterin kennt die vom Gesetzgeber erlassenen Gesetze, weiß sie auszulegen und anzuwenden und weiß deshalb auch, welche Funktionen die Begriffe »Mord« und »Totschlag« in der Rechtspflege haben. Weil es keine explanatorisch und prognostisch mit der Elementarteilchenphysik vergleichbar erfolgreichen Theorien gibt, in denen Begriffe wie »Freiheit«, »Gerechtigkeit«, »Frieden« oder »Glück« eingebettet sind, und weil es keine in ihrer strengen Regelhaftigkeit der Rechtspraxis vergleichbare Praxis des natürlichen Sprechens gibt, kurz: weil die natürliche Sprache, anders als Quine und Brandom sich das dachten,22 weder eine Theorie noch ein Strafprozess (oder Baseballspiel) ist, deshalb gibt es keine Autoritäten über die Bedeutungen der Begriffe der natürlichen Sprache, selbst in Oxford nicht. Wenn man die Umgangssprache, die Fachsprachen, die in erklärenden Theorien zur Anwendung kommen, und die Sondersprachen, wie die der Jurisprudenz, mit maschinellen Techniken vergleicht, so stellen die Fachsprachen, die für bestimmte explanatorische Projekte entwickelt werden, und die Sondersprache der Jurisprudenz sehr viel spezialisiertere Techniken dar als die Umgangssprache. Ein Stock und ein Stein sind in der Hand eines Menschen ein Werkzeug, ebenso ein Pinsel und ein Hammer, ein Elektronenmikroskop oder ein Radioteleskop. In die Verwendung eines Elektronenmikroskops oder eines Radioteleskops muss man ganz genau eingewiesen werden, und man kann sie kaum für etwas anderes benutzen als für die Vergrößerung sehr kleiner oder die Analyse der Strahlung sehr weit entfernter Objekte. Auch bei der Verwendung eines Pinsels oder Hammers beim Farbeauftragen oder Nageleinschlagen muss man eingewiesen werden und bestimmten Normen folgen. Allerdings ist hier die Flexibilität, die die Verwender haben, schon größer als bei Elektronenmikroskop und Radioteleskop, die hochspezialisierte technische Dinge darstellen. Mit einem Stock zu graben oder mit einem Stein eine Nuss aufzuschlagen, ein Werkzeuggebrauch, den auch Schimpansen beherrschen, ist schließlich etwas, das nicht durch kulturell tradierte Regeln angeleitet wird, die von Autoritäten verwaltet werden. Es geschieht weitgehend spontan, vielleicht als Nachahmungshandlung. Die ganze Sprache Quine entsprechend wie eine Theorie zu verstehen oder wie im Brandom’schen Normativismus wie ein juristisches Regelwerk zu interpretieren, bedeutet, die Freiheit, die einzelne Personen in der Verwendung der Umgangssprache ebenso haben wie in der Verwendung von Grabstöcken oder Schlagsteinen, einschränken zu wollen. Es bedeutet zu behaupten, dass auch hier Autoritäten Regeln verwalten, die zu beachten sind. Das ist meines Erachtens ein fataler Gedanke. 22

Vgl. Quine, Willard Van Orman: Wort und Gegenstand. Übersetzt v. Joachim Schulte in Zusammenarbeit mit Dieter Birnbacher. Stuttgart 1980, S. 33; Brandom, Robert (op. cit., S. 273).

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Denn die Kreativität des Sprachverhaltens, wie die eines jeden Werkzeuggebrauchs, speist sich aus den Freiheiten, die sich Einzelne mit der Sprache und mit anderen Werkzeugen nehmen können. Nur durch diese Freiheiten ist es möglich, dass sich Werkzeuge, einschließlich der Sprache, weiterentwickeln. Im extremen Fall entstehen dabei neue Weltverhältnisse. Die Umdeutung von umgangssprachlichen Techniken in explanatorische Theorien oder der Rechtspraxis analoge Verfahren ist also im extremsten Fall eine Verhinderung von Kreativität hinsichtlich möglicher neuer Weltauffassungen. Philosophen treten jedoch manchmal so auf, als seien sie maßgebend hinsichtlich der Bedeutung von Begriffen wie »Glück«, »Freiheit«, »Natur« oder »Mensch« so wie die Teilchenphysiker hinsichtlich der Begriffe »Fermion« und »Boson« oder wie die Gesetzgeber und Rechtspfleger hinsichtlich der Begriffe »Mord« und »Totschlag«. Manchmal wird auch durch eine irregeleitete Öffentlichkeit an Philosophinnen oder Philosophen der Anspruch herangetragen, sie müssten doch wissen, was unter »Glück«, »Freiheit« usw. zu verstehen sei. So wie es Experten für Elementarteilchen und Gene gebe, gebe es doch auch Experten für Werte und Normen, für den Sinn des menschlichen Lebens und seine Stellung im Kosmos und diese Experten seien offensichtlich die Philosophen, die hier entsprechend Auskunft zu geben hätten. Diese Ansicht ist insofern irregeleitet, als die philosophische Tätigkeit in dem Moment, in dem sie zu explanatorisch erfolgreichen Theorien und einem entsprechenden Expertentum führt, aufhört, Philosophie zu sein. Sie geht dann in methodische Wissenschaft über. Diese fixiert ihr Vokabular und standardisiert ihre Erfahrung (zwecks Reproduzierbarkeit derselben). Philosophen wissen viel über verschiedene Glücks-, Freiheits- und Naturverständnisse. Sie kennen viele begriffliche Möglichkeiten.23 Doch sie verfügen über kein Expertenwissen, das dem der Autoritäten in den wissenschaftlichen Fachgemeinschaften äquivalent wäre, wo über die Bedeutung von Termini in explanatorisch erfolgreichen Theorien mehr oder weniger Einigkeit herrscht. Denn die philosophischen Theorien haben, wenn sie wirklich philosophische Theorien geblieben und nicht (wie die Lehren von Marx in den entsprechenden Institutionen des real existierenden Sozialismus) zu Ideologien geworden sind, nicht diesen Status, eine Gemeinschaft von miteinander übereinstimmenden Sprecherinnen und Sprechern hinter sich zu versammeln. Sie sind lediglich von einem experimentellen Charakter hinsichtlich der begrifflichen Konstellationen, die sie präsentieren.24 Würde eine Philosophin oder ein Philosoph den Anspruch erheben, 23

Vgl. Schnädelbach, Herbert: Was Philosophen wissen. Und was man von ihnen lernen kann. München 2012. 24 Vgl. dazu Hampe, Michael: Denken, Dichten, Machen und Handeln. In: Weiter denken – über Philosophie, Wissenschaft und Religion. Hg. v. Gregor Betz, Dirk Koppelberg, David Löwenstein u. Anna Wehofsits. Berlin 2015, S. 3–22.

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die entsprechenden Begriffe allgemein gültig in ihrer Bedeutung festlegen zu können (etwa dem Ansinnen der irregeleiteten Öffentlichkeit nachkommend), so wäre ihr Autoritätsanspruch also unbegründet und damit eine semantische Autoritätsanmaßung. Sofern die Bedeutungsvorschläge der Philosophie in der Zukunft für eine Weltsicht prägend sein können (durch ihre Wirksamkeit in einer Einzelwissenschaft oder der Politik), können sie auf eine potentielle Relevanz verweisen, die die Weltsichtveränderungen hätten, die sich aus ihnen ergeben könnten. Philosophinnen und Philosophen können mit ihren Bedeutungsvorschlägen daher – um sich des kantischen Terminus zu bedienen – anderen Menschen die Allgemeingültigkeit ihrer Begriffsverwendungen ansinnen.25 Sie können den Anspruch erheben, dass es besser wäre, wenn man sich auf eine bestimmte Bedeutung allgemein festlegte.26 Doch sie können diese Festlegung selbst nicht vollziehen. Denn die Reflexionen der in der Philosophie Tätigen über die mögliche Bedeutung solch allgemeiner Begriffe sind nichts anderes als Manifestationen der allgemeinen Freiheit, die uns im Umgang mit diesen Termini zur Verfügung steht und nicht Manifestationen der Autorität, die angeblichen Scorekeepern der Umgangssprache zugesprochen worden wäre. Sofern Philosophen sagen: »Lasst uns unter ›Natur‹ einmal das Folgende verstehen: …«, manifestieren sie also die semantische Autonomie, die wir alle in der Umgangssprache besitzen, solange wir uns noch verständlich machen können. Sagen sie jedoch, wie das häufig auf Tagungen zu hören ist: »Lassen Sie mich den Begriff der ›Natur‹ einmal klären. ›Natur‹ bedeutet ursprünglich und in meiner Theorie das Folgende: …, und deshalb haben wir den Begriff so zu verwenden«, dann verhalten sie sich semantisch anmaßend.27 Die Figur des Sokrates schillert in dieser Hinsicht auf charakteristische Weise. Sie ist einerseits als ein Freigeist deutbar, der sich nicht um die Bedeutungen geschert hat, die Begriffe des Guten, Gerechten, der Frömmigkeit und des Wissens in der Tradition seiner Zeit hatten, der religiöse und politische Autoritäten in Frage stellte und seine Gesprächspartner zum Selbstdenken, zum Entwickeln von eigenen Hinsichten, zu semantischer Autonomie auf25

Vgl. Kant, Immanuel (op. cit., § 8, A 21, S. 127). Diese Redeweise von »Anspruch« ist inspiriert durch Stanley Cavells Rede vom Anspruch der Vernunft. Vgl. ders.: Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie. Aus dem Amerikanischen von Christiana Goldmann. Frankfurt am Main 2006. 27 Zwischen der semantischen Anmaßung und dem Ansinnen von Allgemeingültigkeit verläuft eine nicht leicht sichtbare Grenze. Letztlich handelt es sich bei dieser Differenz um manchmal nur schwer auszumachende Unterschiede in der Rhetorik und im Denkstil, die die dogmatische Rechthaberei vom Engagement für ein Sachproblem trennen. Ich danke Dieter Thomä für diesen Gedanken, den er im Anschluss an den Vortrag dieses Textes in Rostock formuliert hat. 26

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gefordert hat. Als jemand, der Beispiele für tatsächliche Verwendungsweisen eines Begriffs zurückgewiesen und auf eine ursprüngliche Begriffsgestalt, eine Idee als arche zu verweisen versucht hat, ist der platonische Sokrates dagegen deutbar als Vertreter eines privilegierten Sonderwissens, als Vertreter einer Theorie verborgener Wesenheiten, an denen wir uns vermeintlicher Weise immer zu orientieren haben, wenn wir eine Hinsicht auf irgendetwas in der Welt entwickeln wollen. In Platons (unironisch gelesener) Philosophenkönigsphantasie ist die Autorität, die Vertretern der Ideentheorie zuwächst, bekanntlich auch eine politische. Nur der, der die Idee des Guten geschaut hat, verfügt auch über die Hinsicht, die politisches Handeln angemessen leiten kann. Hier wird erkennbar, dass bei der semantischen Anmaßung, sich zum Regelverwalter der Umgangssprache aufzuschwingen, philosophische Geheimlehren und politische Machtwünsche Hand in Hand gehen können. Es wird deutlich, dass ich diese letzte platonische Deutung der Figur des Sokrates für fatal halte. Sie verrät in meinen Augen das aufklärerische Erbe des skeptischen Sokrates, der sich in seinen Diskussionen für semantische Autonomie einsetzte und der dafür von einem politischen Establishment, das sich die Herrschaft über die Regeln der Verwendung der Begriffe und damit über die Steuerung der Weltsichten nicht aus den Händen nehmen lassen wollte, mit dem Tode bestraft wurde.

4. Fortsetzbarkeit der Aufklärung Warum sollte es keine Autoritäten über die Verwendung der Umgangssprache geben? Warum muss auf die semantische Autonomie, die Verwender der Umgangssprache haben können, weiterhin hingewiesen werden? Rennt man hier nicht lediglich offene Türen ein? Gibt es wirklich semantisch anmaßende Personen? Man kann den Begriff der »Autonomie« zwischen dem der »Heteronomie« und der »Anomie« platzieren.28 Heteronom spricht eine Person dann, wenn sie so spricht, wie es ihr von anderen vorgeschrieben wird oder wie es allgemein »angesagt« ist. Anomisch spricht eine Person, wenn sie ohne Gründe abweichend von den anderen so spricht, wie sie spricht. Das letzte dürfte selten der Fall sein und kann hier vernachlässigt werden. Autonom verhält sich eine dissidente Sprecherin dann, wenn sie Gründe dafür hat und benennen kann, anders als die anderen zu sprechen. Exemplarisch sind hier im Falle der Umgangssprache die Gründe, die sich aus der Reflexion über die Lebenserfah28

Ich folge hier Pauen, Michael/Welzer, Harald: Autonomie. Eine Verteidigung. Frankfurt am Main 2015, S. 30 f.

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rung der betreffenden Person ergeben. Teenager versuchen vielleicht, anders zu sprechen als ihre Lehrer und ihre Eltern, um diese Erziehungsberechtigten als Autoritäten im Allgemeinen in Frage zu stellen. Vielleicht haben sich aber auch bei diesen jungen Leuten schon soziale Erfahrungen eingestellt, die ihre Eltern und Lehrer noch nicht hatten und die sie zu abweichendem Sprechen veranlassen, weil sie die Sprache, die sie vorfinden, als unangemessen für den Ausdruck dieser Erfahrungen empfinden. Wenn wir die Umgangssprache weder als eine explanatorische Theorie noch als ein normatives Prozedere verstehen, in dem propositionale Ansprüche, Schulden und die Konsequenzen aus der Zuschreibung von beidem ausgehandelt werden, sondern als eine Technik, eigene individuelle oder soziale Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen und anderen verständlich zu machen, dann liegt auf der Hand, dass es eine Drift der Lebenserfahrungen auf der individuellen und der kollektiven Ebene gibt, die dafür verantwortlich ist, dass Menschen abweichend von den bisherigen semantischen Regeln sprechen. Wörter wie »gediegen«, »trefflich« und »tüchtig« kommen während dieser Drift außer Gebrauch. Ausdrücke wie »lol«, »cool« und »hartzen« werden eingeführt. Begriffe wie »edel«, »geil« und »Alter« ändern ihren Sinn, vielleicht sogar ihre Bedeutung. Dadurch verändert sich bis heute und auch in Zukunft die semantische Landschaft, wie sie es schon immer getan hat. Deshalb verstehen wir heute Texte von Luther oder auch schon von Lessing nicht mehr auf Anhieb oder irren uns darüber, dass wir sie verstehen, weil wir gleichlautende Wörter mit demselben Sinn oder derselben Bedeutung wie heute lesen, etwa das Wort »gemein«, sie jedoch tatsächlich in der Vergangenheit eine andere Bedeutung als heute hatten. Wer dissidentes Sprechen nicht zulassen will, müsste versuchen, die Funktion der Sprache, abweichende Lebenserfahrungen zu thematisieren, auszuschalten und die semantische Entwicklung der Sprache anzuhalten. Solche Bestrebungen gibt es tatsächlich. Totalitäre politische Systeme, religiöse Fundamentalisten und die aggressiven Sprachpolizisten der political correctness versuchen, das Sprechen von Menschen jenseits der Fach- und Sondersprachen der explanatorisch erfolgreichen Theorien zu reglementieren. Dass eine Physiklehrerin im Unterricht der newtonschen Theorie ihre Schüler bei einer falschen Verwendung des Kraftbegriffs korrigiert und sagt: »Das muss ›Energie‹ und nicht ›Kraft‹ heißen«, ist völlig korrekt. Dass ein Pfarrer oder eine Philosophin jemanden korrigiert und sagt: »Das, was du meinst, heißt nicht ›Glück‹, sondern ›Lust‹, das steht schon bei Aristoteles«, ist dagegen abwegig, solange in dem betreffenden Gespräch nicht geklärt worden ist, was die betreffende Person mit ihrer Verwendung von »Lust« meint. Warum sollte das Ausdrucks- und Verständigungsinteresse einer beliebigen Person den terminologischen Entscheidungen, die Aristoteles in seinen Vorlesungen über Ethik getroffen hat, untergeordnet werden? Dies kann nur jemandem einfallen, der

Kollektive Macht und semantische Autonomie

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Aristoteles’ explikativ hochinteressante Theorie des Glücks irrtümlicherweise auf eine Stufe setzt mit der explanatorisch erfolgreichen und in einem begrenzten Bereich in der Tat verbindlichen Theorie der Bewegung Newtons. Doch warum sollte die von Individuen in Anspruch genommene Ausdrucksfunktion der Sprache gegenüber den explanatorischen und normativen Funktionen der Techniken des Sprechens, die für Sprachkollektive von Experten verwaltet werden, eher irrelevant oder untergeordnet sein? Wenn die Hinsichten, die Menschen auf andere einzelne Wesen oder Zusammenhänge zwischen ihnen entwickeln, voneinander abweichen können, dann müssen sie doch auch in der Lage sein, anderen ihre abweichenden oder neuen Hinsichten mitzuteilen. Sie müssen versuchen können, ihre Hinsichten irgendwie auf andere zu übertragen.29 Will man eine Kultur fortgesetzt sehen, die die Lebensgeschichten von einzelnen Menschen wertschätzt und anerkennt, wird man sich dafür einsetzen, dass solches abweichende Sprechen auch möglich ist. Es gibt ja tatsächlich gar keine äußeren, anderen Experten für die eigene Lebenserfahrung, aus der sich meine Hinsicht auf einzelne Dinge und Personen oder die Welt als ganze entwickelt. Ich kann nicht sagen, wie es für meinen Sohn ist, auf der Welt zu sein und seine Schulklasse zu besuchen. Ich weiß nur, dass seine Sprache nicht angemessen ist, um meine eigenen, privaten und beruflichen Lebenserfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Daraus schließe ich, dass es wohl auch umgekehrt so ist. Nur da, wo Erfahrung vereinheitlicht wird, wie im Laborexperiment, hat es auch Sinn, die Sprache zu vereinheitlichen. Unabhängig von Laborexperimenten Lebenserfahrungen vereinheitlichen zu wollen, ist ein Zeichen des Totalitarismus, der Missachtung individueller Lebensläufe, der Instrumentalisierung von Einzelnen für das vermeintliche »große Ganze«. Wo wir eine Vielfalt von Erfahrungen anerkennen wollen, müssen wir auch leichte Abweichungen des Sprechens voneinander, kleine Verschiebungen des Sinns und der Bedeutung der Wörter akzeptieren.30 Ohne solche Verschiebungen verlöre jede Verständigung ihre Relevanz. Sie könnte 29

Zum Begriff der »Übertragung« in diesem Zusammenhang vgl. Hampe: Die Lehren der Philosophie, S. 327. 30 Das hat schon Humboldt gewusst, der in Natur und Beschaffenheit der Sprache festhält: »Weil indess jeder einzeln und unaufhörlich auf sie [d. i. die Sprache, M.H.] zurückwirkt, bringt demungeachtet jede Generation eine Veränderung in ihr hervor, die sich nur oft der Beobachtung entzieht. […] Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit. Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. […] In der Art, wie sich die Sprache in jedem Individuum modifiziert, offenbart sich, ihrer im Vorigen dargestellten Macht gegenüber, eine Gewalt des Menschen über sie.« Dass Menschen auf die Sprache als Individuen reagieren können, liegt nach Humboldt am »Princip der Freiheit«, das »unbestimmbar und unerklärlich« sei. Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Sprachphilosophie. In: Werke in fünf Bän-

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Michael Hampe

sich lediglich auf einen unpersönlichen Informationsaustausch von Tatsachenberichten beschränken: Die eine weiß, dass F der Fall ist, der andere weiß es nicht und bekommt es mitgeteilt. Oder sie wäre der ritualisierte Ausdruck verordneter unauthentischer kollektiver Emotionen, wie sie in manchen religiösen und totalitären politischen Gemeinschaften gepflegt wird. Nur die Sprache hätte Macht über die Menschen, nicht aber die Menschen über die Sprache. Doch beides ist, wenn man Humboldt folgt, der Fall.31 Auch die normierten wissenschaftlichen Sprachen, die sich auf die vereinheitlichte Laborerfahrung beziehen, funktionieren nicht so. Wenn es interessant wird in der Wissenschaft, fordert die Laborerfahrung ja die Abwandlung der gebräuchlichen oder sogar dieEinführung neuer Begriffe. Die Begrifflichkeit der einsteinschen Physik unterscheidet sich von der der newtonschen Physik, weil sie auf andere Erfahrungen reagiert, als sie Newton und seinen Zeitgenossen möglich war, beispielsweise die, die mit dem Michelson-Interferometer 1887 gemacht wurden. Und durch die Reaktionen auf diese Erfahrung haben sich in der Physik andere Hinsichten beispielsweise auf das Licht und die korpuskulare Materie entwickelt; man konnte Licht neu als eine sich ohne Medium ausbreitende Strahlung und die korpuskulare Materie als Zustand eines Feldes ansehen. Neue Erfahrungen können zu neuen Symbolismen führen, und neue Symbolismen können die Entwicklung von neuen Hinsichten auf Dinge in der Welt befördern. Die Kreativität, die hier in der Wissenschaft und den in ihr stark regulierten Fachsprachen am Werk ist und erhofft wird, ist auch in der sich selbst organisierenden Umgangssprache präsent. Ja, vielleicht würden Menschen, die lernen, ihre Lebenserfahrung nicht ernst zu nehmen und nicht selbst nach dem richtigen Ausdruck für sie zu suchen, auch eine abweichende Laborerfahrung nicht mehr ernst nehmen und nicht die entsprechende Kreativität entwickeln, sich durch eine Veränderung ihrer Fachsprache eine Erklärungsstrategie auszudenken, die eventuell eine neue Sicht der untersuchten Objekte und ihrer Zusammenhänge nach sich zieht. Wer schon Experten für das Sprechen über die eigene Lebenserfahrung zulässt, wird erst recht kaum in der Lage sein, wissenschaftliche Experten in Frage zu stellen. Insofern mag das Streben nach einem authentischen Ausdruck der eigenen Lebenserfahrung mit dem Streben nach Wahrheit im Labor Hand in Hand gehen oder: Totalitäre Verhältnisse, in denen einzelne Menschen daran gehindert werden, nach dem sprachlichen Ausdruck zu suchen, der für ihre Erfahrung angemessen ist, dürften auch kaum eine blühende Wissenschaft hervorbrin-

den, Bd. 3. Hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Darmstadt 1963, S. 439 f. Ich danke Dieter Thomä für den Hinweis auf diese Stelle bei Humboldt. 31 Ebd.

Kollektive Macht und semantische Autonomie

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gen, weil in diesen Verhältnissen zur Wahrheit fähige Menschen selten werden und sich im Verborgenen halten. Es wird deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen Autonomie und Kreativität gibt: Nur, wer sich selbst zutraut und wem zugestanden wird, abweichend zu sprechen, wird auch neue Sprechweisen entwickeln, die seine abweichenden Lebens- oder Laborerfahrungen anderen verständlich machen. Sofern wir Menschen eine gewisse Autonomie in der Lebensführung zugestehen, müssen wir ihnen, falls wir glauben, dass die Art und Weise, wie Menschen ihre Leben führen, etwas mit der Art und Weise zu tun hat, wie sie ihre Lebenserfahrungen sprachlich reflektieren können, auch eine gewisse semantische Autonomie zugestehen. Wer vom großen Bruder, dem Priester, semantisch anmaßenden Philosophen, dem Therapeuten oder der Partei gesagt bekommt, was er »eigentlich« erlebt hat und was das für ihn »eigentlich« bedeutet, wird kaum selbst entscheiden können, wie er »eigentlich« leben will. Das betrifft Einzelne wie Kollektive. Sofern man mit Dewey demokratische Gemeinschaften als solche betrachtet, in denen selbst entschieden wird, welche Ziele gemeinsam verfolgt werden sollen und welche nicht,32 können sie nur von Menschen gebildet werden, die sich imstande sehen, ihre Lebenserfahrungen auch selbst zu beurteilen und die Konsequenz zu ziehen, eine bestimmte Erfahrung lieber nicht, eine andere sehr wohl wiederholen zu wollen. Semantische Autonomie und Autonomie in der Lebensgestaltung gehen also Hand in Hand. Wer die Aufklärung fortsetzen möchte, wird Möchtegern-Philosophenkönigen, sprachpedantischen Gurus, fundamentalistischen Priestern, szientifischen Neurologen des Glücks und allen anderen, die sich als Experten anmaßen zu sagen, was in »meinem« oder »unserem« Leben eigentlich passiert und wie es auszudrücken ist oder schlimmer noch: was passieren sollte, daher mit Nachdruck die Tür weisen.

32

Vgl. Dewey, John: A Common Faith. New Haven, London 1991.

Zweites Zwischenspiel

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Zweites Zwischenspiel

In »cello« ist die obere Zeile der Notation einem Tenorsaxophon, die untere einem Violoncello zugeordnet – allerdings werden die Akkorde in der Cellostimme in der Duoversion stellenweise auch arpeggiert, die Töne erklingen also nacheinander. Da im abgedruckten Teil der Komposition keine Spieltechniken enthalten sind, die sehr instrumentenspezifisch sind, ist es möglich, ihn anders instrumentiert zu spielen. In der Band übernimmt meist das Saxophon die Oberstimme. Das Klavier spielt im Prinzip den ganzen Satz, also beide Stimmen, und damit auch unisono mit dem Saxophon. Dabei besteht aber die Freiheit, andere Töne zu ergänzen, die zum ausnotierten Satz passen. Der Bass doppelt dazu entweder nur die Basstöne der Cellostimme (auch in einer tieferen Oktave) oder entwickelt eine Begleitung aus weiteren Tönen des Satzes oder auch in freier Ergänzung. In unserem Ensemble hat sich eine Spielpraxis etabliert, die wir nach reflexivem Austausch bewusst beibehalten: Das Klavier spielt zumindest den ersten Durchgang der Takte 1–12, und das Saxophon kommt nur bei der Wiederholung dazu, manchmal auch erst in Takt 13. Alternativ kann auch zunächst der Bass das Thema einmal mit oder ohne Begleitung des Klaviers spielen (dann in einer anderen Oktave), eventuell mit einer freien Einleitung. Die Tempoangabe »rubato« gibt keinen durchgehenden Puls vor. Das macht die Notenlängen zu bloßen Anhaltspunkten, die aber dennoch bestimmen, wie die Verhältnisse zwischen den Noten gedacht sind. Um diese Freiheit auch optisch hervorzuheben, habe ich die Taktstriche ohne durchgezogene Linien notiert. Es gibt relativ viele verschiedene Taktarten im Stück, sie bleiben jedoch auch beim »rubato«-Spiel wichtig, da sie die Gestalt der Melodie und der Begleitung gliedern und anzeigen, wo Schwerpunkte liegen. Zum Schluss des Stückes fehlt der Doppelstrich (mit verbreitertem zweiten Strich), der normalerweise das Ende eines Musikstücks anzeigt. Ich habe bewusst darauf verzichtet, da sich an den ersten Durchgang des Stückes eine kollektive Improvisation anschließt: Diese kann sich ganz frei aus dem vorhergehenden Thema entwickeln, besonders aus dem Akkord im letzten Takt – oder tatsächlich, wie bei »Song without Words«, in der Form des Themas, auf Basis der (in diesem Fall ausnotierten) Akkorde und der Melodie geschehen. Meist geht die Improvisation wieder zurück in das Thema oder zu einem Teil davon.

III. Politik und Ökonomie

Julian Nida-Rümelin

Die Macht der Reflexion. Über das Verhältnis philosophischer und politischer Rationalität1

Ein Abendvortrag folgt bestimmten Mustern. Dazu gehört, dass man ein Manuskript hat, das man abliest. Dazu gehört vielleicht auch, dass sich das Publikum deutlich erweitert hat gegenüber den vorausgegangenen fachinternen Debatten. Damit steht man vor einer besonderen didaktischen Herausforderung, weil sowohl die Spezialisten aus dem Fach etwas davon haben sollen, aber auch die, die ein Interesse an Philosophie hierher geführt hat. Ich verstoße jetzt im Folgenden gegen so gut wie alle diese Regeln. Das beginnt schon damit, dass ich den Aufbau didaktisch äußerst ungeschickt geplant habe. Ich erinnere mich noch, dass mich bei meinem ersten oder zweiten Vortrag in den USA ein älterer, von mir verehrter Kollege zur Seite nahm und sagte, so könne ich das nicht machen. Ich müsse bei meinen Vorträgen zunächst einmal mit Trivialitäten beginnen und je größere Zeitanteile ich mit allgemein Zustimmungs fähigem fülle, desto stärker wachse das Vertrauen. Zum Schluss könne ich dann auch noch steile Thesen wagen. Ich habe mich nicht immer daran gehalten und ich werde das auch heute nicht tun. Ja schlimmer noch, ich werde dieses Prinzip genau umkehren und zunächst mit in meinen Augen grundlegenden und wahrscheinlich auch hoch umstrittenen Thesen zur »Macht der Reflexion« beginnen – Thesen zu der Frage: Welche Rolle spielen Reflexion und Deliberation in dieser Welt? Ich werde versuchen, einen handlungstheoretischen Hintergrund zu skizzieren, den ich in anderen Kontexten ausgearbeitet habe, den wir aber in groben Zügen brauchen, um den Rest der Argumentation nachvollziehen zu können und um dann das Verhältnis philosophischer und politischer Rationalität etwas genauer zu beleuchten, auch vor dem Hintergrund meiner persönlichen Erfahrungen. Fünf Jahre politische Tätigkeit waren durchaus spannend. Ich werde dann daraus einige Perspektiven entwickeln, was das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in Deutschland betrifft.

1

Dieser Text folgt weitgehend dem Mitschnitt des frei gehaltenen Abendvortrages am 8. Oktober 2015 an der Universität Rostock; der mündliche Sprachstil wurde beibehalten.

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Julian Nida-Rümelin

1. Die Macht der Reflexion Die »Macht der Reflexion« betrachte ich jetzt zunächst einmal im Sinne der Frage: Spielt eigentlich unser Überlegen, unsere Reflexion irgendeine Rolle? Man kann antworten, natürlich, wie könnte es anders sein? Das Irritierende ist allerdings, dass diese Antwort massiv bestritten wird, und zwar zunächst einmal in einer eher oberflächlichen Form, die es in die Feuilletons hineingeschafft hat und die sich dort auch nach wie vor hält. Ich sage das jetzt bei allem Respekt und persönlich großer Sympathie vor Wolf Singer zum Beispiel: Philosophierende Neurowissenschaftler behaupten, sie hätten, gestützt auf das Libet-Experiment und die anschließenden Studien und die Interpretationen dazu, empirische Belege, dass Entscheidungen, dass Deliberationen, dass Gründe immer nur ex-post sind. Es wäre jetzt abendfüllend, auf diesen einen Argumentationsstrang einzugehen, deshalb sage ich es kurz und unfreundlich: Die empirischen Belege gibt es nicht. Dass sie hochintelligenten Neurowissenschaftlern vorzuliegen scheinen, liegt an Begriffsverwirrungen; das kann man jenen Wissenschaftlern nicht vorwerfen. Es ist der Job der Philosophie, begriffliche Klarheit zu schaffen. Aber es ist bedenklich, dass sich diese neurophilosophische Position zu einer Art Weltanschauung verfestigt hat. Und auffällig ist, dass die Gegenwehr aus der Philosophie meist eher zaghaft ausfällt. Es gibt aber eine weit grundlegendere, innerphilosophische Sichtweise auf dieses Thema, die ungefähr folgendermaßen aussieht: Was sind Deliberationen? Das sind irgendwelche mentalen Vorgänge. Und wir wissen doch, dass die Welt physikalisch geschlossen ist. Es ist verwunderlich, dass manche Naturwissenschaftler und manche Philosophen in diesem Zusammenhang auf den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verweisen und behaupten, damit sei die kausale Geschlossenheit der Welt bewiesen. Holm Tetens machte in seinem hochinteressanten Vortrag die Bemerkung, das große Rätsel sei das mindbody-Problem.2 Da würde ich sofort zustimmen. Er sagte weiter, das große Rätsel sei, wie es das Geistige oder das Mentale in einer physischen Welt geben kann. Auch hier stimme ich zu. Aber als jemand, der sich ursprünglich vorgenommen hatte, Physiker zu werden, füge ich hinzu: Das Physische ist genauso ungeklärt. Und Kausalität in der Physik ist auch völlig ungeklärt. Es ist nicht nur die philosophische Seite, die Sorgen bereitet, sondern auch die naturwissenschaftliche. Insofern sitzen wir im selben Boot. Das Verhältnis dieser beiden Bereiche ist in der Tat überaus komplex und schwierig zu durchschauen und ich habe dazu keine Lösung. Aber ich habe ein bisschen etwas zur Rolle der Gründe zu sagen. Manches ist trivial, um der Empfehlung dieses älteren

2

Vgl. auch den Beitrag von Holm Tetens in diesem Band.

Die Macht der Reflexion

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Wissenschaftlers zu folgen, manches ist hoch umstritten, kommt jedoch zunächst ziemlich trivial daher. Trivial ist zunächst einmal die Feststellung, dass, wenn wir handeln, der Handlung immer irgendetwas vorausgegangen sein muss. Ich bezeichne das jetzt, vielleicht irreführend, als eine wenigstens rudimentäre Deliberation. Wenn eine solche Deliberation der Handlung nicht vorausgegangen ist, dann handelt es sich nicht um eine Handlung, sondern um ein bloßes Verhalten. Damit sich nicht gleich der naheliegende Vorwurf aufbaut und alles weitere dann damit abgeblockt wird, möchte ich sagen, dass das kein rationalistisches Zerrbild ist. Ich meine nicht, dass wir den ganzen Tag darüber nachdenken, »was soll ich tun?«, und dann rechnen wir die verschiedenen Möglichkeiten durch und wenn wir unglücklicherweise Entscheidungstheorie gelernt haben, berechnen wir den Nutzenerwartungswert der verschiedenen Optionen und wählen die Option mit dem höchsten Nutzenerwartungswert – natürlich nicht. Aber wir sind in der Lage, unser Verhalten zu steuern und diese Steuerung hat bestimmte, sich durchhaltende Charakteristika, zum Beispiel folgende: Wenn ich mich in einer bestimmten Weise verhalten habe – und wir nennen dieses Verhalten eine Handlung, und wir nennen es zu Recht eine Handlung – dann kann ich sagen, warum ich mich so verhalten habe. Das ist keine Kausalanalyse, sondern zunächst einmal prima vista – Donald Davidson im Hintergrund – einfach die Angabe der Gründe, die ich hatte, dieses und nicht jenes zu tun. Wenn ich keine Gründe angeben kann, dann ist es keine Handlung. Es ist vor Gericht lediglich ein Trick zu behaupten, man könne überhaupt nicht sagen, warum man etwas getan habe, in der Hoffnung, dass einem dann dieses Verhalten nicht mehr als Handlung zugeschrieben wird. Ich gehe darauf jetzt etwas genauer ein und mache einen Vorschlag. Jeder Handlung geht eine Entscheidung voraus. Zwischen Entscheidung und Handlung kann eine große zeitliche Distanz liegen oder eine sehr geringe. Neurophysiologen können den kleinsten zeitlichen Abstand bestimmen. Er soll in der Größenordnung einer Zehntelsekunde liegen, in der Regel ist er um ein Vielfaches höher. Im Hochleistungssport kann man das ziemlich weit nach unten treiben, aber die untere Grenze liegt dort immer noch deutlich über einer Zehntelsekunde. Zwischen Entscheidung und Handlung muss ein gewisser Hiatus liegen, das können aber auch Jahre sein. Hier vielleicht ein altmodisches Beispiel: Sie können sich zusammen mit ihrem Partner entscheiden, im nächsten Jahr zu heiraten. Und wenn Sie sich dann im Laufe der nächsten Monate eines anderen besinnen und zu dem Ergebnis kommen, dass Sie nicht heiraten werden – vielleicht waren Sie länger zusammen im Urlaub und das hätten Sie besser nicht getan – dann kann man interessanterweise nicht mehr sagen, dass Sie sich im Oktober entschieden hatten zu heiraten; zumindest streng genommen nicht. Sie können dann nur noch sagen, Sie hätten gedacht, Sie hätten sich

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Julian Nida-Rümelin

entschieden und haben jetzt festgestellt, Sie hatten sich ja gar nicht entschieden. Das ist ein merkwürdiges Phänomen. Ob etwas eine Entscheidung ist, zeigt sich also ex post. Die Interpretation, die ich dazu vorschlage, ist, dass eine Entscheidung eine wie auch immer rudimentäre Deliberation zum Abschluss bringt. Sie legt etwas fest. Wenn das aber de facto nicht festliegt, dann war es keine Entscheidung. Das ist ein Typ von Intentionalität. Man könnte sagen, das sind nicht die Gründe, sondern das sind Intentionen, die durch die Handlung realisiert werden. Die Gründe sind vielleicht darauf gerichtet, welche Folgen die Handlung hat. Ich habe mir viel Mühe gegeben zu zeigen, dass nicht allein die Folgen einer Handlung relevant sind für die Rationalität einer Handlung. Das ist die Kritik des Konsequentialismus.3 Aber in vielen Fällen sind die Folgen sehr wichtig und in manchen Fällen vielleicht sogar allein ausschlaggebend. Wenn ich dann frage, warum Sie so gehandelt haben, begründen Sie Ihre Entscheidung damit, dass Sie erwartet haben, dass diese Handlung die gewünschten Folgen haben wird. Das heißt, wir haben außerdem noch so etwas wie motivierende Absichten, motivierende Intentionen. Die motivierenden Intentionen werden nicht durch die Handlung selbst erfüllt, sondern nur durch ihre Folgen, während die Entscheidung durch die Handlung selbst erfüllt wird. Hier müsste man jetzt noch kurz eine dritte Intentionalität schildern. Es muss nämlich einen geeigneten Zusammenhang geben zwischen der Entscheidung, die ja nie eine Entscheidung für ein Handlungs-token, sondern immer nur für einen Handlungs-type ist, und dem Verhalten, das dann diese Intention erfüllt, die wir jetzt als Entscheidung charakterisiert haben. Zum Beispiel muss das, was da passiert, irgendwie selbst wieder so von mir kontrolliert sein, dass es zu dem Handlungstyp passt, den ich realisieren wollte. Woher kommt jetzt diese Idee einer solchen strukturellen Rationalität? Da gibt es mehrere Quellen, aber eine Quelle ist die folgende: Wenn ich mich nicht routiniert verhalte, sondern noch nicht so recht geübt bin in einer bestimmten Praxis, dann handle ich häufiger in kürzeren zeitlichen Abständen. Nehmen wir die Fahranfängerin, die rechts abbiegen soll. Was macht die alles? Sie fragt sich: »Muss ich jetzt erst in den Spiegel schauen oder erst den Blinker betätigen – oder erst auf die Bremse treten?« Es gibt also eine ganze Kaskade von Einzelentscheidungen, die da getroffen werden, damit am Ende die Absicht, nämlich rechts abzubiegen, erfüllt werden kann. Man kann sagen, je routinierter, je geübter, je erfahrener eine Person ist, desto größer werden die Handlungen. Oder die Interventionen werden struktureller. Das andere ergibt sich dann, das ist dann Routine, die automatische Folge einer bestimmten Entscheidung. Auch nach schweren Unfällen ist es unglaublich anstrengend, das Verhalten wieder zu lernen und es erfordert dann dauernd kontrollierende Inter3

Nida-Rümelin, Julian: Kritik des Konsequentialismus. München 1993.

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ventionen. Man kann sich das so vorstellen: Routinierte Praxis bedarf weniger Interventionen; die intentionale Steuerung wird gewissermaßen zurückgefahren und auf größere Einheiten oder größere Komplexe bezogen, aber an der Verantwortung für das, was ich tue, ändert das nichts. Man kann nicht sagen, dass die Fahranfängerin verantwortlicher ist für das, was sie tut, weil sie 127 Einzelentscheidungen getroffen hat, bis sie rechts abgebogen ist. Die Verantwortung gilt für das Rechtsabbiegen, in beiden Fällen. Im Gegenteil, die Fahranfängerin hat sogar Entschuldigungsgründe, wenn das nicht so recht gelingt. Im heutigen Mainstream der Rationalitätstheorie, jedenfalls in der analytischen Philosophie, wird gesagt, dass wir mit der rational-choice-Theorie eine elegante, mathematisch präzise und universell anwendbare Theorie haben. Sie wird mit ihren verschiedenen Zweigen Spieltheorie, kooperative Spiele, nichtkooperative Spiele, collective choice, hauptsächlich in der Ökonomie und in den Sozialwissenschaften angewandt. Und sie lässt sich – als Bayesianismus – philosophisch dadurch charakterisieren, dass sie mit überaus sparsamer Begrifflichkeit auskommt, nämlich mit nur zwei Typen propositionaler Einstellungen. Die eine Einstellung kann man durch subjektive Wahrscheinlichkeiten oder Wahrscheinlichkeitsfunktionen repräsentieren, die andere durch eine ebenfalls reellwertige, quantitative Bewertungsfunktion, die sogenannte Nutzenfunktion. Es lässt sich zeigen, und das ist der Grund, warum es viele Bayesianer auch in der Philosophie gibt, dass diese Zuschreibbarkeit der beiden Funktionen oder die Repräsentation des Verhaltens durch die Optimierung oder Maximierung des Erwartungsnutzens sich schon dann zwingend ergibt, wenn man sehr elementare Kohärenzpostulate für die Präferenzen einer Person fordert. Dieser Gedanke stammt eigentlich von Frank P. Ramsey,4 wurde aber wieder vergessen, deswegen neu entdeckt und neu bewiesen, und zwar 1944 von John von Neumann und Oskar Morgenstern in Theory of Games and Economic Behavior.5 Nehmen wir mal an, das trifft zu. Dann hätten wir also eine wunderbar elegante Theorie und die Standardinterpretation dieser Theorie besagt, rational ist es, genau das zu tun, nämlich dieses Paar reellwertiger Funktionen, das über den Erwartungsnutzen miteinander verkoppelt ist, zu optimieren. Ich sage, ohne das jetzt im Detail ausführen zu können, in der Tat, Kohärenz ist die Grundlage und ist etwas ungemein Komplexes, aber eine Mindestbedingung von Kohärenz sind diese berühmten Postulate von von Neumann und Morgenstern. Aber der Kantianer ist auch kohärent und der Rossianer,6 der nach einer Vielzahl von prima facie-Pflichten handelt, der 4

Ramsey, Frank P.: Truth and Probability. In: The Foundations of Mathematics and Other Logical Essays. London 1931, S. 156–198. 5 Neumann, John von/Morgenstern, Oskar: Theory of Games and Economic Beavior. Princeton 1944. 6 Ross, David: The Right and the Good. Oxford 1930.

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Regelutilitarist, der Tugendethiker, die sollten alle kohärent sein können. Warum sollen diese idealtypischen moralischen Akteure nicht transitive Präferenzen haben? Oder monotone und stetige? Es gibt kein einziges vernünftiges Argument dagegen. Aber diese moralischen Akteure handeln nicht, um den Erwartungsnutzen zu maximieren, sondern sie haben eine Vielfalt von Gründen, warum sie etwas tun. Es ist eher die Problematik der modernen Ethik, dass die Vielfalt von Gründen in den zwei Haupttypen, nämlich im Utilitarismus und im Kantianismus, so stark reduziert wird. Und wenn diese Abwägung der Gründe halbwegs plausibel ist, dann sollte am Ende das Ergebnis eine kohärente Praxis sein oder zu einer kohärenten Praxis führen. Die Idee ist: Wir wägen Gründe ab, wir strukturieren unser Verhalten über Entscheidungen. Diese Entscheidungen haben Motive, diese Motive werden dargestellt in Gestalt akzeptierter und abgewogener Gründe, die ja auch oft konfligieren, die prima facie nicht vereinbar sind und die man dann abwägen muss. Und das Ergebnis sollte in mehrerlei Hinsicht kohärent sein, auch in dieser eher formalen Hinsicht: Die Präferenzen sollten am Ende transitiv, vollständig, monoton und stetig sein, aber die eigentliche, interessante Aufgabe einer kohärenten Praxis ist die ihrerseits kohärente Anleitung dieser Praxis, und diese entscheidet sich an der Art, wie wir die (praktischen) Gründe abwägen. Prämisse ist, dass wir in der Lage sind, Gründe überhaupt abzuwägen und dass wir Optionen haben, dass wir uns auf die eine Weise verhalten können oder auch auf die andere – dass also das von Harry Frankfurt und seinen Nachfolgern kritisierte Principle of Alternate Possibilities (PAP) gilt. Nun gibt es aber auch in der zeitgenössischen Philosophie, speziell der des analytischen Typs, eine weit verbreitete Auffassung, wonach zwar zugestanden wird, dass dies alles banale und kaum bezweifelbare Feststellungen seien, dass es aber eine Argumentation gebe, die zeige, dass das alles falsch sei, also auf einer Illusion beruhen müsse, schon allein deswegen, weil PAP nicht gelte, weil es in Wirklichkeit keine Alternativen gibt. Die Welt ist physikalisch geschlossen, sie wird von Ketten von Verursachungen, von determinierten Ereignisketten zusammengehalten, das sei der Cement of the Universe.7 Das heißt, es gibt keine Wahl, es liegt immer schon alles fest. Und dass uns das so erscheint, als würden wir dann am Ende wählen, ändert daran nichts, dass sich diese Konsequenz zwingend aus dem wissenschaftlichen Weltbild ergibt, wie es von der zeitgenössischen Physik präsentiert wird. Nun, das wäre wieder ein Thema für mindestens einen weiteren Vortrag. Ich glaube nicht, dass das stimmt, aber wir werden das hier nicht diskutieren. Ich will nur sagen, die Vorstellung, dass es anders ist, die These »Deliberation spiele keine Rolle«, ist so radikal, dass sie mit der von uns allen praktizierten Lebensform und der von uns allen prakti7

Mackie, John L.: The Cement of the Universe. Oxford 1980.

Die Macht der Reflexion

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zierten Zuschreibung von Verantwortung nicht vereinbar ist. Das ist also nicht ein Spiel im philosophischen Oberseminar, sondern das ist todernst. Wenn die Proponenten dieser Position Recht hätten damit, dass Deliberation keine Rolle spielt, dann wären wir alle in einem großen Illusionstheater. Manche sagen, das sei vielleicht eine nützliche Illusion – aber eben sicher eine Illusion. Dann würden wir uns einbilden, es gebe Gründe und es gebe Verantwortlichkeit. Das wäre dann alles nicht aufrecht zu erhalten, da haben die Naturalisten Recht. Oder man kann es auch so formulieren: Unsere Lebensform selbst beruhte dann auf Annahmen, die naturwissenschaftlich widerlegt sind. Und damit können wir vielleicht so weiterleben, aber wir müssen wissen, dass das, was wir da tun, alles zutiefst irrational ist. Das erinnert ein bisschen an die error theory von Mackie,8 die besagt, dass wir als Philosophen Subjektivisten sind, aber als normal handelnde Menschen Objektivisten im Bereich der Moral. Die Moral und ihre Sprache sind nun mal so, dass sie das nahelegen, und dann müssen wir irgendwie damit leben. Aber befriedigend ist das, scheint mir, nicht. Sich in dieser Weise zufrieden zu geben, einen Objektivismus erster Ordnung und einen Subjektivismus zweiter Ordnung zu vertreten, ethische Forderungen zu begründen und sie meta-ethisch als Illusion zu bezeichnen, das ist streng genommen ein bloßer Taschenspielertrick. Der Unterschied zwischen Mackie und Russell im Zeitabstand von einem halben Jahrhundert ist, dass letzterer unter dieser Spannung existenziell gelitten hat, ersterer offenbar nicht mehr. Ich bleibe jetzt noch kurz bei der Rolle von Gründen. Die These war: Es gibt eine »Macht der Reflexion«, Gründe sind relevant. Sie sind relevant, weil wir auf der Grundlage der Abwägung von Gründen am Ende entscheiden. Wenn immer schon vor der Abwägung aller Gründe festläge, wie wir entscheiden, dann wären wir nicht verantwortlich, dann wären wir nicht frei usw. Also nehmen wir an, unser Verhalten liegt nicht immer schon vorher fest. Diejenigen, die sagen, das muss aber immer schon vorher festliegen, sind mit einigen sehr merkwürdigen Konsequenzen konfrontiert. Zum Beispiel müsste dann eine Person, die diese kausalen Prozesse kennt, vorhersagen können, was jeder tut. Und noch schöner: Da ja zu den Deliberationen nicht nur das Abwägen von Gründen bezüglich Handlungen und Entscheidungen, sondern auch das Abwägen von Gründen bezüglich Überzeugungen und Theorien und wissenschaftlichen Theorien gehört, müsste es möglich sein, aus der jeweiligen vollständigen Beschreibung eines Weltzustandes auch alle zukünftigen vertretenen Theorien vorherzusagen – ein Argument, das Karl Popper entwickelt hat.9

8

Mackie, John L.: Ethics: Inventing Right and Wrong. London 1990. Popper, Karl R.: Of Clouds and Clocks. An Approach to the Problem of Rationality and the Freedom of Man. St. Louis 1966. 9

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2. Objektivität, Normativität und Nicht-Berechenbarkeit Was macht also die kausale Relevanz, was macht die Macht der Reflexion aus? Ich habe Ihnen jetzt schon mal zugemutet, sich gegen den Mainstream der Interpretation des naturwissenschaftlichen Weltbildes darauf einzulassen, dass wir uns nicht irren hinsichtlich der Möglichkeit, abzuwägen und aufgrund von Abwägungen zu handeln. Und jetzt mute ich Ihnen noch etwas Schlimmeres zu, nämlich dass diese Abwägungen in einem bestimmten Sinne objektiv sind oder sich auf objektive Gründe beziehen, dass Gründe im strengen Sinne nichts Subjektives sind. Was machen wir, wenn wir versuchen, herauszubekommen, ob eine bestimmte Überzeugung, eine Theorie, ein Theorem, zutrifft? In der Mathematik entwickelt man Beweise oder macht Beweisversuche und zwölf scheitern, der dreizehnte gelingt vielleicht. Wenn der Beweisversuch gelungen ist, mache ich mir die Überzeugung zu eigen, dass dieses Theorem wahr ist. Da brauche ich keinen zusätzlichen Antrieb mehr, sondern es genügt, dass ich einen Beweis habe. Es gibt pathologische Fälle (nennen wir das so): Ich habe den Beweis, bin überzeugt, dass der Beweis zutrifft, aber ich kann mich einfach nicht dazu bringen, mir diese Überzeugung zu eigen zu machen. So etwas gibt es, weil diese Überzeugung vielleicht allzu viele andere Überzeugungen oder gewohnte Praktiken infrage stellen würde, aber das ist nicht der Normalfall. Ich sehe überhaupt keinen Anlass, das für den Bereich der praktischen Gründe und der menschlichen Praxis grundlegend anders zu beschreiben. Ich wäge Gründe ab und wenn ich zu dem Ergebnis komme, »das ist die beste Entscheidung«, dann treffe ich diese Entscheidung und tue das, was diese Entscheidung realisiert, was diese Intention erfüllt. Wie sonst? An der Stelle gibt es keine Differenz zwischen theoretischen und praktischen Gründen. Man kann die gesamte Abwägungspraxis im Bereich der Handlungen und Entscheidungen übersetzen in die Frage: »Was ist das Richtige für mich zu tun?« Alles Subjektive, das eingeht, ist ein Bestimmungselement des jeweiligen praktischen Grundes, also zum Beispiel eigene Interessen. Es gibt einen Interessenkonflikt und ich muss abwägen: Komme ich den Interessen einer anderen Person nach oder meinen eigenen? Vielleicht sind die eigenen Interessen von vernachlässigbarer Bedeutung und die Interessen der anderen Person von viel größerer. Dann sind zwei Elemente im Spiel, nämlich die eigenen Interessen und die Interessen der anderen Person, aber das macht die Abwägung des Grundes nicht zu einer subjektiven Angelegenheit. Ich versuche herauszubekommen, welcher Grund überwiegt. Die Affektion durch Gründe und damit die Wirksamkeit von Gründen in der Welt ist eigentlich eine Wirksamkeit des Akzeptierens, des sich-zu-eigenMachens von Gründen. Gründe werden zu Elementen des mentalen Systems dadurch, dass ich sie mir zu eigen mache und dass sie mir bewusst sind. Aber

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ob es einen guten Beweis für ein bestimmtes Theorem gibt, entscheidet sich nicht an subjektiven Zuständen. So wie man eigentlich auch nicht mehr hinter die Psychologismus-Kritik von Frege zurückfallen sollte, so sollte man nicht in diesem immerhin sehr bedeutenden Bereich des Abwägens, nämlich des Abwägens von Gründen für Handlungen, auf einmal zum Psychologisten werden. Das ist genau der Irrtum der Humeaner. Und das kann man nicht verdecken, indem man wie Harry Frankfurt, einer der intelligentesten Humeaner der Gegenwart, Volitionen zweiter Stufe entwickelt, die darauf gerichtet sind, die handlungsleitenden Wünsche kohärenter zu machen. Die Frage ist hier: Warum bilde ich denn den Wunsch aus, andere handlungsleitende Wünsche zu haben, als ich aktuell habe? Weil ich Grund habe, das nicht zu tun, was ich mir aktuell oder regelmäßig wünsche (zum Beispiel als Drogenabhängiger, der sich der gesundheitsschädlichen Auswirkungen seines Drogenkonsums bewusst ist). Deswegen entwickle ich den Wunsch, dass ich andere Wünsche hätte, die mein Handeln leiten: Weil ich dafür einen Grund habe. An der Stelle heißt es in dem Aufsatz von Frankfurt: »The essence of being a person lies not in reason, but in will.«10 Nein, diese desires höherer Ordnung sind ja nur plausibel zu machen, wenn Gründe im Spiel sind. Der Drogenabhängige, von dem er da erzählt, kommt vielleicht zu dem Ergebnis, dass er ohne Drogen besser leben würde, und deswegen wünscht er sich, andere Wünsche zu haben. Das mag sein. Wir haben heute schon diskutiert, dass es vielleicht auch den Fall gibt, dass einer sagt: »Na gut, ich habe diese Wünsche, die sind nun mal so, aber ich mache es trotzdem nicht« – zum Beispiel ein Pädophiler. Hier stehen die Dinge auf dem Kopf, so kann man den Humeanismus nicht retten. Gründe sind etwas Objektives. Wir machen uns Gründe zu eigen, damit werden sie Teil unserer mentalen Vorgänge, und wie das dann genau mit der neurophysiologischen Realisierung mentaler Zustände zusammenhängt und wie die kausalen Prozesse dann im Gehirn sind, dazu sage ich nichts. Diese Prozesse sind wahrscheinlich unglaublich kompliziert und wir können nur vermuten, dass das in einer analysierbaren Weise neurophysiologisch realisiert wird. Die Versuche, das sogenannte binding problem zu lösen, gehen in diese Richtung.11 Aber das ändert nichts daran, dass Gründe etwas Objektives sind. Gründe sind zweitens etwas Normatives, und zwar theoretische wie praktische Gründe. Theoretische Gründe sprechen für Überzeugungen. Wenn ich mir gute Gründe zu eigen mache, dann sollte ich diese Überzeugung haben. Gründe sprechen für, Gründe sind normativ. Das Normative ist nicht Gegen10

Frankfurt, Harry: Freedom of the Will and the Concept of a Person. In: Journal of Philosophy 1 (1971), S. 5–20. Siehe hierzu auch Nida-Rümelin, Julian: Über menschliche Freiheit. Stuttgart 2005. 11 Singer, Wolf: Consciousness and the Binding Problem. In: Annals of the New York Academy of Sciences 929, 1 (2001), S. 123–146.

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stand der Naturwissenschaft. Wir wissen seit den meta-mathematischen Resultaten der 1930er Jahre, dass zum Beispiel Beweise von Theoremen der Prädikatenlogik erster Stufe nicht von einer Turing-Maschine produziert werden könnten. Wenn unsere Deliberation selbst in so einem elementaren Fall wie dem der Prädikatenlogik erster Stufe schon nicht mehr algorithmisch ist, dann ist a fortiori unsere komplexe lebensweltliche Praxis des Abwägens von praktischen und theoretischen Gründen nicht algorithmischer Art. Diese drei Eigenschaften von Gründen sprechen gegen die Naturalisierbarkeit von Gründen, wenn man unter einem kausalen Prozess etwas versteht, das auf Grund von Antezedens-Bedingungen plus gesetzmäßigen Prämissen eindeutig einen Nachfolgezustand oder ein bestimmtes Ereignis (sufficient natural causes) festlegt.

3. Philosophische und politische Rationalität Es gibt natürlich viele Unterschiede zwischen theoretischen und praktischen Gründen. Aber dass Gründe generell objektiv, normativ und nicht algorithmisch sind, die Art und Weise, wie sie wirken und das noch nicht Festgelegte dann am Ende festlegen, wie wir uns also eine Überzeugung zu eigen machen, eine Entscheidung zu treffen – all das scheint mir doch sehr plausibel zu sein. Alle Traditionen, die einen scharfen Schnitt machen zwischen theoretischen und praktischen Gründen, die sagen, das sei etwas völlig anderes, eine ganz andere Logik, gehen in die Irre. Das liegt zu weit ab von unserer geteilten lebensweltlichen Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens. So reden wir nicht, so argumentieren wir nicht. Wir sollten eine epistemische Perspektive einnehmen: Wir wollen herausfinden, unter welchen Bedingungen eine bestimmte Überzeugung oder eine bestimmte Entscheidung rational ist. Wir stellen nicht alles simultan zur Disposition, sondern wir sind uns in vielen Fällen völlig klar darüber, was wir glauben sollten und was nicht. Da brauchen wir nicht noch eine naturwissenschaftliche oder philosophische Theorie dazu. Wir haben aber Unsicherheitsfälle und Inkohärenzen in unserem epistemischen System und unserer lebensweltlichen Praxis. Zu diesem Zweck brauchen wir manchmal gedankliche, begriffliche Klarheit und dazu kann die Philosophie beitragen. Aber die Hauptaufgabe kann nicht die Philosophie schultern. Philosophie kann nicht die Rolle des Priesterstandes früherer Jahrhunderte übernehmen, der alle Fragen dann spätestens im Beichtstuhl löst. Zwischen theoretischer und praktischer Vernunft gibt es also Unterschiede, aber vor allem auch Gemeinsamkeiten. Jetzt werden wir uns kurz die Paradigmen aus dem philosophischen Denken zum Verhältnis von philosophischer und politischer Rationalität vor

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Augen führen. Da ist auffällig, wie stark das divergiert. Es gibt das platonische Paradigma, wonach es die philosophische Erkenntnisform ist, die dann die politische Praxis anleiten soll. Deswegen soll man sich Zeit lassen und eigentlich erst ab dem 35. Lebensjahr politische Verantwortung wahrnehmen und auch nur für fünfzehn Jahre, dann soll man aus der operativen Praxis wieder austreten. Oder nehmen Sie das Gegenmodell in der Antike, Aristoteles, der sagen würde, nein, ganz falsch, es ist nicht der Wissenschaftler, der die Grundlagen legt für die richtige politische Praxis, sondern es ist die erfahrungsgesättigte Lebensklugheit, um Ottfried Höffes Übersetzungsvorschlag von phronesis zu nehmen. Thomas Hobbes stellt sich das so vor, dass die leges naturales, die natürlichen Gesetze, die, wenn sie denn eingehalten würden, den Frieden und den zivilen Zustand sicherten, von jeder rationalen Person eingesehen werden können.12 Deswegen schreibt er auch zum ersten Mal für die damalige Zeit sein Hauptwerk auf Englisch, damit es auch wirklich jeder lesen kann. Das Problem ist nur, die Einsicht, dass man einen bestimmten Grund hat, einer bestimmten Regel zu folgen, nämlich diesen leges naturales, ist ohne staatliche Zentralgewalt völlig sinnlos. Denn diejenigen, die sich an diese Regeln halten, geraten in Nachteil gegenüber denen, die es nicht tun, und das ist damit unzumutbar. Ich formuliere das bewusst so. Also braucht man den Leviathan. Und jetzt kommt das Interessante, und das ist typisch modern: Der Leviathan greift ein, auch ohne dass das wirklich gesichert ist, erlässt er Gesetze, die diesen leges naturales hinreichend entsprechen müssen, sonst ist das ganze Modell nicht tragfähig, und dann kann die Gesellschaft ohne Politik leben. Deswegen müssen die Kirchen raus aus der politischen Debatte; keine Gerechtigkeitsdiskurse, nur noch Seelenheil, das ist der Hobbes’sche Befriedungsversuch Europas nach dreißig Jahren verheerenden Kriegs. Keine Politik, die Bürgerschaft treibt Handel und Wandel und der Leviathan macht die Gesetze. »Keep them all in awe« heißt es im Leviathan.13 Das vierte Paradigma ist Rousseau, hier geht es wiederum um das Verhältnis philosophischer und politischer Rationalität: Die ursprüngliche Freiheit wird wieder hergestellt durch die sittliche Körperschaft der Republik, die Versammlung, in der es nicht möglich ist, die eigenen Interessen geltend zu machen, sondern ausschließlich Gemeinwohl – oder volonté générale-orientierte Gründe vorzutragen.14 Das Vertrauen auf gute Gründe führt Rousseau so weit, dass er meint, alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig davon, ob sie studiert 12

Hobbes, Thomas: De Cive. Englische Version. In: The Clarendon Edition of the Philosophical Works of Thomas Hobbes, Bd. 3. Hg. v. Howard Warrander. Oxford 1983. 13 Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. v. Iring Fetscher. Frankfurt am Main 2006 [1651]. 14 Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social. Paris 2001.

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haben oder nicht, kommen jeweils in den Beratungen zu demselben Ergebnis. Und sie bleiben deswegen frei, denn sie erlegen sich ja selbst die Regeln auf, nach denen sie dann handeln. Der Mensch wird aufgesplittet in eine politische und eine außerpolitische Existenz. Die außerpolitische heißt bei Rousseau bourgeois, dies ist zugleich der Untertan in der Republik. Die politische heißt citoyen und der citoyen ist, zusammen mit den anderen citoyens, der Souverän. Er gibt die Gesetze und alle entäußern sich vollständig selbst, bis hin zum Todesurteil, das man unter Umständen in der Versammlung als citoyen qua Mitgliedschaft in der gesetzgebenden, sittlichen Körperschaft über sich selbst als bourgeois verhängt. Das totalitäre Element bei Rousseau liegt darin, sich selbst die Regeln zu geben, nach denen man lebt und handelt und denen man dann auch außerhalb der Politik als Privatperson in allen Konsequenzen, uneingeschränkt durch Individualrechte, unterworfen ist. Das sind jetzt vier aus der Philosophiegeschichte bekannte Paradigmen des Verhältnisses philosophischer und politischer Rationalität und ich nenne jetzt noch ein fünftes. Das fünfte könnte man vielleicht mit dem Namen John Dewey verknüpfen. Das Verhältnis von wissenschaftlicher oder philosophischer Rationalität und politischer Rationalität funktioniert bei Dewey in etwa so: Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen philosophischer und politischer Rationalität. Er sagt sogar an einer Stelle, die Demokratie sei eigentlich so etwas Ähnliches wie eine große Forschergemeinschaft, die versucht, herauszubekommen, was für uns gut ist und die entsprechend Gründe vorbringt. Die Gründe müssten, soweit sie Wissenschaftsbezug aufweisen, so vorgebracht werden, dass sie jede Person versteht. Democracy and Education: Die Erziehung muss die Voraussetzungen schaffen, dass das möglich ist.15 Und dann einigt man sich auf das, was für uns gut ist. Die wissenschaftlich-philosophische Rationalität und die politische Praxis sind auf den sozialen Fortschritt gerichtet. Platon und Dewey habe ich bewusst gewählt, sie stehen am Anfang und am Ende, sie verkörpern die beiden extremen Gegensätze. Bei Platon nähert sich die theoretisch-philosophisch wissenschaftliche Rationalität der politischen an und bei Dewey ist es umgedreht; politische Rationalität ist hier eine philosophisch-wissenschaftliche Rationalität. Ich hatte mir vorgenommen, Ihnen hier fünfundzwanzig Paradigmen vorzuführen. Da das zu viel wird, wende ich einen Trick an: Ich nenne jetzt zunächst fünf Paradigmen der Demokratie. Erstes Paradigma der Demokratie ist Demokratie als Markt. Damit wird das Geschehen in der Demokratie interpretiert als ein Marktgeschehen unterschiedlicher Akteure, die miteinander um Anteile auf dem Markt, Absatzmöglichkeiten, Gewinne usw. konkurrieren.

15

Dewey, John: Democracy and Education. North Chelmsford 2004.

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Zweitens die Vorstellung von demokratischer Politik als eine Form von Freundschaft: Man kann hier vor allem die zeitgenössischen Kommunitaristen nennen; denen geht es um eine Gemeinschaft, eine Bindung durch gemeinsame Werte, Praktiken, eventuell durch eine gemeinsame Religion, wie bei McIntyre, oder durch eine nationale Schicksalsgemeinschaft über die Zeit, wie bei Hegel. Das dritte Paradigma ist Demokratie als Forum: Demokratie besteht im Kern darin, dass verschiedene Vorschläge gemacht werden auf der agora, und dann wird darüber diskutiert und abgewogen. Ich habe bewusst beide Begriffe verwendet, agora und forum, denn das römische forum ist nicht die griechische agora. Da wäre dann die deliberative Demokratie-Konzeption, etwa à la Habermas, mit enthalten. Das vierte Paradigma von Demokratie sagt, Demokratie ist eine Form eines modus vivendi oder einer Interaktion zwischen Identitäten: ein Kampf um Identität. Er ist beschreibbar in einer weichen Variante, oft etwas zynisch veralbert als Multikulti-Idylle, oder in der harten Variante des Kampfes um konkurrierende Identitäten. Und das fünfte Paradigma von Demokratie versteht Demokratie als eine Form von Kooperation. Das steht dann in der Tradition von John Rawls, um einen wichtigen Vertreter zu nennen. Wenn Sie jetzt diese fünf mit den anderen fünf squaren, dann haben Sie fünfundzwanzig. Da sind einige Leerstellen, weil sich nicht jedes mit jedem gut squaren lässt, aber es gibt doch ein grobes Bild der philosophischen Debatte um das Verhältnis philosophischer und politischer Rationalität.

4. Die Macht der Reflexion in der politischen Praxis Jetzt wird es sehr konkret. Ich bin immer mal wieder darauf angesprochen worden: »Sie kommen aus der Philosophie, waren dann in der Politik und kennen ja nun beide Bereiche.« In der Tat, ich habe diese beiden Bereiche sehr intensiv kennengelernt. Ich glaube auch, dass dieser Kulturwechsel nicht gutgehen kann, wenn man nicht schon vorher wenigstens in groben Zügen ahnt, was einen erwartet. Es ist erst einmal eine völlig andere Welt. Ich will versuchen, dazu etwas Praktisches zu sagen und damit zu klären, welche Rolle in der Praxis der politischen Entscheidungsfindung Reflexion, Deliberation und Wissenschaft de facto spielen und welche sie spielen könnten oder sollten. Das sind jetzt die letzten zwei Schritte. Das Merkwürdige ist zunächst einmal, dass es – fast schon paradox – in der politischen Praxis eine extreme Langsamkeit von Entscheidungsprozessen gibt und zugleich eine extreme Schnelligkeit. Die extreme Langsamkeit kommt da-

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her, dass Probleme bekannt sind, dass die Menschen der Meinung sind, diese müssten irgendwie gelöst werden, dass aber zur gleichen Zeit als Voraussetzung einer Lösung bestimmte Zustimmungen erforderlich sind. Das kann dazu führen, dass erkannte Probleme über Jahre und Jahrzehnte überhaupt nicht gelöst werden. Die Flüchtlingsthematik ist dazu auch Illustration. Seit vielen Jahren wird diskutiert, dass man in Deutschland eine vernünftige Regelung der Zuwanderung bräuchte. Die politischen Interessenlagen waren aber zu divergent. Die Union, deren Kanzlerin in diesem Jahr unter Außerkraftsetzung der Dublin-Regelung zur Steuerung von Flüchtlingsbewegungen in der EU einen großen Zustrom Asylsuchender und Flüchtlinge zuließ, wollte sich dieses Mobilisierungsthema nicht durch eine kohärente Immigrationspolitik aus der Hand nehmen lassen. Eine Lösung war so über viele Jahre blockiert. Gleichzeitig gibt es eine extreme Schnelligkeit. Wenn eine Situation entstanden ist, bei der klar ist, dass man sich jetzt auf eine bestimmte Entscheidung festlegen muss, dann sind die Diskussionen sehr ergebnisorientiert. Da kann jedes wissenschaftliche Argument eingeführt werden, aber immer nur, wenn es hilfreich ist für eine Entscheidungsfindung. Das unterscheidet politische Entscheidungsgremien von manchen Fakultätsratssitzungen. Schnelligkeit und Langsamkeit – beide Phänomene sind in der Politik also präsent; und wenn man sie genauer analysiert, was wir jetzt leider nicht tun können, dann würde man bestimmte Charakteristiken erkennen, die sehr stark mit der Institutionalisierung von Politik zusammenhängen. Angelsächsische Politiksysteme sind entscheidungsfreudiger als Systeme mit Verhältniswahlrecht und Föderalismus. Das deutsche politische System unterscheidet sich vom britischen zum Beispiel darin, dass in Großbritannien geradezu ein Kult um den Antagonismus zwischen Opposition und Regierung gemacht wird. Da geht es vergleichsweise langweilig zu im Deutschen Bundestag. Den deutlichsten Unterschied zwischen den beiden politischen Systemen sieht die Bevölkerung nicht: Das ist nämlich das, was in den Bundestags-Ausschüssen passiert. In den Ausschüssen wird beraten und ich habe mich gewundert, wie sachlich und offen für wissenschaftliche Ergebnisse dort diskutiert wird. Es gibt auch wissenschaftliche Anhörungsverfahren, die im Ablauf gewöhnungsbedürftig sind, weil den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht die Zeit gegeben wird, ihre Argumente zu entwickeln und man zudem gelegentlich zweifelt, ob alle wirklich zuhören. Dieses Eindringen epistemischer Rationalität in die politische Praxis über Ausschussberatungen, über Anhörungsverfahren und Stellungnahmen etc. kann allerdings jederzeit gebrochen werden durch politische Machtdemonstrationen, zum Beispiel durch Entscheidungen eines Fraktionsvorstandes. Das kann zum reinen Machtspiel entarten, eine institutionelle Macht, die ausgeübt wird und die dann die Deliberation imprägniert. Dann werden Argumente gesucht, um irgendwie noch den Anschein der rationa-

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len Begründbarkeit aufrechtzuerhalten, und gerade das macht das Unbefriedigende der Debatten aus, die im Lichte der Öffentlichkeit stattfinden. Wenn Journalisten in den Ausschussberatungen dabei sind, verfallen diese sofort in einen anderen Modus. Das führt übrigens in ein ernstes Dilemma der politischen Praxis, für das ich keine einfache Lösung anzubieten habe: Die Transparenz der politischen Praxis ist ein essentieller Bestandteil der Demokratie, das unterscheidet Republiken von Nicht-Republiken. Zur gleichen Zeit ist die mediale Verstärkung und Kommentierung von Auseinandersetzungen geeignet, einen rationalen Diskurs im Keim zu ersticken. Es entsteht ein Amalgam aus Machtinteressen, das die Diskurslage imprägniert und den Einfluss von Argumenten, Gründen, Deliberationen auf die politische Entscheidungsfindung schwächt. Ich will nur sagen: Es gibt nicht den grundlegenden Hiatus – auf der einen Seite die politische Praxis, die von Macht und Interessen geprägt ist, und auf der anderen Seite die philosophisch-wissenschaftliche Praxis, die lediglich dem zwanglosen Zwang des besseren Argumentes folgt. An dieser Stelle möchte ich noch einen Vorschlag machen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in Deutschland. Die Deliberation politischer Fragen findet interessanterweise selbst in diesen von Machtinteressen imprägnierten öffentlichen Debatten immer statt, und zwar – achten Sie mal auf die Sprache der Beteiligten – im Modus der Gemeinwohlorientierung. Ich würde so weit gehen, folgendes zu sagen: Wenn sich zum Beispiel ein hoher Funktionär einer Gewerkschaft oder eines Unternehmerverbandes ans Mikrofon stellt und sagt, er sei gegen diesen oder für jenen Gesetzesentwurf, weil sein Unternehmensverband oder seine Gewerkschaft das beschlossen habe und die Interessen, die er repräsentiert, so und so seien, dann ist das kein Beitrag mehr zum politischen Diskurs. Darüber kann man streiten. Ich stelle es zur Diskussion. Wenn jemand in Tarifverhandlungen sagt, das sind die Interessen der von uns repräsentierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und dann kommt die Gegenposition, dann ist das nicht Politik, dann ist das etwas anderes. Diese These ist weitreichend. Meine These ist, dass der Diskurs, jedenfalls an der Oberfläche – und ich nehme diese Oberfläche ernst im Gegensatz zu John Mackie im Falle der moralischen Diskurse – durchgängig orientiert ist an bestimmten Kriterien, die man im Weitesten zusammenfassen kann unter Gemeinwohlorientierung, wie irrig sie auch immer sein mögen. In dem Moment, wo ich diesen Modus verlasse, ist es keine Politik mehr. Das erinnert natürlich an das Rousseau’sche Paradigma und in dieser Hinsicht, glaube ich, ist es zutreffend. Und alle, die politische Argumente vorbringen und die lediglich Interessenpositionen kaschieren, die also so tun als ob, haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie es selbst durchschauen und wenn es die Bürger merken, gibt es Kritik. Ich weiß, dass das sehr unglaubhaft klingt, weil die übliche Sicht ja die ist, dass das alles nur Agenden bestimmter Interessengruppen sind. Ich

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will auch nicht bestreiten, dass solche Imprägnierungen durch spezifische Interessenlagen eine ganz zentrale Rolle spielen, aber der Modus des politischen Diskurses ist anders und den sollte man ernst nehmen. Deswegen glaube ich nicht, dass es diese sorgfältige Scheidung geben kann zwischen politischer und philosophisch-wissenschaftlicher Rationalität. Das eigentliche Skandalon des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik ist, dass die Wissenschaft von den politischen Akteuren instrumentalisiert wird und viele Wissenschaftler sich gerne instrumentalisieren lassen. Das läuft dann ungefähr folgendermaßen ab: Jede Fraktion hat ein Vorschlagsrecht im Falle von Anhörungsverfahren. Eine wissenschaftliche Hilfskraft in der Fraktion bekommt dann den schönen Auftrag, Publikationen zu sichten, in der Regel solche deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, und zu schauen, welche auf der »richtigen Seite« stehen. Manchmal weiß man das sowieso, aber manchmal muss man auch ein bisschen recherchieren. Da kann es Irrtümer geben. Es gibt immer mal wieder Überraschungen bei solchen Anhörungsverfahren, weil man nicht genau genug hingeschaut hat. Das Verfahren aber ist, dass man sich einfach diejenigen sucht, die die eigene Position wissenschaftlich untermauern, die man schon tentativ oder vielleicht schon belegbar eingenommen hat, zum Beispiel in Gestalt eines Gesetzesentwurfes. Und diejenigen, die dann darauf eingehen, tun ja nichts Böses. Sie sind eingeladen, staatsbürgerliche Pflicht, und erzählen das, was sie immer erzählen und das ist eben erfreulicherweise im Einklang mit der Fraktionsmeinung. Nur dient das ja nun nicht der Rationalität politischer Entscheidungsfindung. Und deswegen scheint es mir wichtig, dass es institutionelle Möglichkeiten gibt, dies zu verändern, der Deliberation ein größeres Gewicht zu geben. Mit Fokus auf dem Verhältnis von Wissenschaft und parlamentarischer und gouvernementaler Regierungspraxis würde ich Folgendes vorschlagen: Wenn irgendeine Instanz berufen ist zu beurteilen, welche Personen in einer Sachfrage am kompetentesten Auskunft geben können, dann eine nationale Akademie, das, was durch eine Order unserer dann an ihrer Doktorarbeit gescheiterten Wissenschaftsministerin in die Welt gerufen wurde und de facto nicht existiert. Die »nationale Akademie« in Deutschland gibt es nur als eine merkwürdige Mischung aus Leopoldina, Union der Akademien und BBAW16 mit einem Schwergewicht bei der Leopoldina. In Zukunft gibt es dann nicht mehr die Methode, dass jede Fraktion sich die Stimmen aus der Wissenschaft sucht, die gerade dasselbe meinen wie sie selbst, sondern dann gibt es ein Anhörungsverfahren aus der Wissenschaft. Natürlich muss dann wieder die Akademie die Größe haben, das ganze Meinungsspektrum zu repräsentieren und nicht nur die Mehrheitsmeinung oder das, was vielleicht gerade der Präsident für das Zutreffende hält. Die 16

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.

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Akademie muss dann versuchen, epistemische Rationalität zu realisieren und alle, die in der Wissenschaft einen Beruf gefunden haben, wissen, dass es auch in der Wissenschaft nicht nur um den zwanglosen Zwang des besseren Argumentes, sondern sehr häufig auch um Macht geht. So wie es in der Politik um Macht geht, geht es allzu oft auch in der Wissenschaft um Macht, das Abwehren von kritischen Meinungen durch eine entsprechende Einladungs- und Rezensionspolitik. Unter den heutigen Bedingungen wäre es nicht möglich, dass Albert Einstein seine fünf weitreichenden Artikel im annus mirabilis der Physik 1905 veröffentlicht. Ein derart weit vom Mainstream abweichender Artikel würde in einer führenden Zeitschrift, (die »Annalen der Physik« war die führende Physik-Zeitschrift der Welt) heute definitiv nicht publiziert. Das ist eine Fehlentwicklung. Und wenn dann die nationale Akademie mit dieser neuen Bürde, mit dieser neuen Verantwortung, so umginge, dass sie sagt, wir werden die uns liebsamen Stimmen schicken, jene die den Mainstream repräsentieren, dann ist wieder alles verloren. Aber meine Hoffnung ist, dass es doch hinreichend epistemische Rationalität gibt in der Wissenschaft, und diese sollten wir verstärken. Daher dieser konkrete Vorschlag.

Lisa Herzog

Gibt es eine Macht der Reflexion in der Welt der Wirtschaft?

1. Einleitung Es gibt zwei Bilder von der Welt der Wirtschaft, die fest im kulturellen Repertoire unserer Gesellschaft verankert sind. Da ist einerseits das Bild von Akteuren,1 die in sinnstiftenden Tätigkeiten zusammenarbeiten und ihre Fähigkeiten in den Dienst der Gesellschaft stellen. Ihre Produktivität durch Arb eitsteilung steigernd, schaffen sie ein Sozialprodukt, das allen zugutekommt. Diese Akteure sind verantwortungsvoll handelnde Individuen, die sich in einen Zusammenhang einordnen, in dem ihre eigenen Interessen positiv mit denen anderer verkettet sind, eingebettet in die Sitten und Normen der Gesellschaft.2 Und da ist andererseits das Bild eines entfesselten Systems, das einer riesigen, kaum noch kontrollierbaren Maschine gleicht. In ihm sind die Individuen gesichtslose »Nutzenmaximierer«, die zwar hervorragend rechnen können, aber dies ausschließlich zur Verfolgung egoistischer Absichten tun, ja, regelrecht dazu gezwungen werden. Mächtige Konzerne und globalisierte Finanzströme, die in Nanosekunden um die Welt jagen, bestimmten das Geschehen in einem System, das ausschließlich seiner Eigenlogik folgt. Fragt man nach der »Macht der Reflexion in der Welt der Wirtschaft« – also danach, ob »Nachdenken hilft«, ob es einen Unterschied machen kann, dass Menschen die ihnen eigentümliche Fähigkeit der Reflexion anwenden – dann ist entscheidend, welches dieser beiden Bilder man zugrunde legt. Im ersten bleiben die Teilnehmer des Wirtschaftssystems denkende und moralisch verantwortliche Akteure, die grundsätzlich für eine »Macht der Reflexion« empfänglich sind. Anders im zweiten Bild: Schon die bloße Frage nach Reflexion scheint hier fehl am Platz; und die Möglichkeit, dass aus der Reflexion Handlungen folgen und Veränderungen erwachsen könnten, scheint im Widerspruch zu der systemischen Natur zu stehen, die dieses Bild von der Wirtschaft zeichnet. Zugespitzt lauten die Fragen dieses Essays: Was sind die Faktoren in der Welt der Wirtschaft, die diese Welt zu einem reflexionsfeindlichen System werden lassen oder die das zweite Bild wahr machen könnten? Lässt sich das ver1

Wo ich im Folgenden aus Gründen der Lesbarkeit die männliche grammatikalische Form verwende, sind Individuen aller Geschlechter gemeint. 2 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt am Main 1996, § 183, S. 340.

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hindern? Wie unterscheidet sich die Wirtschaft diesbezüglich von anderen Lebensbereichen? Ich werde im Folgenden voraussetzen, dass Reflexion generell möglich ist und dass sie in dem Sinne Macht entfalten kann, dass Menschen durch den »eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments«3 bewegt werden können, ihr Denken und Handeln zu verändern. Die moralische Bedeutung von Reflexion liegt darin, dass sie Menschen zu einem Handeln bewegen kann, das allgemeingültigen Normen folgt. Deshalb kann Handeln aus Reflexion, im Gegensatz zu einem rein an persönlichen Interessen ausgerichtetem Handeln, als protomoralisches Handeln verstanden werden. Zweifellos gibt es zahlreiche Arten von Argumenten – ästhetische, professionelle, historische, politische etc. Aus Gründen, die im Verlauf des Textes klarer werden, konzentriere ich mich insbesondere auf die Frage nach moralischen Argumenten in der Welt der Wirtschaft. Allerdings geht es nicht um Moral im Sinne eines hochtrabenden Tugend-Ideals oder eines aufopferungsvollen Altruismus; es geht um grundlegende moralische Normen, wie sie von den Anhängern verschiedener Weltanschauungen geteilt werden. Der Begriff »Welt der Wirtschaft« erfordert eine kurze Klärung. Diese Welt besteht aus verschiedenen Institutionen, in denen Individuen in verschiedenen sozialen Rollen aktiv sind; sie geht weit über das hinaus, was gemeinhin als »der Markt« beschrieben wird. Grob unterscheiden lassen sich die Rollen des Eigentümers, des Konsumenten und des Teilnehmers am Produktionsprozess. Zu den ersten beiden ließe sich viel sagen: zur sozialen Verpflichtung von Eigentümern, die in verantwortungsvollen Investitionspraktiken ihren Niederschlag finden kann, oder zu den Pflichten von Verbrauchern, die in der Diskussion über ethischen Konsum verhandelt werden. Ich möchte mich jedoch auf die Rolle von Individuen in Produktionszusammenhängen konzentrieren, also auf Mitglieder von Organisationen, die Produkte und Dienstleistungen herstellen und vermarkten.4 Hier sind die Einzelnen die sprichwörtlichen »Rädchen im System«, und der angeblich systemische Charakter der Wirtschaft kommt besonders klar zum Ausdruck. Dieses Feld wurde von der praktischen Philosophie – mit Ausnahme der Wirtschaftsethik – bislang wenig behandelt, fällt es doch genau zwischen die politische Philosophie mit ihrem Fokus auf 3

Habermas, Jürgen: Wahrheitstheorien. In: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main 1995, S.127–183, hier S.161. 4 Mit Organisationen meine ich typischerweise Firmen, die intern in etwa dem Modell einer Bürokratie im Sinne Max Webers folgen: Es gibt Rollen mit verschiedenen Verantwortlichkeiten, ein Regelwerk über die Aufgabenverteilung und hierarchische Entscheidungsstrukturen. Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Frankfurt am Main 2005, S. 703–738. Viele meiner Überlegungen treffen auch auf Organisationen zu, die nicht im engeren Sinne zur »Welt der Wirtschaft« gehören, beispielsweise staatliche Bürokratien oder Organisationen wie Kirchen oder Parteien.

Gibt es eine Macht der Reflexion in der Welt der Wirtschaft?

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Makrostrukturen und die Moralphilosophie mit ihrer Frage nach dem Handeln der Einzelnen. Dabei sind es genau diese Meso-Strukturen, in denen sich die Frage nach der »Macht der Reflexion« besonders dringlich stellt, bilden sie doch das Scharnier zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft. Ich werde zunächst im zweiten Abschnitt kurz ausführen, was unter der »Macht der Reflexion« in diesen Kontexten verstanden werden kann, und ich werde gegen ein Bild von Ökonomie argumentieren, das Reflexion außen vor lässt. Stattdessen werde ich die Bedeutung dessen betonen, was in der Organisationstheorie als »sensemaking« beschrieben wird: die gemeinsame Aushandlung von als gültig akzeptierten Interpretationen der grundsätzlich interpretationsbedürftigen Wirklichkeit. In einer funktional differenzierten Gesellschaft müssen nicht alle Formen der Reflexion in allen sozialen Kontexten stattfinden. Was in wirtschaftlichen Organisationen jedoch reflexiv thematisiert werden sollte, ist die Frage nach der Vereinbarkeit der eigenen Aktivitäten mit grundlegenden moralischen Normen sowie die Frage, wie die eigene Rolle sinnvollerweise ausgefüllt werden sollte. Ich wende mich daher im dritten Abschnitt den Faktoren zu, die verhindern, dass moralische Reflexion in der Wirtschaft stattfinden kann. Neben relativ bekannten Problemen wie Machtungleichgewichten und wettbewerblichem Druck möchte ich insbesondere auf psychologische Faktoren sowie die Gefahr selbsterfüllender Prophezeiungen eingehen: Wo Wirtschaft, dem zweiten oben gezeichneten Bild gemäß, als einer verselbständigter Systemlogik unterworfen begriffen wird, da könnte es das Bild selbst sein, das die Ohnmacht der Reflexion erst produziert oder verschärft. Im vierten Abschnitt werde ich ein anderes Bild zeichnen und ein MehrEbenen-Modell vorschlagen, das Reflexion als reale Möglichkeit bei Individuen, wirtschaftlichen Organisationen und auf der Ebene der politischen Rahmensetzung verortet. Die Fähigkeit, die Ergebnisse von Reflexion in konkrete Veränderungen umzusetzen, kann ebenfalls auf mehreren Ebenen angesiedelt sein, so dass dort jeweils auch Verantwortlichkeiten zugeschrieben werden müssen – denn in Zeiten einer globalisierten Wirtschaft ohne Weltstaat, nach dem Verlust aller Hoffnungen auf »unsichtbare Hände« des Marktes oder geschichtliche Automatismen, muss die Frage nach der moralischen »Arbeitsteilung« im Wirtschaftsleben grundsätzlich neu gestellt werden.

2. Reflexion in der Welt der Wirtschaft Versteht man die Welt der Wirtschaft nach dem Modell, das die Wirtschaftswissenschaften typischerweise von ihr zeichnen, so scheint Reflexion in ihr nicht vorzukommen. Wirtschaft wird verstanden als ein Bereich, in dem Individuen – oder andere atomistisch gedachte »Akteure« – strikt eine gege-

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bene »Nutzenfunktion« verfolgen, die ihr Verhalten bestimmt. Unter gegebenen Parametern, zum Beispiel in einem bestimmten gesetzlichen Rahmen, mit einer bestimmten Menge von Input-Faktoren und einer bestimmten Anzahl von Marktteilnehmern, kann dann mathematisch bestimmt werden, wie das »optimale« Verhalten der Akteure aussieht und welche Systemkonstellation sich dadurch ergibt. Auch wenn damit ein freies Wahlverhalten der Akteure angenommen wird, liegt doch ein sehr eingeschränktes Verständnis menschlichen Handelns vor: Weder wird die Frage gestellt, wie die Präferenzen der Individuen und damit ihre »Nutzenfunktionen« überhaupt entstehen, noch werden diskursive und kollektive Formen des Handelns in Erwägung gezogen, geschweige denn politisches Handeln, das den gesetzlichen Rahmen auf grundlegende Art und Weise ändern könnte. Die Akteure sind in diesen Modellen letztlich unfrei: Sie sind der jeweiligen Konstellation äußerer Faktoren und dem Imperativ, ihre eigenen Interessen um jeden Preis zu verfolgen, unterworfen. Dieses Bild jedoch hat wenig mit dem gemein, was Soziologen und Organisationstheoretiker als die soziale Wirklichkeit in wirtschaftlichen Organisationen beschreiben. Reales wirtschaftliches Handeln ist nicht nur kalkulierbaren Risiken mit bekannten Wahrscheinlichkeiten ausgesetzt, sondern auch genuiner Unsicherheit. Häufig lassen sich gar keine Wahrscheinlichkeiten für zukünftige Ereignisse angeben.5 Nicht nur weil unvorhergesehene Ereignisse von außen das Wirtschaftssystem erschüttern können, sondern auch, weil das Verhalten von Individuen nicht immer rationalen Prinzipien folgt und sie zum Beispiel von der Panik anderer Marktteilnehmer angesteckt werden können, ergeben sich Unsicherheiten, die rationaler Planung im Wege stehen. In diesen von Unsicherheit geprägten Kontexten müssen Unternehmen zunächst ihre Präferenzen definieren; die Formel einer »Gewinnerzielungsabsicht« ist dabei viel zu vage, kommt es doch maßgeblich darauf an, auf welche Weise, in welchen Märkten und in welchem Zeithorizont diese Gewinne erzielt werden sollen. In die »Nutzenfunktion« eines Unternehmens können die unterschiedlichsten Faktoren eingehen – nicht nur, weil den Interessen verschiedener interner Gruppen Rechnung getragen werden muss, sondern auch, weil verschiedene Mitglieder unterschiedliche Annahmen über die Methoden der Gewinnerzielung machen. Zum Beispiel kann es sein, dass ein Vorstandsmitglied davon ausgeht, dass die Motivation der Mitarbeiter wesentlich dafür ist, dass diese kreativ und produktiv für das Unternehmen arbeiten; während ein anderes Vorstandsmitglied den Verdacht äußert, zu lasche Kontrollen könnten von den Mitarbeitern ausgenutzt werden. Je nachdem, worauf der Vorstand 5

Die klassische Unterscheidung zwischen »Risiko« und »Unsicherheit« stammt von Knight, Frank H.: Risk, Uncertainty, and Profit. Boston 1921.

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sich einigt, können die Präferenzen und die sich aus diesen ergebenden Strategien des Unternehmens sehr unterschiedlich aussehen. All diese Prozesse müssen stattfinden, bevor die ökonomische Methodologie mit ihrer Annahme gegebener »Nutzenfunktionen« überhaupt ansetzen kann – und hier können durchaus Prozesse der Reflexion stattfinden. Weil in diesen Zusammenhängen unter Bedingungen der Unsicherheit geplant werden muss, bedarf es zunächst einer gemeinsamen Festlegung dessen, was man als gegebene Parameter der Wirklichkeit betrachtet. Karl Weick hat den Begriff des »sensemaking« eingeführt, um zu beschreiben, wie Individuen die Welt durch »talk, discourse, and conversation« gemeinsam interpretieren.6 »Sensemaking« ist ein sozialer Prozess, in dem gemeinsam festgelegt wird, welche Interpretationen der Wirklichkeit als plausibel gelten. Zwar findet all dies nicht im leeren Raum statt: Die Teilnehmer gehen von bestimmten Annahmen aus; sie versuchen, Informationen über relevante Daten zu bekommen. Doch diese sprechen in der Regel nicht für sich alleine, sondern müssen gedeutet werden – ist beispielsweise ein Knick in einer Kurve nur eine leichte Schwankung in einem Markt, in dem ein Unternehmen aktiv ist, oder leitet er einen langanhaltenden Abschwung ein? Derartige Festlegungen können performative Kraft entfalten, wenn das eigene Verhalten anschließend nach ihnen ausgerichtet wird. Sie finden nicht nur innerhalb von Unternehmen statt, sondern können auch über deren Grenzen hinaus ausstrahlen auf andere Unternehmen, zum Beispiel über berufliche und fachliche Netzwerke, die über Unternehmensgrenzen hinausgehen.7 So lässt sich beobachten, dass bestimmte Trends in der Organisation und in der strategischen Ausrichtung von Unternehmen oft ganze Branchen erfassen. Organisationstheoretiker beschreiben solche Prozesse als »institutionellen Isomorphismus«: Unternehmen übernehmen Elemente aus der Umgebung und gleichen sich einander an, selbst wenn dies nicht unbedingt ihren jeweiligen praktischen Erfordernissen entspricht.8 DiMaggio und Powell unterscheiden drei Arten von Mechanismen: zum einen Zwang oder Druck, der von der Gesellschaft oder auch der Regierung, die einheitliche Regelungen erlassen kann, auf Unternehmen ausgeübt wird; zum zweiten Nachahmungsprozesse, in denen Unternehmen auf ähnliche Weise mit Unsicherheit umgehen, indem sie beispielsweise die gleichen Modelle verwenden; zum dritten Bewegungen, die von bestimmten Berufsgruppen und deren Ausbildung ausgehen.9 In derarti6

Weick, Karl. E.: Sensemaking in Organizations. London, Neu Delhi, S. 41. Granovetter, Mark: Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness. In: American Journal of Sociology 3 (1985), S. 481–510. 8 Meyer, John W./Rowan, Brian: Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony. In: American Journal of Sociology 1977 (2), S. 340–363. 9 DiMaggio, Paul J./Powell, Walter W.: The Iron Cage Revisited: Isomorphism and 7

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gen Prozessen wird erst definiert, was als Normalität des Geschäftslebens gilt und wie mit spezifischen Herausforderungen umzugehen ist. »Sensemaking« unterscheidet sich grundlegend von dem deterministischen Befolgen von Nutzenkalkülen: Es findet im Modus des verbalen Austauschs und der Argumentation statt, so dass im Prinzip auch die Macht der Reflexion hier ansetzen kann. Reflexion im Sinne des Suchens nach und des Abwägens von Argumenten, alleine oder gemeinsam mit anderen, hat demnach durchaus einen Platz in der Welt der Wirtschaft und kann durchaus auch Veränderungen anstoßen. Allerdings ist die Offenheit für verschiedene Typen von Argumenten unterschiedlich ausgeprägt: Nicht jede Art von Argument wird in Unternehmen gleichermaßen gehört. Zum Teil ist dies berechtigt: Wir leben in funktional differenzierten Gesellschaften, und nicht alle Diskurse müssen gleichermaßen in allen sozialen Kontexten stattfinden. So ist es zum Beispiel akzeptabel, vielleicht sogar wünschenswert, wenn Argumenten, die aus den spezifischen Weltanschauungen von Individuen stammen, in Unternehmen keine allzu große Rolle eingeräumt wird – zumindest dann nicht, wenn sie zu Konflikten mit Anhängern anderer Weltanschauungen führen würden. In wirtschaftlichen Organisationen haben naturgemäß besonders diejenigen Argumente ihren Platz, die die Ziele der Organisationen betreffen. Andersartige Argumente müssen meist in derartige Argumente »übersetzt« werden, um Gehör zu finden. Die Forderung, dass ein Unternehmen ein bestimmtes Sportereignis sponsern solle, wird dann zum Beispiel mit dem positiven Werbeeffekt begründet, der die Verkaufszahlen erhöhen soll – und ob eine derartige »Übersetzung« sachlich richtig ist, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Gefährlich allerdings wird es, wenn die Orientierung an den Zielen der Organisation andere Argumente völlig verdrängt und als einzig gültige Norm betrachtet wird – ein Phänomen, das Kenneth E. Goodpaster als »Teleopathie« beschrieben hat: die pathologische Fixierung auf ein bestimmtes Ziel.10 Mindestens zwei Formen der Reflexion müssen auch in funktional differenzierten Gesellschaften Eingang in Wirtschaftsunternehmen finden können. Zum einen sind dies Fragen danach, ob das eigene Handeln mit grundlegenden moralischen Normen vereinbar ist, und zwar nicht nur mit jenen, die gesetzlich festgeschrieben sind und gerichtlich durchgesetzt werden können, sondern auch mit solchen, die nicht oder noch nicht gesetzlich geregelt sind oder bei denen eine gerichtliche Überprüfung schwierig ist. Denn auch in funktional differenzierten Gesellschaften liegt das vor, was Samuel Scheffler die »pervasiveness« von Moral genannt hat: Moral durchdringt alle LebensCollective Rationality in Organizational Fields. In: American Sociological Review 48 (1983), S. 147–160. 10 Goodpaster, Kenneth: Conscience and Corporate Culture. Malden 2007, hier Kapitel I.

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bereiche, und jedes menschliche Handeln kann nach moralischen Kategorien bewertet werden.11 Zwar mag es in bestimmten Fällen entschuldigende Gründe dafür geben, dass Individuen sich nicht an moralische Normen halten, zum Beispiel die Tatsache, dass sie unter dem Einfluss von Drogen standen; doch es gibt keinen Raum, der »moralfrei« wäre. Um jedoch zu beurteilen, ob und wie in einer Wirtschaftsorganisation moralische Normen verletzt werden oder verletzt werden können, ist das detaillierte Wissen der beteiligten Akteure um die konkreten Umstände unerlässlich. Oft sind nur sie in der Lage, die Folgen zu beurteilen, die sich zum Beispiel aus dem Einsatz bestimmter Technologien für die Gesundheit der Kunden ergeben. Außenstehende können solche Gefahren oft erst erkennen, wenn es zu spät ist. Der Einwand, dass bestimmte Praktiken grundlegende moralische Standards verletzen könnten, muss daher auch in Unternehmen Raum haben, auch dann, wenn diese Praktiken für das Unternehmen gewinnbringend wären und ihre Entdeckung durch die Öffentlichkeit unwahrscheinlich wäre. Ähnlich verhält es sich mit der zweiten Form von Reflexion, die innerhalb von Wirtschaftsorganisationen ihren Raum haben muss – sie muss dort stattfinden können, schlicht und einfach deshalb, weil nicht klar ist, wo sie sonst stattfinden könnte. Diese Form der Reflexion betrifft die Frage, wie die jeweiligen Aufgaben eines Unternehmens erledigt werden sollen und ob dabei zielgruppen- oder berufsspezifische Normen und Werte berücksichtigt werden. Unternehmen verdienen Geld, indem sie bestimmten Tätigkeiten nachgehen, doch für diese Tätigkeiten gibt es häufig von der Gewinnerzielung unabhängige Maßstäbe – zum Beispiel professionelle Standards bezüglich dessen, wie gute Ingenieursleistungen aussehen oder medizinische Standards bezüglich der Frage, welches Pharmaprodukt tatsächliche gesundheitliche Verbesserungen bewirkt. Für die Gesellschaft als Ganze ist es wünschenswert, dass derartigen Maßstäben genügt wird, anstatt dass Unternehmen sie zugunsten eigener Gewinne missachten. Die Frage, ob sie zur Missachtung moralisch berechtigt sind, wenn es keine entsprechenden gesetzlichen Vorgaben gibt, ist komplex – was ist beispielsweise, wenn auch die Kunden lieber billige Produkte als Qualitätsware kaufen? In jedem Fall aber muss die Diskussion darüber, wie sich ein Unternehmen zu diesen Fragen positioniert, auch innerhalb von Unternehmen stattfinden können. Denn die dort Arbeitenden sind häufig am besten in der Lage, diese komplexen Sachverhalte zu beurteilen. Reflexion im Sinne des Suchens nach und als Austausch von Argumenten kann also durchaus auch in Unternehmen stattfinden, und sie findet vielfach auch statt. Dass es durch die Orientierung auf das Ziel der Organisation zu einer gewissen Verzerrung kommt und nicht alle Argumente gleich viel Gehör 11

Scheffler, Samuel: Human Morality. New York, Oxford 1992, S. 25.

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finden, kann legitim sein, solange die Bereitschaft besteht, Fragen nach grundlegenden moralischen Normen und Fragen nach professionellen Standards zu stellen und die entsprechenden Antworten auch wirkmächtig werden zu lassen. Dies kann und sollte eine demokratische Gesellschaft von Unternehmen auch einfordern.

3. Mächte gegen Reflexion Was sind nun die Faktoren, die verhindern, dass derartige Reflexion innerhalb der Wirtschaft ihre Macht entfalten kann? Zwei Faktoren sind offensichtliche Kandidaten für eine Erklärung. Zum einen gibt es das Machtgefälle zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, das sich in Unternehmen in den internen Hierarchien fortsetzt. Obwohl es vereinzelte Ausnahmen geben mag, kann man grundsätzlich davon ausgehen, dass Individuen auf ihr Arbeitseinkommen angewiesen sind. Die Möglichkeit, mit dem Verlust des Arbeitsplatzes zu drohen, schafft eine Asymmetrie zwischen Unternehmen und Individuen, auch in relativ stark regulierten Arbeitsmärkten wie dem deutschen. Darüber hinaus entscheiden diejenigen, die in der Unternehmenshierarchie höher stehen, über die Karriere- und damit auch Verdienstmöglichkeiten derjenigen, die ihnen untergeordnet sind. In dieser hierarchischen Natur unterscheiden sich Unternehmen grundsätzlich von Märkten; sie sind »islands of conscious power in this ocean of unconscious co-operation like lumps of butter coagulating in a pail of buttermilk« – ein Bild , das Ronald Coase in seinem klassischen Aufsatz zur »Theorie der Firma« vom Cambridge-Ökonomen Dennis Robertson übernahm.12 Die »Theorie der Firma«, die Coase begründete, erklärt diese Hierarchien mit Effizienzvorteilen durch Formen der Koordination, die freie Märkte nicht leisten können. Auch wenn sie grundsätzlich rechtfertigbar sein mögen, sind diese Hierarchien ein Hindernis für Reflexion in Unternehmen – nicht nur in dem direkten Sinne, dass Angestellten verboten werden kann, kritische Fragen zu stellen, sondern meist auf subtilere Weise. So können Angestellte zum Beispiel über strategische Entscheidungen der Unternehmensleitung im Unklaren gelassen werden, oder diejenigen, die in Machtpositionen stehen, weigern sich, anderen Gehör zu schenken. Ein zweiter, oft angeführter Faktor, der als »reflexionsfeindlich« gelten darf, ist der Kostendruck, der in vielen Unternehmen herrscht, da sie im marktwirtschaftlichen Wettbewerb mit anderen Unternehmen stehen.13 Er ist es, der die 12

Dennis H. Robertson zitiert nach Coase, Ronald H.: The Nature of the Firm. In: Economia – New Series 4 (1937), S. 386–405, hier S. 386 f. 13 Ein ähnlicher Kostendruck wurde durch Strategien des »New Public Management« auch in viele öffentliche Organisationen getragen, mit teils ähnlichen Folgen.

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einseitige, teilweise geradezu blinde Fokussierung auf das Erreichen bestimmter Ziele nahelegt. Allerdings treffen die oben angeführten Überlegungen auch hier zu: Wie man im Wettbewerb bestehen kann und will, ob man zum Beispiel einen billigen Massenmarkt bedient oder ein teureres Nischensegment, das ist keineswegs determiniert. Die Verletzung grundlegender moralischer Normen – die oftmals auch in gesetzliche Form gegossen sind – kann mit dem Hinweis auf Wettbewerbsdruck nicht gerechtfertigt werden, selbst dann nicht, wenn das Überleben eines Unternehmens auf dem Spiel steht. Wozu »der Wettbewerb« Unternehmen angeblich »zwingt«, wird außerdem maßgeblich davon beeinflusst, wie der Wettbewerb durch den gesetzlichen Rahmen gesteuert wird und was die Kunden von einem Unternehmen erwarten. Ein pauschaler Hinweis auf »Wettbewerbszwänge« verdeckt allzu leicht die Frage danach, wieviel »Zwang« wirklich vorliegt. Allerdings legt die Lektüre organisationssoziologischer Studien und das Gespräch mit Praktikern aus Wirtschaftsorganisationen nahe, dass diese Faktoren alleine nicht ausreichen, um zu erklären, weshalb Reflexion und insbesondere moralische Reflexion einen schweren Stand in Unternehmen haben kann.14 Eine zusätzliche Rolle spielen zahlreiche psychologische Faktoren, die keineswegs auf Unternehmen beschränkt sind – sie können auch an zahlreichen anderen Stellen im sozialen Gewebe unserer Gesellschaft Reflexion verhindern. Durch stark ausgeprägte Arbeitsteilung entsteht bei den Mitgliedern von Organisationen leicht das Gefühl, nicht für das Endergebnis verantwortlich zu sein, da man nur einen winzigen, austauschbaren Beitrag leistet. Der Sinn für die eigene moralische Verantwortung wird geschwächt, und die Motivation, über die gesamten Prozesse nachzudenken, schwindet. Die Darstellung und Wahrnehmung von Handlungen in rein technischen Begriffen kann deren moralische Dimension verdecken.15 Gruppendenken führt außerdem leicht zur Übernahme der jeweils herrschenden Deutungsmuster und dem Gefühl, dass es »alle so machen«, das als Rechtfertigungsersatz dienen kann. Alternative Deutungsmuster oder Perspektiven, die Reflexion anstoßen und bereichern könnten, werden verdrängt, besonders dann, wenn die Akteure am Arbeitsplatz und im Privatleben in ähnlichen sozialen Gruppen verkehren. Diese Phänomene sind nicht auf die Welt der Wirtschaft beschränkt, allerdings kann ihre Wirkung dort besonders verheerend sein. Um sie zu bekämpfen, ist einerseits die Bereitschaft nötig, derartige Prozesse wahrzunehmen und 14

Interessant in dieser Hinsicht sind z. B. Kunda, Gideon: Engineering Culture. Philadelphia 1996 oder Gill, Matthew: Accountants’ Truth. Knowledge and Ethics in the Financial World. Oxford 2009. 15 Siehe zum Beispiel Bandura, Albert: Moral disengagement in the perpetration of inhumanities. In: Personality and Social Psychology Review 3 (1999), S. 193–209.

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sich die eigene Anfälligkeit für sie offen einzugestehen – und andererseits der Wille, konstruktiv mit ihnen umzugehen. Am erfolgreichsten dürfte es häufig sein, nicht individualistisch, sondern kollektiv und organisiert gegen solche psychologischen Ursachen der Reflexionsfeindlichkeit anzugehen, zum Beispiel durch den bewussten Einbezug der Stimmen von Außenstehenden in interne Diskussionen. Diese psychologischen Faktoren können jedoch ein tiefer sitzendes Problem überdecken und auch verstärken. Dies ist das Problem, dass menschliches Handeln in Wirtschaftsorganisationen möglicherweise durch eine Art selbsterfüllender Prophezeiung gerade den Charakter bekommt, der moralischer Reflexion abträglich ist – der Charakter, der vom oben gezeichneten Bild einer rein systemisch funktionierenden Sphäre nahelegt wird. Menschen sind, wie Charles Taylor es einmal genannt hat, »self-interpreting animals«, deren soziale Realität zumindest zum Teil dadurch geprägt ist, wie sie sie beschreiben.16 Wenn Menschen dementsprechend sich selbst und ihr eigenes Handeln nur noch als »Rädchen im System« auffassen, werden sie möglicherweise gar nicht erst versuchen, moralische Reflexion in wirtschaftliche Organisationen zu tragen; sie verzichten dann zum Beispiel darauf, kritisch nach Arbeitszuständen in der Lieferkette zu fragen oder eine Diskussion über klimafreundlichere Praktiken einzufordern. Eine derartige Selbstinterpretation kann eine Rationalisierung von Verhalten sein, dessen moralische Defizite man im Grunde anerkennt, sich selbst jedoch nicht eingestehen will. Jean-Paul Sartre prägte den Begriff des mauvaise fois – eine Form der Unaufrichtigkeit oder des Sich-selbst-Belügens, bei der Menschen die eigene Freiheit leugnen, indem sie soziale Rollen so sehr annehmen, dass sie sich als von diesen Rollen restlos determiniert verstehen.17 In einem berühmt gewordenen Zitat aus einem Interview mit dem Soziologen Robert Jackall sagt ein Manager: »What is right in the corporation is not what is right in a man’s home or in his church. What is right in the corporation is what the guy above you wants from you.«18 Damit impliziert er, dass er nicht die Freiheit hat, zu beurteilen, was in seiner Firma richtig oder falsch ist – oder zumindest nicht die Freiheit, danach zu handeln. Selbst Manager, die auf den ersten Blick mächtig und einflussreich erscheinen, sehen sich oft als Getriebene, die zwischen den Interessen verschiedener Anspruchsgruppen kaum Gestaltungsspielraum haben. Solche Selbstdeutungen laufen Gefahr, die 16

Taylor, Charles: Self-interpreting Animals. In: Human Agency and Language. Philosophical Papers 1. Cambridge 1985, S. 45–76. 17 Sartre, Jean-Paul: L’ être et le néant. Essai d’ontologie phénomenologique. Paris 1943, Kapitel 3. 18 Jackall, Robert: Moral Mazes. The World of Corporate Managers. New York, Oxford 1988, S. 6.

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realen Handlungsspielräume zu verleugnen – am Ende bleibt möglicherweise ein Bild, in dem niemand irgendwelche Handlungsspielräume hat und jede Möglichkeit moralischer Verantwortung verpufft. Hinter einer Selbstdeutung als bloßes »Rädchen im System« könnte jedoch nicht nur mauvaise fois stehen, sondern auch ein Missverständnis bezüglich der Frage, welche Werte eine Gesellschaft teilt und inwiefern Individuen für sie einstehen dürfen und sollen. Denn wir leben fraglos in weltanschaulich und damit auch moralisch pluralistischen Gesellschaften, in denen ein gegenseitiges Toleranzgebot hinsichtlich der jeweiligen Vorstellungen vom Guten herrscht. Daraus könnte man vielleicht folgern, dass man kein Recht hat, moralische Reflexion und moralisches Handeln innerhalb von Unternehmen einzufordern – dort, so könnte man sagen, ist es nur erlaubt, sich auf funktionale Imperative bezüglich der Ziele des Unternehmens zu berufen, die von Individuen mit unterschiedlichen Vorstellungen des Guten gleichermaßen akzeptiert werden können. Doch diese Vorstellung beruht auf einem falschen Bild: Der moralische Pluralismus unserer Gesellschaften reicht keineswegs so tief, dass auch bezüglich grundlegender moralischer Werte und Normen Unverbindlichkeit bestünde. Andernfalls wäre das friedliche Zusammenleben in freiheitlichen Gesellschaften kaum möglich. Wenn diese grundlegenden Werte und Normen gefährdet sind, haben Individuen in vielen Fällen nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich für sie einzusetzen. Dies trifft auch dann zu, wenn sie auf Verletzungen oder das Risiko von Verletzungen dieser Werte und Normen in ihrer Rolle in Unternehmen stoßen. Eine weitere Dimension dieses gefährlichen Missverständnisses ist die kollektive Ebene. Über mehrere Jahrzehnte dominierte ein funktionalistisches Verständnis die betriebswissenschaftliche Theoriebildung: Unternehmen sollten sich innerhalb des gesetzliches Rahmens ausschließlich auf die Gewinnerzielung konzentrieren; Reflektion auf moralische oder berufliche Standards sei weder nötig noch möglich. Dieses Denken ist nicht ohne Folgen für die unternehmerische Praxis geblieben.19 Die Vorstellung, dass Menschen grundsätzlich ihre eigenen Interessen maximieren wollen und keine intrinsische Motivation haben, gute Arbeit zu leisten oder gar moralisch zu handeln, hat ihren Niederschlag in zahlreichen Dimensionen von Unternehmen gefunden, von den Anreiz- und Kontrollsystemen bis hin zu der Sprache und Kultur, die in vielen Unternehmen vorherrscht.20 Wie insbesondere Frederic Bird argumen19

Vgl. dazu auch Ghoshal, Sumantra: Bad Management Theories Are Destroying Good Management Practices. In: Academy of Management Learning & Education 1 (2005), S. 75–91. 20 Auch in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen hat sich dieses Bild niedergeschlagen; im Mainstream der Volkswirtschaftslehre wird es ebenso vorausgesetzt wie in der Systemtheorie und manchen Strömungen des (Spät-)Marxismus. Es wäre ein

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tiert hat, scheitert moralische Reflexion in Unternehmen oft daran, dass ein geeignetes Vokabular fehlt und sich die Phänomene moralischer »Blindheit«, »Taubheit« und »Stummheit« gegenseitig verstärken: Eine Person übersieht die moralischen Dimensionen einer Strategie, eine zweite spricht sie an, stößt aber auf taube Ohren, eine dritte wagt nicht, sie anzusprechen – so entsteht nach und nach ein Bild, in der moralische Reflexion keinen Platz hat.21 Ist ein Unternehmen einmal in einen derartigen Zustand geraten, haben Menschen, die moralische Reflexion oder Reflexion über das eigene Vorgehen jenseits der reinen Zielorientierung anstoßen wollen, einen schweren Stand. Es kann dann zu einer Auslese kommen, bei der nur noch diejenigen die höheren Stufen der Hierarchie erklimmen, die sich dem Vokabular und Argumentationsmodus des Unternehmens anpassen. Kritische Reflexion wird dann gleichsam aus den Unternehmen herausselektiert. Auch zwischen Unternehmen kann möglicherweise ein derartiger Selektionsprozess stattfinden: Wenn Kunden nicht an der moralischen Qualität von Produktionsprozessen interessiert sind und wenn der Wettbewerb nicht entsprechend geregelt ist, können diejenigen Unternehmen, die interne Reflexion zulassen und deren Ergebnisse in Handlungen umzusetzen versuchen, kompetitive Nachteile erleiden und letztlich aus dem Markt selektiert werden; übrig blieben nur diejenigen, die ihr eigenes Handeln rein funktionalistisch verstehen und ausrichten. Der reflexionsfeindliche, systemische Charakter, den das eingangs skizzierte Bild der Wirtschaft unterstellt, würde in solchen Prozessen erst wahrgemacht – das Bild gerät zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung.

4. Ebenen der Macht, Ebenen der Reflexion Gibt es eine Macht der Reflexion in der Welt der Wirtschaft? Wie ich argumentiert habe, kann Reflexion durchaus einen Platz in Unternehmen haben. Allerdings gibt es einflussreiche Mächte, die gegen Reflexion und insbesondere interessantes Vorhaben, genauer zu untersuchen, was hier »Henne« und »Ei« ist, also in welchem Maß diese Disziplinen auf eine schon entsprechend verfestigte soziale Wirklichkeit reagiert haben, oder ob sie selbst mit der Bereitstellung legitimierender Narrative zu deren Verfestigung beigetragen haben. Hierbei müsste man jeweils auch auf die Macht- und Interessenskonstellationen in den Epochen eingehen, in denen bestimmte Theorien (teils nur von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, teils gesamtgesellschaftlich) akzeptiert wurden. Es steht außer Frage, dass auch in der heutigen Situation Interessen hinter dem Vorherrschen bestimmter Theorien stehen, sowohl in einem allgemeinen Sinn als auch ganz konkret durch die finanzielle Förderung bestimmter Theoriestränge durch Unternehmen oder Unternehmensstiftungen. 21 Bird, Frederic B.: The Muted Conscience. Moral Silence and the Practice of Ethics in Business. Westport, London 1996.

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gegen moralische Reflexion wirken. Wenn diese Mächte überhandnehmen, und wenn ein Bild des Wirtschaftslebens als einem rein nach funktionalistischen Imperativen funktionierenden Raum zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird, ergeben sich die reflexionsfeindlichen, systemischen Züge der Welt der Wirtschaft, die ich oben als das zweite von zwei Bildern dieser Welt geschildert habe. Um Reflexion in der Wirtschaft zu ermöglichen, müssen diese Faktoren zurückgedrängt werden. Das Machtgefälle innerhalb von Organisationen muss verringert werden; der Wettbewerb zwischen Unternehmen muss so gestaltet werden, dass ihm grundlegende moralische Fragen durch gesetzliche Standards und entsprechende Kontrollen entzogen werden können. Die Gefahr psychologischer Mechanismen der Reflexionsvermeidung muss Individuen und Unternehmen bewusst werden, so dass sie ihr gezielt begegnen können. Nicht zuletzt muss der Selbstdeutung von Unternehmen als moralfreie Zonen entschieden widersprochen werden. Auch in der Aus- und Weiterbildung von Managern und Angestellten muss ein anderes Bild vermittelt werden. An dieser Stelle könnte man allerdings einwenden, dass Reflexion in Unternehmen gar nicht in dem Maß nötig sei, das ich angenommen habe. Man könnte argumentieren, dass auch eine systemisch funktionierende Wirtschaft moralisch gerechtfertigt werden kann – dann nämlich, wenn die moralische Reflexion auf der Ebene der gesetzlichen Ordnung stattfindet, in die die Wirtschaft eingebettet ist.22 Schließlich, so der Einwand, spanne diese institutionelle Ordnung erst den Rahmen auf, in dem Unternehmen agieren können. Unternehmen wiederum spannten den Rahmen auf, in dem ihre Mitarbeiter agieren. Wir hätten es also mit einem geschachtelten System unterschiedlicher Ebenen zu tun, in dem die jeweils höhere Ebene bestimmt, wie auf der nächstniedrigeren Ebene gehandelt werden kann und soll. Die Reflexion über moralische Standards oder wünschenswerte Formen des Wettbewerbs müsste dann jeweils eine Ebene höher platziert werden als die, auf der ein Akteur sich gerade befindet. Für die Welt der Wirtschaft wäre dies in erster Linie die nationalstaatliche gesetzliche Ordnung. Allerdings wirft dieses Modell zwei große Probleme auf. Das erste wird in der Ökonomie das »Kontrollproblem« oder »Agency Problem« genannt: Wie kann durch eine Rahmenordnung überhaupt menschliches Verhalten gesteuert werden? Rein auf externe Anreize und Restriktionen zu setzen, funktioniert selten; es funktioniert vor allem dann nicht, wenn komplexe Aufgaben zu bewältigen sind. Häufig benötigen die Beschäftigten ein gewisses Maß an Autonomie, um zum Beispiel allgemeine Regeln auf konkrete Fälle anzuwenden. Diejenigen, die kontrolliert werden sollen, sind häufig besser über einen Sach22

Dies ist, etwas vereinfacht, die Position Karl Homanns; siehe zum Beispiel Homann, Karl/Suchanek, Andreas: Ökonomik. Eine Einführung. Tübingen 2000.

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verhalt informiert als ihre Kontrolleure – diese Wissensasymmetrie kann auch Angestellten auf niedrigen Hierarchiestufen erhebliche Freiräume verschaffen. Und nicht zuletzt ist Kontrolle aufwendig und teuer, so dass es sich im Extremfall überhaupt nicht mehr lohnt, bestimmte Tätigkeiten durchführen zu lassen, weil ihre Kontrolle mehr kostet, als sie einbringen. Unternehmen reagieren auf dieses Problem, indem sie das Verhalten ihrer Mitarbeiter über positive Anreize und eine gemeinsame Unternehmenskultur zu steuern versuchen. Doch viele misstrauen derartigen Versuchen und distanzieren sich innerlich oder auch äußerlich von dem, was sie als Manipulation durch die Unternehmensleitung erleben.23 Das Agency-Problem macht also deutlich: Ohne ein gewisses Maß an Freiwilligkeit auf Seiten der Mitarbeiter könnten Unternehmen kaum funktionieren. Diese Überlegungen betreffen nicht nur die Steuerung von Verhalten im Sinne von Unternehmen, sondern auch die Steuerung von Verhalten aus moralischer Perspektive: Werden moralische Prinzipien von den Akteuren auf den unteren Ebenen der Regulierungskaskade nicht mitgetragen, ist ihre Umsetzung höchst mühsam, oder sie scheitert aufgrund zahlreicher Ausweichbewegungen.24 Handlungsspielräume gibt es also nicht nur auf der Ebene der Unternehmensführung. Auch Individuen auf niedrigeren Hierarchiestufen verfügen über sie; dementsprechend stellt sich für sie auch die Frage, wie sie verantwortungsvoll mit ihnen umgehen und welche moralischen Pflichten sie innerhalb 23

Dabei können verschiedene Paradoxien auftreten, zum Beispiel durch die Übernahme einer scheinbar den Mitarbeitern und ihren individuellen Anliegen entgegenkommenden Rhetorik durch Unternehmen, die letztlich nur das Ziel hat, deren intrinsische Motivation für die Unternehmensziele nutzen zu können, ohne teure Anreize oder Boni verwenden zu müssen. So haben Boltanski und Chiapello in einer bahnbrechenden Studie gezeigt, wie die »Künstlerkritik« am Kapitalismus – die ihm die mangelnde Autonomie und mangelnde Gelegenheiten zur Selbstverwirklichung für die Einzelnen vorwirft – in der Rhetorik neuerer Managementliteratur aufgenommen wurde, ohne die Situation der Arbeitnehmer in der Sache zu verbessern; vgl. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003; siehe dazu auch Bartmann, Christoph: Leben im Büro. Die schöne neue Welt der Angestellten. München 2012. Vor der Gefahr, zynisch missbraucht zu werden, ist freilich auch der in diesem Essay gemachte Vorschlag nicht sicher: Die Aufforderung zur moralischen Reflektion könnte von Unternehmen zur Erreichung eigener Ziele missbraucht werden. Es liegt in der Natur von Ansätzen, die moralisch »idealistisch« sind, dass sie dieser Gefahr ausgesetzt sind. In konkreten Fällen dürfte jedoch die Ehrlichkeit der Absicht für die Beteiligten einigermaßen klar erkennbar sein, zumindest über längere Zeiträume hinweg: Werden z. B. Vorschläge zur »Moralisierung« der Geschäftspraktiken nur umgesetzt, wenn sie sich medienwirksam verkaufen lassen, oder auch dann, wenn sie weniger sichtbar sind? 24 Eine umfassendere Betrachtung müsste an dieser Stelle auch auf Formen der informellen Kontrolle eingehen, die sich zum Beispiel auch im Modus der Anerkennung formieren kann. Auch hierbei gilt jedoch, dass solche Kontrolle nicht ausschließlich »top down« eingesetzt werden kann, denn Anerkennung ist unweigerlich reziprok.

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dieser Freiräume eventuell haben, ihren Beitrag dazu zu leisten, dass das Unternehmen keine grundlegenden moralischen Normen übertritt. Das zweite Problem des Modells, das moralische Verantwortung auf jeweils übergeordnete institutionelle und gesetzliche Regulierungen verlagert, tritt speziell in der heutigen geschichtlichen Situation auf: Unser Wirtschaftsleben ist globalisiert, während die meisten Regulierungsinstanzen weiterhin auf nationaler Ebene liegen. Damit fällt die oberste Regulierungsebene weg, die in diesem Modell logisch immer mitgedacht werden muss. Die oberste Ebene muss einen Rahmen bilden, in dem sich die unteren Ebenen entfalten können. Und die Behauptung, dass Märkte, gar Finanzmärkte, sich auf globaler Ebene selbst regulieren und in diesem Sinne selbst eine oberste Regulierungsinstanz darstellen, darf spätestens seit der Finanzkrise im Jahr 2008 als widerlegt gelten. Es gibt hier keine »unsichtbaren Hände«, die automatisch zu einer Angleichung von individuellen und gesellschaftlichen Interessen führen würden. Märkte können ihre positive Wirkung erst dann entfalten, wenn sie gesetzlich und sozial eingebettet sind.25 In unregulierten Zuständen besteht die Gefahr, dass Märkte aus dem Ruder laufen und mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften. Genauso wenig können wir uns auf weltgeschichtliche Tendenzen verlassen; die – frei nach dem Hegelschen Modell des Weltgeistes – teleologisch zur größtmöglichen Freiheit aller, oder aber – frei nach dem Prinzip so mancher marxistischen Beschreibung des Kapitalismus – zum revolutionären Übergang in ein gerechteres System führen würden. Stattdessen beschert uns ein globaler Finanzkapitalismus ein Wirtschaftssystem, das mehr und mehr dem gleicht, was ich oben als das zweite Bild geschildert habe: ein System, das nach einer unerbittlichen Logik funktioniert, die vielleicht den Interessen einiger weniger dient, alle anderen aber gnadenlos unter ihre Räder wirft. Kann man dem etwas entgegensetzen? Oder müssen wir uns damit abfinden, dass wir letztlich nur Marionetten eines Systems sind, dessen Macht sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen bis hinein in die privatesten Zusammenhänge durchsetzt? Wenn es eine Antwort gibt, dann kann sie nur lauten, dass kritische Reflexion und die Bereitschaft, deren Ergebnisse in die Tat umzusetzen, ebenso ubiquitär werden müssen wie die Macht des Systems. Die Verantwortung dafür, das »System« zurückzuerobern – in dem Sinne, dass zumindest grundlegende moralische Normen in ihm nicht verletzt werden26 – kann nicht 25

Vgl. dazu auch Herzog, Lisa: Was bedeutet es »Märkte einzubetten«? Eine Taxonomie. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie (im Erscheinen). 26 Der Fokus auf grundlegende moralische Normen – unter die ich allerdings auch den Kampf gegen einen menschlich verursachten Klimawandel fasse – bietet auch eine Antwort auf eine Frage, die sich an diesem Punkt möglicherweise stellt: ob nicht manche Fragen genuin politisch seien und damit in die politische Öffentlichkeit und nur dorthin gehören würden. Dem würde ich im Grundsatz zustimmen, aber entgegnen,

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alleine auf einer institutionellen Ebene angesiedelt werden. Kritisches Nachfragen und Reflexion als Voraussetzungen für Handeln nach grundlegenden moralischen Standards sind auf allen Ebenen, vom Individuum über das Unternehmen bis hin zur Politik, notwendig – nicht zuletzt deshalb, weil die Frage nach den Handlungsspielräumen, die die Akteure jeweils haben, nicht allgemein, sondern nur kontextabhängig beantwortet werden kann. Auch in der heutigen globalisierten Welt haben Nationalstaaten durchaus noch Handlungsmöglichkeiten, besonders, wenn sie sich mit anderen Nationalstaaten zusammenschließen. Sie können einerseits direkt Standards für Unternehmen setzen, zum Beispiel um die Sicherheit der Mitarbeiter zu gewährleisten. Andererseits können sie Menschen dabei unterstützen, gegen moralisch problematische Praktiken in Unternehmen vorzugehen, zum Beispiel indem sie Whistleblowern Schutz anbieten. Staaten können auch die Voraussetzungen dafür schaffen, mit neuen Organisationsformen – zum Beispiel Kooperativen, demokratisch organisierten Unternehmen oder Stiftungsunternehmen – zu experimentieren und sie auf ihre Fähigkeit zur moralischen Selbstregulierung hin zu testen. Auch viele Unternehmen sind weder durch gesetzliche Vorgaben noch durch den Wettbewerbsdruck in dem Maß eingeschränkt, dass es für sie unmöglich wäre, sich für wichtige moralische Fragen einzusetzen, zum Beispiel für den Kampf gegen den Klimawandel. Und wo der Wettbewerb tatsächlich harsch ist, besteht auch die Möglichkeit, auf der Ebene von Unternehmensverbänden oder anderen Assoziationen tätig zu werden. Unternehmen können sich in die entsprechenden Diskussionen einbringen und Lobbyismus nicht nur zugunsten der eigenen finanziellen Interessen betreiben, sondern zugunsten kluger Regulierung, die dem Wohl der Gesellschaft dient.27 Und auch einzelne Individuen können die Spielräume, die sich ihnen bieten, nutzen, um moralische Verantwortung zu übernehmen, statt sich der eigenen Rolle im Unternehmen widerstandslos anzupassen. Sie können kritische Fragen stellen, insbesondere zu zwei Themen: zum einen dazu, wie ihr eigenes Handeln, das in organisationale Zusammenhänge eingebunden ist, sich zu grundlegenden moralischen Normen verhält; zum anderen dazu, wie ihre eigene Rolle gut ausgefüllt werden könnte – was zum Beispiel gutes Management, gutes Ingenieurwesen oder gute Lehre ausmacht. Hier zeigt sich die Verdass dies nicht auf die Einhaltung grundlegender moralischer Normen zutrifft. Öffentlichkeit kann außerdem nicht nur durch den Gang in die politische Sphäre, sondern auch von anderen Sphären aus hergestellt werden; in vielen Fällen sollte sie dies vermutlich. 27 Siehe dazu auch Herzog, Lisa: No Company is an Island. Sector-Related Responsibilities as Elements of Corporate Social Responsibility. In: Journal of Business Ethics (im Erscheinen).

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bindung zu einer Berufsethik, die nicht nur in einem engen Sinne die Standards des eigenen Fachs kodifiziert, sondern eben dadurch auch Verantwortung für die eigene Tätigkeit in der Gesellschaft einfordert. Die Bereitschaft, auf diese Weise zu handeln, macht Individuen zu »transformationalen Akteuren«, die dazu beitragen können, Organisationen moralisch zu transformieren. Diese Bereitschaft äußert sich vor allem darin, die Stimme zu erheben – im Sinne jener protestierenden »Voice«, die Albert Hirschman als einen zentralen Veränderungsmechanismus in Institutionen beschrieben hat28 – und innerhalb von Unternehmen Veränderungen anzustoßen, idealerweise gemeinsam mit anderen, so dass neue Formen der Solidarität entstehen können. Sie äußert sich darin, hinter vermeintlichen »Sachzwängen« deren Ursachen aufzuspüren und nach möglichen Auswegen zu suchen. Sie äußert sich darin, günstige Zeitpunkte für Veränderungsprozesse zu erkennen und auszunutzen; so zum Beispiel, wenn im öffentlichen Diskurs oder durch Aktivitäten von NGOs Druck auf Unternehmen aufgebaut wird, der intern wiederum genutzt werden kann, um Widerstände zu überwinden. Und diese Bereitschaft äußert sich darin, den Dialog mit anderen Individuen auf der gleichen und auf der nächsthöheren Regulierungsebene zu suchen; nicht um die eigenen Interessen durchzusetzen, sondern um moralische Prinzipien, die alleine nicht zu verwirklichen sind, regulatorisch zu verankern. Es ist in diesem Sinne eine eminent politische Form des Handelns, jedoch nicht um spezifischer politischer Ziele, sondern um grundlegender moralischer Normen willen. Reflexion und das von ihr ausgehende transformationale Handeln können insbesondere dann zu einer Macht in der Welt der Wirtschaft werden, wenn es gelingt, die »defaults«, also die unsichtbaren und nicht thematisierten Vorannahmen, zu verändern, die von den Akteuren in ihrem täglichen Handeln nicht hinterfragt, sondern als feste Parameter gesetzt werden. Am Beispiel von Nachhaltigkeit und Klimawandel lässt sich gut beobachten, wie derartige Prozesse möglicherweise ablaufen können: Kein Unternehmenschef würde es noch wagen, die Bedeutung dieser Probleme öffentlich zu bestreiten. In den Hochglanzbroschüren der Unternehmen finden sich zahlreiche Berichte zu angeblichen oder tatsächlichen Anstrengungen, die eigene Aktivität klimafreundlicher zu gestalten. Dennoch stößt die Wirtschaft westlicher Industrienationen weiterhin Kohlendioxid in einem Maße aus, dessen weltweite Verallgemeinerung katastrophale Folgen hätte; moralisch geboten wäre ein noch viel radikalerer und schnellerer Wandel hin zu klimafreundlichen Praktiken. Doch was zunächst nur floskelhafte Beschwörung und nach außen vorgespiegelte Werte sein mögen, kann diejenigen, die sie vorspiegeln, möglicherweise einholen – dann näm28

Hirschman, Albert O.: Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States. Cambridge 1970.

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lich, wenn Kunden, Lieferanten und vor allem Mitarbeiter ihre Vorgesetzten auf diese Werte »festnageln« und deren Umsetzung fordern. Die »zivilisierende Kraft der Heuchelei«29 kann ein erster Schritt sein, der zu Verhaltensänderungen und längerfristig vielleicht auch zu Einstellungsänderungen führen kann. Allerdings kann die moralische »Bürde«, auf diese Weise Verantwortung zu übernehmen, sehr ungleich verteilt sein. Für manche Individuen und vielleicht auch für manche Unternehmen kann sie so schwer sein, dass ihr Nicht-Handeln als zumindest entschuldbar erscheint. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil so viele andere Akteure nicht bereit sind, überhaupt einen Beitrag zu leisten.30 Ein System, das von so vielen Akteuren mitgetragen wird wie unser Wirtschaftssystem, kann auch nur von einer breiten Koalition von Individuen und Organisationen verändert werden; während ich mich hier auf die Rolle von Individuen in Organisationen konzentriert habe, müssten in einer Gesamtbetrachtung auch Konsumenten und Eigentümer in den Blick genommen werden. Die Frage, die sich anschließt, ist die, wie die »moralische Arbeitsteilung« im Wirtschaftsleben einer globalisierten Welt gestaltet werden könnte. Wer kann und soll welche Aufgaben übernehmen, wer soll wofür in die Pflicht genommen werden? Wie können Institutionen so gestaltet werden, dass Individuen befähigt werden, ihr Handeln zu reflektieren und Veränderungen anzustoßen, ohne dass sie »moralische Heilige« im Sinne Susan Wolfs sein müssen, die ihr Leben ausschließlich in den Dienst der Moral stellen?31 Wie können Zeiten und Räume für die Reflexion in der und über die Wirtschaft geschaffen werden? Letztlich stellen sich damit auch Fragen nach den Führungsstrukturen von Unternehmen und der Verteilung von Eigentumsrechten. Unser bisheriges Wirtschaftssystem war eingebettet in nationalstaatliche Institutionen, die für seine moralische Legitimation von entscheidender Bedeutung waren. In einer globalisierten Welt müssen wir nach anderen Formen der Aufgaben- und Machtverteilung fragen – und danach, wie wir jene Art von Solidarität aufbauen können, die diesen Wandel vorantreiben könnte. Und so ist die Frage, welches der beiden Bilder der Wirtschaft, die ich anfangs skizziert habe, »wahr« ist, keine rein deskriptive. Es ist auch eine Frage danach, welches der Bilder wir wahr machen, welches wir wahr machen sollen. Meine Ausgangsfrage nach der Macht der Reflexion in der Welt der Wirtschaft kann somit nur durch die Umwandlung in einen Imperativ beantwortet werden: Wir müssen alles dafür tun, dass es diese Macht auch in einer globalisierten Wirtschaft gibt. 29

Elster, Jon: Deliberation and Constitution making. In: Deliberative Democracy. Hg. v. dems. Cambridge 1998, S. 97–122, hier S. 111. 30 Hier besteht eine Parallele zu dem von Liam Murphy analysierten Problem der ungleichen Beteiligung an der Bekämpfung globaler Armut; vgl. Murphy, Liam: Moral Demands in Nonideal Theory. Oxford, New York 2000. 31 Wolf, Susan: Moral Saints. In: Journal of Philosophy 8 (1982), S. 419–439.

Dieter Thomä

Die Macht des Störenfrieds in der Politik

Eigentlich ist der Störenfried – ähnlich wie der Spielverderber – eine negative Figur: Den Frieden zu stören – das scheint sogar schlimmer zu sein, als das Spiel zu verderben. Aber es gibt auch den falschen oder faulen Frieden, und ihn zu stören ist keine Schande. So kommt es, dass der Störenfried nicht als rein negative, sondern als ambivalente Figur gelten darf. Am Störenfried entzündet sich ein Streit, der nicht irgendein, sondern das Problem der politischen Philosophie betrifft: die Frage, wie sich eine politische Ordnung etabliert und legitimiert, wie sie kritisiert, transformiert oder attackiert wird, wie Menschen von dieser Ordnung einbezogen oder ausgeschlossen werden, wie sie sich anpassen oder ausscheren. Zum Thema der Ordnung gehört notwendigerweise das der Störung, also die Rolle von Außenseitern, Randfiguren, Quertreibern. Die politischen Gründungsakte der Moderne stehen für Krisen, die nicht vom Zentrum der Macht, sondern vom Rand her zu verstehen sind. Heutzutage wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Bewährungsproben für politisches Handeln an Grenzen stattfinden und auf globale Krisen bezogen sind. Tatsächlich sind diese Grenzen in jüngster Zeit zu Brennpunkten dramatischer Konflikte geworden – ob es sich nun um die Grenzen der Europäischen Union, die Südgrenze der USA oder die Grenzen im Dreiländereck Syrien/Türkei/Irak handelt. Diesen politischen Herausforderungen und Überforderungen wende ich mich nicht direkt zu, vielmehr möchte ich mich auf die westlichen Gesellschaften beschränken, einen Schritt zurücktreten und die Frage stellen, wie sie den Umgang mit Krisen eingeübt haben und einüben können. Gemeint ist damit nicht nur die Krisenfestigkeit, also die Fähigkeit, Krisen unbeschadet zu überstehen, sondern auch die Krisenbereitschaft, also die Fähigkeit, Krisen anzunehmen und auszukosten. Es geht also nicht nur um die Behauptung, sondern auch um die Veränderung, Beweglichkeit und Offenheit einer politischen Ordnung. Störungen kommen nicht nur von außen, sondern ergeben sich im Verlauf innerer Krisen und Wandlungen. Solche inneren Krisen, an denen die Geschichte moderner Gesellschaften und Staaten reich ist, taugen auch als Vorbereitung für die jüngsten Bewährungsproben, die eher außenpolitische oder transnationale Herausforderungen mit sich bringen. Es lohnt also der Blick auf den Störenfried, der von innen kommt. Die moderne Gesellschaft sollte sich mit ihm arrangieren oder sogar gelegentlich stolz auf ihn sein.

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Von den vielen Gesichtern des Störenfrieds werden nur einige wenige in diesem Beitrag nachgezeichnet. Bei meiner Auswahl bediene ich mich einer Figur aus der Geschichte der politischen Philosophie, die in Vergessenheit geraten ist, aber in die vorderste Reihe einer Galerie und Theorie des Störenfrieds gehört.1 Eingeführt wird diese Figur von Thomas Hobbes in einem Vorwort, das er 1647 der zweiten Auflage seiner Schrift De cive (Vom Bürger) voranstellt. Darin heißt es lakonisch, der »vir malus« sei fast dasselbe wie ein »puer robustus, vel vir animo puerili«. Die zu Hobbes’ Lebzeiten angefertigte englische Version lautet: »A wicked man is almost the same thing with a childe growne strong and sturdy, or a man of a childish disposition«. Oder auf Deutsch: »Ein böser Mann [gleicht] so ziemlich einem kräftigen Knaben oder einem Manne mit kindischem Sinn«.2 Hobbes schlägt sich Mitte des 17. Jahrhunderts mit einem puer robustus herum, der nur auf die eigene Stärke setzt und sich der Einsicht verweigert, dass man sich in eine gesetzliche Ordnung zu fügen habe. Ein solcher Typus gilt Hobbes als Inbegriff des Bösen. Wohlgemerkt: Mit dem puer robustus zielt er nicht auf pubertäre Kraftmeierei, sondern auf junge oder auch alte Erwachsene, die rücksichtslos agieren und keine Regel respektieren, sondern höchstens ad hoc befolgen. Er zielt auf den »Rebellen«3 oder eben: den Störenfried. Die Botschaft ist klar: Die Ambivalenz, die eingangs avisiert worden ist, weist Hobbes zurück; er sieht in ihm eine negative Figur, ein Schreckbild, einen Unhold. Bei diesem puer robustus handelt es sich nicht um eine philosophische Kopfgeburt. Die Sozialgeschichte kennt als gravierendes politisches Problem der frühen Neuzeit das massenhafte Auftreten von »masterless men«, »sturdy beggars« und »sturdy vagrants«, Herrenlosen, Bettlern und Herumtreibern, die – wie ein Zeitgenosse klagt – nicht zum »commonwealth« gehören und von denen »niemand weiß, nach welchem Gesetz sie leben«. Dass er in einem »Zeitalter« lebt, in dem sich viele »Menschenseelen in einer Art Gärung befinden«,4 behagt Hobbes gar nicht. Er bekämpft den puer robustus als bad

1

Zu einer umfassenden Geschichte und Theorie dieser Figur vgl. Thomä, Dieter: Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds. Berlin 2016 (im Druck). 2 Hobbes, Thomas: Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III. Hamburg 1994, S. 69; ders.: De Cive. The Latin Version. The Philosophical Works, Bd. II. Oxford 1983, S. 81; ders.: De Cive. English Version. The Philosophical Works, Bd. III. Oxford 1983, S. 33. 3 Zur Rebellion vgl. Hobbes, Thomas: Leviathan. Frankfurt am Main 1984, S. 113, 242, 225. 4 Power, Henry: Experimental Philosophy, in Three Books. London 1664, S. 192: »This is the Age wherein all men’s souls are in a kind of fermentation«. Ich verdanke dieses Zitat Shapin, Steven/Schaffer, Simon: Leviathan and the air-pump. Hobbes, Boyle, and the experimental life. Princeton, 11985, S. 304 (dort allerdings fehlerhaft zitiert). Vgl.

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boy, der auf die politische Ordnung pfeift und rücksichtslos sein Ding durchzieht. Auch wenn dieser puer robustus von Hobbes gleich abgekanzelt wird, lohnt sich ein Blick auf seine Definition dieser Figur, denn aus ihr lässt sich doch die Ambivalenz, also auch die gute Seite des Störenfrieds erschließen. Vir malus – puer robustus: Mit diesen wenigen Worten ist das semantische Feld aufgespannt, das Hobbes betritt. Man trifft hier zum ersten auf das auffällige und sperrige Wort robustus. Die Lexika bieten für robustus und robur die ganze Bandbreite von Stärke, Kraft, Macht (strength, vigour, force, power) auf. Im metaphorischen Übergang von Natur zu Kultur wird die Härte des Eichenholzes auf die Stärke des Menschen übertragen. Die Semantik des robustus reicht zwar nicht bis zur Gewalttätigkeit, aber diese ist in Reichweite. Es geht darum, was ein Mensch (durchsetzen, gestalten) kann. Er wird als Handelnder ausgezeichnet, zur Debatte steht die »Macht eines Menschen«.5 Das erste Wort aus dem Titel dieses Bandes (und der Tagung, aus der er hervorgeht) ist damit genannt: Mit dem puer robustus kommt die Macht ins Spiel. Im Vergleich zum robustus ist die zweite Eigenschaft, die in Hobbes’ minimalistischer Bestimmung vir malus – puer robustus auftritt, leichter greifbar: Der Kerl, um den es geht, ist malus, böse. Neben die Frage der Macht tritt damit die Frage der Moral. Wichtig ist die Frage, von welcher Warte aus dieses moralische Urteil gesprochen wird. Denn wenn damit eine Instanz etabliert wird, die zu einem solchen Urteil befugt oder ermächtigt ist, tritt der Urteilsspruch selbst mit einem Machtanspruch auf. Er stellt sich der Kraft oder Macht des starken Kerls entgegen. Der dritte Punkt, der in Hobbes’ Definition enthalten ist, zielt nicht auf eine feststehende Eigenschaft, die einer Person zukommt – dass sie etwa kräftig oder böse sei –, sondern auf die Eigenschaft, sich verändern oder heranwachsen zu können: Der Knabe wird zum Mann (von den Frauen ist in dieser Genealogie des Störenfrieds lange Zeit keine Rede). Beim puer robustus scheint die Entwicklung gestört zu sein, er ist zwar erwachsen, behält aber einen kindlichen Geist. Seine Unreife steht im Kontrast zum Heranwachsen als Hineinwachsen in eine Rolle, als Bestätigung von Zugehörigkeit. Allgemein gesagt wird am Generationengang als zeitlichem Prozess nichts Geringeres verhandelt als die Geschichte. Der puer robustus steht für eine Störung in dieser Geschichte. insgesamt Beier, A. L.: Masterless Men. The Vagrancy Problem in England, 1560–1640. London 1985. 5 Vgl. Hobbes: Leviathan, S. 66. Zum Verhältnis zwischen Macht und Kraft und zu verschiedenen Machtbegriffen vgl. Saar, Martin: Macht und Kritik. In: Sozialphilosophie und Kritik. Hg. v. Rainer Forst, Martin Hartmann, Rahel Jaeggi u. Martin Saar. Frankfurt am Main 12009, S. 567–587.

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Die drei großen Themen Macht, Moral und Geschichte werden durch ihn hindurchgeführt wie durch ein Nadelöhr und verzwirbeln sich in ihm. Das »Vorwort« zu De Cive, in dem der puer robustus auftritt, ist nach Leo Strauss die »am meisten theoretische Fassung der Staatslehre« von Hobbes,6 und so steht mit dieser Figur sein ganzes Denken auf dem Spiel – also auch die politische Philosophie insgesamt, die sich positiv oder negativ auf Hobbes bezieht. Macht, Moral und Geschichte sind – wie gesagt – als Themen gesetzt; begonnen sei mit letzterer. Im Gegensatz zu vielen anderen Außenseitern fordert der puer robustus heraus zu einer dynamischen Auffassung von Grenzen und den durch sie gesetzten Formen von Integration und Ausschluss. Die Geschichte kommt unweigerlich ins Spiel, wenn es nicht um das Böse als statische Eigenschaft geht, sondern um das Werden des Bösen oder, wie man im Englischen sagen würde, the making of evil. Indem Hobbes die Fragen nach Macht und Moral mit der Generationen-(Junge-und-Mann oder Kind-undMensch-)Frage koppelt, beschreibt er eine Welt in Bewegung. Aus dieser Bewegung greift Hobbes freilich nur einen Moment heraus: den Moment, in dem der Mensch an die Schwelle gelangt, an der zwischen Gut und Böse zu wählen ist. Hobbes’ Berücksichtigung der Geschichte erschöpft sich darin, diesen Moment, diese Entscheidungssituation zu studieren. Die Frage von Anpassung oder Abweichung, Unterwerfung oder Aufruhr wird bei ihm in einem Ruck entschieden. Der puer robustus ist ein Mensch, der falsch entschieden hat, also auch auf die falsche Weise erwachsen geworden ist. Der Übergang »von Natur zur Gesellschaft«, die Verwandlung vom »wilde[n]Tier« in den »Menschen« ist bei ihm gescheitert.7 Zwar ist der puer robustus eingeladen, die Schwelle zu überschreiten, aber er sperrt sich dagegen, fügsam zu sein und sich, wie von Hobbes gefordert, dem Leviathan unterzuordnen. Auch wenn seine Abweichung im unscheinbaren Rahmen des Generationenspiels, des Erwachsenwerdens verhandelt wird, steckt in ihr eine unheimliche, unbescheidene Drohung: die Fremdheit oder Feindseligkeit gegenüber der Ordnung. Hobbes spielt mit dem Feuer, dem Staat wird das Staatsfremde gegenübergestellt. Die Ordnung ist auf Unordnung bezogen, sie wird, mehr als Hobbes dies am Ende lieb sein kann, in ihre eigenen Grenzen verwiesen. Niemand gehört automatisch dazu. Die Liminalität oder Randstellung des Menschen bekommt eine Schlüsselfunktion in Hobbes’ politischer Philosophie. Wenn man Schwellenkunde betreibt, dann stößt man am abgründigen Rand der politischen Ordnung nicht nur auf ferne Fremde, sondern auch auf nahe Fremde, nämlich die eigenen Nächsten, die Kinder. Sie sind Außenseiter, 6 7

Strauss, Leo: Gesammelte Schriften, Bd. 1. Stuttgart 1996, S. 138. Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, S. 75, 160.

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die von innen kommen. Mit dem puer robustus bezieht sich Hobbes auf diese im Inneren der Gesellschaft fortlaufend generierte Fremdheit, sozusagen auf eine innere Migration. Der puer robustus steht für den Fall, dass bei der Sozialisation etwas schief geht. Gemeint ist dies im weitesten Sinne: keineswegs nur in Beschränkung auf eine scheiternde Erziehung, sondern mit Blick auf die Reibung, den gesellschaftlichen Konflikt zwischen dem Status quo und den Neulingen des Lebens. Wie genau kommt es zum Störfall? Um sich davon ein Bild zu machen, muss man die anderen großen Themen heranziehen, die an den puer robustus gebunden sind: Macht und Moral. Da der puer robustus von Hobbes als mächtig beschrieben und als böse beurteilt wird, ergibt sich zunächst eine etwas ungewöhnliche Zuordnung von Macht und Moral: ein Gegensatz zwischen der Eigenmächtigkeit, dem Machtmissbrauch des Einzelnen und der Moral des Ganzen. Diese Aufteilung schreit natürlich nach Ergänzungen und Umbesetzungen. Wenn die Moral des Ganzen über den puer robustus ihr Urteil fällt, so will sie sich ihrerseits mit Macht ausstatten, um ihm entgegenzutreten. Neben den einzelnen Machtmenschen tritt also die Macht des Ganzen. Darüber hinaus gilt, dass der puer robustus vielleicht mehr im Repertoire hat als nur die Bosheit. Er kann der Moral, die das Ganze für sich reserviert, eine andere Moral entgegenhalten. Man denke nur an das großartigste Vorbild für einen solchen moralischen Protest, nämlich an Antigone, die ihrer braven Schwester Ismene – »Ich füge mich der Obrigkeit« – den paradoxen Satz entgegenhält: »Fromm hab ich gefrevelt«.8 Wenn jemand die Macht herausfordert, dann hängt das Urteil darüber, ob er böse sei, nicht nur davon ab, wie er sich »daneben benimmt«, sondern auch davon, wie es um die Spielregeln steht, an denen er vorbeilebt oder gegen die er verstößt. Nicht erst seit Émile Durkheim weiß man: »[Es] genügt […] nicht, dass es Regeln gibt; denn manchmal sind die Regeln selbst die Ursache des Übels.«9 Der Störenfried kann aus dem Nicht-Mitspielen eine Tugend machen: eine Verweigerung von Kollaboration und Komplizenschaft. Wenn er sich denn entschließt mitzuspielen, so muss er im Übrigen sein Störfeuer nicht gleich löschen. Er kann seine Teilnahme nicht nur als Beitritt oder Anschluss auffassen, sondern es auch darauf anlegen, damit eine Bewährungsprobe für die Ordnung zu verbinden. Dann strengt der Außenseiter, der die Schwelle überschreitet, eine Nachverhandlung an, die zur Verwandlung der Ordnung führen soll. Das Junktim von Zugehörigkeit und Gehorsam ist kein Automatismus. Wer am Ende dazugehört, verschwindet vielleicht nicht unbemerkt in der Menge, sondern verändert deren Gesicht. Das letzte Wort über die Bosheit 8

Sophokles: Antigone. Stuttgart 1955, S. 7 (Verse 74 u. 67). Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main 1992, S. 443. 9

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des Störenfrieds ist längst nicht gesprochen. Sigmund Freud beschreibt die Alternative: »Was sich in einer menschlichen Gemeinschaft als Freiheitsdrang rührt, kann Auflehnung gegen eine bestehende Ungerechtigkeit sein und so einer weiteren Entwicklung der Kultur günstig werden, mit der Kultur verträglich bleiben. Es kann aber auch dem Rest der ursprünglichen, von der Kultur ungebändigten Persönlichkeit entstammen und so Grundlage der Kulturfeindseligkeit werden.«10 Dass es zwischen Macht und Moral zu Umbesetzungen kommen kann, ist ein wichtiger Grund für die Anziehungskraft des Störenfrieds – also des puer robustus. Es handelt sich bei ihm gewissermaßen um eine Kippfigur. Er zieht kontroverse Deutungen an, in denen die ganze Bandbreite von Macht und Moral im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ausgetragen wird. Dies erlaubt er nicht nur, sondern er lädt geradezu dazu ein oder zwingt dazu. Deshalb ist der puer robustus auch keine Eintagsfliege. Er wird nicht nur von Hobbes verhandelt, sondern auch von Jean-Jacques Rousseau, Denis Diderot, Victor Hugo, Alexis de Tocqueville, Karl Marx, Sigmund Freud, Leo Strauss und vielen anderen aufgegriffen und umgedeutet. Wenn der puer robustus nicht so burschikos daherkäme, könnte man sagen, er gehöre zu den grauen Eminenzen der Ideengeschichte. Ich werde auf die seltsamerweise unbekannte Geschichte dieser Figur nicht ausführlich eingehen können, es ist aber klar, dass in ihr das Umkippen von moralischen Bewertungen, die Umbesetzung von Machtpositionen radikal ausgekostet und ausgedeutet wird. Wie eingangs gesagt: Am liebsten hätte Hobbes den puer robustus, den er selbst auf die Bühne der Geschichte gebracht hat, gleich wieder von ihr verscheucht. Um die Ambivalenzen und Ambitionen des Störenfrieds schert er sich nicht, er sieht die politische Ordnung nicht zur Selbstprüfung, sondern zur Selbstverteidigung herausgefordert. Für Hobbes wächst sich der Kampf mit dem puer robustus zur Überlebensfrage der politischen Ordnung aus. Seine Gegenüberstellung zwischen guter Ordnung und bösem Störer lässt an Übersichtlichkeit nicht zu wünschen übrig. Zur bösen Fehlentwicklung des mit Begierden ausgestatteten Menschen kommt es nach Hobbes, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Zum Ersten muss der Mensch über die Macht verfügen, seine Begierden auf Kosten und zum Schaden anderer durchzusetzen. Die moralische Bewertung eines Menschen bekommt damit einen konsequentialistischen Zug. Zum Zweiten – und vor allem – muss ein Mensch es versäumen, die Gelegenheit zum Lernen zu 10

Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. In: Gesammelte Werke, Bd. XIV. London 1948, S. 419–506, hier S. 455.

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nutzen, die ihm während des Heranwachsens offen steht und ihn über die zerstörerischen Konsequenzen seines Tuns belehrt. Hobbes setzt darauf, dass »ein Lichtfunke der ratio [auf]blitzt« (Carl Schmitt).11 Bei der Bosheit handelt es sich, streng genommen, um eine Unterlassung, eine Abweichung von dem erwartbaren Maß an Vernunft. Damit kommt die Reflexion ins Spiel, die neben der Macht als zweites Hauptwort im Titel dieses Bandes firmiert. Wenn ein Erwachsener einen »Mangel an Vernunft«12 aufweist und damit für moralische Einsicht unzugänglich bleibt, wird er zu einem bösen Menschen. Der puer robustus stellt sich quer zu einer Ordnung, in der nach Hobbes der Schulterschluss von Moral und Macht gelingen soll. Er bleibt dick- und hohlköpfig und meint, sich mit schierer Stärke durchsetzen zu können. Die eigene, einzelne Macht, die er beansprucht, fällt auf die Seite des Bösen. Für Hobbes ist dieser Kerl, dieser alt und stark gewordene, aber dumm gebliebene KindMensch eine Gefahr auf dem Weg zu einem friedlichen Zustand der Gesellschaft. Wohlgemerkt: Es ist nicht die Robustheit, Kraft oder Macht, die Hobbes gegen diesen Menschen einnimmt, auch nicht die Fixierung auf das Eigeninteresse, sondern die Tatsache, dass sie unbelehrt, ungeschlacht daherkommt. Das Böse ist Folge der Unbedachtheit, der Gedankenlosigkeit, der mangelnden Reflexion. Die Fehlentwicklung besteht nach Hobbes darin, dass das Kind, während es immer kräftiger wird, etwas anderes zu tun verpasst: nämlich sich seiner Vernunft zu bedienen. Eine einflussreiche Fraktion der Hobbes-Forschung hat diesen Punkt zur Grundlage der Rational-Choice-Theorie gemacht. Sie basiert auf der Annahme: Ich halte mich aus vernünftiger Einsicht an Gesetze, weil dies mir nützt.13 Die moralische Dimension der Ordnung, die in Hobbes’ Rede von der Bosheit des Rebellen anklingt, wird damit minimalisiert. Hobbes meint genau zu wissen, wie die Menschen funktionieren. Sie sind vom Eigeninteresse angetrieben – und genau deshalb kann er sie an den Haken nehmen, mit dem er sie um ihrer Selbsterhaltung willen in das friedliche, rechtliche Leben hineinzieht. Er stellt sich einen Typus vor, der simpel und eindimensional ist, um passend für diesen Typus einen Staat zu schaffen, der ebenso simpel und eindimensional sein kann: einen Staat, der mit totaler Macht ausgestattet sein muss, weil das Ziel der Friedenssicherung alles andere aussticht. Dass dieses übersichtliche, einfache Szenario trügerisch ist, lässt sich gerade anhand der Figur des puer robustus erschließen. Ihm mangelt es – wie gesagt – 11

Schmitt, Carl: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols. Köln 1982 [1938], S. 48; ders.: Der Staat als Mechanismus bei Descartes und Hobbes. In: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969. Berlin 1995 [1936/37], S. 139–151, hier S. 140. 12 Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, S. 69. 13 Vgl. Gauthier, David P.: Morals by Agreement. Oxford 1987, S. 10.

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an der rechten Vernunft. Doch er steht auch dafür, dass die Menschen nicht aus dem Nichts an den Staat herantreten, sondern dass die politische Ordnung auf einen Prozess, ein geschichtliches, generationales Werden verwiesen ist. Eine zentrale Schwäche von Hobbes’ Theorie ist zu erahnen, wenn man einen Grundzug seines Bilds vom Störenfried herausstellt: den Individualismus. Der von Hobbes gebrandmarkte Störenfried erhebt seine Stimme und maßt sich an, auf eigene Faust festzulegen, was für ihn gut ist. Erst legt er sich die Welt zurecht, und dann legt er sich mit ihr an. Der Unfrieden, den der Störenfried schürt, lässt sich nach Hobbes an einer einfachen Tatsache festmachen: »Die Zunge des Menschen […] ist gleichsam die Trompete des Krieges und Aufruhrs«.14 Welcher Art der Störenfried auch ist, er wütet zuallererst mit der Sprache. »Die Krankheit der Politik ist vor allem die Krankheit der Wörter« (Jacques Rancière).15 Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Totschlagargument, das Hobbes hier verwendet. Die Menschen sind demnach dem Verderben ausgeliefert, wenn sie sich nicht einer Ordnung anschließen, die den Krieg der Worte durch einen Befehl von oben beendet. Erst dadurch kommen nach Hobbes Einstimmigkeit und Einheit zustande. Die »Trompeten des Aufruhrs« mit ihrer Stimmenvielfalt werden vom Staat zum Schweigen gebracht, dessen Gewaltmonopol zuallererst eine Definitionshoheit über Gut und Böse ist. Diese »drakonische Lösung« (Philip Pettit) ist der eigentliche »Hobbes’sche Fehler« (Kwame Anthony Appiah).16 Er besteht nach Appiah in der individualistischen Unterstellung, dass die Menschen ohne Befehl von oben nur für sich sprechen. Man kann Appiahs Einwand mit einem Wortspiel ergänzen, an das er selbst nicht gedacht hat, das ihm aber durchaus zusagt.17 Er spricht von einem »Hobbesian howler« und meint damit einen Fehler oder Schnitzer.18 Als »howler« bezeichnet man aber auch das verlassene Seehundbaby, das alleine vor sich hin »heult«. Hobbes tut so, als würde der Mensch mit der »Trompete« seiner Stimme nur Töne von sich geben, die andere als Kampfansage werten. Doch weder ein trompetender Mensch noch ein heulendes Seehundbaby sind auf einem totalen Egotrip, sie wollen und können verstanden werden, wenn denn jemand da ist, der sie hört. Der Hobbes’sche Fehler besteht darin, dass er dem

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Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, S. 127. Rancière, Jacques: Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens. Frankfurt am Main 1994, S. 34, vgl. S. 37. 16 Pettit, Philip: Made with Words. Hobbes on language, mind, and politics. Princeton 2008, S. 89, S. 107–111. 17 Briefliche Mitteilung Appiahs am 15.8.2014. 18 Zum »Hobbesian howler« vgl. Appiah, Kwame Anthony: Experiments in Ethics. Cambridge, London 2009, S. 197. 15

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»howler« und seinem menschlichen Pendant nicht zuhört, sondern ihnen eine neue Melodie, eine Marschmusik von oben diktiert. Der Störenfried tritt dem Staat nicht als einsamer Sprecher entgegen, er legt sich nicht aus einem sozialen Nichts heraus mit dem Staat an. Wenn er sich am Rand der Ordnung befindet, so bewegt er sich dabei doch in einem – wie auch immer löchrigen, hastig geknüpften – Netz von Bezügen. Im Kampf der Worte gibt es keine Einzeltäter. Die Kritik gegen Hobbes setzt wohlgemerkt nicht bei der Frage an, ob (alle? manche?) Menschen (nur? vor allem?) ihr Eigeninteresse vertreten. Wie Hobbes’ Wirkung bis hin zur rational choice-Theorie und zum homo oeconomicus zeigt, gibt es solche Menschen – oder jedenfalls können sich Menschen teilweise so verhalten. Einzuwenden ist vielmehr, dass Hobbes das Eigeninteresse an die These von der Privatsprache koppelt und daraus den falschen Schluss zieht, der Mensch könne gar nicht anders, als sein Eigeninteresse zu verfolgen. Hobbes behauptet, dass die Menschen eine Privatsprache sprechen, um dann fordern zu können, dass der Staat diese Privatsprache unterbinde und die Menschen ihrer eigenen Stimme beraube. Hobbes sieht sich von einem »egoistische[n] Menschengesindel« umgeben,19 das vor der Wahl steht, zum Störenfried zu werden oder sich für den Empfang des Befehls von oben bereit zu machen. Die Bereitschaft, sich einzupassen und unterzuordnen, wird künstlich gesteigert, wenn den Menschen weisgemacht wird, sie würden sonst rettungslos aneinander vorbei reden und leben. Dass die individualistische Isolierung haargenau zur autoritären Ordnung passt, hat Alexis de Tocqueville in einer großartigen Analyse, bei der er vielleicht auch Hobbes als Gegner im Sinn hatte, zusammengefasst: »Der Despotismus, der seinem Wesen nach furchtsam ist, sieht in der Vereinzelung der Menschen das sicherste Unterpfand seiner Dauer, und er bemüht sich gewöhnlich sehr sorgfältig, sie voneinander abzusondern. Kein Laster des menschlichen Herzens sagt ihm so sehr zu wie die Selbstsucht: Ein Gewaltherrscher verzeiht den Regierten gern, dass sie ihn nicht lieben, sofern sie sich gegenseitig nicht lieben. […] Er nennt unruhige Störenfriede [esprits turbulents et inquiets] solche, die ihre Anstrengungen vereinigen wollen, um das Wohlergehen der Allgemeinheit zu sichern, und mit einer Verdrehung des natürlichen Wortsinns nennt er diejenigen gute Bürger, die sich eng in sich abschließen.«20 Der politischen Vertragstheorie – gerade auch derjenigen von Hobbes – ist zugute zu halten, dass sie die Menschen als Schwellenwesen anerkennt und nicht 19

Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Bd.2. Frankfurt am Main 1974 [1866], S. 255. 20 Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika, Bd. 2. Zürich 1987 [1835/40], S. 153.

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von vornherein als Mitglieder einer Ordnung vereinnahmt. Die Vertragstheorie zeichnet aber von dem Spielraum am Rande, von dem Spiel, in Ordnungen ein- und aus ihnen herauszutreten, ein falsches Bild, und deshalb ist die Kritik, die von Hume, Hegel, Mill, Marx, Nietzsche, Durkheim, Weber, Dewey und anderen gegen die Vertragstheorie vorgebracht worden ist, stichhaltig. Der Einfluss der Vertragstheorie in der zeitgenössischen politischen Philosophie steht in keinem Verhältnis zu ihrer Plausibilität. Statt auf der Schwelle zur Ordnung Übergänge und Umbrüche nachzuvollziehen, errichtet sie dort gewissermaßen Startblöcke, die für individualistische Entscheider reserviert sind. Von ihnen wird erwartet, dass sie in die Ordnung hineinschnellen, ihr beipflichten und damit deren Legitimität garantieren. Bei Hobbes ist das Verhaltensmuster des Störenfrieds darauf eingeengt, im falsch verstandenen Eigeninteresse die Zustimmung, die Unterwerfung zu verweigern. Dass und wie der Störenfried auch anders verstanden werden kann, möchte ich kurz anzeigen, indem ich eine kleine Typologie dieser Figur skizziere. Demnach kann man sagen, dass Hobbes ausschließlich den egozentrischen Störenfried kennt, der – bildlich gesprochen – auf der Schwelle zur staatlichen Ordnung steht, auf den Boden stampft und sich behaupten will. Hobbes bleibt borniert, er will nicht wahrhaben, dass es auch einen Störenfried gibt, der gewissermaßen über sich hinauswächst oder aus sich herausgeht. Dieser exzentrische Störenfried bricht die Regeln, ohne schon zu wissen, wohin er will; er stellt sich nicht auf eigene Faust, um des eigenen Interesses willen gegen die Ordnung, sondern weicht von dieser Ordnung, aber auch von der Rolle, die sie ihm zuweist, ab. Hobbes kennt auch nicht den nomozentrischen Störenfried, der die bestehenden Regeln im Vorgriff auf Regeln bricht, die an deren Stelle treten sollen. Statt mit Hobbes im egozentrischen Paradigma stecken zu bleiben, sollte man die Perspektive erweitern und auch jene Störenfriede beachten, die als Abweichler auf der Suche nach sich selbst sind, sowie auch jene, die über sich hinausgehen und sich vorab zum ersten Mitglied einer anderen Ordnung erklären. Es würde sich lohnen, den Umdeutungen im Detail nachgehen, die dem puer robustus in der Zeit nach Hobbes zuteil geworden sind. Verschiedene Auftritte nicht nur des egozentrischen, sondern auch des exzentrischen und nomozentrischen Störenfrieds wären dann zu bewundern. Ich muss es mir leider versagen, hier diese Deutungen und Umdeutungen darzustellen sowie die Revolten und Revolutionen, Aufstände und »Frühlinge« zu schildern, die von solchen Störenfrieden getragen und belebt worden sind. Damit die verschiedenen Versionen des Störenfrieds wenigstens beispielhaft greifbar werden, führe ich zwei literarische Helden an, die nach Hobbes’ egozentrischem Störenfried als Repräsentanten der anderen beiden Typen taugen. Beim exzentrischen Störenfried bleibt die Darstellung arg knapp, beim nomozentrischen Störenfried verweile ich etwas länger.

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Wer verstehen will, wie ein exzentrischer Störenfried agiert, dem sei empfohlen, Denis Diderots Dialogroman Rameaus Neffe zu lesen. Seinen Titelheld führt Diderot ausdrücklich als Variante von Hobbes’ puer robustus ein. Er lanciert ihn gewissermaßen als einen Abweichler von jener Art des Außenseiters, den sein Vorgänger auf die Egozentrik festgelegt hat. Der Neffe, dieser »andere« puer robustus, wird als Störenfried im guten Sinn charakterisiert. Von ihm heißt es, dass sein »Charakter von den gewöhnlichen absticht und […] die lästige Einförmigkeit unter[bricht], die wir durch unsre Erziehung, unsre gesellschaftlichen Konventionen, unsre hergebrachten Anständigkeiten eingeführt haben. Kommt ein solcher in eine Gesellschaft, so ist er ein Krümchen Sauerteig, das das Ganze hebt und jedem einen Teil seiner natürlichen Individualität zurückgibt.«21 Der Neffe ist ein exzentrischer Störenfried, der abweicht, Regeln und Konventionen verletzt, dabei aber nicht nur sein eigenes Interesse verfolgt. Er kennt und nennt seine Interessen – und vergisst sie doch wieder. Er denkt sich zahllose Rollen aus, experimentiert mit Lebensmöglichkeiten und bringt damit einen Prozess in Gang, der die Selbstgefälligkeit und Selbstverständlichkeit der Gesellschaft durcheinanderbringt. Es sei wenigstens erwähnt, dass Rameaus Neffe zum Helden in zwei philosophischen Klassikern geworden ist, auf die ich hier nicht eingehen kann: In Hegels Phänomenologie des Geistes spielt dieser Neffe ebenso eine Hauptrolle wie in Michel Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft. Hier wie dort wird das Exzentrische dieser Figur gewürdigt: Für Hegel spielt Diderots Held eine Schlüsselrolle im Bildungsprozess der Menschheit, der im Bruch mit einer saturierten Lebensart besteht, für Foucault ist der Neffe ein passender Repräsentant des »gefährlichen Individuums«, das die Normalität in Frage stellt.22 Ein Echo auf Diderot findet sich der Sache nach auch bei John Stuart Mill, der eine Vielzahl von »experiments of living« fordert und sagt: »No society in which eccentricity is a matter of reproach, can be in a wholesome state.«23 Die erste Adresse, an die man sich zu halten hat, wenn man den nomozentrischen Störenfried kennenlernen will, ist eigentlich ein Philosoph, der sich direkt auf Hobbes’ puer robustus bezogen und ihn drastisch umgedeutet hat: Jean-Jacques Rousseau. Da dessen Position eine allzu umständliche Darstel21

Diderot, Denis: Ästhetische Schriften, Bd.2. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin 1967, S. 406 f. 22 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. In: Gesammelte Werke, Bd. 3. Frankfurt am Main 1970–1971, hier S. 362, 364, 387; Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main 1995, S. 350; vgl. Thomä, Dieter: Hegel – Diderot – Hobbes. Überschneidungen zwischen Politik, Ästhetik und Ökonomie. In: Freiheit. Hegel Kongress Stuttgart 2011. Hg. v. Axel Honneth u. Gunnar Hindrichs. Frankfurt am Main 2013, S. 167–194. 23 John Stuart Mill: Collected Works, Bd. XVIII. Toronto, Buffalo 1977, S. 261; ders.: Collected Works, Bd. II. Toronto, Buffalo 1965, S. 209.

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lung erfordern würde, begnüge ich mich mit einem einfacheren Fall und verweise auf einen Autor, der unter dem starken Eindruck Rousseaus einen solchen nomozentrischen Störenfried auf die Bühne gebracht hat. In Wilhelm Tell, seinem letzten Drama von 1804, feiert Friedrich Schiller den Dreischritt von der alten Ordnung über den Regelbruch zur Errichtung einer neuen Ordnung und zeichnet damit, nebenbei gesagt, das Bild einer gelungenen, idealen Revolution, reagiert also direkt auf die Französische Revolution. Mit seinem Dreischritt geht Schiller über den egozentrischen und exzentrischen Störenfried hinaus. Die alte Ordnung funktioniert unverkennbar nach einem Hobbes’schen Schema: Es gibt einen »König […], den alle fürchten«, der die Untertanen aber auch »schützt«, und als Tells Sohn Walter fragt, warum diese Untertanen »sich nicht mutig selbst beschützen« können, verweist der Vater auf die individualistische Konkurrenz: »Dort darf der Nachbar nicht dem Nachbar trauen.«24 In dieser alten Welt sieht sich der Souverän dem Krieg aller gegen alle gegenüber – und unterbindet ihn. Die Schweiz will diesen Herrscher abschütteln und in den Genuss einer neuen Ordnung kommen, sie muss dafür aber auch die individualistische Konkurrenz hinter sich lassen, auf die sich die Legitimation dieses Herrschers stützt. »Wer soll euch retten?« – so fragt der Freiherr von Attinghausen auf dem Sterbebett seine Landsleute. Von ihnen, die keine Landeskinder mehr sein wollen, erhält er zur Antwort: »Wir uns selbst.« Die Selbstrettung soll durch die Schaffung einer Ordnung erfolgen, die auf einem Bund oder Vertrag basiert und in der die Menschen »sich fröhlich selbst« regieren.25 Rousseau ist hier allgegenwärtig. Noch aber ist die Zeit für Fröhlichkeit nicht angebrochen. Beim Übergang von einer Ordnung zur anderen kommt es unweigerlich zu einer Krise, zu einem rechtlosen, rechtsfreien Zustand. Das Wir, das regieren soll, gibt es noch gar nicht. Das politische Subjekt ist erst im Entstehen. Wer den Umbruch bewerkstelligt, muss sich zunächst an die Schwelle, an den Rand der alten Ordnung begeben. Auf die Frage: »Wann wird der Retter kommen diesem Lande?«26 fehlt den Schweizern die Antwort – bis Wilhelm Tell als Schwellenwesen auftritt. Er pfeift auf Rücksicht, sucht den Streit und bringt die Dinge in Bewegung. Er kümmert sich nicht um die Vorgaben und Vorschriften des Kaisers, gliedert sich aber auch nicht sogleich in den Bund der Eidgenossen ein. Zu Beginn wird er als jemand geschildert, der erstaunlicherweise noch Ähnlichkeiten mit dem egozentrischen Störenfried aufweist. Im Streit zwischen Tell und Stauffacher wird dies überdeutlich: 24

Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell. In: Sämtliche Werke, Bd.2. München 1981, S. 913– 1029, hier S. 979. 25 Ebd., S. 958, 997. 26 Ebd., S. 923.

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Stauffacher: Wir könnten viel, wenn wir zusammenstünden. Tell: Beim Schiffbruch hilft der einzelne sich leichter. Stauffacher: So kalt verlasst Ihr die gemeine Sache? Tell: Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst. Stauffacher: Verbunden werden auch die Schwachen mächtig. Tell: Der Starke ist am mächtigsten allein.27 Tell widerstrebt es, überhaupt irgendwo dazuzugehören, er tritt als Einzelgänger auf und meint sich dies als »Starker« leisten zu können. Ähnlich wie der böse puer robustus vertraut er nur auf sich. »Was sein Pfeil erreicht,/Das ist seine Beute […]. Wer durchs Leben/Sich frisch will schlagen, muss zu Schutz und Trutz/gerüstet sein,« sagt Tell über sich selbst.28 Doch genau auf einen solchen first mover sind die Schweizer angewiesen. »Nicht obwohl, sondern weil Tell nicht Mitglied des Bundes ist, ist er sein Erfüller und heimliches Haupt.«29 Tells besonderer Status hat sich sogar bis zu seinem Gegner und späteren Opfer Geßler herumgesprochen, sagt dieser doch bei ihrer Begegnung kurz vor dem Apfelschuss: »Man sagte mir, dass du ein Träumer seist, Und dich entfernst von andrer Menschen Weise. Du liebst das Seltsame.«30 Gerade dieser »seltsame« Tell bahnt den Weg zur Errichtung des »Bunds«. Er beginnt als Einsamer und Seltsamer – und bewährt sich am Ende als Retter. Er ist zuständig für den Notfall oder Ausnahmezustand: »Bedürft ihr meiner zu bestimmter Tat,/Dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen.«31 Interessant ist die Frage, wie Tell es fertig bringt, nicht einfach aus der Rolle zu fallen oder Grenzen zu überschreiten, sondern die Ahnung – oder mehr als eine

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Ebd., S. 932. Zur »Isolierung des Titelhelden« vgl. Koschorke, Albrecht: Brüderbund und Bann. Das Drama der politischen Inklusion in Schillers Tell. In: Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. Hg. v. Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza u. Albrecht Koschorke. München 2003, S. 106–122, hier S. 115. Schiller selbst schreibt über Tell: »Seine Sache ist eine Privatsache, und bleibt es, bis sie am Schluss mit der öffentlichen Sache zusammengreift«; zu diesem Zitat aus einem Brief an Iffland und dessen Deutung vgl. Müller-Seidel, Walter: Friedrich Schiller und die Politik. München 2009, S. 198. 28 Schiller: Wilhelm Tell, S. 966. 29 Kaiser, Gerhard: Idylle und Revolution. Schillers »Wilhelm Tell«. In: Deutsche Literatur und Französische Revolution. 7 Studien. Hg. v. Richard Brinkmann, Claude David, Fink Gonthier-Louis, Gerhard Kaiser, Walter Müller-Seidel, Lawrence Ryan u. Kurt Wölfel. Göttingen 1974, S. 87–128, hier S. 99. 30 Schiller: Wilhelm Tell, S. 980. 31 Ebd., S. 955, 932 f.

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Ahnung – von einer anderen Ordnung zu vermitteln, also nomozentrisch zu agieren. Zwar handelt Tell auf eigene Faust, aber er hat zugleich die Güte gepachtet, und dies beweist er weder durch brave Regeltreue noch durch bündische Solidarität, sondern dadurch, dass er in vorpolitischer Sympathie seinen Nachbarn verbunden ist. Seine rhetorische Frage lautet: »Der Tell holt ein verlornes Lamm vom Abgrund, und sollte seinen Freunden sich entziehen?«32 Damit schafft er eine Basis für das Gegenprogramm zum egozentrischen, aber auch zum exzentrischen puer robustus. Das Mitleid dient ihm als unfehlbarer innerer Kompass, der die Richtung zu einer neuen Ordnung angibt. Er ist ein störrischer Einzelgänger – mit einem guten Herzen. Am Ende verwandelt sich Tell vom Außenseiter in einen Bruder, vom »Stifter« des Bundes zu dessen Mitglied. In diesem Bund können die Schweizer sagen: »Wir sind freie Menschen«.33 Weil Tell fern von Leichtsinn und Mutwillen über eine Moral verfügt, die in einer natürlichen Eigenschaft wurzelt, ist er in der Lage, sich im Zwischenreich zwischen alter und neuer Ordnung mit traumwandlerischer Sicherheit zu bewegen. Er läuft nicht Gefahr, sich zu verirren oder beirren zu lassen. Darin liegt der Schlüssel für die Menschlichkeit oder Übermenschlichkeit dieses Helden. Der Rückgriff auf die natürliche Sympathie Tells ist der Trick, den Schiller anwendet, um das systematische Problem zu lösen, das bei jedem Übergang von der alten in die neue Ordnung auftritt. Derjenige, der diesen Übergang betreibt, stellt sich gegen das bestehende Recht im Vorgriff auf ein zukünftiges Recht, dessen Legitimität er nur behaupten und mit dem Einsatz seines Lebens beglaubigen kann. Es ist dies die enorme Herausforderung, vor die der nomozentrische Störenfried gestellt ist: Er tritt – wie der junge Hegel sagt – »auf den Kampfplatz der Macht und wagt sich gegen ein Anderes«. In diesem »Kampf für Rechte liegt ein Widerspruch«, denn gegen das geltende Recht, das »ein Allgemeines ist«, setzt der Aufständische das neue Recht als »ein anderes Gedachtes«: »Leben« liegt hier »im Kampf mit Leben«.34 Diejenigen unter Schillers Zeitgenossen, die die Französische Revolution entschieden gefeiert haben, stehen genau vor diesem Problem. Der Kant-Schüler Johann Benjamin Erhard sagt, die »Rechtmäßigkeit« einer Revolution könne sich nicht direkt auf bestehendes »Recht« stützen, sondern nur ein zukünftig geltendes Recht als Ziel angeben, an dessen Güte sie sich messen will. So ist »eine Insurrektion, die aus dem Grunde entsteht, um die Menschenrechte geltend zu machen, […] heilig und ein Triumph der Menschheit«.35 Im Moment des Umbruchs ist freilich 32

Ebd., S. 932. Ebd., S. 1021, 1012. 34 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Frühe Schriften. In: Gesammelte Werke, Bd. 1. Frankfurt am Main, hier S. 348. 35 Erhard, John Benjamin: Über das Recht des Volks zu einer Revolution und andere 33

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alles in der Schwebe, nicht nur verliert die alte Ordnung ihre Selbstverständlichkeit, sondern die neue Ordnung ringt noch um Legitimität; sie steht einstweilen im Verdacht, die Kopfgeburt eines Außenseiters zu sein. Ich komme schon zu einem kurzen Resümee. Es besteht in dem Vorschlag, politische Ordnungen am Leitfaden der Störungen zu lesen, die in ihnen auftreten. Nach meiner Typologie gibt es drei solcher Störungen. Die egozentrische Störung gehört zu Gesellschaften, die nichts anderes als den Individualismus als Voraussetzung kennen und – vergeblich – versuchen, unter dieser Voraussetzung ein stringentes Modell sozialer und politischer Kooperation abzuleiten. Der egozentrische Störenfried wirkt politisch ungefährlicher als seine Verwandten, weil er sich nur um sich kümmert, also die Ordnung nicht direkt angreift. Doch die Erwartung, dass er sich mittels rational choice zur Raison bringen lässt, geht in die Irre. Die Verwandlung dieses puer robustus in den braven Untertan kann nicht verlässlich gelingen, als Trittbrettfahrer und in anderen Rollen führt er – wie die individualistischen Exzesse der Finanzkrise und viele andere Anlässe gezeigt haben – zu einer Erosion der politischen Ordnung. Er stellt also genau deshalb eine politische Gefahr dar, weil er sich unpolitisch gibt. Daneben tritt die exzentrische Störung. Sie gehört zu Gesellschaften, die ihre Ordnung aufs Spiel setzen und das Individuum, das über die Stränge schlägt, nicht von vornherein sanktionieren, sondern als Stachel im eigenen Fleisch sehen und schätzen. Diese Wertschätzung ist – anders als beim Blick auf den egozentrischen Störenfried – berechtigt, weil der exzentrische Störenfried selbst eine Bewegung ausführt, in der er über sich hinaus, also auch auf andere zugeht. Er hat eine Botschaft, die immer auch eine Einladung an andere enthält. Denkbar wird damit eine Gesellschaft, die durch Experimentierfreude oder durch kollektive Improvisation gekennzeichnet ist. Bei ihr bleibt dann zu fragen, wie man das Spiel von Abweichung und Einordnung organisiert, wie der Prozess der Veränderung gestaltet wird, unter welchen Umständen der Stachel des Störenfrieds giftig oder heilsam wirkt. Es ist dies die Grundfrage der liberalen Gesellschaft. Der nomozentrische Störenfried geht über die individuelle Abweichung hinaus, die das Lebenselixier des Exzentrikers ist. Ihm geht es nicht nur um Trubel, Jubel und Unordnung, sondern um eine Um-Ordnung oder Neu-Ordnung. Er geht aufs Ganze, ihm geht es um das große Ganze, er ist also jemand, der Gesellschaft sucht, der im Kollektiv auftreten will. Wer als nomozentrischer Störenfried auftritt, ist kein Egozentriker, der in seiner Privatsprache gefangen ist wie Hobbes’ Rebell, auch kein Exzentriker wie Diderots Neffe, der mit der Schriften. Frankfurt am Main 1975, S. 54; vgl. Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik, S. 28 f.

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Überschreitung von Grenzen spielt. Er lebt über seine Verhältnisse, greift voraus auf einen anderen Zustand, für dessen Güte er sich verbürgt, ohne dafür doch bis ins Letzte einstehen zu können. Darin liegt die Waghalsigkeit, aber auch die Fehlbarkeit des nomozentrischen Störenfrieds: die Gefahr der Selbstüberschätzung, der Arroganz des Revolutionärs. Seine Glaubwürdigkeit steht und fällt damit, dass er die bessere Ordnung nicht als fernes Produkt preist, das als Zweck alle Mittel heiligt, sondern sie so weit wie möglich in den gegenwärtigen Lebensvollzug hineinzieht. Damit gerät er unweigerlich wieder in die Fänge der Wirklichkeit, in die Unzulänglichkeit eines vom Bestehenden beeindruckten Sinns hinein. Die normative Beurteilung, die sich mit Blick auf die drei Typen des Störenfrieds empfiehlt, fällt ebenso schlicht wie entschieden aus. Der egozentrische Störenfried droht – ins Extrem getrieben – vom Außenseiter zum Normalfall einer Gesellschaft zu werden, in der jeder an sich denkt und die politischen Institutionen als Elemente eines globalen Selbstbedienungsladens auffasst. Der nomozentrische Störenfried spielt im Ausnahmefall des Umbruchs damit, sein Handeln durch einen moralischen Vorgriff auf eine Welt zu rechtfertigen, von der außer ihm vielleicht kaum jemand etwas weiß oder wissen will. So wird er in dem Maße glaubwürdiger und fruchtbarer, wie er sich dem exzentrischen Störenfried annähert. Dieser ist es, den es zu loben lohnt.

Drittes Zwischenspiel

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Drittes Zwischenspiel

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»Malita-Malika« habe ich komponiert, ohne dabei eine genaue Besetzung festzulegen, auch wenn es in der Anlage »pianistisch« gedacht ist. Die Melodie liegt in der Oberstimme, anhand der Notenhälse lässt sich ablesen, welche Noten zur Melodie gehören und welche zu den begleitenden Akkorden (beispielsweise Takt 1 und 10: Die Hälse der Melodienoten, beziehungsweise von Akkorden mit einer Melodienote als Oberstimme, zeigen aufwärts, die anderen abwärts). Das Notenbild ohne Akkordsymbole legt genauer als bei anderen Stücken fest, wie die Akkorde gespielt werden müssen – und auch wann: Sie stehen auf genauen Zählzeiten und können dadurch nicht einfach frei gesetzt werden (beispielsweise Takt 10). In diesem Stück verteilen wir die Rollen eigentlich immer in derselben Weise, auch weil hier die Oktavlage der Melodie meist exakt die notierte sein muss (bei »Song without Words« oder teilweise auch »cello« ist sie variabler), das ergibt sich aus der Harmonik. Das Saxophon übernimmt daher die Melodielinie, Klavier und Kontrabass spielen die übrigen Stimmen, beziehungsweise improvisieren mit ihnen oder ergänzen sie. Dabei kann das Klavier auch die Melodielinie doppeln, der Bass zuweilen auch, meist dann, wenn kein Akkord klingt (zum Beispiel oft ab Zählzeit 4 in Takt 10 bis Zählzeit 2 in Takt 12). »Malita-Malika« beginnt immer mit dem Thema. Nachdem es einmal erklungen ist, entwickelt sich daraus eine Improvisation, die entweder komplett frei sein oder auf Teilen des Themas basieren kann. Oft geht diese dann in einen Teil oder das ganze Thema zum Abschluss über. Das Stück könnte aber auch mit der Improvisation enden. Ein »Signal« für das Wiederaufgreifen des Themas ist für mich der F#-Moll-Akkord (ohne Terz, allerdings folgt diese in der Melodie) mit kleiner Sexte, der den A-Teil einleitet: Wenn ich höre, dass unsere Improvisation auf diesem Akkord oder auch nur auf einem langen Ton »fis« landet, kann das bestimmen, dass ich noch einmal die Melodie des Themas spiele. Wie viel, ob nur den A-Teil (oder den C-Teil) oder das ganze Stück, hängt von dem ab, was davor im Stück passiert ist. Klar ist nur, dass das Stück nur sehr selten auf dem letzten Ton des B-Teils endet, da dieser quasi nach einer Auflösung oder Weiterführung verlangt. Die Tempoangabe »rubato« gilt vor allem für das Thema. In der Improvisation kann sich auch ein festes Tempo etablieren oder nur für eine gewisse Zeit entwickeln. Ein wichtiger Impuls für das Tempo ergibt sich auch aus der Akustik der Räumlichkeit, da sie die Deutlichkeit beziehungsweise die Verständlichkeit der Rhythmen bestimmt. In Räumen mit sehr viel Hall »verwischen« schnelle Linien, und Harmonien überlappen einander. Daher könnten genügend lange Pausen zwischen Phrasen oder ein langsameres Tempo auch von dichten Linien nötig werden. Mit diesem Effekt lässt sich zudem bloß spielen.

IV. Öffentlichkeit, Bildung und Leiblichkeit

Georg Franck

Reflexion in einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Nur noch eine Illusion im mentalen Kapitalismus?

Die Reflexion denkt nach. Sie macht keine Pläne, denkt nicht voraus. Sie hinterfragt. Sie versucht, Voraussetzungen einzuholen, die das Denken unwillkürlich macht, die aber Vorurteile bleiben, solange sie nicht zu Ende durchdacht sind. Weil dieses Durchdenken nie ganz zu Ende kommen wird, verläuft auch keine ganz klare Line zwischen vorurteilsfreier Rationalität und der Rationalisierung von Vorurteilen. Weil es nie fertig wird, führt das Reflektieren auch nicht von sich aus zum Entschluss. Vielmehr sind da immer noch weitere Fragwürdigkeiten, die erst einmal reflektiert sein wollen, bevor fraglos feststeht, was zu tun sei. Das Reflektieren hat den Nestgeruch einer Geduldsprobe, die man sich muss leisten können, aber auch lassen kann, wenn Aufmerksamkeit knapp ist und der Druck der Situation anzeigt, dass der Blick nach vorn zu richten sei. So hat es nicht bloß mit Gedankenlosigkeit zu tun, wenn das Lob der Reflexion in einer Zeit medial umkämpfter Aufmerksamkeit und epidemischer Präokkupation mit Zukunftsfragen den Verdacht eines milden Anachronismus auf sich zieht. Diesem Verdacht muss die Reflexion von sich aus nachgehen, wenn sie aus der Innerlichkeit des Selbstbewusstseins ausbrechen und sich in die Bildung öffentlicher Meinung einmischen will. Diese Einmischung ist der Reflexion denn auch bei Strafe ihrer Degradierung zur privaten Liebhaberei abverlangt, denn die Bildung der öffentlichen Meinung vollzieht sich in einem Diskurs, in dem immer auch das Selbstverständnis der Gemeinschaft der Beitragenden verhandelt wird. Allerdings organisiert dieser Diskurs sich nicht ganz von selbst, sondern will planmäßig organisiert sein, wenn er die Statur einer effektiven Verhandlung annehmen soll. In der bürgerlichen Gesellschaft sind es kommerziell betriebene Medien, die diese Organisation übernehmen. Dadurch geraten die Chancen der Reflexion in der bürgerlichen Öffentlichkeit in die Abhängigkeit von Umständen, die wenig mit der Kraft von Argumenten, aber viel mit Märkten zu tun haben, deren Funktion zu beurteilen einen klassischen Fall der Schwierigkeit darstellt, zwischen vorurteilsfreier Rationalität und der Rationalisierung von Vorurteilen zu unterscheiden. Diese Verunsicherung wird im Folgenden noch weiter bis hin zu der Frage, was unter Selbstbewusstsein zu verstehen ist, getrieben, um den jüngsten Strukturwandel der Öffentlichkeit, nämlich die Kommerzialisierung der Ökonomie der Aufmerksamkeit, für den Zugriff der Reflexion zurecht zu legen.

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Georg Franck

Diskurs und Demokratie Der Begriff der diskursiven Öffentlichkeit geht, das versteht sich, auf Jürgen Habermas zurück. Habermas entwickelt in seinem 1962 erschienenen »Strukturwandel der Öffentlichkeit« den bestechenden Gedanken einer sich selbst verständigenden, um nicht zu sagen, sich selbst aufklärenden Gesellschaft. Er sprengt den introspektiven, auf die Perspektive der ersten Person beschränkten Rahmen der Selbstreflexion, um sie auf die Ebene eines Diskurses zu heben, in dem die Gesellschaft sich selbst reflektiert. Bedingung der Möglichkeit einer gelingenden Reflexion ist freilich, dass sich der Meinungsstreit streng in den Bahnen der Rationalität vollzieht, dass es also immer nur das bessere Argument ist, das zählt und sticht. Machtverhältnisse müssen neutralisiert werden können. Kurz, der Diskurs darf sich nie erheblich vom Ideal der herrschaftsfreien Kommunikation entfernen. Als Aushandlungsprozess ist er auf die Herstellung von Konsens festgelegt. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Diskurs eine funktionierende Demokratie voraussetzt; auf der Hand liegt dann allerdings auch, dass eine Demokratie sich auf keinen Fall darauf verlassen darf, dass ein solcher Diskurs funktioniert. Sinn und Zweck der Demokratie ist die Kontrolle staatlicher Macht durch die Bürger des Staats. Diese Kontrolle kann nicht bedeuten, dass staatliche Politik nur im Rahmen eines herrschaftsfrei ausdiskutierten Konsensus der Bürgerschaft möglich ist. Vielmehr würde die Einschränkung politischer Entscheidung auf den herbeigeführten Konsens das Ende staatlicher Politik bedeuten. Dies nicht, weil die Reflexion erst gar nicht zu einem Beschluss käme, sondern weil die Voraussetzung konsensualer Zustimmung eine Einigung überhaupt ausschließt. Die Vorschrift, dass nur im Konsens entschieden werden darf, räumt sämtlichen Beteiligten ein Vetorecht ein. Nichts ist besser geeignet, einen Konsens zu vereiteln als dieses Vetorecht, denn es gibt sämtlichen Beteiligten das Recht, einen Beschluss zu blockieren. Alle sind dann eingeladen, von ihrem Vetorecht Gebrauch zu machen, um ihren eigenen Vorteil zu ertrotzen. Wenn alle, die rational den eigenen Vorteil verfolgen, dieser Einladung folgen, wird es zu gar keiner politischen Entscheidung kommen. Um die Vorschrift der Einstimmigkeit aufzuheben, muss an ihre Stelle die Festlegung treten, welcher Anteil der Stimmen hinreicht, um eine für alle verbindliche Entscheidung zu treffen.1 Auch dieser Anteil ist keine frei wählbare Variable. Wird eine Mehrheit deutlich über der Hälfte gefordert, so wird damit Minderheiten das Recht eingeräumt, jedwede Entscheidung zu blockieren. 1

Vgl. hiermit und mit dem Folgenden: Franck, Georg: Was ist das: eine freie Gesellschaft? Über Abstimmungsverfahren und ihre Probleme. In: Volksherrschaft – Wunsch und Wirklichkeit. Hg. v. Uwe Justus Wenzel. Zürich 2014, S. 113–123.

Reflexion in einer bürgerlichen Öffentlichkeit

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Andererseits scheidet eine Zustimmungsrate von weniger als der Hälfte aus, da dann einander widersprechende Entscheidungen nebeneinander möglich wären. Also kann die Blockademacht der Minderheit nur dadurch gebrochen werden, dass der Stimmenanteil auf das mögliche Minimum, das heißt auf 50% plus 1 Stimme, gesenkt wird. Aus diesem einfachen Grund heißt Demokratie nicht, dass der herrschaftsfreie Diskurs entscheidet, sondern dass die Politik durch Mehrheitswahl entschieden wird. Der politische Diskurs orientiert sich in der Demokratie nicht zunächst an Wahrheit oder Vernunft, sondern an der Organisation von Mehrheiten. Hieße Reflexion in der bürgerlichen Öffentlichkeit deshalb nicht zunächst einmal, die hohen Ansprüche, die der rationale Diskurs steckt, zu überdenken? Ist es denn so fraglos klar, welche Aufgabe dem Diskurs in der Demokratie zufällt? Ist er dazu da, die Wähler über ihre Interessen und über die Angebote an Wahlmöglichkeiten aufzuklären? Oder eher dazu, eine öffentliche Meinung (und damit eine Vorauswahl von eventuellen Themen politischer Abstimmung) in einem Spiel von Angebot und Nachfrage auszuhandeln? In beiden Fällen kommt zur zentralen demokratischen Abstimmung eine komplementäre, dezentrale Art der Abstimmung hinzu. Die demokratische Abstimmung kombiniert das Minimum der Zustimmung mit dem Maximum der Beteiligung. Praktikabel ist aber auch die Kombination des Maximums der Zustimmung mit dem Minimum der Beteiligung. Die institutionalisierte Form dieser dezentralen Abstimmung stellten Märkte dar, wo ebenfalls kollektiv, aber eben dadurch abgestimmt wird, dass immer nur zwei Partner handelseinig werden. In der bürgerlichen Gesellschaft wird die öffentliche Meinung auf Märkten ausgehandelt, auf denen Information entweder gegen Geld oder direkt gegen Aufmerksamkeit getauscht wird. So kann es nicht unterbleiben, dass die Ansprüche diskursiver Rationalität Konkurrenz bekommen.

Die Medialisierung der Öffentlichkeit Das Vorbild des rationalen Diskurses ist, ob ausdrücklich oder stillschweigend, der Austausch von Argumenten in einer übersichtlichen Runde artikulationsfähiger Gesprächspartner. Im Bezug auf die Demokratie entspricht dieses Bild den Bürgerversammlungen in vorindustriellen Gemeinwesen, der Debatte face-to-face im nur eben größeren Kreis. Die lokalen Bürgerversammlungen konnten sich nun aber nur dadurch zu nationalstaatlichen Demokratien entwickeln, dass die Foren der öffentlichen Debatte in technische, ja industriell betriebene Medien verlagert wurden. Erst die gedruckte Presse machte die demokratische Kontrolle zentralstaatlicher Macht zu einer gangbaren Option.

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Die industriell betriebenen Medien waren von Anfang an mehr als nur reproduktionstechnische Anlagen und infrastrukturelle Distributionskanäle. Sie entstanden, das ist entscheidend, als Informationsmärkte. Sie beruhten nicht nur auf der technischen Reproduktion von Information, sondern auch auf der kommerziellen Organisation einer Industrie; sie waren von Anfang an mit der Werbung verbandelt. Sie boten sich an als Foren der öffentlichen Debatte und damit der demokratischen Meinungsbildung, waren aber nie neutrale Agenturen der Kommunikation im Sinn des Austauschs von Information, sondern immer auch Stätten des kommerziell und also nicht bloß rhetorisch betriebenen Kampfs um Aufmerksamkeit. Ihr Geschäft bestand darin herauszufinden, was das Publikum lesen, hören, sehen will. Die Verschiebung des Akzents von der Abstimmung hin zum öffentlichen Diskurs wirft Licht auf die Angewiesenheit der Demokratie auf die Dienste einer Industrie, die zunächst einmal um Marktanteile kämpft. Der »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, wie ihn Jürgen Habermas schon in vordigitaler Zeit diagnostiziert hatte, wird nun zu einer Frage der unternehmerischen Strategien, Geschäftsmodelle und Technologien, derer sich die Medienindustrie bedient. Der Wandel vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen, die ein rationaler Diskurs an seine Foren, und den Zielen, die ein kompetitiver Markt an seinen kommerziellen Betrieb stellt. Habermas hat auf seiner Seite das Argument, dass es der öffentliche Diskurs war, der auch und gerade die moderne Demokratie, die Demokratie auf nationalstaatlicher Ebene aus der Taufe hob. Also lässt sich, so sein Argument, aus der Geschichte lernen, dass eine Balance zwischen den Ansprüchen der Diskursivität und denen der medialen Vermarktung möglich ist. Der klassische Journalismus, zum Beispiel, hat gezeigt, wie ein Spagat zwischen rationalem Diskurs und unternehmerischem Erfolg des Mediums gelingen kann. Leider war der klassische Journalismus insofern ein bisschen undemokratisch, als er elitäre statt egalitärer Ansprüche an seine Leser stellte. Er diente der Reflexion genau dadurch, dass er es sich verkniff, dem Volks aufs Maul zu schauen.

Selbstreflexion der Demokratie Die Demokratie kann sich solche Selektivität nicht leisten. Sie kann sich ihr Volk nicht aussuchen, sondern muss damit zurechtkommen, dass die Stimmbürger nicht nur als Wähler, sondern auch als Medienkonsumenten abstimmen. Durch den Medienkonsum geben die Leute zum Ausdruck, wie sie informiert und als Wähler angesprochen werden möchten. Es ist gewiss eine offene Frage, wie genau und angemessen das Angebot auf die Nachfrage reagiert, kein Medium kann aber darauf verzichten herauszufinden, was das Publikum

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sehen, hören, lesen will. Das Medium ist nichts ohne Publikum; und ob es zu einem Massenmedium wird, entscheidet der Marktanteil. Auch den klassischen Journalismus hätte es nicht gegeben, hätte sich keine zahlungsbereite Nachfrage gefunden, die ihn profitabel macht. Selbst Reflexion muss sich, so zynisch dies klingen mag, lohnen, wenn sie in der bürgerlichen Öffentlichkeit eine Rolle spielen soll. Also macht es sich vielleicht doch zu einfach, wer die Schuld an deren schrumpfendem Marktanteil immer nur auf der Angebotsseite meint suchen zu sollen. Kann es nur an Verführung, an perfider Verdummung und an bedenkenlosem Profitstreben liegen, dass sich Tendenzen wie die zur Personalisierung von Sachfragen, zur Funktionalisierung von Prominenz, zur Verdrängung profunder Sachlichkeit durch Klatsch und Skandalisierung, zur Feier der »celebrity culture«, zur Überblendung von fundierter Haltung durch telegene Attraktivität auf so breiter Front durchsetzen? Oder könnte das auch daran liegen, dass wir mit einem Wandel des Umgangs zu tun haben, den die Leute mit ihrer eigenen und der Aufmerksamkeit anderer pflegen? Was, wenn es immer mehr werden, die lieber schnell und nebenbei als ausführlich und mit Tiefgang informiert werden wollen? Denen Aktualität wichtiger ist als Stringenz? Die eher darauf achten, worauf die anderen achten, als den Eigensinn zu pflegen? Die von Wahrheitsdiskursen wenig erwarten, weil sie sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass im Meinungsstreit letztlich doch der Kampf um die Aufmerksamkeit entscheidet? Diese Fragen gehen an die Reflexion. Allerdings nicht in der Erwartung bündiger Antworten, sondern zunächst einmal an sie selbst, in eigner Sache: Ist sie, als Reflexion, denn in der Lage, es mit ihnen aufzunehmen? Oder wird sie sich eingestehen müssen, genau dort überfordert zu sein, wo es gälte, einen scharfen Schnitt zwischen unvoreingenommener Aufklärung und der Rationalisierung mitgebrachter Annahmen anzusetzen? Ohne diesen Schnitt wird es kaum möglich sein, eine neutrale Schiedsrichterposition im Antagonismus der unternehmerischen Verwertungsinteressen und den Interessen der Medienkonsumenten einzunehmen. Es wird dann die politische Grundeinstellung hinter dem persönlichen Urteil den Ausschlag geben. Wer links und gesellschaftskritisch eingestellt ist, ist konditioniert, die Verwertungsinteressen am längeren Hebel zu sehen; wer konservativ und wirtschaftsfreundlich eingestellt ist, ist auch geneigt, die Nachfrage für den Zustand der Medienlandschaft verantwortlich machen. Wie schwer es nun aber tatsächlich fällt, einen scharfen Schnitt zu legen, zeigt ein Blick auf die Schulen der Sozialwissenschaft. Was diese trennt, sind viel weniger die methodischen und thematischen Präokkupationen als die gesellschaftspolitischen Einstellungen zu Macht und Markt. Auch hier ist die gesellschaftskritische Seite konditioniert, die Verwertungsinteressen am längeren Hebel zu sehen, während die konservative Seite immer schon weiß, dass die Medienlandschaft so aussieht, wie sie aussieht, weil die

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effektive Nachfrage es so will. Die Linke hält es für zynisch, sich den Verdacht zu erlauben, die Leute möchten zum Boulevard und zum Rummel um die Prominenz verführt werden; die Rechte zeigt mit dem Finger auf das elitäre Vorurteil im Glauben der kritischen Kritiker, es besser als die Leute selbst zu wissen, was in deren wohlverstandenem Interesse ist. Also wird das Frankfurter Institut für Sozialforschung immer die Verwertungsinteressen, das MIT hingegen immer die zahlungsbereite Nachfrage als eigentlich Schuldige ausmachen. Und das ist keine Spezialität. Vielmehr haben wir es hier mit dem ganz typischen Fall von Fragen zu tun, die deswegen an der Reflexion hängen bleiben, weil alle Berufung auf zertifizierte Expertise nicht weiterhilft.

Alte und neue Medien Dass sie an der Reflexion hängen bleiben, heißt nicht, dass es hoffnungslos wäre, die Antworten jeweils für sich auf die Probe zu stellen. Wir sind ja noch nicht bei der thematischen Frage nach der Rolle der Reflexion im mentalen Kapitalismus angekommen. Bisher war von Medien nur als klassischen Informationsmärkten die Rede: als Märkten, auf denen kommodifizierte Information gegen Geld gehandelt wird. Diese »alten« Medien haben inzwischen von »neuen« Medien Konkurrenz bekommen, die sich einerseits durch die technologische Basis von Reproduktion und Distribution, andererseits und vor allem aber durch das Geschäftsmodell von den klassischen Foren der bürgerlichen Öffentlichkeit unterscheiden. Der Wechsel von analoger zu digitaler Technologie ist nicht nebensächlich, aber bei weitem nicht so einschneidend wie der vom Verkauf zum Verschenken der Information. Die neuen Medien, das sind kommerzielles Fernsehen, Internet und »social media«, lassen den Verkauf der Information hinter sich, um sich ganz auf die Attraktion von Aufmerksamkeit zu konzentrieren, welche sie als Dienstleistung an die Werbewirtschaft verkaufen. Dieses neue Geschäftsmodell schaute für die gestandenen »captains of industry« zunächst einmal so abwegig aus, wie der Handel mit derivativen Finanzprodukten den »old boys of stock trade« vorgekommen war. Zu deren beider Entsetzen entpuppte sich der derivative Handel mit Attraktionsdiensten beziehungsweise Profitverschreibungen als viel profitabler und viel dynamischer als die herkömmliche Belieferung der Endnachfrage.2 Wie es zu diesem Wandel kam und was er bedeutet, müsste sich unterschiedlich je danach darstellen, ob die Verwertungsinteressen der Anbieter 2

Siehe ausführlicher: Franck, Georg: The economy of attention in the age of neoliberalism. In: Communication in the Era of Attention Scarcity. Hg. v. Claudia Roda. Heidelberg (im Druck).

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oder die Interessen der zahlungsbereiten Nachfrager den Ausschlag geben. Also könnten diese vorwegnehmenden Einstellungen doch in Wirkungsprognosen und Hypothesen umgedeutet werden, deren Triftigkeit sich an ihrer erklärenden Kraft ablesen lässt. Natürlich ist das kein reguläres Verfahren empirischer Sozialforschung, soll es ja auch nicht sein; es ist nur ein Hinweis, wie die Reflexion sich eines Gedankenexperiments bedienen kann. Welche war also die Entwicklung, die die aufs Verwertungsinteresse fokussierte Gesellschaftskritik der Medienlandschaft vorhergesagt hätte? Eine direkte Extrapolation der Tendenzen, die jene Kritik im Blick hatte, stellen die Erscheinungen des Neoliberalismus und der Postdemokratie dar. Die beiden Schlagworte beziehen sich auf dasselbe Phänomen, nur aus unterschiedlicher Perspektive. Der Neoliberalismus steht für die Entfesselung der Verwertungsinteressen durch Deregulierung der Märkte, die Postdemokratie für die Aushöhlung der Demokratie durch die freigestellte Konzentration wirtschaftlicher und medialer Macht. Die Deregulierung führt bis zu den notwendigen Bedingungen für das Aufkommen der neuen, werbefinanzierten Medien. Der Weg zum privaten Fernsehen und zum Internet musste erst freigeräumt werden durch Aufhebung der staatlichen Sendemonopole. Die Möglichkeit, das Bezahlsystem von der Währung Geld auf die Währung Aufmerksamkeit umzustellen, besagt nun freilich noch nicht, dass das Geschäftsmodell der werbefinanzierten Medien funktioniert. Kein Interesse, Geld mit dem Verkauf der Attraktionsleistung zu verdienen, kann garantieren, dass der Erlös hinreicht, um erstens die Industrie der Werbeagenturen und Produzenten des Werbematerials inklusive deren Zulieferketten und dann auch noch den gigantischen Betrieb der neuen Medien, von RTL über Google bis Facebook und weit darüber hinaus zu finanzieren. Wie ist diese Finanzkraft der Werbung zu erklären? Wer gibt das Geld aus, das die von der Werbung finanzierten Industrien verdienen? Und warum? Ist es ein weltumspannender Verblendungszusammenhang, der die Menschheit in den Zustand einer dümmlichen Lust an falschen Versprechungen versetzt? Sind wir soweit von unseren eigentlichen Bedürfnissen entfremdet und so hoffnungslos dem Fetischismus der Warenwelt verfallen, dass wir uns als leichte Opfer jener »geheimen Verführer«, wie Vance Packard die Werbeindustrieen bereits in den 1970er Jahren apostrophierte, anbieten? Oder muss die Zahlungsbereitschaft handfeste Gründe haben, wenn sie verständlich werden will? Denn eines ist gewiss: Niemand anders als die Käufer der beworbenen Waren bezahlen den Preis, der jene Industrien finanziert. Gibt es einen Grund, warum die Leute bereit sind, den erklecklichen Aufschlag für beworbene Waren – also vor allem für Markenprodukte – zu bezahlen? Auf diese Frage kann kein Verwertungsinteresse, sondern einzig das Hören auf die Stimme der Nachfrage eine Antwort geben.

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Werbung erzählt kaum etwas über die handfesten Eigenschaften der Produkte, die wir konsumieren sollen. Die Branche hat vielmehr herausgefunden, dass Verkaufsförderung etwas ganz anderes ist als Produktinformation. Die besten Argumente für die Verkaufsförderung liefert die Symbolisierung von sozialem Status und Szenenzugehörigkeit. Als besonders effektiv in Sachen Symbolisierung und Selbstdarstellung hat sich das Konzept der Marke, des Brandings, herausgestellt. Durchgesetzte Brands sind Symbole, die jeder kennt und versteht. Man kann auch sagen, durchgesetzte Marken sind Logos und Zeichen, die es zum Status der Prominenz gebracht haben. Diesen Status erlangen die Zeichen nur, wenn sie mit Bedeutung aufgeladen werden. Branding ist das Geschäft dieser Aufladung. Es nimmt durch Suggestivität, gnadenlose Wiederholung und beharrliches Bedienen von Wunschdenken Einfluss auf die Assoziation der Gemüter. Es liegt an dieser Bedeutung, dass der Konsum nicht einfach als Verbrauch geschieht, sondern Produktivität in der Ökonomie der Aufmerksamkeit annimmt. Dadurch, dass alle – diejenigen, die die Waren kaufen, und diejenigen, die beeindruckt werden sollen – lernen, was der Konsum einer bestimmten Marke bedeutet, wird es möglich, dass man sich als gewöhnlicher Konsument Prestige kauft. Und es ist diese Möglichkeit, die hinter der Zahlungsbereitschaft steckt, die so großzügig jene Industrien finanziert. Führt nicht auch dieses Motiv zu einem eigentlich irrationalen Verlangen zurück? Zu einem Affekt, dessen treibende Kraft auf einem Mangel an selbstkritischer Reflexion beruht? Verführt uns da nicht der eitle Wunsch, eine angehimmelte Rolle in anderem Bewusstsein zu spielen? Natürlich ist es genau dieser Wunsch, der uns zu Opfern der Werbung prädestiniert. Wir kaufen unsere Anzüge doch nicht bei Armani oder Boss, weil die Stoffe länger hielten als bei Konen oder Hirmer. Noch fahren wir BMW oder Audi, weil wir damit besser von A nach B kämen als mit Seat oder Dacia. Wir tun es, weil wir uns damit gegen den Verdacht gewappnet wähnen, wir könnten uns das Teurere wohl nicht leisten. Mit »wir« meine ich natürlich nicht alle hier im Saal, aber die schweigende Mehrheit, die die Bedeutung der Marken versteht, und davon ausgeht, dass auch die andern sie verstehen. So funktioniert nun einmal der übliche Konsumismus – und man muss schon ziemlich überspannt, um nicht zu sagen neurotisch über-reflektiert sein, um diesen Zug unserer Alltagskultur gar nicht verstehen zu wollen.

Kognitives und affektives Selbstbewusstsein Das heißt, auch diese Frage geht an die Reflexion: in eigener Sache. Hat die philosophische Reflexion vielleicht einen blinden Fleck, welcher – ausgerechnet – das Selbstbewusstsein betrifft? Das Selbstverhältnis des philosophischen

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Selbstbewusstseins ist strikt kognitiv: Es kennt nur den einen Auftrag: Erkenne dich selbst!3 Das Selbstbewusstsein, das beim Einkauf von Kleidern und Fahrzeugen mitredet, hat sich aber einem ganz anderen Selbstverhältnis anverwandelt. Es fragt nicht, worin erkennst du dein Selbst, sondern, wie stehst du vor dir selber da? Was darfst du von dir selbst halten? Unser Selbstbewusstsein ist, anders gesagt, keine rein kognitive, sondern eben auch eine affektive Angelegenheit. Von diesem affektiven Selbstbewusstsein ist im philosophischen Seminar kaum die Rede. Das ist erstaunlich angesichts des Heißhungers der Reflexion nach Selbsterkenntnis. Das affektive Selbstbewusstsein lässt sich nämlich weder als eitle Selbstgefälligkeit abtun noch so einfach als Narzissmus pathologisieren. Es liegt in unserer Natur als soziale Tiere und ist tief in unserer animalischen Vorgeschichte präformiert. In dieser tierischen Vorvergangenheit sind auch die erotischen Anfangsgründe des affektiven Selbstbewusstseins präkonfiguriert. Diese Anfangsgründe haben erst in zweiter Linie mit libidinöser Selbstbezogenheit, dafür in erster Linie mit einer erschreckenden Abhängigkeit des Selbstwertgefühls davon zu tun, was die Artgenossen von einem halten. Dem Selbstwert liegt eine regelrechte Ökonomie zugrunde, nämlich ein Rechnungswesen, das empfangene Wertschätzung in denjenigen Wert umrechnet, den das Selbstgefühl für sich beanspruchen darf. Der Selbstwert ist, anders gesagt, eine Funktion der Rolle, die die eigene Person in anderem Bewusstsein spielt. Von der Rolle, die wir in anderem Bewusstsein spielen, erfahren wir durch die Acht, die auf uns gegeben wird. Wir müssen, um gut vor uns selbst dazustehen, uns von denen ge- und beachtet fühlen, auf die wir selber Acht geben.4 Es liegt nahe, dass ein Selbstbewusstsein, das gelernt hat, sich als autonom und selbstbestimmt zu setzen, diese seine affektive Abteilung gerne verdrängt. Mit dem unselbständigen Selbstwert wird eine schwer erträgliche Abhängigkeit eingeschleppt. Eine schmerzliche Unselbständigkeit, die es leicht mit jenen drei sprichwörtlichen narzisstischen Kränkungen unseres Selbstverständnisses aufnehmen kann, die mit dem Verlust der zentralen Stellung der Erde im Kosmos, mit der Entdeckung der tierischen Herkunft des Menschen und mit derjenigen des Unterbewussten verbunden werden, das dem Bewusstsein die Herrschaft im eigenen Haus streitig macht. Im Gegensatz zur Kosmologie, Evolutionslehre und Psychoanalyse wartet die Ökonomie des Selbstwerts 3

Das gilt selbst für sein Sollen. Es soll aus eigener Kraft erkennen, was moralisch geboten ist, nicht etwa Gebote der Religion, der Sitte oder des common sense übernehmen. 4 Die Anschauungsbeispiele aus der Tierwelt sind die Hierarchien in den Verbänden sozialer Tiere. Der Leitwolf ist dasjenige Tier, das niemanden beachten, aber von allen beachtet werden muss. Die getretenen Kreaturen am unteren Ende der Hierarchie sind diejenigen Mitglieder, die auf alle achten müssen, aber von niemandem beachtet werden.

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auf Einbeziehung ins philosophische Selbstbild. Deshalb ist nun auch der Verdacht nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen, dass die Schwächephase der Reflexion im mentalen Kapitalismus außer dem Überwältigungspotential der neuen Medien daran liegt, dass die öffentliche Reflexion auf einem, ja dem eigentlich zuständigen Auge blind ist. Der Geschäftssinn war da findiger und schneller als der theoretische. Er nahm Witterung von dem Potential auf, das die Sorge um den Selbstwert birgt. Ein Potential, das dem allgemeinen Wachstum der Zahlungskraft nachgewachsen war und nun darauf wartete, in Zahlungsbereitschaft für Mittel der Selbstdarstellung übersetzt zu werden. Die massentaugliche Strategie zur Einführung solcher Mittel ist die Sozialisierung ehemaligen Luxuskonsums. Einst war es ein Privileg der Oberschicht, sich nach der Mode statt nach Bedarf zu kleiden, mit der Kutsche zu fahren statt zu laufen, in der Villa im Park statt zur Miete im Grätzel zu wohnen. Nun aber geschah es, dass die Kleidung, die man kaufen kann, insgesamt Mode hieß, dass das Auto zur Kutsche für alle und das Eigenheim im Grünen zur Villa für alle wurde. Der Wandel, der nach dem 2. Weltkrieg so richtig in die Breite ging, hatte mit Bequemlichkeit, vor allem aber mit den Chancen zu tun, den Mitmenschen Eindruck zu machen. Man wusste jetzt, warum es nicht reicht, warm angezogen zu sein, zeitig von A nach B zu kommen, ein Dach über dem Kopf zu haben. Oder richtiger, man hat dies in der aufwändigsten Veranstaltung der Volksbildung aller Zeiten gelernt: in der omnipräsenten und omnipenetranten Indoktrination durch Werbung. Die Werbung sagt dir, wie du dich anziehen, was du fahren, wie du wohnen musst, um in der Achtung deiner Mitmenschen zu steigen. Ohne die Umwandlung der Volkskunst in eine populäre Kultur, die gespickt ist mit Werbung, hätte es viel länger gedauert, wenn es überhaupt geklappt hätte, dass aus dem Konsum als Mittel zur Befriedigung leiblicher Bedürfnisse ein Mittel zur Pflege des Selbstwerts wurde. Weil der Geschäftssinn aber erkannte, welches Potential der Mobilisierung von Zahlungsbereitschaft in dieser Umfunktionalisierung steckt, fand das Modell der durch Werbung finanzierten Medien seine Pioniere und seine sagenhaft erfolgreichen Investoren. Das Revolutionäre an diesem Wandel des Geschäftsmodells ist viel weniger die Umstellung der Medien von analoger auf digitale Technologie als die Umstellung der Leitwährung von Geld auf Aufmerksamkeit. Das Produkt der neuen, nämlich durch Werbung finanzierten Medien ist nicht die Versorgung der Konsumenten mit Information (Content), sondern die Dienstleistung der Attraktion, die in Zuschaltquoten, Auflagenstärken oder Besucherzahlen (beziehungsweise »likes«) gemessen wird.

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Die Kapitalisierung des Reichtums an Beachtung Die durch die Medien geschleuste Aufmerksamkeit wird auf dem Weg durch dieselben zwar gemessen und als Einnahme verbucht, fällt als persönliches Einkommen aber den Personen zu, die in den Medien präsentiert werden. Umgekehrt fallen diese Einkommen in der Größenordnung, die hier möglich und sogar die Regel ist, nur zu, weil die Medien deren Empfänger dem Publikum vermitteln. Die Medien machen Einkommen an Beachtung und damit auch Reichtümer in neuen Größenordnungen unter anderem deshalb möglich, weil sie über eine Infrastruktur verfügen, die die Bevölkerung flächendeckend und rund um die Uhr mit Information wie mit Strom oder Wasser versorgt, um den Obolus an Aufmerksamkeit herauszuholen, die in die Realisierung des Neuigkeits-, Überraschungs- oder Unterhaltungswerts geht. Durch diesen Abholdienst kommen Ströme an Aufmerksamkeit in ganz anderer Dimension zusammen, als es über die Straße oder aus dem Saal möglich war. Kein Wunder also, dass es noch nie so viele Prominente gab wie heute. Die Medien ernähren eine neue Klasse von an Beachtung Reichen, die sowohl, was die personale Stärke als auch die Größe der Reichtümer betrifft, ohne historisches Beispiel ist. Diese Klasse neuer Reicher ist auch, was die Rolle der Oberklasse betrifft, neu.5 Sie besetzt den Rang, der einmal als Elite angesprochen wurde. Zur Elite hatte gehörte, wer in einem anspruchsvollen Metier Herausragendes leistet. Was heißt nun aber anspruchsvoll? Wer ist kompetent, den Anspruch zu setzen? Wonach bemisst sich der Abstand zwischen normal und herausragend? Die Rede von der Elite stützt sich auf die problematische Annahme, dass es möglich wäre, so etwas wie eine gesellschaftliche Pyramide zu identifizieren, nämlich einen Schichtenbau mit breiter Basis und einsamer Spitze. Die Mediengesellschaft hat keine Spitze. Sie hat, wenn, dann deren viele. Sie kennt auch keine für alle verbindlichen Normen der Hochleistung. Was die vielen Spitzen und die partikularen Hinsichten der Hochleistung eint, ist nur noch der überragende Bekanntheitsgrad. Wenn es einen Generalnenner für die heute noch erkennbaren Eliten gibt, dann ist es die Prominenz. Daraus folgt nun aber gerade nicht, dass prominent nur wird, wer in herausragender Stellung Außerordentliches leistet. Prominent wird in der Mediengesellschaft, wen die Medien dazu machen. Die Medien verfügen über – beziehungsweise sind – das Kanalsystem, das nötig ist, um die Massen an Aufmerksamkeit einzusammeln, die eine breite Schicht von an Beachtung Reichen ernährt. Die Medien sind freilich keine 5

Vgl. hiermit und mit dem Folgenden Franck, Georg: Celebrities: Elite der Mediengesellschaft? In: Merkur 743 (April 2011), S. 300–310.

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Wohlfahrtsinstitute. Sie verfolgen Geschäftsinteressen und bringen heraus, was die Aufmerksamkeitseinkünfte des Mediums zu mehren verspricht. Von den Medien werden diejenigen mit Prominenz geadelt, aus deren Popularisierung das Medium selber Popularität bezieht. Damit ist den Medien eine Funktion zugewachsen, die deutlich über diejenige der Foren hinausgeht, in denen die öffentliche Meinung ausgehandelt wird. Aus dem öffentlichen Diskurs mit immerhin dem Anspruch rationaler Argumentation ist eine Kür der Lieblinge des Publikums geworden. Quote, Besucherklicks und »likes« messen nicht die Überzeugungskraft von Argumenten, sondern einzig die Bereitschaft des Publikums, Aufmerksamkeit für das Angebot auszugeben. Bevor sie sich als politische Wähler über das Angebot an Wahlmöglichkeiten informieren, haben die Leute schon auf andere Weise abgestimmt. Sie haben sich auf die Auswahl der Medienprominenz eingelassen, die im mentalen Kapitalismus die einst elitäre Spitze in der gesellschaftlichen Hierarchie besetzt. Der mentale Kapitalismus steht nun für diejenige Entwicklungsstufe der Aufmerksamkeitsökonomie, auf welcher der Reichtum an Beachtung nicht nur genossen oder angehimmelt, sondern geschäftsmäßig als Kapital aktiviert wird: als Reichtum, der Zinsen abwirft, weil er selbst noch als Attraktion gehandelt wird. Die Medien ernähren die neue Klasse von an Beachtung Reichen nicht nur, sie sind auch dazu übergegangen, Celebrities eigens aufzubauen, um sie als Zugpferde der Attraktion einzuspannen. Sie haben nämlich herausgefunden, dass es für die Quote nichts Besseres gibt als jede Menge Prominenz. Man braucht, um die Attraktion als Massengeschäft zu betreiben, Prominente in Massen. Nichts scheinen die Leute lieber zu sehen als die bekannten Gesichter, die im Glanz ihrer Publicity strahlen. Die Medien, allen voran das Fernsehen, sind unermüdlich im Rekrutieren und Aufbauen von Talenten, die sich für den Dienst der Attraktion eignen. Auch das trägt zur bemerkenswert breit gewordenen Schicht von an Beachtung Reichen bei. Diese Schicht ist nicht auf die Stars der ausgesprochen populären Fächer beschränkt, sondern zieht sich durch den gesamten Kulturbetrieb hindurch. Auch als bildender Künstler, auch als Dirigent, ja sogar als Dichter und Philosoph muss man es zu einer Art Popstar – und jedenfalls zum Celebrity – bringen, wenn man es ganz an die Spitze schaffen will. Man darf nicht nur Ausstellungen beschicken, Konzerte geben und Bücher schreiben, man muss vor allem im Fernsehen präsent sein. Man muss für die Medien so interessant werden, dass sie Präsentationsfläche und -zeit in einen investieren.

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Die Selbstreflexion, auf die der mentale Kapitalismus wartet Heißt das nicht, dass mit der Ankunft des mentalen Kapitalismus die Würfel gefallen sind? Dass es erstens hoffnungslos geworden ist, noch auf öffentliche Reflexion in den maßgeblichen Medien zu hoffen? Und dass es endgültig die Verwertungsinteressen sind, die im Mediengeschäft die Oberhand gewonnen haben? Um mit der letzteren Frage zu beginnen: Natürlich betreiben die Medien ihr eigenes Geschäft, wenn sie den Medienkonsum in die Schöpfung des Reichtums einer neuen Oberschicht umfunktionieren. Sie finanzieren den Aufbau der sagenhaften Reichtümer durch den Vorschuss an Präsentationsfläche und -zeit, um wie Banken am Aufbau und an der Verwertung des Reichtums mitzuverdienen. Sie geraten durch dieses Geschäft auch noch in die phantastische Position der Königsmacher. Von ihren Gnaden lebt die neue Oberschicht. Sind wir damit nicht stramm auf dem Weg in eine Refeudalisierung und in die Postdemokratie? Gegenfrage: Liegt der Unterschied zwischen der neuen Oberschicht und den alten Eliten, nicht zunächst einmal darin, dass sie statt Herkunft, usurpierter Macht oder ererbtem Reichtum durch den Zuspruch des Fernsehvolks erkoren sind? Sind sie nicht da oben, weil es den Leuten gefällt? Sind sie nicht etwa durch Akklamation gewählt? Natürlich mischen die Verwertungsinteressen bei der Auswahl und der Promotion der Kandidaten mit. Und natürlich ist das Wahlvolk dreisten Strategien der Manipulation und Suggestion seitens der Anbieter ausgesetzt. Es wäre nun aber Unfug, die Medienindustrie als solche mit den Machenschaften eines Silvio Berlusconi oder Rupert Murdoch gleichzusetzen. Vielmehr gilt es noch einmal, an den heiklen Unterschied zwischen der vorurteilsfreien Reflexion und der Rationalisierung vorgegebener Einstellungen zu erinnern. Ist es so sonnenklar, dass die Verwertungsinteressen die Oberhand über die Wünsche der zahlungsbereiten Nachfrage haben? Muss es denn an Verführung und Verblendung liegen, wenn das breite Publikum sich ausgerechnet an dieser »celebrity culture« ergötzen will? Oder liegt es nicht auch an einer Voreingenommenheit, wenn die intellektuellen Bedenkenträger meinen, sich dem »Kick« dieses Millionenspiels verweigern zu sollen? Die Faszination, die vom »display« des Reichtums an Beachtung ausgeht, hat mit dem Wunschtraum, es selbst zu Bekanntheit zu bringen, aber auch mit dem Denken an all die anderen zu tun, deren Aufmerksamkeit hinter dem Reichtum steckt. Das affektive Selbstbewusstsein macht aus dem Wissen um die überwältigende Beachtung, die eine Person einnimmt, eine Aura, die deren Erscheinung einen übersinnlichen Glanz verleiht. Man kann die Aufmerksamkeit, in welcher der Star förmlich badet, zwar nicht sehen, man kann sie sich aber in empathischer Einfühlung zu Gemüte führen. Im Hintergrund wabert die Vorstellung, wie es wäre, von dieser strahlenden Erscheinung persönlich

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beachtet zu werden. Von einem Star beachtet oder gar erwähnt zu werden, wäre doch etwas ganz anderes, als irgendjemandem aufzufallen. Das Selbstwertgefühl würde auf Wolken schweben. Ein Segen für den Selbstwert wäre es schon, sich in der Gesellschaft einer solchen Person zeigen zu dürfen. Wir alle, auch diejenigen, die keinem Starkult frönen, wissen um die Bewandtnis, die es mit dem Reichtum des Senders um den Wert seiner Aufmerksamkeit hat. Wir alle neigen dazu, uns mehr geschmeichelt zu fühlen, wenn uns jemand Bekanntes und nicht nur irgendjemand Beachtung schenkt. Natürlich trägt diese Präferenz für Beachtung, die von ihrerseits viel beachteter Seite kommt, bedenkliche Züge. Sie macht den Anfang mit einer Diskriminierung, deren Endstufe Snobismus heißt. Sie ist aber ein ganz alltägliches Phänomen und deshalb gang und gäbe, weil sie eine fast zwangsläufige Folge der Umrechnung empfangener Achtung in Selbstwert ist. Man braucht diese allzu menschliche Neigung nicht gutzuheißen, um sie dennoch als eingefleischte Vorliebe und kein bloß leeres Wähnen zu akzeptieren. Und überhaupt, warum soll es das Privileg hochnäsiger Schnösel bleiben, sich etwas Snobismus leisten zu können? Warum soll nicht auch dieses Privileg sich zur Sozialisierung eignen? Derart etwa, dass man den Medienkonsum, der einem nicht von Zelebritäten serviert wird, für zweite Wahl hält? Vor allem sollten die philosophisch reflektierten Bedenkenträger dieses Konsums erst einmal in sich gehen. Es ist nämlich empirisch sehr gut belegt, dass sie selbst zwischen der Beachtung, die von prominenter und derjenigen von unbekannter Seite diskriminieren. Die Beobachtung bezieht sich auf den wissenschaftlichen Prozess der Zitation, denn die Zitate messen die kollegiale Beachtung, die eine Autorin beziehungsweise ein Stück wissenschaftlicher Information verdient. Forscher und Denker arbeiten für den Lohn der kollegialen Beachtung.6 Sie investieren ihre eigene Aufmerksamkeit, um an die Aufmerksamkeit anderer Denkerinnen und Forscherinnen auf ihrem Feld zu kommen. Das Maß der bezogenen Aufmerksamkeit ist das Zitat. Nur der Reichtum an Zitaten führt in die oberen Ränge der Zunft. Wie sehr sich die Zunft nun aber von der Aura, die diesen Reichtum umwebt, bestechen lässt, belegt eine Anomalie in der Verteilung von Zitaten, die so lange schon auffällt, wie diese Verteilung empirisch erhoben und statistisch vermessen wird. Seit dem Anfang des Science Citation Index (SCI) fällt auf, dass die Verteilung der Zitate extrem schief ist: Auf ganz wenige Forscher entfallen sehr viele Zitate und die ganz vielen werden nur ganz selten zitiert. Die Verteilung der Zitate ist derart schief, dass von Anfang an Zweifel aufkamen, ob sie mit Unterschieden 6

Vgl. hiermit und mit dem Folgenden Franck, Georg: Scientific communication – a vanity fair? In: Science 286, 5437 (1999), S. 53–55; und Franck, Georg: The scientific economy of attention: A novel approach to the collective rationality of science. In: Scientometrics 55, 1 (2002), S. 3–26.

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in der Produktivität zu erklären ist. Am Fleiß kann der Unterschied nämlich nicht liegen, denn der publizierte Output ist normal verteilt. Auch dass die Arbeit der vielen so unbedeutend wäre, kann nicht ganz stimmen. Die geduldige Arbeit am Detail ist, aufs Ganze betrachtet, nicht weniger wichtig als der große Wurf. Die schiefe Verteilung der Zitate spricht so deutlich für eine Selbstverstärkung des Reichtums, dass er einschlägig benannt wurde. Robert Merton hat ihn den Matthäus-Effekt genannt.7 Im Matthäus-Evangelium (25, 29) steht geschrieben: »Wer hat, dem wird gegeben […], wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen.« Der Matthäus-Effekt besagt, dass man als Forscher nicht nur deshalb zitiert wird, weil man brauchbare Vorprodukte für anschließende Stufen der wissenschaftlichen Produktion liefert, sondern auch dafür, weil man es zur Prominenz gebracht hat. Der Reichtum an Beachtung verzinst sich nicht nur im durchkommerzialisierten Medienbetrieb, sondern im Wissenschaftsbetrieb, der sich so viel auf seine Rationalität zugutehält, ebenfalls. Allerdings spielt diese doch eigentlich sehr bemerkenswerte Beobachtung in der Selbstreflexion der Wissenschaft, also in der Wissenschaftstheorie, eine allenfalls marginale Rolle. Und das aus dem einfachen Grund, dass die Aufmerksamkeit als Mittel der Gratifikation nonchalant übergangen wird. So hindert sich die Selbstreflexion selbst daran, bis zum affektiven Selbstbewusstsein vorzudringen. Stattdessen wird das Vorurteil rationalisiert, dass nicht-epistemische Motive – wie eben das Streben nach Beachtung – allenfalls als Bedrohung der Rationalität des Forschungsbetriebs in Frage kommen. Der Gedanke, dass Wissenschaftler ihre eigene Aufmerksamkeit investieren, um an die Aufmerksamkeit anderer Wissenschaftler zu kommen, ist in der Wissenschaftstheorie bisher fremd. Ironischerweise könnte deshalb die Selbstreflexion der Wissenschaft einen der wichtigsten Faktoren von deren phänomenalem Erfolg übersehen. Es gehört einige Voreingenommenheit dazu, das Potential des Anreizes außer Acht zu lassen, welcher in der Investition der eigenen Aufmerksamkeit zu dem Zweck steckt, die Aufmerksamkeit derer einzunehmen, die dieselben Interessen und denselben Hintergrund an Bildung teilen. Es war schon immer das Privileg der geistig und künstlerisch arbeitenden Berufe, dass sie für den Lohn der Beachtung – um nicht zu sagen des Ruhms – arbeiten dürfen. So gab es auch immer wieder Bestrebungen, die zünftigen Schranken des Zugangs zu dieser Art von Berufen zu öffnen. Über die Förderung von Volkskunst, Laientheater und Kunstgewerbe kamen diese Bemühungen allerdings nicht hinaus – bis sich die technischen Möglichkeiten der Interaktivität im Internet auftaten. Mit Youtube und den »social media« ist es effektiv gelungen, das Privileg der 7

Siehe Merton, Robert: The Matthew Effect in Science. In: Science 159, 3810 (1968), S. 56–62.

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Arbeit für den Lohn des Ruhms zu sozialisieren. Und es war wieder keine Philanthropie, sondern kühler Geschäftssinn, der die Chance erkannte – und im großen Maßstab umsetzte. Angesichts des schlagenden Erfolgs fragt man sich, warum es nicht schon viel früher zur Erfindung von Portalen wie Facebook, Twitter und Instagram kam, war das Internet doch von Anfang an interaktiv. Tatsächlich kam es nun aber auf die ganz spezifische Organisation der Interaktivität an, die das Geschäft mit der Aufmerksamkeit von der Ebene des massenmedialen »big business« hinab auf diejenige des Kleinhandels und Bauchladens skaliert. Dafür müssen Märkte mit einem Bezahlsystem eingerichtet werden, das die Aufmerksamkeit, die ein Angebot einspielt, in vergleichbaren Einheiten verbucht und kontiert, sowie eine Art Börse, die die Einnahmen eines jeden Angebots notiert und damit einem Ranking zuführt. Es musste das Buchungssystem der »friends«, »followers« und »likes« eingeführt werden, und es musste jemand auf die Idee einer neuen Art der Finanzierung durch Werbung kommen. Weil Großwerbung im Kleinhandel stört, gibt es hier etwas besseres als den Verkauf der Präsentationsfläche und -zeit, nämlich den Verkauf der Nutzerdaten an die Werbewirtschaft. Entscheidender als die Findigkeit in diesen Details war nun aber das rechte Gespür für das noch ungehobene Potential, das in der Aktivierung der Aufmerksamkeit als Mittel der Gratifikation steckt. Das Erfolgsrezept der sozialen Medien liegt in der Umsetzung der schlichten (Selbst-) Erkenntnis, dass das Selbstwertgefühl, das wir uns leisten können, von unserem Einkommen an wertschätzender Aufmerksamkeit abhängt. Was gibt es da Verlockenderes, als gesagt zu bekommen: Hey, du brauchst nur ein Smartphone, um es in Youtube zum Star zu bringen, oder einen Fotografen, der dich als Partygirl von der richtigen Seite erwischt, damit du in Facebook als it-girl herauskommst? Wenn die Reflexion sich da auf verlorenem Posten vorkommt, dann muss das nicht daran liegen, dass die Leute die Interessen, die sie als vernunftbegabte Subjekte doch eigentlichen haben sollten, verkennen, sondern kann das auch daran liegen, dass Kritiker des Zeitgeists eher dazu neigen, dieses eingespielte Vorurteil zu rationalisieren, als es aus der Perspektive des affektiven Selbstbewusstseins zu hinterfragen. Bis heute ist kein Versuch bekannt geworden, den Strukturwandel der Öffentlichkeit im Zeichen der neuen Medien auf Präferenzstrukturen zurückzuführen, die ihn als rational begründet nachvollziehen ließen. In der theoretischen Ökonomie scheitert dieser Versuch daran, dass es ihr nicht gelingt, sich von der Vorstellung des Gelds als monopolisierten Zahlungsmittels zu lösen. In der Sozialpsychologie scheitert er daran, dass sie sich scheut, sich auf einen Begriff des Bewusstseins einzulassen, der den Reiz erst verständlich macht, eine Rolle im anderen Bewusstsein zu spielen. Das Problem mit diesem Begriff ist, dass dieses Bewusst-Sein es an sich hat, nicht von außen »observable«, sondern nur selber »be-able« zu sein. Dieses phäno-

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menale Bewusstsein ist nun aber, was uns von biologischen Automaten beziehungsweise Robotern mit künstlicher Intelligenz, wie hoch diese immer entwickelt sein mag, unterscheidet. Nichts spricht deutlicher für die eigene Schwäche der Reflexion als die auch im philosophischen Diskurs verbreitete Mühe, die ontologische Differenz zwischen der Präsenz des Bewusstseins und der Realität der Informationsverarbeitung zu fassen, auf die die Neurowissenschaften die Aktivität von Gehirnen reduzieren. Wem diese Differenz nicht klar ist, dem kann die ganze Ökonomie der Aufmerksamkeit nur als ein kollektiver Wahn vorkommen, der darauf wartet, von der als Alternative schlüssigen Utopie des Posthumanismus erlöst zu werden. Die im Diskurs um die neuen Medien verbreitete Faszination des Posthumanismus verbindet sich fatal mit dem aufs kognitive Selbstverhältnis reduzierten Begriff des Selbstbewusstseins. Zu einem kognitiven Selbstverhältnis ist im Prinzip auch ein System der künstlichen Intelligenz fähig. Wer aber den fundamentalen Unterschied zwischen einer Maschine, die Information verarbeitet, und einem Nervensystem, das über diese Verarbeitung hinaus auch noch bewusstes Da-sein, nämlich mentale Präsenz herstellt, nicht verstehen will, wird auch im Strukturwandel der Öffentlichkeit, wie er sich im Zeichen der neuen Medien vollzog, nur einen welthistorischen Irrläufer und das definitive Aus der Reflexion in der medialen Öffentlichkeit erkennen. Wer sich jedoch seines bewussten Da-seins und desjenigen seiner Mitmenschen sicher ist, wird mit Erschrecken feststellen, dass im mentalen Kapitalismus jede Menge Arbeit auf die Reflexion wartet. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der mentale Kapitalismus in einem milderen Licht erscheint, wenn man ihn vor dem Hintergrund der Ökonomie der Selbstwertschätzung reflektiert. Gewiss ist nur, dass das Bild sich insgesamt und im Detail dramatisch ändern und dass die Reflexion selber zu viel an analytischem Biss zulegen wird, um als Illusion in der Harmlosigkeit zu verschwinden.

Konrad Paul Liessmann

Ist Selbstveränderung von Individuen und Gesellschaften durch Bildung möglich?

Ist Selbstveränderung von Individuen und Gesellschaften durch Bildung möglich? Der Titel dieses Beitrags stammt nicht von mir, sondern wurde vom Herausgeber vorgeschlagen. Ich haben diesen Vorschlag umso lieber angenommen, als Titel, die als Frage formuliert sind, eine zügige Bearbeitung nahe legen, da der Leser eine klare und knappe Antwort erwarten darf. Die Verlockung ist also groß, die Frage mit einem schlichten »Nein« zu beantworten, und das wäre es dann auch schon gewesen. Dieses »Nein« allerdings, ich gebe es zu, klingt hart, zumal diese Frage doch gerne mit »ja« beantwortet wird, gilt Bildung doch für viele als jenes Instrumentarium, mit dem die sozialen, politischen und ökologischen Probleme unserer Zeit gelöst werden können. Wer einen Menschen verändern möchte, empfiehlt, ihn zu bilden, wer eine Gesellschaft verändern möchte, empfiehlt, damit in der Schule zu beginnen. Warum also unser kategorisches »Nein«, das allerdings so kategorisch vielleicht dann doch nicht sein wird? Trennen wir einmal die Fragestellung nach der Bedeutung der Bildung für Selbstveränderung einerseits in Hinblick auf Individuen, andererseits in Hinblick auf Gesellschaften. Im ersten Fall hängt die Beantwortung der Frage davon ab, inwiefern man die Veränderung eines Menschen mit dem Prozess der Bildung identifiziert. Man kann mit guten Gründen von der anthropologischen Prämisse ausgehen, dass der Mensch nicht nur als unfertiges Wesen auf die Welt kommt, sondern auch als dasjenige Wesen, das sich eben nicht nur unter möglichst günstigen Bedingungen entfalten können soll, sondern das sich immer erst »bilden« muss. Auch wenn sich die Rede von der Entfaltung in einer romantischen Pädagogik, die in jedem Neugeborenen ein Bündel von Talenten sehen will, das zum Blühen gebracht werden soll, großer Beliebtheit erfreut, sabotiert sie damit jede Idee von Bildung. Diese impliziert, dass es kein vorgegebenes Muster oder Programm gibt, das ein Mensch im Laufe seines Lebens erfüllen können soll, sondern dass der Mensch immer auch Resultat seines eigenen Tuns ist. Reduzierte man Bildung allerdings auf diese Notwendigkeit und ließe alles, was Menschen im Laufe ihres Daseins tun und lassen, hieße das zwar, dass sich niemand in dieser Weise nicht selbst bilden könnte, Bildung fiele aber zusammen mit »Leben«. Mit solch einer Prämisse verlöre der Begriff der Bildung wieder seine Trennschärfe. Aber auch diese Tendenz

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ist in der modernen Pädagogik spürbar. Wer nicht lesen gelernt hat, gilt dann nicht als ungebildet, da er ja in seinem Leben sicher etwas anderes getan hat: Er beherrscht zum Beispiel die Grundfunktionen eines mittels Icons steuerbaren Smartphones. Alles kann so Ausdruck von Bildung sein, damit wird dieser Begriff bedeutungslos. Die Rede von Bildung und Selbstbildung ist nur dann attraktiv, wenn sie normativ aufgeladen wird und dadurch Bildung von anderen Einflüssen, die das Leben eines Menschen auch bestimmen können und die von den genetischen Disposition über die Zufälle der Geburt bis zu den Erfahrungen des Lebens reichen, getrennt werden kann. Unter der Voraussetzung, dass nicht jede Form, in der sich Menschen entwickeln, »Bildung« genannt werden soll, setzt die Rede von Bildung eine entscheidende Differenz: Die zwischen »gebildet« und »nicht gebildet«. Nebenbei: Die Verwendung der Begriffe »bildungsnah« und »bildungsfern« halten wir für höchst problematisch, da diese räumliche Metaphorik suggeriert, dass Bildung irgendwo platziert ist und man sich in mehr oder weniger großer Distanz dazu aufhalten kann; diese Rede unterschlägt sowohl die Identität von Bildung beziehungsweise Unbildung und Subjekt als auch die Anstrengung, die darin besteht, dass Bildung als Arbeit an sich selbst begriffen werden muss. Zumindest der Begriff »bildungsnah« wird ja nicht synonym für den »Gebildeten« verwendet, sondern markiert eher die Möglichkeit, standardisierte Bildungskarrieren mit den entsprechenden Zertifikaten aufgrund des Milieus, in das man hineingeboren wurde, ohne größere Probleme durchlaufen zu können. Worin nun der normative Anspruch von Bildung gegenüber anderen das Selbst verändernden Strategien und Ereignissen – man denke dabei etwa an Begriffe wie Erfahrung, schicksalhafte Begegnung, Notsituation, Krankheit, aber auch Trainings sowie praxisorientierte oder milieugesteuerte Lernprozesse aller Art – besteht, darüber lässt sich trefflich streiten, und die Bildungsdebatten spätestens seit dem 18. Jahrhundert sind gekennzeichnet von den Versuchen, solch einen normativen Gehalt zu explizieren. Im Zusammenhang mit unserer Thematik interessiert allerdings weniger eine Rekonstruktion dieser Debatten als vielmehr die Frage, was unter der Annahme solch eines normativen Gehalts der Begriff der »Selbstveränderung« bedeuten kann. Ich unterstelle diesem Begriff einmal drei Bedeutungen: Zum ersten: Ich bin es, der sich in seinem Identitätsgefühl verändert, und dies aus freien Stücken; man könnte hier von Selbstbildungsautonomie sprechen. Zweitens: Es ist mein Selbst, das durch Bildung verändert wird; dies setzt ein substanzielles »Selbst« voraus, das durch eine aktivierende und kontrollierende Ich-Instanz verändert werden kann: Bildung als Selbstsuche und Selbstverwirklichung. Und drittens: Ich muss nicht nur mich oder mein Selbst, ich muss mein Leben ändern. Wir nennen dies das Rilke-Sloterdijksche Anforderungsprofil, das die Möglichkeit, ja Notwendigkeit eines radikalen Schnitts in einer Lebensführung supponiert: Bil-

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dung als Zäsur.1 Zu diesen drei Varianten nun einige unsystematische Anmerkungen. Selbstveränderung durch Bildung im Sinne eines autonomen Projekts des Subjekts geht davon aus, dass es so etwas wie die Einsicht in das Ungenügen einer Ich-Identität gäbe und dann gezielt Bildung anvisiert wird, um dieses Ungenügen zu beheben. Allerdings hält sich bei konventionellen Bildungsprozessen dieser Anspruch eher in Grenzen. Wohl erinnert dies an das Konzept einer Persönlichkeitsbildung, die vom idealtypischen Bild einer reifen Persönlichkeit ausgeht und die Bildungsanstrengungen an diesem Bild orientiert, tatsächlich aber werden Bildungsanstrengungen selten unternommen, um das eigene Ich zu modifizieren. Zwar ist es unbestritten, dass Menschen – sei es aus Neugier, Interesse oder Gründen der beruflichen Qualifikation – Dinge lernen und sich Wissen aneignen wollen, was auch auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit einen Einfluss haben kann, die damit einhergehende Veränderung eines Ichs ist allerdings intentional unterbestimmt: Niemand lernt eine Sprache, liest einen Roman, studiert das Weltall, betreibt Mathematik, erwirbt Programmierkenntnisse, um sich primär in seiner Identität zu verändern. Das bedeutet nicht, dass man durch solche Bildungsprozesse nicht verändert wird – aber die Richtung und die Intensität sind dabei der Kontrolle des Subjekts eher entzogen. Aber auch die aktuellen Diskurse der Identitätskonstruktionen sind so gelagert, dass man diese Formen einer veränderbaren Ich-Identität weniger als Bildungsprozesse, sondern als Durchsetzung von emotional bestimmten Ich-Konzepten in einer diesem gegenüber skeptischen sozialen Umwelt beschreiben müsste. Ähnlich liegt der Fall bei dem neuerdings viel diskutierten Modell der »Selbstoptimierung«. Dabei geht es in der Regel darum, bestimmte Dimensionen eines Menschen nach effizienztheoretisch bestimmten Parametern zu verbessern, etwa das Aussehen, die körperliche Leistungsfähigkeit, die psychische Belastbarkeit, die Ernährungsgewohnheiten, bei Wissenschaftlern die Publikationsstrategie – alles Maßnahmen, die das »Ich« nicht unberührt lassen werden, auch wenn dieses nicht im Fokus des Veränderungsprozesses steht. Allerdings kann es hier durchaus zu interessanten Überschneidungen kommen, etwa wenn jemand sein inneres Gleichgewicht durch psychotechnische Optimierungsmaßnahmen finden will, zu denen etwa auch die Lektüre von Büchern wie Rilke für Gestresste2 oder Nietzsche für Manager3 gehört, also der Anschluss an kanonische Bildungsgüter hergestellt wird.

1

Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt am Main 2009. 2 Hauschild, Vera (Hg.): Rilke für Gestresste. Frankfurt am Main 1998. 3 Drosdek, Andreas: Nietzsche für Manager. Mit Mut zum Erfolg. Frankfurt am Main 2008.

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Es kann aber sein – und dies betrifft unsere zweite Variante – dass jemand nicht mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten, seinem Ich-Gefühl oder seinem Affekthaushalt, sondern mit seinem »Selbst« insgesamt unzufrieden ist und es gezielt durch Bildung verändern möchte. Solch ein Mensch möchte ein Selbst vielleicht erst finden, herausfinden, wer er eigentlich ist, unter Umständen überhaupt ein anderer werden. Die Gefahr ist groß, dass dieser Mensch in das von uns so genannte Kierkegaard-Paradoxon gerät, wie es der dänische Philosoph in Die Krankheit zum Tode entwickelt hat, und das Identitätskrisen prinzipiell die Form der Verzweiflung und der Verzweiflung prinzipiell die Form der Identitätskrise gibt: Auch wenn man glaubt, man verzweifelt über etwas, verzweifelt man, so Kierkegaard, eigentlich immer an sich selbst: Man kann, so Kierkegaard beziehungsweise dessen Pseudonym Anti-Climacus, in dreifacher Weise diese Suche nach einem Selbst erfahren: Man kann »verzweifelt sich nicht bewusst sein ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein zu wollen.«4 Kierkegaard demonstriert dies plastisch an jenem Herrschsüchtigen, dessen Losung es ist: Entweder Caesar oder gar nichts. Wird dieser Herrschsüchtige nun nicht Caesar, dann verzweifelt er darüber – aber dies bedeutet, »dass er, eben weil er nicht Caesar geworden ist, es nun nicht aushalten kann, er selbst zu sein.« Wäre er aber Caesar geworden, wäre er auch nicht er selbst geworden – denn er war nicht Caesar –, sondern nur ein anderer. Er wäre »verzweifelt sich selbst losgeworden«.5 Der Verzweifelnde, so Kierkegaard, verzehrt sich tatsächlich selbst. Und dies auch deshalb, weil das Selbst keine Entität ist, die man irgendwo finden könnte, sondern eine dynamische Beziehung: ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Bildung kann unter diesen Gesichtspunkten nicht bedeuten, dass diese oder eine andere Form der Selbstveränderung gelingen könnte, ohne die Form der Verzweiflung anzunehmen, sondern Bildung hieße dann bestenfalls die Einsicht, dass Selbstveränderung ohne Verzweiflung nicht möglich ist. In diesem Sinne wäre Bildung weniger Selbstveränderung als Selbsterkenntnis. Geht es allerdings darum, nicht nur sein Selbst, sondern sein Leben überhaupt zu ändern, setzt dies einerseits Kriterien voraus, an denen man das Ungenügen desselben misst oder erfährt, andererseits kann es aber nur eine bestimmte Form der Lebensveränderung sein, die durch Bildung – und nicht etwa durch einen Orts-, Partner- oder Berufswechsel – ermöglicht werden soll. Dass es Zeit wäre, sich zu verändern – diese Redewendung markiert ja weniger die Sehnsucht danach, sein Leben radikal durch Bildung umzustellen, als 4

Kierkegaard, Sören: Krankheit zum Tode. Aus dem Dänischen übersetzt von Emanuel Hirsch. Gütersloh 1982, S. 8. 5 Ebd., S. 15.

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vielmehr den Wunsch, einmal etwas anderes auszuprobieren. Das Rilke-Sloterdijksche Konzept der radikalen Lebensänderung hingegen geht von einer markanten ästhetischen Bildungserfahrung aus. In Rainer Maria Rilkes berühmten Gedicht Archaïscher Torso Apollos führt der Anblick einer kopflosen antiken Statue zu einem dramatischen Änderungsimperativ: »Du musst dein Leben ändern.« Dieser Imperativ wird allerdings durch die paradigmatische Verkehrung eines konventionellen Kunsterlebnisses initiiert: »… denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht«.6 Der Betrachter fühlt sich plötzlich vom Kunstwerk betrachtet und des Ungenügens seiner Existenz schlagartig überführt. Solche Bildungserfahrungen sind selbst aber wiederum nicht planbar oder in eine Didaktik zu überführen: Die Lektüre dieses Gedichts in der Sekundarstufe eines Gymnasiums wird weniger zu eminenten Ansprüchen an Selbstveränderung als vielmehr zu Klagen über die ökonomische Nutzlosigkeit und Lebensferne von Gedichten führen. Aber immerhin: Es ist dieses Konzept, dass noch am ehesten einen Widerspruch zwischen individueller Bildung und gesellschaftlicher oder politischer Macht aufbrechen lassen kann. Denn es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass ein Mensch durch die Lektüre eines Gedichts oder durch den Besuch eines Museums beschließt, mit den Normen und Vorgaben zum Beispiel einer effizienzorientierten Wettbewerbsgesellschaft zu brechen. Dass es – in unserem Fall – ein Gedicht ist und zwar von Rilke, ist selbst aber alles andere als zufällig. Darin drückt sich jener Bildungsanspruch aus, der keine beliebigen Gegenstände, an denen sich vielleicht Kompetenzen erwerben und erproben ließen, kennt, sondern ein ästhetisches Ereignis ersten Ranges postuliert, das allein diesen Veränderungsimperativ aussprechen darf. Das wäre nun auch der Punkt, an dem sich das Verhältnis von Macht und Reflexion im Kontext von Bildung artikulieren könnte. Die Bildungserfahrung wäre dann als Anstoß einer Reflexionsbewegung zu deuten, die nicht nur das Individuum und sein Verhältnis zur es umgebenden Welt, sondern auch diese selbst erfasst. Im durch solch eine ekstatische Erfahrung inaugurierten Bildungsprozess spiegelte sich der Einzelne in einem Gegenstand und der damit verbundenen ästhetischen Erfahrungen nicht nur derart, dass er sich und sein bisheriges Leben zur Disposition gestellt sieht, sondern damit könnte auch das fraglose Einverständnis mit der Welt aufgekündigt werden. Diese Form einer krisenhaften Bildungserfahrung, die als reflexive Kritik an bestehenden Lebenskonfigurationen in Erscheinung tritt, gehorcht letztlich der Nietzscheanischen Einsicht, dass Bildung etwas Kompliziertes und nur für wenige Erreichbares sei, und letztlich einsam mache: Nur ich ändere mein Leben, auch wenn Rilke zu all seinen Lesern spricht. Solche Erfahrungen las6

Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, Bd. 1 Hg. v. Rilke-Archiv. Frankfurt am Main 1987, S. 557.

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sen sich weder verallgemeinern noch in ein Kompetenzraster zwängen, schon gar nicht standardisieren oder curricular regeln. Sie bleiben jenen schicksalhaften Zufälligkeiten überantwortet, die sich jeder Form von Bildungsplanung, Überprüfung und Evaluation entziehen. Sein Leben zu ändern ist kein Output, den Bildungsprogramme, wie wohlmeinend gedacht auch immer, versprechen könnten. Dass solches trotzdem immer wieder versucht wird, gehört zu den unfreiwillig komischen Seiten institutionalisierter Bildungsanstrengungen. Ob aber ganze Gesellschaften sich selbst durch Bildung verändern können? – Was für eine Frage! Es gehört zu den Topoi der Selbstbeschreibung der Moderne, dass diese Gesellschaft ohnehin nur im Modus der Veränderung existieren kann. Die Dynamik dieser Veränderung resultiert aber schon lange nicht mehr aus sozialen Spannungen und daraus abgeleiteten sozialen Revolutionen, die auch durch Bildung als Aufklärung initiiert oder motiviert sein können, sondern aus technologischen Herausforderungen und dann damit versprochenen technischen Revolutionen. Der Bildung wird in diesem Prozess permanenter technikinduzierter Selbstveränderung eine durchaus ambivalente Rolle zugeschrieben. Einerseits, vor allem in Deutschland, gelten Bildung und Bildungssysteme als hemmende Elemente in diesem Prozess. Weder Bildungspolitiker, noch Schulen, schon gar nicht Lehrer hätten die Zeichen der Zeit erkannt, sie ignorierten den technischen Fortschritt, die Digitalisierung der Klassenzimmer stecke noch in den Kinderschuhen, auch Universitäten hätten den rasant wachsenden Weltmarkt für MOOCs verschlafen, verstaubte Ideale des Bildungssystem wie die Einheit von Forschung und Lehre müssten deshalb rasch beseitigt werden zugunsten technologieaffiner Spitzenforschung auf der einen und digital aufgerüsteter effizienter Lehre auf der anderen Seite. Solches war etwa in der Wochenschrift DIE ZEIT zu lesen,7 und die Hoffnung, die Probleme von Schulen und Universitäten durch die Transformation von Bildung in die Didaktik digitaler Endgeräte zu lösen, beflügelt zumindest die Märkte. Dieselbe Wochenschrift, die lautstark diese Diagnose verkündete und den damit verbundenen Wandel propagierte, hatte allerdings nahezu zeitgleich auch enthusiastisch die Frage »Wo seid ihr Professoren?« gestellt und damit eine veritable Debatte über den öffentlichen Intellektuellen angezettelt, also über das institutionelle Zentrum des Verhältnisses von Macht und Reflexion, von Bildung und Gesellschaft.8 Dahinter steht natürlich der fromme Wunsch, dass eine öffentliche Einmischung der Gebildeten, hier noch gedacht als Menschen aus Fleisch und Blut, ausgestattet mit Wissen und fundierten Argumenten, mit Mut und Engagement, gesellschaftsverändernde Impulse freisetzen könnte. 7

Dräger, Jörg/Müller-Eiselt, Ralph: Humboldt gegen Orwell. Revolution in Schulen und Hochschulen. Die Digitalisierung verändert die Bildung so stark wie zuvor nur der Buchdruck und die Schulpflicht. In: Die Zeit, Chancen 39 (2015). 8 Vgl. dazu: http://www.zeit.de/serie/wo-seid-ihr-professoren (Stand 18.2.2016).

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Die Frage, ob Bildung etwas zur Selbstveränderung von Gesellschaften beitragen kann, wird in der Regel jedoch nicht an wissenschaftliche und intellektuelle Eliten gestellt, sondern an jene Mitglieder der Gesellschaft, deren wirkliche oder vermeintliche Nichtbildung die von diesen Eliten angestrebte und propagierte Gesellschaftsveränderungen sabotieren. So ist etwa der Gedanke, dass demokratische Gesellschaften nur mit gebildeten Bürgern funktionieren können, weit verbreitet. Gegen Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus und totalitäre Versuchungen aller Art soll Bildung wie eine Schutzimpfung wirken, die nicht früh genug verabreicht werden kann. Auch wenn dies der historischen Erfahrung widerspricht, gehört der Glaube an Bildung als eine gesellschaftspolitische Hygienemaßnahme zum Arsenal der spätaufklärerischen Bildungslegitimationen. In elaborierter Form hat dies etwa Martha Nussbaum vorgeführt und vor allem in musischer Bildung, in der Auseinandersetzung und Produktion mit und von Literatur und Musik jene Voraussetzungen gesehen, die zu toleranten, verständnisvollen und partizipierenden Akteuren einer demokratischen Gesellschaft führen sollen.9 Nussbaum rekurriert dabei auf einen Begriff des »guten Lebens«, zu dem es wesentlich gehört, dass Menschen in die Lage versetzt werden, ihre Chancen auf ein glückliches und freies Leben in einer Gemeinschaft von Gleichen wahrzunehmen. Um dies zu können, bedarf es der Vermittlung und Schulung einiger Fähigkeiten, die für Nussbaum zum Kerncurriculum jedes avancierten Bildungsprogramms gehören sollten. Dazu zählen die Fähigkeit zur Reflexion und Selbstreflexion, die Fähigkeit, andere Menschen trotz aller ethnischen, religiösen, kulturellen und geschlechtsspezifischen Unterschiede als Personen mit gleichen Rechten und Bedürfnissen wahrzunehmen, die Fähigkeit, sich in die Lage und Situation anderer Menschen zu versetzen, die Fähigkeit, über Probleme der Kindheit und des Erwachsenwerdens, über Liebe, Krankheit, Armut und Tod denken und sprechen zu können, die Fähigkeit zur politischen Urteilskraft sowie die Fähigkeit, sich und die Nation, der man sich zugehörig fühlt, als Teil eines größeren Ganzen, letztlich einer Weltgesellschaft zu betrachten. Eine in diesem Sinn verstandene gedeihliche Entwicklung einer Gesellschaft hat nach Nussbaum eine demokratische Verfassung zur Voraussetzung, die selbst wiederum vielfältig gebildeter und kritikfähiger Menschen bedarf. Wie aber erzieht man zur Demokratie? Nussbaum geht weit in die Entwicklungsgeschichte des Individuums zurück. Neugeborene, so ihre etwas einfach gestrickte These, sind hilflose Egoisten und beginnen sich bald dieser Hilflosigkeit zu schämen. Daraus entsteht der Wunsch, sich die Welt gefügig zu 9

Nussbaum, Martha C.: Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht. Überlingen 2012.

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machen – zuerst die Eltern, dann alle anderen. Nur eine Erziehung, der es gelingt, diese Scham zu neutralisieren und den jungen Menschen dazu bringt, sich seiner Bedürftigkeit, Endlichkeit und Begrenztheit bewusst zu werden, kann die Voraussetzung dafür schaffen, dass auch der Andere in dieser Weise gesehen und respektiert werden kann. Für die Entwicklung dieser Fähigkeiten aber – und dies ist der Punkt – ist die Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur entscheidend. In der Imagination, in der Phantasie, im Rollenspiel sieht Nussbaum jene Strategien, die den Menschen die Möglichkeit geben, sich in ganz andere Gefühlslagen zu versetzen, aber auch seine eigene Situation vielfältig und kreativ auszudrücken. Deshalb ist für sie nicht nur die passive Kenntnis der Kunst- oder Literaturgeschichte so wichtig, sondern vor allem der Erwerb expressiver und kreativer Fähigkeiten: Schreiben, Singen, Tanzen und Theaterspielen. Hinter diesem Konzept verbirgt sich ein bildungspolitischer Imperativ, der in Bildung letztlich jenen »Versuch, den Menschen zum Menschen zu begaben« sieht, der gegen alle Formen der Erziehung, Qualifikation und Talentpflege das unverstellte Menschsein im Auge hat und von dem nicht gesagt werden kann, ob er überhaupt gelingen kann.10 Bildung erscheint hier als Anspruch, der Herrschaftsverhältnisse, denen sie gleichwohl unterliegt, konterkariert. Das Postulat, Gesellschaften durch diese Form von Bildung zu verändern, unterstellt, dass diese durch inhumane Herrschaftsverhältnisse charakterisiert sind, die dennoch in ihrer Mitte, das heißt an ihren Schulen und Universitäten, die Möglichkeiten zu ihrer eigenen Beseitigung bereitstellen sollten. Schon Marx, der sich in jungen Jahren nebenbei auch ein wenig mit Fragen der Gesellschaftsveränderung beschäftigt hatte, formulierte in seiner 3. These ad Feuerbach diesen Widerspruch bündig: »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«11 Man versteht: Durch Tanzen allein werden versteinerte Verhältnisse nicht zum Tanzen gebracht. Es wäre fahrlässig zu glauben, dass Gesellschaften in den Zentren ihrer Reproduktion die Organisationen und Verfahren zur Ver10

Heydorn, Heinz J.: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Frankfurt am Main 1980, S. 316. 11 MEW 3, S. 5-6.

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fügung stellen, um diese Gesellschaft radikal zu verändern. Solange Gesellschaftsveränderung der Bildung überantwortet wird, wird diese Gesellschaften auch dann nicht im anvisierten Sinne verändern, wenn sich diese, auch ganz ohne Bildung, selbst rasant – aber in ganz andere Richtungen – verändern. Im digitalen Zeitalter bilden die Schulen in ihren Tablet-Klassen Kinder und Jugendliche dann auch nicht zu mündigen Bürgern, die den totalitären Versuchungen der Internet-Konzerne widerstehen könnten, sondern machen sie zu deren Agenten. Augenmerk wäre deshalb auf jenen Diskurs zu legen, der die verändernde Kraft von Bildung weniger in einer sozialen und politischen Veränderung des Gemeinwesens, als vielmehr in einer entweder affirmativen oder kritischen Auseinandersetzung mit den neuen gesellschaftsverändernden Technologien sieht, die mittlerweile das Denken in sozialen Perspektiven aufgezehrt zu haben scheinen: »Wenn die sozialen Utopien zu Schanden gehen, verächtlich gemacht oder vergessen werden, gähnt eine Lücke auf, die wie geschaffen dafür ist, dass in sie die Verheißungen der Technologie gestopft werden.«12 Nun hinkt Bildung entweder nach – wenn etwa davon die Rede ist, dass die Umwandlung der Arbeitswelt in Richtung »Industrie 4.0« und »Internet der Dinge« zu einer permanenten Selbstschulung in Sachen digitaler Kompetenz zwingen werde; oder sie soll als kritisches Korrektiv fingieren – wenn etwa Sensibilisierungsprogramme für den Umgang mit sozialen Medien, Big Data, Suchalgorithmen und Selbstoptimierungstechnologien als neue Bildungsziele formuliert werden. Wirklich gesellschaftsverändernde Potentiale schreibt diesen Bildungsprogrammen allerdings kaum noch jemand zu, auch wenn manchmal der Hoffnung Ausdruck verliehen wird, dass eine bestimmte Formen von Wachheit, Aufmerksamkeit und Reflexivität zu einem geänderten Verhalten führt, das imstande sein könnte, die Macht und die Monopole der Internet-Konzerne zu brechen oder zumindest in die Schranken zu weisen. Wie immer man es aber dreht und wendet: Ob Bildung ein Selbstveränderungspotential in Hinblick auf Individuen oder Gesellschaft zugesprochen werden kann, hängt letztlich vom Mut ab, Bildung inhaltlich und normativ zu bestimmen. Solange Bildung formal als Durchlaufen von Zertifizierungsstellen oder Sammeln von Leistungspunkten definiert oder auf den Erwerb von Kompetenzen und zeitgemäßen Kulturtechniken reduziert wird, erwächst aus diesen Bestimmungen weder eine notwendige noch eine mögliche Kraft zur Veränderung. Allenfalls kann der Zufall dafür sorgen, dass jemand, der an beliebigen Texten eine veritable Lesekompetenz erworben hat, auch ein Buch liest, das sein Leben verändert. In der Idee der Kompetenz steckt dieses Veränderungspotential nicht; wohl aber in der Idee, dass Menschen mit dem An12

Gauß, Karl-Markus: Der Alltag der Welt. Wien 2015, S. 184.

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spruch auf Bildung bestimmte Bücher lesen sollten, weil diese aufgrund ihrer Qualität, Bedeutung, Schönheit oder Widerständigkeit die Möglichkeit in sich tragen, ein Leben zu verändern. Dort, wo es um Selbstveränderung durch Bildung gehen soll, kann leider Wilhelm von Humboldts Einsicht nicht vergessen werden, dass Bildung, die höchste Aufgabe unseres Daseins, in dem Anspruch besteht, »dem Begriff der Menschheit in unserer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, das wir zurücklassen, einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen«, eine Idee, die nichts anderes bedeutete, als eine »Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung«. Dieses Konzept wollte das zu einem Bildungsprogramm machen, was nach Humboldt das Streben des Menschen überhaupt auszeichnet. In seiner Endabsicht betrachtet, ist das erkennende Denken des Menschen immer nur »ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich« zu werden, sein Handeln ist eine Anstrengung seines Willens, »in sich frei und unabhängig zu werden« und seine »Geschäftigkeit« erweist sich als das Streben, nicht in sich müßig bleiben zu müssen. Der Mensch ist ein aktives Wesen, und da alles Handeln und Denken einen Gegenstand haben muss, versucht der Mensch »so viel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.«13 Fehlt diese Idee, bleiben Qualifikationen, Techniken, Dressuren, Trainings und Beschäftigungstherapien übrig. Das ist nicht wenig und wird ausreichen, um mit den Veränderungen, die eine technophile Wettbewerbsgesellschaft am laufenden Band produziert, mithalten zu können. Wer in diesen Transformations- und Wandlungsprozessen Reste von Freiheit und Autonomie bewahren und wenn nicht schon die Gesellschaft, dann doch sich selbst einem Formungs- und Gestaltungsprozess unterziehen will, der sich aus begründeten normativen Ansprüchen herleitet, der wird um eine Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Konfrontationen überhaupt noch ein bildender Charakter zugeschrieben werden kann, nicht herumkommen. Vielleicht liegt im Festhalten an diesem Anspruch schon jenes kritische Potential, ohne das Bildung ihre Ambivalenz, ihr Schwanken zwischen Kritik und Affirmation, ihr Oszillieren zwischen demütigem Nachhecheln und forscher Antizipation nicht durchhalten könnte. Eine Bildung aber, die ohne diese Spannungen auskommen wollte, wäre keine mehr. Die Frage, ob sie etwas zur Selbstveränderung von Individuen oder Gesellschaften beitragen könnte, erübrigte sich.

13

Humboldt, Wilhelm von: Theorie der Bildung des Menschen. In: Werke in fünf Bänden, Bd. 1. Hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt 1980, S. 235.

Sigridur Thorgeirsdottir

Die Transformationsmacht der feministischen Philosophie für die Reflexion

Der Titel dieses Beitrages mag manchem überzogen vorkommen. Schließlich herrscht die Meinung vor, die Aufgabe der feministischen Philosophie erschöpfe sich weitgehend darin, eine von vielen kritischen Methoden der philosophischen Reflexion zu sein. Dabei wird Kritik als ein Werkzeug verstanden, mit dem philosophische Konzepte und Ideen kritisch beleuchtet werden können, häufig um implizite Mängel und blinde Flecken zu entlarven. Ein typisches und beiläufiges Beispiel für diese Ansicht markiert das im philosophischen Lehrbetrieb weitverbreitete Einführungsbuch über Werkzeuge der Philosophie von Julian Baggini und Peter S. Fosl.1 Die beiden Autoren verstehen feministische Philosophie ausschließlich als kritische Analyse unter dem Aspekt der Kategorie Geschlecht. Dabei geben die Autoren selbst schon eine Reihe von Beispielen für verschiedene Themenbereiche der Philosophie: »Might it be that various conceptions of justice bear a masculinist bias? Yes, says Carol Gilligan. Perhaps the binary quality of so many philosophical categories (good/evil, true/false, being/non-being, sense/non-sense) is itself masculine? Yes, says Hélène Cixous. Might our adoration of autonomy and independence reflect something of the males who articulated these concepts? Yes, argues Nancy Chodorow. Might our gender relations somehow been caught up with the dynamnics of capitalist exploitation and alienation? Dead on, say Margaret Benston and Heidi Harmann. Could we even say that our conception of God and being functions in a narrow, masculine and oppressive way? Absolutely, says Mary Daly. What about various conceptions used in determining truth, knowledge and science? Surely, they are free from the taint of gender or sex? Wrong, say Ruth Hubbard and Lorraine Code. In short, virtually any field of human thinking may be subjected to feminist critique.«2

1

Baggini, Julian/Fosl, Peter S.: The Philosopher´s Toolkit. A Compendium of Philosophical Concepts and Methods. Malden, Oxford 2010. Das Titelbild des Buches zeigt eine Heimwerkerschraubenkiste, die allerdings eine eher maskuline Idee von Werkzeugen darstellt. 2 Baggini/Fosl: The Philosopher’s Toolkit, S. 230.

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Es sind jedoch nicht nur die grundlegenden Themen und Konzepte der philosophischen Tradition, die der feministischen Kritik unterworfen sind. Der Wirkungsbereich der feministischen Philosophie als einer philosophischen Disziplin ist vielschichtiger und auf weit mehr Ebenen zu verorten. Ich werde hier drei zusätzliche Annäherungsweisen nennen. Die erste Annäherungsweise betrifft die Geschichte und den Kanon der Philosophie, wie diese in der akademischen Philosophie dargestellt werden. Neuere Forschungen zu Philosophinnen der Vergangenheit zeigen, dass Frauen seit jeher Philosophie betrieben haben. Manchmal geschah dies unter schwierigen Bedingungen, etwa wenn die wenigen Frauen in der Akademie Platons sich als Männer verkleiden mussten, um überhaupt Zugang zu erhalten. Später und unter günstigeren Bedingungen, wie etwa in der europäischen Frühmoderne, nahm die Anzahl der Philosophinnen merklich zu. Schließlich sind wir heute durch kritische historische Forschungen und die Neuherausgabe von Texten von früheren Philosophinnen an einem Punkt angelangt, wo uns langsam dämmert, dass philosophische Curricula mit ausschließlich männlichen Texten bald der Geschichte angehören werden, ja, dass die Geschichte der westlichen Philosophie sogar ausschließlich mit Texten von Philosophinnen von der Antike bis zur Gegenwart erzählt werden kann (so wie sie bisher meist ausschließlich durch Philosophen erzählt worden ist).3 Zweitens wird die akademische Philosophie aus der Perspektive einer feministisch-sozialpsychologischen Perspektive unter die Lupe genommen. Dabei reicht bereits ein flüchtiger Blick auf die Hochschulstatistik in westlichen Ländern, um festzustellen, dass unter allen geisteswissenschaftlichen Fächern die Anzahl der Frauen und Minderheiten in der Philosophie am niedrigsten ist, und zwar gleichermaßen unter den Lehrenden wie unter den Studierenden. Sally Haslangers weit rezipierter Aufsatz zum schematischen Denken von Philosophen, die Minderheiten übersehen, missachten oder marginalisieren, hat der Diskussion über die Kultur und die Umgangsformen in den philosophischen Instituten und Fakultäten neues Leben eingehaucht.4 Viel ist auch geschrieben worden über den typischen philosophischen Stil, der durch kalte Argumentationsduelle geprägt sei, in denen einer den anderen zu übertreffen versucht. Dieser ist genau so besorgniserregend wie das Schweigen der Studentengruppe, die solche Gefechte nicht mag und abstoßend findet.5 3

In Deutschland gibt es an der Universität Paderborn einen Lehr- und Forschungsbereich History of Women Philosophers and Scientists, der sich der Erforschung der Texte von Philosophinnen von der Antike bis heute widmet. 4 Haslanger, Sally: Changing the Ideology and Culture of Philosophy: Not by Reason Alone. In: Hypatia 23, 2 (2008), S. 210–223. 5 Zu diesem Thema und zur Lage von Frauen und des Feminismus in der deutschen Philosophie siehe Annerl, Charlotte/Gutwald, Rebecca/Landweer, Hilge/Mikkola, Mari:

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Drittens gibt es eine Form der feministischen Kritik, die vielleicht als Abstimmung mit den Füßen bezeichnet werden könnte. Namhafte feministische Philosophinnen wie Judith Butler und Rosi Braidotti haben in einem Aufsatz beschrieben, warum sie es aus inhaltlichen und institutionell-politischen Gründen in der akademischen Philosophie nicht ausgehalten und an anderen Institutionen, die offener für ihre Art des Philosophierens sind, Unterschlupf gesucht und gefunden haben.6 Butler beschreibt, wie die Philosophie ihren eigenen Untergang dadurch betreibt, dass sie bestimmte Schulen und Richtungen, die vom Mainstream der Philosophie nicht akzeptiert werden, verschweigt und ablehnt. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten die Geschlechterstatistik in der akademischen Philosophie im Vergleich mit anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen nicht Schritt hielt, so hat der allgemeine Bewusstseinswandel in der Bevölkerung den philosophischen Lehrbetrieb nicht ganz unbetroffen gelassen, was an der Ausbreitung der ersten Annäherungsweise feministischer Philosophie bemerkbar wird. So lässt sich beobachten, wie der weiße westliche Malestream allmählich eine Differenzkultur erschließt, die auch Themen wie Geschlecht, Ethnizität, Disability, Tier- oder sogar Pflanzenethik behandelt – Fragestellungen, die vor zwei bis drei Jahrzehnten kaum als philosophisch relevant angesehen, sondern bestenfalls den Sozialwissenschaften oder der Poesie zugeschrieben wurden. So hat sich die feministische Philosophie langsam zu einer Transformationsmacht innerhalb der akademischen Disziplin der Philosophie entwickelt, obwohl die drei weiteren Annäherungsweisen, die ich soeben kurz skizziert habe, im Vergleich zu der vielfältigen Kritik der ersten Annäherungsweise immer noch meist Randerscheinungen sind. Diese Diskussionslage macht auch deutlich, dass die feministische Philosophie selbst kein einheitliches Gebilde, sondern ein mehrschichtiges Gebiet ist, das vor dem Hintergrund des Feminismus gesehen werden muss, der vereinfacht in vier Hauptströmungen gegliedert werden kann: Den liberalen Feminismus, den marxistischen Feminismus, den Differenzfeminismus und die Queertheorie, die wiederum jede für sich zu unterschiedlichen Resultaten in der Philosophie als akademischer Disziplin führen. Es ist hilfreich, diese vier Grundpositionen kurz zu skizzieren, um ihr unterschiedliches Transformationspotential für die akademische Philosophie zu kennzeichnen. Der liberale Feminismus ist ein Kind der sogenannten zweiten Welle des Feminismus, bei der der Kampf um gleiche Rechte der Geschlechter einherWie können Frauen in der Philosophie gefördert werden? In: Information Philosophie 2 (2015), S. 36–47. 6 Braidotti, Rosi/Butler, Judith: Out of Bounds: Philosophy in an Age of Transition. In: The History of Continental Philosophy, Bd. 7, After Poststructuralism: Transitions and Transformations. Hg. v. Rosi Braidotti. London, New York 2014, S. 307–335.

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ging mit dem Eintritt der Frauen in den Arbeitsmarkt und dem Kampf um Bürgerrechte für Minderheiten. Diese Spielart des Feminismus, die eine lange Vorgeschichte in der liberalen politischen Philosophie hat, findet Niederschlag in Theorien der Geschlechtergerechtigkeit, die den Akzent auf gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten der Geschlechter legen. Dieser Art des Feminismus ist häufig vorgeworfen worden, dass der Kampf um gleiche Rechte eigentlich ein Kampf um Teilnahme an der männlich geprägten Arbeitswelt und dem öffentlichen Leben sei. Der marxistische Feminismus unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich vom liberalen und hat folglich auch eine ähnliche Kritik erfahren. Selbst wenn der marxistische Feminismus eine wichtige Grundlage für feministische Kritik von Systemen der politischen Ökonomie ist, wird auch ihm vorgeworfen, die bestehende, männlich bestimmte Arbeitswelt und Öffentlichkeit zum Ausgangspunkt zu haben. Desweiteren wird der marxistischen Theorie der Arbeit vorgeworfen, das gesamte Feld der humanen und damit auch der sozialen Reproduktion (Kindererziehung, Hausarbeit usw.) nicht als Arbeit gelten zu lassen.7 Damit kommen wir zur dritten Spielart des Feminismus, dem Differenzfeminismus, für den das Reproduktionsthema im weitesten Sinne zentrale Bedeutung hat. Der Differenzfeminismus ist vor allem innerhalb der feministischen Philosophie Frankreichs entstanden und eng mit dem Namen von Luce Irigaray verknüpft. Hier wird der Akzent auf die Differenz der Geschlechter gelegt. Dabei war der Differenzfeminismus lange Zeit der Kritik ausgesetzt, einem biologischen und sozialpsychologischen Esssentialismus verfallen zu sein. Nach einer jahrzehntelangen Debatte wurde jedoch schließlich der Vorwurf des biologistischen Essentialismus ad acta gelegt. Entscheidend dabei war die feministische Phänomenologie des Leibes, die gezeigt hat, dass die Anerkennung von Geschlechtermerkmalen beziehungsweise -differenzen keineswegs zwangsläufig zu einem Essentialismus führt.8 Die Queertheorie ist zunächst als Reaktion auf den Differenzfeminismus zu verstehen, die den feministischen Aspekt dem schrägen Queeraspekt unterordnet. Judith Butler, die Theoretikerin auf diesem Gebiet, weist jeglichen vermeintlichen Geschlechteressentialismus zurück und legt stattdessen eine 7

Federici, Silvia: Revolution at Point Zero: Housework, Reproduction, and Feminist Struggle. Brooklyn 2012. 8 Selbst wenn körperliche Differenzen ernst genommen werden, wird auch dem Rechnung getragen, dass Differenzen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt ständig in Veränderung begriffen sind. Wenn von Differenzen der Geschlechter die Rede ist, wird in der feministischen Phänomenologie des Leibes vorgeschlagen, von Stilen und Tendenzen, die auch auf körperliche Unterschiede zurückzuführen sind, zu sprechen. Siehe Heinämaa, Sara: Toward a Phenomenology of Sexual Difference. Lanham 2003.

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performative Theorie der Geschlechter dar. Diese hat die Geschlechterstudien der letzten zwei Jahrzehnte nachhaltig geprägt mit der Betonung der internen Differenzen von Frauen und der Zurückweisung einer einheitsstiftenden Identität von Frauen als Subjekten des Feminismus. Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte der Queertheorie war jedoch bedeutsamer, dass diese Theorie die Weichen gestellt hat für die Ausweitung feministischer Studien innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Queertheorie befasst sich vor allem mit Gruppen, die sich dem binären Geschlechterdualismus und der darin enthaltenen Heteronormativität entziehen oder sich nicht zugehörig fühlen, weil sie sich selbst in ihren als abweichend geltenden Identitäten nicht anerkannt und ausgeschlossen fühlen. Der Kampf um Anerkennung von Rechten Homosexueller, Lesben, Trans- und Non-binary-Individuen mündet in dieser Spielart der pluralistischen Geschlechtertheorie, die zugleich eine interne Kritik des Feminismus darstellt und letzlich zu einer Menschenrechtsdebatte führt.9 Die duale Geschlechterdifferenz ist hier der Vielfalt von vielen Gruppierungen und Minderheiten gewichen.10

Der Leib So unterschiedlich diese repräsentativen Richtungen der feministischen Philosophie auch sind, können sie doch auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Dieser gemeinsame Nenner ist zugleich der philosophische Knotenpunkt der transformativen Macht der feministischen Philosophie: Der Leib. Ich spreche hier eher von »Leib« als von »Körper« und weise zugleich auf den in der Phänomenologie gemachten Unterschied von Leib als der erlebten leiblichen Erfahrung und dem Körper als dem materiellen Ding hin. Ich kann aber keine strikte Trennung zwischen diesen beiden Kategorien vornehmen, da die Grenzen zwischen dem Leiblichen und dem Körperlichen fließend sind. Der Leib ist relational, da wir in persönliche Beziehungen, Genealogien, soziale Kontexte, Kulturen und Traditionen hineingeboren werden. Als Leiber sind wir stets in einem bestimmten Alter, Zustand, Geschlecht u.s.w. Die Anerkennung der leiblichen Dimension unterminiert auch die traditionelle Trennung von Leib und Seele sowie von Rationalem und Affektivem. Der Leib macht uns sozusagen real, und daher ist der Leib zu Recht eines der großen Themen 9

Die Queertheorie stimmt in diesem Sinne mit einer liberal-feministischen Position überein, insofern diese in der Anerkennung von Rechten aufgrund von Differenzen einhergeht. 10 Die Queertheorie bekommt Verstärkung von Seiten der Theorie der Intersektionalität, weil diese stets viele Kategorien im Spiel behält, wie etwa Klasse, ethnische Zugehörigkeit, ability/disability und andere.

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der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Neu- beziehungsweise Wiederentdeckung des Leibes erlaubt es uns, ein reichhaltigeres und zutreffenderes Bild vom moralischen, epistemischen und politischen Subjekt in der Philosophie zu entwickeln. Der entleiblichte Mensch, der meist diesen Subjekten zugrundelag, ist wie ein »geflügelter Engelskopf ohne Leib«, wie Schopenhauer als einer der ersten Philosophen des Leibes im 19. Jahrhundert bemerkt hat.11 Bekanntlich hat Schopenhauer den Leib zur Grundlage seiner Metaphysik gemacht und damit die Tür für das Ernstnehmen unserer körperlichen Verfassung als Mensch innerhalb des philosophischen Diskurses geöffnet. Die leibliche Dimension ist nämlich ein Teil eines neuen und erweiterten Verständnisses von Humanität, die uns in Verbindung mit der Erde und dem Leben bringt. Als Leiber und erdhafte Wesen stehen wir in Relation zu anderen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren und überhaupt zu allem Lebendigen. Wir sind global voneinander als Menschen und als Erdbewohner von anderen Arten abhängig. Das gibt uns ein reicheres Verständnis davon, was es heißt »menschlich« und »human« zu sein, nicht zuletzt in Zeiten radikaler Veränderungen, welche den Begriff des Humanen immer neu in Frage stellen und transformieren. Kommen wir wieder zurück auf Butlers Theorie, die gute begriffliche Werkzeuge anbietet, um die Kontextualität und Relationalität von Körpern zu thematisieren. Fragen, wie etwa »wie verändern moderne Biotechnologien und das Internet unser Bewusstsein und wie bestimmen diese unsere Leiblichkeit?« können von der Warte der performativen Theorie des Leibseins gut behandelt werden. Diese Theorie ist jedoch weniger geeignet, um die kreativen Kräfte des Leibes zu analysieren. Butlers Theorie – die ich hier als repräsentative Vertretung der Quertheorien heranziehe – hat eine Art Paradigmenwechsel einleiten wollen mit der Idee, dass sowohl sex (biologisches Geschlecht) als auch gender (sozio-kulturelles Geschlecht) Erzeugnisse performativer Diskurse sind. Dabei reduziert Butler ihren Begriff des Leibes gelegentlich auf eine Diskursontologie, was zu einer verkürzten Sicht führt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Butler sich ansonsten eingehend mit psychoanalytischen Theorien beschäftigt. In ihrem Buch The Psychic Life of Power, das nach Gender Trouble erschienen ist, thematisiert sie die psychische Tiefenschicht ihrer Gendertheorie.12 Sie kommt dennoch zu dem Schluss, dass psychische Dimensionen einverleibt sind (um einen Begriff von Nietzsche, der auch zu den theoretischen Inspirationen Butlers gehört, zu verwenden). Das will heißen, dass das Affektive und das Psychi11

Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I/1, § 18. In: Zürcher Ausgabe, die der historisch-kritischen Ausgabe von Arthur Hübscher folgt. Zürich 1977, S. 142. 12 Butler, Judith: The Psychic Life of Power. Stanford 1997; dies.: Gender Trouble. London, New York 1990.

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sche von sozio-kulturellen Mächten bestimmt werden. Die externen Mächte sind Teile des subjektiven Bewusstseins. Dabei bezieht sich Butler ausdrücklich auf Nietzsches Genealogie der Moral, in der er analysiert, wie der Wille oder das Verlangen sich gegen sich selbst wenden, indem die eigene Aggression nach innen gekehrt wird.13 Damit werden solche Mächte im Bewusstsein verankert und somit Teil der Reflexivität. Von diesem Ansatz ausgehend argumentiert Butler, dass unsere psychische Existenz von den sozialen Operationen der Macht generiert wird, wobei die soziale Operation der Macht von der Psyche, die sie produziert, verborgen und verstärkt wird. Nach Butler wird die Psyche durch die Macht hervorgebracht, so dass sie Foucaults Satz, die Seele sei das Gefängnis des Leibes, zustimmt.14 Die Expressivität des Leibes, die Fähigkeit, innere Zustände des Leibes wahrzunehmen, um sie dann auszudrücken, ist die andere Seite der Philosophie des Leibes. Der Begriff der Expressivität entstammt zwar der Phänomenologie und der philosophischen Anthropologie, aber meines Erachtens hat Nietzsche dennoch dieses Phänomen vor Augen, wenn er von dem Vermögen spricht, etwas Neues auszudrücken. Das will nicht heißen, dass die inneren Zustände des Leibes, die ausgedrückt werden, mit Begriffen wie »Essenz«, »Substanz«, »Natur«, »Ursprung« usw. gleichzusetzen sind. Wie Foucault mit seiner Interpretation von Nietzsches Begriff der Genealogie gezeigt hat, kann es keinen festzumachenden, einheitlichen Ursprung geben.15 Jede »erste Natur« war irgendwann schon einmal »zweite Natur«, denn sämtliche Eigenschaften und Attribute haben sich im Laufe der Zeit in Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt und sind insofern geworden. Das gilt auch für die Geschlechternaturen, auf die es in diesem Zusammenhang der Philosophie der Geschlechter ankommt. Geschlechtereigenschaften bleiben weiterhin im Werden begriffen. Das heißt, dass das Innere und das Äußere (sofern diese überhaupt auseinandergehalten werden können, da die Grenzen ja fließend sind) jeweils eine eigene Ordnung haben, die kontinuierlich mit- und gegeneinander wirken und einander modifizieren können. Nach Butler hat der Leib aber keine eigene Ordnung, da diese nur von außen durch die symbolische Konditionierung des Denkens entstehen kann. Der prädiskursive Leib, den Butler als das eigene Verlangen beschreibt, hat keine Möglichkeit von sich aus zur Sprache zu kommen. Dies ist umso erstaunlicher, als Butler sich darum bemüht, die körperlichen Dimensionen der geschlechtlichen Identität ernst zu nehmen und diese in ihrer subversiven Funktion zu betonen, insofern sie vorherrschende dualistische Ordnungen wie 13

Butler: The Psychic Life of Power, S. 63. Ebd., S. 59. 15 Foucault, Michel: Nietzsche, Genalogy, and History. In: The Essential Works of Foucault, Bd. 2. Hg. v. James Faubion. London 2000, S. 369–393. 14

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die Geschlechterbinarität durcheinander bringen können. Sie mag ja die Auflösung von Geschlechtereigenschaften, die das Spiel der Differenzen fördern.

Differenzfeminismus Die Theorie der Expressivität des Leibes wird in Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes weiter ausgebaut und mit Blick auf die sexuelle Differenz von Simone de Beauvoir thematisiert. Nietzsches, Beauvoirs und Merleau-Pontys Philosophien des expressiven Leibes sind die Grundlage für den Differenzfeminismus. Diesen möchte ich jetzt ein wenig am Beispiel von Luce Irigarays Philosophie der sexuellen Differenz erläutern, die meiner Meinung nach die radikalste und zugleich zukunftsträchtigste Form der feministischen Philosophie der Gegenwart darstellt. Ihr theoretischer Ansatz zielt auf eine neue Beziehung der Geschlechter. In diesem Sinne führt diese Art der feministischen Philosophie weiter als liberale, marxistische oder queertheoretische Ansätze, die neue Rechte einfordern oder gesellschaftliche Strukturen ändern wollen. Irigaray setzt tiefer an mit ihrem Ansatz, der sowohl auf eine Transformation der Philosophie, der Geschlechter, der demokratischen Gesellschaft und letzlich der globalen Welt zielt. In der Tat spiegeln genau diese Begriffe die Etappen in Irigarays Philosophie wieder. Fangen wir mit Irigarays Kritik der Philosophie an. Irigaray hat in ihren ersten philosophischen Büchern Schlüsselwerke und Themen der abendländischen Philosophie mit Blick auf Geschlechterdifferenzen unter die Lupe genommen. Das weibliche Geschlecht ist immer von einer männlichen Perspektive definiert worden. Daher müssen die Frauen ihre eigene Subjektposition im philosophischen Diskurs entwickeln. Catherine Malabou ist der selben Meinung, dass die »Frau« nie in der Lage war, »sich ohne die Gewalt, die ihr angetan worden ist, zu definieren.«16 Sie geht einen Schritt weiter wenn sie behauptet, dass die Kritik des »Essentialismus«, die in post-feministischen Gender Studien und Queer-Theorien zu einer anti-Essentialismus-Doxa geführt hat, »bloss noch eine Wendung in der ontologischen Negation des Weiblichen« sei.17 Es sei durchaus möglich dem Weiblichen einen Sinn zu geben. Selbst wenn solche Definitionen nur ex-negativo, d. h. von der Gewalt die dem Weiblichen angetan worden ist, ausgehen, sei es möglich einen gewissen Raum für seine Thematisierung zu eröffnen.18

16 17 18

Malabou, Catherine: Changing Difference. Cambridge 2014, S. v. Malabou: Changing Difference, S. v. Ebd., S. 2.

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Irigaray erschliesst Räume wo das Weibliche in kanonischen Texten der Philosophie erscheint. In ihrer Interpretation des Höhlengleichnisses von Platon, in der sie die Höhle mit der Metapher der Gebärmutter deutet, erläutert sie, wie die Philosophen sowohl die Mutter Erde, als auch den Leib zugunsten des Traumes von einer entkörperten philosophischen Existenz ablehnen.19 Aufgrund ihrer psychoanalytischen Ausbildung, die so etwas wie ein Merkmal der französischen, poststrukturalistischen feministischen Philosophinnen ist, interpretiert Irigaray klassische Texte der Philosophie auf Grund dessen, was explizit, implizit und unbewusst in den Texten vor sich geht. Im Höhlengleichnis spiegeln sich daher sowohl die Fantasien, unterdrückten Ängste sowie Bewältigungs- und Kontrollmechanismen, die Irigaray durch präsize Textarbeit aufspürt, wider. Philosophische Texte sind so gesehen meist eine Bühne des »Gender Trouble«. In der zweiten Phase ihrer Auseinandersetzung mit kanonischen Werken der Philosophie tritt sie in einen fiktiven Dialog mit Philosophen wie Nietzsche und Heidegger. In Irigarays Buch zu Nietzsches Philosophie, das zugleich Würdigung und Kritik enthält und einen der ganz großen Interpretationsentwürfe in der Nietzsche-Forschung darstellt, bezeichnet sie sich selbst als eine Geliebte des Philosophen Nietzsche, als seine Meeres-Geliebte, die aus dem Wasser kommt und ihn zugleich an den mütterlichen Ursprung erinnert.20 In ihrem Buch zu Heidegger diskutiert Irigaray mit ihm, wie er die Erde bevorzugt und die Luft vergisst.21 Diese Metaphern deuten an, wie durch die Elemente die Geschlechter im Text verkörpert werden. Wir haben es mit Dualitäten und Energien zu tun, die eine leibliche Grundlage haben. Bei Nietzsche, der für Irigaray eine Drehscheibe in Richtung einer Philosophie des Leibes und der sexuellen Differenz ist, wird die Möglichkeit eines Menschenbildes aktuell, das die dualistischen Begriffspaare unterminiert. Selbst wenn die Nietzscheanische und die Heideggersche Philosophie im Prinzip eine Erweiterung der Philosophie darstellen, findet dennoch eine Ausgrenzung des Weiblichen statt, insofern als in ihren Philosophien gar kein Dialog zwischen den Geschlechtern stattfindet. So einen Dialog exemplarisch vorzuführen, macht die einzigartige Stellung Irigarays in der Landschjaft der feministischen Philosophie der Gegenwart aus. 19

Irigaray, Luce: Speculum of the Other Woman. Ithaca 1985, S. 243–256. Irigaray, Luce: Marine Lover of Friedrich Nietzsche. New York 1991. Weiter zu Nietzsche, Irigaray und feministischer Philosophie siehe Thorgeirsdottir, Sigridur: Die Philosophie Nietzsches im Spiegel von Philosophinnen im 20. Jahrhundert (Arendt, Beauvoir, Irigaray und Butler). In: »Einige werden posthum geboren« - Friedrich Nietzsches Wirkungen. Hg. v. Renate Reschke u. Marco Brusotti. Berlin, Boston 2012, S. 97– 115. 21 Irigaray, Luce: The Forgetting of Air in Martin Heidegger. Austin 1999. 20

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Die Ausgrenzung der Frauen (in kanonischen Texten der Philosophie), die in einer männlich determinierten Definition des Weiblichen in Abgrenzung von dem Männlichen besteht, gibt in diesem Zusammenhang Irigaray Anlass, das Weibliche von den eigenen Prämissen her philosophisch zu thematisieren. Dazu gehört, dass das Vater-Sohn-Verhältnis in der religiösen und der philosophischen Tradition von Irigaray durch die Thematisierung der Mutter-Tochter-Beziehung ergänzt wird. Frauen benötigen Darstellungen innergeschlechtlicher Solidarität in solchen höchsten Idealen. Männliche Kulturen brauchen auch eine solche Verstärkung der Frauen, denn die hegemoniale männliche Kultur ist allzulange ohne die notwendige weibliche Gegenmacht gewesen, was zu einem kulturellen Ungleichgewicht geführt hat. Die Kultur braucht die Auseinandersetzung des Männlichen und des Weiblichen, und das weibliche Verlangen (desire) muss auch zur Geltung kommen, um Kontra zu geben und auch um Liebe der Geschlechter unter besseren Bedingungen zu ermöglichen. In der dritten Phase ihres Werkes geht Irigaray dann über zu einer konstruktiven Beziehung der Geschlechter. Titel wie »Demokratie beginnt zwischen Zweien« illustrieren dieses Vorhaben, in dem sie das Gespräch der Geschlechter als Anfang einer Neubelebung der Demokratie auffasst.22 Wenn wir vom Differenzfeminismus Irigarays sprechen, ist eine Unterscheidung zentral, um ihr Anliegen zu klären und ihre Sonderstellung innerhalb der feministischen Philosophie klarzustellen. Ich meine die in ihrer Philosophie durchgehende Unterscheidung zwischen Geschlecht und Sexualität oder »sexuate« und »sexual«. »Sexuate« oder »Geschlecht« weist auf die grundlegende Tatsache hin, dass es in der Natur in der Hauptsache zwei Geschlechter gibt (dazwischen gibt es Grauzonen und Unklarheiten, »trans« und »non-binary«-Geschlechter-Körper). Diese Zweigeschlechtlichkeit, das heißt das »sexuate« kommt vor allen anderen Differenzierungen. Sexuelle Orientierung gehört demgegenüber nicht auf diese ontologische Ebene und ist daher der »sexuellen« Identität zugeordnet. Fragen der sexuellen Orientierung stehen seit geraumer Zeit im Focus feministischer und vom Butlerschen Modell inspirierter Politik. Die Betonung der Sexualität hat eine lange Geschichte, die aus Gründen der Menschenrechte notwendig gewesen, aber auch oft ambivalent gewesen ist. Frauen sind in der ideengeschichtlichen Tradition meist mit ihrer Sexualität identifiziert worden – als keusche Heilige oder als Schlampen vor diesem Hintergrund überlieferter Mütterlichkeitsvorstellungen. Viele der akuten Probleme der Gegenwart werden auf der Ebene der Sexualität ausgefochten. Der sogenante Kampf der Kulturen dreht sich um die Sexualität der Frau und sexuelle Orientierung von NichtHeterosexuellen. Hier wird ein Machtkampf zwischen Fundamentalisten und 22

Irigaray, Luce: Democracy Begins Between Two. London, New York 2001.

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Liberalen im Gewand der Sexualität geführt, oft als eine pseudopolitische Auseinandersetzung, um die größeren politischen Fragen, um die es wirklich gehen sollte, zu verdrängen.23 Es ist viel einfacher mit rotem Kopf über Homo-Ehe oder Abtreibung zu streiten als über die ganz große Politik der Finanzmächte, des Klimawandels usw. zu debattieren. Es passt den eigentlichen Machthabern auch viel besser, wenn die Bevölkerung sich in öffentlichen Debatten um Themen der Sexualität im Kreise dreht. Die großen Themen liegen nämlich auf der Ebene des Geschlechts und nicht der Sexualität. Irigarays Philosophie lenkt dagegen den Blick auf die Geschlechter als die am meisten tiefgreifende Unterscheidung der Kultur. Die Fragen, die sich mit dem Geschlecht eröffnen, reichen von der ganz persönlichen Ebene der Liebesbeziehungen bis hin zu Fragen der großen Politik. Auf der Ebene persönlicher Beziehungen erblickt Irigaray die Möglichkeit eines neuen Anfangs, eines Anfangs, der sozusagen »unbefangen« ist, weil die alten Klischees und stereotypischen Bilder der Geschlechter weggelassen werden. Dadurch haben Geschlechteridentitäten neue Entfaltungsmöglichkeiten. Die Begegnung ist hier der Schlüsselbegriff; er ist zentral, weil die Differenz zentral ist. Es ist die Differenz der Geschlechter, die neue Räume eröffnet. Im Prozess der Begegnung transformieren sich beide Geschlechter. Bedingung dafür ist auch, dass reiner Tisch für und von Männern geschaffen wird. Männer werden nämlich auch von der maskulin-hegemonialen Kultur unter Druck gesetzt. Die großen hegemonialen Mächte sind weitgehend von Werten geprägt, die mit dem Maskulinen verbunden sind, und das führt oft dazu, dass diejenigen Männer, die gegen diese Macht protestieren, als »unmännlich« abgestempelt werden. Ein Mann, der Umweltschützer ist, wird zum Beispiel des öfteren als feminin beschimpft. Was die Geschlechterverhältnisse angeht, hat das Männliche das Weibliche auf Distanz gehalten, indem es dieses auf die Mutterrolle reduziert hat. Ein traditioneller, liberaler Feminismus, der eine Identifizierung mit der maskulinen Kultur – auf dem Arbeitsmarkt und im öffentlichen Leben – fordert, kann Frauen (und Männer) emotional und kulturell auf Dauer nicht befriedigen. Insofern geht der Differenzfeminismus weiter als der liberale Feminismus. Für Irigaray kommt es auf die Liebe der Geschlechter an, damit sie einander in ihren Differenzen respektieren und lieben können, und das gilt auch für nicht-heterosexuelle Menschen, weil die Geschlechtlichkeit vor der sexuellen Orientierung kommt, die auf der Ebene der Sexualität liegt. Die ideologischen Bestimmungen der Geschlechterdifferenz in den Religionen und Philosophien, sind der Liebe der Geschlechter nicht förderlich gewesen. 23

Dazu mehr hier: Thorgeirsdottir, Sigridur: Dependency and Emancipation in the Debt-Economy: Care-ethical Critique of Contractarian Conceptions of the Debtor-Creditor Relation«. In: Hypatia 30, 3 (2015), S. 564–57.

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Für Irigaray geht es hier aber nicht nur um eine bessere Beziehung der Geschlechter untereinander. Viele andere Konflikte dieser Welt lassen sich auch durch die GeschlechterBrille Irigarays erfassen. In der Alltagssprache geht es hier um Werte, die mit den Geschlechtern assoziert sind, die entgegengesetzt oder different sind und eine Gegenkraft brauchen. Irigaray schätzt den Begriff des Geschlechterkonfliktes nicht, weil sie gerade aus diesem Konflikt, der durch Aggression und Frustration gekennzeichnet ist, aussteigen möchte. Statt dessen zieht sie den Begriff der Negation vor. Eine Kraft braucht eine Gegenkraft, um zur Geltung zu kommen, um bei sich zu sein. Eines der Textfragmente der antiken Dichterin Sappho über die Liebe kann hier zur Erläuterung als Sinnbild dienen: »Mich schüttelt der Liebesgott/wie im Gebirge der Wind/die unerschütterliche/die Eiche.«24 In diesem Bild sind die Liebenden stark und unerschütterlich wie die Eiche im Wind, aber dennoch durch den Wind von einander affiziert und belebt. In einem grösseren Zusammenhang hat die Geschlechtertheorie Irigarays weitreichende Implikationen für die lokale und globale Politik, weil sich in der femininen Geschlechtlichkeit zum Beispiel auch eine andere Beziehung zum Leib und zur Erde manifestiert, die für einen behutsameren Umgang mit der Erde und den natürlichen Resourcen notwendig ist. Wie wirkt sich diese Perspektive, die hier anhand der Philosophie Irigarays diskutiert worden ist, auf die Philosophie insgesamt aus? Was für einen Beitrag kann sie beispielsweise leisten für die Praxis der akademischen Philosophie auf der konzeptuellen und reflexiven Ebene?

Philosophisches Denken aus dem Leib Wie bereits gesagt, ist der Begriff des Leibes der Knotenpunkt der feministischen Philosophie, insofern er ein entkörpertes Menschenbild der Philosophie ergänzt und bereichert. Ein Bild des leiblichen Menschen problematisiert beziehungsweise unterminiert herkömmliche Unterscheidungen zwischen Leib und Seele, Vernunft und Gefühl, Natur und Kultur, Ich und Anderen usw. Das hat auch Implikationen für das philosophische Denken. Neuere Befunde der Neurobiologie über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns bestätigen die Beschränktheit des rationalen Denkens. Gerald Hüther behauptet daher: »Wir müssen […] die Intelligenz und die Kraft unserer Gefühle wieder erkennen, schätzen und nutzen lernen, um einen Ausweg aus dem Irrsinn unserer gegenwärtigen Lebenswelt zu finden, in den uns der Einsazt des nackten 24

http://www.aphorismen.de/zitat/153060 (Stand 13.3.2016).

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Verstandes geführt hat. Wir müssen versuchen, die verloren gegangene Einheit von Denken, Fühlen und Handeln, von Rationalität und Emotionalität, von Geist, Seele und Körper wiederzufinden. Sonst laufen wir Gefahr, uns selbst zu verlieren.«25 Nietzsche hat dies mit seiner Chrakterisierung des leiblichen Menschen verdeutlicht, die die große Vernunft des Leibes und die kleine Vernunft als Werkzeug des Leibes voneinander absetzt.26 Eine Methode des leiblichen, philosophischen Denkens ist in den letzten Jahrzehnten von dem Chicagoer Philosophen Eugene Gendlin, dem Begründer der Focusing-Methode, entwickelt worden.27 Zusammen mit Mary Hendricks hat Gendlin auf der Grundlage von Focusing »Thinking at the Edge«, eine philosophische Denkweise entwickelt, die in einem leiblich gespürten Sinn eine Quelle hat.28 Es geht darum, einen besseren Zugang zu dieser Quelle der philosophischen Kreativität zu erlangen. Kreative Philosophen wissen das ohnehin unbewusst oder bewusst. Hannah Arendt beim Denken, liegend auf der Couch ihrer Wohnung in New York in dem Film von Margarethe von Trotta, versinnbildlicht die Aktivtät des langsamen Denkens, des In-sich-Hineinspürens »wo noch Worte fehlen«, das Erforschen des Unklaren.29 Nietzsche meinte diese Art des philosophischen Denkens, als er schrieb: »Ich habe meine Schriften jederzeit mit meinem ganzen Leib und Leben geschrieben: ich weiß nicht, was rein geistige Probleme sind.«30 Man hat also eine Philosophie im Leib, bevor man eine Theorie aus ihr macht, wie Stegmaier, ein Interpret Nietzsches, es formuliert.31 Unsere Leiber beinhalten gelebte Erfahrungen und sind zugleich die Quelle des individuellen Denkens. Philosophieren ist nicht nur eine Gedächtnisübung, die darin besteht, sich an Konzepte aus dem philosophischen Korpus zu erinnern und sie dann auf irgendeine neue und interessante Weise zusammenzustellen. Abstrakte Konzepte sind im wis25

Hüther, Gerald: Wie Embodiment neurobiologisch erklärt werden kann. In: Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Hg. v. Maja Storch, Benita Cantieni, Gerald Hüther u. Wolfgang Tschacher. Bern 2015, S. 73–97, hier S. 77. 26 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In: Kritische Studienausgabe der Werke Nietzsches (KSA), Bd. 4. Hg. v. Mazzino Montinari und Giorgio Colli. Berlin, New York 1980, S. 39. 27 Siehe www.focusing.org (Stand 31.03.2016) 28 Gendlin, Eugene T.: Introduction to »Thinking at the Edge«. In: The Folio: A Journal for Focusing and Experiental Theraphy. 19, 1 (2004), S. 1–8. 29 Gendlin: Introduction to »Thinking at the Edge«, S. 1. 30 Nietzsche, Friedrich: Nachlass, KSA 9, 4[284], S. 170. Weiter zu dieser Thematik, siehe Thorgeirsdottir, Sigridur: Die Philosophie im Leib. In: Zur Philosophie der Orientierung. Hg. v. Benjamin Alberts, Andrea Bertino, Ekaterina Poljakova u. Andreas Rupschus. Berlin 2016, S. 71–82. 31 Stegmaier, Werner: Friedrich Nietzsche zur Einführung. Hamburg 2011, S. 10–11.

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senschaftlichen und objektbezogenen Denken begründet. In dieser Art von Denken wird die leiblich erfahrende und spürende Person »vergessen« oder ausgeklammert. Wir müssen als PhilosophInnen wieder lernen, in frischer Sprache aus unserem Leib seine gelebte Erfahrung und sein Wissen herauszubekommen. Wir haben ja nur uns selbst. Das ist unser Elend und unsere Chance innerhalb der Wissenschaften. Philosophieren besteht darin, die Konzepte eigens zu denken und zu prüfen. Philosophie hat eine Sonderstellung unter den Wissenschaften. Sie bedient sich nicht empirischer Methoden und Erhebungen der Natur- und Sozialwissenschaften. Sie ist auch nicht poetisches Denken, obwohl sie poetische Dimensionen hat. Philosophie ist eine eigene Art des Denkens. In der Antike hat die Philosophie eine Praxis des Denkens kultiviert. Sokrates berief sich auf seine innere Stimme, den inneren Daimon. Wir können das wieder tun mit guten Methoden, die jetzt entwickelt werden. Die leibliche Erfahrung wird keineswegs mit einer völlig neu erfundenen Sprache des Leibes ausgedrückt. Laut Nietzsche tritt die »innere Erfahrung« erst in unser Bewusstsein, nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das Individuum versteht. Zu verstehen bedeutet daher, etwas Neues in der Sprache von etwas Altem ausdrücken zu können. Das will heißen, dass Sprache im Leib implizit ist, so dass eine Verbindung zum inneren Zustand des Leibes eine neue Erörterung oder Formulierung erlaubt. Die innere Erfahrung ist damit die Quelle eines kreativen Umgangs mit der Sprache, die es erlaubt, Erlebnisse auf neuartige Weise auszudrücken. Ein solches Denken hilft den Geschlechtern, sich besser auf ihr eigenes zu besinnen und es philosophisch zu artikulieren. Ein Philosoph und eine Philosophin können nicht als geschlechtsneutrale Subjekte sprechen, (auch nicht, wenn sie sich in einem Geschlecht befinden, das sich weder als männlich noch als weiblich empfindet). Daher schreibt Irigaray als sie mit der Kritik der männlichen Kollegen an ihrem Buch Speculum konfrontiert war: »They could not tolerate that I attempted to think as a living being, that is as a sexuate being. They demanded from me thinking as a neuter, better a neutralizing, living being. Now this is radically impossible! Any thought is sexuate, even if it is not recognized as such, including by the thinker. Only technical or mechanical comments, or even discourses, can be asexuate, but they start from, or apply to, a thought without amounting to thinking. A machine can use a thought, but it cannot think by itself. Unfortunately, many intellectuals stop at a mechanical or imitative stage of the mental functioning. Now, thinking asks for overcoming this phase.«32 32

Irigaray, Luce: Following Nietzsche´s Teaching. In Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation. Hg. v. Helmut Heit u. Sigridur Thorgeirsdottir. Berlin, New York 2016 (im Erscheinen).

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Ein leiblich verankertes Denken ist das individuellste Denken, aber zugleich das vermittelbarste, weil andere Individuen das unverwechselbar Eigene beim Gegenüber immer spüren. Daher ist Nietzsche ein Beispiel für einen Philosophen, der eine große Anziehungskraft ausübt in der Art wie er seine Gedanken sprachlich und stilistisch vermittelt. Dadurch fühlt sich die Leserin auch als unverwechselbares Individuum angesprochen. Es geht hier nicht nur um Bilder, Analogien und dergleichen, was der Intuition entstammt und dem philosophischen Argument gegenüberstellt werden kann. Gewiss verstärkt leibliches Spüren die philosophische Intuiton und verhilft dem eigenen Denken auf die Spur zu kommen und dem zu trauen, was man selbst denkt. Im leiblich fundierten philosophischen Denken geht es vor allem darum, Konzepte und Begriffe zu prüfen und sie in einer lebendigen Sprache zu vermitteln. (Begriffe wie Empathie und Sympathie kann man zum Beispiel wunderbar verspüren und im eigenen leiblichen Empfinden den Unterschied der beiden Begriffe für sich selbst herauskristallisieren.) Das Denken aus dem Leib, das Nietzsche und auch Irigaray durch ihre Texte illustrieren, ist ein Denken, das nicht nur prädiskursiven Erfahrungen entstammt. Als die große Vernunft des Leibes ist leibliches Denken in einem erweiterten Verständnis des relationalen und erdgebundenen Leibes begründet – auch in den Geschlechterdifferenzen, die für jeden anders, je eigen wahrgenommen werden. Es ist ein kreatives Denken, was einen Zugang zu einem inneren Universum eröffnet und damit zu unendlichen Formen der Differenzen.

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Viertes Zwischenspiel

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V. Zur reflexiven Auseinandersetzung mit der Macht der Neurobiologie und ihrer Grenzen

Holm Tetens

Über das Rätselhafte der Selbstreflexion

Das Philosophieren beginnt mit dem Staunen, – so will es zumindest eine unter Philosophen immer noch weit verbreitete Selbststilisierung. Allein, bei vielen philosophischen Texten ist wenig davon zu spüren, dass die Autoren über den jeweiligen Gegenstand ihres Nachdenkens wirklich erstaunt sind und sich zutiefst wundern. Selbst bei einem Sachverhalt hat man nicht den Eindruck, dass wir Philosophen uns über ihn (noch) ernsthaft wundern, vielleicht deshalb, weil jedem von uns dieser Sachverhalt scheinbar so vertraut, so selbstverständlich ist. Ich rede von dem Tatbestand, den jeder von uns nur vom eigenen Fall kennt: Ich bin ein Teil der materiellen Welt und zugleich ein erlebnisfähiges und selbstreflexives Ich-Subjekt. In den nachfolgenden Überlegungen möchte ich erneut vor Augen führen, wie rätselhaft es ist, dass wir selbstreflexive Ich-Subjekte in einer materiellen Welt sind. Das geschieht im ersten Teil. Der zweite Teil argumentiert existenzphilosophisch. Er versucht nachzuzeichnen, wie sich das ungelöste Rätsel der Ich-Subjektivität widerspiegelt in gewissen Eigentümlichkeiten der Selbstreflexion und der Forderung, man selbst zu werden.

1. In der materiellen Welt ein selbstreflexives Ich zu sein Ich beginne mit einer Feststellung, die sich wie Nachhilfeunterricht für Anfänger in Philosophiegeschichte ausnimmt. Doch in Wahrheit zeigt das Proseminarniveau beim Start in die nachfolgenden Überlegungen1 nur, wie wenig wir in der Philosophie der letzten dreihundert Jahre auch nur in der Artikulation des tiefen Rätsels vorangekommen sind, dass und warum wir Ich-Subjekte sind. Die Feststellung besagt, dass wir uns als Teil der materiellen Erfahrungswelt, des physikalischen Universums auffassen. Materielle Dinge und Prozesse gelten, jedenfalls heutzutage, sogar den meisten Philosophen als die ontologisch primäre Realität. Von materiellen Dingen und Prozessen denken wir wie selbstverständlich, dass sie auch dann existierten, wenn das Phänomen des 1

Für die nachfolgenden Ausführungen vgl. auch Kutschera, Franz von: Philosophie des Geistes. Paderborn 2009, besonders Teil 1 Der Charakter des Psychischen, S. 15–62; und Kutschera, Franz von: Drei Formen des Bewusstseins. Münster 2014, S. 15–90.

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Holm Tetens

Bewusstseins und des Selbstbewusstseins nie in der materiellen Welt in Erscheinung getreten wäre. Ich will und werde diese Auffassung überhaupt nicht in Zweifel ziehen. Ich halte sie für wahr. Nur ist klarerweise auch noch etwas anderes wahr, wahr ist auch, dass für mich (wie für jeden anderen von uns) die vermeintlich bewusstseinsunabhängige materielle Realität nicht primär ist, denn sie ist mir niemals epistemisch direkt gegeben und zugänglich. Für mich sind materielle Dinge und Prozesse stets nur Inhalte meiner Wahrnehmungen und meines Denkens. Und aus meinen Bewusstseinsakten, aus meinen Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen kann ich niemals aussteigen, ohne dass ich aufhörte, ich zu sein. Selbst wenn es eine bewusstseinsunabhängige materielle Realität gibt, so ist für mich diese bewusstseinsunabhängige Realität nur real und solange präsent, solange ich denke und zu begründen versuche, dass materielle Dinge und Prozesse auch dann existieren, falls ich oder ein anderer uns nicht bewusst in unseren Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen auf sie beziehen. Die Tatsache, dass jeder von uns unentrinnbar an seine ich-zentrierten Bewusstseinsakte gebunden ist und er ihnen niemals entkommen kann, hat ein Philosoph mit größter Deutlichkeit artikuliert, George Berkeley.2 Ihm zu Ehren dürfen und sollten wir von einer berkeleyschen Struktur der Ich-Subjekte reden. Sie lässt sich erst einmal durch den Satz artikulieren: Für mich gibt es nur das, worauf ich mich bewusst in meinen Wahrnehmungen, Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen und Wünschen beziehe. Allerdings: So formuliert ist der Satz über die berkeleysche Struktur eines Ich-Bewusstseins schon in dem Sinne unvollständig und deshalb sogar als Artikulation der Unentrinnbarkeit des Ich aus seinem Selbstbewusstsein schon tendenziell falsch, als es natürlich auch den Inhalt dieses Satzes für mich nur gibt, weil ich, Holm Tetens, ihn denke (und für wahr halte). Füge ich zum Satz »Für mich gibt es nur das, worauf ich mich bewusst in meinen Wahrnehmungen, Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen und Wünschen bewusst beziehe« hinzu: Ich denke, dass es für mich nur das gibt, worauf ich mich in meinen Wahrnehmungen, Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen und Wünschen bewusst beziehe, so kommt auch diese Ergänzung sofort wieder zu spät, denn ich darf und muss mir dann sagen: Ich denke, dass ich denke, dass es für mich nur … und so weiter. Und jetzt gibt es kein Halten mehr. Die Iteration des »Ich denke, dass…« lässt sich nicht willkürfrei abbrechen. Trotzdem erfasst sie mich als Ich-Subjekt, gefangen in einer berkeleyschen Struktur, niemals vollständig. Ich als Subjekt des Gedankens »Ich denke, dass ich denke, dass ich…, dass p der Fall

2

Vgl. Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Hg. und übersetzt von Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Stuttgart 2005.

Über das Rätselhafte der Selbstreflexion

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ist« bin mir als Objekt meiner Selbstreflexion immer schon einen Schritt voraus. Ich kann mich niemals reflexiv einholen3 und ich bin mir deshalb als Subjekt des gerade sich vollziehenden Denkens nur »implizit inne«, wie Franz von Kutschera terminologisch dazu sagt. Damit mag etwas anderes zusammenhängen, was sehr auffällig ist: Die Iteration des »Ich denke, dass ich denke,…« ist auf merkwürdige Weise inhaltsleer. Immer noch ein weiteres »Ich denke, dass…« voranzustellen, erzeugt keinen neuen substanziellen Gedanken mehr, der für unsere Welt- und Selbsterkenntnis wirklich gewinnbringend wäre. Inhaltlich läuft sich die Iteration irgendwie tot. Manch einer mag jetzt das Gefühl haben, dass solche Überlegungen hart an der Grenze dessen entlangschrammen, was noch sinnvoll gesagt werden kann. Dieses Gefühl täuscht uns nicht. Im Tractatus von Wittgenstein kann man studieren, wie ein sehr kluger Philosoph damit ringt, die berkeleysche Struktur des Ich-Subjekts sprachlich angemessen zu artikulieren. Im Entlangschrammen an den Grenzen sinnvoller Rede erweist sich, – Wittgenstein sagt im Tractatus: »zeigt sich« – das absolut Rätselhafte des Ich-Bewusstseins. Man kann und sollte die Feststellung der berkeleysche Struktur des IchBewusstseins um einen Aspekt ergänzen und damit auf die Spitze treiben. Ich kann mein individuelles Ich-Bewusstsein nicht verlassen. Andere selbstreflexive Mit-Subjekte gibt es für mich nur, insofern ich sie als leibliche Wesen wahrnehme und damit in einem dramatischen Sinne nur »von außen« erfahre, wie wir etwas hilflos mit einer räumlichen Metapher sagen. Jedenfalls weiß ich nicht, wie es jeweils für andere Personen ist, etwas wahrzunehmen, zu denken, sich vorzustellen, zu wollen. Ich weiß nur, wie es für mich ist. Da ich an dieser meiner Unwissenheit über andere Personen nichts ändern kann, bleibt mir kaum etwas anderes übrig, als spontan und wie selbstverständlich zu unterstellen, dass es für andere Menschen cum grano salis genauso ist, wie es für mich ist. Trotzdem kann bei dieser Unterstellung von Wissen keine Rede sein. Bekanntlich hat George Berkeley kontraintuitive – wenigstens für die meisten von uns – Folgerungen aus seiner wichtigen Einsicht und Entdeckung der oben sogenannten solipsistisch-berkeleyschen Struktur von Ich-Subjekten gezogen: Er hat daraus als angeblich zwingend die Nicht-Existenz bewusstseinsunabhängiger Materie und insgesamt eine theistisch-idealistische Ontologie

3

Diesen Tatbestand diagnostiziert Wittgenstein im Tractatus als ein Grundrätsel der Ich-Subjektivität; vgl. dazu meine Interpretation in Tetens, Holm: Wittgensteins »Tractatus«. Ein Kommentar. Stuttgart 2009, Teil IV Das denkende Subjekt und die Welt, S. 82–97.

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gefolgert.4 Seine Folgerungen sind mit Sicherheit nicht deduktiv zwingend, sondern Fehlschlüsse.5 Dass Berkeley sich gedrängt sah, auf eine theistisch-idealistische Ontologie zu schließen, hat allerdings damit zu tun, dass auch Berkeley glaubte darauf reagieren zu müssen, dass wir Menschen eine spontane und tiefsitzende Abneigung gegen die oben sogenannte solipsistisch-berkeleysche Struktur der Ich-Subjektivität als ausschließliche und ganze Wahrheit über uns und unsere Stellung in der Welt hegen. Diese Abneigung speist sich letztlich aus existenziellen und moralischen Wurzeln. Eine Leugnung der materiellen Außenwelt empfinden wir nicht nur als völlig kontraintuitiv, sondern spontan als unerhörten Größenwahn, als Hybris. Spontan ist es uns – man darf hinzufügen: zum Glück – unmöglich, uns als die rein geistigen Konstrukteure und Schöpfer der uns umgebenden und sinnlich zugänglichen Welt zu begreifen. Vielmehr erleben wir uns so, dass wir mit einer Welt konfrontiert sind, die wir nicht kognitiv konstruiert und schon gar nicht zur Gänze technisch geschaffen haben, der wir vielmehr immer wieder machtlos ausgeliefert sind. Auch erleben wir uns ja als einen Teil dieser materiellen Welt, und wir können – außer durch Selbsttötung – unserer Mitgliedschaft in dieser Welt nun einmal nicht entfliehen oder sie schlicht für beendet erklären. In diesem Sinne erfahren wir uns als durch und durch endliche Ich-Subjekte. Neben der Leugnung der materiellen Außenwelt können wir auch die Leugnung anderer Ich-Subjekte kaum anders als eine gefährliche, besser gesagt: gemeingefährliche Verrücktheit ansehen. Wir sind in fast jeder Hinsicht auf unsere Mitmenschen angewiesen, darauf, mit ihnen kooperieren und kommunizieren zu können. Nur in der Interaktion und Kommunikation mit anderen wird jeder von uns überhaupt nur zu einem erlebnisfähigen selbstreflexiven Ich-Subjekt. Zu Recht fürchten wir die völlige Vereinsamung. Wir wissen, dass sie uns auf Dauer geistig zerstört und uns schließlich sogar auch körperlich zugrunde gehen lässt. Jetzt wird das Rätselhafte unserer Ich-Subjektivität immer deutlicher. Uns Menschen zeichnet aus, erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte zu sein. Nun besitzt ein Ich-Subjekt epistemisch eine solipsistisch-berkeleysche Struktur. Zugleich sind wir endliche Ich-Subjekte. Für ein endliches Ich-Subjekt stellt die solipsistisch-berkeleysche Struktur in gewisser Weise eine Unwahr-

4

Vgl. zu Berkeleys Folgerung seines Prinzips des »Immaterialismus« aus seinen erkenntnistheoretischen Analysen der Ich-Subjektivität auch die Einleitung von Wolfgang Breidert zu: Berkeley, George: Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonus. Deutsche Übersetzung von Raoul Richter, in der Bearbeitung von Arend Kulenkampff. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Breidert. Hamburg 2005, S. IX-XLV, besonders S. X f. 5 Vgl. Kutschera, Franz von: Die Wege des Idealismus. Paderborn 2006, S. 56–69.

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heit dar und erzeugt eine strukturelle Lage, die durch eine innere Spannung der beiden folgenden Thesen charakterisiert ist: (A) These von der solipsistisch-berkeleyschen Struktur eines Ich-Subjekts: Für mich gibt es nur mich und das, worauf ich mich in meiner Ich-Perspektive wahrnehmend, denkend, wollend, fühlend intentional bewusst beziehe. (B) These von der objektiven gemeinsamen Erfahrungswelt und der Realität des Fremdpsychischen: Es gibt aber nicht nur mich und das, worauf ich mich in meiner Ich-Perspektive intentional bewusst beziehe. Unabhängig von meinen Akten der Bezugnahme existiert die materielle Erfahrungswelt einschließlich der anderen Menschen, die Ich-Subjekte sind, wie ich eines bin, und beides geht weit über das hinaus, was mir in den Details inhaltlich selber jemals bewusst werden könnte. Das Problem mit den beiden Sätzen ist nicht, dass sie sich widersprechen würden. Sie sind erst einmal so formuliert, dass sie logisch-begrifflich miteinander verträglich sind und beide wahr sein können. Und doch stehen sie in einer eigentümlichen Spannung zueinander, eine Spannung freilich, die sich nur sehr schwer angemessen artikulieren lässt. Man könnte es versuchsweise mit der folgenden Überlegung probieren: Wenn ich beide Sätze betrachte und über ihre Wahrheit nachdenke, nehme ich gewissermaßen einen objektiven Standpunkt jenseits meiner privaten Ich-Perspektive ein, die im Satz (A) beschrieben wird. Ich vergesse gewissermaßen kurzfristig, dass ich es bin, der das über die Welt sagt, und dass ich es aus meiner subjektiven, für mich unentrinnbaren Perspektive sage. Mit Satz (A) holen wir, ohne dass man ihm das unmittelbar sofort ansieht, diesen vermeintlich objektiven, nicht-subjektiven Standpunkt wieder zurück in die Tatsache, dass auch eine vermeintlich objektive Perspektive, wie sie sich in Satz (B) artikuliert, in Wahrheit nur eine Variante der für mich unentrinnbaren, subjektiven Ich-Perspektive ist und bleibt, genauso wie es Satz (A) formuliert. Versuchsweise noch etwas anders ausgedrückt – philosophische Rätsel lassen sich sprachlich nur umkreisen, aber nicht begrifflich präzise einfangen und dingfest machen: Ich kann, ja ich muss Satz (B) schon um meiner geistigen und moralischen Gesundheit und Integrität willen für wahr halten, aber um ihn für wahr zu halten, kann ich auf nichts verweisen, das nicht bereits in dem Augenblick, wo ich darauf verweise, zu etwas wird, das nicht mehr unter den Satz (B), sondern unter den Satz (A) fällt. Immer wieder sehe ich mich auf mich selbst und meine Bewusstseinsinhalte zurückgeworfen. Das ist die unentrinnbare solipsistisch-berkeleysche Struktur eines Ich-Subjekts.6 6

Deshalb sind am Ende alle Versuche gescheitert, die Existenz der Außenwelt und die des Fremdpsychischen zu beweisen.

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Holm Tetens

Noch einmal etwas anders ausgedrückt: Die beiden Sätze von der Objektivität der gemeinsamen Erfahrungswelt und der solipsistisch-berkeleyschen Struktur der Ich-Subjekte scheinen zunächst einmal gut miteinander verträglich zu sein. Aber wende ich selbst sie auf ihr Verhältnis zueinander an, scheinen sie sich doch irgendwie zu widersprechen. Es ist eine Art von performativem Widerspruch in der Selbstanwendung, aus dem aber niemand schließen kann und will, dass mindestens einer der Sätze falsch ist. Spätestens hier dürfte allmählich klar werden, womit wir uns in den vorgetragenen Überlegungen herumschlagen, nämlich einem zentralen Aspekt des Körper-Geist-Problems. Jede Lösung des Körper-Geist-Problems, insbesondere jede naturalistische Lösung des Körper-Geist-Problems müsste eigentlich diese eigentümliche Spannung, zwischen der Feststellung (A) der solipsistischberkeleyschen Struktur eines Ich-Subjekts und der Feststellung (B) der objektiven gemeinsamen Erfahrungswelt und der Realität des Fremdpsychischen befriedigend auflösen und zum Verschwinden bringen. Jedoch ist nicht zu sehen, wie das gehen könnte. Bezeichnenderweise ist das Körper-Geist-Problem bis heute völlig ungelöst. Das Körper-Geist-Problem ist – so will mir scheinen – in Wahrheit das größte philosophische Rätsel (auch) unserer Zeit. Zur Lösung dieses Rätsels habe ich nichts beizusteuern. Ich habe nur die Möglichkeit ausprobiert, das komplett Rätselhafte an der Körper-Geist-Beziehung durch die Feststellung zum Vorschein zu bringen, dass es uns einfach nicht gelingen will, die Unentrinnbarkeit, den Primat der Ich-Perspektive zugunsten einer anderen Perspektive, die in irgendeiner Form eine Nicht-IchPerspektive, eine transsubjektive Perspektive sein müsste, in kohärenter Weise aufzuheben. In den vielen Ansätzen und Versuchen, dem Geheimnis der Ich-Subjektivität doch noch auf die Schliche zu kommen, drückt sich die unaufhebbare Spannung zwischen der Unentrinnbarkeit der solipsistisch-berkeleyschen Struktur eines Ich-Subjekts und einer vermeintlich transsubjektiven Perspektive auf die Welt und die anderen Menschen unterschiedlich aus. Man nehme etwa die naturalistischen Versuche, das Ich-Bewusstsein auf neuronale Prozesse zurückzuführen. Wissenschaftstheoretisch lässt sich schnell einsehen, dass die Hirnforschung von ihren methodischen Prinzipien her nicht mehr liefern kann als Korrelationsbehauptungen zwischen mentalen und neuronalen Ereignissen und Prozessen. Und bei diesen Korrelationen, die ja Feststellungen aus der intersubjektiven »Außenperspektive« auf das Mentale zu sein beanspruchen, macht sich die Unentrinnbarkeit der Ich-Perspektive, macht sich deren solipsistisch-berkeleysche Struktur sofort daran bemerkbar, dass diese Korrelationen letztlich nur durch Selbstauskünfte der neurowissenschaftlich untersuchten Versuchspersonen verifiziert werden können. Das ist anders als bei allen anderen Korrelationen, die in der Wissenschaft untersucht werden. Und

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diese Tatsache schränkt die Erklärungskraft der Korrelationen von vornherein enorm ein, ja droht sie zirkulär werden zu lassen, weil für die Verifikation der Korrelationsbehauptungen das schon in vollem Umfang in Anspruch genommen werden muss, was gerade mit ihnen erst erklärt und verobjektiviert werden soll, nämlich das rätselhafte Phänomen des Ich-Bewusstseins. Dieselbe Sachlage kommt auch auf der sprachlichen Ebene zum Vorschein. In der Verifikation von Korrelationsbehauptungen müssen Versuchspersonen Sätze mit dem indexikalischen Personalpronomen »ich« formulieren, und diese Ich-Sätze sind niemals bedeutungsgleich mit Sätzen, in denen keine indexikalischen Ausdrücke auftreten. Die von Sprachphilosophen hinreichend analysierte Unreduzierbarkeit indexikalischer Ausdrücke auf nicht-indexikalische Ausdrücke7 ist nur ein linguistisch-semantischer Widerschein der solipsistisch-berkeleyschen Struktur eines Ich-Subjekts und der mit ihr gegebenen eigentümlichen Spannung zwischen den Sätzen (A) und (B). Diese Andeutungen müssen genügen. Ich will nicht das metaphysische Körper-Geist-Problem weiter erörtern. Ich wollte nur in Erinnerung rufen, dass dieses Problem ungelöst ist, und das Rätselhafte des Körper-Geist-Problems sollte zurückgeführt werden auf die Spannung zwischen der solipsistisch-berkeleyschen Struktur menschlicher Ich-Subjekte und ihrer Endlichkeit.

2. In der materiellen Welt ein Ich werden Der zweiten Teil will das Rätselhafte an einem Ich-Subjekt weiter ausbuchstabieren und aus einer Sichtweise beleuchten, die innerhalb der Philosophie in der Regel solche Denker einnehmen, die sich sehr wenig oder gar nicht um das metaphysische Körper-Geist-Problem kümmern, nämlich die Existenzphilosophen. Es sollen jetzt einige existenzphilosophische Konsequenzen der solipsistisch-berkeleyschen Struktur der Ich-Subjektivität und damit der Rätselhaftigkeit der Ich-Subjektivität zur Sprache kommen. Genauer soll das Phänomen der Selbstreflexion und die mit ihm eng verbundene und weit verbreitete existenzphilosophische Rede, dass jeder von uns er selbst werden muss und soll, thematisiert werden. Die bisherigen Überlegungen haben die Ich-Subjektivität vor allem durch eine gar nicht leicht zu artikulierende strukturelle Spannung zwischen der oben formulierten These A von der solipsistisch-berkeleyschen Struktur eines Ich-Subjekts und der These B von der objektiven gemeinsamen Erfahrungswelt 7

Einen guten Überblick über die Diskussion zur Nichtreduzierbarkeit indexikalischer Ausdrücke auf nicht-indexikalische gibt Kutschera: Philosophie des Geistes, S. 100–108.

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Holm Tetens

und der Realität des Fremdpsychischen charakterisiert. Diese beiden Sätze beschreiben theoretisch zwei miteinander verknüpfte grundlegende Tatbestände, für die es sich als sehr schwer erweist, wirklich zu verstehen, dass und wie sie miteinander zu vereinbaren sind. Doch man muss die beiden Sätze auch ins Praktische wenden. Wir beginnen mit der These (A) über die solipsistisch-berkeleysche Struktur eines Ich-Subjekts. Sie hat eine Konsequenz, die uns aus der Existenzphilosophie wohlvertraut ist. Ganz allgemein lässt sie sich so formulieren: Mit der Selbstbewusstwerdung verwandelt sich das bloße Dasein des Menschen in der Welt in eine Aufgabe. Betrachten wir das etwas genauer. Irgendwann wird sich jeder von uns das erste Mal seiner selbst bewusst. Unser Ich-Bewusstsein erwacht, was immer diesem Erwachen ursächlich zugrunde liegen mag. Denkend entdecken wir uns dann zum ersten Mal als erlebnisfähige und selbstreflexive Ich-Subjekte. Und das heißt unter anderem, dass wir die solipsistisch-berkeleysche Struktur auf die eine oder andere Weise erkennen. Sobald wir jedoch diesen Gedanken erst einmal gefasst haben, verändert sich etwas dramatisch in unserem Leben. In der Reflexion auf uns selbst distanzieren wir uns von der Welt, genauer: von uns und unserer Stellung in der Welt, und wir distanzieren uns von den anderen und sehen uns allein auf uns selbst zurückgeworfen. In dieser Distanzierung hört unser In-der-Welt-Sein8 auf, eine selbstverständliche und problemlose Tatsache zu sein. Eine naives und selbstvergessenes In-der-Welt-Sein und eine selbstverständliche Begegnung mit den anderen in der Welt sind zerbrochen, sobald das Ich-Bewusstsein mit seiner unentrinnbar solipsistisch-berkeleyschen Struktur einmal erwacht ist und solange es fortdauert. Unser Zusammenhang mit der Welt und mit den anderen muss jetzt erst wieder denkend und nachdenkend zurückerobert und hergestellt werden. Und er muss von uns selbst hergestellt werden. Das In-der-Welt-Sein ist jetzt eine Aufgabe, deren Lösung sich aus der bloßen Tatsache, dass wir da sind, nicht von selbst ergibt. Wir selbst sind es, die aus der bloßen Tatsache unseres Daseins in der Welt erst noch etwas machen müssen. Die Existenzphilosophen haben an dieser Stelle ihrer Reflexion auf die Strukturbedingungen des menschlichen Lebens den Begriff der »menschlichen Existenz« ins Spiel gebracht.9 Der existenzphilosophische Ausdruck »Existenz« verweist auf die Aufgabe, dass jeder von uns aus der bloßen Tatsache seines Daseins erst noch etwas machen muss, dass er es selbst machen muss, dass niemand ihm das in letzter Instanz und Konsequenz abnehmen kann, dass ihn 8

Ich übernehme hier Heideggers berühmte Formulierung aus Sein und Zeit. Vgl. Bollnow, Otto F.: Existenzphilosophie. Stuttgart 41955; immer noch eine der besten Einführungen in die Existenzphilosophie. Zum Existenzbegriff vgl. insbesondere S. 25. 9

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niemand dabei vertreten kann und dass jeder erst bei dem Versuch, selbst etwas aus der bloßen Tatsache seines Daseins zu machen, zu dem Selbst wird, das er dann ist und im besten Falle auch sein will. Halten wir das wieder kurz als These fest: (C) Existenzthese: Du musst du selbst werden, du selbst musst (selbstbewusst) etwas aus deinem bloßen Dasein in der Welt machen, und niemand und nichts kann in letzter Konsequenz dir diese Aufgabe abnehmen. Du bist ganz auf dich selbst zurückgeworfen. Die Existenzthese formuliert etwas, dem sich ein seiner selbst bewusst gewordenes Subjekt, eben ein Ich-Subjekt niemals wirklich entziehen kann. Aber aus unserem Satz (A), der die solipsistisch-berkeleysche Struktur unseres Ich-Bewusstseins beschreibt, folgt noch etwas anderes. Die Forderung, man selbst zu sein, ist auf eine irritierende Weise inhaltsleer. Dass ich selbst es bin, der ich mein Leben zu gestalten suche und will, verbindet sich nicht von sich aus mit Inhalten der Lebensführung und Lebensgestaltung. Diese Inhaltsleerheit der Forderung nach selbstbewusster Gestaltung des eigenen Lebens entspricht dem schon festgestellten Tatbestand, dass die Iteration des »Ich denke, dass ich denke, dass ich …, dass p der Fall ist« keine neuen, weiteren Erkenntnisgewinn bringende Inhalte erzeugt. Insofern folgt die irritierende Inhaltsleerheit der existenzphilosophischen Aufforderung, man selbst zu werden, aus der solipsistisch-berkeleyschen Struktur eines Ich-Bewusstseins. Noch etwas anderes folgt aus dieser Struktur. Letzten Endes kann ich für die Gestaltung meines Lebens nur auf das zurückgreifen, was mir plausibel, angemessen, wahr, richtig erscheint. Das trägt ein unaufhebbares Moment von dezisionistischer Subjektivität, von subjektiver Willkür in die Forderung hinein, selbst über sein eigenes Leben zu entscheiden. Dieses Moment subjektiver Willkür ist unvermeidlich, weil kein Ich-Subjekt jemals aus seiner Ich-Perspektive herauskommt und sie verlassen kann. Spätestens an dieser Stelle kommt nun auch der zweite Satz (B) von der objektiven gemeinsamen Erfahrungswelt und der Realität des Fremdpsychischen aus dem ersten Teil unserer Überlegungen ins Spiel. Wir sind – »immer schon«, wie Existenzphilosophen gerne an dieser Stelle sagen – in der Welt mit anderen. Diese Welt und die anderen können wir uns nicht beliebig zurechtlegen. Die Welt hat objektive Eigenschaften, wie Satz (B) sagt. Das gilt, wenn auch nicht in gleichem Maße, auch für unsere Mitmenschen, für ihre Bedürfnisse, ihre Rechte und Pflichten. Über diese objektive Seite unseres Daseins in der Welt kann und soll sich niemand einfach hinwegsetzen, will er sein Leben selbst gestalten. Insofern müssen wir auf unser Dasein in der Welt eine nichtsubjektive, eine transsubjektive Perspektive einnehmen, im Prinzip dieselbe Perspektive, die auch dem Satz (B) über die objektive gemeinsame Erfahrungs-

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welt und die Realität des Fremdpsychischen zugrunde liegt. Insofern kommt zur Existenzthese ein Satz hinzu, der dem Satz (B) über die objektive gemeinsame Erfahrungswelt entspricht. Er lässt sich folgendermaßen formulieren: (D) These über die vernünftige Gestaltung des eigenen Lebens: Wir müssen in unserem Leben der objektiv gegebenen Welt und den anderen Menschen gerecht werden. Nach unseren Überlegungen aus dem ersten Teil besteht das Rätselhafte unserer Existenz als endliche Ich-Subjekte in einem schwer zu fassenden Widerstreit der These (A) von der solipsistisch-berkeleyschen Struktur der Ich-Subjekte mit der These (B) von der objektiven gemeinsamen Erfahrungswelt und der Realität des Fremdpsychischen. Gibt es einen vergleichbaren Widerstreit zwischen unseren neuen Sätzen, der Existenzthese und der These über die vernünftige Gestaltung des eigenen Lebens? Der Satz über die solipsistisch-berkeleysche Struktur des Ich-Subjekts und der Satz über die objektive gemeinsame Erfahrungswelt widerstreiten einander mit Blick auf ihre Verifikation in der Selbstanwendung. Die Existenzthese und die These über die vernünftige Gestaltung des eigenen Lebens widerstreiten einander, weil sich die in ihnen formulierten Anforderungen in gewisser Weise nicht beide und schon gar nicht gleichzeitig erfüllen lassen. Wir sind vielmehr mit begrifflich gegensätzlichen Anforderungen konfrontiert. Begrifflich gegensätzliche Anforderungen lassen sich niemals gleichzeitig und niemals durch ein und dieselben Handlungsvollzüge realisieren. Sie müssen nacheinander und im Wechsel vollzogen werden. Und man muss dabei aufpassen, im praktischen Vollzug der einen Anforderung nicht so weit zu gehen, dass es einem unmöglich wird, anschließend die begrifflich gegensätzliche Anforderung überhaupt noch zu ihrem Recht kommen zu lassen. Wir haben es also mit einem hochsensiblen Fließgleichgewicht zwischen begrifflich gegensätzlichen Aufgaben zu tun, bei dem wir immer in der Gefahr stehen, es zu zerstören und einseitig in ein Extrem abzustürzen. Man darf auch von einer dialektischen Aufgabenstruktur sprechen, vor der sich jedes Ich-Subjekt gestellt sieht. Kierkegaard hat das, etwa in seiner Schrift Die Krankheit zum Tode, meisterhaft analysiert. Karl Jaspers spricht mit Blick auf diesen Sachverhalte sogar, durchaus treffend, von einer »antinomischen« Struktur des menschlichen Daseins.10 Zwei Beispiele sollen das kurz erläutern. Das erste Beispiel betrifft direkt die Selbstreflexion als Selbstbewusstwerdung. Ich kann mir meiner selbst nur bewusst werden, indem ich mich von der Welt distanziere. Und in der radikalen Selbstreflexion kann diese Welt10

Vgl. Jaspers, Karl: Psychologie der philosophischen Weltanschauungen. Berlin ³1925, besonders S. 232 ff.

Über das Rätselhafte der Selbstreflexion

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distanzierung bis zur Weltlosigkeit illusionär übersteigert werden. Aber natürlich bin ich ein Teil der Welt und bleibe an sie gebunden. Gleichwohl darf ich im Gegenzug zur Weltdistanzierung meine Weltbindung wiederum nicht in das Extrem steigern, völlig als ein Teil der Welt auf- und in ihr gewissermaßen unterschiedslos unterzugehen. Dann würde ich aufhören, ich selbst zu sein. Selbstbewusstes menschliches Leben muss hin- und herpendeln zwischen Weltbezugnahme und Selbstbezugnahme und daher zwischen Weltbindung des Ich auf der einen Seite, seiner Weltdistanzierung, ja Weltlosigkeit auf der anderen Seite. Ein zweites Beispiel. Es verdankt sich direkt Kierkegaard. 11 Wer lebt, schließt immer Möglichkeiten aus, bestimmte sogar unwiederbringlich für sein weiteres Leben. Doch wie ließe sich im Ernst ohne einen Horizont von immer noch neuen und anderen Möglichkeiten leben, die ich selber ergreifen oder ausschlagen kann, soll ich es doch selbst sein, der sein Leben gestaltet, wie es die Existenzthese besagt und verlangt? Mit Blick auf die Möglichkeiten drohen wir in zwei gegensätzliche Extreme abzustürzen. Allzu groß ist die Verlockung, in illusionärer Weise auf allen Hochzeiten tanzen, sich niemals festlegen zu wollen. So ein Möglichkeitsillusionist wird zum »Phantasten«, wie Kierkegaard dazu sagt. Nach Kierkegaard will der Phantast verzweifelt nicht er selbst sein, er will sich nicht als jemanden akzeptieren, dem nicht alles möglich ist. Doch ebenso droht auch das gegenteilige Extrem. Hält sich jemand für keine Möglichkeiten mehr bereit, begreift sich nur noch als festgelegt und unveränderbar, ist er zum starren, ja leblosen »Dogmatiker« oder »Fatalisten« (Kierkegaard) geworden. Auch der Dogmatiker und Fatalist verfehlt sein Leben. Auch er will verzweifelt nicht er selbst sein, will sich nicht als jemand akzeptieren, der immer noch Möglichkeiten hat, selbst etwas aus sich und seinem Leben zu machen. Den zwei Beispielen könnte man viele andere folgen lassen. Aber schon unsere beiden Beispiele illustrieren und enthüllen, wenn sie zutreffen sollten, die tiefe Ambivalenz unserer Konstitution als Ich-Subjekte durch Selbstreflexion. Selbstbewusst sein eigenes Leben vernünftig zu gestalten und in die eigenen Hände zu nehmen, gilt als durchweg positiv und erstrebenswert. Aber in Wahrheit haben die Selbstreflexion und die Konstitution unseres Ich-SubjektSeins durch Selbstreflexion unentrinnbar dunkle Seiten. Vier dunkle Seiten haben die voranstehenden Überlegungen identifiziert: • Am existenziellen Grund der Selbstreflexion mit der Unmöglichkeit, mich durch irgendjemanden beim Ich-Selbst-Werden vertreten zu lassen, droht immer auch die Einsamkeit und ein Weltverlust.

11

Vgl. für die nachfolgenden Überlegungen Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode. Übersetzt von Hans Rochol. Hamburg 2005, besonders S. 33–40.

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Holm Tetens

• Am existenziellen Grund der Selbstreflexion droht eine irritierende und beunruhigende Inhaltslosigkeit, das glatte Gegenteil von einem uns und unsere Existenz tragenden Grund. • Am existenziellen Grund der Selbstreflexion droht immer ein Moment von subjektiver Willkür, von Unvernunft und asozialer Idiosynkrasie. • Am existenziellen Grunde der Selbstreflexion und der Selbstgestaltung meines eigenen Lebens droht immer auch die tragische Vergeblichkeit, eine überzeugende und lebenstragende Synthese begrifflich gegensätzlicher Anforderungen auch nur für einen kurzen Augenblick aufrechtzuerhalten. Es waren die Existenzphilosophen, die schon immer die tragische, die dunkle, die traurige Seite menschlicher Existenz betont haben. Ich habe dem nur einen metaphysischen Akzent hinzugefügt: Diese dunklen Seiten verdanken sich in letzter Konsequenz dem Umstand, dass, metaphysisch betrachtet, es dramatisch rätselhaft ist und bleibt, wie wir überhaupt selbstreflexive Ich-Subjekte in einer physischen Welt sein können. George Steiner hat vor einiger Zeit zehn Gründe aufgeführt, warum Denken traurig macht.12 Muss das Nachdenken über uns selbst und unsere Selbstreflexivität uns traurig machen? So weit müssen wir vielleicht nicht gehen, trotz der sich aufdrängenden dunklen Seiten der Selbstreflexion. Aber wundern über die Tatsache, dass wir über uns nachdenken können und zugleich auch unentrinnbar nachdenken müssen, sollten wir uns schon. Muss man die voranstehenden Überlegungen nicht in dem Satz zusammenfassen, dass das selbstbewusste Ich sich nicht selbst zu tragen vermag, sondern auf einen tragenden Grund angewiesen ist und nach einem solchen tragenden Grund suchen muss, der sich zugleich vor unserem Nachdenken verbirgt? Die empirische Erfahrungswelt jedenfalls ist nicht dieser tragende Grund. Welcher Grund ist es dann, der uns selbst und unser selbstbewusst vollzogenes Leben trägt?

12

Vgl. Steiner, George: Warum Denken traurig macht. Frankfurt am Main 2006.

Dirk Baecker

Neurophysiologie und die Folgen

1. Der Paradigmentransfer war eine Einbahnstraße. Kaum eine Idee hat die Entwicklung der allgemeinen Systemtheorie und der soziologischen Systemtheorie seit den 1970er Jahren mehr befördert als der Versuch, den Gedanken der operationalen Schließung des Gehirns nicht nur für das Gehirn, sondern auch für andere kognitive Systeme, insbesondere die Zelle, den Organismus, das Bewusstsein und die Gesellschaft, ernst zu nehmen. Die Kybernetik zweiter Ordnung im Rahmen der allgemeinen Systemtheorie mit ihrer Umstellung auf die Konzepte der Beobachtung zweiter Ordnung und der Polykontexturalität,1 das biologische Konzept der Autopoiesis der Zellen, des Immun- und des Nervensystems2 sowie die Theorie selbstreferentieller sozialer Systeme3 inklusive einiger Ansätze zu einer Theorie des Bewusstseins4 und der Versuche, die Ideen der Schließung, Autopoiesis und Selbstreferenz für soziale Systeme wie 1

Siehe Foerster, Heinz von: Observing Systems. Seaside, 1981; ders.: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Hg. v. Siegfried. J. Schmidt. Frankfurt am Main 1993; ders.: KybernEthik. Berlin 1993; ders.: Understanding Understanding. Essays on Cybernetics and Cognition. New York 2003; Gotthard, Günther: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. 3 Bde. Hamburg 1976, 1979 und 1980. 2 Siehe Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J.: Autopoiesis and Cognition. Dordrecht 1980; dies.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern 1987; Zeleny, Milan (Hg.): Autopoiesis. A Theory of Living Organizations. New York 1981; Maturana, Humberto R.: Biologie der Realität. Frankfurt am Main 2000; Varela, Francisco J.: Principles of Biological Autonomy. New York 1979; ders.: Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik. Eine Skizze aktueller Perspektiven. Frankfurt am Main 1990; ders.: Ethisches Können. Frankfurt am Main 1994; ders./Coutinho, Antonio/Dupire, Bruno/Vaz, Nelson N.: Cognitive Networks: Immune, Neural, and Otherwise. In: Theoretical Immunology, Bd. 2. Hg. v. Alan S. Perelson. Redwood City 1988, S. 359–375. 3 Siehe Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984; ders.: Probleme mit operativer Schließung. In: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Hg. v. Niklas Luhmann. Opladen 1995, S. 12–24. 4 Siehe Luhmann, Niklas: Die Autopoiesis des Bewusstseins. In: Soziale Welt 36, 4 (1985), S. 402–446; ders.: Wie ist das Bewusstsein an Kommunikation beteiligt? In: Materialität der Kommunikation. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt am Main 1988, S. 884–905.

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die Liebe, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kunst, die Massenmedien, das Recht, die Religion, die Politik, die Erziehung und die Organisation theoretisch zu überprüfen und empirisch fruchtbar zu machen,5 sind das Ergebnis dieses Paradigmentransfers. Weit davon entfernt, bloße Analogieschlüsse vorzunehmen, wurden über den Umweg über die allgemeine Systemtheorie Entdeckungen der Neurophysiologie aufgegriffen und wurde überprüft, mithilfe welcher Annahmen, begrifflichen Umstellungen und theoriegeleiteten Problemstellungen die Idee der operationalen Schließung auch für Zelle, Organismus, Bewusstsein und Gesellschaft erprobt werden konnte. Aber das war’s. An dieser Stelle blieb der Transfer stecken. Weder kam es zu einer Befruchtung der biologischen durch die soziologische Forschung6 noch der allgemeinen Systemtheorie durch die Theorie sozialer Systeme7, geschweige denn zu einer Wiederaufnahme der Ergebnisse der systemtheoretischen Diskussion in der Neurobiologie und Neurophilosophie.8 Bedauern muss man dies aus einem inhaltlichen und einem wissenschaftspolitischen Grund. Der inhaltliche Grund besteht darin, dass die Ergebnisse der Theorie sozialer Systeme auf der Ebene einer Beschreibung des Zusammenhangs von Kommunikation (doppelte Kontingenz), Struktur (Zerfall und Wiederaufbau), Zeit (Temporalisierung der Systemelemente zu Ereignissen), Form (Zweiseitenform der Unterscheidung) und Negation (Negation als Implikation) auch für eine physiologische und biologische Forschung hätten 5

Siehe Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main 1982; ders.: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1988; ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1990; ders.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995; ders.: Die Realität der Massenmedien. Opladen ²1996; ders.: Die Religion der Gesellschaft. Hg. v. André Kieserling. Frankfurt am Main 2000; ders.: Die Politik der Gesellschaft. Hg. v. André Kieserling. Frankfurt am Main 2000; ders.: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hg. v. Dieter Lenzen. Frankfurt am Main 2002; ders.: Organisation und Entscheidung. Opladen 2000. 6 Siehe zur Diskussion Simon, Fritz B. (Hg.): Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Heidelberg 1988. 7 Siehe Watzlawick, Paul/Krieg, Peter (Hg.): Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz von Foerster. München 1991; Luhmann, Niklas/ Maturana, Humberto/Namiki, Mikio/Redder, Volker/Varela, Francisco: Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien? München 1990. 8 Zu überprüfen bei Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt am Main 1997; ders.: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt am Main 2003; Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt am Main 2002; ders.: Vom Gehirn zum Bewusstsein. Frankfurt am Main 2006; siehe mit entsprechenden Hinweisen auch Gehring, Petra: Es blinkt, es denkt. Die bildgebenden und weltbildgebenden Verfahren der Neurowissenschaft. In: Philosophische Rundschau 51, 4 (2004), S. 273–295.

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interessant sein können, die über grundsätzlich anschlussfähige Konzepte wie die Irritabilität neuronaler Aktivitäten und die Plastizität anatomischer Strukturen verfügte und mit dem Konzept der Homöostase, der Stabilisierung innerer Umwelten zur Auseinandersetzung über äußere Umwelten,9 auch den Maßstab formulierte, an dem jede Art von Systemgenese und Systemreproduktion gemessen werden konnte. Und der wissenschaftspolitische Grund besteht darin, dass die Rezeption neurophysiologischer Ideen in der allgemeinen sowie biologischen und soziologischen Systemtheorie das Potential zur Grundlegung einer allgemeinen Kognitionswissenschaft, zu einer Theorie selbstreferentieller kognitiver Systeme gehabt hätte, zu der es jedoch nicht kam, weil Streitigkeiten zwischen den beteiligten Theorien und Theoretikern den Blick auf gemeinsame Ausgangspunkte verstellten. Mich interessiert im Folgenden jedoch weniger die Frage, warum diese inhaltlichen und wissenschaftspolitischen Chancen verpasst wurden (so interessant dies wissenschaftshistorisch ist), als vielmehr die Frage, ob es neuere Erkenntnisse oder auch nur neuere Akzentsetzungen gibt, die Aussicht darauf bieten, die festgestellten Rezeptionsblockaden zu überwinden. Und hier interessiert mich insbesondere, ob man sich einen soziologischen Beitrag zu einer Theorie des Gehirns vorstellen kann, der (a) dabei hilft, den Gedanken der operationalen Schließung auch in der Neurophysiologie ernster zu nehmen, als dies vielfach geschieht und (b) diesen Gedanken der operationalen Schließung auf eine Art und Weise zu interpretieren, die sich auch für organische, psychische, soziale und eines Tages möglicherweise technische Systeme bewährt und deutlich macht, ob und wie die beiden einander scheinbar ausschließenden Sachverhalte der (operationalen) Schließung und (observationalen) Öffnung selbstreferentieller Systeme miteinander vereinbart werden können. Denn das ist wohl die entscheidende Denkblockade. So sehr Johannes Müller dafür gefeiert wird, dass er mit seinem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien: »Die Sinnesempfindung ist nicht die Leitung einer Qualität oder eines Zustandes der äusseren Körper zum Bewusstsein, sondern die Leitung einer Qualität, eines Zustandes eines Sehnerven zum Bewusstsein, veranlasst durch eine äussere Ursache, und diese Qualitäten sind in den verschiedenen Sinnesnerven verschieden, die Sinnesenergien.«10

9

Siehe Cannon, Walter B.: Organization for Physiological Homeostasis. In: Physiological Reviews 9, 3 (1929), S. 399–431; Ashby, W. Ross: Design for a Brain. The Origin of Adaptive Behavior. New York 21960. 10 So Müller, Johannes: Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, Bd. 2. Coblenz 1833–1840, S. 254.

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ein Konzept formuliert hat, dass den anatomischen Aufbau des Gehirns und seine funktionellen Leistungen aufeinander bezog, ohne das eine mit dem anderen zu verwechseln.11 So häufig dieses Gesetz in neueren Lehrbüchern einleitend auch immer wieder zitiert wird,12 so wenig konnte es sich als Paradigma der Neurophysiologie in der Hirnforschung durchsetzen. Auch Heinz von Foersters Wiederaufnahme und Reformulierung dieses Gesetzes als Prinzip der undifferenzierten Codierung: »Die Erregungszustände einer Nervenzelle kodieren nur die Intensität, aber nicht die Natur der Erregungsursache (kodiert wird nur: ›So-und-so-viel an dieser Stelle meines Körpers‹, aber nicht was).«13 konnte nichts dagegen ausrichten, dass der »gesunde Menschenverstand« mit allen seinen Sinnen gegen die Erkenntnis dieser Geschlossenheit rebelliert. Immerhin ist das Bewusstsein, wie Luhmann vermutet, nichts anderes als eine evolutionäre Erfindung zur Löschung von Informationen über den Ort (das Nervensystem), an dem Wahrnehmung tatsächlich stattfindet.14 Die autoepistemische Limitation unseres Bewusstseins, das heißt die Unmöglichkeit des Bewusstseins, die ihm zugrundeliegenden neuronalen Zustände des Gehirns zu erkennen,15 bewirkt zuverlässig, dass wissenschaftliche Erkenntnisse ebenso wie die faktische Evidenz des in seinem Schädel eingeschlossenen Gehirns zugunsten der Annahme diskontiert werden, dass unsere Augen, Ohren, Zungen, Nasen und Tastsinne Öffnungen zu einer Außenwelt sind, die dazu dienen, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Man will es sich nicht vorstellen, dass wir nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn sehen, nicht mit den Ohren, sondern mit dem Gehirn hören, nicht mit der Zunge, sondern mit dem Gehirn schmecken, nicht mit der Nase, sondern mit dem Gehirn riechen, und nicht mit den Fingerspitzen, sondern mit dem Gehirn tasten. Man will sich dies nicht vorstellen, weil damit soziale, 11

burg 12

Siehe auch von Helmholtz, Hermann: Handbuch der physiologischen Optik. Ham21896.

Zum Beispiel durchaus ernst nehmend Mountcastle, Vernon B.: Perceptual Neuroscience. The Cerebral Cortex. Cambridge 1998, S. 6 f.; Frith, Chris: Making Up the Mind. How the Brain Creates Our Mental Worlds. London 2007, S. 40. 13 So Foerster: Wissen und Gewissen, S. 31; vgl. ebd., S. 274; ders.: Entdecken oder Erfinden. Wie lässt sich Verstehen verstehen? In: Einführung in den Konstruktivismus. Hg. v. Heinz Gumin u. Armin Mohler. München 1985, S. 27–68, hier: S. 41; ders.: Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen. Eine Selbsterschaffung in 7 Tagen. Hg. v. Albert Müller u. Karl H. Müller. Berlin 2002, S. 140 f. 14 So Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 14 f. 15 Siehe Northoff, Georg/Musholt, Kristina: Können wir unser eigenes Gehirn als Gehirn erkennen? In: Akteur Gehirn – oder das vermeintliche Ende des handelnden Subjekts. Eine Kontroverse. Hg. v. Jo Reichertz u. Nadia Zaboura. Wiesbaden 2006, S. 19–30.

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kulturelle und biographische Bedingungen und Einschränkungen unserer Sinnes- und Verstandesaktivitäten in den Blick kämen, die allen Ideologemen der Möglichkeit einer objektiven Welterkenntnis diametral entgegenstehen. Zur Not glaubt man lieber daran, dass im Gehirn Erkenntnisbedingungen von Welt für alle Menschen identisch gegeben (»fest verdrahtet«) sind, als der Möglichkeit nachzugehen, dass unsere Welterkenntnis das Ergebnis von Übung, Gelegenheit zur Übung und verpassten Chancen der Übung ist. Die Neurophysiologie hatte ihre besten Momente, als sie mit Hermann von Helmholtz und Sigmund Freud begann, das Gehirn als eine hierarchisch geordnete Inferenzmaschine zu verstehen und zu beschreiben.16 Aber anstatt der Idee nachzugehen, wie diese Erkenntnisse über Anatomie und Funktion des geschlossen operierenden Gehirns in unser Weltbild eingepasst werden können, entwickelte man eine Neurophilosophie, die ironischerweise denselben Gedanken sowohl ernst nahm als auch verfehlte, indem sie statt einer zu untersuchenden Beteiligung des Gehirns an der Wahrnehmung die Determination von Wahrnehmung, Bewusstsein und Verhalten durch ein der Beobachtung unzugängliches Gehirn annimmt. An die Stelle des Rätsels Gehirn tritt in einer Neurophilosophie, an der die Neurophysiologie nicht unbeteiligt ist, der mächtige Akteur Gehirn.17 Die nachvollziehbare Irritation über die Geschlossenheit des Gehirns wird zum ewigen Streit über Determinismus versus Freiheit, zum nie aufzulösenden Rätsel des Leib/Seele-Problems, zur immer wieder neuen Debatte über Physikalismus und Naturalismus fetischisiert, ohne auf die Idee zu kommen, die Irritation paradigmatisch zu wenden und angesichts anderer Phänomene wie etwa Bewusstsein, Gesellschaft und Technologie ebenfalls nach operationalen Schließungen zu fragen. Man zählte – und zählt nach wie vor – nur bis eins, so als könne man das Gespenst bannen, bevor sein Spuk auch andere Erklärungsmuster in den operationalen Konstruktivismus zwingt. Vielleicht begann die Misere, als Friedrich Nietzsche seine Lehren für Sprache und Bewusstsein aus der Lektüre der Neurophysiologie zwar zog, aber nicht publizierte.18 Nirgendwo scheint die operationale Trennung zwischen Bewusstsein und Kommunikation schwerer zu fallen als in der Philosophie – gleichgültig welcher Provenienz.

16

Siehe Carhart-Harris, R. L./Friston, K. J.: The Default-Mode, Ego-Functions and Free-Energy. A Neurobiological Account of Freudian Ideas. In: Brain: A Journal of Neurology 133 (2010), S. 1265–1283. 17 Siehe die Übersicht bei Hagner, Michael: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Frankfurt am Main 2008. 18 Siehe aus dem Nachlass: Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: Werke III. Hg. v. Karl Schlechta. Frankfurt am Main 61969, S. 1017–1030.

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2. Die allgemeine Systemtheorie und die soziologische Systemtheorie zählen nicht nur bis eins, sondern mindestens bis vier, indem auch für die Zelle und den Organismus, das psychische System (Bewusstsein) und soziale Systeme (Gesellschaft) und tendenziell auch für technische Systeme (Maschinen) angenommen wird, dass es sich lohnt, vom Gedanken jener operationalen Schließung, spezifischen Sinnesenergien und undifferenzierten Codierung auszugehen, wie er sich beim Gehirn bewährte. Das ist im Einzelnen umstritten und muss es auch sein,19 was aber am Prinzip nichts ändert, die Neurophysiologie paradigmatisch aufzugreifen und nicht etwa phänomenologisch einzukapseln und stillzustellen. Die entscheidende Frage lautet für mich, wie man die Neurophysiologie paradigmatisch wieder flottmachen kann. Welcher Gedanke ist geeignet, die operationale Schließung nicht als Sackgasse, sondern als wegweisende Intuition zu interpretieren? Niklas Luhmann hat dies mit Maturanas Konzept der strukturellen Kopplung versucht, das es erlaubt zu beschreiben, wie geschlossene Systeme verschiedenen Typs durch Interpenetration mit ihrer Umwelt und mit anderen Systemen Komplexität importieren und in eigenen Strukturen aufbauen können, ohne das Prinzip der operationalen Schließung zu verletzen.20 Das hat nicht recht überzeugt, obwohl es in einzelnen Fällen, etwa für die Sprache als Mechanismus struktureller Kopplung zwischen Bewusstsein und Kommunikation oder für den Vertrag als Mechanismus struktureller Kopplung zwischen Wirtschaft und Recht theoretisch und empirisch fruchtbar gemacht werden konnte.21 Es hat allerdings vor allem deswegen nicht überzeugt, weil man es 19

Siehe nur Jantsch, Peter: Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist. Mit einem Vorwort von Paul Feyerabend. München 1982; Hejl, Peter: Sozialwissenschaft als Theorie selbstreferentieller Systeme. Frankfurt am Main 1982; an der Heiden, Uwe/Roth, Gerhard/Schwegler, Helmut: Die Organisation der Organismen. Selbstherstellung und Selbsterhaltung. In: Funktionelle Biologie und Medizin 5 (1985), S. 330–346; Haferkamp, Hans/Schmid, Michael (Hg.): Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt am Main 1987; Bühl, Walter L.: Grenzen der Autopoiesis. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39 (1987), S. 225–254; Zeleny, Milan/Hufford, Kevin D.: The Application of Autopoiesis in Systems Analysis. Are Autopoietic Systems also Social Systems? In: International Journal of General Systems 21 (1992), S. 145–160; Krohn, Wolfgang/Küppers, Günter (Hg.): Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt am Main 1992; Merz-Benz, Peter-Ulrich/Wagner, Gerhard (Hg.): Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000; Fuchs, Peter: DAS Sinnsystem. Prospekt einer sehr allgemeinen Theorie. Weilerswist 2015. 20 Siehe Luhmann: Probleme mit operativer Schließung. 21 Siehe Luhmann: Wie ist das Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?; und ders.:

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nur hätte ernst nehmen können, wenn man auch den Ausgangspunkt und das Komplement der operationalen Schließung ernst genommen hätte. Ich setze daher versuchsweise anders an und vertraue darauf, dass eine Theoriestelle, an der Mechanismen struktureller Kopplung überzeugen können, durch einen andersartigen Ansatz nicht verloren geht, sondern möglicherweise sogar gestärkt werden kann. Mein Gedanke ist ein doppelter. Ich versuche erstens, den Gedanken eines hierarchischen Aufbaus des Neocortex aufzugreifen, weil er es ermöglicht, das Gehirn als eine hierarchisch geordnete Inferenzmaschine im Sinne von Helmholtz’ und Freuds, das heißt als einen teleologischen Apparat zu verstehen, der nicht etwa einem übergeordneten Zweck folgt (davon wissen wir zumindest nichts), sondern der sich selbst mit Hilfe von Zwecken ordnet, organisiert und programmiert, die es ihm ermöglichen, Annahmen über Phänomene und Ereignisse aufzubauen und laufend zu korrigieren. Die entsprechende Diskussion läuft in der Hirnforschung unter den Titeln »columnar hypothesis« und »predictive coding«.22 Und sie ist mit der Annahme kompatibel, dass das Gehirn als verteiltes und dynamisches System lokale Hierarchien in ein insgesamt heterarchisches Netzwerk einbettet.23 Die Intuition der Steuerung, wenn nicht sogar des Aufbaus des Gehirns durch seine Fähigkeit zur (ökonomischen, das heißt viele aktuelle Wahrnehmungen buchstäblich einsparenden) Vorhersage seiner Wahrnehmung geht, wie gesagt, mindestens bis auf von Helmholtz zurück, wenn sie nicht bereits für Aristoteles’ Überlegungen Über die Seele maßgebend gewesen sind. Aristoteles’ Überlegungen sprechen, wie man sich dies aktueller nicht wünschen könnte, von Formursachen, die im Medium der Vermittlung von Bewegung und Wahrnehmung Leben ebenso wie Erkenntnis

Operational Closure and Structural Coupling. The Differentiation of the Legal System. In: Cardozo Law Review 13 (1992), S. 1419–1441. 22 Siehe zur »columnar hypothesis«: Mountcastle, Vernon B.: An Organizing Principle for Cerebral Function. The Unit Module and the Distributed System. In: Edelman, Gerald M./Mountcastle, Vernon B.: The Mindful Brain. Cortical Organization and the Group-Selective Theory of Higher Brain Function. Introduction by Francis O. Schmitt. Cambridge 1978, S. 7–50; und Hawkins, Jeff: On Intelligence. New York 2004; zum »predictive coding«: Ljung, Lennart/Söderström, Torsten: Theory and Practice of Recursive Identification. Cambridge 1983; Frith: Making Up the Mind; Huang, Yanping/Rao, Rajesh P. N.: Predictive Coding. In: Wiley Interdisciplinary Reviews. Cognitive Science 2, 5 (2011), S. 580–593; Northoff, Georg: Unlocking the Brain, Bd. 1. Coding. Oxford 2013; und vgl. mit beiden Ausgangspunkten Baecker, Dirk: Neurosoziologie. Ein Versuch. Berlin 2014. 23 Siehe McCulloch, Warren S.: A Heterarchy of Values Determined by the Topology of Nervous Nets. In: ders.: Embodiments of Mind. Cambridge 21989, S. 40–45; von der Malsberg, Christoph: Dynamic Link Architecture. In: The Handbook of Brain Theory and Neural Networks. Hg. v. Michael A. Arbib. Cambridge 22003, S. 356–367.

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ermöglichen und selbst als das Produkt dieser Vermittlung zu denken sind, wenn man sie nicht als Platonsche Ideen transzendental ansetzen möchte.24 Und ich versuche zweitens, Heinz von Foersters Hinweis aufzugreifen, dass die logisch zu erwartenden Probleme des Einbaus von Selbstreferenz in nur dann operational geschlossenen Systemen nicht auf der Ebene der Verknüpfung einzelner Systemleistungen, sondern auf der Ebene der Annahme von Gesamtsystemeigenschaften zu lösen sind, so wie die Thermodynamik Energie und Entropie oder wie die Systemingenieure Ungewissheit und Redundanz als Gesamtsystemeigenschaften formulieren.25 Für das Problem der Selbstreferenz bedeutet dies, dass die Selbstreferenz nicht irgendwie und irgendwann auftritt, wenn das System schon läuft, sondern dass die Selbstreferenz und ihre Brechung (oder besser gesagt: Unterbrechung) und Entfaltung Voraussetzung der Konstitution des Systems selber sind.26 Das System entsteht als Problem seiner selbst. Selbstreferenz ist die Referenz, die ihre Adresse laufend verfehlt, also nur als »shifter« oder »empty signifier« formuliert werden kann.27 Der Apparat oder die Maschine laufen nur als »System von Einschnitten«, formulieren Gilles Deleuze und Félix Guattari.28 Das System ist nicht als positives Subjekt, sondern als objektive Negativität zu verstehen, fordert Theodor W. Adorno.29 Systemtheorie wird nicht nur von Systemtheoretikern betrieben. Mein Gedanke ist, selbstreferentielle Systeme wie das Gehirn, das Bewusstsein, die Gesellschaft und mögliche andere Kandidaten als ihre eigene Form der Rückkopplung zu verstehen. Rückkopplung würde als diejenige Gesamtsystemeigenschaft konzipiert, die jene Trennung und Verknüpfung von Schließung und Öffnung bewerkstelligt, die andernfalls nur als Rätsel zu formulieren ist. Die Rückkopplung ist eingebauter Einschnitt, eingebaute Negativität beziehungsweise, radikaler noch, sie ist das System, das nur als Einschnitt und 24

Siehe Aristoteles: Über die Seele. Hg. und übersetzt v. Gernot Krapinger. Stuttgart

2011. 25

Siehe Foerster, Heinz von: Computing in the Semantic Domain. In: Annals of the New York Academy of Sciences 184 (1971), S. 239–241, hier: S. 240. 26 Siehe Löfgren, Lars: Unfoldment of Self-Reference in Logic and Computer Science. In: Proceedings from 5th Scandinavian Logic Symposium, Aalborg, 17–19 January 1979. Hg. v. Finn V. Jensen, Brian H. Mayoh u. Karen K. Møller. Aalborg 1979, S. 205– 229; und Luhmann: Soziale Systeme, S. 631–634. 27 So die hier passende Begrifflichkeit von Jakobson, Roman: Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb. In: ders.: Selected Writings, Bd. 2. Work and Language. Den Haag 1971, S. 130–147 oder Laclau, Ernesto: Why do Empty Signifiers Matter to Politics? In: The Lesser Evil and the Greater Good. The Theory and Politics of Social Diversity. Hg. v. Jeffrey Weeks. London 1994, S. 167–178. 28 In: Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt am Main 1974, S. 47–55. 29 In: Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. In: Gesammelte Schriften, Bd. 6. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1973, S. 7–409, hier S. 31.

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nur als Widerspruch gegen sich selbst zu denken ist. Auch dieser Gedanke folgt einer alten Intuition, wie sie etwa der russischen Kulturpsychologie im Anschluss an Lev Vygotski, Aleksandr Luria und Aleksej Leont’ev zugrundeliegt, die systematisch versucht hat, selbst anatomische Eigenschaften des Gehirns (beziehungsweise deren evolutionäre Veränderung) aus der Interaktion des Gehirns mit Sprache und Kommunikation, das heißt letztlich: mit anderen Gehirnen, abzuleiten.30 Claus Pias hat die Rückkopplung nicht ganz zu Unrecht als Inbegriff transzendentaler Illusionen der Kybernetik bezeichnet,31 doch führt uns diese Illusion in das Zentrum des Problems. So oder so dürfen wir ja nur mit Begriffen arbeiten, die es uns ab einem bestimmten Punkt unmöglich machen, unsere eigene Beobachterposition aus der Rechnung der Begriffe herauszuhalten. Natürlich rechnen wir mit Illusionen; aber wir rechnen auch mit dem Problem, spätestens dann die Frage nach der Systemreferenz unserer Beschreibungen scharf stellen zu müssen, wenn wir es nicht mehr nur mit einem System, dem Gehirn, und einer unproblematisch gehandhabten Beobachtersprache zu tun haben. Wer beobachtet? Und: Wer spricht? Ganz zu schweigen von: Wer liest? Dies sind keine Fragen, die bereits dadurch beantwortet sind, dass wir uns in vertrauter Gelehrsamkeit in unsere Schriften vertiefen und darin alle Fragen nach Ort und Zeit, Operation und Kontext, Disziplin und Vorurteil, Geschichte und Gemütszustand, Freund- und Gegnerschaft für bereits beantwortet halten. Der Gedanke der Rückkopplung wird über seine ingenieurwissenschaftliche Verwendung zur Steuerung und Kontrolle von Maschinen hinaus (wichtig genug!) dann interessant, so hat Norbert Wiener im Vorwort zur 2. Auflage seines Buches Cybernetics festgehalten, wenn man die Rückkopplung nicht nur negativ (Abweichungen reduzierend), sondern auch positiv (Abweichungen verstärkend), und nicht nur linear, sondern auch nicht-linear konzipiert.32 Denn in dieser Situation könne man nicht mehr mit trigonometrischen Funk30

Siehe Vygotski, Lev: Thought and Language. Hg. v. Alex Kozulin. Cambridge 1983; ders.: Arbeiten zu theoretischen und methodologischen Problemen der Psychologie. In: Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Hg. v. Joachim Lompscher. Berlin 2003; Luria, Aleksandr R.: Higher Cortical Functions in Man. Nachdruck New York 1980; Leont’ev, Aleksej Nikolaevič: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit. Stuttgart 1977; und vgl. Jantzen, Wolfgang (Hg.): Gehirn, Geschichte und Gesellschaft. Die Neuropsychologie Alexandr R. Lurijas. Berlin 2004. 31 So in: Pias, Claus: Analog, Digital, and the Cybernetic Illusion. In: Kybernetes 34, 3/4 (2005), S. 543–550. 32 Siehe Wiener, Norbert: Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine. Cambridge 21961, S. viii–x; auch Maruyama, Magoroh: The Second Cybernetics. Deviation-Amplifying Mutual Causal Processes. In: American Scientist 51 (1963), S. 164–179 u. 250A–256A.

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tionen arbeiten (die für Zwecke der Triangulation, Navigation und Spannungsmessung brauchbar sind, so wikipedia),33 sondern müsse mit Brownschen Bewegungen, also Zufallsrauschen rechnen. Dies wiederum ist nur möglich, wenn man bei der Analyse nicht-linearer Systeme mit einer Black Box und einer White Box arbeitet, also unbekannte Strukturen misst, indem man denselben Typ von Störung (Rauschen) auch in eine bekannte Struktur einführt, vorausgesetzt, die beiden Strukturen sind untereinander gekoppelt.34 Man ahnt, was gemeint sein könnte, wenn man zum Beispiel an Verfahren der Psychoanalyse im Medium der Sprache denkt. Ebenso wichtig ist mir jedoch der an anderer Stelle von Wiener gegebene Hinweis, dass von einer Rückkopplung dann gesprochen werden kann, wenn ein System in der Lage ist, seine tatsächliche Leistung mit seiner erwarteten Leistung zu vergleichen.35 Denn das bringt das zu lösende Problem auf den Punkt, noch bevor daran zu denken ist, wie entsprechende Leistungen durch einen Beobachter (der das System selber sein kann) zu messen und damit auch zu beschreiben sind. Ein selbstreferentielles System kann nur entstehen (Ursprungsfragen lassen wir hier jedoch außen vor)36 und sich reproduzieren (darauf konzentrieren wir uns), wenn es Erwartungen bilden kann, deren Erfüllung oder Enttäuschung es in seiner Umwelt unterscheiden kann. Die Idee des »predictive coding« beschreibt dies für das Gehirn; Luhmann beschreibt dies für die Erwartungsstrukturen sozialer und psychischer Systeme;37 und vermutlich könnte man auch Husserls Verschränkung protentionaler und retentionaler Bewusstseinsakte, ganz zu schweigen von Heideggers »vorauslaufender« Sorge, entsprechend lesen.38 Die entscheidende Frage ist daher, wie es einem System gleich welcher Art gelingen kann, die Differenz von Erwartung und Wirklichkeit in die eigenen Beobachtungen einzubauen. Es muss sich stören können, lautet die zu schnelle und zu einfache Antwort. Denn wie macht es das? Wie macht es das angesichts neuronaler, psychischer und sozialer Apparate, deren Arbeitsweise darauf zielt, Bestätigung auf Bestätigung zu erhalten? Jacques Lacan for33

https://de.wikipedia.org/wiki/Trigonometrische_Funktion (Stand 31.03.2016). Wiener, Norbert: Cybernetics, S. x f. 35 Siehe Wiener, Norbert: The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society. Boston 1950, S. 24–26. 36 Optimistischer: Padgett, John F.: Autocatalysis in Chemistry and the Origin of Life. In: ders./Powell, Walter W.: The Emergence of Organizations and Markets. Princeton 2012, S. 33–69; siehe jedoch auch Dupuy, Jean-Pierre/Varela, Francisco J.: Kreative Zirkelschlüsse. Zum Verständnis der Ursprünge. In: Das Auge des Betrachters. Hg. v. Paul Watzlawick u. Peter Krieg. München 1991, S. 247–275. 37 Siehe Luhmann: Soziale Systeme, S. 139 f. und S. 362–366. 38 Siehe Husserl, Edmund: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Hg. v. Ludwig Landgrebe. Hamburg 1972; Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 121972, S. 182 f. 34

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muliert, von einem Subjekt könne nur die Rede sein, wenn es über eine Struktur verfüge, die als »inmixing of otherness« funktioniere.39 Und Lacan wusste, dass dies den Einbau von Leerstellen beziehungsweise einen »calcul des places en tant que vides« voraussetzt.40 Systeme müssen sich einen Mangel, eine Ungewissheit, eine Unbestimmtheit applizieren können, anders sind sie nicht zur Rückkopplung, zur Selbstreferenz und zur Reproduktion fähig.41 Selbst das Problem des Ursprungs können wir unter dieser Bedingung angehen, indem wir Strukturen analysieren, die als Problem ihrer eigenen Reproduktion entstehen. Wie analysiert man ein System als Einschnitt, als negative Objektivität, als Problem seiner selbst? Offenbar müssen wir von einer Differenz ausgehen, da die Formeln Einschnitt, Negativität und Problem davon ausgehen, dass hier eines einem anderen gegenübersteht, etwa, in Luhmanns Fassung, das System seiner Umwelt,42 oder, in Fuchs’ Fassung (die an Fichte erinnert), der Beobachter sich selbst.43 Auch bei Gregory Bateson und Deleuze findet man die Auffassung, dass eine Systemanalyse nur möglich ist, wenn sich mindestens zwei aufeinander nicht reduzierbare Ereignisserien gegenüberstehen,44 von denen, unter Umständen, eine der Beobachter ist. Analyse wäre unter der Voraussetzung 39

So bereits im Titel: Lacan, Jacques: Of Structure as an Inmixing of an Otherness Prerequisite to Any Subject Whatever. In: The Languages of Criticism and the Sciences of Man. The Structuralist Controversy, Hg. v. Richard Macksey u. Eugenio Donato. Baltimore 1970, S. 186–200. 40 So, nicht ganz wörtlich, Lacan, Jacques: Psychoanalyse et cybernétique, ou de la nature du langage. In: Le Séminaire de Jacques Lacan. Livre II. Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychoanalyse. 1954–1955. Hg. v. Jacques-Alain Miller. Paris 1978, S. 339–354, hier S. 344–347. 41 Ein Grund, Spencer-Brown, George: Laws of Form. Leipzig 52008, zu lesen, so Luhmann, Niklas: Die Kontrolle von Intransparenz. In: Komplexität managen: Strategien, Konzepte und Fallbeispiele, Hg. v. Heinrich W. Ahlemeyer u. Roswita Königswieser. Wiesbaden 1998, S. 51–76 ; zum Entwurf einer »Theorie […] unzuverlässiger […] Systeme« auch ders.: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. Wien 1996, S. 51–54; und zum Paradigma der Konstitution – nicht etwa Emergenz – dieser zuverlässig unzuverlässigen Systeme aus unzuverlässig zuverlässigen Elementen von Neumann, John: Probabilistic Logics and the Synthesis of Reliable Organisms from Unreliable Components. In: Automata Studies, Hg. v. Claude E. Shannon u. John McCarthy. Princeton 1956, S. 43–98. 42 So Luhmann: Soziale Systeme, S. 20–24, mit der Formulierung, dass das Systeme seine Differenz zur Umwelt nicht etwa hat, sondern ist. 43 So Fuchs: DAS Sinnsystem, mit dem Vorschlag, den Beobachter als psychisch/ sozial verfasstes Sinnsystem im Medium einer organisch und neuronal bewegten Zeit zu denken. 44 So Bateson, Gregory: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt am Main 1982, S. 87 f., 127 f. et passim; und Deleuze, Gilles: Différence et répétition. Paris 1968, S. 154 f.

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zweier Ereignisserien immer dann möglich, wenn mindestens eine dieser Serien bekannt, das heißt als White Box im Sinne Wieners zu formulieren ist. Wir bekommen es mit Wieners Konstellation weißer und schwarzer Boxen zu tun, wobei Schwärze und Weis(s)heit wie immer in der Kybernetik gleich Jokern, laufend ihre Positionen wechseln.45

3. Wir formulieren das selbstreferentielle System (Black Box) als Form der Rückkopplung seiner selbst an eine Wirklichkeit (White Box), die in Differenz zu den Erwartungen beziehungsweise Vorhersagen des Systems erfahren werden kann. Beides gilt nur im Rahmen entsprechender Unterscheidungen eines Beobachters, der das System selber sein kann. Der Vorteil dieser Formulierung ist, dass der Beobachter mit seiner These einer beobachtbaren Rückkopplung explizit im Spiel ist. Er/sie/es kann sich im Anschluss daran auf die Suche nach den entsprechend nachweisbaren Rückkopplungen machen, wobei vermutlich die beiden Ideen Ashbys vom adaptiven Verhalten und der erforderlichen Varietät im Umgang mit der Komplexität des jeweiligen Gegenübers ein geeigneter Ausgangspunkt sind.46 Ein weiterer Vorteil – möglicherweise auch als Nachteil zu werten – ist, dass die Rückkopplung, verstanden als Gesamtsystemeigenschaft, nicht umsonst zu haben ist. Wir schrauben unsere Bedingungen, unter denen von einem selbstreferentiellen System zu reden ist, also eher herauf als herab. Denn von einer Rückkopplung, so haben Arturo Rosenblueth, Norbert Wiener und Julian Bigelow gezeigt,47 kann nur dann die Rede sein, wenn das System (a) aktiv und (b) zweckhaft organisiert ist. Es muss aktiv sein, um Wahrnehmungen auf eigene Aktivitäten (Bewegungen) zurückrechnen und so durch eigene Aktivitäten variieren zu können. Und es muss zweckhaft organisiert sein, weil andernfalls kein Unterschied zwischen erreichten und verfehlten Zwecken gemacht werden könnte. Man könnte dies als Nachteil sehen, wenn man die Absicht haben sollte, von einem einfachen System auszugehen, um es dann peu à peu mit steigenden Anforderungen auszustatten. Aber ähnlich wie für die natürliche Sprache, die von Anfang an mit dem Referenzproblem ausgestattet ist

45

Siehe Glanville, Ranulph: Inside Every White Box There Are Two Black Boxes Trying To Get Out. In: Behavioral Science 27, 1 (1982), S. 1–11. 46 Siehe Ashby: Design for a Brain, und ders.: »Requisite Variety and Its Implications for the Control of Complex Systems«. In: Cybernetica 1, 2 (1958), S. 83–99. 47 Siehe Rosenblueth, Arturo/Wiener, Norbert/Bigelow, Julian: Behavior, Purpose and Teleology. In: Philosophy of Science 10, 1 (1943), S. 18–24.

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und daher nicht in einer einfachen Fassung vorkommt,48 gilt auch für Systeme, dass es von diesen keine einfachen Versionen gibt. Man muss von Anfang an, das wirft dann doch wieder das Ursprungsproblem auf, mit der Gesamtmenge an Anforderungen rechnen, die es einem System ermöglichen, sich über Rückkopplungen zu steuern, zu reparieren und zu entwickeln. Dieser begriffliche Nachteil ist für die empirische Forschung ein Vorteil. Wenn man keine Aktivitäten und keine Zwecke identifizieren kann, liegt kein selbstreferentielles System vor. Also muss man nach diesen Aktivitäten und nach diesen Zwecken suchen und so eine Beobachtung verifizieren, plausibilisieren oder zumindest als Beobachtungen ausflaggen, die gelingen oder scheitern können, also ihrerseits aktiv zweckhaft organisiert sind. Rosenblueth, Wiener und Bigelow gehen jedoch einen Schritt weiter. Sie entwerfen mit folgender Tabelle eine Klassifikation des Verhaltens:49

,

Feed-back (teleological) Purposeful

Active Behavior

Non-purposeful (random)

Non-feedback (nonteleological)

Predictive (extrapolative)

First–, second–, etc. orders of prediction

Non-predictive (nonextrapolative)

Non active (passive)

die über die aktive und zweckhafte Organisation des Systems als Voraussetzung des Vorliegens von Rückkopplungen hinausgeht und (c) die Rückkopplung selber als teleologische Struktur expliziert, die (d) für Vorhersagen und Erwartungen genutzt werden können, die ihrerseits (e) in beliebige Ordnungen der Vorhersage von Vorhersagen und Erwartung von Erwartungen gesteigert werden können. Hier bekommen wir es dann doch wieder mit graduellen Steigerungen zu tun, insofern die einfacheren, wenn auch nicht einfachen Systeme aktiv und zweckhaft sind und die komplizierteren Systeme überdies extrapolativ in verschiedenen Ordnungen der Vorhersage und damit der Reflexion sind. Auf der Ebene von Vorhersagen von Vorhersagen kommt es über48

So Deacon, Terrence W.: The Symbolic Species. The Co-Evolution of Language and the Human Brain. New York 1997. 49 Rosenblueth/Wiener/Bigelow: Behavior, Purpose and Teleology, S. 21.

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dies zu Strategiespielen aller Art, die Zwecke simulieren oder dissimulieren, mit den einen Zwecken spielen, um andere zu erreichen und so Zweckhaftigkeit und Zweckfreiheit (»Spiel«) als die beiden Seiten einer Medaille bedienen können.50 Von einem teleologischen Apparat können wir hier nur reden, weil die Zweckstruktur dem System nicht mehr exogen vorgelagert ist, wie es ältere teleologische Vorstellungen postulierten, sondern endogen zur Verfügung steht und endogen variiert werden kann, wie es vermutlich bereits Aristoteles postulierte.51 Zwecke sind Interdependenzunterbrecher zweiter Stufe, schreibt Luhmann,52 für den Fremdreferenzen, Verweise auf die Umwelt des Systems, Unterbrecher erster Stufe sind. Zwecke ermöglichen es einem System, sein Verhalten zu programmieren. Dass diese Programmierung nicht mit der Möglichkeit verwechselt werden darf, ein System hierarchisch und arbeitsteilig vollständig, konsistent und widerspruchsfrei zu organisieren, weiß man wiederum aus der Organisationstheorie,53 kommt uns hier jedoch entgegen, weil wir auf der Suche nach dem Einbau von Nichtlinearität und Störung sind,54 nicht auf der Suche nach Konsistenz und Widerspruchsfreiheit. Unter dieser Voraussetzung eines teleologischen Apparats können wir erstens davon sprechen, dass operational geschlossene Systeme zwangsläufig (nämlich: per definitionem, empirisch nur im Nachhinein zu überprüfen) offen für die Unterscheidung von Erwartung und Wirklichkeit sind, und dass wir zweitens für unsere speziellen Fälle von Gehirn, Bewusstsein und Kommunikation zu einem kognitionswissenschaftlichen Forschungsprogramm einladen können, das psychische und kommunikative Ereignisse als Gegenstand der Erwartung und Vorhersage neuronaler Systeme, neuronale und kommunikative Ereignisse als Gegenstand der Erwartung und Vorhersage psychischer Systeme und neuronale und psychische Ereignisse als Gegenstand der Erwartung und Vorhersage sozialer Systeme postulieren kann: G, B, K = G, B, K (G, B, K). 50

Siehe zu »playful games« (kein Zitat) in diesem Sinne Leifer, Eric M.: Actors as Observers. A Theory of Skill in Social Relationships, New York 1991. 51 Vgl. Mayr, Ernst: Teleological and Teleonomic. A New Analysis. In: Methodological and Historical Essays in the Natural and Social Sciences, Hg. v. Robert S. Cohen u. Marx W. Wartofsky. Dordrecht 1974, S. 91–117; und zu Aristoteles: Delbrück, Max: Aristotle–totle–totle. In: Of Microbes and Life, Hg. v. Jacques Monod u. Ernest Borek. New York 1971, S. 50–55. 52 In: Luhmann, Niklas: Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspektive. In: Neue Hefte für Philosophie 20 (1981), S. 1–30, hier S. 23. 53 Insbesondere: Luhmann, Niklas: Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen. Neuausgabe Frankfurt am Main 1977. 54 Siehe auch Baecker, Dirk: Organisation und Störung. Aufsätze. Berlin 2011.

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Aber Vorsicht. Nach wie vor gilt das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien beziehungsweise das Prinzip der undifferenzierten Codierung. Die gerade formulierte Gesetzmäßigkeit gilt ausschließlich für einen Beobachter auf der Ebene der von ihm gewählten Sprache, hier: der natürlichen Sprache und eines mathematischen Formalismus. Fragt man nach der Systemreferenz dieser Beobachtung, bekommt man es mit einem Text als Produkt und Gegenstand von Kommunikation zu tun, von dem man im Rahmen der angestellten Beobachtung annimmt, dass er von bewussten Operationen des Schreibers und Lesers begleitet werden kann, die ihrerseits von neuronalen Operationen der beteiligten Gehirne begleitet werden. Die Sprache der neuronalen, psychischen und sozialen Systeme differiert jedoch im ersten Fall fundamental und bleibt dank der autoepistemischen Limitation unzugänglich und ist im zweiten und dritten Fall nur dank der natürlichen Sprache als Mechanismus der strukturellen Kopplung – für einen Beobachter – vergleichbar. Von hier aus eröffnet sich das empirische Feld der Kognitionswissenschaften, auf dem man untersuchen kann, wie sich das Gehirn durch Bewusstsein und Kommunikation, das Bewusstsein durch Gehirn und Kommunikation und die Kommunikation durch Gehirn und Bewusstsein stören und im Medium dieser Störung zum Aufbau von Strukturen anregen lassen. Und interessanterweise sind es jetzt nicht das Gehirn, das Bewusstsein und die Kommunikation, die in den Blick der Beobachter geraten, sondern die Ordnung des Verhaltens durch die Vorhersagestrukturen des Organismus,55 die Sinnstrukturen des Bewussten und Unbewussten in Abhängigkeit von der Zumutung manifester und latenter Erwartungen56 oder semantische Strukturen der Gesellschaft im Umgang mit intellektuellen, moralischen oder emotionalen Komplikationen des Bewusstseins57 wie auch schließlich mehr oder minder gewaltsame Formen der Disziplinierung und Kontrolle.58 Wir bekommen es mit modalen Relationen zu tun und landen so mitten in einer Analyse von Machtstrukturen (potentia), die nicht nur darin besteht, zu untersuchen, welche Art von Herrschaft (potestas) unsere Körper, unser Bewusstsein und unsere Gesellschaft über uns ausüben, sondern auch darin, die Möglichkeitsstrukturen (dynamis) in den Blick zu rücken, die als Gegenhalt 55

Siehe Graumann, Carl-Friedrich: Zur Einführung in diesen Band. In: Kurt-Lewin-Werkausgabe, Bd. 4. Feldtheorie. Hg. v. dems. Bern 1982, S. 11–37. 56 Siehe Fuchs, Peter: Das Unbewusste in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewusstseins. Frankfurt am Main 1998. 57 Siehe Trilling, Lionel: Sincerity and Authenticity. New York 1971. 58 Siehe Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bern 21969; Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main 1969; ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1976.

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für diese Herrschaft von Macht allererst zu reden erlauben.59 Man könnte von einer Macht der Rückkopplung sprechen. Sie ist der Einstieg in die Analyse jener kybernetischen Kreisläufe, denen sich jede Machtausübung in der Abhängigkeit von denen, die sich übermächtigen lassen, verdankt, die in strenger Abhängigkeit von Körper, Bewusstsein und Kommunikation das Medium bilden und in die machtvolle Formatierungen von zu diesem Zweck erfundenen Freiheitsspielräumen allererst eingeprägt werden können.60 Als modale Relationen sind sie jedoch auch die Voraussetzung dafür, dass Ansatzpunkte für jene »Nachdenklichkeit« gefunden werden können,61 die als Reflexion der Verhältnisse gelten kann, wenn denn jede Verzögerung, jede Einführung und Ausnutzung eines »internal delay«62 bereits zu einer genaueren und im Sinne Kants kritischen Beobachtung der Verschaltung von Gehirn, Bewusstsein und Gesellschaft führen.

4. Es gibt für eine kritische Analyse der Macht der Verhältnisse eine Voraussetzung, und auf diese will ich mit diesem Beitrag aufmerksam machen, nämlich die Voraussetzung, grundsätzlich nur mit Formbegriffen des Gehirns, des Bewusstseins und der Gesellschaft zu arbeiten, die es ermöglichen, diese Phänomene als Differenz zu setzen und nach einer Außenseite zu fragen,63 mit der das untersuchte Phänomen im Verhältnis einer konstituierenden Rückkopplung steht. Unter dieser Voraussetzung kann man sich eine kritische Neurowissenschaft vorstellen,64 die sich nicht darin erschöpft, die Neurophilosophie auf ihre Einheitsvorstellungen, ihre vorschnelle Kombination von raffinierten Visualisierungstechniken und einer eher fragwürdigen Psychologie oder ihre einseitige Betonung von Empathie zuungunsten grausamer Formen zwischenmenschlicher Bezugnahmen kritisch gegenzulesen,65 sondern affektive, men59

Siehe Röttgers, Kurt: Strukturen der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik. Freiburg im Breisgau 1990; siehe den Beitrag von Petra Gehring in diesem Band. 60 Siehe Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, S. 355–357. 61 Siehe die Beitrage von Hans Blumenberg und Heiner Hastedt in diesem Band. 62 Im Sinne von MacKay, Donald M.: Information, Mechanism, and Meaning. Cambridge 1969, S. 117. 63 Im Sinne von Spencer-Brown: Laws of Form. 64 Auch im Sinne von Choudhury, Suparna/Slaby, Jan (Hg.): Critical Neuroscience. A Handbook of the Social and Cultural Contexts of Neuroscience. Chichester 2012. 65 Vgl. zu diesen Punkten jedoch Vidal, Fernando: Brainhood, Anthropological Figure of Modernity. In: History of the Human Sciences 22, 1 (2009), S. 5–36 ; Hagner, Michael/Borck, Cornelius: Mindful Practices: On the Neurosciences in the Twentieth

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tale und soziale Formen der wechselseitig distanznehmenden und distanzsichernden und in diesem Sinne »kritischen« Verschränkung von Gehirn, Bewusstsein und Gesellschaft zu untersuchen.66 So oder so müsste diese kritische Neurowissenschaft zu einer allgemeinen Kognitionswissenschaft erweitert werden und mindestens bis vier zählen, das heißt das Gehirn (im Organismus), das Bewusstsein, die Gesellschaft und die Technik (oder zumindest: algorithmische Technologien) als mögliche Systemreferenzen ernst nehmen, die sich wechselseitig Kritik und Aufbauleistungen (»Komplexität«) zur Verfügung stellen. Um diese Systemreferenzen aufeinander beziehen zu können, benötigt man mindestens die Konzepte der teleologischen Verschränkung, der Koevolution und der steigerbaren Grenzziehung zwischen System und Umwelt.67 Jedes dieser Konzepte hat wie bereits der Ausgangspunkt der operationalen Schließung den Charakter einer theoretisch abgeleiteten Prämisse, die man nicht direkt, sondern nur indirekt überprüfen kann. Sie muss sich an den empirischen Phänomenen bewähren, die mit ihrer Hilfe verstanden und beschrieben werden können. Beispiele für dieses Vorgehen liefert die Theorie sozialer Systeme, die sowohl den Umweg über die allgemeine Systemtheorie zur Vermeidung von Analogieschlüssen als auch den Umgang mit dem empirischen Material beispielhaft vorgeführt und eingeübt hat. Eine in diesem Sinne allgemeine Kognitionswissenschaft, die von Neurophysiologen, Biologen, Psychologen, Soziologen und Philosophen interdisziplinär betrieben wird, böte die Chance, den Paradigmentransfer in alle Richtungen vorzunehmen.

Century. In: Science in Context 14 (2001), S. 507–510; Young, Allan: Empathic Cruelty and the Origins of the Social Brain. In: Critical Neuroscience. Hg. v. Suparna Choudhury u. Jan Slaby. Chichester 2012, S. 159–176. 66 Im Anschluss an Waldenfels, Bernhard: Antwortregister. Frankfurt am Main 1994, könnte man weitere Register der verzögerten »Responsivität« nicht nur in der Kommunikation, sondern auch zwischen Gehirn, Bewusstsein und Gesellschaft untersuchen, etwa Idiotie, Idiosynkrasie, Ironie, Blödigkeit (dazu Stanitzek, Georg: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989), Coolness sowie neuronale und psychologische Komplemente. 67 Siehe zu Letzterem Luhmann: Soziale Systeme, S. 51–57.

Reinhard Merkel

Ist ein »freier Wille« Bedingung strafrechtlicher Schuld?

1. Grundlagen; Begriffliches Haben Menschen einen »freien Willen«, grundsätzlich jedenfalls oder immerhin manchmal? Das hängt ersichtlich auch davon ab, wie man den Begriff versteht. Wie man ihn verstehen sollte, ist umstritten und ich komme darauf zurück. Einige grundlegende Differenzierungen sind aber für jede sinnvolle Klärung des Freiheitsproblems erforderlich. Zu unterscheiden ist zunächst das System der institutionalisierten bürgerlichen Freiheiten einer Gesellschaft1 von der individuellen Freiheit der Person. Für die letztere wiederum sind Handlungsfreiheit und Willensfreiheit auseinanderzuhalten. Beide hängen auf eine in mancherlei Hinsicht unklare Weise zusammen, doch kann das in unserem Zusammenhang dahinstehen. Hier soll die Rede vom freien Willen sein und deshalb nur von freien Handlungen, die auf einem solchen Willen beruhen. Unterscheiden lassen sich schließlich »negative« und »positive Freiheit«: jene als die Freiheit des Handelnden von externen, diese als die von internen Hindernissen.2 Solche Hindernisse können ihrerseits als unmittelbarer Zwang (vis absoluta) oder als bloße Nötigung (vis compulsiva) auftreten. Externe Zwänge können physischer oder normativer, interne dagegen psychischer oder normativer Art sein.3 Auch diese Unterscheidungen sind sowohl mit Blick auf die Handlungs- wie auf die Willensfreiheit sinnvoll. Positive Freiheit, die Abwesenheit interner Zwänge, kann man auch als »personale Autonomie« des Handelnden verstehen. Freilich ist der Begriff der Autonomie ähnlich vielgestaltig und umstritten wie der der Freiheit. Bei 1

In Kants berühmter Definition »der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«: Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. 6. 1907 [1797], S. 230. »Willkür« heißt bei Kant allein die tatsächliche Entscheidung, auf bestimmte Weise zu handeln; ihre Freiheit ist lediglich die äußere Handlungsfreiheit (s. ebd., S. 226); vom »freien Willen«, der nach Kant nur »noumenal«, nie empirisch-phänomenal sein kann, ist dabei nicht die Rede. 2 Die Unterscheidung kann schwierig, die Abgrenzung im Einzelfall unklar und zuletzt Gegenstand einer bloßen Dezision begrifflicher Zweckmäßigkeit sein. 3 In Anlehnung an Wright, Georg H. von: Of Human Freedom. Tanner Lectures on Human Values. Vol. 6. Salt Lake City 1985, S. 117.

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Kant etwa heißt »Autonomie« allein die Selbstgesetzgebung des praktischen Vernunftsubjekts: die Subordination der Maximen eigenen Handelns unter den Kategorischen Imperativ. Damit wird Autonomie einerseits entindividualisiert (universalisiert), andererseits moralisiert − mit der bemerkenswerten Konsequenz, dass verwerfliche, mit dem Sittengesetz kollidierende Handlungen nicht autonom sein können.4 Die heute vorherrschenden Begriffe personaler Autonomie weichen hiervon ab. Sie verstehen Autonomie überwiegend als tatsächliche Fähigkeit zur »Selbstbestimmung«, als faktische, nicht notwendig moralische Herrschaft über das eigene Handeln beziehungsweise als entsprechende Eigenschaft des eigenen Charakters.

Freiheit als Möglichkeit alternativen Handelns In einem ersten Zugriff und im Einklang mit geläufigen Intuitionen lässt sich der Begriff »freien Handelns« so explizieren: Frei ist eine Handlung dann und nur dann, wenn der Handelnde auch anders handeln beziehungsweise jedes Handeln unterlassen könnte. Diese Explikation wird meist »Prinzip der alternativen Möglichkeiten« genannt, im Folgenden kurz »PAM«.5 PAM gilt, wenn es gilt, auch für den Begriff des freien Willens. Danach ist, wer sich zu einem bestimmten Handeln entscheidet, darin frei, wenn er sich auch anders hätte entscheiden können. PAM scheint eine notwendige Bedingung für willensfreie Handlungen zu sein. Freilich ist, wie wir sehen werden, keineswegs klar, was »Andershandelnkönnen« genau bedeutet. Eine hinreichende Freiheitsbedingung ist PAM jedenfalls nicht. Dafür wäre außerdem zumindest erforderlich, dass sowohl die tatsächlich vorgenommene Handlung X als auch die alternativ mögliche (freiheitsverbürgende) Handlung Y für den Handelnden selbst generischer Art sind, Handlungen also, deren Typus er beherrscht, so dass er sie im Prinzip wiederholen könnte. Denn eine Handlung des Typus X, kann einem Handelnden durchaus auch dann gelingen und in diesem Sinne möglich sein, wenn er die Fähigkeit zu X-Handlungen gar nicht hat. Ein schlechter Schütze mag aus großer Entfernung ausnahmsweise ins Schwarze der Zielscheibe treffen, wiewohl seine Schießfähigkeit hinter der für einen solchen Treffer erforderlichen weit zurückbleibt. Der Treffer wäre nicht das verwirklichte Ziel freien Handelns des Schützen, sondern ein Zufallsprodukt seines Glücks. Das Wort »können« in 4

Das daraus resultierende Problem der Zurechnung verwerflicher Handlungen zur Verantwortlichkeit des Handelnden versucht Kant später mit der Unterscheidung von Autonomie und Zurechnungsfähigkeit zu lösen. 5 In Analogie zu dem in der internationalen Diskussion geläufigen »PAP« für »Principle of Alternative Possibilities«.

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dem Ausdruck »frei handeln können« muss also für die tatsächliche wie für die hypothetisch-alternative Handlung ein generisches Können bezeichnen. Das gleiche gilt für »freie« Unterlassungen im Sinne von PAM. Wer eine Handlung nicht vornimmt – etwa der schlechte Schütze das Ins-Schwarze-Schießen – die er generisch nicht beherrscht, unterlässt sie nicht etwa und gegebenenfalls frei, sondern beugt sich den Grenzen seines Vermögens.6 Diese Unterscheidungen werden in der gegenwärtigen Diskussion um die Willensfreiheit nach meinem Eindruck zu oft vernachlässigt. Manche der Freiheitskriterien, die vorgeschlagen werden, erweisen sich bereits hieran als unangemessen optimistisch. Sie mögen der einen oder anderen Kategorie aus dem skizzierten begrifflichen Schema genügen, scheitern aber schon an der nächsten, die übersehen oder ignoriert worden ist. Auch normativ sind die Unterscheidungen bedeutsam. Möglich ist nicht nur, dass jemandem, der keine Fähigkeit zum X-Handeln hat, gleichwohl zum Zeitpunkt t eine X-Handlung gelingt, sondern auch der umgekehrte Fall: Jemand, der zu t außerstande ist, eine X-Handlung vorzunehmen, mag dennoch auch zu t die Fähigkeit zum X-Handeln haben. Entsprechendes gilt für Unterlassungen: Wer zu t außerstande ist, eine X-Handlung zu unterlassen, also deren Vornahme zu vermeiden, mag gleichwohl genau zu t die Fähigkeit zur Unterlassung von X-Handlungen haben. Ist dies aber richtig, dann kann die für PAM konstitutive Wendung »anders handeln können« ganz Unterschiedliches bedeuten. Ich komme darauf zurück.

Freiheit als Handelnkönnen »aus Gründen« Vor allem in der deutschen Diskussion spielt noch eine weitere Explikation des Begriffs der Freiheit des Wollens (Handelns) eine prominente Rolle. Einen zwingenden begrifflichen Zusammenhang mit PAM hat sie nicht; »Libertarier« bejahen allerdings nicht selten beide Freiheitskriterien.7 Sie besagt, dass eine 6

Dieses generische Element in »frei« wird man plausiblerweise schon zum Begriff des Unterlassens rechnen. Der Freizeitsportler, der soeben 100 Meter in seiner neuen Bestzeit von 12 Sekunden gelaufen ist, hat es nicht etwa »unterlassen«, die Strecke in 10 Sekunden zu laufen. 7 Siehe etwa Nida-Rümelin, Julian: Über menschliche Freiheit. Stuttgart 2005, insbes. S. 49–51; anders aber ders.: Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen. In: Naturgeschichte der Freiheit. Hg. v. Jan-Christoph Heilinger. Berlin 2007, S. 229–245, S. 242 (Andershandelnkönnen sei »unerheblich«, Handelnkönnen nach Gründen allein entscheidend). Den »Raum der Gründe« als konstitutive Quelle freien Handelns betont Habermas, Jürgen: Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit: Wie lässt sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus versöhnen? In: DZPhil 54, 5 (2006), S. 669–707; insofern ähnlich Sturma,

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Handlung dann (willens-)frei sei, wenn der Handelnde sie »aus Gründen« vornimmt, und zwar aus solchen, die ihm als seine eigenen zugeschrieben werden können. Auch das hat etwas intuitiv Einleuchtendes. Bei näherem Hinsehen erweist sich das Freiheitskriterium des Handelnkönnens »aus Gründen« aber als mindestens ebenso unklar wie PAM. Präzisiert man es hinreichend, so verliert es seine Plausibilität gänzlich. Auch darauf komme ich zurück. Beide genannten Kriterien lassen sich kombinieren. Dann erhält man einen starken Freiheitsbegriff – nicht nur mit Vorzügen freilich, sondern auch mit bestimmten Nachteilen, wie sie starke Behauptungen mit sich bringen. Einerseits mag das so verstandene Prädikat »frei« erheblich weniger Handlungen zukommen, als wir gemeinhin anzunehmen geneigt sind. Andererseits mag aber ein derart starker Begriff, sofern er sich als plausibel erweist, den Streit um »Willensfreiheit oder Determinismus« definitiv zugunsten der ersteren entscheiden. Auszusehen hätte er nach dem bisher Gesagten etwa so: »Frei« ist eine Handlung X (oder ihr Unterlassen) dann und nur dann, (1) wenn der Handelnde dabei die Fähigkeit hat, generell Handlungen des Typs X auszuführen beziehungsweise zu unterlassen; (2) wenn er dabei auch anders handeln oder jedes Handeln unterlassen könnte; (3) und wenn er die konkrete Handlung X aus (mindestens) einem Grund ausführt, der sein eigener ist, (4) wenn also der Entschluss zu handeln durch nichts anderes bestimmt ist als seinen eigenen, auf Gründen beruhenden Willen. Eine Handlung, die diesen Kriterien genügte, wäre in einem starken, nämlich zweifachen Sinn »frei«: negativ, weil der Handelnde auch anders hätte handeln können, positiv, weil er autonom, nämlich aus eigenen Gründen gehandelt hat.

Verantwortlichkeit; Schuld Von hier aus lässt sich eine erste Brücke zu einem intuitiv einleuchtenden Begriff der Verantwortlichkeit – oder strafrechtlich: der Schuld − schlagen. Ihm scheint die skizzierte Freiheitskonzeption ein stabiles Fundament zu geben. Die Schuld eines Handelnden, der Unrecht getan hat,8 scheint danach vorauszusetzen:

Dieter: Freiheit im Raum der Gründe und im Raum der Ursachen. In: Willensfreiheit im Kontext. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Handeln. Hg. v. Sebastian Muders, Markus Rüther, Bettina Schöne-Seifert u. Marco Stier. Münster 2015, S. 19–41. 8 »Unrecht« drückt ein objektiv-normatives Urteil aus, »Schuld« dagegen eine subjektiv-individuelle Beziehung des Handelnden zu seiner Tat. Beides kann moralisch wie rechtlich verstanden werden.

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(1) eine auf dessen Willensfreiheit gegründete Handlungsfreiheit, die ihrerseits verlangt, (2) dass er aus eigenen Gründen entschieden und gehandelt hat, wiewohl er (3) anders hätte entscheiden/handeln können und zwar ebenfalls aus eigenen Gründen. Die Bedingung (3) – PAM – scheint nun ihrerseits zu fordern, dass die Ereignisse der Welt zumindest teilweise nicht naturgesetzlich festgelegt, nicht »determiniert« sind – nämlich jedenfalls menschliche Handlungen nicht, sofern sie den dargelegten Kriterien genügen.9

2. Der prinzipielle Einwand Grob formuliert lautet er in der Abfolge seiner tragenden Argumente ungefähr so: (1) Was immer die Begriffe »Wille« oder »Entscheidung«10 genau bedeuten mögen: das von ihnen Bezeichnete gehört zur Sphäre des Mentalen. (2) Auf der Grundlage des heutigen wissenschaftlichen Weltbilds erscheint es schwer bestreitbar, dass alle mentalen (»geistigen«) Phänomene im Bewusstsein eines Menschen auf Aktivitäten seines Gehirns beruhen.11 Diese Korrelation ist asymmetrisch: Mentale Ereignisse werden – auf welche Weise immer – von Ereignissen im Gehirn hervorgebracht, nicht umgekehrt. Anders gewendet: Indem neuronale Aktivität stattfindet, entstehen mentale Ereignisse; nicht dagegen: indem mentale Ereignisse stattfinden, entsteht Gehirnaktivität.

9

Den unklaren und vieldeutigen Ausdruck »determiniert« verwende ich hier und im Folgenden nicht in irgendeinem strikt technischen, sondern in dem einfachen und intuitiven Sinn, wonach ein Phänomen determiniert ist, wenn seine Zukunft von seiner Vergangenheit eindeutig festgelegt wird. Sensu stricto determiniert ist der Weltverlauf vermutlich nicht (sagt jedenfalls die theoretische Physik). Dass etwas »naturgesetzlich« bzw. »determiniert« verläuft, soll nicht mehr besagen als dass es naturgegebenen Regularien folgt, die – wie unvollkommen auch immer verstanden oder benannt – jedenfalls nicht von Menschen gemacht und unserer Einflussnahme entzogen sind. 10 Für die Zwecke unserer Überlegungen ist es vorteilhaft, den unklaren Begriff des Willens auf den engeren und deutlicheren der »Entscheidung«, nämlich der zu einer Handlung, zu reduzieren; siehe Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Baden-Baden 22014, S. 15 f. »Freier Wille« meint also im Folgenden vornehmlich den mentalen Akt einer freien Entscheidung. 11 Ob man zur Klasse der »mentalen Phänomene« nur bewusste oder auch unbewusste Ereignisse (Vorkommnisse) rechnen will, ist für unsere Zwecke ohne Belang. Jedenfalls die bewussten gehören dazu, und damit auch »Entscheidungen« zum Handeln, die gegebenenfalls »frei« genannt werden können.

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(3) Gehirne sind physikalische Systeme. Ihre internen Veränderungen folgen daher Regularien der Natur, die von Menschen nicht geändert oder umgangen werden können. Ob diese Regularien strikt deterministisch sind oder nicht, ist dafür ohne Belang. (4) Äußere Körperbewegungen als das physische Substrat von Handlungen werden über Aktivitätsmuster im Gehirn und davon verursachte Prozesse der Innervation jeweils relevanter Körperregionen ausgelöst und realisiert, also ebenfalls im Modus einer kausalen Abfolge physischer Vorgänge, die Regularien der Natur unterliegen. Die (prinzipiell denkbare) vollständige Beschreibung jener Abfolge erklärt die fraglichen Bewegungen vollständig. (5) Als »frei« im Sinne von PAM oder gemäß dem Kriterium des Handelns aus Gründen kann der Wille nur dann begriffen werden, a) wenn er, nicht naturregulierte physische Vorgänge, die fraglichen Handlungen genuin auslöst und steuert; möglich ist das nur dann, wenn er auch jene Körperbewegungen steuert, die das äußere Substrat der Handlung und damit deren condicio sine qua non sind; b) und wenn er dabei seinerseits von jenen Naturregularien weder ausgelöst noch gesteuert wird. (6) Die Bedingung (5 a) kollidiert ersichtlich mit Prämisse (4) − es sei denn, der dort skizzierten naturalistischen Erklärung des Auslösens der Bewegung könnte eine weitere, mentalistische, beigestellt werden, die den Bewegungsvorgang als zugleich vom Willen ausgelöst und damit als überdeterminiert plausibel machte. Schon für eine einzelne Handlung ist dies schwer vorstellbar, da es eine kausale Interaktion zwischen mentalen und körperlichen Vorgängen voraussetzt, die mit Grundgesetzen der Physik zu kollidieren scheint.12 Da die Bedingung (5 a) alle willensfreien Handlungen beträfe, statuiert sie darüber hinaus eine systematische Überdetermination solcher Handlungen – eine metaphysisch aussichtslose These. (7) Schließlich kollidiert Bedingung (5 b) mit Prämisse (2). Kann der Wille selbst nur in asymmetrischer Abhängigkeit von (neuro-)physiologischen Vorgängen, die Naturregularien unterliegen, manifest werden, dann ist schwer zu sehen, wie er beziehungsweise sein Inhalt sich den Maßgaben dieser Regularien entziehen und – im Sinne von PAM oder einer Genese allein aus »Gründen« – frei sein könnte. Alle Aussagen in (1) bis (7) sind nach meiner Überzeugung richtig. Sie enthalten aber eine Reihe mehrdeutiger und umstrittener Begriffe, die metaphysische Rätsel und ungelöste empirische Fragen aufwerfen. Unklar und in zentralen 12

Ersichtlich eine Variante des cartesischen interaktionistischen Dualismus, der heute, soweit ich sehe, keine offen bekennenden Anhänger mehr hat. Dass es andere, philosophisch ernstzunehmende dualistische Konzeptionen gibt, steht auf einem anderen Blatt.

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Aspekten unverstanden ist vor allem die unter (2) formulierte These, wonach alles Mentale, also auch der Wille, in seiner Entstehung wie in seinem Inhalt, auf neurophysiologischen Grundlagen beruht.13 Damit kann Verschiedenes gemeint sein: ein kausaler Zusammenhang, ein nicht-kausales Konstitutionsverhältnis, eine epiphänomenale Relation bloßen »Begleitens«, »Emergenz« des Mentalen, dessen »Realisierung« durch das Physische, seine Identität mit diesem oder seine »Reduzierbarkeit« darauf und schließlich jener Zusammenhang, der in der neueren philosophischen Diskussion »Supervenienz« heißt.14 Keiner dieser Begriffe ist sonderlich klar, alle sind als philosophische terms of art mehrdeutig (was Missverständnisse fördert) und für keinen gibt es notwendige oder hinreichende Bedingungen seiner empirischen Verifikation. Damit ist zweierlei angedeutet. Zum einen gehört zum Kern des Freiheitsproblems das klassische Leib-Seele- (oder Geist-Gehirn-) Problem: die Frage, wie Bewusstsein möglich ist und damit das wohl profundeste Mysterium der philosophy of mind.15 Zum anderen und hiermit zusammenhängend: die unter (2) festgehaltene Prämisse und vor allem ihre möglichen Konkretisierungen von »Kausalität« bis »Supervenienz« formulieren keine empirische, sondern eine metaphysische These. Einer genauen naturwissenschaftlichen Aufklärung

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Dass diese Grundlagen ihrerseits nicht einfach nur gehirnintern entstehen, sondern auch aus zahllosen physiologischen Interaktionen mit dem Rest des Körpers und über diesen mit der Umwelt, versteht sich. Alle diese Interaktionen sind ausschließlich und (im Prinzip) vollständig naturalistisch erklärbar. 14 Zu diesen Begriffen: Ein kausaler Zusammenhang zwischen Geist und Gehirn ist schon begrifflich unplausibel. »Konstitution« wird gedacht in (grober) Analogie zu dem Zusammenhang, in dem mikrophysikalische Elemente eines Gegenstands mit dessen makrophysikalischen Eigenschaften (Maße, Gewicht, Härte etc.) stehen. Zum Ursprung des Epiphänomenalismus Huxley, Thomas: On the Hypothesis that Animals Are Automata, and Its History (1874). In: Collected Essays. Vol. 1. Hg. v. dems. London 1893, S. 199–250. Zu der oft übertriebenen Katastrophenbeschwörung für den Fall der Wahrheit des Epiphänomenalismus siehe Fodor, Jerry A.: Making Mind Matter More. In: A Theory of Content and Other Essays. Hg. v. dems. Cambridge, London 1990, S. 137–159, S. 156 (»it’s the end of the world«); wohltuend gelassen dagegen Bieri, Peter: Trying out Epiphenomenalism. In: Erkenntnis 36 (1992), 283–309; zu »Emergenz, Realisierung, Supervenienz« Kim, Jaegwon: Supervenience and Mind. Selected Philosophical Essays. Cambridge 1993. »Reduzierbarkeit« verstehe ich nicht als ontologische, sondern als epistemologische These: als Behauptung einer explanatorischen »Rückführbarkeit« höherstufiger mentaler Beschreibungen auf Beschreibungen fundamentaler physikalischer (atomarer und subatomarer) Vorgänge. 15 Manche dürften hier widersprechen, etwa unter Rekurs auf logisch-behavioristische Konzeptionen wie die von Ryle, Gilbert: The Concept of Mind. Chicago 1949. Mit der Ryleschen Reduktion mentaler Prädikate auf Verhaltensdispositionen wird das Problem freilich nicht gelöst, sondern auf wenig überzeugende Weise eskamotiert.

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ist der spezifische Modus der asymmetrischen Relation von Geist und Gehirn nicht zugänglich.16 Das heißt freilich nicht, dass die These selbst unplausibel wäre.17 Im Gegenteil ist sie als metaphysische allen Konkurrenten weit überlegen, die »dem Willen« beziehungsweise einzelnen mentalen Akten oder Vorgängen (wie Intentionen, Entscheidungen, Deliberationen) eine genuin selbständige, vom »naturalistischen« Funktionieren des Gehirns unabhängige Rolle bei der Einleitung und Ausführung menschlicher Handlungen zuschreiben. Auch passen ihre Konsequenzen in zahlreichen Kontexten weitaus besser zu den empirischen Befunden der modernen Naturwissenschaften als die jener anderen Theorien. Denn keine von diesen kann am Ende den stillschweigenden Rekurs auf eine Spielart des interaktionistischen Dualismus vermeiden und das bedeutet: eine Kollision mit der modernen Physik. Damit ist von den zahlreichen Frontlinien im Streit um die Willensfreiheit die grundsätzlichste markiert. Auf der einen Seite sämtliche Spielarten eines Naturalismus oder Physikalismus, der alle mentalen Phänomene als abhängig von oder identisch mit neurophysiologischen Vorgängen begreift und ihr Entstehen daher als einen Prozess, der naturgesetzlichen Regularien unterliegt. Auf der anderen ein im weitesten Sinne verstandener Mentalismus, der zwar den systematischen Zusammenhang von »Geist« und Gehirn keineswegs zu leugnen braucht, aber jedenfalls diejenigen Handlungsentschlüsse, deren Freiheit er annimmt, als in irgendeinem Sinn emanzipiert vom »deterministischen« System des Gehirns dartun muss.18 Anhänger der ersteren Gruppe tendieren, soweit sie die Freiheit menschlichen Handelns bejahen, naturgemäß zu kompatibilistischen Konzeptionen. Anhänger der letzteren sind dagegen »libertäre« Inkompatibilisten. Ihr Ziel ist es, den nomischen Zwangsverbund von Geist und Gehirn als soweit gelockert zu erweisen, dass er dem Mentalen 16

Das dürfte dem Freiheitsproblem auf unabsehbare Zeit ein vitales Überleben sichern; manche Philosophen halten es ohnehin für das meisterörterte der abendländischen Philosophie; vgl. Mackie, John L.: Ethics. Inventing Right and Wrong. London 1983, S. 311, Anmerkung zu Kapitel 9; Matson, Wallace I.: A History of Philosophy. Vol. 1. New York 1987, S. 158. 17 »Asymmetrisch abhängig« wird hier hinreichend weit verstanden, um auch Identitätsthesen verschiedener Provenienz einzuschließen. Ich selbst neige im Hinblick auf das für diese Theorien kaum lösbare »Qualia«-Problem nicht zu einer solchen; s. Merkel: Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 87–91, lasse das aber hier unerörtert; im Übrigen dazu Kim, Jaegwon: Physicalism, or Something Near Enough. Princeton 2005, insbes. S. 22–29. 18 Zu der hier untechnischen, nur abkürzenden Verwendung von »Determinismus« siehe Fußnote 9; zur Unerheblichkeit des subatomaren Indeterminismus der Quantenmechanik für die Willensfreiheitsdiskussion siehe Merkel: Willensfereiheit und rechtliche Schuld, S. 26 ff.

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irgendeinen indeterminierten Spielraum der Freiheit erlaubt, sei es im Sinne von PAM, sei es für ein Handeln nach Gründen.19 Im Folgenden will ich jeweils eines der zentralen Argumente beider Lager erörtern: das »Gründe versus Ursachen«-Argument der libertären Inkomptabilisten; und das Argument gegen die Richtigkeit von PAM, das von Harry Frankfurt entwickelt worden ist und von vielen Kompatibilisten vertreten wird. Beide Argumente haben prinzipielle Mängel.

3. Gründe vs. (naturalistische) Ursachen? Hier ist der Ausgangspunkt: Handlungen sind in rein kausalen Begriffen regelmäßig nicht verständlich zu machen. Wir brauchen für ihre Erklärung mentalistische Begriffe: Motive, Wünsche, Zwecke, Absichten, Überzeugungen, Neigungen et cetera. Die so beschriebenen mentalen Zustände, so das Argument, haben aber Eigenschaften, die es ausschließen, sie als unmittelbare, naturalistisch wirkende Ursachen aufzufassen. Vielmehr handle es sich um Gründe. Diese seien weder in ihrer Entstehung noch in ihrer Wirkung vollständig naturgesetzlich (deterministisch) erklärbar. Sie seien »naturalistisch unterbestimmt«20: Weder seien sie selbst verursacht, noch verursachten sie sensu stricto unser Handeln. Wohl bestimmten sie dieses und durchaus in einem Modus, den man »ursächlich« nennen könne, wenn nur klargestellt sei, dass es nicht der einer naturalistisch verstandenen Kausalität beziehungsweise eines deterministischen Mechanismus sei,21 sondern der des Ermöglichens einer freien Wahl zwischen Handlungsoptionen. Dieses Zusammenspiel von »naturalistischer Unterbestimmtheit« der Gründe und deren nichtnaturalistischer Bestimmung unseres Handelns sei unsere Freiheit.22 Die prima-facie-Plausibilität dieses »Gründe vs. Ursachen«-Arguments (im Folgenden »GvU-Argument) lebt in hohem Maße von der Unklarheit seiner zentralen Begriffe. Was genau sind »Gründe«? Wie verhalten sie sich semantisch zu anderen mentalistischen Ausdrücken, die ebenfalls handlungsbezogen sind wie etwa »Ziele, Zwecke, Motive« et cetera? Auch die erforderlichen 19

Inkompatibilist kann man ersichtlich auch als Freiheitsverneiner sein; dann hängt man einem »hard determinism« an, Ausdruck vom James, William: The Dilemma of Determinism, 1884. In: The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy. Hg. v. dems. New York 1923 [1896], S. 145–183. 20 Nida-Rümelin: Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen, S. 229–245. 21 Nida-Rümelin, Julian: Ursachen und Gründe – eine Replik. In: Naturgeschichte der Freiheit. Hg. v. Jan-Christoph Heilinger. Berlin 2007, S. 275. 22 Nida-Rümelin: Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen, S. 243.

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Folgefragen werden regelmäßig nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. Inwiefern genau sind Gründe »naturalistisch unterbestimmt«? Wie genau hat man sich ihre ebenfalls naturalistisch unterbestimmte, aber gleichwohl handlungsauslösende Wirkung vorzustellen? Und wie ließe sich das alles gegebenenfalls plausibel machen? Sehen wir genauer zu.

Handlungsgründe – motivational (innere) und normativ (äußere) Was genau sind Handlungsgründe? Und was heißt es, dass eine Handlung »aus Gründen« geschieht? Zu beiden Fragen gibt es eine labyrinthische Vielfalt an Theorien und Argumenten. Sie müssen hier im Wesentlichen unerörtert bleiben. Zweierlei erscheint mir aber für das Folgende wichtig. 1. Seit langem geläufig, wiewohl in der deutschen Diskussion des GvU-Arguments weitgehend abwesend, ist die Differenzierung zwischen motivationalen beziehungsweise explanatorischen und normativen beziehungsweise rechtfertigenden Gründen.23 Gründe der ersteren Art erklären, warum ein Handelnder de facto so handelt beziehungsweise gehandelt hat, wie er es tut (getan hat) – im Englischen: reasons for which we act. Dagegen zielen Gründe der letzteren Art darauf, ein bestimmtes Handeln oder Unterlassen zu rechtfertigen, also darzulegen, warum ein Akteur eine bestimmte Handlung vornehmen beziehungsweise unterlassen sollte beziehungsweise hätte sollen – Englisch: reasons that there are for us to act. Die Unterscheidungslinie lässt sich begrifflich auch anders ziehen.24 Auch können beide Typen von Gründen in weitere Untergruppen ausdifferenziert werden. Darauf kommt es hier nicht an. Wichtig für unser Thema ist vielmehr, ob eine mögliche »naturalistische Unterbestimmtheit« für »normative« oder für »motivationale« oder für beide Typen von Gründen gilt. Zur Illustration: A sieht ein in einen Teich gefallenes Kind, das am Ertrinken ist; er springt ins Wasser und rettet das Kind. Warum hat er das getan? Hier die wesentlichen »äußeren«, normativen Gründe: (1.) die Tatsache der für das Kind lebensbedrohlichen Umstände, (2.) die Tatsache, dass A davon Kenntnis erhielt (über zahllose physikalische Prozesse außerhalb und physiologische innerhalb seines Körpers), (3.) die Existenz bestimmter Normen, die Hilfsgebote statuieren, (4.) und gegebenenfalls einige weitere. Nun können jedenfalls die 23

Siehe etwa Nagel, Thomas: The Possibility of Altruism. Oxford 1970, S. 15 ff.; Smith, Michael: The Moral Problem. Oxford 1994, S. 130 ff. 24 Wright, Georg H. von: Freedom and Determination. Acta Philosophica Fennica 31. Amsterdam 1980, S. 28 unterscheidet sinngemäß ähnlich zwischen »internal reasons« (»determinants«), die er zur mentalen Sphäre der handelnden Person rechnet, und »external reasons«, die zur (auch normativen) Umwelt der Person gehören.

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Normelemente eines solchen äußeren Grundes offensichtlich nicht direkt kausal für A’s Handeln sein. Ob sie außerdem selber naturalistisch unterbestimmt sind, ist dafür belanglos und kann offen bleiben.25 Jedenfalls bestimmen sie A’s Handeln nicht unmittelbar naturalistisch. Aber das ist im Hinblick auf »äußere« Handlungsgründe trivial. Auch deren physische (naturalistische) Elemente – in meinem Beispiel etwa die Umstände »Kind im Wasser, drohendes Ertrinken, A’s Fähigkeit zu schwimmen« – können Handlungen nicht im Modus einer unmittelbar naturalistischen Kausalität auslösen. (Selbstverständlich könnte ein hinreichend zynischer Beobachter das Kind auch ertrinken lassen.) Vielmehr müssen solche Gründe, um handlungswirksam zu werden, übersetzt werden in den physiologischen »Rohstoff« von Handlungen: die innerkörperlichen Vorgänge, die schließlich in körperliche Bewegungen münden. Allenfalls, wenn dieser Übersetzungsvorgang »naturalistisch unterbestimmt« wäre, hätte das GvU-Argument eine Chance, gerade das Handelnkönnen »aus Gründen« als Kriterium einer indeterministisch verstandenen Willensfreiheit plausibel zu machen. Die Frage der »Unterbestimmtheit« der äußeren, normativen Gründe selbst ist für die Freiheitsfrage irrelevant. Wenn der »naturalistisch unterbestimmte« Grund g die Handlung h des A auf eine Weise auslöst, die naturalistisch vollständig bestimmt, also deterministisch ist, dann handelt A ganz genauso unfrei wie wenn g selbst naturalistisch bestimmt wäre.26 2. Damit sind wir bei den motivationalen (explanatorischen, »inneren«) Gründen, den reasons for which wir handeln. Auf sie allein scheint es anzukommen. Nun gibt es freilich auch insofern »Internalisten« und »Externalisten«. Die ersteren nehmen an, dass motivationale Gründe psychische Zustände sind, nämlich propositionale Einstellungen des Handelnden. Externalisten dagegen verstehen solche Gründe als objektive Zustände der externen Welt, auf die sich der Handelnde (irgendwie) bezieht.27 25

Plausibel ist die Unterbestimmtheitsbehauptung hier nur als epistemologische; als ontologische läuft sie auf eine wenig überzeugende metaphysische Hypothese hinaus. Solche Normen können ja schwerlich aus einem platonischen Ideenhimmel gefallen sein. Woher sonst sollten sie stammen, wenn nicht aus dem zwar undurchschaubar komplexen, aber wohl gänzlich naturalistisch bestimmten Zusammenspiel unzähliger Vorgänge der biologischen und sozialen Evolution der Menschheit? 26 Anders aber offenbar Nida-Rümelin: Unterbestimmtheit, S. 233; er unterscheidet zutreffend die Frage einer Unterbestimmtheit von Gründen von der einer Unterbestimmtheit der Handlungen, die aus diesen Gründen erfolgen, ignoriert aber dann die letztere Frage und widmet sich ausschließlich der ersteren. Diese ist aber für das Freiheitsproblem irrelevant (siehe oben); allein entscheidend ist die zweite, die leider unerörtert bleibt. 27 Triviales Beispiel: A sieht, dass es draußen regnet; deshalb nimmt er seinen Regenschirm mit. Ist der Grund dafür A’s Überzeugung, dass es regnet (so der Internalist)

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Internalisten scheinen also motivationale Gründe mit handlungsbestimmenden Motiven gleichzusetzen. Damit scheint der oben angedeutete Transmissionsvorgang, der äußere Gründe in innere handlungsauslösende Motive übersetzt, nicht mehr erforderlich beziehungsweise bereits erledigt. Freilich bleibt mindestens eine weitere Transmission auch dann noch erklärungsbedürftig: die Brücke vom Motiv des Handelnden zum Ingangsetzen der neuralen Innervation seines Körpers und damit der Bewegungen, mit denen die Handlung ausgeführt wird. Bei Externalisten verhält sich die Sache anders. Sie müssen sub specie Transmission motivationale Gründe genauso behandeln wie normative. Denn beide sind externe (objektive) Quellen handlungsbestimmender Elemente und bedürfen deshalb in gleichem Maß eines Vorgangs der Übersetzung ins (mentale wie physiologische) Innere des Handelnden, um dessen Handlungen auslösen zu können. Noch genauer betrachtet gibt es bei motivationalen Gründen für Externalisten vier und für Internalisten drei solche Übersetzungsvorgänge, die gegebenenfalls naturalistisch unterbestimmt wären: (1) (und nur für Externalisten) die Transmission des Grundes in ein Motiv zu handeln; (2) (und nun für beide Gruppen) die Transmission des Motivs in einen Handlungsentschluss; (3) die Transmission des Handlungsentschlusses in eine Kaskade neuronaler und muskulärer Vorgänge, von denen die Körperbewegung als physisches Substrat der Handlung ausgelöst wird; (4) und für zeitlich ausgedehnte Handlungen schließlich die Brücke vom Auslösen der Handlung zu ihrer Fortsetzung und zu der sie begleitenden körperlichen Kontrolle, Steuerung und gegebenenfalls Korrektur.28 Die für das GvU-Argument entscheidende Frage lautet nun: Ist irgendeiner dieser Übersetzungsschritte »naturalistisch unterbestimmt«? Dafür spricht nicht das Mindeste. Für die Schritte (2) bis (4) liegt das unter der oben, sub 2. (2), dargelegten Prämisse des Erfordernisses einer neuronalen Grundlage für alle mentalen Vorgänge oder Zustände auf der Hand. Motiv und Handlungsentschluss müssen neuronal »realisiert« sein, um zu existieren.29 Alle Vorgänge spielen sich dann als physiologische im Körperinneren des Handelnden ab und oder ist es die Tatsache, dass es regnet (so der Externalist)? Siehe exemplarisch nur Bittner, Rüdiger: Doing Things for Reason. Oxford 2001 sowie Alvarez, Maria: Kinds of Reasons. New York 2010 (pro Externalismus); dagegen Davis, Wayne A.: Reasons and Psychological Causes. In: Philosophical Studies 122 (2005), S. 51–101 (pro Internalismus). 28 Dass mit Blick auf »normative Gründe« für beide Theorien alle vier Transmissionsvorgänge erklärungsbedürftig sind, liegt auf der Hand. 29 Oder über Gehirnprozessen »supervenieren«, aus ihnen »emergieren«, auf sie »reduzierbar« sein; vgl. oben sub. 2.

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unterliegen daher unbeschadet der zugehörigen (dadurch »realisierten«) mentalen Ereignisse gesetzesartigen Regularien der Natur, die vollständig naturalistisch bestimmt sind. Das würden wohl auch viele Vertreter des GvU-Arguments nicht bestreiten. Der entscheidende Schritt aber, so könnten sie sagen, ist der vom externen Grund zum internen Handlungsmotiv. Und dieser sei naturalistisch unterbestimmt. Genau deshalb zwinge der Grund nicht zum Handlungsentschluss, also erfolge dieser frei. Auch das ist freilich nicht plausibel. Betrachten wir diesen ersten Transmissionsschritt genauer30: Dass der äußere Grund zum Motiv des Handelnden (beziehungsweise und für Internalisten: zu seinem »motivationalen Grund«) werden muss, ist unstreitig; und dass hierfür irgendeine neuronale Realisierung dessen, was wir »Motiv« nennen, erforderlich ist, sollte eigentlich ebenfalls unstreitig sein.31 Dieser Vorgang geschieht durch (1.) Wahrnehmung und Bewusstwerdung des Sachverhalts, der den äußeren Grund ausmacht (etwa: »Kind im Wasser, Ertrinkungsgefahr, Hilfspflicht«); Wahrnehmung wie Bewusstwerdung erfolgen über zahllose physikalische (vor allem optische) und physiologische Prozesse außerhalb und innerhalb des Körpers des Handelnden. (2.) Der Vorgang setzt sich fort in einem bestimmten dynamischen Zustand des Gehirns, der aus der neuronalen Verarbeitung der sensorischen Inputs entsteht und der (3) maßgeblich mitgeprägt wird von der gehirninternen Aktivierung zahlreicher Persönlichkeitsmerkmale, Erinnerungen, aktueller Emotionen (et cetera) des Handelnden, die alle ebenfalls neuronal realisiert sein müssen, um gegenwärtig und wirksam zu sein.32 Nichts davon lässt eine »naturalistische« Lücke. Nur so erklärt sich der Wirkungszusammenhang zwischen den äußeren und inneren Elementen eines Handlungsgrundes und der aus eben diesem Grund vorgenommenen Handlung selbst. Und er ist nun ersichtlich einer zwischen Ursachen und Wirkungen, also naturalistisch vollständig bestimmt. Die beiläufige Bemerkung, Gründe müssten vom Handelnden »akzeptiert« werden, um handlungswirksam zu sein, reicht zur Kennzeichnung dieses Vorgangs nicht aus.33 Gerade an ihm müsste die These der naturalistischen 30

Von der für die zuständigen Wissenschaften laienhaften Terminologie des Folgenden hängt nichts ab. 31 Ist es für interaktionistische (cartesianische) Dualisten aber nicht; für deren Standpunkt spricht freilich nichts. 32 Die Notwendigkeit, den externen außerphysikalischen Grund und das interne, nur neurophysiologisch realisierbare Sich-zu-eigen-Machen dieses Grundes genau zu unterscheiden, betont auch Pothast, Ulrich: Freiheit und Verantwortung. Frankfurt am Main 2011, S. 69. 33 So Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit, S. 54; manche anderen Vertreter des GvU-Arguments thematisieren diesen Übersetzungsschritt vom Grund zu dessen Akzeptiertwerden durch den Handelnden überhaupt nicht.

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Unterbestimmtheit des Handelns (und nicht die irrelevante des externen Grundes) ihre Plausibilität erweisen, um ihren Vertretern eine Chance zu eröffnen, ihr Begründungsziel zu erreichen. Nach den obigen Erörterungen scheint mir nichts für eine solche Chance zu sprechen.

Kausalität von Gründen: nicht-naturalistisch? Man gewinnt für das GvU-Argument nichts, wenn man den dargelegten Transmissionszusammenhang ignoriert oder überspringt, indem man die Kausalität zwischen Grund und Handlung einfach als »nicht-naturalistische« ausgibt und hierfür auf nicht-physikalistische Kausalitätstheorien verweist, etwa auf David Lewis’ kontrafaktische Konzeption34 oder auf John Mackies INUS-Bedingung.35 Da der physikalistisch-kausale Zusammenhang zwischen der neuronalen Realisierung eines Motivs beziehungsweise Handlungsentschlusses und der von ihm ausgelösten Körperbewegung nicht ernstlich zweifelhaft und bis in die atomaren Grundlagen der involvierten biologischen Materie hinein bekannt ist, muss die Frage, wie dieser Handlungsentschluss selbst »durch Gründe« erzeugt wird, bei Strafe eines sonstigen Verstoßes gegen Grundsätze der Physik physikalistisch beantwortet werden – oder wird es überhaupt nicht. Dafür bedarf es einer Konzeption der »produktiven«, »generativen« oder »Prozess«-Kausalität (durchaus im Sinne der aristotelischen »causa efficiens«). Kausale Relata werden danach verknüpft durch den Transfer einer physikalischen Erhaltungsgröße wie Energie, Impuls oder Spin.36 Reine Regularitätsversionen der Kausalität (einschließlich der Mackieschen) oder kontrafaktische Theorien, die in anderen Zusammenhängen sinnvoll und ausreichend sein mögen, helfen für unsere Frage der mentalen Verursachung 34

Lewis, David: Causation. In: The Journal of Philosophy 70, 17 (1973), 159–172; ders.: Counterfactuals. Oxford 1973. 35 Das tut Nida-Rümelin: Replik, S. 278 mit der irrigen Behauptung, die Konzeption der INUS-Bedingung sei »weithin unbestritten«; sie ist eine von mehreren grundsätzlich rivalisierenden Kausalitätskonzeptionen, mehr nicht. Keineswegs ist sie in der einschlägigen Diskussion, was Juristen »herrschende Meinung« nennen. 36 Aus der umfangreichen Literatur hierzu nur Dowe, Phil: Causal Process Theories. In: The Oxford Handbook of Causation. Hg. v. Helen Beebee, Christopher Hitchcock u. Peter Menzies. New York 2009, S. 213–233; ders.: Physical Causation. Cambridge 2000; Ehring, Douglas: Causation and Persistence. A Theorie of Causation. Oxford, New York 1997; Fair, David: Causation and the Flow of Energy. In: Erkenntnis 14, 3 (1979), S. 219–250; Kistler, Max: Causation and the Laws of Nature. London 2006; Salmon, Wesley C.: Causality and Explanation. Oxford, New York 1998; Woodward, James: Making Things Happen: a Theory of Causal Explanation. Oxford, New York 2003; zu einigen guten Gründen für solche Konzeptionen Esfeld, Michael: Einführung in die Naturphilosophie. Darmstadt 2002, S. 96.

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nicht weiter. Denn eben das, worum es in diesem Zusammenhang geht, erklären sie nicht: Wie gerade diejenigen (energieverbrauchenden!) Veränderungen bestimmter physischer Zustände, nämlich derjenigen neuronalen Zustände, welche erst das Handlungsmotiv und dann den Handlungsentschluss realisieren sowie schließlich dessen physische Folgen auslösen, in die physikalische Welt des Gehirns kommen, in der sie stattfinden.37 Wer hierfür – unter Berufung auf welche Kausalitätskonzeption auch immer – rein nicht-materielle Ursachen genügen lässt, vertritt nolens volens einen cartesischen interaktionistischen Dualismus.38 Zudem nimmt er eine Kollision mit Grundgesetzen der Physik in Kauf, die auch für metaphysische Argumente eine verbindliche Grenze markieren.39

Weitere Einwände Damit scheitert, meine ich, das GvU-Argument a limine. Auf eine Reihe weiterer Einwände kommt es deshalb gar nicht an. Zwei der wichtigsten seien immerhin erwähnt. »Aus Gründen handeln« können auch hochgradig Geisteskranke, zum Beispiel paranoid Schizophrene. Sollen solche Gründe freiheitsverbürgend sein? Gerade in ihnen, die im Ganzen ein durchaus kohärentes 37

Dazu durchschlagend Kim, Jaegwon: Causation and mental causation. In: Essays in the Metaphysics of Mind. Hg. v. dems. Oxford, New York 2010, S. 243–262, insbes. S. 255 ff. 38 So auch Pauen, Michael: Ursachen und Gründe. Zwei zentrale Begriffe in der Debatte um Naturalismus und Willensfreiheit. In: Naturgeschichte der Freiheit. Hg. v. JanChristoph Heilinger. Berlin, New York 2007, S. 247–272, S. 256 Fußnote 3. 39 Ebenfalls nicht überzeugend erscheint mir Nida-Rümelins Hinweis, es gebe auch in der Naturwissenschaft anerkannte Ursachen, die »nicht die Form einer Energieübertragung« hätten: Ein sich reibungsfrei bewegendes Teilchen »verliert nicht an Geschwindigkeit (Bewegungsenergie), wenn lediglich Transversalkräfte einwirken«, diese seien aber ursächlich für dessen Ortsveränderung. Das Beispiel trifft unser Problem nicht. Es beschreibt einen Interaktionsvorgang, in dem der kausal bewirkte Zustand keine Energieveränderung aufweisen soll. Unbeschadet der Frage, ob dies richtig ist (dafür bin ich nicht kompetent), geht es beim Problem der mentalen Verursachung aber um Fälle, in denen die bewirkten Zustände – nämlich die Gehirnvorgänge, die einen Handlungsentschluss realisieren – bei ihrem Eintritt und während ihrer Dauer ganz zweifelsfrei Energie verbrauchen; vgl. Wilson, David L.: Mind-Brain Interaction and Violation of Physical Laws. In: The Volitional Brain: Towards a Neuroscience of Free Will. Hg. v. Anthony Freeman, Benjamin Libet u. Keith Sutherland. Thorverton: 1999, S. 185–200; ebenfalls Burns, Jean E.: Volition and Physical Laws. In: Journal of Consciousness Studies 6, 10 (1999), S. 27–47; Eine per definitionem nicht-physische Ursache, der »motivationale Grund«, für einen solchen energieverbrauchenden physischen Vorgang würde nach allem, was mir als Nichtphysiker einsehbar ist, auf eine Verletzung des 1. Hauptsatzes der Thermodynamik hinauslaufen.

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System der (phantasmagorischen) Weltdeutung widerspiegeln mögen, manifestiert sich regelmäßig die mentale Störung der Handelnden. Schon deswegen kann die These nicht richtig sein, Handlungsentscheidungen seien dann und deswegen »frei«, wenn und weil sie »aus Gründen« getroffen werden. Der paranoid Schizophrene, der den eigenen Vater für das Haupt einer weltumspannenden, die Menschheit bedrohenden Verschwörung hält und ihn deshalb umbringt, handelt ganz gewiss aus Gründen und zwar durchaus aus solchen, die sich seinem System der Weltdeutung schlüssig einfügen und für die er zahlreiche »bestätigende« Indizien finden mag – kurz, die für ihn höchstpersönlich ohne weiteres »gute« Gründe sind.40 Wollen wir diesen Totschlag »frei« nennen und just wegen seiner objektiv absurden Gründe? Nun mag man zur Rettung der These »Freiheit qua Gründe« ein Rationalitätspostulat einführen, das motivationale Gründe, die auf ein wahnhaftes äußeres Bezugssystem rekurrieren, ausschließt. Aber dann muss man erklären, warum Gründe, die nicht einem wahnhaften epistemischen, sondern einem wahnhaften moralischen System zugehören, nicht ausgeschlossen sein sollen. Einen Menschen aus Rassenhass zu töten, ist nicht weniger irrational, als dies zur Rettung der vermeintlich bedrohten Menschheit zu tun. Schlösse man freilich auch Gründe praktischer Irrationalität aus, dann müssten die meisten schweren Verbrechen als »unfrei« gelten und damit prima facie als schuldlos – ein widersinniges Ergebnis.41 Schließlich: handlungsbestimmende Gründe kollidieren mit dem zweiten libertären Freiheitskriterium, dem des Andershandelnkönnens (PAM). Je zwingender ein normativer und/oder motivationaler Grund ist, desto sicherer schließt er ein Andershandelnkönnen aus und diskreditiert damit das Kriterium PAM. Wenn A im konkreten Kontext für die Handlung h, sagen wir, zur eigenen Lebensrettung, einen derart zwingenden Grund hat, dass jedes andere Handeln extrem unvernünftig, nämlich tödlich wäre und deshalb für A psychisch ausgeschlossen ist, dann deckt sich die stärkste Form der Freiheit seines Handelns aus Gründen offenbar mit seiner stärksten Unfreiheit im Sinne von PAM. Und weiter: Bestimmt ein Dritter die für ein solches Handeln konkreten Umstände, so ändert selbst der objektiv allerbeste Grund nichts an der Unfrei40

Geschichte des Philosophiestudenten Mathias Illigen, dessen Studium (bei Peter Sloterdijk) eine Disposition zur manischen Schizophrenie manifest werden ließ, in deren Verlauf er seinen Vater als den vermeintlichen Anführer der Weltverschwörung tötete; siehe Illigen, Mathias: Ich oder Ich: Die wahre Geschichte eines Mannes, der seinen Vater getötet hat. Wien 2012. 41 Ein ähnlicher Einwand bei Pauen: Ursachen und Gründe, S. 268. Im Übrigen sind beide Wahnsysteme in den »guten Gründen«, die sie liefern, nicht selten untrennbar verbunden. Jemanden als Sklaven zu behandeln, weil man ihn für einen »Untermenschen« hält, ist moralisch so absurd wie kognitiv.

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heit der Entscheidung und der sie verwirklichenden Handlung. Das sprichwörtliche »Geld oder Leben« des Räubers macht das anschaulich. Für den Bedrohten, der nicht sterben will, liefert es ganz gewiss einen ausgezeichneten Grund, sein Geld dafür wegzugeben. Unfrei ist sein Entschluss dazu dennoch. Zwingt ihn dagegen ein naturgegebener Umstand zu einer analogen Handlung – er wendet sein ganzes Geld für die Bezahlung einer lebensrettenden Operation auf –, so ist sein entsprechender Entschluss gleichwohl nicht unfrei. Die Gründe freilich sind in beiden Fällen exakt die gleichen: der Wunsch, das eigene Leben zu retten. Mit der Freiheit der jeweiligen Entscheidung, die einmal zu bejahen, das andere Mal zu verneinen ist, haben sie nichts zu tun. Die dargelegte Notwendigkeit, die Erklärung von Handlungen jedenfalls im Hinblick auf deren körperliches Substrat einschließlich der motivationalen Gründe zu naturalisieren, scheint freilich nicht nur das GvU-Argument, sondern auch PAM auszuschalten. Geht es in der Welt physischer Ereignisse wie der von Körperbewegungen und neuronalen Vorgängen nach unbeeinflussbaren Naturregularien zu, dann scheint für jeden Handelnden im Moment seines Ansetzens zur Tat und unter identischen Weltbedingungen, die Zustände seines Gehirns eingeschlossen, ein Andershandeln ausgeschlossen zu sein. Darin eben liegt das Motiv des libertären Inkompatibilismus, eine solche Naturalisierung von Handlungserklärungen abzulehnen. An ihr gänzlich vorbeizukommen, erscheint aber unmöglich. Hieran scheitern, meine ich, sämtliche Spielarten des Inkompatibilismus. Alles Determinierte lässt keine Alternative und alles Indeterminierte lässt keine Kontrolle zu. Der Inkompatibilist braucht für die Annahme einer freien Handlung im Sinne von PAM aber unabdingbar beides. Das dürfte nicht zu haben sein.

4. Andershandelnkönnen? Harry Frankfurts Angriff auf PAM Aber kommt man nicht vielleicht an PAM vorbei? Handelt wirklich nur frei, wer beim Ansetzen zu seiner Handlung diese auch vermeiden könnte? Das bestreiten die meisten Kompatibilisten, und nicht wenige unter Berufung auf Harry Frankfurts berühmtes Argument.42 Dessen Essenz besteht in Folgendem: Die Frage der Freiheit einer Handlung hänge allein von der Sequenz der tatsächlich verwirklichten Vorgänge ab, die zur Handlung führen, nicht von einer hypothetischen Alternative, wie sie in PAM gefordert werde. Das Gedankenexperiment, mit dem Frankfurt sein Argument veranschaulicht, sei hier durch ein eigenes Beispiel ersetzt, das ein wenig plastischer ist: 42

Frankfurt, Harry: Alternate possibilities and moral responsibility. In: Journal of Philosophy 66 (1969), S. 829–839.

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A fährt mit seinem PKW eine steile Straße hinab, als ihm betrunken sein Feind B vors Auto läuft. A nutzt die Gelegenheit: Er bleibt ohne jeden Versuch zu bremsen mit seinem Fuß auf dem Gas, hält das Lenkrad unverändert ruhig und überfährt, wie beabsichtigt, B tödlich. Was A nicht weiß: X, der jedenfalls sicherstellen will, dass A den B überfährt, beobachtet das ganze Geschehen über einen Monitor und hält sich bereit, per Fernsteuerung Bremsen und Lenkung des PKW des A sofort zu blockieren, sollte dieser sich anschicken, zu bremsen oder um B herum zu lenken. Freilich kommt A keine Sekunde lang auf diese Idee; er will B töten und tut dies auch. Bildlich gesprochen: der nicht eingreifende X legt um die Abfolge dieser Ereignisse – von A’s Tötungsentschluss bis zu dessen Verwirklichung – einen imaginären Tunnel der Kontrolle, der den Ablauf des Geschehens garantiert. In keiner Richtung könnte A aus diesem Tunnel ausbrechen, sein konkretes Tötungshandeln also nicht vermeiden, falls er dies versuchte. Aber er versucht es gar nicht. Daher, sagt Frankfurt, stehe außer Frage, dass A für sein Handeln genauso verantwortlich sei, wie er es ohne Überwachung durch X wäre; schließlich habe X nicht in das Geschehen eingegriffen und nichts dazu beigetragen. Der Umstand des Überwachtwerdens sei zwar eine hinreichende Bedingung dafür, dass A so handelte, wie er’s getan hat; doch sei er dafür keine notwendige Bedingung. Oder, wie Frankfurt anderswo sagt: »Making an action unavoidable is not the same thing as bringing it about that the action is performed.«43 In einer vollständigen Erklärung, warum A so gehandelt hat, käme der Umstand der Kontrolle durch X nicht vor. Dass A nicht anders hätte handeln können, sei somit irrelevant für die Erklärung seines Tuns. Auch wenn er anders hätte handeln können, hätte er nicht anders gehandelt. Also müsse PAM aufgegeben werden.

Grenzen des Arguments Beispiel und Erläuterung haben eine hohe Suggestivität. Sieht man schärfer hin, stellen sich Zweifel ein. Die Frage, ob A anders hätte handeln können, hängt davon ab, wie man sein Handeln beschreibt. Tut man es so: »A hat B bewusst tödlich überfahren«, dann hätte A nicht anders handeln können. Lehnt man diese Beschreibung aber als unvollständig ab und erweitert sie daher um ein voluntatives Handlungselement, dann sieht die Sache anders aus: »A hat B bewusst und willentlich tödlich überfahren«. Dazu hatte A offensichtlich eine 43

Frankfurt, Harry: Some Thoughts Concerning PAP. In: Moral Responsibility and Alternative Possibilities. Hg. v. David Widerker u. Michael McKenna. Aldershot 2003, S. 339–345, S. 340.

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Alternative, nämlich die, den B zwar bewusst zu überfahren, aber ohne das selbst zu wollen. Nun mag man bestreiten, dass dies für das Handeln des A einen Unterschied ausmache, sei es, weil man die intentionale Seite überhaupt nicht zur Handlung rechnen will, sei es, weil man dafür beim Handelnden schon die bloße Kenntnis dessen, was er tut, ausreichen lässt und ein begleitendes voluntatives Element für entbehrlich hält. Doch muss die abstrakte Frage, ob die Differenz eines (und gegebenenfalls welches) subjektiven Elements aus zwei exakt gleichen äußeren Verhaltensweisen zwei verschiedene Handlungen macht, hier nicht entschieden werden. Denn ein genauerer Blick zeigt, dass sie in unserem Fall sogar einen Unterschied ums Ganze bedeutet: den zwischen Handeln und Nichthandeln. Hätte A pflichtgemäß versucht zu bremsen oder auszuweichen, so hätte er festgestellt, dass ihm das unmöglich war. Zwar hätte er B dann auf genau dieselbe äußere Weise tödlich überfahren, doch wäre ihm dieses Weiterfahren nicht einmal mehr als Handlung, sein Nichtbremsen et cetera nicht als Unterlassen zuzurechnen gewesen. Es wäre aus seiner Sicht ein böses Schicksal, aus objektiver Sicht allein die Tat eines anderen, des X, gewesen. A hätte also durch sein Anderswollen und den Versuch, dieses handelnd umzusetzen, sich im Hinblick auf die Tötung des B zu einem Nichthandelnden gemacht. Ein Nichthandeln ist aber im Vergleich zum Handeln ein Andershandeln, und zwar auch dann, wenn beide äußerlich identisch sind, wie gerade unser Fall zeigt. Frankfurts These, ein Andershandelnkönnen sei für die Zurechnung von Verantwortlichkeit nicht erforderlich, wird also von der bislang erörterten Variante seines Beispiels nicht plausibel gemacht. Denn hier kann A eben anders handeln, und das unterscheidende Kriterium ist sein Wille. Aber das ist zugleich der Grund, warum dieses Frankfurt-Szenario unser eigentliches Problem noch gar nicht berührt: Hätte A denn auch anders wollen können? Nun lässt sich die Kontrollinstanz in Frankfurts Gedankenexperiment unschwer sozusagen bis ins Gehirn des handelnden A zurückverlegen. Dann geriete nicht nur A’s Handeln, sondern schon sein Wille unter fremde Kontrolle. X würde etwa über feinste, von ihm kontrollierte Sensoren im Schädel des A die Vorgänge in dessen Gehirn genau beobachten, im Falle des Aufbaus eines sogenannten »Bereitschaftspotentials« zum Bremsen oder Herumlenken sofort korrigierend eingreifen und ein gegenläufiges Bereitschaftspotential (eines zum Überfahren) erzeugen. Und dies geschähe, bevor A selbst auch nur das mindeste von dem bewusst werden könnte, was die beginnenden neuronalen Vorgänge in seinem Kopf (Bereitschaftspotential zum Bremsen) soeben an Wollen und Handeln bei ihm auszulösen im Begriff wären, wenn X nicht intervenieren würde. Erneut soll aber gelten: X muss gar nicht intervenieren.

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A baut sozusagen von Anfang an das gewünschte »bösartige Bereitschaftspotential« selber auf. Damit erst erhält Frankfurts Beispiel die erforderliche Schärfe.44 Denn jetzt hätte A buchstäblich auch nicht anders »wollen«, sich nicht anders entscheiden können. Und dennoch würden wir ihn ohne weiteres für verantwortlich halten, strafrechtlich gesprochen: zumindest als Versuchstäter. Er hätte, so könnte man sagen, eben mit dem Aufbau eines anderen (»guten«) Bereitschaftspotentials beginnen sollen – wiewohl ihm das, hätte er’s getan, wegen der dann unvermeidlichen Intervention des X nicht einmal hätte bewusst werden können.45 Da er sich aber von Anfang für das Böse entschieden hat, werde er mit Recht getadelt und bestraft. Belegt dies Frankfurts These, dass ein Andershandelnkönnen, ja sogar ein Anderswollenkönnen keine Voraussetzung für Verantwortlichkeit ist? Das hängt davon ab, aus welchem Grund ein Anderswollen unmöglich ist. Liegt der Grund darin, dass jeder potentielle andere Wille von einer externen Kontrollinstanz verhindert würde, sollte er sich denn sozusagen anschicken zu entstehen, so schließt das Freiheit und Verantwortlichkeit so wenig aus wie bei einem Handeln ohne eine solche externe Kontrolle – wenn nur der tatsächliche Wille des Handelnden genuin aus ihm selbst stammt. Und das gilt selbst dann, wenn das hypothetische Entstehen eines anderen Willens schon im Keim, nämlich noch unterhalb der Bewusstseinsschwelle, erstickt würde. Ist dagegen ein Anderswollen deshalb unmöglich, weil eine externe Instanz genau diesen tatsächlichen Willen im Handelnden genuin erzeugt, etwa durch Hypnose oder durch direkte Gehirnmanipulation und deshalb kein anderer (autonomer) Wille des Handelnden entstehen kann, so würde niemand einen solchen fremderzeugten Willen frei nennen. Knapp: Frankfurts Gedankenexperiment macht deutlich, dass jede negative Freiheit (zum Andershandeln und sogar zum Anderswollen) fehlen kann, ohne dass gerade deshalb die Verantwortlichkeit zweifelhaft würde – sofern nur die positive Freiheit zur genuin eigenen Willenserzeugung gegeben war. Das reicht, wenn es überhaupt verantwortliches Handeln gibt, als Grundlage für Verantwortlichkeit aus. Die Zuspitzung des Frankfurtschen Gedankenexperiments macht aber die Grenzen seiner Beweiskraft deutlich. Denn zu der Frage, ob ein alternativer 44

Frankfurt: Alternate Possibilities, S. 835, Fußnote 3, erwähnt (etwas undeutlich) diese Möglichkeit der Erstreckung seines Gedankenexperiments auf die Kontrolle des Gehirns des Handelnden. Beide Versionen deutlich unterschieden bei Widerker, David: Frankfurt’s Attack on the Principle of Alternate Possibilities: A Further Look. In: Philosophical Perspectives 14 (2000), S. 181–201. 45 Daher sind die gängigen »flicker of freedom«-Versuche, hier noch ein Minimum an Freiheit im Sinne von PAM zu retten, wenig plausibel; ein solcher Versuch etwa bei Inwagen, Peter van: An Essay on Free Will. Oxford, New York 1983, S. 161–182.

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Wille immerhin positiv hätte initiiert werden können, sagt das Beispiel nichts.

Es stellt nur zutreffend fest, dass die potentielle externe Blockade einer Willensalternative Verantwortlichkeit nicht ausschließt, sofern sich der Handelnde schon intern und ganz von selbst gegen jede solche Alternative entschieden hat. Damit sind wir aber zurück bei unserer Ausgangsfrage: Hätte ein Handelnder positiv einen anderen Willen bilden oder doch mit dieser alternativen Willensbildung beginnen können? Dieses Anderswollenkönnen scheint unser Begriff von Freiheit und Verantwortlichkeit weiterhin zu fordern. Denn wenn der Handlungswille, durch externe Kontrolle garantiert oder nicht, schon in seinem genuinen Ursprung nur in den Bahnen einer naturgesetzlichen Notwendigkeit entstehen kann, dann wirft er das Grundproblem der Frage nach der Willensfreiheit erneut auf. Dazu aber sagt Frankfurts Szenario nichts. Es fragt nicht danach. Damit sind wir zurück bei unserem Ausgangspunkt – mit allen ungelösten Problemen.

5. Ein knappes Resümee der philosophischen Diskussion Inkompatibilistisch-libertarische Lehren kollidieren mit den ontologischen Grenzen, die uns die Naturwissenschaften für unsere Freiheitskonzeptionen auferlegen. Das macht sie auch philosophisch unattraktiv. Gewiss fällt die Lösung der Freiheitsfrage aus vielerlei Gründen nicht in die Zuständigkeit der empirischen Wissenschaften. Gleichwohl ziehen diese, insbesondere die Physik, den Lösungsvorschlägen der Metaphysik bestimmte Grenzen. Philosophische Lehren, deren ontologische Implikationen mit den konsentierten Grundannahmen unseres physikalischen Weltbildes kollidieren, sind nicht überzeugend. Wohl alle inkompatibilistischen Freiheitskonzeptionen müssen an irgendeiner Stelle offen oder verdeckt eine starke dualistische Voraussetzung in Anspruch nehmen. Denn wenn die originäre Quelle unseres Handelns nicht die Natur unserer Gehirne sein kann, die eben naturalistisch funktioniert, dann muss es wohl, auf welche Weise immer, »der Geist« sein. Damit wird aber, nach allem, was sich derzeit dazu sagen lässt, das Problem der mentalen Verursachung auf eine Weise »gelöst«, die mit Prinzipien unseres Naturverständnisses unvereinbar ist. Kompatibilistische Lehren vermeiden dieses Problem. Sie akzeptieren, dass der (handlungs-)steuernde Wille zuletzt bestimmt wird durch den dynamischen Gesamtzustand des Gehirns: durch sämtliche neuronalen Determinanten, die zusammen genau die handelnde Person in ihrer Besonderheit ausmachen und denen selbstverständlich ein ungeheuer komplexes Bedingungsgeflecht aus biographischen und situationsspezifischen Umständen zugrunde liegt. Aber an dieser Form des kausalen Determiniertseins unseres Handelns

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sei nichts Bedenkliches. Etwas anderes könne man nicht haben, aber – und das ist die Pointe – vernünftigerweise auch nicht wollen.46 Das leuchtet zunächst ein, aber nur so lange, wie es mit solchen Entscheidungen halbwegs gut geht. Der räsonierende Berufsphilosoph mag nichts an der Vorstellung problematisch finden, sein gesamtes Verhalten mitsamt allen seinen Entscheidungen sei determiniert durch eben das, was sein »Ich« konstituiere: sein funktionierendes Gehirn. Geht es aber um die Entscheidungen (zum Beispiel) eines Mörders, so stellt sich die Frage erheblich irritierender. Kann man für den Zustand seines Gehirns verantwortlich gemacht werden? Für die naturalistische Grundlage eines »Ichs«, das nicht nur für seine Mitmenschen, sondern auch für sich selbst Unheil und Leid hervorbringt?47 Damit sind wir beim Strafrecht angekommen. Welche Antwort findet die Frage dort?

6. Zum Schuldbegriff des Strafrechts: Andershandelnkönnen? Das Strafrecht setzt die Schuld eines rechtswidrig Handelnden als Normalfall voraus. Deshalb regelt es nicht die Bedingungen der Schuldfähigkeit, sondern die ihres Ausschlusses. Als deren erste verlangt § 20 StGB das Vorliegen mindestens eines der vier biologisch-psychologischen Befunde, die in der Norm benannt werden. In dessen Folge muss dann, zweitens, entweder die Fähigkeit des Handelnden zur Einsicht in das Verbotene seines Tuns oder aber seine Fähigkeit, sich trotz Verbotseinsicht normgemäß zu verhalten, ausgeschlossen sein. Hier der Wortlaut: «Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.« Der erstgenannte – kognitive – Defekt ist normativ problemlos und unstreitig. Wer nicht wissen kann, dass er so, wie er handelt, nicht handeln darf, wer 46

Hier gibt es unterschiedliche Konzeptionen, etwa diese. »Frei« seien Handlungen, die kohärent zu den höchstpersönlichen Eigenschaften und Präferenzen des Handelnden passten; so Pauen: Ursachen und Gründe, S. 270 f.; siehe auch Frankfurts eigenen Vorschlag (nach der Verwerfung von PAM): eine »hierarchisch« strukturierte Freiheitskonzeption aus »first order desires« und »second order volitions« in Frankfurt, Harry: Freedom of the Will and the Concept of a Person. In: Journal of Philosophy 68 (1971), S. 5–20. 47 Auf diese prinzipielle Grenze aller kompatibilistischen Positionen, nämlich: eine freie »Letzturheberschaft« (und damit »Letztverantlichkeit«) nicht begründen zu können, weist auch Walde, Bettina: Willensfreiheit und Hinforschung. Paderborn 2006, S. 158–165, zutreffend hin.

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also schlechterdings nicht als tauglicher Adressat des für seine Tat einschlägigen Normbefehls in Frage kommt, handelt ohne Schuld. Das ist so wenig zweifelhaft wie die Unfähigkeit eines Tieres zur Selbstbestimmung nach den Maßgaben einer Verhaltensnorm und damit zur Verwirklichung von Schuld. Der zweite, der sogenannte motivationale oder Steuerungsdefekt, den § 20 als alternativen Grund für den Ausschluss der Schuld anführt, berührt dagegen ersichtlich das Problem der Willensfreiheit. Da er die Voraussetzung der zweiten Form von Schuldunfähigkeit regelt, kann deren Gegenbegriff, die Schuldfähigkeit, aus dem Wortlaut der Norm per Umkehrschluss abgeleitet werden. Danach ist der Täter einer rechtswidrigen Tat nur dann schuldfähig, wenn er »bei Begehung der Tat« die Fähigkeit hatte, nach seiner vorhandenen Einsicht in das Unrechte seines Tuns zu handeln, nämlich rechtsgemäß und somit anders, als er es getan hat. Man sieht: § 20 StGB scheint PAM vorauszusetzen, in welcher genauen Bedeutung immer.48

»Fähigkeit zum Andershandeln«: unterschiedliche Bedeutungen Nun lassen sich mindestens zwei solche Bedeutungen des Ausdrucks »Fähigkeit, anders zu handeln« unterscheiden: (1) Der Täter ist jemand, von dem wir wissen, dass er sich vor seiner Tat normgemäß verhalten konnte, also generell dazu fähig war; das ist zu zahlreichen Gelegenheiten seines Lebens hinreichend deutlich geworden. Bei Begehung seiner Tat lag keiner der in § 20 genannten Defekte vor. Daher dürfen wir ihm die Fähigkeit, auch diese konkrete Tat zu vermeiden, zuschreiben. Also war er dabei schuldfähig. (2) Der Täter ist jemand, von dem wir wissen, dass er genau bei Begehung der Tat nach seiner normativen Einsicht in das Verbotene seines Tuns hätte handeln können, also anders, als er’s getan hat. Daher war er bei der Tatausführung schuldfähig. Die erste Lesart hat kein Problem mit der Annahme eines neuronalen Determinismus. Ob die festzustellende generelle Fähigkeit normgemäßen Handelns determiniert war beziehungsweise ist oder nicht, spielt für sie keine Rolle; vor48

Das entspricht der im Strafrecht fast ausnahmslos vertretenen Auffassung, wird aber neuerdings bestritten von Herzberg, Rolf D.: Willensunfreiheit und Schuldvorwurf. Tübingen 2010, S. 62 ff. Er setzt einen durchgängigen Determinismus für jede menschliche Handlung voraus. Schuldunfähig sei nach § 20 aber nur der Akteur, der gerade wegen einer »krankhaften seelischen Störung« so handelt, wie er es tut, und nicht, wie ein normaler Straftäter, wegen seines schlechten Charakters, seiner Gier, seiner Bosheit oder eines anderen Motivs, das keinen der in § 20 genannten mentalen Defekte zur Grundlage hat.

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handen muss sie sein, auf welcher Grundlage immer. Ist sie das, dann hat der Täter die »Fähigkeit«, die § 20 voraussetzt, nämlich anders (als rechtswidrig) zu handeln, gegebenenfalls eben determiniert. Eine solche Deutung hat aber ersichtlich ein Legitimationsproblem für die Schuldzuschreibung – genau das Grundproblem, das die Frage der Willensfreiheit seit eh und je begleitet und irritiert: Kann man für eine Tat X bestraft werden, die man zu t im unausweichlichen Modus des Determiniertseins begangen hat, selbst wenn man zu t1, t2 … tn nachweislich die Fähigkeit hatte, Taten vom Typus X zu vermeiden? Die Lesart (2) dagegen hat, wenn sie richtig ist, keinerlei Legitimationsproblem. Konnte der Täter nicht nur generell »anders« als kriminell handeln, sondern nachweislich auch die ihm vorgeworfene konkrete Tat X zu genau dem Zeitpunkt ihres Begehens vermeiden (unterlassen), dann kann er ohne weiteres für X verantwortlich gemacht und bestraft werden. Eben dies entspricht der vorherrschenden Lehre in der Strafrechtswissenschaft; der Bundesgerichtshof hält es seit Jahrzehnten für zweifelsfrei. Aber das ist es nach allem, was ich oben zum Freiheitsproblem skizziert habe, keineswegs. Denn wenig überzeugend ist die Prämisse dieser Deutung, der libertarische Inkompatibilismus. Aber auch die Deutung (1) ist nicht akzeptabel. Dass der Täter einer Tat X bei anderen Gelegenheiten Taten des X-Typus vermeiden konnte, rechtfertigt es nicht, ihm eine solche Möglichkeit auch für die ihm konkret vorgeworfene Tat X einfach zuzuschreiben. Er muss vielmehr, und zwar auch nach dem Gesetzeswortlaut, »bei Begehung der Tat« genau diejenige Eigenschaft tatsächlich aufweisen, die seine Schuldfähigkeit begründet. Aber diese Eigenschaft kann nach allem bisher Gesagten schwerlich die Fähigkeit sein, im Moment des Ansetzens zu X anders zu handeln, also genau diese konkrete Tat zu unterlassen.

Fähigkeit zum Andershandeln und dennoch Unfähigkeit zur Unterlassung der Tat? Freilich gibt es, sieht man genauer hin, noch eine dritte Lesart für § 20: (3) Der Täter ist jemand, von dem wir feststellen können, dass er gerade bei Begehung der Tat, die man ihm vorwirft, die Fähigkeit zum Andershandeln (nämlich zur Normtreue) hatte – wiewohl wir zugleich annehmen müssen, dass er die Begehung der Tat (möglicherweise) nicht vermeiden (unterlassen) konnte. Das mutet prima facie inkohärent an und wie eine Fusion aus zwei einander widersprechenden Elementen der oben genannten Deutungen (1) und (2). Die Fähigkeit des Täters bei Begehung seiner Tat X zu t auch anders zu handeln, nämlich X zu unterlassen, scheint ja nichts anders zu besagen, als dass er X zu t eben hätte vermeiden können. Doch kommen hier die eingangs (unter 1.) schon erwähnten unterschiedlichen Bedeutungen des Ausdrucks »die Fähig-

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keit zu etwas haben« ins Spiel. Betrachten wir zur Illustration die folgenden Fälle: (1) Tiger Woods (TW) vergibt einen »Putt« aus fünf Metern Entfernung, wiewohl er einen solchen Putt sonst regelmäßig sicher ins Ziel bringt. (2) A sitzt in seinem Büro und arbeitet. X kommt und verschließt von außen ohne A’s Wissen für zwei Stunden das Zimmer. A kommt aber während dieser Zeit nicht auf die Idee, sein Büro zu verlassen; er bleibt die ganze Zeit ruhig am Schreibtisch sitzen. (3) B sitzt in seinem Büro und arbeitet. Eine ihm noch unbekannte Neuralerkrankung lähmt für zwei Stunden vollständig seine Beine, ohne dass weitere Symptome fühlbar wären. Auch von der Lähmung bemerkt B nichts, weil er während dieser zwei Stunden ruhig sitzen bleibt und nicht auf die Idee kommt, sein Büro zu verlassen. Zu (1): Hatte TW während des Misslingens seines Putts die Fähigkeit, den Golfball gleichwohl sicher ins Ziel zu bringen? Und: Konnte er in der konkreten Situation dieses konkrete Misslingen vermeiden? Ersichtlich kann man problemlos die erste Frage bejahen und die zweite verneinen. Die Fähigkeit, solche Bälle ins Ziel zu bringen, verstanden als intrinsische Eigenschaft des Spielers, geht selbstverständlich auch während des Moments, da ihm dies aunahmsweise misslingt, nicht verloren. Gleichwohl war TW ausweislich seines konzentrierten Bemühens im Moment des Putts zu dessen sicherer Verwandlung nicht imstande. Und die Annahme, unter absolut identischen physischen Weltbedingungen außerhalb und innerhalb seines Körpers hätte TW auch diesen Putt verwandeln können, ist ohne fassbaren Sinn.49 Im Fall (2) kann A sein Zimmer nicht verlassen, solange er eingeschlossen ist, kann also sein Verbleiben dort während dieser Zeit nicht vermeiden. Versteht man die Fähigkeit, das Büro zu verlassen, als intrinsisch vorhandenes Vermögen (Können), so ist dessen Vorhandensein bei A auch während der Zeit seines Eingeschlossenseins aber nicht im mindesten zweifelhaft.50 Bei B im Fall (3.) dagegen verhält sich das anders: Er kann während der zweistündigen Lähmung seiner Beine das Büro nicht verlassen und er hat in dieser Zeit auch nicht die intrinsische Fähigkeit dazu.

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Gewiss haben Handlungen, deren praktischer Vollzug technische Schwierigkeiten aufweist (wie das Schlagen eines Golfballs), auch bei grundsätzlicher Fähigkeit des Handelnden, sie sicher vorzunehmen, immer ein solches Risiko konkreten Misslingens bei sich. Für mein Anliegen, den Doppelsinn von »können« aufzuzeigen, ist das aber ohne Belang. 50 Ein analoges Beispiel schon bei Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding. In: The Works of John Locke. A new Edition, corrected. Vol. I. Book II. London 1823. Nachdruck Aalen 1963. Chap. 21, § 10.

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7. Normative Ansprechbarkeit Nun wird deutlich, welche Fähigkeit des Täters zum Andershandeln während der Tatzeit t man als Bedingung seiner Schuldfähigkeit im Sinne des § 20 StGB auch dann kohärent verlangen kann, wenn man zugleich verneint, dass er die konkrete Tat X zum Zeitpunkt t hätte unterlassen können: eine dispositionelle Fähigkeit, deren Manifestation zu t möglicherweise ausgeschlossen war. Zu verstehen ist sie als intrinsische Eigenschaft des Täters, die auch während der Tatzeit und trotz seines Nichtvermeidenkönnens dieser konkreten Tat vorhanden gewesen ist und die seine Kompetenz zu einer hinreichenden Selbstkontrolle verbürgt. Ich nenne diese Fähigkeit mit einer im Strafrecht seit längerem geläufigen Wendung »normative Ansprechbarkeit« (im Folgenden kurz NA).51 Was genau bedeutet das? Und bedeutet es wirklich etwas anderes als »Willensfreiheit« im Sinne von PAM? Etwas anderes also, als das Vermeidenkönnen einer konkreten rechtswidrigen Tat? Auf der Hand liegt, dass die NA eines Täters zur Zeit t, als er zur Tat ansetzte, nur bedeuten kann, dass er zu t eben für ein anderes Handeln als das verbotene »ansprechbar« war, also zu dieser Zeit die Fähigkeit zu einem solchen Andershandeln hatte. Dann scheint aber NA nichts anderes zu besagen als PAM und dessen Problem nur umzuformulieren. Man könnte sagen: So wenig zu klären sei, ob ein Täter seinen Antrieb zur Tat nicht unterdrücken konnte oder nicht wollte (nicht anders handeln konnte oder dies nicht wollte), so wenig sei entscheidbar, ob er sich insofern nicht ansprechen lassen wollte oder nicht angesprochen werden konnte.52 Aber das ist ein Missverständnis. »Ansprechbar« ist ein Dispositionsprädikat wie »löslich«, »zerbrechlich«, »biegsam« und ähnlich. Solche Begriffe und die von ihnen bezeichneten Eigenschaften (Dispositionen) werfen zahlreiche umstrittene Probleme auf.53 Über einige ihrer Grundcharakteristika gibt es aber einen weitreichenden Konsens. Zu diesen gehört, dass Dispositionen zwar echte (intrinsische) Eigenschaften ihrer jeweiligen Inhaber sind, sich aber in ihrer Bedeutung am bequemsten dadurch explizieren lassen, dass man eine ihrer potentiellen Manifestationen demonstriert, die statt der dispositionellen nur noch »kategorische« Eigenschaften aufweist. Was es bedeutet, dass Zucker löslich und Glas zerbrechlich ist, zeigt sich regelmäßig sofort, wenn man dieses 51

Die Wendung wurde von Peter Noll geprägt und von Claus Roxin übernommen; siehe Roxin, Claus: Zur Problematik des Schuldstrafrechts. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 96 (1984), S. 641–660, S. 653. Beide machen allerdings keinen Versuch, den Inhalt des Begriffs genauer zu klären. 52 Einen solchen Einwand erhebt Frister, Helmut: Die Struktur des »voluntativen Schuldelements«. Berlin 1993, S. 118 ff. 53 Erhellend zu dem Streit um eine adäquate Analyse des Dispositionsbegriffs der Sammelband von Vetter, Barbara/Schmid, Stephan (Hg.): Dispositionen. Berlin 2014.

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auf den Boden und jenen in Flüssigkeit wirft. Ein Unterschied in ihrem ontologischen Status, im Grad ihres Wirklichseins, besteht zwischen dispositionellen und kategorischen Eigenschaften nicht. Die Zerbrechlichkeit des Glases vor dessen Bodensturz war nicht weniger, nur auf eine komplizierte Weise anders real als sein Zerbrochensein danach.54 Wie verhält es sich in dieser Hinsicht mit NA? Der Begriff kann nur mit der Erläuterung expliziert werden, sein dispositionelles Element manifestiere sich aufgrund seiner intrinsischen Eigenschaften in bestimmten Situationen als tatsächliches normadäquates Verhalten des Inhabers der Disposition. Irrig wäre aber die Annahme, zu diesen Situationen müsse auch die der konkret geschehenen rechtswidrigen Tat gehören. In ihr hat sich die »Ansprechbarkeit« gerade nicht manifestiert; und die Behauptung, sie hätte sich unter vollkommen identischen Weltbedingungen auch hier manifestieren können, ist so sinnlos wie in unserem obigen Beispiel (1) die Annahme, Tiger Woods hätte unter identischen Weltbedingungen seinen Putt realisieren können. Aber wie TW auch im Moment seines für ihn konkret nicht vermeidbaren Scheiterns die Fähigkeit hatte, einen solchen Putt sicher zu verwandeln, kann man von einem schuldfähigen Straftäter kohärent sagen, er habe im Moment seiner Tat und trotz seines Unvermögens, diese gerade dann zu unterlassen, die dispositionelle Eigenschaft NA gehabt und diese Eigenschaft manifestiere sich in bestimmten anderen Situationen als sein wirkliches normtreues Verhalten. Illustrieren wir das an der Disposition der Zerbrechlichkeit. Lässt man ein Glas auf den Boden fallen und zerbricht es dabei wider Erwarten nicht, sondern erst beim zweiten Fallenlassen, dann kann man völlig konsistent und zutreffend das Folgende sagen: (1.) Das Glas war bei seinem ersten Fall auf den Boden zerbrechlich; (2.) es ist aber dabei nicht zerbrochen und die Behauptung, unter absolut und bis ins letzte Atom der involvierten Materie identischen Weltbedingungen hätte es zerbrechen können, ist ohne Sinn; (3.) dennoch war es auch beim ersten Fall zerbrechlich; das hat (4.) die anschließende Manifestation dieser Disposition beim zweiten Fall hinreichend deutlich gemacht. In demselben Sinn kann man sagen: (1.) Der Täter war beim Begehen seiner Tat normativ ansprechbar, hatte also die intrinsische Disposition, in bestimmten Situationen dieser Art normgemäß zu reagieren; (2.) in der Tatsituation hat er aber nicht normgemäß gehandelt und die Behauptung, er hätte es unter absolut identischen Innen- und Außenweltbedingungen gleichwohl gekonnt, ist sinnlos; (3.) dennoch war er auch in dieser Tatsituation normativ ansprech54

Goodman, Nelson: Tatsache, Fiktion, Voraussage. Frankfurt am Main 1975, S. 59. Goodman spricht von der »vergleichsweise ätherischen« Existenzform dispositioneller Eigenschaften.

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bar, wie (4.) allerlei sonstige Situationen seines bisherigen Lebens hinreichend deutlich machen. Nichts daran ist inkohärent. Gewiss gibt es keinen Zwang, Dispositionsbegriffe in eben diesem Sinn zu deuten; aber er ist ihr weitaus plausibelster. Wer unbedingt will, mag ja sagen: Das Glas war beim ersten Fall, so wie dieser in sämtlichen mikrophysikalischen Einzelheiten nun einmal tatsächlich vonstatten ging, wenn man’s ganz genau nimmt, nicht zerbrechlich. Aber das wäre eine missliche Semantik. Sie schlösse beiläufig auch die Möglichkeit aus, von Gläsern, die unbehelligt an ihrem Platz in der Vitrine stehen, zu sagen, sie seien zerbrechlich.55 Selbst der strenge Determinist kann ohne Selbstwiderspruch akzeptieren, dass ein rechtswidrig handelnder, willensunfreier Täter auch im Moment seiner determinierten Tatbegehung »normativ ansprechbar« und in diesem Sinn hinreichend autonom gewesen sein kann. Zwar ist diese Disposition, mit Goodmans Wort, eine etwas »ätherische«, aber dennoch eine vollkommen reale, intrinsische Eigenschaft ihres Inhabers. Aber was genau bedeutet das?

Grundelemente: Rezeptivität und Reaktivität Auf der Hand liegt, dass der Täter nicht für irgendeine, sondern für die richtige Norm »ansprechbar« sein muss: die konkrete des Strafrechts, die er gebrochen hat. Und ebenfalls offensichtlich ist, dass er nicht nur zum passiven Objekt eines Angesprochenwerdens disponiert sein muss, was man ja etwa auch einem Tier bescheinigen kann. In seiner Bedeutung für die Schuldfähigkeit enthält der Begriff vielmehr zwei konstitutive Elemente, die sich anschaulich als »Rezeptivität« und »Reaktivität« bezeichnen lassen.56 Der Handelnde muss zunächst rezeptiv (sensitiv) für den Sinn des Normbefehls unter den konkreten Umständen der Handlungssituation sein. Das gehört in der Sache primär zum Erfordernis der Einsichtsfähigkeit, wie es auch dem § 20 StGB zu entnehmen ist. Es setzt, meine ich, mindestens dreierlei voraus: Erstens ein Minimum an kognitivem Realismus des Täters in seiner Wahrnehmung und Beurteilung 55

In der Diskussion über Dispositionen ist inzwischen anerkannt, dass diese nicht durch ihre Manifestationen definiert sind, ihr Begriff also nicht in einer einfachen konditionalen Analyse expliziert werden kann (»Zerbrechlich ist ein Gegenstand, der zerbricht, wenn man ihn hinwirft«), sondern nur unter Rekurs auf ihre intrinsischen (physikalischen) Eigenschaften, grundlegend dazu Martin, Charles B.: Dispositionen und Konditionale. In: Dispositionen. Hg. v. Barbara u. Stephan Schmidt. Berlin 2014, S. 119– 128; darin der Satz: »Dispositionen [sind] auch dann wirklich, wenn es ihre Manifestationen nicht sind.« S. 119. 56 Auch die philosophische Diskussion zur (moralischen) Verantwortlichkeit unterscheidet diese beiden Elemente; siehe insbesondere Fischer, John M./Ravizza, Mark: Responsibility and Control. A Theory of Moral Responsibility. Cambridge 1998, S. 62 ff.

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der Handlungssituation. Zweitens seine Fähigkeit, die tatsächlichen Elemente dieser Situation als Anwendungsbedingungen des Normbefehls zu erkennen. Und drittens ein hinreichendes und konsistentes Verständnis für den Rang der Norm in der Hierarchie des Systems von Rechten und Pflichten unserer Rechtsordnung. Alle drei Erfordernisse seien knapp erläutert. Hinreichend rezeptiv oder sensitiv für die Tatsachen seiner Handlungssituation ist ein Täter regelmäßig schon dann, wenn er diejenigen ihrer Elemente zutreffend wahrnimmt, die maßgeblich sind für die normative Beurteilung seiner konkreten Tat. Andere Umstände dieser Situation mag er durchaus verkennen, gegebenenfalls sogar ad absurdum. Wer etwa glaubt, er sei der wiedergeborene Napoleon oder der leibhaftige Messias, ist nicht schon deshalb schuldunfähig, sofern er nur realistisch wahrnimmt, dass er zum Töten, Rauben oder Stehlen ansetzt.57 Was ebenfalls zu dem für die Rezeptivität des Täters vorausgesetzten Maß an kognitivem Realismus gehört, ist seine grosso modo realistische Selbstwahrnehmung als Handelnder und das heißt als der wodurch immer motivierte Urheber seiner Entschlüsse und seines Tuns. Daran fehlt es zum Beispiel, wenn er sich subjektiv im Wollen und Handeln als ausschließlich fremdgesteuert durch Andere erlebt, wie es nicht selten bei Schizophrenen der Fall ist. Hinreichend tatsachensensitiv ist ein Handelnder, zweitens, nur dann, wenn er diejenigen Bestandteile der Handlungssituation, welche den dann ignorierten Normbefehl anwendbar machen, zutreffend identifizieren und in eben dieser Funktion begreifen kann. Also beispielsweise, wenn er versteht, dass der Schlag, zu dem er ausholt, eine andere Person verletzen wird, was grundsätzlich nicht sein soll, oder dass ein ins Wasser gefallenes Kind ertrinken wird, falls man ihm nicht hilft, was ebenfalls nicht sein soll, et cetera. Schließlich muss, drittens, der Täter die von solchen Umständen evozierte Norm in ihrem Gewicht halbwegs konsistent in das System der allgemein verbindlichen Pflichten einordnen können. Wer zutreffend annimmt, dass man unbeteiligte Dritte auch zur Lebensrettung Anderer nicht töten darf und sich grundsätzlich auch daran hält, ist insofern ohne weiteres normativ ansprechbar. Glaubt er aber außerdem, dieses Verbot der Rettungstötung werde für ihn immer dann zwingend aufgehoben, wenn ein entsprechender Tötungsbefehl der Erzengel an ihn ergehe, so handelt er, falls er eine solche Lage annimmt und genau deshalb tötet, nicht etwa in einem Verbotsirrtum. Vielmehr ist er in einer seine Schuldfähigkeit ausschließenden oder doch vermindernden Weise normativ nicht ansprechbar.58 Denn immer wenn er ein entsprechendes Gebot der Erz57

Freilich ist der Glaube, Napoleons Wiedergänger oder der Messias zu sein, regelmäßig zugleich ein gravierendes Indiz dafür, dass es an anderen Bedingungen der Schuldfähigkeit als der einer ausreichenden Tatsachen-Rezeptivität fehlt. 58 Das war übrigens ungefähr die Sichtweise des Täters in einem berühmten Kri-

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engel, das zu befolgen ihm möglich ist, zu vernehmen meint, ist er nicht einmal dispositionell fähig, den Gehorsam zu verweigern und die fremdnützige Opferung eines Menschenlebens zu unterlassen. Nicht schon, dass er an Befehle von Erzengeln glaubt, hebt seine Schuldfähigkeit auf. Aber dass er hinter solchen Befehlen das rechtliche Tötungsverbot ausnahmslos zurücktreten lässt, also dessen Bedeutung nicht konsistent begreift, schließt in diesen Situationen seine hinreichende Rezeptivität für die Brücke zwischen Sachlage und Normbefehl aus – und damit seine »normative Ansprechbarkeit«. Ringt er in einer solchen Lage immerhin mit sich selbst und mit Zweifeln, so bleibt er, wenngleich vermindert, schuldfähig. Hier wird das zweite begriffliche Element der »normativen Ansprechbarkeit« neben dem bisher skizzierten der Rezeptivität sichtbar: das einer bestimmten Reaktivität. »Ansprechbar« im hier gemeinten Sinn ist man ersichtlich nicht schon dann, wenn man versteht, dass und womit man angesprochen wird, sondern erst dann, wenn man grundsätzlich auch in der Lage ist, auf diese Ansprache adäquat zu reagieren. In diesem Sinne ist ein Täter nur dann hinreichend autonom, nämlich hinreichend fähig zur motivationalen Selbstkontrolle gegenüber seinen Impulsen zum rechtswidrigen Handeln, wenn er zudem über ein bestimmtes Maß an Fähigkeit zur richtigen Reaktion auf den Normbefehl verfügt. Dazu gehört mehr, als den von der Norm ausgehenden Nötigungsdruck zu kennen oder zu fühlen und sich ihm regelmäßig beugen zu können. Auf diese Weise ansprechbar und reaktiv gehorsamsfähig ist auch ein gut dressierter Hund. Erforderlich ist ein wenigstens grundsätzliches Verständnis dessen, was es bedeutet, Adressat einer Pflicht zu sein. Hierfür bedarf es zwar nicht, wie Kant meinte, eines Bewusstseins des Sittengesetzes als eines »Factums« der reinen praktischen Vernunft.59 Wohl aber muss der Handelnde sich selbst als jemanden begreifen können, der für den Fall des Sich-Hinwegsetzens über den konkreten Normbefehl fairerweise, nämlich im Einklang mit der allgemeinen Normenordnung, zum Ziel einer sanktionierenden Reaktion gemacht werden kann. Dann versteht er, was es besagt, dass ein bestimmtes Handeln für ihn gesollt oder verboten ist. Dieses Element der Reaktivität kann mit dem der oben dargelegten Rezeptivität in mancherlei Zusammenhängen stehen. Wer etwa sein eigenes Tun subjektiv als von »Aliens« ferngesteuert erfährt, ist einerseits nicht hinreichend sensitiv gegenüber den Tatsachen und andererseits genau minalfall; ausführliche Darstellung des Falles bei Merkel, Reinhard: Der Katzenkönig vom Möhnesee. In: Die Zeit, Nr. 39 (23.9.1988), S. 11–13, online unter http://www.zeit. de/1988/39/der-katzenkoenig-vom-moehnesee (Stand 20.3.2016). 59 Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. In: Kants Werke. AkademieTextausgabe, Bd. V. Buch I. Die Analytik der reinen praktischen Vernunft. 1908 [1788], S. 31 § 7.

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deshalb regelmäßig auch nicht hinreichend reaktiv gegenüber dem Normbefehl. Denn als potentiellen Adressaten einer fairen Sanktion für sein Verhalten kann er sich schwerlich verstehen, wenn er dieses allein als mechanischen Vollzug eines fremden Willens erlebt. Das genau macht ihn schuldunfähig.

Schuldfähigkeit trotz schicksalhafter Kausalgeschichte des Tatentschlusses? Wenn NA eine bestimmte Fähigkeit zur motivationalen Selbstkontrolle bezeichnet und diese der Ausdruck einer Form von Autonomie ist, dann liegt die Frage nahe: Muss sich eine solche Kontrollmöglichkeit nicht auch auf die kausale Vorgeschichte des mentalen Zustands eines Handelnden im Tatzeitpunkt erstrecken? Schließlich realisiert dieser Zustand ja nicht nur die »normative Ansprechbarkeit«, sondern auch das Tatmotiv und den Tatentschluss. Ist es nicht unfair, für die Frage der Schuldfähigkeit des Täters allein seine aktuelle normative Ansprechbarkeit in den Blick zu nehmen, nicht aber die Entstehungsgeschichte seines Tatmotivs? »Normativ ansprechbar« ist eine dreistellige Relation: Ein in einer konkreten Situation Handelnder (1) ist ansprechbar für eine Norm (2) und im Hinblick auf ein bestimmtes Handlungsmotiv (3). Je drängender das Motiv auf den Täter wirkt, desto weniger mag seine NA dagegen ausrichten können. Wenn die Entstehung des Motivs naturkausal, zum Beispiel krankheitsbedingt programmiert, also für den Täter schicksalhaft unvermeidlich war, muss sie dann nicht neben seiner Kontrollfähigkeit (Ansprechbarkeit) zur Tatzeit berücksichtigt werden? Zahlreiche Fälle krankheits- beziehungsweise sogar therapiebedingter Tatmotive sind denkbar und dokumentiert, etwa der durch einen Hirntumor erzeugte Trieb zum pädophilen Übergriff oder das allein als mörderische Nebenwirkung eines Psychopharmakons entstandene Tötungsmotiv.60 Soll die Frage der Schuldfähigkeit eines solchen Täters davon unberührt bleiben, dass ohne den bösartigen organischen Kausalverlauf das ihm vollständig charakterfremde Tatmotiv schon nicht hätte entstehen, geschweige denn seine normative Ansprechbarkeit hätte überwältigen können? In der moralphilosophischen Diskussion zu Freiheit und Verantwortlichkeit ist die Frage seit langem umstritten.61 Die ethischen Intuitionen dazu sind unklar. Wer nachweislich nur wegen eines Tumors zum Pädophilen oder al60

Zum ersteren: Burns, Jeffrey M./Swerdlow, Russel H.: Right Orbitofrontal Tumor With Pedophilia Symptom and Constructional Apraxia Sign. In: Archives of Neurology 60 (2003), S. 437–440; das letztere nach einem berühmten Fall in den USA; dazu Barondes, Samuel H.: Better Than Prozac. New York 2003, S. 135 ff. 61 Dazu Bublitz, Jan Ch./Merkel,Reinhard: Autonomy and Authenticity in Enhanced Personality Traits. In: Bioethics 23 (2009), S. 360–374.

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lein wegen eines Psychopharmakons zum Totschläger geworden ist, für dessen Schuldlosigkeit sprechen gewichtige Gründe: Ein Motiv zur verbotenen Tat, das stark genug war, seine »normative Ansprechbarkeit« zu überwältigen, konnte nur ein böses, für ihn nicht beeinflussbares Schicksal in ihm entstehen lassen; sein eigener Charakter wäre dazu nicht in der Lage gewesen, wie sein gesamtes vorheriges Leben als rechtstreuer Bürger und guter Familienvater zeigen mag.62 Für dieses ihm schicksalhaft aufgezwungene Motiv, so könnte man sagen, muss er daher als normativ nicht ansprechbar beurteilt werden. Begreift man die Schuldfrage allein als die Aufgabe zu klären, was ein Täter höchstpersönlich verdient und für das ethische Schuldproblem mag das ja der primäre Gegenstand sein, so ist eine solche Verteidigung nicht leicht zu widerlegen. Die Antwort des Strafrechts muss dennoch anders lauten. Wie immer unverdient, schicksalhaft, ja tragisch ein krankheits- oder unfallbedingtes Tatmotiv entstanden sein mag: stets bleibt der davon getriebene potentielle Täter Adressat eines rechtlichen Verbots, das vor allem dem Schutz Anderer dient und nicht nur der Beurteilung seines eigenen Verhaltens. Man betrachte den berühmten Fall des Phineas Gage.63 Bei einem Arbeitsunfall im Jahr 1848 trieb ihm eine Explosion einen drei Zentimeter dicken Eisenstab wie ein Geschoss schräg von unten durch den Wangenknochen, den präfrontalen Cortex und den gesamten Schädel. Gage überlebte wie durch ein Wunder, war aber danach bei im wesentlichen gleichen kognitiven Fähigkeiten charakterlich radikal verändert: Zuvor ein beliebter, freundlicher, ehrbarer Mann, war er jähzornig, achtlos gegenüber seinen Mitmenschen und gewalttätig geworden. Die Straftaten, die er deshalb beging, wären in seinem vorherigen authentischen Charakterzustand nicht denkbar gewesen; schon die Motive dazu hätten in ihm nicht entstehen können. Nach unseren heutigen Begriffen hebt das seine rechtliche Schuldfähigkeit gleichwohl nicht auf. Seine normative Ansprechbarkeit oder, wenn man so will: die mentalen Ressourcen zur Kontrolle seiner Handlungsmotive, gab es als dispositionelle nach wie vor; nur diese Motive selbst waren neu, unverschuldet und nicht selten stärker als sein Hemmungsvermögen. Doch müssen Motive, die das Produkt eines schicksalhaft aufgezwungenen Persönlichkeitswandels sind, nicht anders als solche, die einem biographisch gewordenen Charakter entstammen, den vorhandenen Fähigkeiten zur Selbstkontrolle unterworfen werden. Gewiss ist Phineas Gage vom Schicksal sozusagen zweifach misshandelt worden: mit einer schweren Verletzung seines Kopfes und mit einer folgenschweren Verformung seines Charak62 63

2000.

Genau dies war in beiden Fällen, die in Anmerkung 60 genannt werden, gegeben. Macmillan, Malcolm: An Odd Kind of Fame: Stories of Phineas Gage. Cambridge

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ters. In solchen Fällen werden moralische Vorwürfe sinnlos, ja pharisäerhaft. Aber der strafrechtliche Schuldvorwurf kann dennoch nicht schon deshalb entfallen.

Ist diese Konzeption mit § 20 StGB vereinbar? Nein. Das Fehlen der Disposition NA im hier erläuterten Sinn ist etwas anderes als die von § 20 verlangte Unfähigkeit, im Tatzeitpunkt die verbotene Handlung zu unterlassen. Als Bedingung des Schuldausschlusses ist die Feststellung eines solchen Andershandelnkönnens im Moment des Ansetzens zur Tat nicht nur kein erreichbares, sondern kein sinnvolles Ziel zur Klärung strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Was sich de lege lata aus diesem Befund ergibt, mag hier offen bleiben. Die dargelegte Ablehnung des Kriteriums der Schuldunfähigkeit, wie es § 20 derzeit formuliert, dürfte gewiss zu schwierigen Fragen nach ihren positivrechtlichen Konsequenzen führen. Die Legitimität der Kritik berührt das jedoch nicht. Die beste Lösung wäre freilich, § 20 zu ändern. Das Merkmal des Nichtandershandelnkönnens, das von den Strafgerichten seit eh und je nur scheinbar als Entscheidungskriterium, in Wahrheit aber als leere Begründungsschablone gehandhabt wird, sollte gestrichen und durch das Kriterium der normativen Ansprechbarkeit ersetzt werden. Die knappe sprachliche Eleganz der heutigen Gesetzesnorm mag dabei schwer oder gar nicht erreichbar sein. Das darf einer sachlich richtigen Lösung aber nicht im Wege stehen. Die Grundfassung des Paragraphen könnte ungefähr so lauten: »(1) Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, …[etc.] unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen, oder für das Verbot dieses Unrechts normativ nicht hinreichend ansprechbar erscheint. (2) Als nicht hinreichend ansprechbar im Sinn des Absatzes 1 gilt, wer…« Und hier wäre nun knapp der sachliche Gehalt der oben skizzierten Elemente einer hinreichenden Rezeptivität und Reaktivität des Täters festzuhalten. Damit würde der Gesetzgeber deutlich machen, was als Grundlage strafrechtlicher Verantwortlichkeit allenfalls zu haben ist – schuldmetaphysisch wie empirisch und strafrechtspraktisch – und was eben nicht: Nicht die Fähigkeit zum Vermeiden der konkreten Tat, wohl aber eine bestimmte Form von Autonomie, eine hinreichende dispositionelle Fähigkeit zur Handlungskontrolle, die selbstverständlich auch in einer determinierten Welt möglich ist.

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8. Der dunkle Rest Und dennoch bliebe ein dunkler Rest. Auch ihn sollten wir nicht leugnen. Im Alltagsverständnis des Begriffs meinen wir mit Schuld eben das, was der Bundesgerichtshof in einem berühmten Beschluss seines Großen Senats vom März 1952 als Kriterium strafrechtlicher Verantwortlichkeit festhält: höchstpersönliche Vorwerfbarkeit.64 Das setzt ein Dafürkönnen im Sinne einer Letztverantwortung voraus, die Vorwürfe gegen den Einzelnen sogar vor und von seinem ewigen Richter plausibel machte. Eine solche Letztverantwortung ist in einer unreinen Welt aus Endlichkeit und Empirie nicht möglich, sie als rechtliches Maß zu postulieren verfehlt, sie dem Einzelnen zuzuschreiben ungerecht. Das schließt ein vernünftiges strafrechtliches Schuldkonzept nicht aus. Aber es bedeutet auch, dass Menschen für etwas verantwortlich gemacht und bestraft werden, für das sie im strikten Sinne (vielleicht) nichts konnten. Diese unaufhebbare Differenz zwischen echtem persönlichen Dafürkönnen und einer zur Schuldfähigkeit hinreichenden Fähigkeit zur Selbsbestimmung (NA) decken wir seit eh und je zuletzt mit dem klandestinen Rekurs auf die unumgänglichen Notwendigkeiten der Verteidigung unserer Normenordnung. Ihn sollten wir uns ebenfalls deutlich machen. Er macht das Schuldprinzip nicht illegitim. Aber er wirft jenen nicht vollständig aufhellbaren Schatten, den Gustav Radbruch mit seinem berühmten Satz gemeint hat, ein guter Strafrichter könne nur sein, wer es mit einem schlechten Gewissen ist. Das ist keine Mahnung an den einzelnen Richter; nichts ist selbstverständlicher, als dass er kein schlechtes Gewissen zu haben braucht. Es ist ein allegorischer Appell an das Strafrechtssystem als Ganzes, sich dieser letzten dunklen Grenze seiner Begründungsmöglichkeiten bewusst zu bleiben.

64

Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (BGHSt), Bd. 2 (1953), S. 200.

Fünftes Zwischenspiel

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Diese Komposition trägt die Spielanweisung »sehr frei«, was sich vor allem auf das Tempo bezieht. Ich habe wieder auf durchgehende Taktstriche verzichtet, finde die Takteinteilung dennoch sinnvoll und notwendig, um wie auch bei »cello« die musikalischen Einheiten zu gliedern. Die Doppelstriche als Gliederungsmittel zwischen Abschnitten habe ich aus Gründen der Übersichtlichkeit und schnelleren Erfassbarkeit erhalten. Die Harmonik habe ich in Form von Akkordsymbolen notiert, wenn es um die Klangfarbe eines bestimmten Akkords geht und das genaue voicing (also wie die Stimmen im Akkord gesetzt werden) nicht so wichtig ist. Oder natürlich, wenn der Klang sehr einfach als Akkordsymbol ausdrückbar ist (die Notation »G-« beispielsweise meint einen G-Molldreiklang, ist aber einfacher und schneller zu erfassen als ein ausnotierter Molldreiklang mit drei einzelnen Noten). Sobald es um ein genaues voicing geht und um die genaue Oktavlage der Töne – oder wenn es kein einfaches Akkordsymbol für diesen Klang gibt –, habe ich genaue voicings vorgeschlagen, die genau die Klangfarbe treffen, die ich mir vorstelle. Die Spielanweisung »sehr frei« bezieht sich aber auch auf alle anderen Parameter: Die Notation ist in gewisser Weise eine Skizze. Die Komposition besteht aus vier Teilen: Der 1. Teil (bis Takt 17) enthält das Thema, das zur Begleitung (im Wesentlichen) nur mit Akkordsymbolen versehen ist. Im 2. Teil von Takt 18 bis 32 wird es fortgesetzt mit einer Art zweitem Thema oder einem Zwischenspiel. Der 3. Teil ist eine freie Improvisation, in der nur festgelegt ist, dass sie in den 4. Teil ab Takt 34 führen sollte. Die Art und Weise kann dabei aber bei jedem Spielen der Komposition sehr verschieden sein. Teil 4 ist eine Melodie, die auf dem Thema aus Teil 1 basiert und in dem das Hauptmotiv (Takt 1–2) in die Tonart G-Moll gebracht wird und anders fortgeführt wird. Auch hier ist die Melodie nur mit Akkordsymbolen oder Basstönen versehen, die außer dem verminderten Akkord alle aus G-Moll (äolisch) stammen. Der Improvisationsteil funktioniert also eher wie eine Art Überleitung zum nächsten Teil, zum Schlussthema. Im Gegensatz zu »cello« und »Malita-Malika« oder »Kor« ist klar festgelegt, dass danach ein weiterer Teil folgt. Anders ist auch, dass der folgende Teil keine »Wiederholung« eines vorangegangenen, sondern ein eigenständiger neuer Teil ist (und hier auch quasi die harmonische Auflösung ins Diatonische), nur auf der Basis eines anderen: Erst im Kontext der nachfolgenden musikalischen Verläufe erhalten die vorhergehenden ihren Sinn – hier also die Improvisation durch das nachfolgende Thema.

Autorinnen und Autoren

Clemens Albrecht (*1959) 1979–87 Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte der Naturwissenschaft und Technik/Völkerkunde, Empirischen Kulturwissenschaft, Geschichte; 1991 Wissenschaftlicher Angestellter im Forschungsprojekt »Frankfurter Schule«; 1992 Promotion an der Eberhard Karls Universität Tübingen; 1999 Habilitation an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam; 1999–2000 Vertretungsprofessur am Lehrstuhl für Soziologie II der Universität Heidelberg; 2000–01 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt »Aufarbeitung des wissenschaftlichen Nachlasses von F. H. Tenbruck« an der Universität Trier; Gastprofessur für Soziologie an der Universität Graz; 2002 Professur für Allgemeine Soziologie (C 3) an der Universität Koblenz-Landau; 2005–11 Sprecher der Sektion Kultursoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; seit 2008 geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Sociologia Internationalis; 2011 Mitglied in der Expertenkommission »Wie wollen wir zusammenleben?« im Rahmen des »Zukunftsdialoges« der Bundeskanzlerin; seit 2016 Professur an der Universität Bonn

Veröffentlichungen in Auswahl: »Soziale Wirklichkeit«. Helmut Schelsky und die Tragödie einer regulativen Idee. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 7 (2013), S. 53–62. – Panajotis Kanellopoulos. Ein Soziologe, Politiker und Demokrat im Weltbürgerkrieg. In: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 42 (2013), S. 271–277. – Taylorismus 2.0. Die Wissensproduktion in Netzwerken und ihre Abhängigkeit von Meta-Erzählungen. In: Phänomenologie und Kulturkritik. Über die Grenzen der Quantifizierung. Hg. v. Michael Großheim u. Steffen Kluck. Freiburg 2010, S. 85–106. – Die Halbwertszeit der Kultur. Kultursoziologie zwischen Geistes- und Kulturwissenschaft. In: Sociologia Internationalis 47 (2009), S. 39–55. – Die Substantialität bürgerlicher Kultur. In: Bürgerlichkeit ohne Bürgertum: in welchem Land leben wir? Hg. v. Heinz Bude, Joachim Fischer u. Bernd Kauffmann. München 2010, S. 131–144. – Gleichheitspolitik als Differenzgenerator – Identitätspolitik als Gleichheitsmaschine? Zur widerständigen Logik des Sozialen. In: Fragile Sozialität. Inszenierungen, Sinnwelten, Existenzbastler; Ronald Hitzler zum 60. Geburtstag. Hg. v. Anne Honer, Michael Meuser u. Michaela Pfadenhauer. Wiesbaden 2010, S. 301–312. – Erziehung – heute. Nutzen und Grenzen der Wissenschaft für die Erziehung. In: Erziehen heute 57 (2007), S. 3–14. – Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte

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Autorinnen und Autoren

der Frankfurter Schule. Frankfurt am Main, New York 2000. – Zivilisation und Gesellschaft. Bürgerliche Kultur in Frankreich. München, 1995.

Dirk Baecker (*1955) Studium der Soziologie und Nationalökonomie in Köln und Paris; 1986 Promotion im Fach Soziologie an der Universität Bielefeld mit einer Arbeit über Information und Risiko der Marktwirtschaft; 1993 Habilitation im Fach Soziologie mit einer Arbeit über die Form des Unternehmens; Studienaufenthalte an der Stanford University Kalifornien, der Johns Hopkins University Maryland und der London School of Economics and Political Sciences; Gastprofessor und Lehraufträge an den Universitäten Wien und Basel; 1996 Reinhard-Mohn-Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel an der Universität Witten/Herdecke; 2000 Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke und Mitbegründer des Management Zentrums Witten; 2007 Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee; seit Mai 2015 Lehrstuhl für Kulturtheorie und Management der Universität Witten/Herdecke.

Veröffentlichungen in Auswahl: Kulturkalkül. Berlin 2014. – Neurosoziologie: Ein Versuch. Berlin 2014. – Beobachter unter sich: Eine Kulturtheorie. Berlin 2013. – Wozu Theater? Berlin 2013. – Der unbestimmte Demos. Form und Krise der Demokratie im Prozess der Selbstfindung Europas. In: Lettre International 100 (2013), S. 169–175. – Organisation und Störung. Berlin 2011. – Nie wieder Vernunft. Kleinere Beiträge zur Sozialkunde. Heidelberg 2008. – Studien zur nächsten Gesellschaft. Berlin 2007. – Wirtschaftssoziologie. Bielefeld 2006. – Form und Formen der Kommunikation. Berlin 2005.

Hans Blumenberg (1920–1996) 1940 Abbruch des Studiums der Katholischen Theologie in Paderborn und Sankt Georgen nach Einberufung zum Arbeitsdienst; 1947 Dissertation nach Wiederaufnahme und Abschluss des Studiums der Philosophie, Germanistik und Klassischen Philologie in Hamburg; 1950 Habilitation Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls; 1958 Außerordentlicher Professor für Philosophie in Hamburg; 1960 Ordentlicher Professor für Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen; Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz; 1963 Mitgründer der Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«; 1965 Philosophieprofessur an der Ruhr-Universität Bochum; 1970 Philosophieprofessur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; 1985 Emeritierung.

Veröffentlichungen in Auswahl: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 6

Autorinnen und Autoren

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(1960), S. 5–142. Frankfurt am Main 1997. – Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt am Main 1966. – Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1975. – Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main 1979. – Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt am Main 1979. – Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981. – Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt am Main 1987. – Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt am Main 1987. – Höhlenausgänge. Frankfurt am Main 1989.

Hanno Depner (*1973) Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und der Philosophie in Berlin und Norwich (GB); 2003 Verlagsvolontariat; 2004–09 Lektoratsleiter des Internationalen Literaturfestivals Berlin; 2009–11 Redakteur und Autor für verschiedene Print- und Onlinemedien sowie Kulturinstitutionen; 2011–14 Promotionsstipendiat am Department »Wissen – Kultur – Transformation« der Interdisziplinären Fakultät der Universität Rostock; 2015 Dissertation Zur Gestaltung von Philosophie. Orientierung und Übersicht in Schrift und Diagramm; seit 2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Universität Rostock.

Veröffentlichungen in Auswahl: Zur Gestaltung von Philosophie. Eine diagrammatische Kritik. Bielefeld 2016. – Visuelle Philosophie (Hg.) Würzburg 2015. – Kant für die Hand. Die »Kritik der reinen Vernunft« zum Basteln und Begreifen. München 2011. – Neue Einführungen, Gesamtdarstellungen und Aufsatzsammlungen zur Philosophie Nietzsches. In: Nietzsche-Studien, Bd. 36. Hg. v. Günter Abel et al. Berlin, New York 2007, S. 406–416.

Birgitta Flick Trio Birgitta Flick ist Saxophonistin und Komponistin. Sie absolvierte ein SaxophonStudium am Jazz-Institut Berlin (UdK) und am Royal College of Music, Stockholm, unter anderen bei Peter Weniger, Kurt Rosenwinkel und Johan Hörlén. 2011–12 wurde sie für ihr Forschungs- und Kompositionsprojekt zur traditionellen schwedischen Musik durch das einjährige Elsa-Neumann-Stipendium des Landes Berlin gefördert. »Dalarna«, die daraus entstandene Suite erscheint 2016 bei Double Moon Records. Davor erschien im Sommer 2013 die Debut-CD »Yingying« des Birgitta Flick Quartetts bei »Jazz thing Next Generation«. Weitere CD-Produktionen bislang mit dem Nico Lohmann Quintett, Robert Kesslers Goya und Christof Grieses JayJayBeCe. Ein Stipendium des Berliner Senats ermöglichte Birgitta Flick im Winter 2014–15 einen dreimonatigen Studienaufenthalt in New York City für private Studien bei der Pianistin Connie Crothers. Konzertreisen führten sie bisher nach Schweden, in die USA, nach Bahrain und in den Nahen Osten. Sie trat auf

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Autorinnen und Autoren

Festivalkonzerten wie der Jazzwoche Burghausen, ELBJAZZ in Hamburg, JazzBaltica und dem Cairo Jazz Festival auf. Aktuelle Projekte umfassen das Birgitta Flick Quartett, ein Duo mit der New Yorker Pianistin Carol Liebowitz und die deutschskandinavische Band Flickstick, mit der sie 2012 den Jazz Baltica Förderpreis gewann und die 2014 die CD »Hymn« bei WismART veröffentlichte. Birgitta Flick spielt unter anderem auch im Nico Lohmann Quintett und im German Women’s Jazz Orchestra. Andreas Schmidt, ausgebildet am Klavier und Saxofon, studierte an der Jazzabteilung der Hochschule der Künste Berlin. Ein Kompositionsstipendium des Berliner Senats brachte ihn zudem für sechs Monate nach New York City. Seine vielseitigen Projekte führten ihn mit unterschiedlichen Künstlern wie dem Lisa Bassenge Trio, Katja Riemann und Ute Lemper zusammen. In New York spielte der Pianist mit Connie Crothers, Sheila Jordan, Jimmy Halperin und vielen anderen. Schmidt tritt regelmäßig im Berliner Jazzclub A-Trane mit Jazzmusikern wie Lee Konitz, Till Brönner, David Friedman oder Jeanfrançois Prins auf. Tourneen führten ihn nach Frankreich, Spanien, Holland, sowie nach Belgrad, Sarajewo, Beirut und London. Insgesamt erschienen bisher rund 35 CDs mit Kompositionen und Einspielungen von Andreas Schmidt. Er ist Dozent für Klavier und Korrepetition am Jazz-Institut Berlin sowie an der UDK Berlin und lebt in Berlin. Der in Berlin lebende Bassist Andreas Edelmann spielt aktuell in einer Reihe aufstrebender Ensembles der zeitgenössischen deutschen Jazzszene. 1978 in München geboren und bei Hamburg aufgewachsen, zog er Mitte der 1990er Jahre nach Hannover und absolvierte dort ein Jazzstudium als Kontra- und E-Bassist an der Hochschule für Musik und Theater. In dieser Zeit gewann er für seine Arbeit verschiedene Preise, darunter den Jazzwettbewerb der HMT Hannover 2001, den Wettbewerb »winning jazz« 2005 sowie zwei Mal den niedersächsischen Jazzpreis, 2007 unter anderem für die Musik seiner Band center. Das Trio war außerdem Preisträger beim neuen deutschen Jazzpreis 2012. Andreas Edelmann ist zurzeit auf Aufnahmen und Konzerten mit dem Arne Jansen Trio, dem Birgitta Flick Quartett, dem Trio center, dem Uwe Steinmetz Quartett, der Band Merkur und anderen zu hören.

Georg Franck (*1946) Studium der Philosophie, Architektur und Volkswirtschaftslehre in München; Promotion im Fach Volkswirtschaftslehre; 1974–91 Architekt, Stadtplaner und Entwickler von Software für die räumliche Planung; 1991–93 Unternehmer im Bereich der Entwicklung und des Vertriebs räumlicher Informationssysteme; seit 1994 Professor für EDV-gestützte Methoden in Architektur und Raumplanung an der TU Wien; zahlreiche Veröffentlichungen zum Ausgleich von Ökonomie und Ökologie, zur Rolle der digitalen Medien in Architektur und Raumplanung, zur Ökonomie der Aufmerksamkeit und zur Philosophie der Zeit.

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Veröffentlichungen in Auswahl: What Kind of Being Is Mental Presence? In: Mind & Matter 10 (2012), S. 7–24. – Celebrities: Elite der Mediengesellschaft? In: Merkur 744 (2011); S. 300–311. – The Nature of Urban Space. Space Syntax and Urban Dynamics, Paper to be presented at the European November Conference on Public Spaces and the Challenges of Urban Transformation in Europe. Vienna 2010. – Kapitalismus Zweipunktnull. In: Kapitalistischer Realismus. Hg. v. Sighard Neckel. Frankfurt am Main 2010, S. 217–231. – Bauen in der verbauten Welt. In: Architekturpreis Beton 09 (2009), S. 14–15. – Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit. Zu den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb. In: Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literaturbetrieb der Gegenwart. Hg. v. Markus Joch, York-Gothart Mix, Norbert Christian Wolf u. Nina Birkner. Tübingen 2009, S. 11–21. – Architektonische Qualität. München 2008. – Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München 2005. – Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München 1998. – Raumökonomie, Stadtentwicklung und Umweltpolitik. Stuttgart 1992.

Petra Gehring (*1961) Studium der Philosophie, Politikwissenschaften und Rechtswissenschaft in Gießen, Marburg und Bochum; 1992 Promotion; 2000 Habilitation Juridische Normativität. Institution – System – Medium – Dispositiv; seit 2002 Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt; aktuell: Mitherausgeberin und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Journal Phänomenologie, Redaktionsmitglied der Tijdschrift voor Filosofie, Mitglied des Beirats der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie und des Philosophischen Jahrbuchs.

Veröffentlichungen in Auswahl: Was macht Metaphern mächtig? In: Politik der Metapher. Hg. v. Mara Maticevic u. Jan Söhlke. Würzburg 2015, S. 39–53. – Theorien des Todes: Zur Einführung. Hamburg 2013. – (mit Andreas Gelhard) Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit: philosophisch – philologisch – politisch. Berlin 2012. – Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung. Frankfurt am Main, New York 2008. – Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens. Frankfurt am Main, New York 2006. – Foucault – Die Philosophie im Archiv. Frankfurt am Main, New York 2004. – Innen des Außen – Außen des Innen. Foucault, Derrida, Lyotard. München 1994.

Tobias Götze (*1986) Studium der Philosophie, Pädagogik und Theologie an der Christan-AlbrechtsUniversität zu Kiel und Uppsala, Schweden; 2012–14 Wissenschaftliche Hilfskraft an der Schleiermacher-Forschungsstelle Kiel; seit 2014 Promotionsstipendiat am

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Autorinnen und Autoren

Graduiertenkolleg »Deutungsmacht« der Universität Rostock mit einer Arbeit zur Anthropologie als Feld von Deutungsmachtkonflikten.

Michael Hampe (*1961) Studium der Philosophie, Psychologie und Germanistik in Heidelberg und Cambridge; 1984 Masterabschluss in Heidelberg; 1984–89 Studium der Biologie mit den Schwerpunkten Neurobiologie und Genetik und Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Philosophie in Heidelberg; 1989 Promotion in Heidelberg; 1994 Habilitation; Visiting Professor für Philosophie am Trinity College Dublin; GerhardHess-Förderpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Leiter eines interdisziplinären Forschungsprojektes zum Gesetzesbegriff in den Natur- , Rechts- und Sozialwissenschaften; 1994–95 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; 1997–99 Professor für theoretische Philosophie an der Universität Gesamthochschule Kassel; 1999–2003 Inhaber des Lehrstuhls Philosophie II der Universität Bamberg; seit 2003 Ordentlicher Professor für Philosophie am Department für Geistes-, Sozialund Staatswissenschaften der ETH Zürich.

Veröffentlichungen in Auswahl: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Berlin 2014. – Tunguska oder Das Ende der Natur. München 2011. – Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück. München 2009. – Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs. Frankfurt am Main 2007. – Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko. Berlin 2006. – Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus. Frankfurt am Main 2006. – Notwendigkeit, Experiment, Zufall. In: Kasseler Philosophische Schriften. Materialien und Reprints, Bd. 4. Hg. v. der univ., interdisziplinären Arbeitsgruppe für Philosophische Grundlagenprobleme der Wissenschaften und der Gesellschaftlichen Praxis. Kassel 1999. – Gesetz und Distanz. Studien über die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit in der theoretischen und praktischen Philosophie. Heidelberg 1996. – Die Wahrnehmungen der Organismen. Über die Voraussetzungen einer naturalistischen Theorie der Erfahrung in der Metaphysik Whiteheads. Göttingen 1990.

Heiner Hastedt (*1958) 1976–82 Studium der Philosophie, Sozialwissenschaften, Theologie, Germanistik und Pädagogik in Göttingen, Bristol (GB) und Hamburg; 1982 Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien; 1984 Zweites Staatsexamen; 1984–87 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg; 1987 Promotion mit dem Thema Das Leib-Seele-Problem. Zwischen Naturwissenschaft des Geistes und kultureller Eindimensionalität; 1989–92 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Paderborn; 1991 Habilitation Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer

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Ethik der Technik; 1991 Stiftungsprofessor am Humboldt-Studienzentrum der Universität Ulm; seit Oktober 1992 Lehrstuhlinhaber für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Praktischen Philosophie an der Universität Rostock; 1998– 2002 Prorektor der Universität Rostock.

Veröffentlichungen in Auswahl: Was ist Bildung? Eine Textanthologie. Hg. v. Heiner Hastedt. Stuttgart 2012. – Toleranz. Grundwissen Philosophie. Stuttgart 2012. – Moderne Nomaden. Erkundungen. Wien 2009. – Gefühle. Philosophische Bemerkungen. Stuttgart 22009. – Was können wir wissen, was sollen wir tun? Zwölf philosophische Antworten. Hg. v. Herbert Schnädelbach, Heiner Hastedt und Geert Keil. Reinbek bei Hamburg 2009. – Sartre. Grundwissen Philosophie. Leipzig 2005. – Der Wert des Einzelnen. Eine Verteidigung des Individualismus. Frankfurt am Main 1998. – Sich im Denken orientieren. Für Herbert Schnädelbach. Hg. v. Simone Dietz, Heiner Hastedt, Geert Keil und Anke Thyen. Frankfurt am Main 1996. – Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik. Frankfurt am Main 1994. – Das Leib-Seele-Problem. Zwischen Naturwissenschaft des Geistes und kultureller Eindimensionalität. Frankfurt am Main 1988.

Lisa Herzog (*1983) Studium der Philosophie, Volkswirtschaftslehre, Politologie und Neueren Geschichte in München und Oxford; 2007 Diplom in Volkswirtschaftslehre; 2008 Master of Studies in Philosophie; 2008–11 Promotion als Rhodes Scholar an der Universität Oxford zum Thema »Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory«; 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Wirtschaftsethik an der TU München; 2011–13 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Philosophie an der Universität St. Gallen mit Kurzaufenthalt an der KU Leuven; seit April 2013 Postdoc am Institut für Sozialforschung und am Exzellenz Cluster »Normative Ordnungen« der Goethe-Universität Frankfurt am Main; 2014–15 Postdoc am Center for Ethics in Society, Stanford University

Veröffentlichungen in Auswahl: Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus. München 2014. – Der Wert des Marktes. Ein ökonomisch-philosophischer Diskurs vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Axel Honneth u. Lisa Herzog. Frankfurt am Main 2014. – Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory. Oxford 2013. – Hegel’s Thought in Europe: Currents, Crosscurrents, Countercurrents. Houndsmill und Basingstoke 2013. – Intersubjektive Sanktionen als normative Gründe. In: Moral und Sanktion. Eine Kontroverse über die Autorität moralischer Normen. Hg. v. Eva Buddeberg u. Achim Vesper. Frankfurt am Main, New York 2013, S.209–236. – Ideal and Non-Ideal Theory and the Problem of Knowledge. In: Journal of Applied Philosophy 29 (2012), S. 271–288. – Potentiale der symbo-

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Autorinnen und Autoren

lischen Formen. Eine interdisziplinäre Einführung in Ernst Cassirers Denken. Mit einem Vorwort von Ernst Wolfgang Orth. Hg. v. Urs Büttner, Martin Gehring, Mario Gotterbaum, Matthias Hoch und Lisa Herzog. Würzburg 2011. – Wer sind wir, wenn wir arbeiten? Soziale Identität im Markt bei Smith und Hegel. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), S. 835–852.

Christian Klager (*1981) Studium der Philosophie und Germanistik für das Lehramt an Gymnasien an der Universität Rostock; 2005 Staatsexamen; 2006–07 Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Gymnasien; 2007–13 Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Philosophie der Universität Rostock; seit 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Rostock; 2015 Promotion Zu einer Philosophie des Spiels – Bedeutungsdimensionen des Spielens in methodischer Absicht.

Veröffentlichungen in Auswahl: Philosophieren mit den Simpsons. Münster 2009. – (zusammen mit Silke Pfeiffer) Wirklich wahr? Philosophieren mit Kinderbüchern. Leipzig 2011. – Symbole für fremde Wesen – was Außerirdische über den Menschen lernen können. In: Ethik und Unterricht. Heft Ausdruck – Zeichen – Symbol 21 4 (2010), S. 31–34. – Die Inquiry – eine neue Methode des Philosophierens? In: Ethik und Unterricht. Heft Gespräche 22, 4 (2011) S. 44–47. – (zusammen mit Silke Pfeiffer) Spielend Philosophieren. Leipzig 2012. – Epistemisches Spielen. Spielen als Methode des Philosophieunterrichts? In: ZDPE. Heft Spielend philosophieren 37, 4 (2015), S. 9–17. – Mensch – Nuss – Seil. Das Mängelwesen im spielerischen Selbstversuch. In: ZDPE. Heft Spielend philosophieren 37, 4 (2015), S. 64–67. – Spiel als Weltzugang. Weinheim/Basel 2016 (im Druck).

Konrad Paul Liessmann (*1953) Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Wien; 1979–89 Promotion/Habilitation; 1995 Ernennung zum außerordentlichen Universitätsprofessor am Institut für Philosophie der Universität Wien; 2011 Professur für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien; seit 1996 Wissenschaftlicher Leiter des »Philosophicum Lech« und Herausgeber der gleichnamigen Buchreihe im Zsolnay-Verlag; 2002–06 Leiter des »Friedrich-Heer-Arbeitskreises« der Österreichischen Forschungsgemeinschaft und Herausgeber der Werke Friedrich Heers im Böhlau-Verlag; 2004–08 Studienprogrammleiter für Philosophie an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien; 2008–12 Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien; seit 2010 Vizepräsident der »Gesellschaft für Bildung und Wissen«; 2011–15

Autorinnen und Autoren

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Vizepräsident der »Deutschen Gesellschaft für Ästhetik«; seit 2012 Gründungsmitglied und Obmann der »Internationalen Günther Anders-Gesellschaft«; seit 2014 Leiter des Universitätslehrganges »Philosophische Praxis« an der Universität Wien.

Veröffentlichungen in Auswahl: (zusammen mit Michael Köhlmeier) Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? Mythologisch-philosophische Verführungen. München 2016. – Totgesagte leben länger. Karl Marx und der Kapitalismus im 21. Jahrhundert. München 2015. –Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien 2014. – Philosophie der modernen Kunst. Wien 2013. – Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft. Wien 2012. – Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen. Wien 2010. – Schönheit. Wien 2009. – Ästhetische Empfindungen. Wien 2008. – Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien 2006. – Günther Anders. Philosophie im Zeitalter der technologischen Revolutionen. München 2002. – Philosophie des verbotenen Wissens. Friedrich Nietzsche und die schwarzen Seiten des Denkens. Wien 2000.

Reinhard Merkel (*1950) Studium der Rechtswissenschaft, der Philosophie und Literaturwissenschaft in Bochum, Heidelberg und München; 1. und 2. juristisches Staatsexamen in München; Wissenschaftlicher Mitarbeiter/Assistent am Institut für internationales Sozialrecht/Rechtsphilosophie; 1988–90 Redakteur der Wochenzeitung »Die Zeit«; 1991 Jean-Amery-Preis für Essayistik; 1993 Promotion an der Universität München; 1997 Habilitation an der Goethe-Universität Frankfurt am Main; 1998 Dozent an den Universitäten Bielefeld und Rostock; 1999 Dozent an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Hamburg; seit 2000 Professur für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg; seit April 2008 Mitglied der transatlantischen Forschergruppe »The Hinxton Group: An International Consortium on Stem Cells, Ethics & Law«, Hinxton (GB) und Baltimore (USA); 2008–09 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; seit 2011 Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften »Leopoldina«, Sektion Wissenschaftstheorie; seit April 2012 Mitglied im »Deutschen Ethikrat« auf Vorschlag der Bundesregierung.

Veröffentlichungen in Auswahl: Die »kollaterale« Tötung von Zivilisten im Krieg: Rechtsethische Grundlagen und Grenzen einer prekären Erlaubnis des Humanitären Völkerrechts. In: Rationalität und Empathie: Kriminalwissenschaftliches Symposion für Klaus Lüderssen zum 80. Geburtstag. Hg. v. Cornelius Prittwitz, Michael Baurmann, Klaus Günther, Matthias Jahn, Lothar Kuhlen, Reinhard Merkel, Cornelius Nestler u. Lorenz Schulz. Baden-Baden 2014, S.223–247. – Nutzen und Schaden aus klinischer Forschung am Menschen. Köln 2009. – Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung. Baden-Baden 2008. – Intervening in the Brain.

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Autorinnen und Autoren

Changing Psyche and Society. Berlin, Heidelberg, New York 2007. – Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. München 2002. – Früheuthanasie. Rechtsethische und strafrechtliche Grundlagen ärztlicher Entscheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin. Baden-Baden 2001. – Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht. Frankfurt am Main 2000. – Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus. Taschenbuchausgabe 1997. Frankfurt am Main 1998. – Zum Ewigen Frieden. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Frankfurt am Main 1996. – Zur Debatte über Euthanasie. Franktfurt am Main 1991.

Julian Nida-Rümelin (*1954) 1975–80 Studium der Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft in München und Tübingen; 1983 Promotion; 1984–89 Wissenschaftlicher Assistent an der LMU München; 1989 Habilitation mit einer Arbeit zur Kritik des Konsequentialismus in Ethik und Rationalitätstheorie; Lehrstuhlvertretungen; Gastprofessur University of Minnesota in Minneapolis (USA); 1993–2004 Lehrstuhl für Ethik in den Bio-Wissenschaften an der Universität Tübingen und für Philosophie an der Universität Göttingen; 1994–97 Präsident der Gesellschaft für Analytische Philosophie; 1998-2001 Kulturreferent der Landeshauptstadt München; 2001–02 Staatsminister im Bundeskanzleramt mit dem Aufgabengebiet Kultur und Medien; 2004–07 Direktor des Geschwister-Scholl-Instituts für Politikwissenschaft in München; 2009 Lehrstuhl für Philosophie an der LMU München; 2009–11 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie; 2009–13 Dekan der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der LMU; seit 2001 Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin (Institut für Philosophie).

Veröffentlichungen in Auswahl: Humanistische Reflexionen. Frankfurt am Main 2016. – Risikoethik. Berlin, Boston 2012. – Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie. München 2011. – Verantwortung. Stuttgart 2011. – Politische Philosophie der Gegenwart. München 2009. – Philosophie und Lebensform. Frankfurt am Main 2009. – Demokratie und Wahrheit. München 2006. – Über menschliche Freiheit. Stuttgart 2005. – Ethische Essays. Frankfurt am Main 2002. – Strukturelle Rationalität. Stuttgart 2001.

Konrad Ott (*1959) 1982–86 Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik an der GoetheUniversität Frankfurt am Main; 1989 Promotion mit einer Arbeit über die Entstehung und Logik der Geschichtswissenschaft unter Jürgen Habermas; 1990–92 Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität Frankfurt am Main; 1991–93 PostDoc-Stipendiat am Graduiertenkolleg des Zentrums für Ethik in den Wissenschaf-

Autorinnen und Autoren

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ten an der Eberhard Karls Universität Tübingen; 1993–94 Dozent in Tübingen als Vertretung des Lehrstuhls »Ethik in den Biologischen Wissenschaften«; 1995 Habilitation an der Universität Leipzig; 1996–99 Forschungsprojekt Technikfolgenabschätzung und Ethik an der Universität Zürich; 1997–2012 Professur für Umweltethik an der Universität Greifswald; 2000–08 Mitglied des Rats von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU); seit Juni 2012 Professor für Philosophie und Ethik der Umwelt an der CAU Kiel.

Veröffentlichungen in Auswahl: Zuwanderung und Moral. Stuttgart 2016. – Geo-Engineering: Notwendiger Plan B gegen den Klimawandel? München 2010. – Umweltethik zur Einführung. Hamburg 2010. – Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. Marburg 2008. – Moralbegründungen zur Einführung. Hamburg 2005. – Reasoning Goals of Climate Protection: Specification of Article 2 UNFCCC; Research Report 20241252. Berlin 2004. – Technikfolgenabschätzung und Ethik: Eine Verhältnisbestimmung in Theorie und Praxis. Zürich 2000. – Spektrum der Umweltethik. Marburg 2000. – Vom Begründen zum Handeln: Aufsätze zur angewandten Ethik. Tübingen 1996. – Ipso facto: Zur ethischen Begründung normativer Implikate wissenschaftlicher Praxis. Frankfurt am Main 1997. – Ökologie und Ethik: Ein Versuch praktischer Philosophie. Tübingen 1993.

Dominik Perler (*1965) Studium der Philosophie und Russistik in Freiburg, Göttingen und Bern; 1991 Promotion an der Universität Freiburg; 1992–93 Assistant Professor an der University of California; 1993–95 Lehrbeauftragter an der Universität Göttingen; 1996 Habilitation Repräsentation bei Descartes; 1996–97 Lehrtätigkeiten an der Universität Oxford; 1996–2003 Ordinarius für Philosophie an der Universität Basel; seit 2003 Lehrstuhl an der Humboldt-Universität zu Berlin, Lehraufträge an der St. Louis University, an der Universität Tel Aviv, am Instituto Svizzero di Roma und an der University of Wisconsin in Madison; 2004–05 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; 2006 Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis; seit 2007 Ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; 2007–10 Präsident der European Society for Early Modern Philosophy; 2013 Global Scholar an der Universität Princeton; 2014 Ehrenpromotion der Universität Louvain; seit 2015 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie.

Veröffentlichungen in Auswahl: Spinoza über Tiere. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 96 (2014), S. 232– 261. – Wozu philosophiehistorische Emotionsforschung? Methodologische Überlegungen. In: Sprachen der Emotion: Kultur, Kunst, Gesellschaft. Hg. v. Gunter Gebauer u. Markus Edler. Frankfurt am Main, New York 2014, S. 23–48. – How Many Souls Do I Have? Late Aristotelian Debates on the Plurality of Faculties. In: Medieval Perspectives on Aristotle’s De anima. Hg. v. Russell L. Friedman. Louvain

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Autorinnen und Autoren

2013, S. 277–296. – Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270–1670. Frankfurt am Main 2011. – Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten im Mittelalter. Frankfurt am Main 2012. – Theorien der Intentionalität im Mittelalter. Frankfurt am Main 2002. – Occasionalismus. Theorien der Kausalität im arabisch-islamischen und im europäischen Denken. Göttingen 2000. – René Descartes. München 2006. – Repräsentation bei Descartes. Frankfurt am Main 1996. – Der propositionale Wahrheitsbegriff im 14. Jahrhundert. Berlin 1992.

Holm Tetens (*1948) 1968–76 Studium der Philosophie, Mathematik und Soziologie in Bochum und Erlangen; 1977 Promotion bei Paul Lorenzen mit einer wissenschaftstheoretischen Arbeit zu den Grundlagen der Physik; 1977–79 Professor Colaborador IV (Assistenzprofessor) an der Universidade de Brasília; 1980–86 Hochschulassistent an der Philipps-Universität Marburg; 1986 Habilitation für das Fach Philosophie bei Peter Janich; 1987–88 Vertretungsprofessur an der Universität Göttingen; 1988–94 Professur für Philosophie an der Universität-Gesamthochschule Paderborn; 1994– 2015 Professur für Theoretische Philosophie an der Freien Universität Berlin.

Veröffentlichungen in Auswahl: Gott denken. Ein Versuch über Rationale Theologie. Stuttgart 2015. – Der Gott der Philosophen. Überlegungen zur Natürlichen Theologie. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 57 (2015), S. 1–13. – Der Naturalismus: Das metaphysische Vorurteil unserer Zeit? In: Information Philosophie 3 (2013), S. 8–17. – Kants Kritik der reinen Vernunft. Ein systematischer Kommentar. Stuttgart 2006. – Willensfreiheit als erlernte Selbstkommentierung. Sieben philosophische Thesen. In: Psychologische Rundschau 55 (2004), S. 178–185. – Philosophisches Argumentieren. München 2004. – Naturalismus und die Grenzen unseres Wissens. In: Ist der Geist berechenbar? Philosophische Reflexionen. Hg. v. Wolfgang Köhler u. Hans-Dieter Mutschler. Darmstadt 2003, S.113–127. – Experimentelle Erfahrung. Hamburg 1996. – Geist, Gehirn, Maschine. Philosophische Versuche über ihren Zusammenhang. Stuttgart 1994. – Was »revolutioniert« die Relativitätstheorie? – Wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Speziellen Relativitätstheorie. In: Relativitätstheorie und Philosophie. Hg. v. Wolfgang Büchel, Ulrich Hoyer u. Holm Tetens. Schwerte 1986, S. 63–102.

Dieter Thomä (*1959) Volontariat an der Henri-Nannen-Journalistenschule; Redakteur beim Sender »Freies Berlin« Studium in Berlin und Freiburg; 1989 Promotion Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976, Lehrtätigkeiten in Paderborn, Rostock, New York, Berlin und Essen; 1996 Preis für Essayistik beim Internationa-

Autorinnen und Autoren

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len Joseph-Roth-Publizistikwettbewerb Klagenfurt; 1997 Habilitation in Rostock; seit 2000 Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen; 2002–05 Dekan der Kulturwissenschaftlichen Abteilung; 2002–03 Fellow am Getty Research Institute in Los Angeles; seit 2003 Mitherausgeber der »Reihe zur Einführung« des Junius Verlages; 2007–10 Fellow am Max Weber Kolleg in Erfurt und am Wissenschaftskolleg zu Berlin; 2012–13 Gastprofessor an der University of California Davis und an der Brown University Providence

Veröffentlichungen in Auswahl: Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds. Berlin 2016 (im Druck). – Der Einfall des Lebens: Theorie als geheime Autobiographie. München 2015. – Social Capital and Social Identities: From Ownership to Belonging. Berlin, Boston 2014. – Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2013. – Gibt es noch eine Universität? Zwist am Abgrund – eine Debatte in der »Frankfurter Zeitung« 1931– 32. Konstanz 2012. – Glück: ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2011. – Vaterlosigkeit: Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Berlin 2010. – Väter. Eine moderne Heldengeschichte. München 2008. – Totalität und Mitleid. Richard Wagner, Sergej Eisenstein und unsere ethisch-ästhetische Moderne. Frankfurt am Main 2006. – Vom Glück in der Moderne. Frankfurt am Main 2003. – Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem. München 1998. – Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform. München 1992. – Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976. Frankfurt am Main 1990.

Sigridur Thorgeirsdottir (*1958) 1981 Absolventin der Boston University (B.A.), Graduiertenstudium in Boston und an der Freien Universität Berlin; 1988 Masterabschluss an der Freien Universität Berlin; 1993 Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin zur Philosophie Nietzsches; 1993–96 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Rostock; seit 1997 Professorin für Philosophie an der Universität Island; 2014–2015 Jane and Aatos Erkko Professor am Helsinki Collegium for Advanced Studies, Universität Helsinki; eine der Gründerinnen von The United Nations University Gender and Equality Studies and Training Program; Vorsitzende des Committee for Gender Issues von FISP; im akademischen Vorstand der Gender and Philosophy Sommerschule; im wissenschaftlichen Beirat der Nietzsche Studien; im academic board des Berggruen Centers for Philosophy and Culture.

Veröffentlichungen in Auswahl: Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation. Hg. v. Helmut Heit u. Sigridur Thorgeirsdottir. Berlin 2016. – Hvers vegna umverfissiðfræði er róttæk grein hugvísinda (Why Environmental Ethics is a Radical Field within the Humanities). Reykjavik 2014. – Dagatal 2014 – Árið með heimspekingum. (Women Philoso-

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Autorinnen und Autoren

phers from Past to Present – Calender 2014, and a new edition for 2016). Reykjavik 2013 and 2015. – Transnationale Dialoge am Beispiel des Gender Equality Studies and Training Programme in Island (GEST). In: Querelles – Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung. Berlin 2013. – Hannah Arendt. Af ást til heimsins. Reykjavik 2011. – (zusammen mit Robin May Schott, Sara Heinämaa und Vigdis Songe-Möller) Birth, Death, and Femininity: Philosophies of Embodiment. Bloomington 2010. – The Body Unbound: Philosophical Perspectives on Religion, Embodiment, and Politics. Cambridge 2010. – Kvenna megin (collection of essays in feminist philosophy). Reykjavik 2001. – Simone de Beauvoir. Heimspekingur, rithöfundur, femínisti. Reykjavik 1999. – Fjölskyldan og réttlætið. Reyk-

javik 1997. – Vis creativa. Kunst und Wahrheit in der Philosophie Friedrich Nietzsches. Würzburg 1996.

Dennis Wutzke (*1978) Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Marburg und Berlin; anschließend freie und Honorar-Tätigkeiten als Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin sowie als Gitarrist, Musik- und Gitarrenlehrer; 2011–14 Promotionsstipendiat an der Interdisziplinären Fakultät der Universität Rostock im Departement »Wissen, Kultur, Transformation«; seit 2012 Leitung von Schreibwerkstätten am Institut für Philosophie; seit Oktober 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Praktische Philosophie. Arbeit an einer Dissertation unter dem Titel Akademische Überproduktion – Elemente einer Kritischen Theorie evaluierter Sozialwissenschaft, voraussichtliche Fertigstellung im Sommer 2016.

Veröffentlichung: Merkwürdigkeiten der sozialwissenschaftlichen Sprache. In: Leviathan 1 (2005), S.94–110.