Offenheit und Distanz: Grundzüge einer phänomenologischen Anthropologie [1 ed.] 9783428475421, 9783428075423

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Offenheit und Distanz: Grundzüge einer phänomenologischen Anthropologie [1 ed.]
 9783428475421, 9783428075423

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WalteT BoeTes . Offenheit und Distanz

Philosophische Schriften Band 9

Offenheit und Distanz Grundzüge einer phänomenologischen Anthropologie

Von

Walter Hoeres

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hoeres, Walter: Offenheit und Distanz : Grundzüge einer phänomenologischen Anthropologie / von WaIter Hoeres. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Philosophische Schriften ; Bd. 9) ISBN 3-428-07542-0 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428.07542-0

Caelesti Eichenseer, latinistae Saravipontano longe humanissimo, atque Gaio Licoppe, medieo Bruxellensi Latinitatis Vivae fautori maxime erudito, qui linguam latinam, sermonem historiee omnium Europaeorum patrium, mirum in modum tamquam voeem vivam e somno resuscitaverint, hune librum magna eum reverentia dedieo.

Inhaltsverzeichnis Einleitung § 1: § 2: § 3: § 4:

Das Problem des Anfangs ........................................................ Der Begriff der Offenheit ......................................................... Die Aktualität der Arbeit ......................................................... Die phänomenologische Methode ...... ..........................................

17 20 25 27

Erster Teil: Souveräne Erkenntnis Erster Abschnitt: Die Selbstdarstellung der einfachen Erkenntnis ............

31

Kap. 1: Exposition der Frage ..........................................................

31

Kap. 2: Wesenszüge des Erkenntnisaktes ........ ........ ............ ..... ........... § I: Erkennen als Entdecken ................................................. § 2: Erkennen als Erfassen des Seins .......................................

34 34 37

Kap. 3: Erfahrung der Hinnahme und Offenheit ....................... .............

39

Zweiter Abschnitt: Die Selbstdarstellung der bewußten Erkenntnis..........

41

Kap. 1: Der Akt der bewußten Erkenntnis ..... ....... ........ ....... ..... ..... ...... § 1: Der methodische Zugang ............................................... § 2: Die innere Gliederung des Aktes ......................................

41 41 43

Kap. 2: Bewußte als vollendete Erkenntnis .......................................... § 1: Einfache und bewußte Erkenntnis " . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2: Maßstäbe für die vollendete Erkenntnis ............................... § 3: Erkenntnis als vollkommenes Bewußtsein................. ........... § 4: Bewußte Erkenntnis und die Idee der Erkenntnis .................... § 5: Erkenntnis als Urteil.....................................................

44 44 44 45 46 47

Kap. 3: Selbsterfahrung und Indifferenz des Subjektes............................. § 1: Der Akt der bewußten Erkenntnis und die Selbsterfahrung des Subjektes ...................................................................... § 2: Die Indifferenz gegenüber der Sache ..................................

49

Kap. 4: Der § 1: § 2: § 3: § 4:

Kontakt zu den Dingen .................................................. Der Ansturm der Dinge und die bewußte Erkenntnis ................ Veränderungen der Dinge - Veränderungen der Erkenntnis... .... Der Käfig des Bewußtseins und die bewußte Erkenntnis ........... Husserls Begriff der Reflexion .........................................

55 55 57 58 59

Kap. 5: Die Paradoxie der bewußten Erkenntnis... ............ ..... ................

61

49 51

8

Inhaltsverzeichnis

Dritter Abschnitt: Die Selbstdarstellung des Erkenntnisprozesses ............

62

Erster Teilabschnitt: Die Erwartung des Gegenstandes ............................

62

Kap. 1: Offenheit und Erkenntnisprozeß .............................................

62

Kap. 2: Die leitende Intention des Erkenntnisprozesses ............................

62

Kap. 3: Meinung und VerifIkation .. ..... ... ...... ... ..... ............ ........ ..... ...

63

Kap. 4: Erfahrung des eigenen ,,Nichts" .............................................

65

Kap. 5: Selbständigkeit des suchenden Subjektes ...................................

66

Zweiter Teilabschnitt: Die Fähigkeit, sichjür die Dinge zu öffnen. ........... ....

70

Kap. 1: Offenheit und Fähigkeit, sich zu öffnen ....................................

70

Kap. 2: Selbsterfahrung des Subjektes ................................................

71

Kap. 3: Selbsterfahrung der Fähigkeit ................................................ § 1: Die Pulse des "ich kann" ............................................... § 2: Unmittelbarkeit und Erkenntnischarakter der Selbsterfahrung ......

72 72 73

Kap. 4: Souveränität und Identität der Fähigkeit .................................... § 1: Offen für Zusammenhänge und Zusammenhangloses .... ... ..... ... § 2: Kants Modell der Einheit des Bewußtseins ........................... § 3: Die Fähigkeit gegenüber den Dingen.................................. § 4: Kants Modell und der Fortschritt der Wissenschaften ...............

75 75 76 78 78

Vierter Abschnitt: Staunen als Alternative........................................

81

Kap. 1: Staunen als ursprüngliche Begegnung ....................................... § 1: Weder Affekt noch einfach Erkenntnis. ... ..... ... ... ... ... ........ ... § 2: Staunen kein Stutzen .................................................... § 3: Abgrenzung von der Überraschung .......................... '" .......

81 81 83 84

Kap. 2: Der § 1: § 2: § 3:

Akt des Staunens ......................................................... Das Formalobjekt des Staunens: Staunen und Verwunderung ...... Staunen als schwebende Frage ......................................... Staunen und bewußte Erkenntnis . ............. ... ..... ........ ........

86 86 90 94

Kap. 3: Die typischen Gegenstände des Staunens ........................ ,.......... § 1: Im Kontrast mit dem Erwartungs- und Erfahrungshorizont ......... § 2: Die einfache Wahrnehmung des Kontrastes ........ ... ....... .... .... § 3: Übergänge zwischen den Horizonten .......... ... .....................

95 95 98 101

Kap. 4: Staunen über das Selbstverständliche ....................................... § 1: Das "es selbst Sein" der Sache als Anlaß und Gegenstand ......... § 2: Einsichtig notwendige Sachverhalte als Gegenstand.................

103 103 106

Inhaltsverzeichnis

9

Kap. 5: Die radikale Verwunderung ......... ........... ...... ................... ..... § 1: Die radikale Verwunderung als Vollendung des Staunens .... ...... § 2: Abgrenzung von der metaphysischen Verwunderung ................

107 107 111

Kap. 6: Staunen als Ausdruck der Ambivalenz der Offenheit .......... ........... § 1: Staunen und Nicht-Staunen-Können ....... ..... ............ ..... ...... § 2: Die Offenheit als Hinnahmebereitschaft und Indifferenz............ § 3: Die Selbsterfahrung des Subjektes in der radikalen Verwunderung

114 114 116 119

Fünfter Abschnitt: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung............................................................................

121

Erster Teilabschnitt: Entscheidung über die Hinnahme der Wirklichkeit.........

121

Kap. 1: Das Subjekt vor letzten Möglichkeiten......................................

121

Kap. 2: Die absolute Entscheidung . ... .... .............. ........ .............. ... .... § 1: Die Situation der Entscheidung ........ ... .......... ............... .... § 2: Die Rationalität der Entscheidung ..................................... § 3: Die Souveränität der Entscheidung ....................................

122 122 123 124

Kap. 3: Die Skepsis als mögliches Ergebnis......................................... § 1: Die Skepsis als Haltung. ................ ............... ................. § 2: Der Radius der Skepsis .................................................

126 126 129

Kap. 4: Die Skepsis auf der Suche nach neuer Gewißheit ......................... § 1: Gewißheit und Evidenz ................................................. § 2: Die Spaltung der Erkenntnistendenz ................................... § 3: Formen des Gewißheitsstrebens ........................................ § 4: Keine lineare Entwicklung..............................................

132 132 133 134 136

Zweiter Teilabschnitt: Entscheidung über die eigene Erkenntnis ..................

137

Kap. 1: Vollkommenes Bewußtsein und Reflexion

137

Kap. 2: Die dreifache Schwierigkeit der Reflexion ................................. § 1: Die erste Schwierigkeit: Reflexion und Gegenwart der Sache selbst § 2: Die zweite Schwierigkeit: Reflexion und Entfremdung ....... ...... § 3: Die dritte Schwierigkeit: Zuschauen oder Mitvollzug ...............

139 139 140 144

Kap. 3: Die Reflexion als Entscheidung über die eigene Erkenntnis.............. § 1: Reflexion als reines Zuschauen .. ....... ........ ....... ..... ....... .... § 2: Staunen über die eigene Erkenntnis ................................... § 3: Entscheidung über die eigene Erkenntnis .............................

146 146 147 149

Kap. 4: Die Reflexion auf das Staunen ........... ... ...... ........ ....... ........ ....

150

Kap. 5: Die vollkommen bewußte Entscheidung............................ ..... ... § 1: Staunende Reflexion auf das Staunen als Höhepunkt ........ ........ § 2: Die vollkommen über sich selbst verfügende Entscheidung .. ...... § 3: Der Zusammenfall aller Formen der Entscheidung ... ......... ......

152 152 152 153

10

Inhaltsverzeichnis

Dritter Teilabschnitt: Bekenntnischarakter der Entscheidung ......................

154

Kap. 1: Entscheidung und Sympathie...... ..... .............. ........ ................

154

Kap. 2: Vereinbarkeit der beiden Momente......... ................................. § 1: Der Ideologieverdacht ................................................... § 2: Zwei Teilantworten ...................................................... § 3: Beispiele..................................................................

156 156 157 158

Kap. 3: Mutmaßung, Vorliebe und Entscheidung ...................................

159

Zweiter Teil: Wertschätzung und Kontemplation Sechster Abschnitt: Die Selbstdarstellung der Werterkenntnis ................

162

Erster Teilabschnitt: Ursprünge der Werterkenntnis ................................

162

Kap. 1: Aporien der Werterkenntnis ...................................... ... ......... § 1: Der Anspruch der Werterkenntnis .... ................................. § 2: Gegensätzliche Theorien................................................ § 3: Die Bedeutsarnkeit der Werte .......................................... § 4: Wertschätzung und Werterkenntnis ....................................

162 162 165 172 173

Kap. 2: Simüällige Schönheit als Beispiel ........................................... § 1: Die Erschließung des Schönen ......................................... § 2: Der Anblick des Schönen ............................................... § 3: Der Anblick des Schönen und der Genuß ............................ § 4: Stufen der Werterschließung ...........................................

174 174 178 182 186

Kap. 3: Wollen und Wertschätzung................................................... § 1: Rückgriff auf das Wollen ...... . ........................................ § 2: Wollen des eigenen Seins.............. ................................. § 3: Ausgriff in die Ontologie .................. ............. .......... ...... § 4: Fühlen als Ausdruck des Wollens ................ ......... ............

189 189 191 196 198

Kap. 4: Übergang zur Wertschätzung des anderen. ..................... ............ § 1: Das Verwiesensein an die Dinge und den Nächsten ................. § 2: Der Rückbezug dieser Wertschätzung ....................... ..........

203 203 209

absolute oder apriorische Wertschätzung .............................. Das reine Subjekt und sein Streben nach Kontemplation ........... Streben nach Teilnahme an den Dingen... ............................ Teilnahmetendenz und apriorische Wertschätzung................... Eingrenzungen der apriorischen Wertschätzung ...................... Wertschätzung als Hinnahmebereitschaft .............................

211 211 218 226 228 233

Kap. 6: Apriorische Wertschätzung und vorgegebene Wertmaßstäbe ............. § 1: Keine Wertmaßstäbe apriori........ ............ .................... ... § 2: Einschwenken auf die natürlichen Wertmaßstäbe .... ..... ..... ......

235 235 237

Kap. 5: Die § 1: § 2: § 3: § 4: § 5:

Inhaltsverzeichnis

11

Zweiter Teilabschnitt: Die Gestalt der Werterkenntnis ..............................

240

Kap. 1: Die § 1: § 2: § 3: § 4:

240 240 241 243 244

Anschaulichkeit der Werterkenntnis . ......... ..... ....... ......... ..... Die Objektivität der Werterkenntnis ................................... Einheit und Ganzheit des Guten ....................................... Diskursive und intuitive Werterkenntnis .............................. Reale Wirklichkeit als Gegenstand ....................................

Kap. 2: Die Schönheit des Guten ... ... ... ... ... ..... ........... ........... ........... 247 § 1: Die Wahrnehmung dieser Schönheit................................... 247 § 2: Vergleich mit der sinnfalligen Schönheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Siebenter Abschnitt: Sein für das Gute ... .........................................

251

Erster Teilabschnitt: Aufgehen im Guten ... ...................................... ....

251

Kap. 1: Anteilnahme arn Guten ....................................................... § 1: Das Wesen der Anteilnahme . ....... ....... ............................ § 2: Teilnahme und Anteilnahme ............................................ § 3: Anteilnahme als Empfindung des Guten .............................. § 4: Korrespondenz zwischen Wertordnung und Subjekt................. § 5: Selektive Anteilnahme ..................................................

251 251 253 255 256 259

Kap. 2: Das Phänomen der Liebe ..................................................... § 1: Die Leidenschaft der Liebe ............................................. § 2: Liebe und Wollen........................................................

263 263 265

Zweiter Teilabschnitt: Die bewußte Stellungnahme .................................

266

Kap. 1: Stellungnahme. Anerkennung und Entscheidung ........................... § 1: Werte als Forderungen .. ...... ..... ....... ....... ....... ........... ..... § 2: Stellungnahme als Wertantwort ........................................ § 3: Freiheit der Stellungnahme ............................................. § 4: Der Entschluß ............................................................

266 266 269 273 275

Kap. 2: Liebe als bewußte Stellungnahme ........................................... § 1: Liebe und Stellungnahme ............................................... § 2: Liebe und Entscheidung ................................................

278 278 282

Dritter Teilabschnitt: Das Verfallensein an die Ideologie..........................

284

Kap. 1: Der Ideologieverdacht .........................................................

284

Kap. 2: Das § 1: § 2: § 3: § 4:

Wesen der Ideologie ..................................................... Intentionalität und Verborgenheit ...................................... Der Ursprung in der eigenen Verfassung ....... ................ ...... Die optische Täuschung.......................... ....... ............ .... Der Praxisbezug .........................................................

286 286 288 291 293

Kap. 3: Die Enthüllung der Ideologie ...... .......................................... § 1: Der Anstoß zur Enthüllung ............................................. § 2: Die Enthüllung als Reflexion .......... . ................................ § 3: Die Reflexion als Distanzierung .......................................

294 294 295 297

12

Inhaltsverzeichnis

Kap. 4: Selbstwidersprüche der Ideologiekritik ......................................

302

Achter Abschnitt: Werterkenntnis als souveräne Entscheidung...............

304

Erster Teilabschnitt: Entscheidung über die Einheit des Seienden und des Guten.. ..

304

Kap. 1: Die Möglichkeit wertfreier Erfahrung .......................................

304

Kap. 2: Das Staunen über den Wertcharakter der Wirklichkeit ..... ...... ......... § 1: Abgrenzungen des Sta~lßens ............................................ § 2: Motive des Staunens ....................................................

307 307 308

Kap. 3: Radikale Verwunderung und absolute Entscheidung ......... . ............

312

Kap. 4: Gründe für die positive Entscheidung....................................... § 1: Anhänglichkeit an konkrete Werte ..................................... § 2: Schönheit des Guten ..................................................... § 3: Erkenntniswert der positiven Entscheidung.......... .... .............

315 315 317 319

Zweiter Teilabschnitt: Bewertung der wertjreien Wirklichkeit .....................

320

Kap. 1: Motive für die negative Entscheidung ...................................... § 1: Vollkommene Sachlichkeit ....... .............................. ........ § 2: Schönheit des Guten......................... ... .............. ...........

320 320 321

Kap. 2: Die Struktur der ästhetischen Bewertung ................................... § 1: Faszination als Wert............ ............. ............................ § 2: Übertragung der Faszination auf die Dinge ...........................

322 322 324

Kap. 3: Bewertung als eigenes Belieben . ........... ........... ... ... ....... ... ......

326

Kap. 4: Bewertung als Wertsetzung durch die Praxis............................... § 1: Der Kontrast zur Wirklichkeit als Motiv.............................. § 2: Die Vagheit der neuen Werte als Motiv.............................. § 3: Entfesselte Betriebsamkeit. ........ ........... ..................... .....

328 328 329 331

Dritter Teilabschnitt: Entscheidung über die Anhänglichkeit an das Gute .......

334

Kap. 1: Die Reflexion auf die eigene Anhänglichkeit .............................. § 1: Der Anstoß zur Reflexion .............................................. § 2: Der Gegenstand der Reflexion ......................................... § 3: Der staunend distanzierte Charakter der Reflexion .................. § 4: Vergleich mit der ideologiekritischen Reflexion ..................... § 5: Mitgehende Reflexion oder Enthaltung ...............................

334 334 335 335 336 338

Kap. 2: Reflexion und allumfassende Entscheidung ................................ § 1: Reflexion und Entscheidung über das eigene Sein ................... § 2: Kennzeichen der allumfassenden Entscheidung ...................... § 3: Keine notwendigen Übergänge................. ...... ....... ........ ...

339 339 342 343

Inhaltsverzeichnis

13

Dritter Teil: Prägung und Erfüllung Neunter Abschnitt: Die prägende Kraft der Kontemplation ...................

345

Erster Teilabschnitt: Prägung durch die Ideen ......................................

345

Kap. I: Der § 1: § 2: § 3: § 4: § 5: § 6:

Aufblick zu den Ideen ................................................... Ortsbestimmung der folgenden Analysen ............................. Ideen und Umstände ............ .......................... .......... .. ... Ideen und Ideologie ..................................................... Ideen als Gegenstände des Staunens ................................... Urbilder und Traumbilder .. .... ................. ..... ...... ............. Phantasie und Gegenständlichkeit ......................................

345 345 346 349 352 353 355

Kap. 2: Die § I: § 2: § 3: § 4:

Sehnsucht nach den Ideen ............................................... Die Sehnsucht nach dem ganz anderen ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sehnsucht, mit neuen Augen zu sehen ............. .............. Die Sehnsucht nach Kontemplation ........ ......... ............. ...... Die reine Option für die Ideen .........................................

356 356 360 361 362

Kap. 3: Ideen und absolute Entscheidung. ............... ...................... ......

363

Zweiter Teilabschnitt: Prägung durch die absolute Entscheidung .................

364

Kap. I: Absolute Entscheidung als Weltanschauung ................................

364

Kap. 2: Sittliche Grundentscheidung .................................................. § 1: Der sittliche Charakter der absoluten Entscheidung .. . . . . . . . . . . . . . . . § 2: Der sittliche Charakter der positiven Entscheidung .................. § 3: Der sittliche Charakter der negativen Entscheidung ................. § 4: Der sittliche Charakter des Standpunktes der Wertfreiheit ..........

366 366 367 370 372

Kap. 3: Homo faber.oder animal metaphysicum ....................................

373

Kap. 4: Absolute Entscheidung und reale Geschichte ......... . ................ . ... § 1: Keine Geschichtsklitterung ............................................. § 2: Staunen und Aufklärung ................................................

377 377 378

Zehnter Abschnitt: Erleben als erfülltes Leben ..................................

386

Erster Teilabschnitt: Anschauung als Eifüllung .....................................

386

Kap. 1: Die Fragestellung .............................................................. § 1: Scheinbare Defizite kontemplativen Lebens .......................... § 2: Der Begriff der Erfüllung ............................................... § 3: Methodische Überlegungen .... .............. ..... ..... ... ........... ...

386 386 391 392

Kap. 2: Begegnung und Kontemplation ..............................................

393

Kap. 3: Tat und Kontemplation ....................................................... § 1: Abgrenzungen ............................................................ § 2: Taten als Ziele ........................................................... § 3: Taten und Effekte .. ...... ... .... ..... ............ ....... ....... ..........

395 395 396 398

14

Inhaltsverzeichnis

Kap. 4: Werk und Kontemplation... ................... ... ........................ .... § 1: Das Werk als angeschaute Kontemplation ..... ....................... § 2: Aufgehen im Werk ......................................................

399 399 400

Kap. 5: Spiel und Kontemplation ... ............................ ...................... 402 Kap. 6: Genuß und Kontemplation .................................................... 403 § 1: Genuß als Analogon der Kontemplation .............................. 403 § 2: Genußstreben und Erfüllung ............................................ 404

Zweiter Teilabschnitt: Kontemplation als Erlebnis ..................................

405

Kap. 1: Wesensbestimmung des Erlebens . ................. ................... ....... § 1: Abgrenzungen ............................................................ § 2: Die Unablösbarkeit des Erlebens ....................................... § 3: Falsche Modelle ......................................................... § 4: Die Einwirkung der Dinge ..............................................

405 405 406 408 408

Kap. 2: Die Intentionalität des Erlebens .............................................. § 1: Distanz des Erkennens .................................................. § 2: Erfahrung ohne Abstand ................................................ § 3: Zusammenspiel von Erkennen und Erleben................. ... .......

409 409 410 412

Kap. 3: Leben und Erleben ............................................................ § 1: Erleben im Dienste des Erlebens .......................... ... .......... § 2: Ziele des Erlebens ....................................................... § 3: Plattform des Erlebens ........ .............. ................. ..... ...... § 4: Die großen Erlebnisse...................................................

415 415 416 417 418

Kap. 4: Erlebnis und Kontemplation .................................................. § 1: Der scheinbare Zwiespalt ............................................... § 2: Die Tendenz nach Distanz.... ......................... ...... ..... ...... § 3: Offenheit, Hinblick und Erlebnis ...................................... § 4: Angeschaute und erlebte Welt.... .......... ............................ § 5: Erkennen als Erleben ....................................................

420 420 421 423 425 428

Dritter Teilabschnitt: Versagung in der E/füllung ...................................

429

Kap. 1: Distanz als Versagung ... ..... ........ ................. ........... ............

429

Kap. 2: Ausschau und Erwartung ........................................ '" ... ....... § 1: Reines ..Warten auf' ......................... ... ........... ... .......... § 2: Versöhnung mit dem einfachen Leben ................... '" ..........

431 431 432

Kap. 3: Die Langeweile ................................................................ § I: Die alltägliche Langeweile .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2: Die reine Langeweile .................................................... § 3: Motive der reinen Langeweile.... ..... ......... ........ ... ...... ....... § 4: Flucht vor der reinen Langeweile ......................................

433 433 435 437 439

Kap. 4: Das § 1: § 2: § 3: § 4:

443 443 444 444 445

unerreichbare Ziel ........................................................ Fülle und Vereinigung .................................................. Säkulare Mystik.......................................................... Antwort der Theologie. ... ... ... ........ ................................ Anschauung oder absolutes Wissen ....................................

Inhaltsverzeichnis

15

Epilog § 1: Die Einzigartigkeit der geistigen Erkenntnis § 2: Tierische und geistige Erkenntnis ............................................... . § 3: Geistige Erkenntnis und Gehirnprozesse ....................................... . §4: Übereinstimmung von Erkenntnis und Wirklichkeit .......................... . § 5: Der menschliche Geist: gewissermaßen alles .................................. .

447 447

450 451 451

Personenregister. . .. ... .. . .. . . . . . . .. . . . . .. ... .. . .. . .. . ..... .. . . . .. . . . . . . . . . . . .. .. . .. .. . . 452 Sachregister .............................................................................

454

Einleitung § 1: Das Problem des Anfangs

Diese Arbeit ist der Versuch einer phänomenologischen Anthropologie. Damit kündigt sich auch schon die erste Schwierigkeit an! Wir möchen sie als Problem des Anfangs oder des richtigen Einsatzes bezeichnen, das sich im Blick auf die ungeheure Vielfalt der Momente und Bezüge stellt, die mit dem Sein des Menschen gegeben sind. Es liegt ~ahe, hier an Arnold Gehlen zu denken, der vor der gleichen Schwierigkeit des Anfangs stand, und dies aus ganz ähnlichen Gründen. 1 Zwar geht es ihm nicht um eine phänomenologische Anthropologie im engeren Sinne des Wortes, aber auch er will die metaphysischen Fragen und Lösungsversuche ausblenden, die sich hier stellen und seine Anthropologie "sorgfältig im Umkreis der Erfahrung, der Analyse von Tatsachen oder Vollzügen, die jedermann erreichbar oder für jedermann nachvollziehbar sind", 2 halten. Wenn aber die Erfahrungstatsachen oder wie in unserem Falle die Selbsterfahrung, die die Phänomenologie thematisch macht, die einzige Erkenntnisquelle der Anthropologie bleiben sollen, dann stellt sich die Frage, wie wir über die einzelnen Erfahrungen hinaus zu einem gültigen Maßstab kommen, von dem aus ihre Bedeutung und Aussagekraft für eine Theorie des Wesens "Mensch" beurteilt werden kann? Gewiß ist es richtig, ja eine Binsenweisheit, daß sich die Anthropologie ganz einfach darum bemühen sollte, dem Zusammenhang nachzuspüren, in dem sich die Vielfalt der erfahrbaren Momente zur Einheit zusammenschließt. Ihre Aufgabe wäre es also, herauszustellen, daß hier das eine das andere bedingt. Ihr Ziel wäre es, schließlich formulieren zu können: "ohne A kein B, ohne B kein C, ohne C kein D usw. Läuft diese Reihe in sich zurück - ohne N kein A - , so ist ein totales Verständnis des betrachteten Systems gelungen". 3 Doch schon hier stellt sich zumindest die Frage, ob ein Phänomenologe strenger Observanz so verfahren darf. Zwar geht die Suche nach dem inneren Zusammenhang der gegebenen Momente von ihnen aus. Aber bei ihrer einfachen Hinnahme als Gegebenheiten scheint sie nicht stehen bleiben zu können, wenn sie die Frage nach ihrer inneren Möglichkeit stellt und so den Bedingungszusammenhang zu 1 Amold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 8. Aufl., Frankfurt 1966. 2 Ebd., S. 10. 3 Ebd., S. 18.

2 Hoeres

Einleitung

18

enthüllen sucht, der das eine mit dem anderen verbindet! Damit scheint sie vielmehr über das unmittelbar Gegebene hinauszugehen, um im vergleichend diskursiven Denkprozeß und in der spekulativen Ansetzung von Möglichkeiten den zunächst verborgenen Zusammenhang zu erschließen: Aufgaben, die an und für sich nicht die des Phänomenologen sind! Freilich könnte man sich hier auf den Standpunkt stellen, daß der innere einsichtige Bedingungszusammenhang, in dem die Momente zueinander stehen, so unlösbar zu ihrer Gegebenheit gehört, daß sie ohne ihn gar nicht aufgefaßt werden können. Und dieses Argument hätte um so mehr Gewicht, als die Phänomenologie stets an der Möglichkeit der Wesenseinsicht festgehalten hat, die auf die innerlich notwendigen Beziehungen am Gegenstand gerichtet ist. Aber es geht nicht nur darum, daß die Vielfalt jener Momente in einem irgend wie gearteten Zusammenhang steht, sondern um die Voraussetzung, daß der Mensch im strengen Sinne des Wortes ein Ganzes ist, das mehr ist als die Summe seiner Teile! Dann stellt sich nämlich sogleich die Frage nach dem leitenden Gesichtspunkt, von dem her sich das Ganze erst als solches erschließt. Und hier können wir uns die Sache nicht so einfach machen wie Arnold Gehlen, der das interessanteste und schwierigste Moment des menschlichen Seins, das Thema "Geist", einfach ausklammert und apriori statuiert, daß der leitende Gesichtspunkt, von dem her sich jene Ganzheit erschließt, "allein in der Frage nach den Existenzbedingungen des Menschen" bestehen könne. 4 Wollen wir nicht so dogmatisch verfahren, dann befinden wir uns hier sogleich in einem Zirkel, aus dem die einfache phänomenologische Vergegenwärtigung des Gegebenen schwerlich wird hinausführen können. Auf der einen Seite müssen wir das Ganze schon kennen, ja die mehr oder weniger große Bedeutung seiner Momente und Teile in ihm schon ermessen können, um jenen Leitfaden oder jenes Strukturgesetz zu finden, von dem aus wir das Ganze allererst als solches erblicken können. Auf der anderen Seite lassen sich Stellung und Bedeutung der Teile in ihm nur ermessen, wenn wir dieses Strukturgesetz schon kennen und als Maßstab mitbringen. An und für sich gehört dieser Zirkel zum Wesen allen Entdeckens, das mehr und anderes ist als bloßes zufälliges Vorfinden oder "darauf Stoßen" und daher das zu Entdeckende immer schon im Vorgriff hat. Aber hier, wo es um das einigende Band geht, das eine so ungeheure Vielfalt wie die Momente des Wesens "Mensch" durchdringen soll, das von einer nicht endenden Zahl von Aspekten her anvisiert werden kann und anvisiert worden ist, entfaltet sich der Zirkel erst zur vollen Ausdrücklichkeit. Er kann hier - wenn überhaupt - nur durch ein Wechselspiel von heuristischen Ansätzen und dem Versuch ihrer Verifizierung aufgelöst werden, das als diskursives und immer erneut ansetzendes tentatives oder spekulatives Verfahren ganz sicher nicht Sache des Phänomenologen ist! 4

Ebd., S. 16.

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Aus diesem Grunde ist der Anfang unserer phänomenologischen Anthropologie in der Tat zunächst ganz zufällig. Wir haben hier noch keine Begründung dafür, daß wir bei diesem und keinem anderen Aspekt des menschlichen Seins oder vielmehr Lebens ansetzen. Der Ansatz kann seine Fruchtbarkeit erst in seiner Entfaltung erweisen. Auf die Frage, warum wir so und nicht anders beginnen und bei diesem Anfang auch stehenbleiben, haben wir also zunächst nur die Antwort, daß unser Blick hier haften blieb. Aus der Vielfalt der Lebensvollzüge heben wir einen oder vielmehr nur einen Aspekt eines solchen Vollzuges in thematisierender Herausschau in den Blick! Gewiß mag es persönliche Gründe dafür geben, daß uns dieser und kein anderer Aspekt so fasziniert, aber von der Logik der Sache her ist der Ansatz in der Tat zunächst rein zufällig. Die mit der konsequent durchgeführten phänomenologischen Methode gegebene Zufälligkeit des Anfangs aber ist auf jeden Fall geeignet, die Offenheit unseres Vorgehens zu garantieren. Ein solcher Anfang legt uns nicht auf ein einmal gewähltes und sodann mit systematischer Konsequenz festgehaltenes Schema fest, welches das Wesen "Mensch" mit dem in Eigenarbeit hergestellten Prokrustesbett verwechselt. Er kann nicht - zumindest nicht apriori - den Anspruch erheben, daß sich von ihm her das ganze Sein und Leben des Menschen als widerspruchslose Einheit erschließt, ja noch nicht einmal, daß der Mensch eine solche in sich stimmige Ganzheit ist! Die Offenheit, die wir für unsere Anthropologie in Anspruch nehmen, ist aber nicht nur durch die phänomenologische Methode und ihren selektiven Ansatz bedingt. Sie ergibt sich auch aus der Natur dieses Ansatzes. Denn wir gehen gerade von der Eigenschaft des Menschen und näherhin seiner Erkenntnis aus, die der Grund dafür ist, daß er kein festgelegtes Wesen ist wie die anderen Dinge, sondern frei und souverän über seine Möglichkeiten und damit auch über sein Sein entscheiden kann! Diese Eigenschaft ist die Offenheit und totale Empfangsbereitschaft des Erkennens, die wir als dessen Grundvoraussetzung und ihr bestimmendes Wesen in allem Erkennen erfahren, das seiner ursprünglichen Intention gemäß den Anspruch erhebt, Entdecken der Wirklichkeit zu sein. Natürlich ist der Hinweis auf diese Offenheit nichts Neues. Neu ist aber die Insistenz, mit der unser Blick auf ihr ruht und bei ihr verbleibt, um so deutlich zu machen, daß sie der Brenn- und Angelpunkt des geistigen, ja darüber hinaus des ganzen menschlichen Lebens ist! Mit der Insistenz, mit der wir diesen einen Punkt betrachten, mag unser Verfamen rein formal an das Hegels erinnern, nichts von außen an den Gegenstand heranzutragen, sondern vielmehr in seiner Betrachtung zu verweilen, um so zu sehen, wie er sich aufgrund seines inneren Gestaltgesetzes entfaltet und in dieser Entfaltung mit den anderen Dingen vermittelt! So zeigt uns hier der auf der Offenheit verweilende Blick, daß sie nicht nur die zentrale Eigenschaft des Erkennens und darüber hinaus der in ihm faßbaren Erkenntnisfähigkeit ist, sondern auf der einen Seite seine Neigungen, Erfüllungen, ja Bindungen an die Wirklichkeit aus sich hervorgehen läßt und ihm auf der 2*

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anderen Seite in einer ungeahnten Tiefendimension zugleich die Macht und die Möglichkeit verleiht, über den Sinn dieser Neigungen und Bindungen zu befinden! § 2: Der Begriff der Offenheit

Daß und wie ich im Erkennen meine Offenheit für die Dinge erfahre, suchen unsere phänomenologischen Analysen in immer neuen Ansätzen zu erhellen! Doch um naheliegende Mißverständnisse abzuwehren, seien hier schon einige Worte zu diesem Begriff und zu seiner Unentbehrlichkeit verstattet. Immer wieder kann man den Einwand hören, die Phänomenologie übertreibe den Vergleich des Erkennens mit dem sinnlichen Sehen. Sie deute es einseitig nach dem Modell der sinnfalligen Anschauung und verfehle damit das, was Erkennen und Denken in seinem ganzen Umfang bedeute! Demgegenüber halten wir daran fest, daß diese Analogie im entscheidenden Punkte durchaus zutrifft und repräsentativ ist für alles Erkennen, das überhaupt diesen Namen verdient. Denn alles wirkliche Erkennen ist Entdecken und damit eine Hinnahme der Sache, die die Offenheit für sie voraussetzt. In dieser Hinnahme wird die Sache prinzipiell in derselben Weise unmittelbar gegenwärtig wie der sinnfällige Gegenstand im visuellen Sehen! Gewiß haben die Erkenntnistheoretiker recht, wenn sie darauf hinweisen, daß diese unmittelbare Gegenwart durch vielfältige, auch unbewußte Vorgänge und Prozesse vermittelt ist, so daß sie insofern als "vermittelte Unmittelbarkeit" zu begreifen ist. Soll es sich aber um Erkenntnis handeln, dann wird irgendwo immer der Punkt erreicht, wo es zur Hinnahme, zur Aufnahme, zum Empfangen und damit zur Gegenwart der Sache in ihrer Kenntnisnahme kommt. Und dieser Punkt, in dem die Phänomenologie des Offensichtlichen über die Mutmaßungen der Erkenntnistheorie triumphiert, ist nicht nur der, auf den es bei dem ganzen Geschehen allein ankommt, sondern auch der, der uns hier allein interessiert: Erkenntnis als Empfängnis sui generis, die immer schon die grenzenlose Offenheit für das zu Empfangende und damit ein erstaunliches, ja ungeheures Phänomen bedeutet! Der Charakter des Erkennens als Sehens und unmittelbarer Anschauung und damit als Hinnahme wird auch dadurch nicht berührt, daß es kein passives Mitsich-Geschehenlassen ist, sondern offenbar selbst in gewisser Weise als höchste Aktivität, als höchste Energie erfahren wird. Auch dieses Moment kommt sprechend im Begriff des "Entdeckens" zum Ausdruck, der die untrennbare Einheit des aktiv durchdringenden Freilegens der Sache und ihrer Aufnahme oder Hinnahme bezeichnet. Aber in dieser Einheit ist das Moment des Durchdringens selbstverständlich auf die Inbesitznahme, die Kenntnisnahme hingeordnet, und so bleibt es dabei, daß unsere Behauptung von dem hinnehmend schauenden, empfangenden Charakter aller Erkenntnis in der Tat insoweit gilt, als alles Erkennen wirklich Entdecken ist! Sein rezeptiver Charakter kommt eben darin zum Ausdruck, daß es Entdecken ist!5

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Die Verbindung aktiven Durchdringens und rezeptiver Aufnahme prägt auch jene Prozesse des "Nachdenkens", das mit dem ,,Nachlaufen" den Umstand gemeinsam hat, daß die Sache noch nicht erreicht ist. Damit soll die Berechtigung der scharfen und unzweideutigen Unterscheidung zwischen bloß meinender und anschaulich erfüllter Erkenntnis, die vor allem der frühe Husserl so eindringlich einschärft, in gar keiner Weise bestritten werden. Doch es liegt auf der Hand, daß die bloßen Entwürfe, Meinungen, Ansichten und Hypothesen darüber, wie die Sache sein könnte, nur deshalb mutatis mutandis als ,,Erkenntnis" im weiteren Sinne des Wortes bezeichnet werden können, weil sie bewußt sind, d. h. in mein Bewußtsein aufgenommen und als das, was sie sind, als bloße Denkmöglichkeiten zur Kenntnis genommen werden! Das gilt also auch von aller diskursiven Tätigkeit, die - soweit sie Erkenntnis ist - immer auch Hinnahme, Aufnahme, Empfang ist und wie gesagt genau auf den Punkt hinsteuert, an dem ich mich rein rezeptiv verhalte. Zwei Gründe sind es vor allem gewesen, die dazu geführt haben, daß dieser selbstverständliche Charakter allen Erkennens als Aufnahme oder Hinnahme des Gegenstandes in der Geschichte der Erkenntnistheorie immer wieder verdeckt worden ist. Zunächst einmal ließ sich diese häufig genug gar nicht erst auf eine wirkliche Phänomenologie des Erkenntnisaktes ein, die seine Eigenart und Einzigartigkeit zur Gegebenheit zu bringen sucht, sondern begann sogleich als Erkenntnistheorie, ja als Ontologie der Erkenntnis, die die Frage erörtert, wie und aufgrund welcher Dispositionen Erkenntnis überhaupt möglich ist. In einer solchen an und für sich legitimen Betrachtungsweise aber liegt der Schwerpunkt begreiflicherweise durchaus auf der Frage, wie das Erkenntnisvermögen so "beeindruckt" werden kann, daß es zur Hervorbringung des entsprechenden Erkenntnisaktes in der Lage ist und wie die entsprechenden Eindrücke zustandekommen oder erzeugt werden, die mit dem Erkenntnisvermögen zusammen Erkenntnis bewirken! Doch selbst in der Scholastik, in der Erkenntnistheorie als eine solche Ontologie der Erkenntnis betrieben wurde, trug man dem Phänomen dadurch Rechnung, daß man die eigentliche Erkenntnis dem intellectus possibilis und nicht dem intellectus agens zuschrieb. Man begriff also durchaus, daß Erkenntnis ein rezeptiver Vorgang ist, der hier allerdings in seinen ontologischen Aspekten betrachtet wurde, während es uns als Phänomenologen auf die intentionale Seite ankommt, wie sie uns in der Selbsterfahrung unmittelbar gegeben ist: das Bewußtsein von der Sache. Zweitens haben wir natürlich auch in der Erkenntnistheorie die Tendenz, uns das Unbekannte und vielleicht auch Einzigartige dennoch mit Hilfe bekannter Denkmodelle zu veranschaulichen, vertraut zu machen und so im weitesten Sinne des Wortes zu erklären. Und das ist hier schon deshalb so schwer, wenn nicht gar irreführend, weil das Erkennen ein immaterieller Vorgang ist. Deshalb sind 5 Über die Tatsache, daß auch die unmittelbare Wahrnehmung von Sinnesdingen schon durch das Begreifen dessen, was wir sehen, vermittelt ist, vgl. 1. Abschn. Kap. 2.

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die Bilder und Denkmodelle, die wir - notgedrungen, woher sollten sie auch anders kommen! - aus der sinnfälligen materiellen Welt nehmen, häufig ganz ungeeignet und das tertium comparationis, das sie uns bieten, kann uns zugleich in die Irre führen! Die Irreduzibilität unseres Erkennens als eines völlig einzigartigen Phänomens zeigt sich schon darin, daß in ihm in einer bei allen anderen uns bekannten Vorgängen ganz ungewohnten Weise das Moment der aktiven Tätigkeit und das der "passiven" Hinnahme zu einer höheren Einheit verbunden, ja verschmolzen sind: so jedoch, daß das erstere Moment auf das zweite, die Hinnahme hingeordnet ist. Wir können das hier nur voraussetzen und werden den phänomenologischen Nachweis dort führen, wo es darum geht, ausdrücklich das Wesen des Erkennens als Entdeckens zu entfalten. Aber schon der Begriff des Entdeckens deutet an, daß Erkennen in einem einzigen Atemzuge aktives Durchdringen oder Freilegen der Sache und ihre Kenntnisnahme ist, wobei es auf diese ankommt! Jedenfalls fällt das Erkennen völlig zwischen die Maschen der aristotelischen Kategorien "actio" und "passio", die an der körperlichen Welt abgelesen sind und gerade deshalb hier nicht zutreffen. Aus diesem Grunde müssen vor allem die Versuche fehlschlagen, das Erkennen nach Analogie eines Produktions- oder Konstruktionsvorganges zu begreifen: als Konstitution, die in der Erkenntnis als dem Konstitutum ihr Ergebnis hat oder "liefert". Bei Kant kommt das geheime Leitbild all dieser Versuche ganz offen zum Ausdruck. Unzweideutig wird die Erkenntnis nach dem Modell einer Maschine konzipiert, die den Rohstoff, das "Mannigfaltige der Empfindungen" formt und verarbeitet. Nicht zufällig spricht Schopenhauer in seiner "Kritik der Kantischen Philosophie" vom Räderwerk der Kategorien. 6 Erkenntnis wird zur setzenden Tat und zur Bearbeitung eines indifferenten Stoffes mit den immer gleichen Anschauungs- und Denkformen. Sie hört damit auf, das zu sein, was sie ihrer eigenen Intention nach ist und sein will: "Neuentdeckung" - man verzeihe den zur Verdeutlichung notwendigen Pleonasmus! - der Wirklichkeit, wie sie in sich selber ist. Freilich könnte man geltend machen, daß selbst von den Prämissen einer solchen Transzendentalphilosophie aus das eigentliche Moment aller Erkenntnis, die hinnehmende Kenntnisnahme des vorher Unbekannten, nicht unbedingt ausgeschlossen ist. Denn das Konstitutum selber muß schließlich auch noch zur Kenntnis genommen werden. Die ,,Leistung" hätte keinen Sinn, wenn das Geleistete nicht zum Bewußtsein käme. Wenn es aber richtig ist, daß sich eine jede Theorie der Möglichkeit der Erkenntnis nach den Phänomenen zu richten hat, 6 "Davon ist vielleicht auch abzuleiten, daß er aus dem Erkenntnisvermögen eine so seltsame komplicierte Maschine machte, mit so vielen Rädern, als da sind die zwölf Kategorien, die transcendentale Syntheses der Einbildungskraft, die transcendentale Einheit der Apperception, ferner der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe usw." Zürcher Ausgabe (Werke in zehn Bänden), Zürich 1977, Bd. 11, S. 542.

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dann muß man schon den Ansatz der Transzendentalphilosophie als verfehlt und gänzlich ungeeignet bezeichnen. Sie weigert sich, das Phänomen der Erkenntnis in seinem ebenso einfachen und erfahrbaren wie geheimnisvollen Charakter stehen zu lassen, Hinnahme und Aufnahme des anderen zu sein. Die Sache, die in sich und für sich besteht, ist gerade als solche in einzigartiger Weise für mich, bei mir, vor mir! Man wird von transzendentalphilosophischer Seite einwenden, Erkenntnis stelle sich nur vom phänomenologischen Standpunkt aus als einfache Hinnahme, als empfangendes Sehen der Sache dar. Aufgabe der Transzendentalphilosophie sei es aber, zu erklären, wie ein solches Geschehen, eine solche Erkenntnis der Dinge in sich selbst möglich sei. Doch diese so gelehrt und tiefsinnig klingende Frage setzt schon wieder in einer das Wesen der Erkenntnis offensichtlich verfälschenden Weise voraus, daß sie kein Sehen der Sache und des Sachverhaltes sei, das als solches seine eigene Evidenz und damit seine Rechtfertigung und Erklärung in sich trägt 7 und fingiert völlig unnötig in der Form eines Scheinproblems eine Instanz hinter ihr, die sie allererst zur Erkenntnis macht und ihr die ihr eigene Validität verleiht. Wenn zudem für jede Theorie der Erkenntnis das Phänomen des Erkennens maßgebend ist, wie es sich selbst darstellt, dann wäre auch darauf zu verweisen, daß eine solche Theorie, die Erkenntnis in dieser oder jener Weise als Selbstexplikation des erkennenden Subjekts auffaßt, dem Selbstverständnis und damit der Intention widerspricht, wie sie sich schon in jedem einzelnen Erkenntnisakt offenbart: auf die "Sache selbst" zu gehen, auf die Wirklichkeit, wie sie in ihrem vom erkennenden Subjekt unabhängigen Sein vor ihm steht! Ungeeignet ist die Transzendentalphilosophie aber vor allem deshalb, weil sie das Erkennen überflüssig macht. Hätte Empedokles recht, daß Gleiches durch Gleiches erkannt wird und ich aus diesem Grunde die Elemente, aus denen die Dinge bestehen, immer schon in meinem Kopf haben müsse, dann gäbe es keine Erkenntnis mehr oder zumindest wäre sie kein Entdecken der Wirklichkeit, da ich sie immer schon mit mir herumtrage. Der Widerspruch zum wahren Wesen der Erkenntnis, der sich in diesem Empedokles-Syndrom manifestiert, ist vor allem in der neuscholastischen Transzendentalphilosophie mit Händen zu greifen, 7 So machen u. a. Peter Eicher (Die anthropologische Wende. Karl Rahners philosophischer Weg vom Wesen des Menschen zur personalen Existenz. Freiburg / Schweiz 1970, S. 104 f.) und Klaus Peter Fischer (Der Mensch als Geheimnis. Die Anthropologie Karl Rahners. Freiburg 1973, S. 121 u. a.) gegen meine "Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie" (Stuttgart 1969) geltend, diese sei einseitig bei der phänomenologischen Sicht des Erkennens als Sehens stehengeblieben und habe deshalb kein Verständnis für die Notwendigkeit der Frage nach seinen transzendentalen Möglichkeitsbedingungen. Dazu wäre zunächst wieder zu fragen: was ist denn Erkenntnis anders als ein Hinnehmen, eine Kenntnisnahme und damit ein Sehen der entsprechenden Sachverhalte? Und wenn sie das ist, dann ist schon damit jeder transzendentale Ansatz als überflüssig, ja als irreführend erwiesen!

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die im Unterschied zur kantischen noch am Anspruch des Erkennens festhält, das An-sieh-sein der Dinge zu erreichen. 8 Die Erkenntnis des Seins der Dinge soll hier durch das apriorische Urwissen um das Sein vermittelt werden. Aber wenn wir das Sein schon kennen, warum müssen wir uns dann noch mit den Dingen auseinandersetzen, um zu entdecken, was Sein bedeutet? Und wenn uns das mitgebrachte Vorwissen um das Sein überhaupt und im ganzen nur dazu verhelfen soll, dieses bestimmte Sein der Dinge zu erkennen, warum können wir dann nicht anhand dieses bestimmten Seins erkennen, was Sein überhaupt bedeutet? Nicht umsonst greift deshalb die abendländische Philosophie immer wieder auf die Bilder der "tabula rasa" und des Spiegels zurück, um die Verfassung des Erkenntnisvermögens zu beschreiben, wie wir sie im Vollzug des Erkennens unmittelbar erfahren. Wenn es ein Bild oder Modell gibt, das Wesen und Intention des Erkennens und des in ihm zum Vorschein kommenden Erkenntnisvermögens in einzigartiger Weise trifft, dann ist es ganz sicher dieses Bild des leeren, unbeschriebenen Blattes, das schon Aristoteles kannte, oder das eines fleckenlosen Spiegels, der die Dinge eben deshalb so reflektieren kann, wie sie wirklich sind, oder das eines klaren Teiches, in dem ich mich selbst erblicken kann. Das sind keine beliebigen, sondern im strengen Sinne des Wortes angemessene Bilder, die so genau, wie das nur Bildern möglich ist, zum Ausdruck bringen, daß Erkennen ein Sichöffnen und das Erkenntnisvermögen Offenheit für die Dinge ist! Nur im fleckenlosen Spiegel, der nicht selbst schon apriori von den Konturen der Sache gezeichnet ist, können sich diese als ihre Konturen abheben. Nur deshalb kann er die grüne oder rote Farbe reflektieren, weil er nicht selbst grün oder rot ist. So wissen wir nicht aufgrund einer theoretischen Deduktion, sondern wir erfahren ganz unmittelbar im bewußten Mit- und Nachvollzug der Erkenntnisakte und sehen in ihrer exemplarischen Vergegenwärtigung ein, daß der Möglichkeitsgrund der Hinnahme der Sache nur in dieser radikalen Offenheit für sie bestehen und kein inhaltliches Moment sein kann, das in sie eingehen und sie präformieren und damit den Blick auf die Sache verstellen statt ermöglichen würde. 9 8 Vgl. Joseph Marechal: La point de depart de la metaphysique. 2. Aufl., Brüssel/ Paris 1949; Karl Rahner: Geist in Welt. 2. Aufl., München 1957; Emerich Coreth: Metaphysik. Eine methodisch-systematische Grundlegung. 2. Aufl., Wien / München 1964; Joh. B. Lotz: Das Urteil und das Sein. Pullach 1957; Otto Muck: Die transzendentale Methode in der Philosophie der Gegenwart. Innsbruck 1964, sowie meine Kritik in: "Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie". 9 Wenn man unbedingt will, kann man freilich auch die Offenheit gegenüber den Dingen als Apriori oder transzendentale Möglichkeitsbedingung aller Erkenntnis bezeichnen, denn daß wir die Dinge so entdecken können, wie sie an und für sich sind, ist tatsächlich in der Natur unseres Erkenntnisvermögens begründet, und so könnte man sagen, daß wir nur deshalb imstande sind, die Dinge zu erfassen, weil wir sie immer schon durch die Brille unseres Erkenntnisvermögens betrachten: darin Kants transzendentalen "Vermögen" ähnlich, die die Eindrücke durch die Brille apriorischer Anschauungsund Denkvermögen filtern und erfassen. Aber die Ähnlichkeit ist nur scheinbar, denn

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Die Bilder kollidieren in keiner Weise mit der Tatsache, daß Erkenntnis gerade als Entdeckung und Einsicht mehr und anderes ist als bloß passives Aufnehmen, sondern daß ihr auch das Moment des Durchdringens und Freilegens eignet. Sonst hätte nicht schon Aristoteles, der im Gegensatz zu Locke bekanntlich kein Empirist war, das Bild von der tabula rasa gebraucht. Ganz im Gegenteil bringen die Bilder plastisch zum Ausdruck, daß dieses Moment der ,,Aktivität" im Dienst der Hinnahme, des Empfangens und damit wieder des Sehens steht. Auch brauchen wir hier nicht in umfangreiche erkenntnistheoretische Untersuchungen darüber einzutreten, inwieweit auch der Begriff der "Offenheit" noch bildhafte Momente aufweist. Es genügt der Aufweis, daß seine Verwendung durch die einfache Erfahrung dessen, was Erkenntnis ist, erzwungen wird, und zwar so, daß die Offenheit des Erkennens geradezu als Paradebeispiel für das erscheint, was wir mit dem Begriff der Offenheit nur meinen können. Denn überall sonst im Bereich der Natur wird das empfangende Medium durch den Eindruck oder die Form, die es aufnimmt, so bestimmt, daß es nicht zugleich auch noch andere oder gar gegensätzliche Formen aufnehmen kann. Hier aber bleibt es das, was es ist, und auch die Sache, die aufgenommen wird, bleibt das, was sie ist. Ich kann als erkennendes Wesen eine unermeßliche Vielfalt heterogener Dinge aufnehmen, was zweifelsfrei bedeutet, daß ich für sie alle in gleicher Weise empfangsbereit oder grenzenlos offen bin und bleibe! Dabei hängen der Anschauungscharakter allen Erkennens, der sich im sinnlichen Sehen in exemplarischer Reinheit zeigt, und seine Offenheit aufs engste zusammen. Sie sind, wie unsere Analysen immer erneut belegen werden, nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Denn daß in der Anschauung oder Einsicht die "Sache selbst" unmittelbar gegenwärtig ist, bedeutet gerade, daß in ihr nichts von mir zur Darstellung kommt, sondern - wiederum - daß ich für sie vollkommen offen bin.

§ 3: Die Aktualität der Arbeit

Die Aktualität unserer Arbeit liegt auf der Hand! Sie sind ausgezogen, um in der Aufklärung die Mündigkeit des Ich und die Emanzipation der Vernunft zu erkämpfen. "Helldenken" und "Selbstdenken" sind seitdem die Parolen der Epoche. IO Aber das gleiche Denken, das so lautstark die Emanzipation und Freiheit des Ich propagierte, hat keine Mühe gescheut, es zu entthronen. In einem Jahrhundas Apriori oder die "transzendentale Vorbedingung", die wir meinen, besteht gerade in der gänzlichen Abwesenheit eines jeden Apriori: in der leeren und bestimmungslosen, gerade deshalb aber bestimmbaren Offenheit des erkennenden Subjektes: "bestimmungslos" also insofern, als das Subjekt die Bestimmungen, die es als solche der Sache erfaßt, nicht schon als erkennendes Wesen mitbringt oder an sich hat. IO So formuliert Wemer Schneiders (Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Freiburg / München 1974) sehr plakativ die Grundintentionen der Aufklärung.

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derte langen Aufklärungsprozeß wurde uns dargetan, wie brüchig seine angebliche Souveränität ist, ja wie sehr sie auf einer optischen Täuschung beruht! Tatsächlich sei dieses Ich Produkt und vorprogrammiert, wie man heute zu sagen pflegt. Sein Denken, seine Art, die Dinge anzusehen, sei bedingt durch stammesgeschichtliche, gesellschaftliche, geschichtliche und seelische Faktoren und daher gerade in den menschlich bedeutsamen Bereichen, auf die es ankommt, nichts anderes als Ideologie. Biologismus, Soziologismus, Psychologismus und jener subtile Historismus, den wir dem Furor gewisser Hermeneuten verdanken, wetteifern so miteinander, darzutun, daß der Mensch nach überkommenen Denk- und Verhaltensmustern agiert, die ihn schon prägen, bevor er überhaupt daran denken kann, souverän zu werden. Der Widerspruch zwischen dem, was die Aufklärung gewollt und dem, was sie erreicht hat, wird durchschaubarer, wenn wir daran denken, daß all diese Strömungen, die das Ich als Produkt begreifen, im Übergang von der Seins- zur Bewußtseinsphilosophie begründet sind, der schon den Anfang der Neuzeit markiert. Diese Bewußtseinsphilosophie aber tendiert zu einem "Psychologismus" hin, der Erkennen nicht mehr als Entdecken objektiver Wirklichkeit begreift,11 sondern ganz im Gegenteil als Ausdruck und Manifestation des Ich. Statt der Dinge geht es nun um ihre Vorstellungen, und die Philosophie bemüht sich vergeblich, aus dem Käfig des Bewußtseins auszubrechen, in den sie sich hinein begeben hat. Der "Wert" der Dinge wird nun nicht mehr in ihrer inneren Vollkommenheit und Güte, sondern in dem gefühlsmäßigen Eindruck gesucht, den sie "erzeugen". Eudaimonismus, Utilitarismus und all jene Formen der Ethik, die mit Setzungen statt mit Einsichten arbeiten, sind die Folge. Summa summarum sucht die Vernunft die Maßstäbe für das, was wahr, vernünftig und gut ist, nicht mehr in der Wirklichkeit selber. Vielmehr müssen sich nun alle Gegenstände vor ihrem "Gerichtshof' und seinen apriorischen Maßstäben verantworten und darauf hin prüfen lassen, ob ihre Annahme vernünftig ist oder nicht. Die Oszillation zwischen dem Preisgegebensein an diese Maßstäbe und der leeren Selbstreflexion bleibt nicht aus! Man kann den unheilvollen Sog, in den das humanwissenschaftliche und weitgehend auch das philosophische Verständnis des Menschen geraten ist, auch so umschreiben, daß er nunmehr einseitig von unten nach oben betrachtet wird. Er ist Spielball, Schnittpunkt im Koordinatensystem irgendwelcher gesellschaftlicher oder anderer Kräftelinien oder auch Ausdruck eines Seins, das sich in ihm von Epoche zu Epoche je anders lichtet. Er erkennt nicht mehr souverän die Wahrheit dieses Seins, indem er sich für es öffnet und nach seinen Gesetzen richtet.

11 Vgl. das beeindruckende, ganz auf phänomenologischer Grundlage beruhende Werk von Josef Seifert: Erkenntnis objektiver Wahrheit. 2. Aufl., Salzburg/München 1976.

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Demgegenüber wollen wir den Versuch machen, den Menschen endlich wieder "von oben nach unten" zu begreifen. Das ist der tiefere Sinn des Aufweises seiner grenzenlosen Offenheit für die Wirklichkeit, aber auch für das Staunenswerte, Ungeheure, das nicht in den Kontext der alltäglichen Erfahrung paßt. Aufgrund dieser Offenheit kann er sich nach vorgegebenen, objektiven Maßstäben richten, denen er per distance und damit frei gegenübersteht, ja er kann auch frei darüber befinden, ob er sich überhaupt von ihnen bestimmen lassen will! Aufgrund dieser Offenheit ist er seiner zweifellos vorhandenen geschichtlichen Bedingtheit auch schon wieder entzogen. Er gleicht so dem Schwimmer, der mitgerissen von den Strudeln des Daseins und des wechselnden "geschichtlichen Geschicks" doch gelegentlich wenigstens den Kopf über das Wasser heben kann, um nach den ewigen Sternen zu schauen. Platon, nicht Kant und nicht Heidegger scheint sich durch unsere Analysen zu bestätigen. Das ist auch deshalb der Fall, weil der Mensch aufgrund seiner Offenheit wesenhaft für die Kontemplation bestimmt ist. Sie ist das Ziel und die Erfüllung seines Daseins. Gewiß ist er nicht einfach ein Kerzenständer, dem keine andere Funktion zukäme als die, die Flamme des Geistes zu tragen! Aber unsere Analysen zeigen doch, wie sehr die Kontemplation sein ganzes Wesen ergreift und durchherrscht und ihm seine Ziele vorgibt, so daß die Bezeichnung eines Entwurfs der Anthropologie von oben nach unten auch insofern völlig zu Recht besteht.

§ 4: Die phänomenologische Methode

Zum Schluß seien noch einige Worte zu der Art erlaubt, wie wir die phänomenologische Methode auffassen. Wir gebrauchen sie konsequent, aber sie ist ihrer Natur nach kein dogmatisches, sondern ein heuristisches Prinzip, das von der Frage ausgeht: was kann wirklich zur Gegebenheit gebracht werden und wie kann es zur Gegebenheit gebracht werden? Sie verlangt Takt und Augenmaß, sich je von neuem auf das je Gegebene einzustellen, aber sie ist kaum mit endlosen theoretischen Spekulationen vereinbar, ob, wie und wann Gegebenes rein als solches zur Gegebenheit zu bringen sei. Daher müssen wir uns vor jenem falsch verstandenen phänomenologischen Bestreben hüten, nur das Gegebene und nichts als das Gegebene heraus zu präparieren, das schließlich sogar Gefahr laufen kann, sich um jede Erkenntnis zu bringen. Eine solche Fixierung auf das pure Datum würde den großartigen Einsichten der Phänomenologie von der Vielfalt der Gegebenheitsarten und anschaulichen Zugänge zur Wirklichkeit widersprechen, in denen sich ihre Mannigfaltigkeit spiegelt. Bekanntlich hat es gerade in den Anfangszeiten der Phänomenologie solche Versuche gegeben, um jeden Preis des Gegebenen als solchen habhaft zu werden, und es läßt sich nicht bestreiten, daß der phänomenologische Leitbegriff der Anschauung als "leibhafter Gegenwart" der Sache solche Tendenzen inspiriert. Wir finden sie in Husserls

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absonderlichem Begriff des Reellen, das als das Gegebene par excellence sozusagen in den Akt der Reflexion hineinragen und mit ihm eine innere Einheit bilden soll. Wenn Erkenntnis, die diesen Namen verdient, ihren Gegenstand immer als bestimmtes Sein auffaßt, dann ist Anschauung als vermeintlich "reine" Hinnahme des Gegebenen ohnehin nur als vermittelte Unmittelbarkeit möglich. Gerade die Phänomenologie, die uns das Verständnis für die Bedeutung der Wesenseinsicht neu geschenkt hat, sollte davon ausgehen, daß die Anschauung der jeweiligen Sache durch ihre Wesenserkenntnis vermittelt ist wie sie auch diese fundiert. Von daher ist es Aufgabe des Phänomenologen, sich das natürliche Wechselspiel von exemplarischer Anschauung und "Ideation" zunutze zu machen und dabei ausdrücklich auf die jeweils neuen Möglichkeiten und Grenzen zu achten, die sich aus der Besonderheit der Gegenstände und Gegenstandsbereiche ergeben! In diesem Sinne versteht es sich von selbst, daß wir die Möglichkeit der Wesenserkenntnis bejahen und von ihr Gebrauch machen! Dabei entspricht es der inneren Konsequenz der phänomenologischen Methode und guter phänomenologischer Tradition, nicht apriori und in abstracto darüber zu spekulieren, wo und wann Wesenserkenntnis sich einstellt, sondern es den Gegebenheiten zu überlassen, ob und wann sie typische Sachverhalte, Wesenssachverhalte repräsentieren und ob und wann diese folglich auch in sich selbst "vor uns auftauchen" und von uns "erblickt werden". Die Wahl dieser Ausdrücke ist nicht zufällig, denn wir stehen nicht an, ja es ergibt sich wie von selbst aus dem phänomenologischen Ansatz der Erkenntnis als Anschauung, dem wir im Gegensatz zu Husserl völlig treu bleiben, die Wesenserkenntnis im strengen Sinne des Wortes als "Wesensschau" zu bezeichnen. Wenn sie kein setzendes Denken oder Herstellen von Beziehungen ist, sondern wirklich Einsicht, dann ist sie damit auch Schau: man mag die Sache drehen und wenden, wie man will! Der Vorwurf, auf solche Weise konfundiere man die höchste Spitze des geistigen Lebens, eben die "Einsicht", wieder mit dem sinnlichen Sehen, fällt auf ihre Urheber zurück, die auch hier nicht in der Lage sind, das allem Erkennen gemeinsame Moment des hinnehmenden Empfangens zu realisieren und - schlimmer noch! - nicht anerkennen wollen, daß dieses Moment in der Einsicht besonders deutlich, ja in einzigartiger Weise ausgeprägt ist, so daß sie weit eher ein "Sehen" und "Schauen" ist als die Sinneswahrnehmung! 12 12 Sofern eine solche "Schau" als instantanes Ereignis, als Inblicknahme immer nur einzelne, in sich einsichtige Wesenssachverhalte erfassen kann, wäre zu fragen, ob und inwieweit diese trotz ihrer Evidenz und ihres einsichtigen "Bestehens" in sich selber doch auch über sich hinausweisen auf das Sein, den Sinn und die Bedeutung, die sie innerhalb des ganzen Systems von Wesenszusammenhängen haben, in das sie eingebettet sind. Dann würde auch die "Wesens schau" über sich hinausweisen auf ein Netzwerk von Einsichten, in denen die einzelnen Akte des Erschauens sozusagen die Knotenpunkte sind. V gl. dazu u. a. Nicolai Hartrnanns Unterscheidung von "stigmatischer Intuition"

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Aus diesem Grunde machen wir uns auch mit dem Hinweis, daß jede Anschauung, die den Namen "Erkenntnis" verdient, mehr ist als pure Hinnahme des Gegebenen, keiner Inkonsequenz schuldig, wenn wir auf der anderen Seite als Phänomenologen darauf bestehen, soweit wie möglich das Gegebene selbst sprechen zu lassen. Denn auch das, was wir im Akt der Einsicht schauen, ist uns unmittelbar gegeben und tritt uns in seinem "es selbst" gegenüber, wenn auch diese Gegebenheit aparte subjecti und aparte objecti von anderer Art ist als die der dinglichen Wirklichkeit. Auch hier sind die Phänomenologen nicht dafür verantwortlich zu machen, daß ihre Kritiker - durch den Begriff der "Unmittelbarkeit" verführt - alle Formen der unmittelbaren Gegebenheit über einen Leisten schlagen. Die Geschichte der Phänomenologie bittet eindrucksvolle Beispiele genug dafür, daß die genannten methodischen Grundsätze in hervorragender Weise geeignet sind, das geistige und seelische Leben und hier vor allem das Phänomen der Erkenntnis, Ausgangspunkt unserer Untersuchungen, in Griff zu bekommen. Hier kann und muß sich in besonderem Maße die Forderung des phänomenologischen Taktes und Augenmaßes bewähren. Erkenntnis - und in gewisser Weise in ihr auch das erkennende Subjekt und das Erkenntnisvermögen - sind in der Selbsterfahrung unmittelbar gegeben, doch bedarf es unter Umständen einer ganz bestimmten Einstellung des Mitvollzuges, des Verstehens usw., um die Gegebenheiten in angemessener Weise thematisch zu machen. Ferner ist auch hier die Wahrheit zu beherzigen, daß die Auffassung der Phänomene, wie gesagt, immer schon durch die Einsicht in ihr Wesen vermittelt ist, wie sie auch umgekehrt diese Einsicht allererst ermöglicht. In diesem Sinne sind beispielsweise der Erkenntnisakt und das Vermögen, das in ihm zum Vorschein kommt, ohne Bild und Begriff der Offenheit gar nicht zu fassen, in dem sich sein Wesen ausspricht. Daraus ergibt sich weiterhin, daß wir in "exemplarischer Ideation" die Idee der Erkenntnis aus den tatsächlichen Akten herausschauen und andererseits im Lichte dieser Idee wiederum feststellen, wo und an welchen Stellen im Erkenntnisprozeß tatsächlich von Erkenntnis gesprochen werden kann! Ausgeklammert werden die am Leitfaden des Prinzips vom zureichenden Grunde orientierten Hintergrundfragen, wie etwa die geistigen Akte überhaupt möglich sind, welche Instanz als bewirkende Kraft hinter ihnen steht und sie im Sein hält. Ausgeklammert wird also alles, was nur erschlossen werden kann und nicht in der anschaulichen Gegebenheit als Wesenszug lesbar ist! Wiederum aber würde es gegen unsere heuristische Absicht und den Geist der phänomenologischen Methode verstoßen, zu leugnen, daß es auch hier fließende Übergänge gibt. So gibt es ganz sicher anschauliche Gegebenheiten, die zwar oder auf "isolierte Wesenszüge gerichteter Anschauung" und ,,konspektiver Intuition" oder ,,relationaler Anschauung, Einordnung in die Zusammenhänge des bereits Eingesehenen" (Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. 4. Aufl., Berlin 1949, S. 499 f.). Vgl. auch unseren Abschn. 3,1.

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als solche in sich selbst faßbar und verständlich sind, sich aber zugleich auch ganz deutlich und unabweisbar als Ausdruck einer ontologischen Gesetzlichkeit präsentieren, deren Einbeziehung es uns erst erlaubt, sie in einem tieferen Sinne zu begreifen. Das ist beispielsweise bei den Phänomenen des Strebens und Wollens der Fall. Hier ist der Punkt, wo die Phänomenologie wie von selbst in die Ontologie umschlägt und der Übergang von den Phänomenen selbst erzwungen wird. Und es ist wiederum eine Frage des phänomenologischen Augenmaßes, zu sehen, wo dies der Fall ist und den Übergang dort zu wagen, wo er sich von selbst versteht. Dennoch muß er in den wenigen Fällen, in denen er sich als notwendig erweist oder doch als so naheliegend, daß es Konsequenzmacherei wäre, auf ontologische Überlegungen zu verzichten, deutlich markiert werden, um den durchgehend phänomenologischen Charakter unserer Arbeit zu wahren.

ERSTER TEIL

Souveräne Erkenntnis Erster Abschnitt

Die Selbstdarstellung der einfachen Erkenntnis Kapitell: Exposition der Frage Wie erfahre ich Erkenntnis in ihrem Vollzug? Wie ist mir das Erkennen unmittelbar gegeben? Was ist in seiner Selbsterfahrung wirklich gegenwärtig? Wir stellen die Frage in einem dreifachen Sinne. Erstens fragen wir in phänomenologischer Einstellung. Wir gehen nicht von einer theoretischen Deutung des Erkenntnisgeschehens aus und suchen keine Erklärung seiner Möglichkeit, sondern beschreiben, wie sich Erkennen in seinem Vollzug unmittelbar darstellt. Allzu lange hat es die Erkenntnistheorie verschmäht, diese Selbsterfahrung des Erkennens zum Ausgangspunkt zu nehmen und sich zunächst in das zu vertiefen, was sich, wirklich erfahrbar in ihm ereignet. Sie hat stattdessen immer wieder versucht, sogleich eine Erklärung zu liefern und das Erkennen aus seinen Möglichkeitsgründen nachzukonstruieren. Weil aber, wie wir in der Einleitung ausgeführt haben, alles dafür spricht, daß es sich hier um einen einzigartigen Vorgang handelt, für den es keine bekannten und vergleichbaren Modelle und Vorbilder gibt, ist es notwendig, sich zunächst in dieses einzigartige Phänomen zu vertiefen, bevor die Frage nach seinen Möglichkeitsgrunden gestellt wird, die nur von solcher Vergegenwärtigung des Phänomens her Sinn und Richtung erhalten kann. Zweitens fragen wir nach dem, was im Vollzug des Erkennens selber anzutreffen und gegeben ist. Wir grenzen unsere Frage also auf diesen Vollzug ein und kümmern uns nicht um das, was wir außerdem erfahren und erleben, wenn wir erkennen. Beispielsweise kann ich selbst dann, wenn ich in die Betrachtung einer hinreißenden Landschaft versunken bin, in vieWiltiger Weise meiner eigenen Existenz bewußt sein. Ich kann Kopfschmerzen haben oder die Sonne angenehm empfinden, die auf mich scheint. Gewiß ist diese Empfindung meines Ich nichts, was sich "außerhalb" oder "neben" meinem Erkennen vollzieht, denn alle Erlebnisse durchdringen sich. Sie kommt aber nicht aufgrund des Erkenntnisaktes oder in seiner Konsequenz zustande, und nur das ist hier für uns von Belang.

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

Mit einem Ausdruck Husserls können wir also sagen, daß wir den Erkenntnisakt aus dem Gesamtzusammenhang des Erlebens thematisierend herausschauen. Wir machen nur ihn zum Thema: so wie er sich in seinem Vollzug präsentiert. Dazu brauchen wir freilich schon einen Wesensbegriff des Erkennens, der unsere Auswahl leitet. Aber dieser Wesensbegriff stützt sich wiederum auf die konkrete Selbsterfahrung des Erkennens und wird durch jeden neuen Erkenntnisakt bestätigt. Wie überall stehen auch hier unmittelbare Erfahrung und Begriff in unlösbarem Wechselverhältnis und bestätigen sich gegenseitig. Drittens gehen wir davon aus, daß jede Erkenntnis, die wirklich diesen Namen verdient, Anschauung ist. Denn nur sie ist unmittelbare und "leibhafte" Gegenwart der "Sache selbst", um die es geht. Diese ist in der Anschauung ohne jedes Zwischenglied - ohne Abbild oder Zeichen - gegenwärtig. Ich denke nicht nur an sie und habe nicht nur einen Begriff von ihr. Vielmehr steht sie "leibhaft" vor mir. Aber nicht nur Dinge sind "leibhaft" gegeben, sondern auch einsichtige Sachverhalte. Die Einsicht ist eine Form von Anschauung. Darauf hingewiesen zu haben, ist eines der größten Verdienste der phänomenologischen Schule.! Daß Erkenntnis nichts anderes ist als Anschauung, wird durch die doppelsinnige Verwendung des Begriffs ,,Erkenntnis" verdeckt. Wir verstehen darunter sowohl die Einsicht selbst wie auch den Lern-, Denk- und Suchprozeß, der zu ihr führt. Die beiden Vorgänge, die sich so absolut unterscheiden wie der Besitz einer Sache und das Streben nach ihm, werden nur deshalb zusammengeworfen, weil auch der Denkprozeß, der zur Einsicht führt, schon vom Vorauswissen und von Teileinsichten gelenkt wird, wie wir in der Einleitung schon angedeutet haben. Entdeckung ist nur möglich, wenn sie ihr Ziel schon im Vorgriff hat. Der absolute Unterschied zwischen dem Nachdenken "über" eine Sache als Denken "an sie" und ihrer Gegenwart in der Anschauung wird jedoch durch diese Struktur des Vorgriffs nicht berührt. Auch wenn die Nicht-Gegenwart langsam in die Gegenwart übergehen mag, so besteht doch derselbe absolute Unterschied zwischen ihnen, wie es der zwischen Vorhandensein und Nichtvorhandensein ist. 2

! Man wird hier fragen, warum wir uns so umständlich ausdrücken und nicht einfach zwischen Sinneswahrnehmung und Verstandeserkenntnis unterscheiden. Aber die Unterscheidung zwischen beiden Erkenntnisvermögen, die mit der Annahme eines Wesensunterschiedes zwischen ihnen gleichbedeutend ist, geht über die Kompetenz der Phänomenologie hinaus und gehört in die Erkenntnistheorie, ja in die Ontologie der Erkenntnis. Denn um zur Annahme der Existenz dieser beiden Fähigkeiten zu kommen, müssen wir nach dem Prinzip des zureichenden Grundes über das, was wirklich gegeben ist, hinausgehen und nach einer letzten Seinsgrundlage der verschiedenen Erkenntnisvollzüge fragen. Zwar sprechen wir im folgenden von "Erkenntnisvermögen" wie etwa der Offenheit als dem ermöglichenden Grunde einer jeden Erkenntnis. Aber sie kommt unmittelbar in dieser ihrer Funktion im Erkennen zum Vorschein und muß deshalb nicht erschlossen werden, wie das bei der Annahme einer Wesensverschiedenheit der beiden Erkenntnisvermögen der Fall wäre. 2 Näheres zu diesem ,,Erkenntnischarakter" des Erkenntnisprozesses in Abschn. 3,1.

1. Abschn.: Die Selbstdarstellung der einfachen Erkenntnis

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Wenn Erkenntnis Anschauung ist, dann ist damit unsere Frage nach ihrer eigenen Gegebenheit schon weitgehend entschieden! Selbstverständlich ist in der Anschauung nur die "Sache selbst" gegenwärtig und nicht der Akt der Anschauung. Gegeben sind Häuser, Bäume, mathematische und andere Sachverhalte, aber nicht ihre Anschauung, die darin aufgeht, diese Dinge zu gegenwärtigen! Ich habe nicht zwei Dinge vor mir stehen: die Sache und ihre Anschauung, sondern nur die Sache. Ich sehe Häuser und Bäume, aber nicht mein eigenes Sehen. Erfasse ich einsichtige Sachverhalte, so habe ich keineswegs meine Einsicht im Blick, sondern nur die Sachverhalte, wie sie sich von sich selbst her darstellen. Daß dies in der Tat so ist und Erkenntnis nicht sich selbst, sondern nur die Sache, um die es ihr geht, präsentiert, erfahren wir besonders eindringlich, wenn wir in vollkommener Entrückung hingerissen sind vom Anblick einer herrlichen Landschaft oder "versunken" in die Betrachtung eines Meisterwerkes der Kunst, wenn wir "selbstvergessen" einer Melodie lauschen oder "gefangen" sind von einer "mitreißenden" Idee. Diese und viele anderen Bezeichnungen und Bilder hat die Sprache gefunden, um die vollkommene Kontemplation zu umschreiben, in der die Erkenntnis ganz sie selbst ist und gesammelt in sich ruht. Gewiß läßt sich dieses Gefangensein von der Sache sehr einfach mit psychologischen Kategorien wie der Begeisterung, der Faszination, der höchsten Aufmerksamkeit erklären. Doch diese Faktoren können allenfalls dazu beitragen, daß die Erkenntnis zu ihrer vollen und reinen Entfaltung kommt und alle anderen Erlebnisse verblassen. Und die vollkommene Entfaltung der Erkenntnis, die so möglich wird, ist wiederum nichts anderes als die reine und vollkommene Selbstdarstellung der Sache, um die es geht. 3 Gegeben sind uns also im Vollzug der Erkenntnis nicht Bewußtseinsinhalte, von denen wir dann etwa im Sinne der seltsamen Behauptung Humes erst im Wege mehr oder minder komplizierter und auf jeden Fall unsicherer Rückschlüsse zur Existenz der Außenwelt kämen. Somit sind uns die Dinge auch nicht als "Gegenstände" gegeben, sondern nur als sie selbst. Erst durch nachträgliche Deutungsversuche kommen wir dazu, das Erkenntnisgeschehen mit Hilfe des Subjekt-Objekt-Gegensatzes zu erklären. Gegeben ist nur die Wirklichkeit, um die es geht: sei es nun die "innere" oder "äußere". Dieses Haus da ist mir in 3 Auch die Reflexion kann den Akt der Anschauung nicht sichtbar machen, falls es sich bei ihr wirklich um den Versuch handeln sollte, im Wege anschaulicher Erfahrung unmittelbar die reflektierte Anschauung zu erblicken. Wie sollte das auch möglich sein, da der Akt der Anschauung sozusagen in der angeschauten Sache verschwindet, so daß immer nur sie vor Augen steht: niemals das Präsentieren, sondern immer nur die präsentierte Sache! Damit bestreiten wir selbstverständlich nicht die Existenz einer Reflexion, die nicht nur als erkenntnistheoretische Erwägung, sondern als unmittelbare Anschauung der Erkenntnis möglich sein muß. Auf die sich somit ergebende Frage, wie es möglich ist, daß eine solche Reflexion statt des Erkenntnisaktes immer schon die Sache sieht, die er gegenwärtig macht und ihn dennoch auch in sich selber in gewisser Weise erfassen kann, werden wir in Abschn. 5,2 zurückkommen.

3 Hoeres

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

keiner Weise gegeben als etwas, das mir gegenübersteht, sondern nur als ein großer, unförmiger und verwinkelter Kasten. Die Dinge sind weder als "Gegenstände" noch als "gegeben" oder "bewußt" charakterisiert, sondern nur als Häuser, Bäume oder Sachverhalte. Als Erkenntnis "ist" nur die Sache und nicht so etwas wie ihr Akt oder Vollzug ! 4 Die Feststellung klingt nur deshalb schockierend, weil sie unvollständig ist. Zwar stoßen wir in der Erkenntnis nur auf die Sache. Nichts anderes begegnet uns und daher erinnern wir uns, wenn wir an eine bestimmte Erkenntnis zurückdenken, auch immer nur an das, was uns damals in ihr beschäftigte! Damit stellt sich aber die Frage, wie wir unsere Erkenntnis in ihrem Vollzug überhaupt erfahren können! Führt uns die Sache nicht doch aufgrund der Art und Weise, wie sie sich darstellt, zur Erfahrung unseres Erkennens? Läßt uns ihre Gegenwart nicht wiederum auch auf ganz spezifische Weise die Erkenntnis erfahren, in der sie sich zeigt? Wären nicht beide Momente, die Gegenwart der Sache und die Erfahrung ihrer Hinnahme in der Erkenntnis untrennbar miteinander verbunden, ja würden sie nicht ein einziges unteilbares Geschehen bilden, dann könnten wir allerdings nur durch eine hinzukommende Reflexion oder Erinnerung, die sich "von außen" auf die Erkenntnis richtet, erfahren, daß wir erkennen. Wir wüßten dies paradoxerweise nicht schon kraft des Vollzuges. Dabei geht es uns im Sinne unserer eingangs skizzierten Fragestellung nicht um die vielfachen psychologischen Faktoren, die uns darauf stoßen können, daß wir erkennen. Es geht uns also nicht darum, daß uns allein schon durch das Entzücken oder die Leidenschaft, die wir bei der Betrachtung einer Sache verspüren, immer schon gegenwärtig ist, daß wir sie jetzt betrachten. Hunderte solcher Faktoren können uns unser Anschauen, Einsehen und Betrachten zum Bewußtsein bringen. Hier aber geht es allein um die Frage, wie Erkenntnis sich kraft ihres eigenen Vollzugs erfahren kann und es also ohne Widerspruch vereinbar ist, daß in ihr nur die Sache "ist" und doch auch sie selbst gegeben ist.

Kapitel 2: Wesenszüge des Erkenntnisaktes § 1: Erkennen als Entdecken

Jede Erkenntnis erfährt sich als Überraschtwerden, als Entdeckung und als Erfahrung, und in diesen drei Momenten wird das eigentliche Wesen dieser Selbsterfahrung greifbar, denn in ihnen erfährt sich Erkenntnis als Hinnahme des Gegenstandes, den sie in der Entdeckung "empfängt". Zugleich wird in dieser 4 Sein wird hier im phänomenologischen Sinne als Beschreibung dessen, was und wie etwas tatsächlich gegeben ist und nicht als ontologischer Begriff - etwa im Sinne von möglichem oder wirklichem, intentionalem oder realem Sein - verstanden. Mit dem "ist" ist die Tatsache gemeint, daß in der Erkenntnis und als Erkenntnis nur die Sache selbst "ist" oder eben nur die Dinge und Sachverhalte gegeben sind.

l. Abschn.: Die Selbstdarstellung der einfachen Erkenntnis

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Selbsterfahrung das eigentliche Wesen allen Erkennens als Erfassen des bestimmten Seins und damit des Insichseins der Sache greifbar. Und damit erhalten wir auch die Möglichkeit, die Beziehung zwischen dieser Hinnahme und ihrer Erfahrung im Vollzuge der Erkenntnis in ihrer inneren Notwendigkeit zu begreifen. Stoßen wir auf einen ungewöhnlichen Gegenstand, dann halten wir überrascht inne, richten unser Augenmerk auf ihn und rufen: ..das ist aber eine merkwürdige Sache - eine seltsame Angelegenheit!" Niemand wird bestreiten, daß wir in dieser Überraschung gerade auf das Vorhandensein der Sache aufmerksam werden: darauf, daß es so etwas wie sie überhaupt gibt! Diese Überraschung ist nicht nur eine ..emotionale Begleiterscheinung" bestimmter Erkenntnisse, sondern ein Wesenszug allen Erkennens. Es ist auch dann Überraschtwerden von der Sache, wenn kein Grund zur Überraschung vorliegt, sondern längst Bekanntes in mein Gesichtsfeld tritt. Denn auch dann erfahre ich von der Sache her, was sie ist - ob ich diese Erfahrung mit meiner gewohnten Kenntnis vergleiche oder nicht. Aus diesem Grunde kann man auch sagen, daß Erkennen nichts anderes als Entdecken ist, und zwar so sehr, daß man beide Begriffe vertauschen könnte. Das bedeutet nicht, daß es unbedingt ein dynamischer Lernprozeß sein müsse. Auch die Anschauung, in die ich im Zustand vollkommener kontemplativer Ruhe vertieft bin, ist Entdeckung, denn auch sie läßt sich von der Sache her sagen, was diese ist und erfahrt sie infolgedessen als das Seiende, das sich ihr so und nicht anders zeigt. In jedem Falle ist die Sache also das ..Unbekannte", das ..neu" entdeckt werden muß. Wiederum bedeutet das nicht, daß ihre Erkenntnis neu erarbeitet werden müsse, sondern nur, daß sie mir von sich her angibt, was sie ist. Daß ich dies und nichts anderes und damit sie selbst von ihr selbst hinnehme, ist die Entdeckung. Sie muß nicht darin bestehen, daß ich mir geistig an ihr zu schaffen mache, um sie besser kennenzulernen. Wozu würden wir sonst auf sie hinblicken und uns in ihre Betrachtung vertiefen oder gar versenken, wenn wir uns nicht von ihr her zeigen lassen würden, was und wie sie ist! Wozu würden wir angestrengt nachdenken, wenn wir nicht von ihr her, die uns so sehr beschäftigt, die Lösung unserer Zweifel erwarten würden. Jede Erkenntnis ist somit Entdeckung, die sich das Sosein der Sache von ihr diktieren läßt und damit die eigene totale Abhängigkeit von ihr erfährt. Damit steht aber auch fest, daß jede Erkenntnis ..Erfahrung" genannt werden kann, denn es läuft auf das Gleiche hinaus, ob ich sage, daß ich die Sache entdecke oder erfahre. Beidemal ist gemeint, daß ich auf sie stoße, wie sie sich von sich her zeigt. Der Grund für die unglückliche Beschränkung des Begriffs der Erfahrung auf die Sinneswahrnehmung und die assertorische Feststellung ..bloßer" Tatsachen liegt auch hier darin, daß man sogleich versu~hte, das Erkennen von einem bestimmten kategorialen Schema her zu erklären, statt zunächst darauf zu achten, was sich in ihm als seine unaufhebbare Grundstruktur zeigt. Der von der Aufspaltung in Sinnes- und geistige Fähigkeiten unbelastete Hinblick 3*

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

zeigt ganz eindeutig, daß wir auch einsichtige und wesensnotwendige Sachverhalte entdecken und damit auch erfahren. Wir nehmen sie hin, so wie sie sich uns zeigen, und das ist genau die Struktur der Erfahrung! Wir erfahren im Blick auf den einsichtigen Sachverhalt und von ihm her, daß es sich nur so und nicht anders verhalten kann. Seine einsichtige Notwendigkeit, auf die wir als etwas Unumstößliches stoßen, ist der Grund dafür, daß wir sie nur noch akzeptieren können, wie sie vor uns steht. Auch hier weist uns die Sprache auf das Phänomen hin, an dem sich alle Theorie orientieren sollte. Wir sprechen davon, daß uns die gesuchte Einsicht - womit der eingesehene Sachverhalt gemeint ist! "endlich begegnet", ja daß sie uns in blitzartiger Erleuchtung "überfällt". Weil es sich hier um unteilbare Sachverhalte handelt, die als solche nur ganz und gar mit einem Schlage und nicht in sukzessivem Erkenntnisfortschritt offenbar werden können - er kann das Offenbarwerden nur vorbereiten - , demonstriert der Augenblick, in dem mich die Einsicht überfällt, ganz besonders deutlich das Wesen einer jeden Erkenntnis als Überraschtwerden vom Gegenstand und damit wieder als Erfahrung. Unsere Beschreibung auch der Einsicht als Erfahrung relativiert in keiner Weise den Unterschied zwischen der bloßen Wahrnehmung von etwas und der Einsicht, daß sich etwas notwendig so verhält. Sie verlagert ihn nur dorthin, wo ich ihn auch tatsächlich im Vollzuge der Erkenntnis erfahre, nämlich auf die Seite der Gegenstände. Sowohl die Dinge, die ich "wahrnehme" wie die notwendigen Sachverhalte, die ich erfasse, finde ich vor. Es ist unumgänglich, in beiden Fällen von "Vorfinden" und "Erfahren" zu sprechen, denn sonst wäre beides immer schon erkannt und Erkenntnis wäre das, als was sie Kant beschrieben hat: ein immerwährendes Sich-im-Kreise-Drehen um die je schon bekannten Anschauungs- und Denkformen. Die natürliche Leichtigkeit und unumstößliche Sicherheit, mit der wir letzte, einsichtig notwendige Prinzipien wie etwa das Widerspruchsprinzip auffassen, braucht nicht durch die Annahme eines apriorischen Urwissens erklärt zu werden, wie das etwa die niemals um die Vermehrung apriorischer Bestimmungsgründe verlegene neuscholastische Transzendentalphilosophie heute tut. Sie läßt sich vielmehr zwanglos als Erfahrung der von sich her überzeugenden Einsichtigkeit des Sachverhaltes verstehen, der sich in seiner Notwendigkeit darstellt und so und nicht anders ins Blickfeld tritt. In unserer "Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie" haben wir auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, einerseits die evidente Selbstgegebenheit von Sachverhalten zu konzedieren und andererseits dennoch das Zustandekommen dieser Evidenz aus transzendentalen BestimmungsgfÜnden des Subjektes zu erklären! Auf der einen Seite soll der Sachverhalt aus sich einsichtig als solcher vor mir stehen. Auf der anderen Seite soll diese Einsicht nur durch einen komplizierten transzendentalen Mechanismus möglich werden, der, um mit Marechal, dem Begründer dieser widerspruchsvollen Transzendentalphilosophie zu reden, die "unbedingte Affirmation" des eingesehenen Sachverhaltes ermöglicht. 5

I. Abschn.: Die Selbstdarstellung der einfachen Erkenntnis

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§ 2: Erkennen als Erfassen des Seins

Damit ist schon deutlich geworden, daß Erkenntnis mehr ist als das bloße Bewußtsein von der Sache, das ganz in ihr versinkt. Auch dieses "mehr" ist schon deutlich geworden: das bestimmte Sein der Dinge ist der eigentliche und unmittelbare Gegenstand der Erkenntnis. Wenn ich am Strande vor mich hindämmere, so bin ich mir zwar meiner Umgebung in irgendeiner Weise bewußt, aber man wird nicht von Erkenntnis sprechen. Werde ich durch ein Geräusch aufgeschreckt und richte ich mich auf, dann nehme ich die Umgebung ausdrücklich wahr. Alle Dinge erscheinen mir nunmehr in ihren Konturen, und ich sehe die Strandkörbe, den Sand und das Meer. Um überhaupt von Erkenntnis einer Sache sprechen zu können, muß sie also in ihrer Bestimmtheit gegeben sein: als diese und keine andere mit diesen ihren Eigenschaften und Sachverhalten. Dieser Wesenszug des Erkennens, die Sache in ihrer Bestimmtheit zu präsentieren, ist nicht mit seiner Deutlichkeit und Klarheit identisch. Aufmerksamkeit, Deutlichkeit und Klarheit können psychische oder auch äußere Voraussetzungen dafür sein, daß Erkenntnis zustande kommt, in der der Gegenstand in seinem "Selbst" gegeben ist. So können ganz verschiedene Faktoren wie etwa gute Lichtverhältnisse oder auch meine neu erwachende Aufmerksamkeit mir jetzt die Wahrnehmung dieses Berges ermöglichen. Selbstverständlich affizieren diese Momente auch die Gegebenheit der Sache, die klarer oder weniger klar hervortreten kann. Aber zum Wesen und der inneren Logik des Erkennens gehören nur die Gegebenheit der Sache, wie sie nun einmal ist und nicht die "beiherspielenden" Umstände, die dafür verantwortlich sein mögen, daß sie mir mehr oder weniger deutlich gegeben ist! Auch ist nicht gemeint, daß sich Erkenntnis, die diesen Namen verdient, nur auf Dinge mit prägnanten Konturen und durchsichtige, exakt feststellbare Sachverhalte erstrecken könne. Das postuliert Descartes mit seinen an den exakten Wissenschaften abgelesenen vier Regeln des richtigen Vernunftgebrauches. 6 Der hier vorausgesetzte Erkenntnisbegriff führt in der Theorie zur Annahme, daß die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode die allein wissenschaftliche sei und in der Praxis zu dem anhaltenden Triumph der "instrumentellen Vernunft", die die Natur so lange organisiert, bis sie nur noch Faktor im rationellen Kalkül ist. Die "Bestimmtheit" des Gegenstandes, die wir im Auge haben, besteht lediglich darin, daß er sich in jeder Erkenntnis so zeigt, wie er von sich selbst her ist. Sie ist dann verwirklicht, wenn ich sagen kann: "jetzt habe ich die Sache!" Oder: "sie steht so vor mir, wie sie ist!" Bestimmtheit meint also gerade ihre Jeweiligkeit, die in mein Gesichtsfeld tritt - mag es sich nun um mathematische Strukturen oder um molluskenhafte Dinge handeln, deren "Bestimmtheit" darin S Vgl. Joseph Marechal: Jugement scolastique concemant la racine de l'agnosticisme kantien. Melanges Marechal, Bd. I, Brüssel/ Paris 1950, S. 277. 6 Vgl. das zweite Kap. der ,,Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs" .

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

besteht, ständig zu zerfließen. Oder um Dinge von unauslotbarer Tiefe, die man nur ahnend ermessen kann. Erkenntnis als Selbstgegenwart der Sache, in der sie als so und nicht anders beschaffen dasteht, ist auch dann realisiert, wenn ich gar nicht weiß, um was es sich bei ihr eigentlich handelt und somit - noch! - keine Kenntnis im Sinne eines Begriffs von ihr habe und über ihre Natur im unklaren bin. Ich kann ein Ding in der Hand haben, das sich mir als Gebilde von dieser bestimmten Farbe, Durchsichtigkeit und Gestalt präsentiert und doch nicht wissen, ob es sich um einen ganz gewöhnlichen Stein oder um einen Edelstein handelt. Die Ungewißheit darüber beruht gerade darauf, daß es in seiner Bestimmtheit gegenwärtig ist und sich in ihr von allem anderen unterscheidet. Es präsentiert sich auch dann schon in seiner "leibhaften" Bestimmtheit, wenn ich mir noch kein Bild von seinen Eigenschaften und seinem Wesen machen kann. Umgekehrt kann diese gerade so zum Ausgangspunkt der Entdeckung des Wesens und der Eigenschaften der Sache werden. Die Erkenntnis dieser Bestimmtheit ist nichts anderes als die des Seins der Dinge. Mit dieser Feststellung wollen wir keinen Ausflug in die Ontologie unternehmen. Vielmehr ergibt sie sich schon aus der Betrachtung der auf das bestimmte Sein der jeweiligen Sache gerichteten Intention des Erkennens. Daß ich sie in ihrer Bestimmtheit erfasse, heißt nichts anderes, als daß ich sie als das, was sie ist und damit als dieses bestimmte Sein erfasse. Dazu ist es nicht erforderlich, daß ich erkenne, was der Begriff des "Seins" überhaupt impliziert und ihn dann auf die Dinge, denen ich begegne, anwende! Vielmehr ist damit nur gemeint, daß ich die Sache gewissermaßen von mir halte, um sie auf diese Weise als dieses so und nicht anders bestimmte Etwas und damit als so und nicht anders in sich bestehendes Sein zu erfassen. Natürlich ist es ein und dasselbe, ihr inhaltliches Sosein, dieses als bestimmtes Sein und sie in ihrem Insichsein zu erkennen. Wir unterscheiden diese Aspekte nur, um deutlich zu machen, daß die Erkenntnis der Bestimmtheit der Sache eo ipso die ihres Seins ist oder einfacher ausgedrückt, daß wir in der Erkenntnis dieser Bestimmtheit je und je die Erfahrung machen, daß wir auf eine in sich selbständige Wirklichkeit stoßen! Damit haben wir bereits den inneren Zusammenhang, der im Charakter der Erkenntnis als Überraschung, als Entdeckung und Erfahrung besonders deutlich zutage tritt! Wenn sie auf die Wirklichkeit, das Sein der Dinge stößt, das von sich selbst her so und nicht anders bestimmt ist, dann kann sie es nur als Diktat auffassen, das sie - will sie überhaupt Erkenntnis sein - so und nicht anders hinzunehmen hat! Sie stößt auf die Sache als in sich und von sich her bestimmte Wirklichkeit und läßt sich von ihr sagen, was sie ist, um gerade in dieser Empfangsbereitschaft für sie auch wiederum ihre in sich bestehende Wirklichkeit zu erfahren! Dabei ist die Bestimmtheit der Sache, die Tatsache, daß sie so und nicht anders ist, der Grund dafür, daß sie als das erfahren wird, was sein Sein diktiert. Aber selbstverständlich geht die Kenntnisnahme der Bestimmtheit dieser

1. Abschn.: Die Selbstdarstellung der einfachen Erkenntnis

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Erfahrung nur natura, nicht tempore prius voraus. Weil sie sich in ihrer Bestimmtheit präsentiert, wird sie als eigenständiges "Etwas" erfahren, das so und nicht anders ist und hinzunehmen ist. Solange die Erkenntnis dauert, erfährt sie ihre Abhängigkeit von ihr, von der sie sich selbst empfangt! Sie erfährt sich als ausgeliefert an die Sache, und ihre Aktivität besteht darin, sich für das empfangsbereit zu machen, was sie mir zuschickt.

Kapitel 3: Erfahrung der Hinnahme und Offenheit Das also ist die Selbsterfahrung der Erkenntnis in ihrem unmittelbaren, dem Objekt zugewandten Vollzuge! Erfahren wird sie als Hinnahme des Seins der Sache, und diese Erfahrung ist nur die andere Seite der Erfahrung, daß dieses Sein der Erkenntnis diktiert, was es ist! Aber es liegt auf der Hand, daß in dieser Erfahrung auch je und je von neuem schon die immer gleiche Erfahrung der grenzenlosen Fähigkeit zur Hinnahme oder grenzenlosen Hinnahmebereitschaft gegeben ist, die wir als absolute Offenheit bezeichnet haben. Denn diese Bereitschaft ist natürlich kein Wille, keine Gesinnung, sondern eben das, was wir nur als Offenheit bezeichnen können. Man sieht leicht, daß eine solche Selbsterfahrung der Erkenntnis durchaus mit der Tatsache vereinbar ist, daß in ihr nur die Sache und nichts anderes als sie gegeben ist! Da es sich aber um Erkenntnis und folglich um Entdeckung in dem dreifachen von uns beschriebenen Sinne handelt, ist die Sache stets als das gegeben, was sein Sein oder sich selbst diktiert! Und diese Erfahrung ist schon die ihrer Hinnahme oder der Offenheit für sie! Die Sache, wie sie sich zeigt und ihre Hinnahme sind also nicht als zwei voneinander unterschiedene Momente, sondern als zwei Seiten ein- und desselben Ereignisses - ein und derselben Gegenwart - gegeben. Wollte man diesen Sachverhalt noch präziser beschreiben, dann müßte man sagen, daß die Sache sich in die bereitstehende Offenheit hineindiktiert. Gegeben ist allein die Bewegung der auf mich zukommenden Sache, aber sie ist nicht von dem unterscheidbar, was sich bewegt: besteht sie doch wiederum nur in ihrer Gegenwart. Auch der Zielpunkt, auf den sie hintendiert, ist nicht in sich selbst gegeben. 7 Die Gewalt, die wir der Sprache antun müssen und die Unmöglichkeit, ein angemessenes Bild für den ganzen Vorgang zu finden, zeigen deutlich, daß alle bekannten Kategorien versagen, um zu beschreiben, was in jeder Erkenntnis, die wirklich Erkenntnis ist und daher ganz im Präsentieren der Sache aufgeht, tatsäch7 Deshalb venneiden wir es mit Absicht, auf die naheliegende Frage einzugehen, wen sie bestimmt. Denn abgesehen davon, daß die Frage nach der ontologischen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt und dessen Einwirkung ohnehin außer Betracht bleibt, kann von einem wie immer auch zu verstehenden Träger oder Subjekt der Erkenntnis an dieser Stelle noch gar keine Rede sein, da es zunächst nur darum geht, den Erkenntnisakt und seine eigene "Ausstattung" in sich selbst zu betrachten.

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1. Teil: Souveräne Erkenntnis

lich geschieht. Sie erfahrt sich in ihrem Vollzug nur als radikale Offenheit, Bestimmbarkeit und Empfänglichkeit, die in der Hinnahme der Sache nichts eigenes dazu tut, denn das würde sie nur verhindern und Erkenntnis zu dem machen, was sie gerade nicht sein will und ihrem Selbstverständnis nach auch nicht ist: Verdeckung statt Entdeckung des Gegenstandes. Sie erfährt sich so als das absolut durchsichtige Medium, in das sich die Sache in ihrer Vielfarbigkeit hinein diktiert. Sie erfährt sich als reines "Nichts" im Hinblick auf das, was erkannt wird. Sie "ist" in dieser Erfahrung selber "nichts" - radikal "nichts", der reine Äther, in dem sich die bestimmten Konturen der Dinge erst abheben. Auch das ist mitgemeint in der einfachen Rede, daß die Sache "so und nicht anders" ist. Denn zu diesem Ergebnis gelange ich nicht durch vergleichende Reflexion mit etwaigen anderen Möglichkeiten wie sie sein könnte, sondern allein dadurch, daß sich die Bestimmtheit der Sache auch immer schon als solche in meinem "Nichts" oder Anderssein darstellt. Denn diese Erfahrung ist selber noch in der meiner totalen Empfangsbereitschaft oder Offenheit enthalten, ja zutiefst mit ihr identisch. Dabei ist Anderssein natürlich keineswegs im Sinne inhaltlicher oder qualitativer Verschiedenheit, sondern in dem des radikalen "nicht" gegenüber der erkannten Sache zu verstehen. Auch handelt es sich selbstverständlich bei diesem "Nichts" der Erkenntnis nicht um den abstrakten metaphysischen Begriff der Negation allen Seins. 8 Das "Nichts", um das es geht, ist die Wirklichkeit der Erkenntnis, so wie sich diese unmittelbar erfährt. Ihre Selbsterfahrung, so wie sie wirklich ist und nicht schon durch den Filter der Erklärung ihrer Möglichkeit gedeutet wurde, läßt sich nur mit dem Begriff eines "Nichts" umschreiben, das tatsächlich vorhanden ist und lebt. Erfahren werden die Dinge und nichts anderes, aber daß sie erfahren werden, ist selbst eine Erfahrung, in der freilich nichts anderes anzutreffen ist als wiederum nur die Dinge. Diese Formulierung ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daß sie stets auch erfahren werden, sofern sie ihr bestimmtes Sein diktieren oder dasselbe in der umgekehrten Perspektive - sofern sie empfangen und hingenommen werden. Nur die Sache "ist" in der Erkenntnis, aber indem ihre Bestimmungen als die ihren erfahren werden, wird sie zugleich als ihr "Nichts" erfahren: als jene grenzenlose Offenheit für das "je und je" der Dinge, die angemessen nur als ihr "Nichts" bezeichnet werden kann. Somit kann gar keine Rede davon sein, daß diese Offenheit und dieses ,,Nichts" hier als etwas für sich Bestehendes erfahren werden. Das gilt jedenfalls für die in sich ruhende, schon vollendete oder "fertige" Erkenntnis, also den erkennenden Besitz der Sache, von dem wir hier zunächst allein sprechen. 9 Erfahren wird nur die Hinnahme selber, aber diese Erfahrung unterscheidet sich fundamental von allen anderen, in denen ich etwas entgegennehme: in denen mir der Kaufmann 8 Was wir über die Verwendung des Begriffs "Sein" in rein phänomenologischer Absicht sagten, gilt mutatis mutandis auch von dem des "Nichts". 9 Anders verhält sich die Sache beim Erkenntnisprozeß: vgl. Abschn.3,1 Kap. 4 und 5.

2. Abschn.: Die Selbstdarstellung der bewußten Erkenntnis

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oder Freund etwas gibt oder Unwetter und Schicksalsschläge widerfahren. In unserem Falle wird nur die Relation des Empfangens ohne die Relata erfahren. Denn die Sache, die erkannt wird, steht nur als das da, was sie ist und ist nicht charakterisiert als "gegeben" oder als "Gegenstand" der Erkenntnis. Und auf der anderen Seite gehört es nicht zum Wesen des Erkenntnisvollzuges, daß in ihm so etwas wie eine Erkenntnisfähigkeit oder ein "aufnehmendes ich" erfahren werden. Die erfahrbare Realität, die wir hier beschreiben, ist also allein die Hinnahme selbst: das "Sich-sagen-Iassen", wie es um die Sache ist. Erkenntnis besteht darin, nur sie sein zu lassen, so wie sie ist, aber dieses "sein lassen" ist selbst wieder eine Realität, die nur so ausgedrückt werden kann, daß Erkenntnis von sich selbst her "Nichts" ist. Wollte man diese Erfahrung veranschaulichen, obwohl Bilder und Modellvorstellungen solcher Art die Wirklichkeit des Erkennens oft genug verfälschen, dann könnte man sie mit einem Pfeil vergleichen, der ins aufnahmebereite Leere stößt: in den unermeßlichen leeren Raum, in dem wiederum nichts ist als er selbst. Husserls Kritik der Abbildtheorie, die das Einmalige der Erkenntnis dadurch umgehen will, daß sie den Gegenstand als Abbild einfach nochmals setzt und erklärt, in dieser Wiederholung bestehe die Erkenntnis, beruft sich mit Recht auf die Erfahrung, die uns zeigt, daß in der Erkenntnis nur die Sache "ist": "leibhaft" - so wie sie ist und nichts anderes. Erkenntnis versteht sich so nicht als Wiederholung der wirklichen Welt. Diese bleibt vielmehr das, was sie ist, ohne durch die Erkenntnis beeinträchtigt zu werden, aber gerade deshalb wird diese als ihr "nichts" erfahren. Sartres Feststellung, daß in ihr nicht die Dinge beim Erkennenden anwesend sind, sondern er bei ihnen, ist durchaus zutreffend. Er vermag dies aber nur, indem er für sie offen ist und sie in diese Offenheit "eintreten" und "in ihr" das sein können, was sie immer schon sind, so daß die Gegenwart des Erkennenden bei ihnen nur die Kehrseite ihrer Gegenwart für ihn ist! In jedem Falle gilt: sofern sich die Erkenntnis als Hinnahme erfährt, verläuft die Bewegung von den Dingen zu ihr hin und insofern werden sie als bei ihr anwesend erfahren. Der erfahrbare Schwerpunkt der Beziehung liegt bei ihrer Gegenwart für ihn!

Zweiter Abschnitt

Die Selbstdarstellung der bewußten Erkenntnis Kapitell: Der Akt der bewußten Erkenntnis § 1: Der methodische Zugang

Bewußt haben wir uns im ersten Abschnitt zunächst in strenger und exklusiver Weise auf die Betrachtung des Erkenntnisaktes konzentriert und dabei die Frage

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1. Teil: Souveräne Erkenntnis

nach dem Subjekt der Erkenntnis gänzlich ausgeklammert, um so deutlich zu machen, wie Erkennen sich allein kraft seines Vollzuges selbst erfährt und wie schon in diesem vollkommenen Hingegebensein an die Sache die Offenheit für sie mitgegeben ist. In diesem Abschnitt geht es um eine neue Art von Akten, die in einem noch vollkommeneren Sinne als Erkenntnis bezeichnet werden können als jene, mit denen wir uns bis jetzt beschäftigt haben. Selbstverständlich waren auch sie im vollen Sinne als Erkenntnis anzusprechen, deren Wesen auch schon dort ganz verwirklicht ist, wo sie so sehr im Präsentieren der Sache aufgeht, daß phänomenologisch gesprochen nur diese "ist". Hier aber wollen wir die einfachen Erkenntnisakte von den bewußten unterscheiden und uns auf diese konzentrieren. Ihre Analyse führt uns nicht nur zu einem tieferen Verständnis der Offenheit des Erkenntnisvermögens als des ermöglichenden Grundes allen Erkennens. Sie zeigt uns auch, daß es schon im Wesen des Erkennens angelegt ist, daß in ihm das erkennende Subjekt zum Bewußtsein seiner selbst kommt. Auch wenn es ganz der Sache zugewandt ist, erfährt es sich doch auch selber im aktuellen Vollzug der bewußten Erkenntnis, so daß wir hier bei allem Insistieren auf der Betrachtung des Erkenntnisaktes das Subjekt nicht mehr ausklammern können! Dennoch beginnen wir auch hier wieder bei einer Momentaufnahme des Erkenntnisaktes. Wir isolieren aus dem Ganzen des Erkenntnislebens die Akte und betrachten sie für sich, in denen sich die neue ausgezeichnete Form der Gegenwärtigung ereignet. Auf diese Weise soll deutlich werden, daß die ihrer selbst bewußten Akte, die wir meinen, eigenständige und ursprüngliche Formen sind, in denen sich Erkenntnis ereignen kann und tatsächlich ereignet. Sie ist ganz und gar in den Akten "einfacher Erkenntnis" realisiert, die im Präsentieren der Sache aufgehen und in den Akten, die zwar auch die Sache präsentieren, aber drüber hinaus noch diese Tatsache bewußt realisieren und damit ihre eigene Rechtfertigung in sich tragen. Das schließt weder aus, daß - im Lichte der Idee der Erkenntnis - die zweite Kategorie von Akten im vollkommeneren Sinne Erkenntnis ist noch daß sie aus dem schlichten Präsentieren der Sache, also aus den einfachen Erkenntnisakten hervorgehen und in ihnen fundiert sein können. Auch von diesen Akten gilt so, daß sie, um mit Husserl zu sprechen, "etwas ganz eigenes" sind, das nur im Nachvollzug und in exemplarischer Ideation vergegenwärtigt werden kann. Ihre Eigenart besteht darin, daß sie auf der einen Seite ebenso unmittelbar wie die einfachen Akte der Sache zugewandt sind und sich auf der anderen Seite doch auch selbst in einer ganz spezifischen Weise als Erkenntnis gegeben sind. Die nähere phänomenologische Analyse dieser Eigenart stößt gerade hier auf die Paradoxie einer jeden unmittelbaren Selbsterfahrung des Erkenntnisaktes, der selber kein Gegenstand von Erkenntnis sein kann, welche vielmehr allein der Sache zugewandt ist und nicht sich selbst. Daher kann sich die bewußte Erkenntnis auf allen Stufen ihrer mehr oder weniger vollkommenen Ausprägung nur insoweit gegeben sein, als dieses Gegebensein die alleinige

2. Abschn.: Die Selbstdarstellung der bewußten Erkenntnis

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Gegenwart der Sache nicht stört, sondern umgekehrt inje vollkommenerer Weise ermöglicht, so daß gerade die Selbsterfahrung der Erkenntnis zum Konstituens der Gegenwart der Sache wird. § 2: Die innere Gliederung des Aktes

Wie dies möglich ist, zeigt sich in der Art und Weise, in der die bewußte Erkenntnis die Sache ausdrücklich als sie selbst zutage treten läßt. Sie unterscheidet sich von der im ersten Abschnitt beschriebenen Selbsterfahrung des Erkennens dadurch, daß nunmehr die Sache, wie sie ihr Sein diktiert und ihre Hinnahme auseinandertreten, um als gegliederte Einheit erfahren zu werden, in der das eine sich aus dem anderen ergibt. Jetzt entzündet sich nicht mehr die Erfahrung der Hinnahme der Sache und der Offenheit für sie an ihrer Bestimmtheit, sondern diese wird jetzt auch ausdrücklich als Grund dafür erfahren, daß sie als diese und keine andere Sache hingenommen wird. Dazu ist es erforderlich, daß die Hinnahme nicht mehr nur als die eine Seite oder ein Aspekt jener von der Sache ausgehenden "ruhenden Bewegung" erscheint, die nichts anderes als ihre Gegenwart ist, sondern daß sie gesondert in sich selbst erfahren wird. Das scheint auf den ersten Blick unmöglich, weil die Hinnahme nichts anderes ist als das Sehen der Sache und strikt mit ihm identisch. Und dieses Sehen "ist" wiederum nichts anderes als die Sache: es macht nicht sich, sondern nur sie präsent! Das aber gilt nur, solange die Anschauung als einfache Erkenntnis darin aufgeht, die Sache zu präsentieren. Indem jedoch nun die beiden Seiten des Verhältnisses auseinandertreten, wird sie als Gegenüber erfahren und als das, was ihre Hinnahme begründet. Auch jetzt ist nicht der Akt der Anschauung in sich gegeben, sondern nur das Sich-zu-eigen-machen oder Empfangen der Sache, das diese als Grund seiner eigenen Möglichkeiten erfährt. Aber auch jetzt bleibt die Einheit der schlichten Anschauung der Sache erhalten. Sie wird zwar durch die Erfahrung des "darauf hin" in Grund und Folge gegliedert, ohne dadurch ihren Charakter als eine einzige Bewegung der Aufnahme zu verlieren. Wollten wir an das Bild anknüpfen, das wir im ersten Abschnitt gebraucht haben, dann müßten wir sagen, daß nunmehr nicht nur erfahren wird, daß etwas geschenkt wird, sondern auch die Annahme oder der Empfang des Geschenkes. Aber die Hand, die es in Empfang nimmt, bleibt ihm zugewandt, so daß sie sich nicht selbst erblickt. Erfahren wird nur, daß sie das Geschenk ergreift - eben dessen Annahme, die ihren Grund im Geschenk hat, das sich auf sie zubewegt. So handelt es sich hier nur um einen neuen Modus von Anschauung, in dem nicht nur die Sache, sondern auch gegeben ist, daß sie als solche hingenommen wird, weil sie so ist. Auf den ersten Blick scheint diese Erfahrung sinnlos, weil tautologisch zu sein. Tatsächlich aber ist diese scheinbare Tautologie der einzig angemessene

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

Ausdruck für die Art und Weise, in der ein Erkennen, das wirklich Sehen der Sache ist, seine eigene Legitimation erfahren kann, die wiederum nichts anderes ist als die Sache, die gesehen wird. Daher ist diese Erfahrung das eigentliche Wesen dessen, was wir als Evidenz bezeichnen: eine Erkenntnis, die sich schon in ihrem der Sache zugewandten Vollzug rechtfertigt und allein im Blick auf sie erfährt, daß sie als deren Hinnahme durch sie gerechtfertigt ist.

Kapitel 2: Bewußte als vollendete Erkenntnis § 1: Einfache und bewußte Erkenntnis

Das Wesen der Erkenntnis ist so einfach wie die konkreten Akte, an denen es erschaut werden kann. Denn die Gegenwart der Sache, in der sie besteht, ist unteilbar und als solche weder in einzelne Momente aufzulösen noch mit Hilfe einer Vie1gliedrigkeit von Begriffen zu explizieren. Die Einfachheit des Phänomens ist auch der Grund dafür, daß zwischen den beiden Formen der Erkenntnis, der einfachen und bewußten, kein inhaltlicher Unterschied besteht: so als würde sich die zweite von der ersten durch hinzukommende Merkmale unterscheiden und einen größeren Reichtum von Bestimmungen bieten, die als solche beschrieben werden könnten. Auch die bewußte Erkenntnis ist nichts anderes als Gegenwart der Sache. Diese ist jetzt nur ausgeprägter und in höherer Intensität verwirklicht. So ist sie die ursprüngliche Erkenntnis, wie sie zu sich selbst kommt und dabei doch ganz das bleibt, was sie ist. Sie ist daher nichts anderes als jene Vollendung, die bereits im Wesen der Erkenntnis vorgezeichnet ist, so daß alle Erkenntnis dahin tendiert, ohne Übergang ganz zu sich selbst zu kommen und damit ihrer Idee vollkommen zu entsprechen. Es ist, als würde in der einfachen Erkenntnis, dem einfachen auf die Sache gerichteten Blickstrahl nur' noch ein Lämpchen angeknipst, wenn sie sich zur bewußten Erkenntnis steigert. Aber sie kann sich auch schon von Anfang an als solche von innen her erleuchtete Erkenntnis vollziehen. 1 § 2: Maßstäbe für die vollendete Erkenntnis

Die Einfachheit des Phänomens schließt nicht aus, daß wir jene Tendenz zur bewußten Erkenntnis im folgenden unter verschiedenen Gesichtspunkten be1 Bei alledem wäre zu beachten, daß die klassische Unterscheidung zwischen Sinneswahrnehmung und Verstandeserkenntnis - wenn wir schon diese außerphänomenologischen Termini gebrauchen - nicht mit der zwischen einfacher und bewußter Erkenntnis zusammenfällt. Ohnehin gibt es keine isolierte Sinneswahrnehmung oder es gibt sie nur in den Lehrbüchern der Erkenntnistheorie. Wenn ich dieses Haus da in der Anschauung erfasse, dann sind daran gleichermaßen Sinneswahrnehmung und Verstandeserkenntnis beteiligt. Aber eine solche anschauliche Erkenntnis kann sich durchaus als einfache, ganz in der Sache aufgehende und ihr völlig hingegebene wie als ihrer selbst bewußte ereignen.

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schreiben. Als erster Gesichtspunkt kann uns die Tatsache dienen, daß jede Erkenntnis Bewußtsein von etwas ist. Schon damit werden wir im Lichte dessen, was "Bewußtsein" eigentlich bedeutet, auf jene eigentümliche Rück- und Selbstbezogenheit aufmerksam werden, die erst im bewußten Besitz der Sache zu sich selbst kommt und sich vollendet. Sodann sollten wir uns ganz einfach vergegenwärtigen, was eigentlich "Erkenntnis" ihrem Sinne und Begriff nach bedeutet. Auch hier wird uns ebenso unmittelbar klar, daß sie ihrer Idee erst dann entspricht, wenn sie ihre eigene Rechtfertigung auf vollkommene Weise, d. h. schon in ihrem unmittelbaren Vollzuge, in sich trägt. Indem wir sie schließlich als Urteil betrachten, stoßen wir auf jene endgültige Vergewisserung über sich selbst, auf die alle Erkenntnis angelegt ist. All diese Gesichtspunkte können von verschiedenen Seiten her deutlich machen, daß auch die im Bewußtsein ihres eigenen Rechtes vollzogene Erkenntnis nichts anderes als Sehen der Sache ist und bleibt. Das Sehen wird ausdrücklich: sonst geschieht nichts, aber was das heißt, kann wegen der Einfachheit des Vorganges in der nachzuvollziehenden Versenkung in das Phänomen des Ausdrücklichwerdens erfahren werden. So wird anhand der genannten Gesichtspunkte deutlich werden, daß alles Erkennen, das als solches nichts anderes als Sehen ist, darauf angelegt ist, sich zu diesem bewußten Sehen zu steigern, das seine Rechtfertigung schon in der besonderen Weise seines ausdrücklichen Vollzuges besitzt. Natürlich hat dies nichts mit der Binsenweisheit zu tun, daß die Erkenntnis der Rechtfertigung durch Gründe bedarf. Uns interessiert in dieser Untersuchung, in der die phänomenologische Analyse der Verfassung des Erkenntnisaktes im Dienste der anthropologischen Frage nach der Verfassung des Menschen steht, nicht das logische oder erkenntnistheoretische Problem der Geltungsbegründung und Rechtfertigung, sondern die in jener Verfassung des Aktes liegende Möglichkeit, den Gegenstand auf ganz verschiedene Weise gegenwärtig sein zu lassen und seiner so habhaft zu werden: unmittelbarer und distanziert, einfachhin und bewußt. Das hat wiederum nichts mit Psychologie zu tun! Es geht hier auch nicht um Klarheit und Deutlichkeit des Erkennens oder um Probleme der Aufmerksamkeit, sondern um die in seinem Wesen liegende Möglichkeit, ein und denselben Gegenstand so und so zu erfassen und sich von ihm her sagen zu lassen, was er ist. § 3: Erkenntnis als vollkommenes Bewußtsein

Gehen wir also von der Idee des Bewußtseins aus, die wir in diesem Abschnitt ohnehin tiefer zu entfalten suchen und fragen, was es im vollen Sinne des Wortes bedeutet, daß uns eine Sache bewußt ist. 2 Das heißt offensichtlich nicht nur, daß 2 Im ersten Abschnitt haben wir gezeigt, daß Bewußtsein von einer Sache noch keineswegs gleich Erkenntnis ist. Man erinnere sich an das Beispiel vom dahin dämmernden Bewußtsein, das seine Umwelt - mit ihr verschmolzen - noch nicht in der Weise

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sie uns gegenwärtig ist, sondern auch, daß wir um ihre Gegenwart wissen, die uns ausdrücklich als solche gegeben ist. Wiederum aber kann das nicht bedeuten, daß wir uns diese Gegenwart in einer Art von zusätzlichem oder nachträglichem Wissen "zum Bewußtsein bringen". Daß sie im vollen, d. h. in jedem nur denkbaren Sinne bewußt ist, kann also nur heißen, daß sie in ihrer Gegenwart ausdrücklich als das erfahren wird, was gegeben ist und uns zu ihrer Annahme bestimmt. Das aber ist selbst wieder nur ein Aspekt und eine Umschreibung der Wesenstatsache, daß Bewußtsein als vollkommenes "Wissen von" vor allem Selbstbewußtsein von sich als Bewußtsein der Sache ist und erst in ihm zur Ruhe der Vollendung kommt: auch hier jedoch nicht im Sinne einer reflektierenden Zweiteilung, die der Kraft dessen, was Bewußtsein und Bewußthaben bedeutet, nicht gerecht würde, sondern nur als ein Akt, der eo ipso und gleichursprünglich Bewußtsein von der Sache und von sich selbst als ihrer Aufnahme ist, wie sie in ihrer Gegenwart begründet ist. Das läßt sich mit den Mitteln unserer an der dinglichen Welt orientierten Logik nur als eine Abfolge oder als ein Geflecht verschiedener Beziehungen ausdrücken. Aber der einfache Hinblick auf das in seiner Einzigartigkeit irreduzible Wesen des Bewußtseins zeigt uns schon, daß das, was wir nur als "vom Gegenstand aus" und als "zu sich selbst hin" unterscheiden können, hier schon im Vollzug des vollkommenen und damit zu sich selbst gekommenen Bewußthabens vorhanden ist. Bewußtsein im vollen Sinne ist also Erfahrung des Besitzes der Sache: eines erkennenden und als solchen auf die Sache gerichteten Besitzes, der sich nicht in sich selbst, sondern nur im Blick auf sie erfährt, was wiederum treffend im Terminus "Bewußthaben" zum Ausdruck kommt. Die Sache ist hier als das gegeben, was durch ihre Gegenwart unumstößlich zu ihrer Hinnahme zwingt. Dennoch wäre es gänzlich verfehlt, zu sagen, daß in diesem vollendeten Bewußtsein die Sache als "Gegenstand der Erkenntnis" gegeben sei. Wer sich ihr im vollen Bewußtsein ihrer Gegenwart zuwendet, ist deshalb noch lange kein Erkenntnistheoretiker und er betreibt keine Reflexion, in der sie allererst als "Gegenstand der Erkenntnis" erscheinen könnte. Sondern er erfährt nur die Sache, freilich in ihrer zur Annahme bestimmenden Gegenwart. Anders ist es bei der werdenden Erkenntnis, in der ich allererst nach dem Gegenstand Ausschau halte, aber von ihr reden wir hier nicht! § 4: Bewußte Erkenntnis und die Idee der Erkenntnis

Zum gleichen Befund, daß alle Gegenwärtigung der Sache dahin tendiert, in den Akt überzugehen, der sie als seinen eigenen Grund erfährt, kommen wir, der Erkenntnis gegenwärtigt. Wohl aber ist das Bewußtsein der so und nicht anders bestimmten Sache Erkenntnis und insofern gilt, daß die Begriffe "Bewußtsein" und ,,Erkenntnis" verschiedene Gesichtspunkte sind, unter denen ich das konkrete Erkenntnisgeschehen erfahren kann.

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wenn wir sie nicht nur als "Bewußtsein", sondern von dem her betrachten, was ,,Erkenntnis" eigentlich bedeutet. Tatsächlich sind jene Akte, in denen uns ihr Wesen in idealtypischer Reinheit entgegentritt, dadurch gekennzeichnet, daß sie ihre Rechtfertigung bereits ganz und gar in sich tragen. Sie sehen bewußt und erfassen bewußt und erfahren schon damit die gesehene Sache als ihre Legitimation. Das hat nichts mit einem Diskurs zu tun, der eine vom Grund unterschiedene Folge auf ihn beziehen würde; nichts mit einer vom unmittelbaren Vollzuge der anschaulich erfüllten Erkenntnis unterschiedenen Reihe von Überlegungen. Auf sie müssen sich nur die mehr oder weniger wahrscheinlichen Meinungen stützen, die sich dann zur Einheit einer mehr oder weniger sicheren Erkenntnis im weiteren Sinne des Wortes verbinden. Vollkommene Erkenntnis aber ist nur jene, die schon in ihrem einfachen und unmittelbaren Vollzuge Rechenschaft von sich selbst gibt. § 5: Erkenntnis als Urteil

Schon immer galt auch das Urteil als krönender Abschluß der Erkenntnis, denn erst wenn ich zum Ergebnis komme: "so ist es", kann von ausdrücklichem Wissen gesprochen werden, wie sich die Sache verhält. Und so scheint es, daß das, was wir mit der zu sich selbst gekommenen Erkenntnis meinen, die sich als in der Sache gegründet erfährt, nur eine andere Formulierung für das alte klassische Urteil der Erkenntnistheoretiker ist. Der Begriff des Urteils ist allerdings so vielen Fehldeutungen ausgesetzt, daß Unterscheidungen notwendig sind. Solche Fehldeutungen stellen sich regelmäßig ein, wenn nicht auch hier der scharfe Unterschied zwischen Erkenntnis, die schon im Besitz der Sache ist und der werdenden Erkenntnis oder dem Erkenntnisprozeß zugrundegelegt und dementsprechend realisiert wird, daß das Urteil hier und dort einen ganz anderen Sinn hat. Nehmen wir als eklatantes Beispiel solche unmittelbar einsichtigen Sachverhalte, die sich tatsächlich ganz und gar durch sich selbst ausweisen und rechtfertigen. Auch sie können zunächst ganz einfach in der Weise erfaßt werden, daß die Erkenntnis in ihrem Präsentieren aufgeht und weiter nichts "ist" als nur sie selbst. Aber es ist gerade die Einsichtigkeit,die hier fast zwangsläufig die ausdrücklich bewußte Erkenntnis anstößt, in der sie als ihr Rechtsgrund erfahren wird. 3 Diese Erkenntnis, die den evidenten Sachverhalt nicht nur erfaßt, sondern auch bewußt in seiner Einsichtigkeit realisiert und damit sich selbst als deren Folge begreift, 3 Dabei ist jedoch sogleich das Mißversiäßdnis abzuwehren, das durch die Formulierung "Einsichtigkeit des Sachverhaltes" nahegelegt wird. Der betreffenden Erfahrung geht es natürlich nicht um die Einsichtigkeit als solche: also um das Phänomen der Einsichtigkeit. Denn dann wäre wiederum eine Reflexion auf die zugrundeliegende Erkenntnis erforderlich, die den jeweils einsichtigen Sachverhalt als Beispiel für das thematisch macht, was Einsicht überhaupt ist. Was erfahren wird, ist hier vielmehr nur der konkrete Sachverhalt in seiner jeweiligen Einsichtigkeit.

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ist ein geradezu ideales Beispiel dafür, daß die ihrer selbst bewußten Akte der Anschauung und Einsicht immer schon Urteil sind: so nämlich, daß man bei ihnen gar keinen eigenen Bestandteil "Urteil" oder Zustimmung" genannt unterscheiden kann, sondern sie eo ipso ihr eigenes Urteil sind. Daher ist es zwar durchaus zutreffend, wenn die klassische Erkenntnistheorie immer wieder das Urteil als krönenden Abschluß der Erkenntnis bezeichnet, die erst in ihm zum Bewußtsein ihrer selbst gelange. Aber dieses Urteil ist keine neu hinzukommende Reflexion "über" die Erkenntnis: keine Zustimmung, die von ihr irgend wie unterschieden wäre: so als würden wir nochmals über die bereits vollzogene Erkenntnis nachdenken und befinden. Wir betonen dies ausdrücklich, weil die meisten Darstellungen das Urteil nicht eindeutig und klar genug als Vollendung von Erkenntnis und Einsicht, sondern im Gegenteil durch Kant beeinflußt als setzende Tat begreifen: als einen Aktus der Zustimmung. Aber wenn ich einen evidenten Sachverhalt, der sich als solcher durch sich ausweist, vor mir sehe, ist ein Urteil als eigener Behauptungsakt völlig überflüssig! Ich sehe den Sachverhalt bereits als "gesetzten" vor mir. Was soll dann noch seine Setzung? Ich sehe das Haus da stehen, aber dieser Erkenntnisakt wird nicht durch die Affirmation, dqß das Haus dastehe, vollendet, die ohnehin ihre Legitimation allein aus dem Anblick des Hauses beziehen würde. Greifbar wird die Absurdität einer solchen Ansicht vom Urteil, wenn Adolf Reinach von einem Hinstellen der erschauten Sachverhalte im Behauptungsakt spricht. Wenn ich sie bereits erschaut habe, wie sie vor mir stehen, warum sollte ich sie dann nochmals vor mich hinstellen! Eine Erkenntnistheorie, die Erkenntnis als hinnehmende Anschauung und Einsicht versteht, kann also unmöglich das Urteil als "Setzung", "Behauptung" oder solchen Akt des Hinstellens auffassen, denn damit nimmt sie ihm jeden Charakter der Erkenntnis oder des integrierenden Bestandteiles des Erkenntnisaktes und degradiert es zur bloßen Wiederholung dessen, was bereits als wirksam vorhanden oder sogar notwendig bestehend gesehen oder eingesehen wird. Auch hier muß das, was innerlich notwendig zum Erkenntnisakt gehört und ihn ausmacht, von allem psychologischen Beiwerk unterschieden werden. Daß ich mir, wenn ich einen Sachverhalt erfasse und möglicherweise lange nach ihm gesucht habe, in der Regel dann auch noch sage: "so ist sie also, die Sache!", sei völlig unbestritten, aber diese Aussage ist Ausdruck eines psychischen Gewißheitserlebnisses, das sich auf die Erkenntnis beruft und gerade deshalb mit ihr nicht identisch ist. So geht es nicht um die Leugnung oder Herabminderung des Urteils in der Erkenntnis, sondern um sein rechtes Verständnis. Wenn Erkenntnis tatsächlich Anschauung als Selbstgegenwart der Sache ist, dann bezieht sie ihre Gewißheit einzig daraus, daß die Sache für sich selbst zeugt. Dann kann das Urteil keine eigene Tätigkeit der Bestätigung oder Bekräftigung sein. Es würde dann einem Notar gleichen, der einen bereits abgeschlossenen und notariell beglaubigten Vertrag ganz überflüssigerweise nochmals ratifiziert. Daher ist das Urteil zwar

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durchaus Erkenntnis, aber in gar keiner Weise ein eigener Erkenntnisakt. Wie soll auch Zustimmung ein eigener Erkenntnisakt sein? Daß es sinnlos ist, hier vom Urteil als einem setzenden Akt der Zustimmung zu reden, zeigt die Gegenprobe bei der werdenden Erkenntnis. Denn ein solcher Akt ist überall dort notwendig, wo sich Erkenntnis aus nicht bis ins letzte gesicherten Überlegungen entwickelt, die allenfalls auf vielen Umwegen und sehr vermittelt auf Einsichten zurückzuführen sind. Hier gibt tatsächlich das Urteil, daß diese Überlegungen mehr für sich haben als die entgegenstehenden, den Ausschlag. Natürlich ist auch ein solches Urteil keine bloße "Setzung", sondern auch hier bildet die Rechtfertigung mit den Überlegungen, auf die sie sich stützt, die innere Einheit der Erkenntnis. Aber in dem Maße, in dem sich diese Überlegungen von wirklicher Einsicht entfernen oder überhaupt ungesichert sind, wird der Akt der Zustimmung zu einer notwendigen Eigentätigkeit. Will man diese Zusammenhänge in eine Formel pressen, dann kann man geradezu sagen, daß das Urteil in dem Maße zu einem eigenen Akt der Zustimmung wird, in dem von Erkenntnis im eigentlichen Sinne keine Rede mehr sein kann. Umgekehrt ist die Rechtfertigung gerade im Idealfall anschaulicher Erkenntnis in ihrem Vollzug gegeben. Die Sache, so wie sie dasteht, rechtfertigt sich durch sich selbst. Indem die Erkenntnis das sieht, erfahrt: sie zugleich ihre eigene Rechtfertigung. Sie erfahrt: ganz einfach, daß sie den Sachverhalt sieht und er ihre eigene Vergewisserung darstellt. So ist das Urteil in der Tat nichts anderes als der ausdrückliche Vollzug des Sehens, in dem es die Sache als das erfährt, was gesehen wird. Und dennoch ist auch dieses Sehen, das man als Urteil zu bezeichnen liebt, wiederum nichts anderes als ein einfaches Sehen der Sache. Betrachten wir die zahlreichen Theorien, die das Urteil als zusätzliche Beglaubigung des ohnehin schon Bekannten auffassen, dann ist es nicht ohne Ironie, daß es sich gerade in den Fällen, in denen es als evidentes Urteil zu seiner höchsten Vollendung gelangt, als solches bewußtes Sehen beschreiben läßt, welches im Blick auf die Sache erfährt, daß es sie sieht.

Kapitel 3: Selbsterfahrung und Indifferenz des Subjektes § 1: Der Akt der bewußten Erkenntnis und

die Selbsterfahrung des Subjektes

Auf der anderen Seite muß es einen Grund dafür geben, daß auch die von Kant nicht beeinflußte Erkenntnistheorie immer wieder darauf zurückkommt, das Urteil als Tätigkeit und Akt der Zustimmung zu beschreiben. Dieser Grund ist allein darin zu suchen, daß die bewußte Erkenntnis, die die Sache als ihre eigene Rechtfertigung erfährt, immer auch schon die Selbsterfahrung des erkennenden Subjektes einschließt, dem sich die Sache zeigt und das sie empfängt. 4 Hoeres

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Das ist es, was die Urteilstheorien mit der Formel von der Tätigkeit der Zustimmung ausdrücken wollten. Zwar bleibt sie mißverständlich, weil sie den Eindruck erweckt, das Subjekt würde im Urteil irgend etwas eigenes zum gesehenen Sachverhalt hinzu tun, was gerade im Fall der Anschauung oder Evidenz völlig widersinnig wäre. Wohl aber ist die Selbsterfahrung des bewußten Sehens immer schon die des Subjektes, das sich hier gegeben ist, wie es die Sache hinnimmt. Es handelt sich also tatsächlich um eine Aktivität, bei der das Subjekt im Spiel ist und die ohne es weder denk- noch erfahrbar ist, aber sie besteht in nichts anderem als der Hinnahme. Die Gewalt, die wir bisher der Sprache antun mußten, um diesen Vorgang mit Formeln wie etwa der zu beschreiben, daß sich Erkenntnis als in der Sache gegründet erfährt, ist der beste Beweis dafür, daß hier letzten Endes nicht die Erkenntnis, sondern das erkennende Subjekt sich selbst gegeben ist, wie es die Sache annimmt. Daher kann man auch nicht sagen, das bewußte Sehen der Sache führe über sich hinaus zur Erfahrung des erkennenden Subjektes, sondern es ist Erfahrung des Subjektes, das die Sache vor sich hat. Sie ist keine weitere Steigerung, kein weiteres Zu-sich-selbst-kommen der bewußten Erkenntnis, kein weiterer Schritt der Bewußtwerdung der Erkenntnis, wie das beim Übergang von der einfachen zur bewußten Erkenntnis der Fall war. Vielmehr fallt die bewußte Erkenntnis strictissime mit der Erfahrung des erkennenden Subjektes zusammen. Dennoch sind wir nicht ohne Grund zunächst von der Betrachtung des bewußten Erkenntnisaktes als solchen ausgegangen, ohne sogleich auf die ihm eigene Selbsterfahrung des Subjektes zu rekurrieren. So konnte deutlich werden, daß diese Betrachtung unvollständig war oder über sich hinausführte. Keineswegs geht es hier also um jene nachträgliche Erwägung zum Erkenntnisakt, daß die Erkenntnis eines "Gegenstandes" als solchen eo ipso die des Subjektes impliziert, das ihm gegenübersteht. Bei jener Erwägung handelt es sich nicht mehr um den unmittelbaren Vollzug der bewußten Erkenntnis, die erfährt, wie sie der Sache begegnet, sondern um eine Reflexion auf sie, die möglicherweise schon eine bestimmte erkenntnistheoretische Deutung des Phänomens enthält. Geht es ausdrücklich um den "Gegenstand" als solchen, dann stehen wir schon nicht mehr beim Phänomen, sondern bei der Reflexion oder der Erwägung, daß "Subjekt" allemal "Objekt" als sein Pendant verlangt. Gerade die Tatsache, daß das eine Binsenweisheit ist, zeigt, daß es sich hier um ein rein logisches Verhältnis handelt, das aus den Begriffen Subjekt und Objekt destilliert wird und nicht um etwas, das im Vollzug der Erkenntnis erfahren wird. Damit hängt der zweite Grund zusammen, warum es angebracht war, vom Geschehen der Erkenntnis zu sprechen, obwohl es sich doch immer um das Subjekt handelt, das der Sache begegnet. Denn dieses erfährt sich hier nicht separat oder in sich selbst und schon gar nicht als Träger von Seelen- oder Erkenntnisvermögen. Es erfährt sich gerade nicht in jener üblicherweise als Selbstbewußtsein gekennzeichneten, auf sich zurückgewandten Haltung, in der

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es sich anzublicken sucht, sondern nur in der Bewegung der Hinnahme, in der es nicht auf sich, sondern auf die Sache blickt.

§ 2: Die Indifferenz gegenüber der Sache

Die folgenden Analysen zeigen freilich, wie sich diese Selbsterfahrung des Subjektes wiederum aus der eigenen Logik des Erkenntnisgeschehens noch weiter intensivieren und vertiefen kann, bis es sich schließlich so gegeben ist, wie es der Sache als für sich bestehendes und von ihr unabhängiges Wesen gegenübersteht. Aber auch hier erfahrt es sich nicht einfach als für sich und in sich bestehendes Wesen. Vielmehr ereignet sich auch diese Selbsterfahrung im Blick auf die Sache, so daß das Subjekt sich gerade in der Zuwendung zu ihr als von ihr unabhängiges und ihr gegenüber selbständiges Wesen erfahrt! Insofern kann man sagen, daß diese Selbsterfahrung die höchste Stufe ist, in der sich Erkenntnis oder das erkennende Wesen im Blick auf die Sache gegeben sein kann. Auch hier bleiben wir also bei der Erkenntnis in ihrem unmittelbaren Vollzuge stehen, und deshalb geht es auch in den folgenden Darlegungen nirgends um die erkenntnistheoretische oder ontologische Erwägung, daß das Subjekt als solches allemal auf das Objekt hinweist oder gar um das Ergebnis irgendeiner Art der Reflexion, in der sich das Subjekt begreift, wie es vom Gegenstand geschieden ist. 4 Wie diese auf den ersten Blick paradoxe Selbsterfahrung der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des erkennenden Subjektes gegenüber der Sache gerade im Blick auf sie zustandekommen kann, zeigt uns das wichtige Phänomen der Indifferenz der Erkenntnis. Weil ich als erkennendes Wesen nichts eigenes im Hinblick auf den Gegenstand aufzuweisen oder "zu sagen" habe und es sich nicht um meine Bestimmung, sondern um die der Sache handelt, kann ich nichts anderes tun, als sie nur noch zu akzeptieren. Ich kann nicht an ihr vorbei, aber nur deswegen, weil sie in ihrem Insichsein vor mir steht und ich selbst daher nichts an ihr ändern, ja nichts anderes mit ihr anfangen kann, als sie als diese von mir unabhängige Sache hinzunehmen. Die Gesetzlichkeit, die ich entdecke, ist nicht meine eigene, sondern die der mir gegenüberstehenden Sache. In der bewußten Erkenntnis realisiere ich dies ausdrücklich. Ich erfahre und weiß zugleich, daß nicht ich selbst, sondern die Sache durch diese Gesetze bestimmt ist. So bin ich den Dingen vollkommen ausgeliefert und kann nicht gegen sie an, weil ich als erkennendes Wesen nichts von ihnen bin und nichts ihnen gegenüber 4 Aus den genannten Gründen werden wir das Subjekt, wie es sich im Vollzug der bewußten Erkenntnis selbst gegeben ist und erfährt, im folgenden auch als ,,reines Subjekt" bezeichnen. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß es von unserem methodischen Ansatz her in dieser Hinsicht und nicht als dieser bestimmte Mensch thematisch werden kann. So entspricht der Begriff des ,,reinen Subjektes" unserer Absicht, auf der phänomenologischen Analyse des Erkenntnisaktes zu insistieren und von ihr her - soweit wie möglich - das Wesen des Menschen aufzurollen.

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als reine Offenheit für sie. Ich trage keine apriorischen Maßstäbe in mir dafür, wie sie sind, sein können oder sollen, sondern finde sie als ihnen eigene in ihnen vor. Daß ich ihnen vollkommen ausgeliefert bin, begründet paradoxerweise meine ,,Freiheit" ihnen gegenüber. Diese meint hier keinen ontologischen Tatbestand, sondern wiederum nur die schlichte, elementare Erfahrung des Gegenüber der Sache und damit ihres absoluten Unterschiedes von mir als hinnehmendem Subjekt. In diesem Sinne erfährt sich das erkennende Wesen gerade dann, wenn ihm angesichts der Evidenz des Gegenstandes absolut nichts anderes übrig bleibt als ihn hinzunehmen, als unabhängig, "indifferent", selbst nicht betroffen, ja frei von dem, was es hinnimmt. Es stößt auf den einsichtigen Sachverhalt, so wie er ist, aber gerade indem es im Vollzug der bewußten Entdeckung gewahr wird, daß es auf ihn stößt, erfahrt es sich selbst als das ihm gegenüberstehende, ihn anblickende und gerade darin absolut von ihm unterschiedene Wesen. "Indifferenz" des erkennenden Wesens bedeutet hier lediglich, daß es die Bestimmungen, die es hinnimmt, gerade nicht als seine eigenen, sondern als die der Sache erfahrt. Indifferent ist es insofern, als es sich ihr allein schon dadurch entzieht, daß es sie bewußt in ihrem "an und für sich" und damit als das andere, Gegenüberstehende sieht oder sie von sich hält, um sie zu betrachten. Indifferenz bedeutet nicht, daß es den einsichtigen Sachverhalt in irgendeiner Weise negieren könnte. Denn das würde bedeuten, daß es etwas anderes sieht, als es tatsächlich wahrnimmt. Auch ist Indifferenz hier nicht als Gleichgültigkeit zu verstehen. Bin ich in einen Unfall verwickelt, dann habe ich als schmerzlich Betroffener keine Gelegenheit, ihn unvoreingenommen und objektiv zu betrachten. Das vermag ich weit besser als nicht betroffener Zuschauer, wobei die Indifferenz und das Nicht-betroffen-sein des Betrachters Engagement und lebhafte Anteilnahme in keiner Weise ausschließen. Der Begriff kann auch dazu dienen, die mißverständliche Rede abzuwehren, daß das erkennende Bewußtsein der Gesetzlichkeit seines Gegenstandes "unterliege" oder von ihr "bestimmt", "beherrscht" oder "beeinflußt" werde. Erkenntnis ist kein Computer, der nach bestimmten, ihm einprogrammierten Gesetzen funktioniert. Das erkennende Wesen sieht, was ist und wird gerade deshalb nicht "dazu bestimmt", zu sagen, was ist. Es sagt: "dies ist so" und bindet sich gerade deshalb nicht in irgendeiner physisch oder ontologisch zu verstehenden Weise an das so Seiende. Nicht es "unterliegt" seiner Gesetzlichkeit, sagt es doch vielmehr von der Sache, daß sie ihr unterliege. Indem es dies sieht, entzieht es sich ihr und erfahrt, daß es nicht seine eigene ist. Es beachtet die Gesetze der Sache, indem es auf sie achtet, womit seine absolute Differenz zu ihnen schon ausgedrückt ist, die in seiner Indifferenz ihnen gegenüber begründet ist. Differenz und Indifferenz werden unmittelbar erfahren, sofern das erkennende Wesen bewußt sieht, daß der Gegenstand so und so bestimmt ist und diesen bestimmten Gesetzen unterliegt. In diesem seiner selbst bewußten "Sehen daß" ist also schon

2. Abschn.: Die Selbstdarstellung der bewußten Erkenntnis

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die Erfahrung angelegt, daß die infrage stehenden Bestimmungen oder Gesetze nicht die eigenen, sondern die der Sache sind: die Erfahrung der eigenen Unabhängigkeit von der Sachgesetzlichkeit, um die es dem Erkennen jeweils geht. So hat es auch keinen Sinn, von einem "Einfluß" des Gegenstandes auf mich als erkennendes Wesen zu sprechen. Weder "folge" ich seinen Gesetzen noch werde ich von ihnen "beeinflußt". Vielmehr sehe ich sie und bin mir kraft und im Vollzug des seiner selbst bewußten Sehens, das sich Rechenschaft über sich gibt, der absoluten Distanz bewußt, die mich vom Gesehenen trennt. Gegenstand bleibt in diesem Verhältnis gerade das, was mich nicht bestimmt oder affiziert. Ich folge seinen Gesetzen nicht und werde nicht von ihnen beeinflußt. Ich sehe sie und bin mir über dieses Verhältnis, daß ich sie sehe, im klaren. Wenn ich sage: "ich sehe den Gegenstand und seine Gesetze", so ist darin eingeschlossen, daß ich sie sehe als das andere meiner selbst, so daß sie in dem scheinbaren Verhältnis der Bestimmung zugleich das bleiben, was mich gerade nicht bestimmt. Deshalb ist es auch irreführend, zu sagen, daß der Sachverhalt das erkennende Wesen zur Zustimmung "nötige". Dieses sieht vielmehr, daß er gar nicht anders sein kann. Es sieht die in ihm vorhandene "Nötigung", aber gerade deshalb wird es nicht selbst genötigt oder gezwungen, ihm zuzustimmen. Wiederum entsteht der Anschein der Nötigung nur, wenn man die Zustimmung als eigenen Akt von der Einsicht in den Sachverhalt trennt oder auch nur unterscheidet und damit das Wesen des Erkennens als Sehen verfehlt. Würde das erkennende Wesen in irgendeiner Weise die Gesetze der Sache als Eigenschaften oder Bestimmungen seiner selbst an sich erfahren, denen es unterliegt oder von denen es affiziert wird, oder wären sie im Sinne der "transzendental-subjektivistischen" Erkenntnistheorie aller Spielarten eher Ausdruck des Subjektes als der Sache, dann würde es sich nicht nach ihnen richten. "Sich-nach-der-Sache-richten" ist eine phänomenologisch erfahrbare Eigenschaft und zugleich eine Wesenseigenschaft jeder Erkenntnis, ohne die sie gar nicht gedacht werden kann. Bei der schon erreichten Erkenntnis ist sie nicht als besondere Aktivität zu erfahren, weil diese Erkenntnis schon im Besitz der infrage stehenden Sache ist und sich insofern nicht mehr eigens nach ihr zu richten braucht. 5 Aber auch im Erkenntnisprozeß kann die im Wesen des Erkennens liegende und somit elementare Erfahrung, daß ich mich nach der Sache richte, durch Faktoren verdeckt werden, die wiederum nicht psychologischer Natur sind, sondern ebenfalls in der Natur des Erkennens hier des Erkenntnisprozesses - begründet sind! Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens kann das, wonach ich mich richte, das Allervertrauteste und Einsichtigste sein wie z. B. die Gesetze der Logik, so daß es mir gar nicht zum Bewußtsein kommt, daß ich mich nach etwas richten muß. Daher kommt es immer wieder 5 Trotzdem ist es sinnvoll, ja unbedingt notwendig, zu sagen, daß sich jede Erkenntnis nach ihrem Gegenstand richtet und an ihm ihr Maß hat, denn wir müssen so die Erfahrung umschreiben, daß die Dinge mir ihr Sein diktieren und Erkennen nichts anderes als Entdecken ist.

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zu dem Eindruck, es handele sich - insbesondere bei den logischen Gesetzen - um eigene Gesetze des erkennenden Wesens selbst: um Denk- und nicht um Sach- und Seinsgesetze. A fortiori entsteht der gleiche Eindruck beim Sittengesetz, sofern es mir nicht willkürlich von außen auferlegt ist, sondern meiner vernünftigen Natur entspricht. Bin ich vollends im Besitz der Tugend als einer im Sinne des aristotelischen Tugendbegriffes festen Gewohnheit zu sittlichem Handeln, das mir zur "zweiten Natur" geworden ist, dann empfinde ich das Sittengesetz erst recht nicht mehr als etwas, nach dem ich mich richten müßte, sondern als innerstes Gesetz meiner Spontaneität. Umgekehrt ist es mit uneins ichtigen, "blinden" Zwangsgesetzen, die mir willkürlich von außen auferlegt werden. Hier erfahre ich sehr deutlich, daß ich mich nach ihnen richten muß. Dennoch hat die Vertrautheit mit den Gesetzen des Erkennens, die das Bewußtsein verdekken kann, daß ich mich nach ihnen richte, einen ganz anderen Ursprung als die mit dem Sittengesetz, das mein eigenes Streben nach Vollkommenheit und einem vernünftigen Leben ausdrückt. Sie beruht gerade nicht darauf, daß sie meine eigenen sind, sondern ganz im Gegenteil darauf, daß ich sie in ihrer einsichtigen und überzeugenden Kraft sehe. Sie stellt sich mir dar und offenbart sich mir. So sind die Gesetze der Logik keine Denk-, sondern Seinsgesetze. Sie beruhen nicht auf der psychischen Unmöglichkeit, daß mein Denken in eine Identitätskrise geraten könnte, sondern auf der Unvereinbarkeit von Sein und Nichts. Der zweite Grund, der die Erfahrung verdunkeln kann, daß der Erkenntnisprozeß ein ständiges Sich-richten nach etwas ist, ist nur eine Variante des ersten! Er wäre in der Art zu suchen, wie das Erkennen nicht selten fortschreitet. Sehr oft besteht sein Fortschritt darin, daß es immer tiefer in eine Sache hineindringt. Sie ist ihm vertraut, wenn auch in vielem noch unbekannt. Es lebt schon in ihr. Es ist die Sachgesetzlichkeit, nach der es sich richten muß, um Neues an ihr zu entdecken. Aber da es dieselbe ist, mit der es ohnehin schon lebt, erfährt es nicht, daß es sich tatsächlich nach ihr richten muß, um zu immer neuen Entdekkungen zu gelangen. Auf der anderen Seite aber, so können wir im ausdrücklichen Vorgriff auf Abschn. 3,1 sagen, ist diese lebendige Beziehung, die darin besteht, daß ich mich nach einer bestimmten Sachgesetzlichkeit richten muß, um das Ziel des Erkenntnisprozesses zu erreichen, auch wiederum darauf angelegt, selbst zum Bewußtsein zu kommen. Jeder Versuch, ein Ziel zu erreichen, führt ja notwendig zu der Frage, mit welchen Mitteln das möglich ist. In unserem Falle bedeutet das, daß ich immer wieder die Frage stelle, nach welchen Gesetzen der Sache ich mich richten muß, um ihre noch unbekannten Aspekte zu erreichen und ob ich mich schon bisher in der rechten Weise nach ihnen gerichtet habe. So führt dieser Vergleich meines Sich-richtens mit dem gesuchten Ziel, der ein inneres Moment jeder Erkenntnisbewegung ist, zum Selbstbewußtsein des Sich-richtens, in dem die Differenz zwischen dem erkennenden Wesen und dem, wonach es sich richtet, nunmehr auch ausdrücklich als solche erfahren wird. Indem ich einsehe, daß ich

2. Absehn.: Die Selbstdarstellung der bewußten Erkenntnis

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mich nach dieser bestimmten Gesetzlichkeit der Sache richten muß, wenn ich das Ziel erreichen will, erfahre ieh damit zugleich, daß ich dies nicht schon aus eigenem tue. So wird die Selbsterfahrung des Sich-richtens auf der einen Seite dadurch angestoßen, daß ich es bewußt auf das Ziel hinordnen und als Mittel einsetzen muß. Auf der anderen Seite aber gerade dadurch, daß es sich hier nicht um ein beliebiges "Mittel zum Zweck" handelt, das ich nach Gebrauch wieder aus der Hand legen und vielleicht auch durch ganz andere ersetzen kann, die dieselben Dienste tun. Eine solche Zweck-Mittel-Beziehung ist ausgeschlossen, wenn ich einsehe, daß es von der Struktur der Sache her gefordert ist, so und nicht anders voranzugehen, um zum Ziel zu kommen. Denn ich sehe nun ausdrücklich, daß ich mich nach dieser Gesetzlichkeit richten muß, weil sie in ganz bestimmter, einsichtiger und überzeugender Weise mit dem gesuchten Ziel verbunden ist. Es wird in dieser Erfahrung ausdrücklich ausgeschlossen, daß ich "einem eigenen inneren Gesetz folge", weil ich bewußt sehe, daß der Zusammenhang von der Sache her überzeugend und notwendig ist. Damit bricht hier wie von selbst die Erfahrung der unauthebbaren und absoluten Differenz zwischen dem erkennenden Wesen und dem, wonach es sich richtet, auf. Ohne sie wäre es unmöglich, daß ich mich überhaupt bewußt nach etwas richte, und damit wäre auch jeder Erkenntnisfortschritt unmöglich. So ist auch in diesem bewußten Sich-richten notwendigerweise die Erfahrung der Freiheit und Indifferenz des erkennenden Wesens angelegt, von der wir gesprochen haben. Ich ergreife den Zusammenhang zwischen Sachgesetzen und Erkenntnisziel, weil ich mit ihrer Hilfe dieses Ziel erreichen will. Gewiß besteht er unabhängig von mir in seiner inneren Notwendigkeit, aber gerade deshalb lasse ich mich von ihm - in wohlzuverstehender Weise - "beeindrucken", weil ich mir dieses Ziel gesetzt habe. Die freie Zuwendung, die in dem "sichrichten-nach" liegt, ist die gleiche, in der ich mich bereitwillig meinem Gesprächspartner öffne und auf ihn hinhöre, um mich von ihm überzeugen zu lassen.

Kapitel 4: Der Kontakt zu den Dingen § 1: Der Ansturm der Dinge und die bewußte Erkenntnis

Die Ansicht von der Indifferenz einer jeden Erkenntnis gegenüber dem Gegenstand und der Selbsterfahrung dieser Indifferenz aber scheint auf den ersten Blick mit einer anderen, für die Erkenntnis und ihren hinnehmenden Charakter typischen Erfahrung zu kollidieren. Machen wir nicht gerade die gegenteilige Erfahrung, daß die Sache auf uns eindringt, um uns in geradezu spürbarer Weise zu beeindrucken und so ihre Erkenntnis in uns zu bewirken? Damit meinen wir natürlich nicht das Problem einer wie immer gearteten vorbewußten Bestimmung und Disposition des Erkenntnisvermögens durch die Dinge, die als ontische Voraussetzung ihrer Gegenwart im Bewußtsein angesehen werden muß. Sondern

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

es geht hier allein um die Frage, ob es eine phänomenologisch faßbare Einwirkung der Dinge auf das Bewußtsein gibt und wie sie aussieht. Von ihr allein sprechen wir. Eine vor- und außerbewußte Einflußnahme der Dinge auf das Subjekt steht nicht zur Debatte, weil sie naturgemäß in keiner Weise phänomenologisch faßbar ist und sich außerhalb des zu sich selbst gekommenen, bewußten Erkenntnisaktes bewegen würde, der hier unser Thema ist. Tatsächlich brauche ich nur die Augen aufzumachen. Schon stürmen die Dinge auf mich ein und genau das erfahre ich auch. Aber was ist eigentlich genau in dieser Erfahrung enthalten? Die bewußte Erkenntnis jedenfalls sieht auch die Dinge, die auf sie einstürmen, in der unaufhebbaren Distanz des Gegenüber, in dem auch dieses Beeindrucken und Affizieren als ihre ureigene Eigenschaft erfahren wird: als etwas, was aparte rei bleibt, wenn auch in der Weise, daß es auf mich zukommt. So aber erfährt sie die infrage stehende Einwirkung sogleich als Eigenschaft der mir gegenüberstehenden Dinge, von denen sie ihre "Eindrücke empfängt". Daher ist auf der einen Seite durchaus daran festzuhalten, daß auch die bewußte Erkenntnis im unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit steht und ihn als solchen erfährt: die ganze Eindringlichkeit, mit der diese auf mich einstürmt. Auf der anderen Seite aber sieht sie diese Eindringlichkeit immer schon als die der Dinge. Daß' sie ihre Einwirkung auffaßt, bedeutet so nichts anderes, als daß sie immer schon die auf sie einwirkenden Dinge als solche erblickt und ihnen daher eo ipso gegenüber bleibt in der souveränen Distanz der ihrer selbst bewußten Erkenntnis. In ihr erfährt sie wiederum ihre eigene Indifferenz und damit auch ihre absolute Differenz zu den Dingen. 6 Was also heißt es anders, daß die Dinge mich bestimmen, als daß ich bewußt auf sie und ihre Gegenständlichkeit achte? Sie erscheinen einfach. Sie treten neu in mein Blickfeld. Sie sind nunmehr für mich da und stehen mir plötzlich vor Augen. Falls es mir langsam dämmert, muß ich mich anstrengen und genauer hinsehen, bis sie schließlich in voller Klarheit in ihren scharf umrissenen Konturen vor mir stehen. Mein "Bestimmtwerden" durch sie besteht also einfach darin, daß ich Gelegenheit erhalte, sie als das zu erfassen, was sie sind. Gewiß erfahre ich, daß die Dinge mir ihr Sein diktieren und ich insofern von ihnen abhängig bin. Aber indem ich sie als sie selbst erfasse, erfahre ich auch die eigentümliche Rückbeziehung dieses Diktates. An ein erkennendes Wesen gerichtet ist es nichts anderes als ein Sichzeigen der Dinge, das mit ihnen zusammenfällt. Sie werden gesehen als das, was sie sind: als sie selbst. Man müßte, um der einzigartigen Sachlage gerecht zu werden, sagen: sie diktieren sich selbst. Ihr Diktat ist rückbezüglich, was auch mit dem Begriff der Selbstdarstellung ausgedrückt werden kann.

6 Vgl. jedoch in Abschn. 10,2 unsere Darstellung des Zusammenspiels von Erkenntnis und Erlebnis.

2. Abschn.: Die Selbstdarstellung der bewußten Erkenntnis § 2: Veränderungen der Dinge -

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Veränderungen der Erkenntnis

Auf der anderen Seite scheint jedoch die Einwirkung der Dinge dort von unabweisbarer Eindringlichkeit und Unmittelbarkeit zu sein, wo der Strudel ihrer Veränderung auch das Bewußtsein ergreift. Die Hektik des Geschehens affiziert auch den Betrachter und teilt sich ihm mit. Die Schnelligkeit, ja überhaupt die Abfolge der Ereignisse, denen er zugewandt ist, bestimmt auch den Rhythmus seines geistigen Lebens. Umgekehrt sprechen wir mit Recht von der "Meeresstille des Gemüts", wenn uns etwa der Anblick des sonnenüberglänzten, wie in verzauberter Ruhe daliegenden unermeßlichen Meeres ganz gefangen nimmt oder wenn wir zu den ewigen, schneebedeckten Gipfeln emporblicken, deren majestätisches Schweigen sich uns mitteilt! Das alles hat nichts mit Psychologie zu tun und mit der Binsenweisheit, daß Lärm und Hektik uns nervös machen, während uns Stille gut tut und selbst in dieser oder jener Form still werden läßt! Vielmehr stoßen wir schon hier ganz deutlich auf die Ambivalenz der Offenheit des Erkennens und Erkenntnisvermögens, die mit ihrer in der bewußten Erkenntnis zum Vorschein kommenden Indifferenz zusammenfällt. Auf der einen Seite ist es richtig, daß wir in den Strudel der Veränderung hereingerissen werden. Das ist gerade in der Offenheit und Indifferenz des erkennenden Subjektes begründet, das als solches der betreffenden Sache nichts eigenes entgegenzusetzen hat, ihr vielmehr gänzlich ausgeliefert ist und sie gerade deshalb so hinzunehmen vermag, wie sie an und für sich ist. Und so geht es hier nicht um die Tatsache, daß das Getriebe der Dinge in dieser oder jener Weise unser psychisches Befinden affiziert, sondern darum, daß es uns in sich selbst unmittelbar gegenwärtig wird, weshalb es gar keines psychologischen Transmissionsriemens bedarf, um auf uns einzuwirken, und er außer Betracht bleiben kann, wenn es ihn gibt. Auf der anderen Seite aber setzt die Erkenntnis der Veränderungen voraus, daß das erkennende Subjekt, um sie erfassen zu können, gerade nicht in sie hineingezogen wird und nicht an ihnen teilnimmt. Denn es sieht ja, daß es die Sache ist, die neue Bestimmungen empfangt und alte abwirft und sich mithin verändert. Würde es sich parallel dazu auch verändern, dann könnte es die Veränderung gerade nicht als Eigenschaft der Sache wahrnehmen: genau so wenig, wie es möglich wäre, eine ausgedehnte Fläche als solche wahrzunehmen, wenn das Bewußtsein Teile hätte, die denen des wahrgenommenen Gegenstandes koexistieren würden. In der Weise der Erkenntnis offen sein für Veränderungen bedeutet also gerade, sie dort zu sehen und zu lassen, wo sie sind: nämlich in der Sache, die als in Veränderung befindlich wahrgenommen wird. Und das gilt a fortiori von der bewußten Erkenntnis, denn hier erfährt das erkennende Subjekt ausdrücklich, daß es die Sache ist, die sich verändert und mir diese Veränderung mitteilt. In obliquo, d. h. ohne den unmittelbaren Blick zur Sache zu unterbrechen, ist in dieser Erfahrung auch immer schon die weitere enthalten, daß es selbst nicht das ist, was sich verändert, sondern vielmehr diese Veränderung - in der Weise der Erkenntnis - nur hinzunehmen hat!

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

Auf einem anderen Blatt stehen natürlich die ganz realen Veränderungen des erkennenden Subjektes im Rahmen seiner Erkenntnistätigkeit, seines Erkenntnisprozesses, den wir im folgenden Abschn. 3,1 betrachten werden. Soviel dürfte jetzt schon deutlich sein, daß der ständige Übergang zu immer neuen Formen des Suchens und Nachdenkens nicht einfach vom Objekt "bewirkt" wird. Vielmehr gehen dieser Wechsel und diese Veränderungen, die das Subjekt in seiner Erkenntnistätigkeit an sich erfährt, allein auf es selbst und sein Ziel zurück, einen je neuen Blick auf die Sache zu erreichen. Daß diese die Erkenntnistätigkeit in ihrer "Reaktion" und ihrem Verlauf "bestimmt", bedeutet also nur, daß das Subjekt sich von ihr ansagen läßt, was es zu tun hat, um sie noch besser zu erblicken. Was in jeder Erkenntnis so ist, wird in der bewußten deutlich erfahren. Das Subjekt sagt sich: ich muß dies oder jenes tun, um die Sache, so wie sie sich mir anzeigt, zu erreichen! § 3: Der Käfig des Bewußtseins und die bewußte Erkenntnis

Ohne daß unsere Ausführungen irgendeine erkenntnistheoretische Absicht haben und auf die Geltungsfrage eingehen wollen, sind auch wir hier bei der alten Vexierfrage der Erkenntnistheorie angelangt. Wenn der Realismus recht hat und Erkenntnis tatsächlich Anschauung und Hinnahme der Wirklichkeit ist, dann muß ich irgendwo den Einfluß der Dinge erfahren, ihre Einwirkung auf mich als erkennendes Subjekt, denn es ist doch gerade diese Einwirkung, in der sie ihre subjektunabhängige Existenz bezeugen! Auf der anderen Seite ist auch diese Einwirkung - soll sie überhaupt wahrgenommen werden! - immer schon als bewußte Einwirkung und damit als Gegenstand der Erkenntnis, als "Vorstellung" gegeben, und so scheint es, daß wir selbst hier aus dem Käfig des Bewußtseins nicht herauskommen! Dazu können wir als Phänomenologen nur sagen, daß die Erkenntnis gewiß durch vorbewußte Faktoren vermittelt sein mag. Aber diese haben im Sinne vermittelter Unmittelbarkeit die Aufgabe, uns die Sache selbst in ihrem "An-und-Für-sich-sein" vor Augen und damit gegenüberzustellen. Von Anfang an ist hier die deutlich erfahrbare Distanz da, die zu jeder Erkenntnis gehört, und sie hat zwei Seiten: die Offenheit und Hinnahmebereitschaft für die Sache, die es allein ermöglicht, daß sie als sie selbst gegenwärtig wird und die einer jeden Erkenntnis wesenhaft eigene Intention, auf die Dinge zu gehen, wie sie an und für sich und damit - negativ umschrieben - gerade nicht Teil meiner selbst sind! Das haben wir oben zum Ausdruck gebracht, als wir sagten, daß wir nicht die Einwirkung der Dinge auf uns, sondern immer schon die einwirkenden Dinge als solche erfassen. Vor allem müssen wir hier zwei wichtige Unterscheidungen beachten, um gerade im Hinblick auf die bewußte Erkenntnis der scheinbaren Schwierigkeit zu entgehen, daß uns die Dinge immer nur als bewußte, niemals aber in sich selbst gegeben seien. "Bewußt" ist von ihnen gerade, daß sie an und für sich

2. Abschn.: Die Selbstdarstellung der bewußten Erkenntnis

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sind. "Ich bin mir ausdrücklich ihrer Gegebenheit bewußt" heißt also: "ich erfasse sie ausdrücklich, wie sie mir gegenüberstehen und deshalb von mir gesehen werden". Die ihrer selbst bewußte Erkenntnis erfährt also die Dinge nicht als Vorstellungen oder als "bewußtes Sein", wenn dieser Begriff überhaupt einen Sinn haben sollte, sondern bewußt als das Sein, das sie sind. Sodann ist hier die Unterscheidung zu beachten, auf die wir schon zu Beginn dieses Abschnitts aufmerksam gemacht haben. Die bewußte Erkenntnis ist trotz des auf sich bezogenen Charakters, den ihr bewußter und zu sich selbst gekommener Vollzug einschließt, keine Reflexion, die als besonderer, neuer Akt den unmittelbaren Zusammenhang von Erkenntnis und Wirklichkeit unterbrechen würde, indem sie sich über ihn erhebt, um ihn zu betrachten. Sie hat also nichts mit einer Reflexion zu tun, wie sie Husserl beschrieben und gewollt hat, die - selbst aller Einwirkung der "mundanen Sphäre" entzogen - ihren Zusammenhang mit dem Bewußtsein betrachtet. § 4: Husserls Begriff der Reflexion

Bekanntlich läßt sich nach Husserl das erkennende Bewußtsein von der Wirklichkeit nur mit Hilfe eines eigenen Aktes der Reflexion angemessen erfassen, der sich über es und damit auch über den unmittelbaren Zusammenhang dieses Bewußtseins mit der Wirklichkeit erhebt, um ihn zu betrachten. Sie "vollzieht" das Bewußtsein von der Welt nicht mehr mit. Sie stellt sich nicht auf seinen Standpunkt, um sich mit ihm der Wirklichkeit auszusetzen und so jene einzigartige Erfahrung der auf mich eindringenden und dennoch in ihrer Distanz verbleibenden Dinge zu machen, die wir beschrieben haben. Sie macht nicht die zugleich unmittelbare und doch ihrer selbst bewußte Anschauung der Dinge ausdrücklich, indem sie sich ihr aussetzt und dabei auf das achtet, was in ihr geschieht. Vielmehr erhebt sie sich über den Zusammenhang Bewußtsein-Welt, um ihn unvoreingenommen zu betrachten. Doch eine solche Reflexion, die den Bereich der unmittelbaren, den Dingen zugewandten Erkenntnis verlassen hat, um sie nur noch zu betrachten, ist natürlich schon im Ansatz so konstruiert, daß sie, falls sie überhaupt möglich wäre, die Wirklichkeit nur noch als bewußte in den Blick bekommen würde. Die Dinge könnten ihr nur noch als Korrelate des Bewußtseins erscheinen. Denn sie ist nicht auf sie gerichtet, wie sie unabhängig vom erkennenden Subjekt diesem ihr Sein diktieren, sondern wie sie bereits Gegenstände des Bewußtseins sind. Ihr würden die Dinge immer schon als gesehene und erkannte begegnen. Selbst die Druck- und Nahtstelle, in der die Welt über mich hereinbricht und mir ihre Eindrücke gibt, würde sogleich als bewußte oder aufgefaßte Eindrucksstelle erscheinen und somit nicht als das, was sie ist: Zeugnis einer von mir unabhängigen Wirklichkeit. Diese Reflexion würde die Dinge also nicht mehr erfahren können, wie sie mir gegenüberstehen und mir ihr Sein gerade in diesem Gegenüberstehen als das ihre diktieren, sondern nur noch als "Bewußtseinsinhalte".

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

So würde die Welt nicht mehr gesehen, wie sie ist, sondern nur noch, wie sie bewußt oder gegeben ist. Daß eine solche Reflexion, die von ihrem Standpunkt aus gar nicht mehr aus dem geschlossenen Kreis des Bewußtseins herauskommt, der Weg zur Erkenntnis des Bewußtseins und seines Anspruchs als Erkenntnis der Wirklichkeit sein soll, läßt sich daher nur aufrechterhalten, wenn das "esse" mit dem "percipi" gleichgesetzt wird. Phänomenologie, die sich dieser Reflexion zur "unvoreingenommenen" Erforschung des erkennenden Bewußtseins bedient, schlägt daher eo ipso in Idealismus um. Ganz ohne Zweifel ist Husserl durch sein Ideal einer voraussetzungslosen und umfassenden Reflexion auf die "Felder", "Domänen" und "Regionen" des Bewußtseins zu seinem Idealismus gekommen, der alle Dinge als Korrelate und schließlich dann als "Leistungen" des Bewußtseins ansieht. T. W. Adorno hat mit Recht darauf hingewiesen, daß der Phänomenologe, der auf diese Weise die weiten Felder des Bewußtseins inspizieren will, eine fatale Ähnlichkeit mit dem Geologen hat, der in aller Ruhe seine Gesteinsformationen besichtigt. So steht Husserls Konstruktion der Reflexion in scharfem Widerspruch zu dem tiefen Begriff der Erkenntnis als Anschauung, den er ursprünglich im Einklang mit der phänomenologischen Schule entwickelte. In Abschn. 5,2, in dem wir die Problematik der Reflexion behandeln,werden wir auf diesen Widerspruch zurückkommen, der darin besteht, daß die Anschauung die Sache selbst gibt, während eine Reflexion im Sinne Husserls sie eo ipso als Korrelat des Bewußtseins betrachtet. Dieser Widerspruch wird besonders augenfällig, wenn wir die Reflexion als "epoche" dem Bewußtsein einsichtig notwendiger Sachverhalte gegenüberstellen. Auf der einen Seite die Entdeckung von in ihrer Evidenz absolut zwingenden Sachverhalten, auf der anderen Seite der Versuch, diese Entdeckung in der distanzierten Haltung der "epoche" zu betrachten! Für Husserllöst sich der Widerspruch indessen, weil er schon früh den Begriff des intentionalen Bewußtseins als eines erkennend erschauenden durch den des transzendental "leistenden" ersetzt, wobei hier nicht der Ort ist, zu entscheiden, ob diese transzendentale Konzeption der Intentionalität schon beim frühen Husserl angelegt war. Mit dieser Umdeutung der Erkenntnis als transzendentaler Leistung hat die Reflexion nun tatsächlich ein Thema erhalten, das genau zu ihr als Betrachtung des Bewußtseins und der Dinge als seiner Korrelate paßt. Nun entspricht die Konstruktion des Zusammenhanges von Bewußtsein und Welt genau der der Reflexion. Sie "sieht" nun, wie Sein, Sinn und Bedeutung der Dinge im Bewußtsein und kraft des Bewußtseins entsteht. Nach allem kann gegen Husserl nicht eingewandt werden, daß er zu viel, sondern daß er zu wenig Phänomenologe gewesen ist. Er kam nicht zum Idealismus, weil er Bewußtsein und Erkenntnis zu einseitig als Phänomenologe und zu wenig als Ontologe und Metaphysiker betrachtet hat, wie ihm besonders von neuscholastischer Seite vorgeworfen worden ist, sondern weil er die Phänomenologie der Erkenntnis nicht radikal genug durchgeführt und nicht auf dem insistiert

2. Abschn.: Die Selbstdarstellung der bewußten Erkenntnis

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hat, was Anschauung von sich selbst her ist. An Stelle der unbefangenen Betrachtung des Phänomens der Anschauung und damit der Erkenntnis schlechthin als der Norm aller weiteren Deutungsversuche hat er Konstruktionen wie sein Modell der Reflexion und des ,,reinen", transzendentalen Bewußtseins gesetzt. Hätte er seine ursprüngliche Phänomenologie der Erkenntnis als Anschauung ganz ernst genommen, wäre er nie zum Idealismus gekommen.

Kapitel 5: Die Paradoxie der bewußten Erkenntnis Mit den Analysen dieses Abschnitts haben wir die paradoxe Struktur des Erkennens sichtbar gemacht, die darin besteht, daß es sich in dem Maße von der Sache distanziert, in dem es zu sich selbst kommt, seiner selbst bewußt wird und sich so vollendet. Zunächst ist nur die Sache gegeben und die Erkenntnis geht darin auf, sie zu präsentieren. Die bewußte Erkenntnis sieht sie sodann ausdrücklich als ihre Norm und ihren Grund und damit als das andere, an dem sie nur den Anteil hat, es zu erblicken. Erkenntnis vollendet sich also in dem Maße, in dem das eigene Befangensein in ihr aufgehoben wird. Das Bewußtsein ist um so weniger es selbst, je mehr es nichts anderes als Bewußtsein der Sache und so sehr darin befangen ist, sie zu präsentieren, daß es phänomenologisch nichts anderes als sie ist. Zwar haben wir oft genug hervorgehoben, daß auch dieses Bewußtsein schon Erkenntnis ist. Es ist nicht einfach "bewußtloses Bewußtsein", dem die Sache gegenwärtig ist und das doch nicht realisiert, daß es sich um sie handelt. Denn sie präsentiert sich auch hier schon als in ihrer Bestimmtheit von allem unterschiedenes Wesen, und daher ist in dieser Erkenntnis auch schon die Distanz zur Sache gegenwärtig, wenn auch die beiden Pole der Distanzbewegung: "erkennendes Wesen" und "Sache" noch nicht als solche erfahren werden. Damit das geschieht und die Erkenntnis sich ihrer selbst im Verhältnis zum Gegenstand bewußt wird, muß dieses In-sich-Sein und Unterschiedensein der Sache als solches ausdrücklich bewußt gemacht werden. Auch in der einfachen, noch nicht zu sich gekommenen Erkenntnis muß also das erkennende Wesen, bildlich gesprochen, die Sache von sich weghalten, um sie als diese so und nicht anders bestimmte zu erfahren. Das aber schließt nicht aus, sondern weist im Gegenteil schon daraufhin, daß das Bewußtsein im gleichen Maße Erkenntnis ist, indem es diese Distanzierung von der Sache ausdrücklich macht. Immer dann, wenn wir sagen: "es kommt mir zum Bewußtsein", ja schon dann, wenn wir nur sagen: "ich weiß!" sprechen wir diese Distanzierung aus, die jede vollkommene Erkenntnis kennzeichnet. Die ausdrückliche Erfahrung der Distanz des erkennenden Subjektes zur Sache, die in dieser Formulierung zum Ausdruck kommt, aber ist nichts anderes als die Entfaltung der Grunderfahrung: "als erkennendes Wesen nicht die Sache sein", die für jede Erkenntnis konstitutiv ist.

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

Dritter Abschnitt

Die Selbstdarstellung des Erkenntnisprozesses

Erster Teilabschnitt

Die Erwartung des Gegenstandes Kapitel 1: Offenheit und Erkenntnisprozeß In den bisherigen Analysen sind wir vom fertigen Erkenntnisakt, der ,,Erkenntnis in esse" ausgegangen, die ihren Gegenstand schon in Besitz hat. Wir sahen, daß im einfachen Erkenntnisakt die allem Erkennen zugrundeliegende Offenheit und Hinnahmebereitschaft nur als ein Moment oder eine Seite der Hinnahme selber, und das heißt ja des Erkenntnisaktes faßbar ist. Die Hinnahme wird sogleich als die der bestimmten Sache erfahren, um die es geht, und so wird auch die Offenheit nur in dem der Sache zugewandten intentionalen Vollzug und nicht in sich selbst erfahren. In der bewußten Erkenntnis wird sie hingegen ausdrücklich als Voraussetzung dieser Hinnahme erfahren. In einer ganz neuen Weise - sozusagen als in sich schwebendes und für sich bestehendes Vermögen - aber ist sie im Erkenntnisprozeß gegeben, den wir hier insoweit betrachten, als es darum geht, die Art und Weise dieser Gegebenheit zu fassen. Deutlich lassen sich zwei Formen unterscheiden, in denen die Offenheit des Erkenntnisvermögens in der Gewinnung von Erkenntnissen zum Vorschein kommt und erfahrbar wird: einmal als ermöglichender Grund und als weitertreibende Kraft des Erkenntnisprozesses und sodann als das, was wir das Vermögen des Blickfanges nennen würden: die Fähigkeit, sich für das je Gegebene nach eigenem Gutdünken je und je neu zu öffnen. Diesen beiden Formen sind die folgenden Teilabschnitte gewidmet.

Kapitel 2: Die leitende Intention des Erkenntnisprozesses Natürlich ist der Erkenntnisprozeß genau so unmittelbar auf die Sache gerichtet wie die zur Vollendung gekommene Erkenntnis. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß in seinen verschiedenen Formen jeweils ein Moment der Reflexion enthalten ist. Denn die Tätigkeiten des Kombinierens, Kolligierens, des Ansetzens von Hypothesen und möglichen Lösungen müssen stets mit dem angestrebten Ziel verglichen werden! Mit ihm stimmen wir sie ab und ändern aufgrund dieses Vergleiches unser Verfahren. Wir gehen mit uns zu Rate, wie wir am besten

3. Abschn.: Die Selbstdarstellung des Erkenntnisprozesses

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weiterkommen, und all das erfordert Akte der Reflexion. Ohne sie wäre die Überlegung, wie die Sache erreicht werden kann, gar nicht möglich. Dadurch wird jedoch die unmittelbare Hinwendung zur Sache in keiner Weise beeinträchtigt. Denn auch diese Reflexion ist VOn der Absicht umgriffen, den Sachverhalt zu entdecken, den die Untersuchung zunächst nur im Vorgriff hat. Ihm allein sind alle Tätigkeiten des Nachdenkens zugewandt! In diese Intentionalität ist auch die Reflexion ganz und gar hineingenommen. Die Denktätigkeiten sind nur in obliquo ihr Thema, weil sie nicht in sich selbst, sondern nur in ihrer Eignung für das Ziel der Untersuchung zur Debatte stehen. So gleicht die Reflexion einem Handwerker, der seiner Arbeit nur insofern zugewandt ist und sie beachtet, als sie der Herstellung des Produktes ·gilt.

Kapitel 3: Meinung und Verifikation In unserem Zusammenhang interessiert vor allem das Moment der Verifikation, das dem Nachdenken, der Untersuchung eigen ist. Was mit ihm gemeint ist, wird vor allem in jenen Formen des Denkens und Überlegens deutlich, die kein neues Erkenntnisziel anstreben, sondern die bisherige Erkenntnis nur bestätigen wollen. Zwar gibt es auch eine Art der Entdeckung, die - allein dem Sachzusammenhang zugewandt - immer tiefer in ihn hineindringt und ihn damit eo ipso als sich integrierende und ergänzende Einheit erfährt, ohne überhaupt die Absicht zu haben, eine vorgefaßte Meinung zu bestätigen. Auch in ihr werden Meinungen und Erwartungen darüber aufgebaut, wie es weitergeht, I und so kann auch eine solche Erkenntnisbewegung als Verifikationsprozeß bezeichnet werden, der das Ziel hat, die leitende Meinung von der Sache zu bestätigen: ganz davon abgesehen, daß die Bestätigung oder Widerlegung einer bislang für richtig gehaltenen Erkenntnis oft nur durch Neuentdeckungen gesichert wird. Im engeren Sinne aber I Husserl hat den Vorgang, in dem die Seiten einer Sache sich gegenseitig ergänzen und bestätigen und so schließlich zur Deckung kommen oder sich auflösen, im Hinblick auf die Sinneswahrnehmung im einzelnen beschrieben. Gehe ich um den Tisch herum, so ergänzen sich die einzelnen Aspekte, die ich in jeder Phase des Wahrnehmungsprozesses erfasse und bestätigen mir, daß es tatsächlich der Tisch ist, den ich ständig vor mir habe. Umgekehrt können sich die einzelnen Aspekte des Tisches, die ich im Fortgang des Wahrnehmungsprozesses erfasse, gegenseitig widersprechen und dann löst sich die Dingeinheit auf, die ich zuerst schon wahrgenommen hatte. Ich entdecke eine Baumgruppe und beim Näherkommen stelle ich fest, daß es sich um ein Dorf handelt. Gegen Husserls Beschreibung ist nichts einzuwenden unter der Voraussetzung, daß man sie nicht transzendentalphilosophisch versteht. Der Gegenstand der Erkenntnis wird nicht als dingliche Einheit allererst in einem Identifikationsprozeß konstituiert, sondern die einzelnen Seiten, die ich nacheinander wahrnehme, bestätigen meine Entdeckung, daß es sich um diese bestimmte Sache handelt, die als diese und keine andere unabhängig von meiner Erkenntnis vorhanden ist, denn auf dieses An- und Fürsich-sein ist jede Erkenntnis gerichtet. Mit dieser Einschränkung trifft Husserls Beschreibung mutatis mutandis die formale Eigenart allen Erkennens als eines fortschreitenden Verifikationsprozesses.

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

sprechen wir vom "VerifIkationsprozeß", wenn die Bestätigung auch bewußt gesucht wird und die entsprechende Intention ausdrücklich am Anfang der Erkenntnis bewegung steht. Wonach aber suchen wir nun eigentlich, wenn es um die Verifikation in diesem unmittelbaren Sinne geht? Zweifellos liegt der ausdrücklichen Verifikation ein Vergleich zugrunde. Das ergibt sich schon aus der Logik der Überprüfung. Es liegt nahe, zu sagen, daß die bloße Meinung von der Sache mit ihr selbst verglichen werde. Dabei sollten wir jedoch gerade als Phänomenologen sorgfältig fragen, was unter dieser "Meinung" oder bloß meinenden Erkenntnis, wie sie schon der frühe Husserl genannt hat, zu verstehen ist! Zweifellos handelt es sich nicht um ein gewissermaßen in sich abgerundetes Vorstellungsbild oder Erkenntnisbild der Sache, das ich dann mit dem Original vergleichen würde! Mit einer solchen Auffassung würden wir wieder in die Abbildtheorie der Erkenntnis zurückfallen. Die Meinung ist vielmehr ebenso unmittelbar auf die Sache gerichtet wie die ausgewiesene Entdeckung. Auch sie hat nur die Sache und nichts anderes im Sinn und im Blick: keine Vorstellung, sondern nur sie! In anderer Weise stimmt hingegen das Wort, daß wir uns mit unserer Meinung "eine Vorstellung von der Sache machen". Doch ist diese kein Bild, sondern im Gegenteil wiederum nur die Sache, wie sie die Meinung im Blick hat und in gewisser, ihr eigentümlicher Weise auch schon vor sich sieht. In gewisser und uneigentlicher Weise, so wie sie in gewisser Weise auch schon Erkennntis genannt werden kann! Denn man darf durchaus sagen, daß die Sache in ihr im Vorblick, in einer bestimmten Art der Auffassung oder eben in jener irreduziblen Weise des bloßen Gemeintseins gegenwärtig ist, deren Verständnis wir uns nur im phänomenologischen Nachvollzug erwerben können! Dennoch muß diese uneigentliehe, im bloßen Vorblick bestehende "Gegenwart", ohne die die Meinung gar keine Kenntnisnahme wäre, scharf und klar von der wirklichen Gegenwart in Anschauung und Einsicht unterschieden werden. Daher kann der Vorblick oder Vorgriff der Meinung auch nicht einfach darin gesehen werden, daß in ihr schon die "Umrisse" der Sache gegeben seien oder daß sie mir "allmählich dämmert" oder ich sie schon im Ansatz vor mir sehe. Vielmehr unterscheidet sie sich durchaus von diesen Formen der anhebenden Anschauung, die nach dem Grundsatz "aut est aut non est" schon wirkliche Gegenwart der Sache ist. Dennoch ist auch sie auf ihre unnachahmliche Weise ein Vor-sieh-sehen der Sache und damit eine spezifische Art ihrer "Gegenwärtigung"! Aus all dem ergibt sich in der Tat, daß in der Verifikation die (gemeinte) Sache immer mit ihr selbst verglichen wird! Das gilt sowohl vom Idealfall, in dem die bloße Meinung schließlich in der anschaulich erfüllten Erkenntnis zur Deckung kommt wie auch von den typischen Formen der Verifikation, in denen sich eine Meinung durch ihren Zusammenhang mit anderen legitimiert. Genauso

3. Abschn.: Die Selbstdarstellung des Erkenntnisprozesses

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verhält es sich aber auch bei jenen typischen Fällen der Verifikation im engeren Sinne des Wortes, in denen mir die Sache zweifelhaft vorkommt, obwohl ich den Eindruck habe, daß sie mir wirklich gegenwärtig ist oder daß ich den betreffenden Sachverhalt wirklich einsehe! Die Möglichkeit dieses Zweifels ist ebenso wenig ein Argument gegen den Evidenzbegriff der phänomenologischen Schule wie die Existenz von Sinnestäuschungen gegen die Wahrheit, ja die prinzipielle Untrüglichkeit der Wahrnehmung spricht! Auch hier gilt die Analogie allen Erkennens mit dem sinnlichen Sehen ohne Abstriche! Wird mir eine Sache, die ich zu sehen oder einzusehen meine, zweifelhaft, so verschwindet sie nicht, sie verwandelt sich auch hier nicht in eine bloße Vorstellung, sondern bleibt so vor mir stehen, wie sie ist! Aber sie wird in der auf sie gerichteten Intention nunmehr mit einem Fragezeichen und dadurch eo ipso mit dem Zusatz versehen: "inquantum cognoscitur". Derjenige, dem sie plötzlich befremdlich und widerspruchsvoll erscheint, verwandelt sie damit nicht in einen bloßen Bewußtseinsinhalt, sondern versieht sie lediglich mit diesem Zusatz, daß sie von mir erkannt wird. Auch wenn sie sich schließlich als Fata morgana oder als bloßes Hirngespinst enthüllt, wird sie in dieser scheiternden Verifikation letzten Endes wiederum nur mit sich selbst verglichen. Genauer gesagt führt der Zweifel, den sie weckt, hier zu einem Rückstoßeffekt oder einer Umkehrung der natürlichen und wesensgemäßen Situation, die darin besteht, daß die bloße Meinung in der Anschauung zur Erfüllung kommt. Jetzt aber wird die Meinung, die ich davon habe, wie die Sache ist und sein sollte, zum Maßstab und zum Erwartungshorizont, an dem sich ihr Anschein messen lassen muß!

Kapitel 4: Erfahrung des eigenen "Nichts" Das Beispiel der enttäuschten Erwartung aber kann uns zum tiefsten Wesen allen bloßen Nachdenkens und Meinens führen, das als solches noch unterwegs zur Sache ist: offene Erwartung zu sein, die sich als bloßes Warten auf die Sache und damit als ihr "noch nicht" erfährt, in dem sie allenfalls in der Weise des bloßen Vorblicks gegenwärtig ist! Offensichtlich kann ja die Denktätigkeit, die schließlich zur Entdeckung führt, nicht einfach in dem Versuch bestehen, das, was zunächst nur unbestimmt im entdeckenden Vorgriff gegeben ist, näher auszu.füllen und zu konkretisieren. Dann würde der Erkenntnisprozeß einfach darin bestehen, den Leerrahmen der Sache näher und deutlicher auszufüllen! Aber wir haben schon gesehen, daß eine solche Deutung mit dem scharfen Unterschied zwischen bloßer Meinung und Gegenwart der Sache nicht zu vereinbaren ist! Wiederum ist hier auch zu berücksichtigen, daß es der Erkenntnis stets um die Sache in ihrer Bestimmtheit geht und damit gerade nicht um das, was sie im entdeckenden Vorgriff "schon" besitzt. Gerade weil sie auf nichts anderes als den bestimmten Gegenstand, die bestimmte Lösung, den Sachverhalt, so wie er wirklich ist, ·gerichtet ist, erfährt sie den ganzen Gegensatz zwischen dem, 5 Hoeres

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

was sie sucht und dem, was sie im entdeckenden Vorgriff schon besitzt. Gerade in ihrer leeren Unbestimmtheit hat sie noch nicht den gesuchten Sachverhalt und ist nicht dieser Sachverhalt! Das erkennende Bemühen "weiß", daß das, was es sucht, als bestimmter Sachverhalt besteht und damit als etwas, das mit dem, was es bereits in der Hand hat, keineswegs identisch ist. Indem es nach der Sache, wie sie ist, Ausschau hält und um ihre Existenz weiß - darin besteht der entdeckende Vorgriff - erfährt es seine Unbestimmtheit und Leere als sein eigenes "Nichts". 2 Denn die Sache wird gerade in ihrer Bestimmtheit gesucht und erwartet, ist aber in der Offenheit und Leere des Erkenntnisvermögens nur als X oder als Fragezeichen gegenwärtig! Auch ohne Reflexion, nämlich allein aufgrund der inneren Struktur des erkennenden Ausschau-Haltens wird es gerade indem es allein auf die gesuchte Sache und nichts anderes schaut - auf sich selbst zurückgeworfen und erfährt sich als offenes Nichts, das als solches noch nicht im Besitz des gesuchten Gegenstandes ist.

Kapitel 5: Selbständigkeit des suchenden Subjektes Damit haben wir die Selbsterfahrung der Erwartung präzisiert, die aller werdenden Erkenntnis eigen ist. Aber sie ist nicht nur die eines Vollzuges oder Ereignisses. Vielmehr ist in ihr bereits die Erfahrung des erkennenden Subjektes als eines selbständigen Wesens enthalten, das nur als solches der Sache gegenüberstehen, sie suchen und nach ihr Ausschau halten kann! 3 Diese Erfahrung wird selbst wieder durch die Intentionalität der Erwartung vermittelt, denn völlige Leere und Bestimmungslosigkeit wäre als solche niemals erfahrbar. Um einen Ausdruck Hegels zu variieren, erfährt sich das erkennende Wesen in der Erwartung als "bestimmtes Nichts", dessen Leere gerade von dem her erfahren wird, nach dem es Ausschau hält. Daher ist es kein Widerspruch, von der Erfahrung eines konkreten "Nichts" zu sprechen, das seine Konkretion als für sich bestehendes Wesen vom Gegenstand her erfährt, der sich der Erkenntnis noch versagt. Ist diese Erfahrung aber vom Gegenstand angestoßen, auf den sich die Erwartung bezieht, so erfährt es sich auch in sich selbst als "Nichts": als konkretes Wesen, dessen Bestimmung hier in der absoluten Bestimmungslosigkeit und Leere der Erwartung besteht. Beide Erfahrungen fordern sich gegenseitig: die des ,,noch nicht" des bestimmten Gegenstandes erschließt das Nichts des wartenden Wesens. Nicht nur, weil die Erwartung dem gesuchten Gegenstand als sein "Nichts" gegenübersteht, sondern auch weil sie Zustand ist und bleibt, erfährt sie sich gerade nicht als Geschehen oder Ereignis, sondern als wartendes Wesen. Im Warten der 2 Vgl. zu den Kautelen, mit denen wir hier in unserer phänomenologischen Untersuchung diesen Begriff verwenden, Abschn. 1 Kap. 3. 3 Ebenso können wir hier nicht nur von der "Sache", um die es der Erkenntnis geht, sondern vom "Gegenstand" sprechen, denn so wird er ausdrücklich in der Erwartung erfahren.

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Erwartung bleibt es sich selbst überlassen. Es verliert sich nicht so wie im selbstvergessenen Vollzug der Erkenntnis an die Sache und erfährt sich deshalb als das Wesen, das den gesuchten Gegenstand noch nicht besitzt. Nicht umsonst schließt der Begriff des Wartens den der Dauer ein. Auch deshalb erfährt sich das wartende Subjekt als ein konkretes Wesen, weil es nicht in wechselnden Zuständen und Geschehnissen aufgeht, sondern auf sich selbst zurückgeworfen und seiner selbst als "Nichts" inne werdend im Warten dauert. Damit kommt hier schon mit unüberbietbarer Deutlichkeit der ganze Unterschied zum Vorschein zwischen der Selbsterfahrung oder Selbstgegebenheit des suchenden und Ausschau haltenden Subjektes und der der einfachen oder auch bewußten Erkenntnis, wie wir sie im ersten und zweiten Abschnitt beschrieben haben. Bei der einfachen Erkenntnis sind Offenheit und "nichts der Sache" ohnehin nur als Moment des ganz in der Sache aufgehenden Erkenntnisvollzuges gegeben. Bei der bewußten Erkenntnis wird die Offenheit oder Indifferenz des erkennenden Subjektes zwar als Voraussetzung der Hinnahme der Sache erfahren, aber diese ist hier so gegenwärtig, daß das Subjekt ganz in ihr aufzugehen vermag, weshalb die Selbsterfahrung der Offenheit und des Subjektes als Momente einer wenn auch gegliederten Einheit, eines Gefüges gegeben sind. Erst hier erfährt das Subjekt seine eigene Offenheit in einzigartiger Weise in sich selbst, weil es nun nicht mehr so oder so in der Gegenwart der Sache aufgeht, sondern auf den Gegenstand wartet und damit nichts als leere Bereitschaft ist, die sich auch so erfährt! Man könnte einwenden, daß der Prozeß des Suchens und Nachdenkens von höchster positiver Aktivität und somit alles andere als leere Erwartung sei. Diese ist jedoch nicht nur Grund und Motiv des ganzen Prozesses, sondern auch in allen seinen Phasen gegenwärtig und treibt ihn an. Ihr Ziel bleibt es, die eigene Offenheit stets erneut auf der je höheren Stufe der Erkenntnis herzustellen. Ja, die Aktivität ist nichts anderes als die sich immer wieder für den Gegenstand sensibilisierende Rezeptivität, die sich jeweils für die Erfordernisse der Untersuchung bereitmacht. Im anderen Falle würde es sich gar nicht um Erkenntnistätigkeit, sondern um eine Form der Herstellung handeln, die ihr Ziel außerhalb ihrer selbst hat. Das Mißverständnis der Erkenntnis als einer aktiven Tätigkeit solcher Art liegt, wie schon in der Einleitung bemerkt, der Transzendentalphilosophie zugrunde, die sie nach dem Modell eines Produktionsvorganges interpretiert, der ein von ihm verschiedenes Produkt erzeugt. In diesem Sinne bleibt die Aktivität im Erkenntnisprozeß immer sein sekundäres Moment und nur eine Folge der Rezeptivität, von der sie geleitet wird. In seiner bestimmungslosen und empfangsbereiten Offenheit hält das erkennende Subjekt Ausschau nach dem Gegenstand und stößt schließlich auf ihn. Alle ,,Aktionen" und Kombinationen im Rahmen des Prozesses haben das Ziel, diese Offenheit zu schärfen und an ihr Ziel heranzuführen. Das erkennende Wesen erfährt sich als eine Hand, die einen Spiegel so herumzuführen sucht, daß sich 5"

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die Dinge in ihm reflektieren. Er ist zugleich Spiegel, der sie erleuchtet, aber doch nur, damit sie sich in ihm wiederfinden. Um die Offenheit des Erkenntnisvennögens, die sich gerade im Erkenntnisprozeß in so einzigartiger Weise zeigt, noch schärfer in Griff zu bekommen, ist es angebracht, diese Feststellungen über das Verhältnis von Rezeptivität und Aktivität ein wenig zu konkretisieren. Da das Subjekt zunächst nichts Bestimmtes vom Gegenstand weiß, muß es sich je und je auf ihn einstellen, sofern er sich im Vorgriff anzeigt oder in dieser oder jener Weise auftaucht. Sein "nichts" gegenüber dem Gegenstand ist noch so absolut, daß es auf der einen Seite allein von ihm zur Erkenntnis "bestimmt" wird, auf der anderen Seiten aber diese seine Abhängigkeit von ihm selbst in dem Maße erzeugen muß, in dem er sich jeweils anzeigt oder in Teileinsichten bereits gegenwärtig ist. Es muß also seine Einstellungen und Blickrichtungen und damit seine Weisen der Rezeptivität nach seinem eigenen Ennessen und Gutdünken hervorbringen. Die Macht über die eigene Erkenntnis ist gerade durch die totale Abhängigkeit der Untersuchung vom gesuchten Gegenstand gefordert, derentwegen sich das erkennende Wesen je und je von neuem nach ihm richten muß. Es muß selbständig auf ihn antworten, indem es sich für ihn disponiert und dies gerade deshalb, weil die Antwort in ihm selbst in keiner Weise apriori vorgegeben ist! Daher genügt es nicht, zu sagen, daß das erkennende Wesen seine Untersuchung "lenkt". Der Begriff bringt nicht angemessen zum Ausdruck, daß der abwesende und sich doch anzeigende Gegenstand immer wieder von neuem fordert, daß die bisherige Richtung des Blickens durch eine ganz andere ersetzt werden muß. Weit mehr als es bloße Lenkung wäre, muß das Subjekt gerade wegen seiner völligen Abhängigkeit vom gesuchten Gegenstand vollkommene Macht über die eigenen Akte haben, die wir auch ständig erfahren, wenn wir über den Gang der Untersuchung nach "unserem" Gutdünken und das heißt nach den Erfordernissen des Gegenstandes verfügen und immer neue Weisen der Einstellung hervorbringen, die der jeweils neuen "Sicht" der Sache entsprechen. So ergibt sich die absolute Verfügungsgewalt des Subjektes über die eigenen Akte paradoxerweise aus seiner absoluten Bestimmungslosigkeit, die der natürliche Grund dafür ist, daß es sich zur Erkenntnis allein vom Gegenstand her bestimmen lassen kann! Verfügungsgewalt aber bedeutet, daß es nach seinem eigenen, ihm anheimgestellten Ennessen, das sein Maß im vorgreifenden Blick auf den Gegenstand hat, die entsprechenden Akte und Blickrichtungen hervorbringen kann und gerade darin wieder seine eigene Selbständigkeit erfährt. So bilden die Erfahrungen der Offenheit, der in ihr enthaltenen Ausgeliefertheit an die Sache und der Selbständigkeit des erkennenden Wesens auf einzigartige Weise eine innere Einheit! Zum Schluß sollten wir den Augenblickscharakter hervorheben, der in jedem Falle den Übergang von der "nicht-Erkenntnis" zur Erkenntnis kennzeichnet und schon in jenen drei Wesenszügen der Erkenntnis anklang, die wir im ersten

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Abschnitt genannt haben: Überraschung, Neu-Entdeckung und Erfahrung zu sein. Wenn das erkennende Wesen sich wirklich als radikale Offenheit, ja als "Nichts" der Sache erfährt, dann kann sie ihm nur in einem einzigen Augenblick vor Augen treten. "Augenblick" meint nicht eine mehr oder weniger geringe zeitliche Erstreckung, also nicht den Moment, von dem wir sagen, es dauere "nur einen Moment", sondern den Wechsel vom Nichts der Leere oder Erwartung zur erfüllten Anschauung. Er ereignet sich, indem die Sache mit einem Schlage gegenwärtig wird. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob die Neuentdeckung krönender Abschluß suchenden Nachdenkens ist oder sich ganz unerwartet und in diesem besonderen Sinne "überraschend" einstellt - wobei immer daran festzuhalten ist, daß Überraschung zu jeder Entdeckung gehört, die sonst ganz überflüssig wäre. Einmal kommt der Augenblick, in dem die Sache erscheint und mir zum ersten Male begegnet, und dieses Ereignis überfällt mich allemal mit einem Schlage. Diese Einsicht, daß es kein mittleres gibt zwischen Gegenwart und NichtGegenwart, wird durch die Erfahrung bestätigt. Begegnet mir ein Wanderer im Walde oder auf einem Weg durch die Wiesen, so werde ich seiner plötzlich gewahr. Eben war er noch nicht sichtbar und jetzt sehe ich mich mit ihm konfrontiert. Und genau diese Erfahrung der Begegnung, in der ich mich unversehens mit der Sache konfrontiert sehe, mache ich bei jeder Neu-entdeckung, ja der Begriff der Begegnung ist vom Geschehen der Erkenntnis abgeleitet und hat hier seinen ursprünglichen Sinn. Daß der Gegenstand überraschend in das "Nichts" der Erkenntnis tritt, ist die Grundstruktur der Begegnung, die alle andere Begegnung ermöglicht. Der so erfahrene Augenblick ist für unseren Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Auch hier gilt, daß das erkennende Wesen in ihm zugleich seine Selbständigkeit wie auch die des Gegenstandes erfährt, der ihm als das andere gegenübertritt. In der Erfahrung der Begegnung ist notwendigerweise die der Selbständigkeit der sich Begegnenden enthalten. Aber auch diese Erfahrung ist wiederum in der des ,,Nichts" des erkennenden Wesens begründet, denn die Begegnung mit dem Gegenstand ist nichts als seine einfache Aufnahme, in der sich das erkennende Wesen als total ausgeliefert an ihn erfährt. Die totale Aufnahme als totales Erfülltwerden vom Gegenstand wird so zugleich als totales "Nichts" des erkennenden Wesens erfahren, durch das es von ihm ebenso scharf abgesetzt wie ihm gänzlich ausgeliefert ist.

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Zweiter Teilabschnitt

Die Fähigkeit, sich für die Dinge zu öffnen Kapitell: Offenheit und Fähigkeit, sich zu öffnen Die Offenheit als in sich faßbares Vennögen ist uns schon im Erkenntnisprozeß gegeben, in dem die Erkenntnis den Gegenstand erwartet. Sie wird hier als rezeptives Vennögen, als reine Hinnahmebereitschaft erfahren, wobei sie gerade in dieser Fonn als Erwartung und Ausschau-Halten die Aktivitäten des Erkenntnisprozesses stimuliert. Davon abgesehen aber enthält diese Hinnahmebereitschaft auch insofern schon ein Moment der Aktivität, als sie mit der Fähigkeit identisch ist, sich je und je von neuem für die Dinge zu öffnen. Sind doch Empfangsbereitschaft und aktive Fähigkeit, sich für sie zu öffnen, nur Aspekte ein und derselben Fähigkeit der Offenheit des Erkenntnisvennögens überhaupt. Das geht schon daraus hervor, daß auf der einen Seite die Aufnahme des Gegenstandes in diese Offenheit schon identisch ist mit seiner Erkenntnis und somit mehr und anderes ist als ein bloßes passives Geschehenlassen und daß auf der anderen Seite das scheinbar rein aktive Tun des Sichöffnens, das wir hier betrachten, immer schon ein "sich empfangsbereit-Machen", ein Raum-Geben für die hinnehmende Offenheit ist! In diesem Sinne kann man sagen, daß die Erfahrung der aktiven Kraft oder des aktiven Vennögens, sich für die Dinge zu öffnen, gerade auf dem Überschuß beruht, den die ihrer Natur nach grenzenlose Offenheit gegenüber allen einzelnen Dingen und Sachverhalten aufweist, für die sie sich sich je und je zu öffnen vennag. Zwar geht es im konkreten Falle immer darum, daß ich mich für diese bestimmte Sache öffne. Indem ich das tue, erfahre ich meine Offenheit selbstredend als ennöglichenden Grund gerade ihrer Gegenwart, der es mir erlaubt, sie hier und jetzt zu betrachten. Aber diese Erfahrung ist ihrerseits nur möglich, weil mir die zugrundeliegende Offenheit auch als radikale und unbedingte Offenheit gegeben ist, die sich als solche auf alles und jedes erstrecken kann! So wird sie in der Betrachtung der jeweiligen Dinge gewiß als Grund gerade ihrer Gegenwart erfahren. Aber diese Erfahrung ist selber nur möglich auf dem Grunde der Erfahrung, daß ich schlechterdings für alles und jedes offen bin. So erfahre ich die absolute Unbegrenztheit der Offenheit als Grund dafür, daß jetzt diese bestimmte, jeweilige Sache vor mir steht. Deshalb ist die Offenheit hier gerade nicht als etwas gegeben, was in der Sache aufgeht und durch sie sozusagen gesättigt wird, sondern als das, was sie in ihrer Kapazität grenzenlos übersteigt. Sie ist auf keines der Dinge, die erkannt werden, beschränkt und wird gerade deshalb in aller Erkenntnis als das erfahren, was ihr als Grund ihrer Möglichkeit auch in eigentümlicher Weise vorausliegt. Sie wird mit anderen Worten je und je von neuem als Vermögen oder Fähigkeit

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zur Erkenntnis schlechthin erfahren. Diese Erfahrung wird zwar durch die jeweilige Erkenntnis angestoßen oder aktualisiert. Erfahren wird dabei aber auch gerade die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Fähigkeit ihr gegenüber: eben die Tatsache, daß "unter anderem", weil die Fähigkeit für alles offen ist, nunmehr auch diese Sache hier gegenwärtig ist. Dabei ist das Wort ,,Fähigkeit" hier in einem ganz unmittelbaren Sinne des Wortes als dynamisches Vermögen zu verstehen, das durch seine Aktivität einen neuen Zustand, ein neues Geschehen, eine neue Ereignisreihe hervorbringt. Die Offenheit ist also nicht nur als Grund gegeben, der schon durch seine bloße Existenz die Gegenwart der Sache ermöglicht und trägt, sondern sie wird in der Hinsicht, in der wir sie betrachten, geradezu als Ursache der Gegenwart der Dinge erfahren! Auf der anderen Seite liegt es im Sinne unserer Ausführungen über die Identität der Offenheit für alle Dinge mit dem Vermögen, sich für diese neuen Dinge je und je zu öffnen, auch auf der Hand, daß die Unterscheidung von Grund und Ursache hier höchst relativ ist: geht es doch in jedem Falle um die Erfahrung, daß die neue - oder die schon vorhandene - Gegenwart der Dinge nur durch meine Offenheit für sie möglich ist. Stets wird die Offenheit als die Instanz erfahren, durch die die Gegenwart der Dinge möglich wird. Und diese Instanz ist die Kraft, sich für die je neuen, je interessierenden Dinge zu öffnen. Wenn in der großartigen Geschichte der abendländischen Erkenntnistheorie immer wieder vom Erkennen als einem "Vermögen" oder einer "Kraft" gesprochen worden ist, dann nicht, weil man es sich als eine Fähigkeit vorgestellt hat, an den Dingen herum zu hantieren oder sie allererst als Gegenstände der Erkenntnis zu konstruieren, wie das Kants "Räderwerk der Kategorien" mit dem Rohstoff der Empfindungen tut, sondern als Fähigkeit für sie - eben in der einmaligen Weise des Erkennens - offen zu sein: sie aufzunehmen.

Kapitel 2: Selbsterfahrung des Subjektes Freilich ist auch hier niemals so etwas wie eine isolierte Fähigkeit gegeben, sondern sie erfahrt sich als Vermögen des erkennenden Subjektes - natürlich wieder mit der Einschränkung, daß wir mit ihm nicht die konkrete Person des Menschen, sondern lediglich das erkennende Wesen als solches meinen. Schon der Zwang, von "meinem" Vermögen zu sprechen und davon, daß "ich" fähig bin, weist darauf hin, daß das Vermögen immer schon als das eines konkreten "etwas" erfahren wird, das sich fähig weiß. Die Erfahrung, die das Subjekt auf diese Weise von sich selbst gewinnt, unterscheidet sich deutlich von der im vorigen Teilabschnitt beschriebenen. Dort ging es um das Subjekt, wie es im Erkenntnisprozeß nach der Sache Ausschau hält und sie erwartet. Seine Selbsterfahrung wurde gerade durch den negativen Aspekt angestoßen, der die Offenheit kennzeichnet: das ,,Nichts" und damit auch das "noch nicht" der erkannten Sache zu sein. Hier aber erfahrt es sich selbst

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und seine Distanz zur Sache aufgrund des positiven Charakters, den die Offenheit ebenfalls hat, Vermögen zu sein, von dem die Gegenwart der Sache abhängt. Dort erfahrt sich das Subjekt nur als "bestimmte Negation" der Sache, nach der es ausschaut. Hier erfährt es sich hingegen "in sich selbst" als das, was zur Erkenntnis fähig ist und den Besitz der Sache herbeiführen kann. Im ersten Falle wird also die Selbsterfahrung der Sache nur möglich, weil sie noch nicht da ist; im zweiten Falle, weil das Subjekt immer schon in seinem Vermögen da ist. Beidesmal erfahrt es sich jedoch im unmittelbaren Hinblick auf die Sache. Im ersten Falle aber wird die Erfahrung des Subjektes durch den Hinblick auf die noch ausstehende Sache konstituiert, der umgekehrt im zweiten Falle durch das Subjekt konstituiert wird, welches weiß, daß er sich der Beliebigkeit seines Vermögens, sich zu öffnen verdankt! Dabei sind diese beiden Erfahrungen natürlich darauf angelegt, sich zu ergänzen und gegenseitig zu bestätigen: das Subjekt, das sich erfahrt, wie es nach der Sache Ausschau hält und das Subjekt, das sich erfahrt, wie es sie aufnehmen kann.

Kapitel 3: Selbsterfahrung der Fähigkeit § 1: Die Pulse des "ich kann"

Natürlich stehen die ,,Fähigkeiten", von denen wir sprechen, in keinem Zusammenhang mit den "Vermögen" der rationalen Psychologie. Vielmehr handelt es sich auch hier um eine einzigartige Erfahrung, die sich im unmittelbaren Vollzug der Erkenntnis ereignet und sich daher nur phänomenologisch beschreiben und nachvollziehen läßt. Beim jeweiligen Hinblick auf die Sache ereignet sie sich, um mit Husserl zu reden, in den einzelnen Pulsen des "ich kann offen sein und mich entdeckend öffnen". Sie ist dem Kraftbewußtsein vergleichbar, das mich im Blick auf einen schweren Gegenstand erfüllt, den ich mich zu heben anschicke. Indem ich mich zu meinem Tun stark fühle, erfahre ich meine Stärke auf ganz unmittelbare Weise als Grund der Handlung. Ebenso erfahrt der Sänger die Macht seiner Stimme und die Meisterschaft, sie zu beherrschen, im Gesang selbst und gerade dann, wenn er immer wieder neu einsetzt: nicht aber im Nachdenken über das Maß der Begabung, das sich gerade im Gesang selbst offenbart. Die Beispiele zeigen, daß es sich auch hier um eine gegliederte Selbsterfahrung handelt, in der die Fähigkeit nicht in sich, sondern als Grund oder Ursache dessen erfahren wird, was sie ermöglicht. Erfahren werden nicht das Kraftbewußtsein allein oder die Macht zu singen, sondern Macht und Kraft werden jeweils in cometo darin erfahren, daß das eine durch das andere geschieht oder geschehen kann. In unserem Falle werden die Fähigkeit zur Öffnung als Grund, ja als Ursache und die Gegenwart der Sache als Folge, ja als Wirkung erfahren.

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§ 2: Unmittelbarkeit und Erkenntnischarakter der Selbsterfahrung

Was nun die Einzigartigkeit unserer Erfahrung betrifft, so wird hier die Schwierigkeit besonders fühlbar, mit der die Phänomenologie generell zu kämpfen hat. Was sie sichtbar macht, läßt sich nur in allgemeinen Begriffen - hier in denen von Grund und Folge, Ursache und Wirkung - mitteilen, die den einmaligen, unwiederholbaren Charakter der gemeinten Verhältnisse nicht treffen. Die Schwierigkeit zeigt sich gerade hier ganz deutlich in dem für sie typischen Doppelaspekt. Auf der einen Seite ist das besondere Moment, das wir erfahren, wenn wir uns für die Dinge öffnen und sie uns daraufhin gegenwärtig werden, mit dem Hinweis, daß es sich um ein typisches Grund-Folge- oder sogar UrsacheWirkung-Verhältnis handelt, in gar keiner Weise getroffen. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob die Unmittelbarkeit der Erfahrung nicht gesprengt oder aufgehoben wird, wenn wir sie immer schon im Lichte der Kategorien "Grund- Folge", "Ursache-Wirkung" begreifen oder interpretieren. Auf den ersten Blick scheint die Lösung der Schwierigkeit auch hier ganz einfach darin zu liegen, daß die Wahrnehmung ohnehin begrifflich vermittelt oder begriffene Anschauung ist, wobei allerdings stets hinzuzufügen wäre, daß auch dieses Begreifen auf Einsichten zurückgeht, so daß sich an der phänomenologischen Grundthese vom Primat der Anschauung nichts ändert. In diesem Sinne scheint also auch die Selbsterfahrung, in der die Fähigkeit, sich für die Dinge zu öffnen, als Grund ihrer Gegenwart gegeben ist, je schon von der Einsicht in das Wesen von Grund und Folge umgriffen, die sich an diesem konkreten Fall entzündet und ihn andererseits als Zusammenhang von Grund und Folge allererst begreiflich macht. Diese Einsicht würde die Erfahrung der aktiven Fähigkeit als solcher ebenso mit konstituieren wie etwa die Einsicht, daß es sich um einen Hund und damit ein Tier handelt, immer schon in die Wahrnehmung des jeweiligen Hundes eingegangen ist. In unserem Falle scheinen sich die Momente der unmittelbaren Hinnahme und des Begreifens jedoch nicht in dieser zwanglosen Weise zu einem einzigen Akte der Erkenntnis zu integrieren. Geht es doch hier um die Selbsterfahrung der Erkenntnisfähigkeit, die sich den Dingen zugewandt für sie öffnet und ganz und gar nicht die Absicht hat, sich dabei selbst im Wege einer Reflexion zum Thema zu machen! Wie aber soll eine Einsicht möglich sein, die die Fähigkeit, sich für die Sache zu öffnen, als Grund und deren Gegenwart als Folge begreift, wenn sie dem Erkenntnisakt, um den es geht, nicht ausdrücklich zugewandt ist und damit seine der Sache zugewandte Blickrichtung kreuzt oder unterbricht? Denn eine solche Reflexion scheint wirklich kein konstitutives Moment der unmittelbar auf die Sache gerichteten Erkenntnis zu sein, sondern den Rahmen dessen zu sprengen, was man als Selbsterfahrung bezeichnen kann. Das Bedenken beruht indessen auf der falschen Annahme, daß es sich auch bei der Selbsterfahrung des Erkennens um eine Art von gegenständlicher Wahr-

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nehmung handelt, die als solche natürlich durch Einsichten ergänzt werden kann, welche den wahrgenommenen Gegenstand auf neue Weise erschließen. Tatsächlich aber ist in der genannten Selbsterfahrung das, was erfahren wird, von der Erfahrung selber gar nicht zu unterscheiden. Beides ist in ihr so sehr eins, daß sie gar keinen eigentlichen "Gegenstand" hat. Das ist keine ontologische Interpretation, sondern selbst wieder unmittelbar erfahr- und nachvollziehbar. Das erkennende Subjekt oder die Erkenntnis haben sich nicht selber zum Gegenstand, sondern erfahren sich und ihre Fähigkeit umgekehrt nur, indem sie von sich hinweg auf einen solchen blicken. Ich "erfasse" also nicht, daß ich durch meine Fähigkeit, mich für die Dinge zu öffnen, Grund ihrer Gegenwart werde, sondern ich "bin" im unmittelbaren, der Sache zugewandten Erkenntnisvollzug als dieser Grund gegenwärtig. So liegt es in der Eigenart dieses Verhältnisses zwischen dem Sichöffnen und der Sache, die dadurch gegenwärtig wird, daß wir erfahren, was es mit ihm auf sich hat, indem wir ganz einfach in ihm leben und es praktizieren. Um zu verstehen, wie das möglich ist, müssen wir an das erinnern, was wir zu Beginn von Abschnitt 2 über die Selbsterfahrung von Erkenntnis und erkennendem Subjekt gesagt haben. Von ihr kann nur insofern die Rede sein, als sie die Gegenwart der Sache nicht stört, sondern vielmehr dazu beiträgt, sie zu ermöglichen, so daß die Selbstgegenwart des erkennenden Subjektes stets die der Sache mit konstituiert. In unserem Falle wäre so die Selbsterfahrung des Vermögens, sich jederzeit für die Dinge öffnen zu können, immer schon ein Moment oder die Kehrseite der Erfahrung, daß es wirklich diese Dinge in sich selbst sind, auf die wir entdeckend stoßen und die wir durch unsere fortdauernde Fähigkeit zur Offenheit besitzen. Im Vollzug des "kraft der Öffnung" und "durch die Offenheit" erfahren wir also in besonderer Weise, daß es die Sache ist und nichts als sie, auf deren Gegenwart wir ,,kraft unserer Fähigkeit" zu stoßen vermögen. 4

4 Damit haben wir nur gezeigt, daß die Selbsterfahrung der Offenheit als eines Vennögens, die sich im unmittelbaren Erkenntnisvollzug ereignet, nicht wieder ein Akt der Erkenntnis ist, der das betr. Verhältnis ausdrücklich als das von Grund und Folge auseinanderlegt. Wie gesagt, wäre eine solche Erkenntnis nur im Rahmen einer eigenen Reflexion möglich, die sich auf den Akt der Erkenntnis, die in ihm zum Vorschein kommende Fähigkeit, sich für das Erkannte zu öffnen und ihre Selbsterfahrung richtet. Die Analyse dieser Reflexion wird im Abschn. 5,2 vorgenommen, in dem wir über ihre Möglichkeit sprechen werden. Dort wird sich auch zeigen, daß Reflexion ggf. nicht nur Unterbrechung, sondern auch insofern Verstärkung der Erkenntnis sein kann, als sie die eigene Offenheit ausdrücklich als Grund begreift, die Gegenwart der Sache zu ennöglichen. Schon im vorigen Teilabschnitt haben wir auf diese unverzichtbare Rolle der Reflexion für den Erkenntnisprozeß hingewiesen.

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Kapitel 4: Souveränität und Identität der Fähigkeit § 1: Offen für Zusammenhänge und Zusammenhangloses

Die besondere Art und Weise, in der sich das Subjekt gerade in seinem Vermögen, sich je und je von neuem für die Dinge zu öffnen, gegeben ist, steht in unverkennbarer Analogie zu jenen Akten und Verhaltensweisen, in denen wir auf eine ganz unmittelbare Weise unsere Selbständigkeit als Personen erfahren. Das Bewußtsein, daß wir selbständige, für sich bestehende Wesen sind, geht auf die Erfahrung unserer Identität im Wechsel der Dinge und Erlebnisse und der Macht zurück, die wir über unsere Akte haben. Nicht umsonst haben die großen Denker der Vorzeit gerade die Freiheit als Ausdruck und unmittelbare Kundgabe der Person des Menschen, d. h. ihres Charakters als eines selbständigen geistbestimmten Wesens dargestellt, und dies ist gerade dann von der Erfahrung eines jeden einzelnen her nachvollziehbar, wenn Freiheit im Sinne der Definition des Johannes Duns Scotus als "potestas sui ipsius" beschrieben wird: als die Macht, allein und nach eigenem Belieben diesen oder jenen Akt zu setzen, dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen, kurzum als Souveränität. In ihr erfahren wir uns also als selbständige Personen, wobei diese Erfahrung sorgfältig von der Frage zu unterscheiden ist, was diese Person ontologisch sei. Dabei ist es gerade der unauflösbare Zusammenhang von Identität und Freiheit, in dem wir uns als selbständige Wesen erfahren: die Tatsache, daß es dasselbe "Ich" ist, das sich jetzt für dies und dann für jenes entscheidet und diese Entscheidung allein in seiner Macht und seinem Belieben hat, so daß sie nur von ihm abhängig ist! Dabei liegt das tertium comparationis zwischen der Souveränität als Entscheidungsfreiheit und der "Freiheit" des erkennenden Subjektes auf der Hand! Im Blick auf die Dinge erfährt das Subjekt, daß es allein von ihm und seiner Fähigkeit abhängt, ob es dem oder jenem seine Offenheit zuwendet und so neue Dimensionen erschließt oder sich ihnen versagt. Selbstverständlich wird damit nicht bestritten, daß es nicht vom Erkenntnisvermögen allein abhängt, wem ich mich entdekkend zuwende. Der Zusammenhang von Wille und Erkenntnis bleibt in diesem Abschnitt unserer Ausführungen noch außer Betracht! Dennoch ist auch schon in der Erfahrung des Offenseins und Sichöffnens - ganz gleich, wodurch sie ihrerseits wieder gelenkt wird - das Bewußtsein der Beliebigkeit und des Spielraums enthalten: das Bewußtsein, als radikale Offenheit Vermögen der freien, souveränen Blickwendung zu sein. Von der Freiheit des Willens können wir sprechen, wenn wir die Erfahrung machen, daß unsere Entscheidung nicht durch die Motive bestimmt wird, sondern es vielmehr von uns abhängt, welche Motive wir herausgreifen und wählen. In Analogie dazu erfahren wir hier, daß unser Vermögen der Offenheit nicht durch die Dinge und ihren wie auch immer gearteten Zusammenhang eingeschränkt ist. Zwar können wir sie nicht anders sehen als sie sind, wohl aber hängt der

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Bereich und der Umfang dessen, was wir von ihnen sichtbar machen und was nicht, allein von unserer Fähigkeit und damit auch von unserem Belieben ab, sich für sie zu öffnen. So können wir sie in ihren Zusammenhängen betrachten, aber auch das Zusammenhanglose als solches thematisch machen! Gerade in der Möglichkeit, sich beliebig sowohl der Heterogenität völlig beziehungsloser Dinge wie auch einsichtig notwendigen Zusammenhängen zuzuwenden, erfährt das Subjekt in besonderer Eindringlichkeit diese seine Souveränität gegenüber den Dingen. Die Fähigkeit, das nicht Zusammengehörige dennoch zusammenzuschauen und in der Einheit eines Bewußtseins zu begreifen, hat nichts mit der technischpsychologischen, mehr oder weniger großen Enge oder Weite des Bewußtseins zu tun, die es erlaubt, in einem bestimmten Augenblick so oder so viele heterogene Dinge im Bewußtsein zu halten. Vielmehr ist auch hier allein das Wesensmoment des Erkenntnisvermögens als Offenheit und "Nichts" der Dinge der Grund dafür, daß ich sie trotz ihrer Heterogenität in der Einheit eines einzigen Bewußtseins zusammenfassen kann. Diese Fähigkeit wird allenfalls durch die technisch-psychologische Begrenztheit des Bewußtseins und damit durch Faktoren, die außerhalb seines Wesens als erkennendes "Bewußtsein von" liegen, beschränkt. Natürlich kann ich nur dann vom Zusammenhang der Dinge absehen, wenn sie nicht restlos durch ihn definiert und außerhalb seiner überhaupt vorstellbar sind. "Begreife" ich andererseits gänzlich heterogene Dinge in der Einheit eines Bewußtseins, indem ich sie zusammen betrachte, so ändere ich damit an ihnen nichts. Sie bleiben für mich das, was sie sind: völlig zusammenhanglos. Dennoch bringe ich sie in die Einheit eines Bewußtseins zusammen, weil dieses auch von ihrer Zusammenhanglosigkeit unberührt ist und sie so betrachten kann, als wären sie von sich aus als gegenständliche Einheit dazu prädestiniert, auch als ein Gegenstand zusammengeschaut zu werden.

§ 2: Kants Modell der Einheit des Bewußtseins

Ganz anders konzipiert Kant das Bewußtsein der Einheit des "Ich denke", das nach ihm in unbedingter innerer Entsprechung zu der des Gegenstandes steht. Zwar ist die Einheit des Selbstbewußtseins hier die transzendentale Voraussetzung der Möglichkeit aller gegenständlichen Erkenntnis. Sie ist "dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit, folglich, daß sie Erkenntnisse werden, ausmacht". 5 Aber obwohl sie als transzendentaler Möglichkeitsgrund aller Erfahrung vorausgeht, wird sie dennoch nicht in sich und für sich - sozusagen als Fähigkeit oder Eigenschaft 5 Immanuel Kant: Werke Bd. 1-12, Wiesbaden 1956 ff. (Theorie-Werkausgabe Suhrkamp), Bd. 3: Kritik der reinen Vernunft: Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (B) § 17, S. 139.

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eines für sich bestehenden Subjektes - erfahren, sondern in der Handlung der Synthesis, die die Einheit des Gegenstandes konstituiert. 6 Ergibt sich doch diese Auffassung von der Einheit des Selbstbewußtseins nicht aus der phänomenologisch verifizierbaren Sachlage, sondern allein aus den Voraussetzungen von Kants transzendentalem Ansatz. Einerseits ist der Gegenstand nicht einfach da. Er wird nicht einfach vorgefunden und entdeckt, sondern als gegenständliche Einheit allererst konstituiert. Andererseits ist auch das Subjekt als selbständiges, für sich gegenüber den Dingen bestehendes Wesen nicht einfach da, so daß es entsprechend erfahren werden könnte. Eine solche Erfahrung des eigenen Selbst als erkennenden Wesens hätte für Kant nur empirisch-psychologischen Charakter. Vielmehr "ist" das transzendentale Subjekt Inbegriff der die Einheit des Gegenstandes konstituierenden Möglichkeitsbedingungen oder synthetischen Funktionen, und daher handelt es sich bei der "transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins"? auch nicht um die eines absoluten, in sich vorfindbaren Subjektes, sondern um einen "Grundsatz", der angibt, daß sich in der Einheit der synthetischen, den Gegenstand konstituierenden Handlung zugleich die Einheit der Apperzeption ereignet. Somit ist diese zugleich Bedingung wie Ergebnis der Erkenntnis. Bedingung, denn die Erkenntnis kommt nur dadurch zustande, daß ich die Eindrücke, die zu ihr führen, in meinem Selbstbewußtsein vereinigen kann. Ergebnis, sofern ihre wesentliche Leistung nach Kant seltsamerweise nicht darin besteht, den Gegenstand tatsächlich zu "erkennen", nämlich ihn so aufzunehmen, wie er ist, sondern ihn aufgrund der Handlung der Synthesis allererst zu konstituieren. 8 Wenn also das Bewußtsein von der Sache und damit auch das des Bewußtseins selbst, das ihr als "ich denke" gegenübersteht, das Ergebnis der Handlung der Synthesis ist, dann wäre mein Bewußtsein ohne sie ein völlig disparates schizophrenes Gebilde: so zusammenhanglos wie die nicht durch die Synthesis geeinten Eindrücke oder Vorstellungen, deren Bewußtsein es wäre.

6 ,,Also nur deshalb, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle". Kant, § 16, S. 137. 7 Ebd., S. 136. 8 "Synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen als apriori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst, die apriori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht. Verbindung liegt also nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt und in den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern sie ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, apriori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste der ganzen menschlichen Erkenntnis ist." Ebd., S. 137/38.

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§ 3: Die Fähigkeit gegenüber den Dingen

Dieses zusammenhanglose Bewußtsein erleben wir in der Tat häufig genug. Wenn wir am Strand vor uns hindämmern, dann sind wir den wechselnden Eindrücken ganz hingegeben und verschmelzen mit ihnen zu einer ungeschiedenen Einheit, so daß unser Bewußtsein nur in ihrer diffusen Folge besteht. Aber der Weg von diesem diffusen zerstrputen Bewußtsein, das in der Vielzahl der Eindrücke aufgehend von sich selbst nichts weiß, geschweige denn zu der Erfahrung des "ich denke" kommt, führt nicht über so etwas wie eine konstitutive Synthesis, sondern über die Fähigkeit, aus dem Ausgegossensein an die pure Mannigfaltigkeit der Eindrücke in den Blick überzugehen, der sie als diese so bestimmten Dinge in ihrem "sie selbst" ins Auge faßt. Und dieser Blick hat aufgrund seiner inneren Logik die Tendenz, zur bewußten Erkenntnis zu werden, die die Dinge ausdrücklich als das erfährt, was ihr selbst in seiner so und so bestimmten Eigenart - als Zusammenhang oder als Zusammenhangloses gegenübersteht. Wiederum ist diese Erfahrung, wie wir gesehen haben, ihrerseits nur ein Aspekt der Erfahrung der Indifferenz und Selbständigkeit des Subjektes gegenüber den Dingen wie auch seiner Fähigkeit, sich jederzeit für sie zu öffnen. Indem sich das Subjekt so in der Erkenntnis eo ipso von den Dingen absetzt und in dieser Absetzbewegung seine eigene Identität erfährt, kommt es gar nicht in die Gefahr, die Kant beschworen hat: "denn sonst würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin". 9 Denn in Wirklichkeit kann ich mich in der Erkenntnis unterschiedslos auf dieses und jenes richten und bleibe doch immer das, was ich bin! Selbst wenn mir nur ein chaotisches Gefühl von Eindrücken gegeben wäre, bliebe ich, wenn ich es ausdrücklich als solches erkenne und nicht einfach "bewußtlos" in ihm aufgehe, durch den Abgrund des "Nichts" des Bewußtseins von ihm unterschieden und somit von ihm im Prinzip gänzlich unberührt. Das Chaos stünde vor mir und bliebe deutlich erfahrbar, weil es die Heterogenität sieht und gerade deshalb nicht in ihr verschwindet! Daher kann Erkenntnis nicht von vorneherein wie bei Kant auf Ordnung, Gestalt und Zusammenhang beschränkt werden, weil die Erkenntnisfähigkeit offen ist für alles. was ihr nur begegnen mag: ob es sich nun um ein Chaos von Eindrücken handelt oder um in begreifbarer Weise zusammenhängende Dinge. Es wird sozusagen von der Sache her entschieden, ob es sich um das eine oder andere handelt, und das erkennende Wesen, das diese Entscheidung hinnimmt, kann sich schon deshalb als das stets mit sich identische Vermögen der Hinnahme erfahren. Ja, man könnte sogar sagen, daß eine solche Selbsterfahrung gerade durch die diffuse Mannigfaltigkeit angestoßen wird, die dem Bewußtsein gegenübersteht, weil es angesichts ihrer doppelt eindringlich seine Identität mit sich selbst erfährt. Zudem wird es im Blick auf eine solche pure und brute Mannigfal9

Ebd., S. 137.

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tigkeit auf sich und damit wieder auf seine eigene Identität zu~ckgeworfen, wenn es mit ihr nichts anfangen kann und ihr mit der erstaunt ungläubigen Frage begegnet: "Was ist denn das?" Auch das ist kein psychologischer Aspekt, denn er ergibt sich aus dem Wesen des Erkennens als Entdeckens und als Begegnung mit der Sache. Das begegnende Ich erfährt sich notwendigerweise gerade dort als mit sich identisch, wo sein Gegenstand undurchdringlich bleibt. Habe ich es hingegen mit einem Zusammenhang wohlgeordneter und einsichtiger Sachverhalte zu tun, dann erblicke ich ihn nicht nur, sondern ich werde durch ihn eingeladen, den Möglichkeiten vielfältiger Einsicht zu folgen, die er bietet. Ich habe so nicht mehr die gleiche Veranlassung, meine Souveränität als Fähigkeit zu erfahren, sich allem und jedem zu öffnen, wie im ersten Fall. Ich gleiche dann nicht mehr einem Fremdling, der sich einer festbewehrten Burg gegenübersieht, in die er keinen Einlaß findet und die deshalb ein drohendes Gegenüber bleibt, sondern einem Gast, der eingelassen und in den Gängen und Räumen rasch heimisch wird. Auf der anderen Seite versteht es sich, daß auch Kants Begriff der synthetischen Einheit der Apperzeption - wenn auch "unbewußt" und im Widerspruch zu seinen transzendentalen Voraussetzungen - eine tiefe Erfahrung des Bewußtseins reflektiert, das sich in seiner Offenheit ihrer Ordnung angleichen und damit an ihrer Übersichtlichkeit teilhaben kann. Ordnung und Identität des Bewußtseins sind so tatsächlich die seines Gegenstandes. Die Sammlung und Harmonie des Geistes, die ich genieße, wenn ich ein weitverzweigtes und doch wohlgeordnetes Gefüge überblicke, ist unmittelbar die der Sache. Nichts deutet tiefer darauf hin als das Bild von der" assimilatio" des Erkenntnisvermögens an den Gegenstand, das immer wieder bei den großen Scholastikern auftaucht. Ebenso aber bleibt wahr, daß das Bewußtsein seine Ordnung und Identität ganz einfach auch schon der Fähigkeit, zu erkennen und zu entdecken, verdankt, deren Selbsterfah~ng ganz unabhängig ist von der Struktur des Gegenstandes. Diese Fähigkeit ist es, die "Ordnung in die Gedanken bringt", aber wiederum nicht im Sinne setzender Aktivität, sondern indem sie die Ordnung der Dinge eröffnet und damit eo ipso die Angleichung an sie bewirkt. In diesem Sinne ist die Erfahrung der Identität des Subjektes einerseits ganz unabhängig von der Sache, und andererseits beruht die Entsprechung zwischen ihr und dem Bewußtsein nicht auf der Handlung der Synthesis, sondern auf der Offenheit des Bewußtseins für ihre Struktur.

§ 4: Kants Modell und der Fortschritt der Wissenschaften

Es wäre allerdings noch zu fragen, ob das kantische Modell der Herstellung der Einheit des Bewußtseins durch die des Gegenstandes nicht zumindest den Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnis angemessen beschreibt, an deren Aufbau sich Kant bekanntlich bei seiner Deutung der Erkenntnis orientiert. 10 Beim Auf-

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

bau der Wissenschaft und ihrer systematischen Einheit ist es nicht einfach so, daß das Bewußtsein sich einer schon vorhandenen Ordnungs struktur in den Dingen angleicht. Vielmehr ist diese Einheit tatsächlich bis zu einem gewissen Grad Ergebnis der konstruierenden, Ordnung stiftenden Spontaneität des Verstandes, der sich bei diesem Tun der Denkmuster, Kategorien und Hypothesen bedient, die er immer schon mitbringt! Die Axiome, von denen die Wissenschaften ausgehen, sind zudem nicht ohne weiteres einsichtig wie die "prima principia" der alten Philosophie, sondern oft aus heuristischer Absicht konstruierte Hypothesen. Aber selbst wenn ein solches Verfahren von rein hypothetischen Setzungen ausgeht, ja in nichts anderem besteht als in der Konstruktion von idealen Modellen, so ist es doch niemals nur Setzung, sondern immer auch Entdeckung einsichtiger Sachverhalte und damit Erkenntnis im klassischen Sinne des Wortes. Denn selbstverständlich müssen alle solche Hypothesen, Theorien oder Modelle kohärent sein in dem Sinne, daß ihre einzelnen Momente in einsichtiger Weise zusammenstimmen und sich gegenseitig tragen und bestätigen. Damit ihr konstruierender Entwurf überhaupt möglich ist, muß er sich ständig auf diese Stimmigkeit seiner einzelnen Momente überprüfen lassen und sich damit wieder der Einsicht in objektive, wenn auch ideale Sachverhalte bedienen. Konstruiere ich eine Maschine, wobei das konstruierende Tun des Technikers dem des Naturwissenschaftlers in vielem vergleichbar ist, dann ist die Zusammensetzung ihrer einzelnen Teile zwar nicht an und für sich logisch und einsichtig, wohl aber unter Voraussetzung ihres Zwecks. Aber selbst wenn es sich um ein bloßes Räderwerk handelt ohne jeden anderen Sinn als den, daß es laufen und funktionieren soll, so müssen doch alle seine Teile so einsichtig ineinander gefügt sein, daß diese Funktion möglich ist! Auch hier handelt es sich also um die Entdeckung eines einsichtigen Gefüges, ohne die keine Theorie, keine Konstruktion möglich ist! So ist auch der Hinweis auf wissenschaftliche Verfahrensweisen nicht geeignet, Kants Begriff der Erkenntnis und der Einheit des Bewußtseins als Ergebnisse 10 Vgl. Herrnann Cohen (Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft. SupplementBand: Immanuel Kant. Sämtl. Werke PhB 126, Leipzig 1911, S. 56): "Die Einheit der Handlung ist zugleich, ist an sich die Einheit des Bewußtseins. Dies ist der Sinn der synthetischen Einheit des Bewußtseins. So erfolgt die Begründung der Kategorien in einem Grunde einer Einheit, welche unterschieden ist von der Kategorie der Einheit, nämlich in der Einheit des Bewußtseins. Und wiederum wird darauf hingewiesen, daß es nur der "menschliche Verstand" sei, der hierdurch bestimmt werde; unzweideutiger und sachlich treffender wäre es, wenn gesagt würde: der wissenschaftliche Verstand". Aber so richtig es ist, daß Kant eine Theorie der Möglichkeit des wissenschaftlichen procedere geben will, so braucht doch kaum erwähnt zu werden, daß jede verharmlosende Deutung der kantischen Erkenntnislehre, nach der es sich nur um eine Beschreibung des wissenschaftlichen Verfahrens handelt, nicht die Radikalität des kantischen Ansatzes trifft, nach der nicht nur die wissenschaftlichen Systeme, sondern auch schon die einfachsten Gegenstände der Erfahrung, alle Dinge, die uns begegnen, durch die Erkenntnis selber konstruiert werden. Der Grundsatz der Einheit der Apperzeption gilt nicht nur für die wissenschaftliche Erfahrung, sondern unumschränkt für alle Gegenstände überhaupt.

4. Abschn.: Staunen als Alternative

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einer Synthesis zu rechtfertigen. Auch hier ist es die Fähigkeit, je und je Zusammenhänge zu entdecken und sich für sie zu öffnen, die allein solche Theorieund Modellbildungen möglich macht. Ironischerweise bietet der Ansatz der kantisehen Erkenntnislehre selber das beste Beispiel für die relative Notwendigkeit und Einsichtigkeit eines solchen Apparates oder Modells. II Unter Voraussetzung der seltsamen Annahme Kants, unsere Erkenntnis hebe an mit einem Gewühl von Empfindungen und alle Verbindung und Ordnung stamme allein aus dem transzendentalen Subjekt, sind tatsächlich alle Schritte, die bis zur Herstellung der Einheit des Gegenstandes und damit zugleich des Bewußtseins führen, notwendig und einsichtig: angefangen von der Prägung der Eindrücke durch die Formen der Anschauung bis zum Ziel der Herstellung jener Einheit. Aber diese Notwendigkeit ist die eines Apparates, bei dem alle Funktionen ineinandergreifen müssen, um das gewünschte Produktionsziel zu erreichen.

Vierter Abschnitt

Staunen als Alternative Kapitell: Staunen als ursprüngliche Begegnung § 1: Weder Affekt noch einfach Erkenntnis

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten unserer Geistesgeschichte, daß sie durch machtvolle Eruptionen und Bewegungen des Staunens in Gang gesetzt und am Leben erhalten, doch über diesen ihren fortzeugenden Ursprung kaum je ernsthaft nachgedacht hat. Über das, was Staunen ist, gibt es seit den Zeiten der Griechen bis zu Max Scheler aphoristische Sentenzen oder fragmentarisch gebliebene Analysen, wenn man von dem Material absieht, das die empirische Psychologie beigesteuert hat und das für unsere Zwecke gänzlich ungeeignet ist. Und doch ist das Staunen, mit dem wir uns in diesem Abschnitt zu beschäftigen haben, eine ganz neue, ursprüngliche Form der Erkenntnis oder besser der Begegnung des erkennenden Subjektes mit den Dingen, die geeignet ist, neuen und vertieften Aufschluß über die eigenartige, ja seltsame Natur der Offenheit des Erkenntnisvermögens zu geben. Es ist keine Steigerung oder Fortführung der bisher beschriebenen Formen der Erkenntnis, der einfachen, der bewußten und des Erkenntnisprozesses, sondern es steht zu ihnen in einem konträren Verhältnis. Es ist Alternative und keine weitere Ausprägung der Hinnahme der Sache, wie wir sie bis jetzt beschrieben haben. Denn es liegt auf der Hand, daß gar keine Steigerung oder Intensivierung mehr möglich ist, wenn diese schon soweit 11 Vgl. unsere Hinweise in "Sein und Reflexion" (Forschungen zur neueren Philosophie und ihrer Geschichte 11), Würzburg 1956.

6 Hoeres

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gekommen ist, zu sagen: "ich weiß, daß sich die Sache so verhält!" oder: "so ist sie also, die Sache!" Eine neue, noch höhere Stufe der Bewußtheit ist gar nicht vorstellbar, wobei ohnehin, wie wir ausführten, der Begriff der Stufen auch beim Verhältnis der einfachen zur bewußten Hinnahme niemals dahingehend mißverstanden werden darf, als würde die zweite Stufe notwendig die erste zur Voraussetzung haben, da sich Erkenntnis sogleich und von Anfang an als einfache, aber auch als ihrer selbst bewußte Hinnahme vollziehen kann. Unsere Auffassung des Staunens hat mit zwei entgegengesetzten Mißverständnissen zu kämpfen, die jedoch nach dem Grundsatz: "les extremes se touchent" darin übereinkommen, seine Besonderheit als ursprüngliche und eigenständige Begegnung mit den Dingen zu leugnen. Auf der einen Seite wird uns versichert, Staunen sei nur eine "Emotion", eine bloß gefühlsmäßige oder affektive Reaktion auf befremdliche Dinge, nur ein "Stuporaffekt". Auf der anderen Seite heißt es, Staunen sei nur eine Form der Erkenntnis wie jede andere auch. Diese Auffassung ist indessen so handgreiflich absurd, daß sie kaum Anhänger gefunden hat, über deren Zahl die Vertreter der Affekttheorie nicht klagen können! Zwar ist das Staunen durchaus eine unmittelbare, intentionale Zuwendung zur Sache, in der sie in ganz neuer Weise erfahren wird, andererseits aber kein "bloßer Erkenntnisakt". Ginge es in ihm nur darum, das Merkwürdige als solches zu erkennen, dann wäre das kein Staunen, sondern nur die Feststellung, daß dies oder jenes ungewöhnlich ist. Doch der Ruf: "wie ist das möglich?" erlischt nicht im Fortgang des Staunens, sondern findet im Blick auf die Sache immer neue Bestätigung. So staunen wir etwa die Pyramiden, den Petersdom oder Landschaften von unaussprechlicher Schönheit unentwegt an: erstaunt darüber, "daß es so etwas überhaupt gibt". Und doch ist wiederum die staunende Verwunderung, mit der wir "das alles zur Kenntnis nehmen", nicht identisch mit weihevoller Stimmung oder dem ästhetischen Gefühl, Affekten also die sie vielmehr allererst fundiert.! Man wird hier einwenden, wenn schon das Staunen kein Erkenntnisakt oder nicht nur Erkenntnisakt sei, so baue es doch auf einem solchen auf und deshalb liege es schon nahe, es als eine affektive Antwortreaktion auf den einleitenden Erkenntnisakt zu begreifen. Denn zunächst müsse uns doch das Staunenerregende - etwa das Ungewöhnliche oder Befremdliche - gegeben sein, damit wir darüber in Erstaunen geraten können. Demgegenüber ist es von Anfang an das Staunen selbst, das den Gegenstand in der ihm eigenen Weise erfaßt, die es von allen Formen bloßer Erkenntnis unterscheidet. Indem es ihn erfährt, staunt es auch schon über ihn, wobei in der Einheit des Aktes Entdeckung der Sache und ! Rationalisten aller Art stoßen sich vor allem daran, daß sich das, was die Erfahrung des Staunens am Gegenstand zeigt, angemessen im Grunde nur durch den scheinbar tautologischen Hinweis definieren läßt, daß wir im Staunen den erstaunlichen Charakter der Sache erfahren. Erst im phänomenologischen Nachvollzug, dessen Erfahrungsgehalt wir schrittweise verdeutlichen, wird das Gewicht dieser Aussage faßbar.

4. Abschn.: Staunen als Alternative

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ihre Erschließung im Staunen ein einziges, ununterscheidbares Ganzes bilden. Zwar kommt es häufig vor, daß wir zunächst "unseren Augen nicht trauen" und dann nochmals genauer hinschauen, um uns zu vergewissern. Aber das ist kein Beweis dafür, daß wir die Sache oder gar ihre staunenerregende Seltsamkeit zunächst entdecken, um dann erst über sie zu staunen. Vielmehr entspringt das "sich-die-Augen-Reiben" und "die-Sache-genauer-Fixieren" bereits dem Staunen über sie! Davon, daß es Erkenntnis voraussetzt, kann allenfalls im Sinne der Binsenweisheit gesprochen werden, daß Staunen über etwas seine Kenntnis einschließt, die in unserem Falle immer schon das ausdrückliche Bewußtsein ist, daß die Sache sich so und nicht anders zeigt. Dieses Bewußtsein aber ist ein Moment des Staunens und kein Akt, der ihm vorausliegen würde. Der Anschein, daß dies der Fall sei, entsteht auch hier wie so oft in vergleichbaren Fällen einfach dadurch, daß wir uns das Phänomen des Staunens gar nicht in seinem Vollzug vergegenwärtigen, sondern es stattdessen sogleich aus einzelnen Komponenten im Zusammensetzverfahren nachkonstruieren wollen, wobei es dann regelmäßig auf der Strecke bleibt und sich zur bloßen Emotion verflüchtigt.

§ 2: Staunen kein Stutzen

Weil also Staunen mehr und anderes ist als bloße Erkenntnis, ist es zunächst einmal nicht mit dem Stutzen identisch, das ein inneres Moment des Erkenntnisprozesses ist und seinen Fortgang zugleich unterbricht und weiterleitet. Der infrage stehenden Sache zugewandt und in ihrer Gegenwärtigung aufgehend stutze ich, da sie nicht so ist, wie sie mir zunächst zu sein schien. Im gleichen Augenblick, in dem die Entdeckung nicht mehr weiter in sie hineinführt, sondern auf Widersprüche und Ungereimtheiten stößt, in die sie sich aufzulösen scheint, schlägt meine in sie versunkene Betrachtung in Befremden und infolgedessen in die bewußte Nachfrage um, ob sie wirklich so ist, wie sie sich darstellt. Aber dieses Stutzen hat natürlich die Tendenz, sich selbst überflüssig zu machen, sofern wir nun "erst recht" hinschauen, uns "eingehender mit dem Problem befassen" und so - etwa durch Entlarvung von Sinnestäuschungen oder Revision bisheriger Vorstellungen - für den in der Tat überraschenden Sachverhalt eine "ganz natürliche" Erklärung finden. So ist das Stutzen einfach Ausdruck der Tatsache, daß unser Erkennen ein Lernprozeß ist und sich ganz von selbst immer wieder an den Stolpersteinen entzündet, die sich ihm in den Weg legen. Deshalb ist vor jener Versimpelung des Staunens zu warnen, die es generell nur als solches, ganz natürliches, konstitutives Moment im Erkenntnisprozeß gelten läßt, das in seinem Fortgang auch wieder verschwindet. Diese Banalisierung, die auch fassungsloses Staunen zu einer im Grunde selbstverständlichen Reaktion von Lembeflissenen herabdrücken will, ist die natürliche Folge rationa6*

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listischer Aufklärung, die apriori schon weiß, was es geben kann und darf und daher nichts mit einem Staunen anfangen kann, das bleibt! Ihr gegenüber ist scharf zwischen dem Staunen zu unterscheiden, das bleibt, sich an der Sache immer wieder von neuem entzündet und an ihr immer wieder seinen Grund findet und jenem "Erstaunen", das einfach durch die neuen, sich scheinbar widerstreitenden Aspekte der Sache hervorgerufen wird, mit denen wir schon deshalb rechnen müssen, weil unsere Erkenntnis ein Fortschritt vom Bekannten zum Unbekannten ist - wenn auch diese Ergebnisse in ihrer konkreten Gestalt uns immer wieder überraschen.

§ 3: Abgrenzung von der Überraschung

Wichtiger ist es allerdings, Staunen von jener Überraschung abzugrenzen, die nicht nur ein transitorisches Moment des Erkenntnisprozesses, sondern konstitutiv für jede Erkenntnis ist! Sie beruht nicht darauf, daß ich die Dinge seltsam, ungewöhnlich und erstaunlich finde, sondern ganz einfach darauf, daß Erstaunen Entdecken ist und wir als entdeckende Wesen zunächst einmal nichts über sie wissen und dies auch im Vollzug der bewußten Erkenntnis ausdrücklich erfahren. 2 Sie beruht darauf, daß sie je von neuem in mein Blickfeld treten und ich immer erneut entdeckend auf sie stoße. Wäre Staunen mit der hierin liegenden Überraschung identisch, dann würde sich die staunende Entdeckung der Tatsache, daß es so ist, während es doch anders sein könnte,3 auf die schlichte Erfahrung reduzieren, daß wir vor der Entdeckung der Dinge nichts über sie wissen. Daher ist diese konstitutive Überraschung auch nichts anderes als die Erfahrung der Erkenntnisrelation, in der die bestimmungslose Offenheit die Sache immer als das erfährt, was prinzipiell neu und unvermutbar ist: auch wenn es hic et nunc noch so sehr vorauszusehen und altbekannt war. Der Unterschied zum Staunen läßt sich auch so fixieren, daß ich das eine Mal von der Sache überrascht werde, während ich sie das andere Mal in sich selbst überraschend finde. Staunend erfahren wir also nicht einfach, daß wir noch nichts über die Dinge wissen, sondern daß im Hinblick auf sie alles offen und möglich ist. Wir erfahren nichts über unser Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern etwas über sie selbst. Wollte man paradox formulieren, dann könnte man sagen, daß in der Sache kein Grund zur Überraschung vorzuliegen braucht, wenn ich von ihr überrascht werde, während umgekehrt der Akt des Staunens sie in sich selbst als Gegenstand der Überraschung und der Frage erfährt, warum sie so und nicht anders ist! Damit ist aber auch schon gesagt, daß es eine Überraschung im engeren Sinne des Wortes geben muß, die sich deutlich vom wesenhaften Überraschungscharak2

3

V gl. 1. Abschn. Kap. 2 § 1. Vgl. unsere Ausführungen über das Fonnalobjekt des Staunens unten Kap. 2 § 1.

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ter einer jeden Erkenntnis abhebt. Denn wenn alles zunächst in gleicher Weise überraschend ist, dann muß sich davon jene Überraschung abheben, die nicht schon mit dem prinzipiell unvennutbaren Charakter aller Dinge gegeben ist, sondern auf das antwortet, was hier und jetzt unvennutbar und erstaunlich ist! Sie ist durch fließende Übergänge mit dem Staunen verbunden, das mit ihr jedoch nicht unmittelbar zusammenfällt. Gibt es doch Gegenstände, die nicht unvennutet vor mir auftauchen und mich in diesem Sinne keineswegs überraschen und doch ihrer Natur nach ungewöhnlich und staunenerregend sind! So können wir etwa ganz programmgemäß zu den Pyramiden reisen und "erwartungsgemäß" in den Genuß ihres Anblicks kommen. Dann kann in diesem Sinne jedenfalls keine Rede davon sein, daß sie mich überraschen und doch tragen sie ihren Namen als "Weltwunder" zu Recht! Ich bin nicht überrascht, sie zu sehen und sie tauchen auch nicht unvennutet auf. Auf der anderen Seite aber kann man auch hier wieder sagen, daß wir nur deshalb über sie staunen, weil sie in sich überraschend sind! Nicht, daß sie unvennutet auftauchen, sondern daß ihre Existenz in sich gegen alle Vennutung ist, macht ihren überraschenden und erstaunlichen Charakter aus! Die tiefere Einheit von Überraschung und Staunen, die in dieser Rede zum Ausdruck kommt, zeigt sich am deutlichsten darin, daß jene den Auftakt zum Staunen bildet. In ihr werden wir bereits von dem staunenerregenden Charakter der Sache überwältigt, bevor wir noch im einzelnen anzugeben vennögen, wieso sie so staunenerregend ist. Das kann auch gar nicht anders sein: Läßt sich doch das Unvennutete und Unerwartete, dem Überraschung und Staunen zugeordnet sind, seiner Natur nach nur schlagartig in einem Akte von augenblickshafter Plötzlichkeit erfahren, der nichts mit stufenfönnig aufgebauten Erkenntnisprozessen oder gar dem N achdenken darüber zu tun hat, warum die Sache so überraschend ist. Indem das Staunenerregende auftaucht, "wirft es mich auch schon um". Es unterbricht den nonnalen Lauf der Erkenntnis und leitet die ganz neue Begegnung mit ihm im Akte des Staunens ein! Der instantane Charakter dieser Überraschung ergibt sich jedoch auch schon daraus, daß Staunen als intentionaler Akt ebenfalls Entdeckung der Sache wenn auch eine Entdeckung sui generis - und damit im Idealfalle Anschauung ist. Deshalb gilt auch hier, daß es zwischen der leibhaften Selbstgegenwart der erstaunlichen Sache und ihrer Abwesenheit nichts mittleres gibt, so daß sie auch hier einmal zuerst und insofern schlagartig auftaucht. Selbst wenn mir erst allmählich "immer klarer wird", wie seltsam und erstaunlich die Sache ist, muß dieses Staunen doch mit einem wenn auch noch so verhaltenen Paukenschlag der Überraschung beginnen, in dem ich zum ersten Male das Unvennutete als solches erfahre. So ereignet sich diese Überraschung schon deshalb instantan, weil sie ebenso wie das Staunen kein Affekt, sondern ebenfalls Entdeckung ist. Die psychologisch faßbare "Verblüffung", von der wir uns erst nach geraumer Zeit erholen, ist nur die Folge dieses in ihrem intentionalen Wesen begründeten instantanen Charakters der Überraschung.

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

Aber auch dann, wenn wir an dem Unterschied zwischen der Überraschung im engeren Sinne, die dem plötzlich und unvermutet vor uns Auftauchenden gilt, und dem Staunen festhalten, das dem von der Sache her Staunenerregenden zugeordnet ist, so ist es doch letzten Endes wieder ein- und dieselbe Verwunderung darüber, daß so etwas möglich ist, die in beiden Akten zutage tritt! Wenigstens für die Spitze eines Augenblicks ist es die gleiche Überraschung, mit der ich auf das reagiere, was gegen alle Erwartungen plötzlich vor mir auftaucht und auf das, was der Sache nach gar nicht erwartet werden konnte. Der Unterschied liegt darin, daß im ersteren Falle die Überraschung nicht zu einem Staunen führen muß, das bleibt und sich dauernd über die rätselhafte Sache aufhält. So wie ich mich vielmehr von meiner Verblüffung über das plötzliche Auftreten der Sache erholt und mir in dem erstaunten Ausruf Luft gemacht habe: "damit habe ich nicht gerechnet!", kann ich unversehens zur Tagesordnung übergehen. Die Überraschung kann aber auch in den bleibenden Akt des Staunens und der Verwunderung einmünden, wenn ich entdecke, daß ich nur deshalb mit der Sache so unverhofft konfrontiert werde, weil sie in sich selbst ganz anders ist, als ich dies mit Fug und Recht erwarten konnte. Dann ist sie eben doch darin fundiert, daß die Wirklichkeit "plötzlich" ein ganz anderes Gesicht zeigt, als ich dies voraussetzen konnte. Beispielsweise kann die Überra~'(:hung darüber, daß der Freund völlig unverhofft erschienen ist, in die staunende Entdeckung übergehen, daß er ein so seltsames und unberechenbares Wesen zeigt, wie ich es bei ihm niemals voraussetzen konnte.

Kapitel 2: Der Akt des Staunens § 1: Das Formalobjekt des Staunens: Staunen und Verwunderung

Damit stellt sich nun endlich die Frage, was im Unterschied zur normalen Erkenntnis und auch zur Überraschung das "Formalobjekt" des Staunens ist: die besondere Rücksicht, unter der es die Dinge erfährt oder anders formuliert, die spezifische Erfahrung, die es im Blick auf die staunenswerten Dinge macht. Um eine erste umschreibende Anwort geben zu können, müssen wir das Staunen als Verwunderung betrachten. Wollten wir den Unterschied von Staunen und Verwunderung in altehrwürdigen scholastischen Kategorien ausdrücken, dann könnten wir sagen, daß die ungewöhnliche, so oder so wunderbare Sache das Materialund die Tatsache ihres Bestehens Formalobjekt des Staunens sind. Aber die phänomenologische Phantasie, die uns Beispiele des Staunens vor Augen führt, zeigt uns auch, daß Staunen und Verwunderung nur zwei Aspekte ein und desselben Geschehens sind, so daß wir beide Ausdrücke durchaus synonym verwenden können. Die Deckungsgleichheit tritt immer dann zutage, wenn wir etwas nicht nur staunend zur Kenntnis nehmen, sondern fassungslos vor Staunen sind und dieses

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die Züge ungläubiger, entsetzter Verwunderung annimmt. Gerade in den Fällen also, in denen das Ungeheuerliche, nie Geahnte und für möglich Gehaltene Staunen par excellence hervorruft und wir nicht nur "nicht schlecht", sondern im Gegenteil grenzen- und fassungslos staunen, schrumpfen die Unterschiede zwischen Staunen und Verwunderung, in denen sich Ethymologen ergehen mögen, zusammen, und es zeigt sich dann, daß Staunen immer schon Verwunderung darüber ist, daß es die rätselhafte Sache überhaupt gibt und die schockierende Begebenheit sich in der Tat zugetragen hat. Regelmäßig bricht Staunen, das wirklich diesen Namen verdient, in den Ruf der Verwunderung aus: "wie ist denn das möglich?" und findet dieser Übergang nur deshalb statt, weil schon das Staunen sich über die Sache aufhält und damit Verwunderung ist. Die Unterscheidung zwischen einem fundierenden Akte des Staunens und der Verwunderung, die daraufhin mit der Tatsache des Bestehens konfrontiert würde, liefe entweder auf die Abfolge zweier bloßer Erkenntnisakte hinaus, deren erster zunächst entdecken würde, daß dies oder jenes ungewöhnlich ist, während der zweite in der Frage bestehen müßte, wieso dies Ungewöhnliche überhaupt möglich ist oder besteht. Aber die Addition dieser Erkenntnisakte wäre immer noch kein Staunen, und wiederum würde so die seltsame Sache zwar entdeckt und auch zum Problem gemacht, aber nicht in der spezifischen Weise des Staunens. Oder sie liefe, was bei dem psychologistischen Klima von heute wahrscheinlicher ist, wieder darauf hinaus, die Verwunderung zu einer emotionalen Reaktion auf die Erkenntnis zu machen. Die Aufspaltung würde auch an der besonderen Verfassung der Gegenstände des Staunens scheitern. Das beweist schon ein ganz kurzer Blick auf deren Ontologie. Setzen wir voraus, daß Staunen auf den ungewöhnlichen, seltsamen Charakter der Dinge geht und die Verwunderung auf die Tatsache, daß so etwas überhaupt besteht, dann fragt sich doch, ob sich die beiden Aspekte in der Sache überhaupt trennen lassen! Dabei müssen wir den Begriff der "Sache" stets im weitesten Sinne, nämlich als Synonym für alles nehmen, was nur irgend Gegenstand der Erkenntnis werden kann. Jeder Anklang an substantielle Dinge, den der Wortsinn nahelegen könnte, ist zu vermeiden, obwohl selbstverständlich auch sie zu den "Sachen" gehören, auf die Erkenntnis stößt. "Sachen" in unserem Sinne sind auch Sachverhalte, Beziehungen, Gefüge und Zusammenhänge jeder Art und Prinzipien. Doch gerade, wenn wir "Sache" in diesem weitesten Sinne des Wortes nehmen, ist sie im strengsten Sinne des Wortes mit ihrem Bestehen identisch, und es läßt sich gar kein Unterschied finden zwischen ihr selbst und der Art und Weise, in der sie besteht. So ist es geradezu das Wesen eines Sachverhaltes, sich aus seinen Relata zu ergeben und in dieser bestimmten Weise zu bestehen. Ebenso ist das Sein einer Wesenheit nichts anderes als ihr Sosein und von ihm in gar keiner Weise zu unterscheiden, da es ja darin aufgeht, solches in dieser bestimmten Weise zu sein. Wohl läßt sich bei einer bestimmten Gruppe von "Sachen", den

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

existierenden Dingen eine Differenz zwischen ihnen und ihrem Bestehen ausmachen. Ihr Werden und Vergehen und der Widerstand, mit dem sie sich gegen ihre Auflösung behaupten, lenken den Blick wie von selbst auf diese Differenz. Vor aller ontologischen Nachfrage nach dem, was reale Wirklichkeit bedeutet, kommt die der Sache anheimgegebene Betrachtung hier nicht umhin, ihre Existenz von ihnen selbst zu unterscheiden. Sie ist jedoch nur eine Art oder Sonderform jenes Bestehens, von dem wir hier ausgehen, denn staunen kann ich nicht nur über sie und das Bestehen raumzeitlicher Dinge, sondern auch über Ereignisse und Sachverhalte. Daher ist unser Begriff des Bestehens so weitgespannt wie der der "Sache selbst", mit dem er sich völlig deckt, so daß es gerade das Sein oder Bestehen der Sache ist, sie selbst zu sein! Daß die realen Dinge ihre Existenz verlieren können, gehört in diesem Sinne bereits zu dem, was sie als "Sache selbst" sind. Es ist dies wiederum ein Sachverhalt, auf den die Erkenntnis stößt und auf den sich ebenfalls die Verwunderung richten kann. Folglich kann die Aussage, die Verwunderung richte sich auf das Bestehen der Sache, nicht so verstanden werden, als könne sie die Tatsache dieses Bestehens für sich thematisch machen, um sie sodann mit der Sache zu vergleichen. Eine solche Abstraktion ist entweder unmöglich, weil sie die Sache von sich selbst unterscheiden würde oder sie ist nur aufgrund einer ontologischen VOfÜberlegung möglich, die bereits von einem bestimmten Begriff des Seins ausgeht, um die Sache dann zu ihm in Beziehung zu setzen. Erst aufgrund solcher, an ihrem Ort durchaus legitimer Überlegungen entsteht die Schwierigkeit, daß die Verwunderung immer schon die ganze Sache meint, um die es eigentlich geht, auf der anderen Seite aber nur die Tatsache ihres Bestehens, und zwar als etwas, das auch nicht sein könnte. In Wirklichkeit richtet sie sich nicht einerseits auf den Inhalt und andererseits exklusiv auf das Bestehen der Sache, sondern auf sie als bestehende. Sie vollzieht keine Abstraktion, wohl aber erfährt sie ihren Gegenstand unter diesem bestimmten Aspekt, unter dem er nach wie vor nur als Ganzes in den Blick kommt: daß er so ist, wie er nun einmal ist. 4 4 Im Staunen erschließt sich gewiß auf einzigartige Weise das Sein der Dinge, und die Ausführungen unseres Abschnittes haben auch das Ziel, genau dies deutlich zu machen. Auf keinen Fall ist diese Erschließung jedoch im Sinne der von Heidegger inspirierten Fundamentalontologie zu verstehen, als werde hier so etwas wie das Sein im Unterschied zum Seienden und damit die sogenannte "ontologische Differenz" offenbar, denn es ist gerade die Tatsache, daß die Dinge trotz ihres seltsamen, ungewöhnlichen, ungeheuerlichen Charakters bestehen, die die Verwunderung provoziert, die sich also auf die Dinge als bestehende und nicht auf irgendeine mythische Entität richtet, aus der sie sich angeblich als Seiende speisen und nähren sollen. Diese Einheit entspricht der des Aktes des Staunens, der als unteilbarer Vollzug in einem einzigen einfachen Hinblick in seiner spezifischen Weise die Sache als bestehende erfährt, ohne sie in eine mythische Dualität von seinsgebender Macht und seinsempfangendem Seienden zu zerlegen. Worüber sich die Verwunderung aufhält, ist ja gerade, daß die jeweilige Sache besteht! Der Wahrheitsgehalt der Heiderggerschen Philosophie und ihrer Rede von der Erschließung des Seins liegt auf der Erlebnisebene (vgl. unsere Phänomenologie der Erlebnisse im letzten Abschn.), aber Staunen ist ein Erkenntnisakt.

4. Abschn.: Staunen als Alternative

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Wenn wir nun als Ergebnis dieser Analyse des Staunens als Verwunderung die Frage nach dem Formalobjekt oder der besonderen Rücksicht, unter der es die Dinge erfährt, zu beantworten suchen, so kann diese Antwort nur formelhaft und insofern ungenügend und vorläufig sein: nichts anderes als eine ganz allgemeine Umschreibung der Grunderfahrung, in der alle seine Aspekte zusammenzulaufen scheinen. Offensichtlich erfährt es, daß die Sache so ist, während sie doch ganz anders oder an ihrer Stelle ganz anderes sein könnte. Deshalb macht es sich in dem Ausruf Luft: "gibt es denn so. etwas!" oder "wie ist das möglich!" Diese allererste Umschreibung scheint jedoch nur das Staunen zu treffen, das sich auf die gewohnten, selbstverständlichen Dinge richtet und sie zum Gegenstand seiner offenen Frage macht. Auch das kann jederzeit geschehen, wenn Staunen eine wirkliche Alternative zur normalen Erkenntnis ist. Wir brauchen nur an die metaphysische Verwunderung zu denken, die sich auf das scheinbar so selbstverständliche Sein der Welt richtet und sich darüber aufhält, daß sie existiert. Wie ist es aber mit den Dingen, die wie von selber dazu geschaffen scheinen, Staunen zu erregen: dem Ungewöhnlichen, Seltsamen, allem, was ganz aus dem Rahmen fällt? Wenn Staunen in der Erfahrung bestehen soll, daß die Sache auch ganz anders sein könnte, dann scheinen wir eher über den Normalfall zu staunen als über das Außergewöhnliche! Denn die Gewißheit, daß das Normale, Gewohnte auch das Selbstverständliche sei, ist es doch, die jetzt erschüttert und als bloß scheinbare enthüllt wird, so daß gerade im Hinblick auf dies Gewohnte nunmehr alles als möglich erscheint! Die Apostel wären so nicht nur über den auf dem Wasser wandelnden Jesus ins Staunen geraten, sondern darüber, daß die Menschen bisher immer auf einen Kahn oder ihre Schwimmkünste angewiesen waren, um nicht zu versinken. Denn das scheint es doch zu sein, von dem sich nunmehr herausstellt, daß es auch ganz anders sein könnte! Und doch liegt es auf der Hand, daß wir im Staunen nur dem staunenswerten Gegenstand und nichts anderem, also hier dem auf dem Wasser wandelnden Jesus zugewandt und nur von ihm fasziniert sind! Die Schwierigkeit löst sich, wenn wir auch hier die Sache näher bestimmen, die möglicherweise auch ganz anders sein könnte! Sie als der staunenerregende Gegenstand wird im Staunen nicht isoliert wahrgenommen, sondern vor dem Kontrasthintergrund des "Erwartungshorizontes" , von dem er absticht und den wir in Kap. 3 analysieren. Daher ist die "Sache", die anders sein könnte, nicht der staunenerregende Gegenstand allein, sondern das Ganze, das aus ihm und dem Kontext oder Erwartungshorizont besteht, in den er sich einfügen sollte und doch nicht einfügt. Wie wir in Kapitel 3 näher begründen, wird der Kontrast, in dem er zu diesem Kontext steht, nicht in einem Akte des Vergleiches erfaßt. Wäre dies der Fall, dann würden wir einfach zur Kenntnis nehmen, daß das eine nicht zum anderen paßt und das hat mit Staunen nichts zu tun! Vielmehr wird das Ganze des staunenerregenden Gegenstandes und des Kontextes, von dem er absticht und zu dem er dennoch gehört, als Ganzes unmittelbar erblickt, und in

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1. Teil: Souveräne Erkenntnis

diesem Blick blitzt die Möglichkeit auf, daß es als Ganzes auch anders sein könnte! Die Jünger wollten "ihren Augen nicht trauen", als sie Jesus über das Wasser herankommen sahen. Sie hielten ihn für ein Gespenst, für eine bloße Sinnestäuschung und dergleichen mehr, aber zugleich war ihre Sicherheit erschüttert, daß es so etwas überhaupt nicht geben könne, und sie waren darauf gefaßt, daß in diesem Bereich trotz aller Naturgesetze alles möglich sei. Allerdings ist auch das bloße Registrieren neuer Möglichkeiten noch kein Staunen. Ich kann im probierenden Umgang mit den Dingen ohne jede Verwunderung zur Kenntnis nehmen, daß sich bei ihnen ganz neue Möglichkeiten auftun, mit denen ich in gar keiner Weise rechnen konnte! So kommen wir der dem Staunen eigenen Erfahrung nur näher, wenn wir von ungeahnten statt von unbekannten Möglichkeiten sprechen! Im Blick auf die staunenswerte Sache tut sich nämlich die ebenso radikale wie unbestimmte Möglichkeit auf, daß alles, was sie betrifft, völlig anders sein könnte! Trotz ihrer radikalen Unbestimmtheit ist diese Möglichkeit keine pure Phantasie, kein Gedankenspiel, sondern sie wird als reale Möglichkeit erfahren. Das macht die dem Staunen eigene und mitunter furchteinfIößende Dramatik aus. Dabei läßt sich dies alles, was anders sein könnte, ebensowenig näher präzisieren wie die Frage nach dem Inhalt und der Richtung dieser Möglichkeit, die naturgemäß und im eigentlichen Sinne des Wortes ins Leere stößt! Denn eine solche Möglichkeit ist in der Tat gänzlich unbestimmt. Aus diesem Grunde sind wir auch "fassungslos vor Staunen" und läßt sich dieses allenfalls in die rhetorische Frage fassen: "was soll ich dazu sagen?" Auf der anderen Seite ist die Erfahrung dieser Möglichkeit doch in eigentümlicher Weise auf die Sache zurückbezogen, an der sich das Staunen entzündet und auf die es gerichtet bleibt. Auch wenn wir hier erfahren, daß alles möglich ist, so bezieht sich dies "alles" doch immer auf die erstaunliche Sache und ihr Koordinatensystem! Allerdings ist dieser Erfahrung auch schon die der absoluten, an keine Einschränkung gebundenen Möglichkeit gegenwärtig, daß schlechthin alles möglich und anders sein könnte, als es ist. Auf sie werden wir im Kapitel über die "radikale Verwunderung" zurückkommen! Zusammenfassend können wir also unsere Umschreibung des eigentümlichen Gegenstandes des Staunens so ergänzen, daß es im Blick auf die Sache die radikale und unbestimmte Möglichkeit erfährt, daß alles ganz anders sein könnte.

§ 2: Staunen als schwebende Frage

Diese Grunderfahrung, die ich in jedem Akt des Staunens mache, hat sich für uns zwar aus unseren Analysen ergeben, für den Akt des Staunens aber ist sie kein Ergebnis, das gesondert von ihm festzuhalten wäre, sondern sie leuchtet unmittelbar in ihm auf. Sie eröffnet sich nur in ihm und ist in analoger Weise an ihn gebunden wie etwa die Wahrnehmung der Farbe ,,rot" an den entsprechen-

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den Akt der Sinneswahrnehmung, in dem sich allererst erschließt, was ,,rot" bedeutet. Ebensowenig wie ich Farbenblinden diese Qualität nahebringen kann, kann ich einem, der das Staunen verlernt hat oder nie gestaunt hat, deutlich machen, was ich in ihm erfahre. Im anderen Falle wäre es doch wieder nur ein Erkenntnisakt wie jeder andere auch, der sich in einem ablegbaren Ergebnis niederschlagen würde. Zwar läßt sich auch die Grunderfahrung des Staunens in einer Formel zusammenfassen, aber sie erhält nur im Staunen selbst ihre eigentümliche Evidenz und Überzeugungskraft. Außerhalb dieses Zusammenhanges bleibt sie bloße Versicherung. Dieser Zusammenhang, den wir bisher eher als selbstverständlich vorausgesetzt haben, ist nun an der Struktur und dem Aufbau des Aktes des Staunens aufzuzeigen. Die Begriffe ,,Aufbau" und "Struktur" erinnern uns wieder an die Schwierigkeit, mit der die Phänomenologie des geistigen Lebens ständig zu kämpfen hat, wenn sie sich nicht in der Aufforderung zum Mit- und Nachvollzug erschöpfen, sondern ein mitteilbares Ergebnis haben und daher in einer Analyse münden soll: einer auflösenden Zergliederung also, die dem Phänomen ungemäß und gezwungen ist, als phasenhafte Abfolge darzustellen, was sich im einfachen Hinblick vollzieht. Setzen wir dies voraus, dann ist natürlich auch das Staunen "zunächst" einmal ganz einfach Hinnahme der Sache, denn um zu staunen, muß ich sie in ihrem verwunderlichen Charakter entdecken, was gleichbedeutend mit ihrer Hinnahme ist. Ebenso ursprünglich aber gilt, daß das Staunen die Sache nicht mehr einfach hinnimmt, sondern diese Hinnahme sogleich suspendiert. Damit unterscheidet es sich radikal von jeder anderen Erkenntnis, in der die Hinnahme eo ipso mit der Gegenwart der Sache gegeben ist. Jetzt aber ist sie nicht mehr das, was sich von sich selbst her versteht und damit ist der Nexus zwischen ihr und ihrer Hinnahme zerbrochen. Dabei ist allerdings von einem zweifachen Sinne auszugehen, in dem sie als "selbstverständlich" oder "nicht selbstverständlich" erfahren wird. 5 In ihrer offensichtlichen leibhaften Gegenwart wird sie nach wie vor als das erfahren, was für sich selbst zeugt und sich daher fraglos auch von selbst versteht. Auf der anderen Seite erfahrt das Staunen, daß sie sich gerade nicht von selbst versteht, ja im Extremfall sogar überhaupt nicht möglich ist. Dennoch ist sie offensichtlich da und zeugt für sich selbst: ein und dieselbe Sache, die zugleich und in unteilbarer 5 Wenn wir hier und im folgenden von der Erfahrung der Selbstverständlichkeit der Sache sprechen, ist stets jene unmittelbare Erfahrung gemeint, die jede Erkenntnis auszeichnet, welche ihre Rechtfertigung in der Sache selbst findet. Diese Erfahrung hat also nicht so etwas wie eine besondere Eigenschaft "Selbstverständlichkeit" der Sache zu ihrem Gegenstand. Unmittelbar erfahren kann ich nur die Sache selbst, und zwar als das, was sich von sich her versteht. Das ist etwas ganz anderes als die Erkenntnis, daß die Sache aus diesem oder jenem Grunde selbstverständlich sei, die ihrer Natur nach immer schon eine Überlegung über ihre Möglichkeit oder Wahrheit und unter Umständen auch eine Reflexion auf den Erkenntnisakt veraussetzt.

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Einheit als selbstverständlich und als das genaue Gegenteil davon erfahren wird. Wenn auch beide Erfahrungen auf einer je verschiedenen Hinsicht der staunenswerte Sache, ihrer Gegenwart und ihrer Eigenart beruhen mögen, so widersprechen sie sich doch diametral, sofern die eine die Hinnahme und die andere deren Suspendierung begründet. Hinnahme, Aufhebung der Hinnahme und doch wieder Hinnahme durchdringen sich zu einer einzigen unteilbaren Erfahrung! Aber wenn es sich auch nicht in einzelne Phasen aufteilen läßt, da es gerade zum Wesen des Staunens gehört, in einer Art von schwebender Hinnahme zu verharren, so gibt es doch Erfahrungen in seinem Vorhof, die das Gemeinte veranschaulichen können, und hier bemühen wir ausnahmsweise die Psychologie! Wir alle haben schon einmal erlebt, wie wir zunächst achtlos an einer erstaunlichen Sache vorbeigingen, sie registrierten und in uns aufnahmen und es uns erst im nächsten Augenblick siedendheiß überfiel, daß das, was wir gesehen haben, doch gar nicht möglich ist. Wir drehten uns nochmals um und trauten unseren Augen nicht. Greifen wir zu dem gerade hier sich anbietenden und besonders dankbaren Mittel der kafkaesken Übertreibung und nehmen wir "per impossibile" an, daß wir in einem Amtsgebäude die Treppe hochgehen und einem bekannten Politiker begegnen, dessen Tod schon vor Jahresfrist gemeldet wurde. Oder einem befreundeten Invaliden, den wir zeitlebens nur an Krücken humpelnd erlebten und der nun leichtfüßig die Stufen überspringt. Vielleicht kommt es in solchen und weniger unwahrscheinlichen Fällen vor, daß wir die Sache zunächst einfach kommentarlos hinnehmen und passieren lassen, um uns nachher erst an den Kopf zu fassen und zu fragen: "was ist denn das?" Damit soll der Akt des Staunens nicht wieder in einzelne Teile oder Phasen aufgeteilt werden, denn spätestens in ihm sind Hinnahme und ihre Suspendierung eins, aber die Beispiele zeigen doch anschaulich die gegenläufigen Tendenzen und ihre jeweiligen Motivationen, die im Staunen vereinigt sind. Die Frage, wie diese seltsame Einheit von Hinnahme und ihrer Suspendierung möglich ist, stellt sich vor allem deshalb, weil ja auch das Staunen Erkenntnis ist, die als solche wesens gemäß Hinnahme ihres Gegenstandes ist und bleibt. Tatsächlich kann man auch hier noch in einem weiteren Sinne sagen, daß der Art und Weise, wie die Sache erfahren wird, eine ganz spezifische Weise ihrer Hinnahme entspricht. Ebenso wie die Erfahrung der Selbstverständlichkeit und Nicht-Selbstverständlichkeit der Sache darin aufgehen, daß sie als das begegnet, was in dem von uns beschriebenen Sinne einer radikal unbestimmten Möglichkeit auch anders sein könnte, gehen Hinnahme und Nicht-Hinnahme in der schwebenden Fonn der Frage auf, in der ich mich nun zur Sache verhalte statt sie einfach hinzunehmen. Wobei die eigentümliche Art, in der wir das Bestehen der Sache in der Verwunderung erfahren, eo ipso auch schon die Erfahrung ist, daß diese Frage möglich und sinnvoll ist! Weil sie nichts anderes als die Haltung ist, in der ich die staunenswerte Sache "hinnehme", ist sie im Gegensatz zur nonnalen Frage nicht Suche nach einer bestimmten Antwort. Vielmehr bleibt sie solange

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wie die staunenswerte Sache selbst. Sie geht nicht wie alle anderen Fragen sogleich wieder über die Sache hinaus, sondern ruht in ihr - ähnlich wie die Anschauung in ihrem Gegenstand. Sie ist keine Erkenntnisbewegung, die von einem zum anderen fortschreiten will, sondern ein in sich ruhender Akt, dessen Intention bereits in seinem Vollzug und nicht im gesuchten Ergebnis liegt und sich daher in jener ganz bestimmten Erfahrung der Sache erschöpft. Diese Intention der in ihrem eigenen Saft schmorenden Frage läßt sich am besten mit der Formel: "was ist denn das?" umschreiben, in der die Beziehung auf eine mögliche Antwort nicht im gleichen Maße mitschwingt wie in der Frage nach dem "wieso?" und "warum?" Das zeigt uns auch schon der Sprachgebrauch: ist doch gerade der Ruf: "was ist denn das?" Ausdruck jenes ungläubigen Staunens, das sich mit der Sache nicht abzufinden vermag, während die Frage: "warum?" immer schon innerhalb des Kontextes des Grund- und Folge- bzw. Kausalzusammenhanges weiter und damit auch über das Staunen hinausgeht. Es liegt nahe, dieses der staunenden Hinnahme eigene Moment ihrer eigenen Suspendierung und den schwebenden Charakter der Frage mit Husserls Begriff der "epoche" zu vergleichen oder von ihm her zu deuten. Auf der anderen Seite muß jedoch ein solcher Vergleich unbedingt den Kontext berücksichtigen, in dem Husserls tiefer Begriff des "Dahingestelltseinlassens" steht. Bedauerlicherweise wird er von Husserl in einen konstruierten Zusammenhang hineingestellt, der ihn um seinen Erfahrungsgehalt bringt. Die Enthaltung von eigener Stellungnahme, die der Begriff der "epoche" meint, wird von ihm zunächst einmal als Urteilsenthaltung interpretiert und damit wiederum vorausgesetzt, daß das Urteil als Akt der Zustimmung konstitutiver und notwendiger Bestandteil der Erkenntnis von Sachverhalten sei, was gerade dann nicht der Fall ist, wenn es sich um Erkenntnis im vollen Sinne des Wortes wie etwa die Einsicht handelt, in der ein Sachverhalt vor mir steht. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß es nach Husserl das reflektierende Subjekt ist, das sich der Urteile und Stellungnahmen des zugrundeliegenden reflektierten Bewußtseins enthält, weil es sie nicht mehr mitvollzieht, sondern nur betrachtet, wie sie zustandekommen, denn auch das würde - wenn auch im reflektierten Bewußtsein - wieder die unnötige Doppelung von einsichtigem Sachverhalt und Stellungnahme zu ihm voraussetzen. Und damit sind wir schon beim zweiten entscheidenden Punkt des Unterschiedes zwischen der im Staunen gegebenen Suspendierung der Hinnahme und dem, was Husserls Begriff der "epoche" meint. Diese ergibt sich aus seinem Reflexionsbegriff, wie wir ihn bereits im zweiten Abschnitt skizziert haben. Wie wir dort ausführen, soll diese Reflexion die zugrundeliegenden Erkenntnisse und Stellungnahmen nicht mehr mitvollziehen, sondern auf sie blicken und danach fragen, wie sie zustandekommen, um gerade von dieser scheinbar voraussetzungslosen und unparteiischen Position aus die Frage nach ihrem Recht und dem Sinn ihres Geltungsanspruches beantworten zu können. Doch wie wir schon ausführten, ist

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eine solche Konstruktion der "epoche" nur sinnvoll, wenn sie schließlich doch wieder von einer transzendentalphilosophischen Auffassung der Erkenntnis als ,,Leistung" und "Konstitution" des Gegenstandes ausgeht, die im Widerspruch zum phänomenologischen Begriff der Erkenntnis als Anschauung steht. Nur wenn wir davon ausgehen, daß Erkenntnis eine solche Konstitutionsleistung ist, läßt sie sich vom Standpunkt einer eo ipso "epoche" übenden Reflexion betrachten und am Anspruch ihrer eigenen transzendentalen Sinn- und Geltungsmaßstäbe überprüfen. Summa summarum hat Husserls "epoche" also nichts mit dem dem Staunen wesenseigenen "In-der-Schwebe-Lassen" zu tun.

§ 3: Staunen und bewußte Erkenntnis

Diese Beschreibung des Staunens scheint in einem gewissen Widerspruch zu unserer einleitenden Feststellung zu stehen, es könne über die bewußte Erkenntnis hinaus, die ihrerseits eine Intensivierung und ein Zu-sich-selbst-Kommen der einfachen Hinnahme ist, keine weitere Steigerung oder Ausprägung der Erkenntnis als ausdrückliches Bewußtsein von der Sache geben. Denn es läßt sich nicht leugnen, daß das Staunen eine ganz intensive Fixierung auf den Gegenstand ist und ihn auch in einer ausgezeichneten und einzigartigen Weise in jener Distanz von sich hält und betrachtet, die zum Wesen der vollkommen ihrer selbst bewußten Erkenntnis gehört. Es soll sichja gerade dann ereignen, wenn ich ausdrücklich die Erfahrung mache: "so ist die Sache also!" und sie damit bewußt als das zur Kenntnis nehme, was mir in seinem eigenen Selbst entgegentritt. Entspringt es so aus der vollkommenen Aufmerksamkeit im Sinne des vollkommen seiner selbst bewußten Blickens auf die Sache, dann scheint es ihr natürlicher Höhepunkt zu sein: Höchstmaß an Bewußtheit, mit dem ich sie von mir halte und realisiere, daß es "ihre Sache" ist, so zu sein! In diesem Sinne erfüllt Staunen zweifellos in idealtypischer Reinheit die Bedingungen vollkommener Erkenntnis, die wir am Ende von Abschn. 2 entfaltet haben. Je mehr sich das Bewußtsein aus dem Befangensein in der Sache löst und sie per distance betrachtet, um so ausdrücklicher wird es sich ihrer bewußt und erfaßt sie als das, was so und nicht anders ist. Diese Distanzerfahrung hat hier die beiden Seiten, die Staunen zum vollkommen bewußen Bewußtsein von der Sache machen. Hier erfährt sich das Subjekt wirklich, wie es ihr gegenübersteht, und zwar gerade darin, daß sie für es nicht mehr selbstverständlich ist. Und es erfährt ihr Sein oder Sosein in einzigartiger Vollkommenheit, weil sie nicht mehr als selbstverständlich hingenommen werden kann. Das alles drückt schon die Sprache aus: "staunend stehen wir der Sache gegenüber"! Aus alledem folgt jedoch in gar keiner Weise, daß Staunen eine nochmalige Steigerung der bewußten Erkenntnis sei, die es ihrem Wesen nach gar nicht geben kann. Fraglos ist es aber nur als bewußte Erkenntnis bzw. als eine alternative

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Form der bewußten Erkenntnis möglich. Statt vor einer weiteren Steigerung des vollkommenen Bewußtseins, die undenkbar ist, stehen wir vor seiner Differenzierung in zwei alternative, ursprüngliche Erfahrungsweisen. Vollkommenes Bewußtsein kann die Dinge nicht noch vollkommener gegenwärtigen, als es dies ohnehin schon tut, wohl aber vermag es sich in ganz verschiedener, ja entgegengesetzter Art auf sie zu richten, die sich dennoch nicht gegenseitig aufhebt und widerspricht.

Kapitel 3: Die typischen Gegenstände des Staunens Bereits in Kapitel 2 haben wir die Frage nach dem "Formalobjekt" , d. h. der besonderen Rücksicht gestellt, unter der das Staunen die Dinge erfaßt. Die Frage ist nicht identisch mit der dieses Kapitels, welche Dinge dazu angetan sind, Staunen zu erregen. 6 Denn wenn wir im Prinzip über alles und jedes staunen können, dann stellt sich gerade deshalb die Frage, welcher Grund dafür verantwortlich ist, daß wir gerade jetzt staunen: welche Dinge oder Momente in ihnen dazu angetan sind, Staunen zu erregen und sie unter jener besonderen Rücksicht thematisch zu machen, die wir als "Formalobjekt" des Staunens bezeichnet haben. Gewiß können wir auch ganz spontan über alles und jedes zu staunen beginnen, wenn Staunen die ursprüngliche Alternative zur normalen Erkenntnis ist. Wenn aber alles seinen zureichenden Grund hat, dann ist die hier gestellte Frage unvermeidlich, warum wir jetzt gerade durch die Dinge zum Staunen bewegt werden und ihnen das andere Mal in normaler Erkenntnis begegnen. Kann doch der Grund dafür nicht oder nicht allein im erkennenden Subjekt liegen, wenn es gleichermaßen für beide Formen der Erkenntnis disponiert ist! Aus dem gleichen Grunde müssen auch die Dinge, die an und für sich nicht erstaunlich sind und über die wir dennoch staunen können, etwas an sich haben, um das Staunen zu motivieren. Sonst wäre es ein willkürliches Spiel. Doch hier geht es zunächst einmal ganz einfach um die Dinge, die per se dazu angetan sind, Staunen zu erregen. § 1: Im Kontrast mit dem Erwartungs- und Erfahrungshorizont

Wir stoßen hier zuerst auf das Ungewohnte, das Staunen erregt. Deshalb staunen die Kinder am meisten und zudem, wie ihr offener Mund beweist, mit ihrer ganzen Existenz: so anhaltend und intensiv, wie es Erwachsene kaum noch vermögen. Sie staunen über alles und - das ist wohl die tiefste Form des Staunens - nehmen auf der anderen Seite auch das wirklich Erstaunliche als 6 Der Ausdruck sei wegen seiner Geläufigkeit beibehalten, obwohl es an sich besser wäre, zu sagen: "Staunen anzustoßen" oder "zu motivieren", da es sich primär um einen Erkenntnisvorgang und nicht um einen Affekt handelt.

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Selbstverständlichkeit hin. Als die Welt noch nicht durch Verkehr erschlossen war und das Fernsehen noch nicht alle mit allem vertraut machte, staunten auch alle anderen, die "hinter dem Monde" lebten: Dortbewohner etwa, wenn sich ein Fremder zu ihnen verirrte über sein "seltsames" Aussehen und Gebaren. Und auch sie staunten mit offenem Munde: selbst darin noch den Halbgebildeten von heute überlegen, die immer schon über alles Bescheid wissen. Das Ungewohnte, über das sie staunen, ist als solches auch das Unbekannte und ihm doch nicht unbedingt gleichzusetzen. Denn der Unbekannte, der ein Dorf betritt, kann dessen Bewohnern gleichen wie ein Ei dem anderen und insofern zum Staunen keinen Anlaß geben, wenn er auch andererseits als Unbekannter wieder dazu Anlaß gibt. Ungewöhnlich ist also offenbar, was aus dem Kontext der uns bekannten Dinge herausfällt, aber es ist natürlich leicht zu zeigen, daß dieser Kontext nichts mit dem objektiv bestehenden Zusammenhang der Dinge zu tun hat. Vielmehr bilden die Dinge, die mir bereits begegnet sind, einen Zusammenhang, der durch das Subjekt selbst begründet wird, sofern ihm bisher dies, aber nicht jenes begegnet ist! Die "Erkenntnis", die solcher Übersicht entspricht und den Kontext konstituiert, kann daher hier allein darin bestehen, daß aus dem bisher Bekannten - platonischen Ideen vergleichbar - typische Bilder dessen resultieren, was es gibt und was sich ereignen wird. Das, was dem Subjekt bisher begegnet ist, wird ihm zum Inbegriff und Vorbild aller Dinge überhaupt. So beruht der Vorgang, in dem sich der Kontext bildet, durchaus auf einer intentionalen Zuwendung zu ihnen und darauf, daß das Subjekt "sich seine Gedanken macht". Er ist alles andere als ein blinder Assoziationsmechanismus. Auf der anderen Seite beruht er aber auch nicht auf einem Induktionsschluß, der sich unterfängt, vom Bekannten auf alles Unbekannte zu schließen. Denn Kinder oder "Hinterwäldler", die vom Maßstab ihrer bisherigen Erfahrungen ausgehen und über alles Neue staunen, wollen ja damit nicht sagen, daß es nur Dinge solcher Art geben kann, wie sie ihnen bisher begegnet sind. Wer noch zum Staunen aufgelegt ist, ist meilenweit vom klassischen Vorurteil jener Aufklärer entfernt, die nur das akzeptieren, was ihnen apriori plausibel scheint und alles andere eher apriori leugnen, als es etwa staunend zur Kenntnis zu nehmen, falls es ihnen begegnet. Diese Formen der Aufklärung sind das genaue Gegenteil jener ahnungslosen Offenheit, die ebenso selbstverständlich zum Vorbild nimmt, was ihr stets begegnet wie sie auch ohne weiteres bereit ist, den ganzen Reichtum der unbekannten und unbegreiflichen Wirklichkeit staunend zur Kenntnis zu nehmen! Auf der anderen Seite aber ist die Aufklärung auch die unfreiwillige Karrikatur solcher ahnungslosen Offenheit, sofern ihre vorgefaßte Meinung über das, was es geben könne und was nicht, auf einer Ahnungslosigkeit über die unsäglichen Tiefen der Wirklichkeit beruht, die dem Irrtum gleichkommt. Denn diese Ahnungslosigkeit umgibt sich nicht nur mit typischen Mustern der Wirklichkeit, sondern sie zementiert sich in ihnen als unausrottbaren Vorurteilen ein. Daher gilt von ihr, daß sie entweder gar nicht mehr zum Staunen kommt oder

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radikal enttäuscht von ihren zum Maß aller Dinge geratenen vernünfteinden Erwartungen erst recht "aus allen Wolken fällt"! Von dem, was uns ungewohnt ist, ist das zu unterscheiden, was der Sache nach ungewöhnlich ist und daher selbst bei größter Weltkenntnis "befremdet", ja im Extremfall unbeschreibliche Verwunderung oder fassungsloses Staunen hervorrufen kann. Gemeint sind die Dinge und Ereignisse, die mit unserer Erfahrung unvereinbar sind, ja sie "über den Haufen werfen", so daß sie uns "an unseren fünf gesunden Sinnen" oder gar an unserem Verstand zweifeln lassen. Hier wird der Kontext nicht einfach durch die Dinge konstituiert, die mir bisher begegnet sind, sondern durch die Kenntnis und Erkenntnis ihrer Natur, die mich davon ausgehen läßt, daß dies, aber nicht jenes möglich ist. Er besteht also aus dem, was "von der Natur der Sache her", wie wir sie erkennen, vorkommen kann. Im Extremfall wird das Ungewöhnliche, das aus diesem Kontext herausfällt, ausdrücklich als das erfahren, was gar nicht möglich und seltsamerweise doch vorhanden ist. An dieser tiefgreifenden Kollision entzünden sich hier Überraschung und Staunen! Zur "Natur der Dinge" aber gehört vor allem der gesetzmäßige Zusammenhang, dessen Kenntnis mich erwarten läßt, daß auf dieses Ereignis jenes "nach einer Regel folgt". Diese objektiv begründete Erwartung ist es, die den Kontext im engeren Sinne konstituiert, weshalb auch das, was im Widerspruch zu ihm unvermutet auftaucht, besonders eindringlich als Widerspruch zur Wirklichkeit selbst erfahren wird. Doch auch hier ist der Kontext, aus dem das Unvermutete herausfällt, natürlich nicht mit dem objektiven Zusammenhang der Dinge identisch. Unter Umständen bemerken wir die wirklich vorhandene Diskrepanz eines Gegenstandes zu ihm gar nicht und nehmen daher das, was in der Tat ungewöhnlich ist, als selbstverständlich hin oder es liegt nur scheinbar eine solche sachliche Diskrepanz vor, die uns dann zu Unrecht, aber doch tatsächlich in Staunen versetzt. Gewiß wird der Kontext hier wirklich durch unsere Fähigkeit begründet, die Welt in ihren objektiv vorhandenen Zusammenhängen zu erfassen, doch weist schon die Weite und Offenheit unserer Begriffe von "Kenntnis", "Erkenntnis" oder "Natur der Dinge" auf die vielfältigen Möglichkeiten hin, wie die Welt von uns höchst unterschiedlich erfahren und interpretiert werden kann, und diese Vielfalt ist der Grund dafür, daß es so unterschiedliche Kontexte der Erfahrung und Maßstäbe für das Ungewöhnliche gibt, die alle nur das gemeinsam haben, sich von der objektiven Wirklichkeit abzuheben, die sie allenfalls in mehr oder weniger großer Annäherung erreichen. Die Differenz des jeweiligen Kontextes zum objektiven Zusammenhang der Dinge läßt es ratsam erscheinen, den Begriff des Kontextes, in dem immer das Moment der objektiven Wirklichkeit mitschwingt, durch den des "Horizontes" zu ersetzen. Er bringt treffend zum Ausdruck, daß der Kontext nicht einfach ein Bestandteil der vorgegebenen Wirklichkeit ist, sondern der Erwartung des Ausschau haltenden Subjektes entspricht. Dabei wären die Begriffe des "Erwartungs7 Hoeres

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horizontes", aus dem das Ungewohnte herausfällt und des "ErJahrungshorizontes", dem das Ungewöhnliche widerspricht, zu unterscheiden, wobei jedoch der Begriff des Erwartungshorizontes aus den genannten Gründen zugleich als der Oberbegriff für beide Horizonte anzusehen wäre! Sorgfaltig ist auf die Beziehung dieser Horizonte zum erkennenden Subjekt zu achten! Keinesfalls ist die Verbindung des erkennenden Subjektes mit dem in der Sache bestehenden Zusammenhang der Dinge so zu denken, daß es in ihn und seine Gesetzlichkeit eingespannt ist, weil es ihn aktiv und setzend konstituiert, wodurch es dann in der subtilen Art, die Kant annimmt, zu seinem Bestandteil würde. Vielmehr steht es ihm als Fähigkeit, sich je und je für ihn zu öffnen, gegenüber und wird gerade dadurch fähig, sich nach seinen Gesetzen zu richten. Auf der anderen Seite aber kann diese Öffnung für ihri dazu führen, daß er schließlich gerade aufgrund des intentionalen Gegenüber zu seiner ureigensten, vertrauten Sache wird. Gerade deshalb verlieren wir in den Augenblicken höchster Verwunderung auch unsere Fassung, ja wir erschrecken maßlos und sind ganz außer uns, werden wir doch aus dem Kontext dessen, was uns die Wirklichkeit ist, jählings herausgerissen. Somit wird der jeweilige Horizont auf der einen Seite durch die Offenheit des Erkenntnisvermögens für die Sache und auf der anderen Seite durch den Zusammenhang der Dinge und damit von ihm her konstituiert, ohne indes mit ihm zusammenzufallen. Er umfaßt die Dinge und Sachverhalte, soweit ich sie kennengelernt oder erkannt habe und in der Entdeckung der Wirklichkeit von ihnen ausgehe in der Erwartung, daß es nur solche Dinge gibt oder geben kann, die dem Inbegriff der bekannten und als solche erkannten Wirklichkeit entsprechen.

§ 2: Die einfache Wahrnehmung des Kontrastes

Im Akt des Staunens ist uns freilich die Diskrepanz zum Horizonte nicht in einem Akte des Vergleiches gegeben, der das Staunenswerte zu ihm in Beziehung setzt und daraufhin zum Ergebnis kommen würde, daß es aus ihm herausfällt. Staunen wäre alles andere als eine neue, ursprüngliche Weise, die Dinge zu erfahren, würde es auf ihm beruhen oder gar mit ihm zusammenfallen. Die Diskrepanz ist uns auf unmittelbare Weise im einfachen Hinblick auf die staunenswerte Sache und als ihr Charakteristikum in einer Anschauung gegeben, die plötzlich aufblitzt, so daß wir "nicht lange zu überlegen brauchen", um zu staunen, sondern mit einem Schlage vom Ungewohnten und Ungewöhnlichen angerührt sind. Wie es möglich ist, die Diskrepanz im einfachen Hinblick zu erfassen, kann eine genauere Bestimmung der Art und Weise ergeben, wie sich die einzelnen Dinge in den Horizont einfügen. Und hier scheinen sich zwei merkwürdige Aporien zu ergeben! Wenn die Erwartung kein psychologisch faßbarer Zustand, sondern intentionaler Ausblick auf den Umkreis der Gegenstände des Erwartungshorizontes ist,

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dann ist sie auf der anderen Seite doch auch sicher keine aktuelle Erkenntnis, die diesen Umkreis leibhaft präsentiert. Einerseits muß also der Erwartungshorizont stets gegenwärtig sein. Sonst kämen der Kontrast des Staunenswerten zu ihm und damit dieses selbst gar nicht zum Vorschein, auf der anderen Seite aber ist er auch wiederum nicht gegenwärtig, denn wenn ich etwas entdecke, bin ich offensichtlich nur diesem zugewandt. 7 Eine zweite Aporie überschneidet sich mit der ersten. Gehe ich in der genannten Erwartung vom Horizont der Dinge aus, die ich mir kenntlich gemacht habe, dann scheint er mir als Gegenstand der Erkenntnis gegenüber zu stehen, denn es soll sich ja bei ihr nicht um ein subjektives Apriori, um eine den Blick des Erkennens von vorneherein prägende Formung handeln, sondern um einen intentionalen Ausblick auf die Wirklichkeit. Auf der anderen Seite gehört der Erwartungshorizont als das, von dem ich immer schon ausgehe, doch auch zu mir als erkennendem Wesen, da ich von ihm her auf die neu zu entdeckende Wirklichkeit blicke. Wie aber soll das möglich sein, wenn ich auf ihn selbst blicke und er damit wiederum nur einer von den vielen Gegenständen meiner Erkenntnis zu sein scheint? Die Aporien beruhen indessen auf einer falschen Gegenüberstellung des Erwartungshorizontes und der jeweiligen aktuellen Erkenntnis. Als Inbegriff all dessen, was es für uns gibt und geben kann, ist er gerade wegen der Selbstverständlichkeit, die dies alles für uns gewonnen hat, nicht als gesonderter Maßstab oder gar als gegenständliches Gegenüber anwesend, das im Anblick der Sache, auf die ich entdeckend stoße, mit thematisch würde. Das ist nur dann der Fall, wenn wir "fest mit etwas rechnen" und dieses damit immer schon ausdrücklich im Blick haben, aber gerade davon kann beim Erwartungshorizont keine Rede sein. Er ist keine bestimmte Zielvorstellung! Gegeben ist er vielmehr als selbstverständlicher Hintergrund oder als Kulisse, vor der sich die Entdeckung der Sache abspielt! Hier haben die Begriffe der Horizontintentionalität und des unausdrücklichen Mitbewußtseins in der Tat ihren guten und plastischen Sinn! Doch im Unterschied zu den sonstigen Kulissen steht diese nicht separat neben oder hinter den Dingen, obwohl die Ansicht, daß dies bei den normalen Kulissen der Fall sei, auch schon deren physikalische Standortbestimmung mit dem einzig maßgeblichen optischen Eindruck verwechselt. Vielmehr ist die Kulisse dieses Erwartungshorizontes in der Regel etwas, das zur Sache selbst gehört, um die es geht und zugleich über sie hinausgeht! Und die Ausnahme von dieser Regel ist eben das Befremdliche, Ungewöhnliche, Erstaunliche, das wie ein erratischer Block aus der Kulisse oder dem Erwartungshorizont herausfällt. Das heißt 7 Husserls Begriff des Wahrnehmungshorizontes, der den Gegenstand der aktuellen Wahrnehmung als dunkler und bloß mitbewußter Hintergrund von Dingen umgibt und in den ich jederzeit "Strahlen des aufhellenden Blickes" senden kann, deckt sich nicht mit unserem Begriff des Erwartungshorizontes: dessen also, was ich als Wirklichkeit erwarte und erwarten kann!

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m. a. W., daß jede Sache zwar ganz sie selbst ist, aber zugleich schon kraft ihrer Natur in ein Netz von Zusammenhängen eingebettet ist, aus dem wir sie herausschauen, so daß der Zusammenhang stets wenn auch unausdrücklich mit gegenwärtig ist. Dieses Verwoben sein ist also kein ihr fremdes oder zusätzliches Moment, sondern gehört zu ihrer Natur und Existenz, wobei sie freilich in ihrer Eigenständigkeit auch aus ihm herausragt. Daher stoßen wir auf sie immer schon von diesem Zusammenhang her wie auch umgekehrt ihre Entdeckung uns all der Erkenntnisse und Erfahrungen wieder inne werden läßt, die den Erwartungshorizont je und je begründen oder von neuem aufleben lassen, dessen wesentliches Moment also eine ganz und gar nicht psychologische, sondern von ihrer Intentionalität her zu verstehende Erinnerung ist! 8 So ist die Kulisse eins mit der Sache, wenn diese andererseits auch über sie hinausgreift. Und das ist der Grund dafür, daß Staunen keinen Vergleich mit dem Erwartungshorizont bedeutet, sondern vielmehr wie gebannt auf die Sache schaut und auf nichts anderes! Ist sie doch so sehr mit ihrem Horizont verwoben, daß ich den Kontrast zu ihm an oder noch besser in ihr bemerke, ohne deshalb über sie hinausgehen zu müssen! Das geschieht, indem ich von ihr, wie sie mir bekannt ist und sich verhalten sollte, auf sie schaue, wie sie sich tatsächlich verhält, so daß der Kontrast unmittelbar im Blick auf sie selbst erfahren wird! Nehmen wir einen Dorfbewohner, der in der guten alten Zeit in die Residenz kam und "sprachlos vor Staunen" die monumentalen Gebäude erblickte, die er nie zuvor gesehen hatte und die so gar nicht seinen Vorstellungen von Baulichkeiten entsprechen. Staunte er, weil er die Prunkgebäude an seinen eigenen Häusern maß und mit ihnen verglich? Dann müßte der erste Schritt zu einem solchen Vergleich darin bestehen, die Residenzen als Häuser zu erkennen. Aber schon dieser erste Schritt genügt vollauf, Staunen zu motivieren. Schon er reicht aus, den seltsamen Kontrast auszumachen, in dem die prächtigen Residenzen zum Wesen und Begriff des Hauses stehen, mit dem sie andererseits doch wiederum übereinkommen! So sind Erwartungshorizont und Gegenstand bei aller Unterschiedenheit doch auch wieder derart eins, daß es immer auch seine Unvereinbarkeit mit sich selbst 8 Der Erwartungshorizont, den wir hier beschreiben, ist sorgfältig von der Erwartung zu unterscheiden, die jeder Entdeckung als einem ,,noch nicht" der Sache eigen ist. Wie wir im 3. Abschn. ausgeführt haben, erfährt sich das erkennende Subjekt in den Prozessen des Suchens und Nachdenkens gerade dadurch, daß es als solches ,,noch nicht" der Sache gegenübersteht und sie erwartet. Daher geht es uns hier auch nicht um den "Vorgriff" der jede konkrete Entdeckung leitet, denn das, was wir jetzt erwarten, ist ja nicht nur als zugleich bestimmtes und doch noch offenes Ziel, sondern als das, was wir bereits von der Sache erkannt haben, in allen Einzelheiten gegenwärtig. Auch ist durch diese Ausführungen über den Erwartungshorizont unsere These, daß alles Erkennen sich als radikale Offenheit für die Wirklichkeit und Neuentdecken erfährt, in keiner Weise eingeschränkt, denn auch die Kennnis des Erwartungshorizontes ist ja wieder aus unmittelbaren Begegnungen mit den Dingen entstanden und somit Frucht zahlloser Entdeckungen.

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und seinem eigenen Wesen ist, die Staunen erzeugt. Dieses kann dann natürlich zum Ausgangspunkt eines Vergleiches werden, ja es liegt in der Natur der Sache, daß das geschieht. Doch ist der Vergleich erst die Folge des Staunens, das ihn erst nahelegt und motiviert.

§ 3: Übergänge zwischen den Horizonten

Es bleibt noch ein Wort zu den fließenden Übergängen zwischen Erwartungshorizont im engeren Sinne und Erfahrungshorizont zu sagen! Sie ergeben sich nicht nur aus der standpunktbedingten und letztlich wieder in der Offenheit unseres Erkenntnisvermögens gründenden Art und Weise, in der wir unsere Erfahrungen machen. Sie ergeben sich vor allem aus der schon erwähnten Vielfalt und Ambivalenz dessen, was "Natur der Dinge" bedeuten kann! Im Hinblick auf die vielfältigen Möglichkeiten des Staunens muß dieser Begriff in einem ganz weiten Sinne genommen werden. So würden wir uns nicht nur - und in diesem Falle "maßlos" - über einen Menschen wundern, der "wider alle Natur" plötzlich zu bellen oder zu schweben begänne, sondern wir staunen auch schon über "ungewöhnlich große" Ausgaben der Spezies ,,homo sapiens", die uns mit ihren Bärenkräften überraschen und deren Ausmaß in der Tat alles normale Menschenmaß übersteigt. Oder wir staunen über den Heldenmut, aber auch umgekehrt die satanische Verworfenheit historischer Gestalten, deren Eigenschaften im Gegensatz zu unserer begründeten Erwartung des Menschenmöglichen stehen. Oder aus dem gleichen Grunde über Kunstwerke von "alles überbietender", "einzigartiger" Vollendung! Mit diesen Beispielen ist ein weiter Kreis staunenswerter Objekte eröffnet, bei denen auf den ersten Blick nicht zu sehen ist, von welchem der beiden Horizonte, Erwartungs- oder Erfahrungshorizont, sie sich abheben. Wir meinen das Einmalige, für das es kein Vorbild gibt, so daß es sich prinzipiell nirgendwo einordnen läßt. Der Kontext oder Hintergrund, aus dem es herausfällt, wäre als Inbegriff einer bestimmten Region von Dingen oder Sachverhalten und der in ihr vorgezeichneten Maße und Proportionen zu bezeichnen, denen es nicht entspricht. Dazu gehören beispielsweise großartige Naturschauspiele von "unüberbietbarer" Pracht und das Erhabene im kantischen Sinne, das alle bekannten und für möglich gehaltenen Dimensionen sprengt! Dieses Beispiel zeigt wiederum, daß wir im Staunen die Diskrepanz des Ungewöhnlichen gegenüber dem Kontext auf unmittelbar anschauliche Weise und ohne jeden Vergleich erfassen! Schon dem Wortsinne nach steht das Erhabene turmhoch über allem anderen und gerade dadurch zu ihm in Kontrast, aber seine Erhabenheit ist uns im einfachen Hinblick gegeben und kann nur so auch zum Gegenstand ästhetischer Anschauung werden. Offensichtlich spielt sich der Übergang oder das Ineinanderfließen der beiden Horizonte nach beiden Richtungen hin ab. Zunächst geht natürlich der Erwar-

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tungshorizont im erstgenannten Sinne mit der "Erweiterung unseres Horizontes" in den zweiten über wie er auch die Tendenz hat, asymptotisch sich dem wirklichen Sachzusammenhang zu nähern. Mit dieser Erweiterung verflüchtigt sich das Ungewohnte immer mehr und übrig bleibt als Gegenstand des Staunens das, was tatsächlich in sich selbst ungewöhnlich ist. Umgekehrt aber geht auch der Erfahrungshorizont wieder in den ersten über und Ungewöhnliches hat die Tendenz, sich in bloß Ungewohntes zu verwandeln. Denn so schockierend ungewöhnlich und der Sache nach verwunderlich etwas auch sein mag, so ist es dies doch immer nur vom Standpunkt meines jeweiligen Erfahrungshorizontes aus: mag dieser auch noch so selbstverständlich und in der Erkenntnis dessen, was möglich ist, gegründet erscheinen. Gerade die radikal ungewöhnlichen Dinge, die sich weder als Fata morgana noch sonst irgendeine Art von Trug erweisen und in ihrer "leibhaften Gegenwart" einfach nicht wegdisputieren lassen, sind dazu angetan, den Erfahrungshorizont als solchen zu erschüttern und in den Erwartungshorizont zurück zu verwandeln, aus dem das Neue und Ungewohnte herausfällt. Damit wird jedoch der bisherige Erfahrungshorizont nicht zur bloßen subjektiven Meinung oder gar zur Täuschung degradiert. Er verliert nur seinen Charakter als Inbegriff dessen, was allein möglich ist und wird eben damit zu jenem bloßen Horizont von Dingen und Ereignissen, die mir bisher begegnet sind und als Leitbilder die Erwartung des Zukünftigen motivieren. Nehmen wir als bekannte Beispiele die Wunderberichte der Bibel, in denen der natürliche Zusammenhang der Dinge massiv durchbrochen wird. Auch hier interessiert uns an diesen Berichten nur die Art und Weise, in der die ,,zeugen" oder ,,zuschauer" die Wunder aufgenommen haben. Der Zustand schockartiger Verwunderung hält bei ihnen um so länger an, je mehr ihr Erfahrungshorizont von der Annahme getragen ist, daß die "natürliche", raumzeitliche Ordnung der Dinge die einzig wahre sei. "Offensichtlich" aber läßt sich dieser Horizont nicht aufrecht erhalten und wird damit eo ipso relativiert. Dies kann dadurch geschehen, daß ein höherer Standpunkt und von ihm aus die Begrenzung des bisherigen sichtbar wird. Im Falle unseres Beispieles etwa die Einsicht, daß der Schöpfer aller Dinge auch die Naturkausalität außer Kraft setzen kann. Vom neuen übergreifenden Horizont aus wird so der alte relativiert, ohne indessen gänzlich als Erwartungshorizont aufgehoben zu werden, aus dem die Wunder nach wie vor als das radikal Neue, Ungewohnte herausfallen. Auch dann, wenn sich Wunderbares in einem so radikalen Sinne ereignen würde, daß sich aufgrund dieses Eindrucks der alte Erfahrungshorizont in gar keiner Weise behaupten könnte, wird er damit nicht aufgehoben, sondern er ändert nur seinen Sinn. Er wird vom Inbegriff denkbarer und möglicher Dinge zum Inbegriff dessen, was mir als denkbar und möglich erschien und dient so als fortwährende Grundlage des Staunens, die auch dann bliebe, wenn ich keine Aussagen mehr über das wagen würde, was sein kann und was nicht.

4. Absehn.: Staunen als Alternative

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Kapitel 4: Staunen über das Selbstverständliche § 1: Das "es selbst Sein" der Sache als Anlaß und Gegenstand

Unsere Ausführungen könnten den Eindruck erwecken, daß wir nur über seltsame und ungewöhnliche Dinge staunen. Doch davon kann keine Rede sein: ist doch Staunen die gleichursprüngliehe Alternative zur normalen Erkenntnis. Wir können jederzeit über alles und jedes staunen, ja die eigentümliche Ambivalenz, die zwischen der normalen Erkenntnis und dem Staunen spielt und die, wie noch zu zeigen ist, Ausdruck einer tieferen Ambivalenz des Erkenntnisvermögens ist, zeigt sich gerade darin, daß wir auch über die scheinbar banalsten Dinge in Staunen geraten können. Gewiß wird man solches Staunen über ganz einfache, längst vertraute Dinge und Sachverhalte als Ausdruck radikalster philosophischer Besinnung auffassen, doch ist diese bekanntlich kein Vorrecht von Fachphilosophen, sondern vermag jeden zu ergreifen. Dank dieser Fähigkeit über alles und jedes zu staunen, die uns etwa ein Adalbert Stifter in so meisterhafter Eindringlichkeit lehrte, treten wir in die uns umgebende Wirklichkeit immer wieder, um ein Wort Max Schelers zu variieren, wie in einen "blühenden Garten" ein. Ohne sie gäbe es keine Kontemplation, wie auch umgekehrt der Verfall der Epoche sich darin zeigt, daß die Menschen dieses Staunen immer mehr verlernen. Die Möglichkeit, über alles und jedes zu staunen, wird im Laufe der geistigen Entwicklung des einzelnen oder auch der Kultur, in der er steht, durch die Erfahrung und ihr Kategoriensystem überdeckt, in dem die Einteilung der Dinge in das, was es geben kann und was nicht, schließlich mehr und mehr zementiert wird. Grundsätzlich aber bleibt auch der gewohnte Rahmen der Dinge überraschend und damit auch die Möglichkeit, jene Kruste der Erfahrung, die sich über den Blick unserer Offenheit gelegt hat, zu durchbrechen und in umfassendem Staunen alles und jedes immer wieder von neuem als überraschend zu erfahren. Besonders deutlich wird diese Elastizität oder Fähigkeit, jederzeit über alles und jedes zu staunen wie gesagt bei den Kindern, bei denen noch gar keine Rede davon sein kann, daß die Offenheit des Erkenntnisvermögens durch Erfahrungen des Üblichen überlagert ist, sondern bei denen sie in ihrer ganzen Ursprünglichkeit als bestimmungslose Leere und Fähigkeit, überrascht zu werden, vorhanden ist. Deshalb staunen sie tatsächlich über alles: so anhaltend und intensiv, wie es Erwachsene kaum noch vermögen. Zugleich aber staunen sie überhaupt nicht, sondern sind bereit, das Ungeheuerliche, das ihnen beispielsweise in den Märchen vermittelt wird, ebenso gelassen hinzunehmen wie die Dinge, die sie tagtäglich umgeben. Aber gerade deshalb, weil wir "von uns aus" grundsätzlich über alles und damit auch über die an und für sich nicht staunenswerten, "normalen", selbstverständlichen Dinge ins Staunen geraten können, sollten wir auch bei ihnen nach einem Grund fragen, der das Staunen anstößt. Auch sie müssen doch etwas haben, das auffällt und Staunen erregt?

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

Die Antwort kann nur lauten, daß es gerade diese radikale Selbstverständlichkeit, das unabweisbar vor mir stehende und sich mir entgegendrängende Sein der Sache ist, das die Verwunderung über sie und ihr "So-und-nicht-anders-Sein" hervorrufen kann! Sie wird hier angestoßen durch das ins Auge springende "esselbst-Sein" der Sache: dadurch, daß ich die Evidenz dessen, was vor mir steht, weder zu leugnen noch sonst in irgendeiner Form zu bestreiten vermag. Man könnte auch sagen, daß sich das Staunen hier an der unumstößlichen Objektivität der Sache entzündet, wenn dieser Ausdruck nicht sogleich wieder das Mißverständnis nahelegen würde, daß sie als Glied einer Subjekt-Objekt-Relation erfahren wird, was gerade nicht der Fall ist. Sie wird auch hier nicht als Objekt, sondern als sie selbst erfahren. Wir können das Aufleuchten dieses Staunens erfahren, wenn wir eine Sache in höchster Bewußtheit und gesammelter Aufmerksamkeit betrachten und so in besonderer Ausdrücklichkeit realisieren, daß sie es ist, die wir tatsächlich vor uns haben. Gerade die Intensität, mit der sie uns gegeben ist, kann die Verwunderung über ihr bestimmtes Sein hervorrufen. Aus der vollständigen ihrer selbst bewußten Konzentration auf ihr Sosein kann die Frage entspringen, warum sie gerade so und nicht anders ist! Der Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und Staunen ist so offensichtlich, daß auch hier das Mißverständnis abzuwehren ist, als handele es sich bei Aufmerksamkeit, Konzentration oder Intensität des Bewußtseins um Sachverhalte, die in die Zuständigkeit der Psychologie fallen. Ganz im Gegenteil bedeuten diese Begriffe hier wiederum nichts anderes als das vollkommene Vorhandensein und die in idealtypischer Reinheit sich selbst gegebene und als solche jederzeit phänomenologisch nachvollziehbare Erkenntnisrelation, in der die Intensität des Bewußtseins nichts anderes ist als sein vollkommenes Aufgehen im Präsentieren der Sache, seine vollkommene Objektivität. Sie bedeuten also, daß die Sache als sie selbst und nichts anderes gegeben ist und damit allerdings auch immer schon im Sinne der Spannung des vollkommenen, zum Bewußtsein seiner selbst gekommenen Erkenntnisaktes das ihr gegenüberstehende Subjekt. Aufmerksamkeit, Konzentration und Intensität sind also hier nicht nur keine psychologisch faßbaren Gegebenheiten der inneren Wahrnehmung, sondern schließen gerade alle beiherspielenden psychologischen Faktoren aus, die das Ereignis der Erkenntnis und damit jene Sammlung stören könnten, die als vollkommenes ,,sichRechenschaft- Geben" von der Sache diese Form des Staunens über ihr Bestehen allererst ermöglichen. Natürlich trifft es zu, daß gerade die psychologisch faßbare und bewußt vom Willen gesteuerte Anstrengung, mit der ich mich aus der Zerstreuung aufraffe und die gesammelte Intensität, die ich im Extremfalle beinahe schmerzlich als psychisches Erlebnis empfinde, Voraussetzung der ungetrübten Gegenwart der Sache und damit auch der Verwunderung sind, die ja hier erst dann zustande kommt, wenn ich so sehr auf sie achte, daß sie mir gerade deshalb auffällt. Aber

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dieser in innerer Wahrnehmung faßbare Kaftakt der Intensivierung und Schärfung des Bewußtseins ist nur die psychologische Voraussetzung dafür, daß es zur ungetrübten Herstelllung der Erkenntnisrelation kommt: nicht schon sie selbst! Im Blick auf sie bleibt es daher gleichbedeutend, zu sagen, daß die Verwunderung aus der vollkommenen Konzentration auf die Sache entspringen kann oder aus ihrer vollkommenen Gegenwart, in der sie sich in ihren scharfen Konturen unverwechselbar in der Offenheit des Bewußtseins abzeichnet. Wir stoßen auch auf diesen naheliegenden Zusammenhang zwischen der vollkommenen Selbstgegenwart der Sache und dem Aufleuchten der Verwunderung, wenn wir uns vergegenwärtigen, was es heißt, eine Sache näher "ins Auge zu fassen" oder zu "mustern". Diese Musterung ist nichts anderes als eine Modifikation des Aktes der voll bewußten Aufmerksamkeit, in der das Merkmal der Sammlung besonders deutlich herausgehoben ist, mit der wir sie - eben in aller Ruhe - mustern. Auch diese Musterung ist kein psychologisch faßbarer Zustand, sondern der reine, vollkommen zu sich selbst gekommene Akt, der sich ungestört auf die Sache richtet. Gerade deshalb kann es zu seinem Zustandekommen einer intensiven Anstrengung bedürfen, die aber nicht mit ihm zusammenfällt, sondern seine äußere Voraussetzung bleibt. Damit wir die Dinge überhaupt mustern können, müssen wir in besonderem Maße zu jener "existentiellen Entbundenheit vom Organischen ... von dem Bann, dem Druck, von der Abhängigkeit vom Organischen" kommen, die nach Schelers tiefsinniger Analyse die Voraussetzung aller rein geistigen Wißbegierde ist, in der ich ihr Sein zu betrachten vermag. 9 Gewiß ist eine solche Musterung zunächst nur darauf aus, die Eigenart der Sache zu erfassen und - wie schon der Name sagt - herauszubekommen, unter welches typische "Wesensmuster" sie einzuordnen ist. Aber wenn ich sie im vollen Sinne des Wortes mustere und nicht aufhöre, sie zu mustern, dann kann dies gerade bedeuten, daß ich sie nicht mehr einfach hinnehme, sondern über sie zu staunen beginne, wenngleich die Musterung auch bei der Selbstverständlichkeit stehenbleiben kann, in der sich die Sache präsentiert. Ihrer eigenen Logik nach tendiert sie jedenfalls dazu, in den Akt des Staunens darüber umzuschlagen, daß die Sache so und nicht anders ist. Vergegenwärtigen wir uns auch, was "Kenntnisnahme" der Sache bedeuten kann und was wir in jenem Akte erfahren können, der im vollen Sinne des Wortes diese Bezeichnung verdient. Einerseits nehmen wir sie einfach zur Kenntnis, aber wenn wir dies bewußt tun, kann schon das Bewußtsein, daß sie es ist, die wir zur Kenntnis zu nehmen haben, gerade in seinem stets auf sie allein gerichteten Vollzug über sie hinausführen und ihr Bestehen selbst wiederum zum Thema werden lassen! Daß sich Staunen so gerade an der Sache entzündet, die in voller und einsichtiger Klarheit gegeben ist als das, was sich von selbst versteht, läßt sich auch an 9

Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. 8. Aufl., Bern u. München

1975, S. 38.

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

dem Doppelsinn des Urteils verdeutlichen: "so ist die Sache also!" mit der Erkenntnis zu ihrem krönenden Abschluß kommt und sich ausdrücklich Rechenschaft gibt über sich selbst. Mit erledigender Endgültigkeit erfahre ich im Urteil, daß die Sache so ist, wie sie nun einmal ist. Gerade deshalb lädt diese Erfahrung sowohl dazu ein, bei der Sache stehenzubleiben, wie sie sich von selbst versteht wie sie auch das Augenmerk auf die Tatsache zu lenken vermag, daß sie überhaupt so und nicht anders ist. Dieses Augenmerk aber ist schon Verwunderung, sofern es die Sache nicht nur einfach hinnimmt, sondern auf die Frage hinausläuft, warum sie eigentlich so ist, wie sie mir entgegentritt, wobei diese Frage keine Antwort als Angabe eines Grundes verlangt, sondern schwebend in sich selbst verbleibt. Man sieht leicht, daß all diese Formen des Staunens, die sich gerade am selbstverständlichen Sein der Sache entzünden und damit an der Tatsache, daß sie so ist, wie sie nun einmal ist, durch ihr Bestehen provoziert werden und zunächst auf dieses gerichtet sind. Deshalb geben wir hier auch dem Begriff "Verwunderung" den Vorzug, obwohl das Staunen über die Sache und die Verwunderung über ihr Bestehen nur Aspekte ein und derselben Erfahrung sind. Immerhin ist es hier möglich, daß der Akt des Staunens von der scheinbar tautologischen, in ihm aber zu einer Ausdrücklichkeit ganz eigener Art gelangenden Erfahrung seinen Ausgang nimmt, daß die Sache überhaupt so ist, wie sie nun einmal ist und sie ursprünglich unter dieser Rücksicht fixiert.

§ 2: Einsichtig notwendige Sachverhalte als Gegenstand

Aus den genannten Gründen scheinen gerade einsichtig notwendige Wesenssachverhalte ideale Ausgangspunkte solcher Verwunderung zu sein. 10 Daß ich auf den einsichtigen Sachverhalt als auf etwas absolut Letztes stoße und daß ich dies bewußt tue, motiviert hier die Verwunderung. Zwar scheint sie - und daran zeigt sich gerade die der ganzen Sphäre des Staunens eigene Ambivalenz gerade hier völlig unmöglich, weil er den Grund seines notwendigen Bestehens schon in sich selber trägt, aber gerade dieser Umstand ist auch geeignet, das Augenmerk darauf zu lenken, daß dies überhaupt so ist und der betreffende Sachverhalt so und nicht anders, nämlich als einsichtig notwendig besteht. Auf der anderen Seite drängt sich gerade hier wieder die Vermutung auf, daß die Selbstevidenz solcher Sachverhalte jede Art von Infragestellung ausschließt. 10 Dabei sehen wir von der Frage ab, inwieweit auch diese Sachverhalte über sich hinausweisen auf einen größeren Zusammenhang, in den sie integriert sind und innerhalb dessen sie bestehen. V gl. dazu Einl. Kap. 4. Hier genügt der phänomenologisch aufweisbare Unterschied zwischen Sachverhalten, deren Evidenz und Notwendigkeit im einfachen Hinblick aufleuchtet und jenen, die ihren Gehalt und Sinn von vomeherein nur in einem größeren Verweisungszusammenhang haben.

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So oder so müßte diese bedeuten, daß es auch denkbar wäre, daß sie anders sind, was gerade durch ihre innere Notwendigkeit völlig ausgeschlossen scheint. Das Problem wird noch deutlicher, wenn wir die Verwunderung als Offenlassen oder Offenhalten verschiedener Möglichkeiten interpretieren. So scheint sie hier nur um den Preis der Verfremdung der einsichtig notwendigen Sachverhalte zu bloßen Tatsachen möglich zu sein und damit ihr Wesen nicht so sehr zu erschließen als vielmehr zu verfälschen. Daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, der Mensch ein Gemeinschaftswesen, jedes Geschehen seine Ursache hat, sind gerade keine bloße Tatsachen, sondern innerlich notwendige Sachverhalte. Ihr einsichtig notwendiger Charakter aber scheint sich in das Gegenteil seiner selbst zu verwandeln, wenn ich sie als bloße Tatsachen betrachte. Wir müssen hier daran erinnern, daß sich gerade aus unserer Sicht der radikalen Offenheit des Erkenntnisvermögens und des damit gegebenen Wesens des Erkennens als Entdeckens die Möglichkeit ergibt, den Begriff der Erfahrung auf jede Erkenntnis anzuwenden! In diesem wohlzuverstehenden Sinne erfahre ich auch die einsichtig notwendigen Sachverhalte, wenn ich entdeckend auf sie stoße, was, wie schon ausgeführt, keineswegs ausschließt, daß es sich hier um eine besondere Art der Erfahrung handelt, die sich wesentlich von der bloßen Beobachtung unterscheidet. In diesem Erfahrungscharakter einer jeden Erkenntnis ist die Möglichkeit begründet, auch den einsichtigen Sachverhalten im Modus der Verwunderung zu begegnen und sie damit in der Tat in gewisser Weise als "Tatsaehen" zu erfahren. Diese Erfahrung degradiert sie nicht zu empirischen Fakten, sondern sieht sie nur mit ganz neuen Augen und nimmt sie so im Sinne dieses ganz weiten, ganz ursprünglichen, ganz allgemeinen Begriffes von Erfahrung in neuer Weise zur Kenntnis, der nur Auffinden und Entdecken dessen meint, was uns irgend zu begegnen vermag. Sie erfährt nicht, daß der betreffende Sachverhalt anders sein könnte, sondern daß er in dieser einsichtigen Notwendigkeit besteht, wird selber als Faktum erfahren. Es ist also nicht so, als ob diese Notwendigkeit nicht mehr in den Blick kommen würde. Gerade sie ist es ja, auf die sich die Verwunderung richtet. Dabei ist freilich auch im Sinne dessen, was wir in Kap. 2 § 1 über den Gegenstand der Verwunderung, die Einheit der Sache und ihres Bestehens, gesagt haben, zu bedenken, daß sie hier stets auf das Ganze des Sachverhaltes in seiner einsichtigen Notwendigkeit geht, die von ihm in gar keiner Weise zu trennen ist.

KapitelS: Die radikale Verwunderung § 1: Die radikale Verwunderung als Vollendung des Staunens

In dem Bestreben, einerseits den Akt des Staunens herauszupräparieren und reinlich von dem des "normalen Erkennens" zu unterscheiden und andererseits guter phänomenologischer Tradition folgend gemäß dem Satz zu verfahren:

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"actus specificantur ab objectis", haben wir das Staunen bis jetzt nur betrachtet, wie es sich auf ganz bestimmte Dinge richtet und sie fixiert. Das war berechtigt, weil es in der Regel einen konkreten Ausgangspunkt hat, an dem es sich entzündet und der es dazu bringt, sich auf die entsprechenden Dinge zu richten. 11 Darüber hinaus aber hat es noch eine zweite, tiefere Dimension, die schon andeutungsweise in unserem Aufweis sichtbar geworden ist, daß wir nicht nur über das an und für sich Erstaunliche, sondern über alles und jedes staunen können. Diese tiefere Dimension oder Intention mögen wir alle schon einmal wenigstens andeutungsweise in den flüchtigen Augenblicken völliger kontemplativer Ruhe erfahren haben: wenn wir etwa an einem stillen Sommerabend im Blick auf die schweigenden Wälder und die femen Berge, die wir dabei in voller Klarheit vor uns haben, das Gewicht der Frage empfinden, ob das alles wirklich so ist, wie es ist und nicht vielmehr ein einziger, ungeheurer Traum: wesenlos, sich selbst auflösend oder nur ein Schleier, hinter dem sich ganz anderes, Unfaßbares verbirgt. Vielleicht haben wir uns in einem solchen Augenblick auch ,,nur" gefragt, woher denn diese ganze schöne Welt wohl kommen mag, die uns umgibt. Wir sagen "nur", denn die Verwunderung, die wir meinen, reicht tiefer als die gewiß hochverdienstliche, den Menschen als animal metaphysicum auszeichnende Frage nach dem Ursprung aller Dinge. Sie läßt sich auch nicht auf die Frage reduzieren, ob unsere Erkenntnis tatsächlich an die Wirklichkeit herankomme oder sich von ihren Erscheinungen ständig an der Nase herumführen lasse: von den armseligen Späßen eines Descartes über Sinnestäuschungen und den deus malignus ganz zu schweigen! Auch sie ist Erfahrung der Wirklichkeit und nicht das Ergebnis einer bestimmten philosophischen Optik und der aus ihr resultierenden philosophischen Konzeption der Wirklichkeit! Ihre Tiefendimension ist darin angelegt, daß schon der jeweilige Akt des Staunens die Tendenz hat, sein unmittelbares Objekt zu transzendieren und über den eigentlichen Anlaß hinaus alles und jedes in Frage zu stellen und damit zur ,,radikalen Verwunderung" zu werden, die prinzipiell alles für möglich hält. Erinnern wir uns daran, daß jeder solche Akt nicht nur die Sache, sondern den Kontext in Frage stellt, aus dem sie herausfällt, weil dieser sie und ihn widerlegt. Und das gilt nicht nur für das Staunen über das Ungewohnte und Ungewöhnliche, sondern in ähnlicher Weise auch für das Staunen über das Selbstverständliche, das sich nicht am Kontrast der Sache mit ihrem Erfahrungshorizont, sondern einfach an ihr entzündet! Auch hier führt die Logik des Staunens dazu, nicht nur es selbst, sondern den ganzen Zusammenhang einzubeziehen, in den es eingebettet ist und auch über ihn noch hinauszufragen! Aber das sind nur Präliminarien. Zur eigentlichen Tiefendimension und der ganzen ursprünglichen Radikalität des Staunens kommen wir erst dann, wenn 11 Das muß nicht unbedingt der Fall sein, wenn Staunen die große und ursprüngliche Alternative zur "normalen" Erkenntnis ist. Dann ist es auch denkbar, daß es ganz spontan ausbricht, ohne daß man angeben könnte, durch was in der Sache es hervorgerufen ist.

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wir ermessen, daß die ihm eigene Verwunderung in sich schon das Moment der radikalen Unbestimmtheit und damit der grenzenlosen Ausweitung in sich birgt. Wenn sie erfährt, daß die Sache auch ganz anders oder an ihrer Stelle ganz anderes sein könnte, dann tut sich schon damit die unbestimmte Möglichkeit auf, daß alles ganz anders sein könnte, als es ist und vielleicht deshalb auch in der Tat ganz anders ist, als es sich uns zeigt. So besteht die der radikalen Verwunderung eigene Erfahrung einfach darin, daß schlechterdings und in prinzipiell unbestimmbarer Weise möglicherweise alles möglich ist und es damit auch möglich ist, daß die Wirklichkeit ganz anders ist, als sie zu sein vorgibt! Zwar ist die Erfahrung dieser Möglichkeit des "anders-sein-Könnens" auf die konkreten Dinge zurückbezogen, an denen sich das Staunen entzündet. Aber die unbestimmte Möglichkeit dessen, was an Stelle der staunenerregenden Dinge sein könnte, führt selbst wiederum die Möglichkeit zu ihrer eigenen, ihrerseits völlig unbestimmten und grenzenlosen Ausweitung mit sich. So waren, um bei unserem Beispiel zu bleiben, die Jünger nicht deshalb so fassungslos, weil Jesus über den See wandelte, sondern weil damit ihr ganzes Weltbild zusammenbrach und alles als möglich erschien! Diese Erfahrung ist also latent in jedem Akt des Staunens gegenwärtig und reißt ihn über sich hinaus, ja man kann die ihrer Natur nach völlig unbestimmte Möglichkeit von allem, die die Verwunderung eröffnet, geradezu als Hintergrund und Horizont bezeichnen, der in wechselseitigem Bedingungszusammenhang jedem einzelnen Akt des Staunens allererst seine letzte Begründung verleiht. Denn nur dadurch, daß alles möglich und damit möglicherweise auch ganz anders sein könnte, ist es letzten Endes plausibel, daß dieses Ungewöhnliche, überaus Seltsame, Unbegreifliche, ja Ungeheuerliche hier überhaupt existiert, während umgekehrt die Erfahrung jener radikalen und unbestimmten Möglichkeit gerade dadurch angestoßen wird, daß dieses Ungeheuerliche hier und jetzt aufscheint, das mich aus allen Wolken fallen läßt. So haben wir hier einen eigentümlichen, gegenseitigen Motivationszusammenhang vor uns, der zunächst zwischen der staunenerregenden Sache und der von ihr ausgehenden Erfahrung besteht, daß alles, was sie betrifft, radikal anders sein könnte und sodann zwischen der in ihr begründeten und sie andererseits selbst wieder gründenden Erfahrung, daß alles im radikalen, wenn auch unbestimmten Sinne des Wortes möglich ist. Dabei handelt es sich auch hier nicht um verschiedene Akte, sondern nur um Aspekte einer einzigen unteilbaren Erfahrung. Dennoch ist es berechtigt, das Staunen über bestimmte Dinge - und mag dazu auch das Sein der Welt im ganzen gehören - von dieser tiefen Verwunderung, die wir im folgenden stets als "radikale Verwunderung" bezeichnen, zu unterscheiden. Denn trotz des zweifellos bestehenden inneren Begründungszusammenhanges ist das Staunen über dies und jenes auch dann schon ein hinreichender, aus sich selbst verständlicher Motivationszusammenhang, wenn es nur das Ganze der staunenerregenden Sache und ihres Kontextes in Frage stellt und

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nicht bis zur radikalen Verwunderung vorstößt! Wenn es zudem eine gleichursprüngliche Alternative zur "normalen" erkennenden Begegnung mit den Dingen ist und die reine Verwunderung seine natürliche Vollendung und sein eigentliches Zusichselbstkommen, dann kann diese sich auch jederzeit spontan und ohne besonderen Grund in den Dingen ereignen. Sie sind dann selbstverständlich einbezogen in ihren Blick, aber nicht die Veranlassung dafür, daß es zu einem solchen Akt grenzenloser Erfahrung kommt! Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die Möglichkeit des Andersseinkönnens, die sich im Staunen auftut, trotz ihrer Unbestimmtheit kein Gedankenspiel, sondern Gegenstand einer konkreten Erfahrung ist und von daher ihre Motivationskraft besitzt. Ganz sicher ist die Vernarrtheit unseres naturwissenschaftlichtechnischen Zeitalters in das, was sich definitorisch festlegen und explizieren läßt, einer der Gründe dafür, daß dem Staunen heute auch in der Pädagogik ein so geringer Stellenwert zugemessen wird! A fortiori muß sich der Verdacht, es mit reinem Gedankenspiel zu tun zu haben, gegen jene grenzenlose und absolute Möglichkeit von allem richten, mit der es die radikale Verwunderung zu tun hat. Auch hier liegt der Fehler darin, daß diese Möglichkeit sozusagen für sich als isolierter Gegenstand betrachtet wird, der dann wegen seiner Unbestimmtheit in nichts zerfließt und nicht als Korrelat einer lebendigen Erfahrung, die tatsächlich diese Möglichkeit entdeckt. Blitzartig leuchtet im Anblick dessen, was ungeahnt und unerhört ist, ja vielleicht gar nicht möglich sein sollte, aber dennoch besteht, die Möglichkeit auf, daß alles ganz anders sein könnte, als es tatsächlich ist und überhaupt alles nur Denkbare und Unausdenkbare möglich sein kann oder möglicherweise sogar wirklich besteht: auch das also, was wir normalerweise für unmöglich erachten oder von dem wir zu erkennen glauben, daß es unmöglich ist. Es ist, als würde im Staunen plötzlich der Himmel über uns aufreißen und uns eine unermeßliche Fülle unbekannter, nie für möglich gehaltener Dinge ahnen lassen, ohne daß wir ausmachen könnten, worin ihre Eigenart besteht. Diese Formulierungen sind nur eine unvollkommene, weil immer schon festlegende Andeutung dessen, was wir als grenzenlosen, unbestimmten Horizont von Möglichkeiten in jedem Akte wirklichen Staunens erfahren. Wir entdecken nicht, daß dies oder jenes - entgegen unserer Annahme - sein kann, sondern im unbestimmtesten und weitesten Sinne, daß möglicherweise alles möglich und daher auch alles ganz anders sein könnte. Dabei liegt es auf der Hand, daß sich der Gegenstand dieser Erfahrung dennoch angemessen formulieren läßt, ist doch die unbegrenzte Möglichkeit dessen, was es möglicherweise geben kann und gibt, in sich selbst schon das Gegenteil allen Festgelegtseins. Aber die radikale Verwunderung ist nicht nur Höhepunkt des Staunens, sondern auch von größter Bedeutung für die Vollendung der "normalen Erkenntnis", wobei wir Vollendung auch hier wieder nicht als Erkenntniszuwachs, sondern als die vollkommene Ausgestaltung der Erkenntnisrelation, das vollkommene

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Sich- Klarwerden über den Gegenstand verstehen. In diesem Sinne ist die offene Möglichkeit, die die radikale Verwunderung auftut, der unermeßliche, leuchtende Hintergrund, der es uns erlaubt, die Dinge in einzigartiger Weise und vollkommener Distanz als sie selbst zu erfahren. Ausgehend von der grenzenlose Erwartung, daß alles ganz anders sein könnte, ja alles möglich ist, sehen wir sie mit ganz neuen Augen, nämlich im Modus des "dennoch" an. Wir erwarten uns alles und dennoch begegnen uns diese ganz bestimmten, so und nicht anders festgelegten Dinge. Im Blick auf sie wird für uns alles offen und möglich und dennoch sind sie auch wiederum in dieser Weise festgelegt. Wir erwarten "alles Mögliche" und gerade deshalb zeugen sie so, wie sie nun einmal sind, auch wiederum unleugbar für sich selbst. So werden sie als das erfahren, was auch ganz anders sein könnte und dennoch so und nicht anders ist! Es wäre ein völliges Mißverständnis, wollte man diese der radikalen Verwunderung eigene Erfahrung entgegen ihrer Intention und dem, was sie offenbart, als Erkenntnis der tatsächlichen Struktur der Wirklichkeit und dessen, was im Blick auf sie möglich ist oder nicht, interpretieren: so wie die Metaphysiker von Possibilien sprechen und sie von dem unterscheiden, was auf keinen Fall wirklich sein kann und deshalb als "nihil negativum" bezeichnet wird. Eine solche, in thesenartige Urteile einmündende Erkenntnis wäre genau das Gegenteil der staunenden Erfahrung, die wir meinen, nämlich Festlegung und Vorentscheidung über die Natur der Wirklichkeit und über das, was möglich ist und was nicht! Ja, man kann im strengen Sinne des Wortes noch nicht einmal sagen, daß wir erfahren, daß tatsächlich alles möglich ist, sondern daß alles möglich sein könnte, und damit erfahren wir lediglich die Möglichkeit, daß alles möglich ist. Die gewundene Formulierung ist notwendig, um die ganz einfache und unmittelbare Erfahrung vor dem Mißverständnis zu schützen, das automatisch entsteht, wenn man sie in der Sprache und wie ein Ergebnis der nicht staunenden, normalen, in Thesen einmündenden Erkenntnis charakterisiert. § 2: Abgrenzung von der metaphysischen Verwunderung

Wir haben schon angedeutet, daß die radikale Verwunderung gerade wegen ihrer alle Fesseln des bestimmten Fragens sprengenden Weite und Radikalität nicht nur deutlich von all jenen Formen des Staunens und Befremdens abzugrenzen ist, die innerhalb des Zusammenhangs der Welterfahrung auftreten, sondern auch von der metaphysischen Verwunderung, die sich auf das Bestehen dieses Zusammenhangs im ganzen richtet. Indem sie so oder so nach seiner inneren Möglichkeit fragt und nach den Gründen seines Bestehens, setzt sie schon voraus, daß diese Fragen sinnvoll und notwendig sind, und damit setzt sie auch schon wieder ihn selbst und sein Gestaltgesetz voraus. Sie ist also keineswegs so radikal voraussetzungslos und ursprünglich wie die radikale Verwunderung, und das sei exemplarisch an den beiden großen Denkmodellen belegt, die in der europäischen

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Philosophiegeschichte in ganz konträrer Weise die Intensität der metaphysischen Verwunderung bezeugen. Zunächst haben wir jene von Aristoteles ausdrücklich als Anfang aller Weisheit bezeichnete Verwunderung, die die erfahrbare Wirklichkeit nicht einfach als selbstverständlich hinnimmt, sondern hinter sie zurückfragt nach ihrem letzten Grunde. Sie läßt sich in der Frage zusammenfassen, warum die Welt überhaupt ist, warum sie so ist, wie sie ist oder noch radikaler und tiefer ansetzend, warum Seiendes überhaupt ist und nicht vielmehr Nichts. Um aber so fragen zu können, bedient sie sich bereits der Prinzipien und Gesetze, die die Seinsstrukur der hinterfragten Wirklichkeit bestimmen. Sie kann sich nicht auch noch von ihnen distanzieren, sondern muß sie vielmehr voraussetzen, um zu Antworten zu kommen! So setzt sie zunächst ganz einfach voraus, daß es sinnvoll ist, nach dem zureichenden Grunde zu fragen, der eine Sache, einen Sachverhalt, schließlich die gesame Wirklichkeit bestehen läßt. Sie setzt also zumindest das principium rationis sufficientis und die Annahme voraus, daß es tatsächlich jenen Begründungszusammenhang zwischen den Dingen gibt, den sie zu "ergründen" trachtet. Sie setzt voraus, daß dieses Prinzip in der Natur des Seienden selbst verankert ist und greift damit zurück auf jene für uns normalerweise selbstverständliche Konzeption der Wirklichkeit, in der es seinen Sinn und Stellenwert hat. So hält sich diese metaphysische Verwunderung darüber auf, daß die Dinge trotz ihrer offenkundigen Vergänglichkeit und daraus - wiederum nach dem principium rationis sufficientis - zu folgernden Nichtigkeit dennoch existieren und kommt so dazu, über sie hinauszufragen. Daß es sich bei den Prinzipien und Sachverhalten, die sie voraussetzt, unter Umständen um letzte, in sich evidente Wahrheiten handelt, unterstreicht nur noch die Tatsache, daß sie vorausgesetzt werden müssen. Das zweite Modell der metaphysischen Verwunderung ist tpyisch für die Bewußtseinsphilosophie der Neuzeit. Sie hält sich darüber auf, daß unsere Erkenntnis die Wirklichkeit überhaupt trifft. Ob eine solche Verwunderung sinnvoll ist, hängt wiederum wie bei der erstgenannten Form der metaphysischen Verwunderung von der jeweiligen Konzeption der Wirklichkeit ab. Sie umfaßt in unserem Falle jene ganz spezifische Sicht der Erkenntnis, nach der sie keinen unmittelbaren Kontakt mit den Dingen hat und sie nicht unmittelbar in sich selbst zu entdecken vermag, sondern in der Immanenz des Bewußtseins zunächst nur Vorstellungen von ihnen entwickelt und besitzt. Daran, daß diese - ohne unmittelbar aus der Wirklichkeit genommen zu sein - trotzdem mit ihr übereinstimmen sollen, entzündet sich hier die Verwunderung. Aber auch in diesem Falle setzen die offenen Fragen, die aus ihr entspringen, schon wieder die Sachlogik der bestehenden Welt voraus und sind nur zu lösen, wenn ich mich auf sie einlasse. Denn selbstverständlich orientieren sich die wenigen Denkmodelle, die die Geschichte der Philosophie kennt, um mit den Problemen der Immanenzphilosophie fertig zu werden und aus dem Käfig des Bewußtseins herauszukommen, an den wirklichen Modellen der uns bekannten Welt, an den Möglichkeiten von Zusammenhän-

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gen und Gefügen, die wir in ihr vorfinden. Sie setzen voraus, daß deren Sachlogik überall gilt und funktioniert. Hier überall distanziert sich die Verwunderung also nicht von der Welt, sondern bleibt ihren Zusammenhängen verhaftet und entzündet sich gerade daran, daß die Modelle von Zusammenhängen, die wir in der Welt finden, beim Käfigproblem des Bewußtseins nicht ohne weiteres greifen. Schon in Abschn. 3,2 haben wir gesehen, daß der Rückgriff auf die uns vertraute Sachlogik der Gefüge, die richtig konstruiert wie von selbst den gewünschten Effekt ergeben, bei Kant besonders deutlich wird, der sich nur scheinbar in seiner transzendentalen Begründung über die Gesetze und möglichen Modelle erhebt, nach denen der Zusammenhang der Dinge in der Welt sich regelt. Vielmehr ist dieser Begründungszusammenhang genau so konstruiert wie die uns vertrauten Gefüge dieser Welt, die er als Gegenstände der Erkenntnis konstituieren soll. Unter Voraussetzung der Ausgangslage und der gewünschten Antwort oder des gewünschten Effektes ergibt sich die Lösung mit der gleichen "intramundanen" Notwendigkeit, die auch sonst das Zusammenwirken der Dinge bestimmt. Wenn es tatsächlich so ist, daß wir am Ursprung unseres Erkenntnisbemühens vor dem ungefügen Material der Eindrücke, dem "Mannigfaltigen der Empfindungen" stehen, dann ist das "Räderwerk der Kategorien", wie es Schopenhauer maliziös, aber zutreffend nennt, keine willkürliche Erfindung, sondern so einsichtig und notwendig wie die Teile einer Maschine, von denen keines fehlen darf, wenn das gesteckte Ziel erreicht werden soll. Es besteht also auch hier ein einsichtiger Zusammenhang zwischen dem Sachgrund und der Folge: den transzendentalen Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis und ihr selbst. Jedes Moment des Zusammenhanges ist so beschaffen, daß es auf die Ergänzung durch die anderen hingeordnet ist, damit die Einheit der Apperzeption als Ziel zustandekommt und so ist das Ganze des ,,Erkenntnisgetriebes" hier selbst wieder eine "eidetische" Einheit, die durch die Logik des "wenn-dann" gebildet wird. Auf diese Weise orientiert sich auch Kants Entwurf der Erkenntnis nicht nur an einem ganz bestimmten Modell der Welterfahrung, dem einer Rohstoff verarbeitenden Maschine, sondern er greift damit auch auf jene Wesenseinsichten zurück, die an und für sich in seiner Philosophie keinen Platz haben. Sein System der Erkenntnis setzt durchaus das Vorhandensein einsichtiger Begründungszusammenhänge und Ganzheiten voraus, die sich in einer Weise aus Teilen integrieren, die vom gesteckten Ziele her notwendig ist! Und in diesem Zusammenhang herrscht wiederum das Gesetz von Grund und Folge, das die Welt regiert! Trotz ihrer scheinbaren Voraussetzungslosigkeit stehen so auch die Formen der Immanenz- oder Bewußtseinsphilosophie nicht auf dem Boden der radikalen Verwunderung. Bei ihnen hat sich der Ansatzpunkt der metaphysischen Verwunderung nur verschoben. Daß sie im Ganzen der Wirklichkeit verbleibt und seine Kategorien voraussetzt, zeigt sich auch hier daran, daß sie dieses immer als Bezugssystem voraussetzt, das den notwendigen Erklärungszusammenhang liefert, und damit setzt sie auch die Prinzipien voraus, nach denen Grund und Folge verklammert sind. 8 Hoeres

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Die Abgrenzung der metaphysischen von der radikalen Verwunderung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß beide aufs engste miteinander verbunden sind, sich gegenseitig motivieren und ineinander übergehen! Das liegt in der Logik der der Verwunderung eigenen Distanzbewegung, jenes eigentümlichen Sichaufhaltens über die Dinge, das über sie hinausdrängt zu je radikalerem Offenlassen. Es liegt auch in der Logik der Gegenstände der Verwunderung, denn wenn ich darüber staune, daß die Welt überhaupt besteht, dann liegt es nahe, schließlich auch darüber zu staunen, daß alles so ist, wie es ist und so auf die Möglichkeit zu stoßen, daß alles auch ganz anders sein könnte. Umgekehrt liegt es auch nahe, daß die radikale Verwunderung die metaphysische anstößt, denn wenn sich vor mir die schlechthin unermeßliche Möglichkeit eröffnet, daß alles ganz anders sein könnte, als es ist, dann wird damit auch die Kontingenz der Welt auf eine ganz neue Weise erfahrbar. Festzuhalten ist auch hier, daß es keine notwendige Stufenfolge zwischen den beiden Arten der Verwunderung gibt. Die radikale Verwunderung kann sich jederzeit spontan ereignen und von allen nur denkbaren Objekten angestoßen werden. Ebenso kann die metaphysische Verwunderung bei der Frage nach dem Grunde der Welt stehenbleiben, ohne die ungeheuren Möglichkeiten in den Blick zu nehmen, die sich erst aus der radikalen Verwunderung ergeben. Auf der anderen Seite liegt es nahe, eine natürliche Kreisbewegung zwischen den beiden Arten der Verwunderung anzunehmen und außerdem davon auszugehen, daß der Weg von der metaphysischen zur radikalen Verwunderung führt und wieder zurück, denn wenn diese erst beginnt, Antworten zu suchen, dann hat sie bereits ihre Distanz aufgegeben und ist damit wieder zur metaphysischen Verwunderung geworden.

Kapitel 6: Staunen als Ausdruck der Ambivalenz der Offenheit § 1: Staunen und Nicht-Staunen-Können

Die Entfaltung des Staunens und all seiner Schattierungen bis hin zur radikalen Verwunderung führt unabweisbar zur Frage nach seinen Möglichkeitsgründen im reinen Subjekt. Das ist keine Zuflucht zur Transzendentalphilosophie, denn wenn das Staunen die Sache ebenso zeigt wie die normale Erkenntnis, dann dienen diese "Möglichkeitsgründe" nicht der Konstitution und Präformation des Gegenstandes durch irgendeine Form des Apriori, sondern seiner entdeckenden Freilegung: mag er auch nunmehr in einem neuen Lichte, einer neuen Perspektive, einer neuen Form der Distanz erscheinen! Daß jedenfalls das Phänomen des Staunens seinen Grund nicht so sehr in einer besonderen Beschaffenheit der Dinge als vielmehr in einer besonderen Disposition des erkennenden Subjektes hat, geht schon daraus hervor, daß wir über alles und jedes staunen und nicht staunen können, ein und dieselben Dinge zugleich in der Weise der normalen Erkenntnis wie der des Staunens erfassen können, wobei jede der beiden Weisen

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voll und ganz erfaßt, was die Dinge sind. Noch deutlicher wird das, wenn wir bedenken, daß es ein und dieselbe Erfahrung der Evidenz und Selbstverständlichkeit der Dinge sein kann, die das Staunen über sie ebenso gut anstoßen wie auszuschließen vermag, und zwar beidesmal aus dem gleichen Grunde: der Erfahrung, daß sich die Sache von sich selbst her rechtfertigt und versteht. In diesem Sinne ist es ohnehin immer möglich, das, was an und für sich staunenswert ist oder doch sein sollte, ohne jedes Staunen zur Kenntnis zu nehmen, und es kann keine Rede davon sein, daß sich Staunen im Blick auf seltsame und außergewöhnliche Dinge unter sonst gleichbleibenden Bedingungen stets und notwendig einstellt. Vielmehr gibt es Leute, die selbst die verblüffendsten Dinge und Situationen ohne jede Verwunderung zur Kenntnis nehmen, und umgekehrt können wir, wie gesagt, über alles und jedes staunen. Wir können dies auch so ausdrücken, daß aparte rei natürlich nichts erstaunlich ist, was eben dadurch bestätigt wird, daß wir sowohl über das Seltsame und Ungewöhnliche wie über alles und jedes staunen können. Gäbe es nur die Dinge und nicht das Subjekt mit seinem Erwartungs- und Erfahrungshorizont und darüber ganz allgemein mit seiner Fähigkeit, zu staunen, so könnte noch nicht einmal davon gesprochen werden, daß etwas in sich außergewöhnlich, neu, in irgendeinem Sinne erstaunlich ist! An und für sich sind die Dinge nur das, was sie sind: nicht mehr und nicht weniger! Gewiß gibt es also erstaunliche Dinge, aber wie schon die Begriffe des "Ungewohnten" und "Ungewöhnlichen" zum Ausdruck bringen, sind sie dies nur für uns und unseren Standort und gewissermaßen für einen Moment! Die Paradoxie, daß wir die Dinge wirklich als staunenswert entdecken und diese Entdeckung dennoch gänzlich vom Subjekte abzuhängen scheint, wird noch deutlicher, wenn wir uns fragen, was das allen Gegenständen des Staunens gemeinsame Moment oder der Aspekt ist, an dem es sich bei ihnen allen entzündet und das geeignet ist, den Horizont der radikalen Verwunderung aufzureißen? Denn wie auch immer das Staunen vom Subjekt abzuhängen, ja von ihm ermöglicht und aus ihm hervorzugehen scheint, so bedarf es doch eines Anstoßes und Motivs in den Dingen, sie nicht einfach und kommentarlos hinzunehmen, sondern über sie zu staunen. Sonst wäre gar kein Grund dafür vorhanden, warum wir hier und jetzt "ins Staunen geraten". Auch wenn Staunen völlig spontan erfolgen kann, so muß es doch ein solches gemeinsames, es anregendes Motiv geben, das den unterschiedlichen Dingen, über die wir staunen können, eigen ist. Die Frage nach diesem Motiv ist nicht identisch mit der nach den spezifischen Gegenständen des Staunens, die wir dahingehend beantwortet haben, daß sie so oder so aus dem Kontext der Erfahrung herausfallen. Hier aber geht es um die Frage, was die Gegenstände, die Staunen zu provozieren vermögen, gemeinsam haben, wenn wir einerseits über das Ungewohnte und Ungewöhnliche, andererseits aber auch über ganz normale Dinge staunen können, die keineswegs aus dem Rahmen fallen? Welche Gemeinsamkeit gibt es zwischen dem, womit wir nicht gerechnet haben, nicht rechnen konnten und dem, was einfach ist? S*

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

Halten wir das, was wir über die Erfahrungshorizonte gesagt haben, mit dem zusammen, was wir über das Selbstverständliche und Evidente als Gegenstand des Staunens ausführten, dann ist es zunächst einmal ganz einfach das Neue und als solches Auffallende, das Staunen erzeugt. Denn das fallt auf, was in dieser oder jener Hinsicht neu für uns ist und daher geeignet, die "Aufmerksamkeit" des Subjektes auf sein'Bestehen zu lenken, wobei "Aufmerksamkeit" hier wiederum keinen psychologisch faßbaren Zustand meint, sondern das Ereignis des staunenden Subjektes, das das Sein der Sache in der dem Staunen eigenen ausdrücklichen Distanz erfahrt! In diesem Sinne ist zunächst das, was sich vom Erwartungs- oder Erfahrungshorizont abhebt und mit ihm in Kontrast steht, neu und auffallend zugleich. Aber auch das Selbstverständliche, ja das Evidente kann uns wegen seines "in die Augen fallenden" "so und nicht anders bin ich also" zum Staunen motivieren, obwohl es an und für sich als Altgewohntes nichts Neues ist. An diesem Aspekt des Erstaunlichen, das Neue zu sein, wird nun vollends deutlich, daß es das Erstaunliche an sich gar nicht gibt. Selbstverständlich hat es nur vorübergehend und nur von meinem Standort aus Sinn, vom Neuen zu reden, so daß es das Neue ebensowenig gibt wie das Erstaunliche an sich. Unter dieser Rücksicht wäre die Paradoxie, die wir hier im Auge haben, auch so zu formulieren, daß wir ein und dieselben Dinge in jener ambivalenten Weise wahrnehmen können, die darin besteht, daß wir im Blick auf sie auf der einen Seite etwas Neues sehen und auf der anderen Seite nichts Neues an ihnen finden, sondern sie als das Selbstverständliche erfahren, das als solches nur noch hinzunehmen ist. Und daß beide Sichten wahr und objektive Erkenntnis sind! § 2: Die Offenheit als Hinnahmebereitschaft und Indifferenz

Die Auflösung der Paradoxie kann nur darin bestehen, daß wir die Dinge im Staunen tatsächlich mit neuen Augen sehen und sie uns infolgedessen in ganz neuer Weise erscheinen können. Damit soll nicht bestritten werden, daß es eines besonderen Motivs in ihnen bedarf, um diese Erfahrung anzustoßen. Doch weil wir über alles und jedes staunen können, kann dieses Motiv nur der Anstoß sein, jenes neue Sehen in Gang zu setzen, dessen Möglichkeit offenbar ganz 'von der eigenartigen, ambivalenten Verfassung unseres Erkenntnisvermögens abhängt. Sie besteht näherhin darin, daß seine Offenheit nicht nur Hinnahmebereitschaft, sondern auch Indifferenz gegenüber den Dingen ist. Wir erfahren, daß das erkennende Wesen die Sache nur erfassen kann, weil es selbst nicht von ihr affiziert oder durch sie bestimmt ist, sondern ihr als ihr ,,Nichts" gegenübersteht. Im zweiten Abschnitt haben wir diese Erfahrung der Indifferenz damit umschrieben, daß es "Sache der Sache" und damit nicht des erkennenden Wesens sei, so und nicht anders zu sein! Die Erfahrung der Offenheit und der Indifferenz gegenüber der Sache bedingen sich gegenseitig. Nur weil wir nicht selbst das sind, was sie

4. Abschn.: Staunen als Alternative

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ist, können wir für sie offen sein, und nur weil wir offen sind, ist sie uns als das gegeben, was wir nicht sind! Ausdrücklich erfahren wir die damit gegebene eigentümliche Spannung, die latent schon in jeder Erkenntnis vorhanden ist, allerdings erst im Akt der bewußten Erkenntnis. Einerseits geht das Bewußtsein auch hier ganz in der Sache auf und "ist" nichts als sie, andererseits erfahrt es sich zugleich als selbständiges Wesen, das ihr gegenübersteht: ganz in ihr engagiert und ganz von ihr distanziert ist. Gleichursprünglich erfährt es, wie es nichts "ist" als sie und wie es ihr in radikaler Distanz als ihr "Nichts" gegenübersteht, wobei in der Einheit des Bewußtseinsvollzuges das eine das andere bedingt. Wie es möglich ist, daß diese Gebrochenheit die Einheit des Erkenntnisaktes nicht sprengt, sondern vielmehr erst begründet und es sich daher nicht um disparate Momente handelt, die zu einer widerspruchsvollen Einheit zusammengespannt sind, erfahren wir schon im einfachen Hinblick auf das, was es heißt: "sich bewußt von einer Sache Rechenschaft geben". Das Bewußtsein erzeugt in seiner höchstmöglichen Intensität seine eigene Spannung und trägt sie immer schon in sich! Im Staunen treten nun die beiden Aspeke des Erkenntnisvermögens: Offenheit als Hinnahmebereitschaft und als Nichtfestgelegtsein oder Indifferenz auseinander. In ihm realisieren wir nur diese, und das ist der Grund dafür, daß wir die Dinge jetzt auf so einzigartige Weise erfahren. Erstaunlich sind sie nur, weil wir sie allein vom Standpunkt unseres eigenen Nichtfestgelegtseins betrachten können. Das scheint auf den ersten Blick schwer vorstellbar, weil sich die beiden Aspekte gegenseitig bedingen und weil es sich bei ihnen daher immer um ein und dieselbe Grundverfassung des Erkenntnisvermögens handelt. Was sollen auch "Nicht-Sein", "Nichtfestgelegtsein", Leere und Bestimmungslosigkeit bedeuten, wenn es sich dabei nicht um Eigenschaften des Erkenntnisvermögens im Verhältnis zur Sache und damit wiederum um seine Offenheit handelt, die Erkenntnis allererst ermöglicht! Dennoch wird diese Offenheit, die selbstverständlich die Grundlage einer jeden Erkenntnis ist, im Staunen nur noch als auf nichts festgelegte Offenheit erfahren. Hier stützt sich das Erkenntnisvermögen so sehr auf sein Nichtfestgelegtsein, wie jemand sich auf ein Standbein stützt, obwohl er selbstverständlich beide Beine zum Stehen braucht. Gewiß kommen wir auch in ihm nicht ohne die Offenheit aus und erfahren sie auch hier als Fähigkeit, die Dinge hinzunehmen. Aber das ist nicht die spezifische, ihm eigene Erfahrung. Die Offenheit wird hier nicht mehr als das "wodurch" erfahren, durch das die Dinge gegenwärtig sind, sondern als dasjenige, von dem her alles möglich ist. Daher sollten wir beim Staunen auch nicht mehr einfach von der Selbsterfahrung der Offenheit für die Dinge sprechen, sondern vielmehr von ihr als dem Standpunkt, von dem aus ich auf die Dinge blicke. Selbstredend dürfen jedoch die Rede vom Auseinandertreten der beiden Aspekte und das Bild vom Standbein auf keinen Fall zu dem Eindruck führen, als

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

würden sie sich auf zwei Dinge verteilen! Gemeint ist nur, daß sich das Erkenntnisvermögen aufgrund der ihm eigenen Offenheit so oder so für die Dinge öffnen oder auf sie einstellen kann, und zwar in der Weise, daß in beiden Fällen die Sache selbst ohne jede Abstriche gegenwärtig wird. Die Ambivalenz ist gerade darin zu suchen, daß die beiden Möglichkeiten, die Dinge zu erblicken, in ein und derselben Fähigkeit beschlossen sind, ja die Art für sie offen zu sein, immer schon - eben als Offenheit - die Tendenz in sich birgt, in die andere überzugehen. Gewiß kann man sagen, daß die kommentarlose Hinnahme der Sache auf der Offenheit für sie beruht, die als solche nichts anderes als Hinnahmebereitschaft ist und das Staunen auf dem Nichtfestgelegtsein ihr gegenüber. Aber diese Feststellung ist selbst wieder ambivalent, wie die folgende Überlegung zeigt. Zwar liegt es in der Tat nahe, Staunen ganz einfach als natürliche Folge der Indifferenz anzusehen. Diese läßt sich ja dahingehend zusammenfassen, daß ich als erkennendes Wesen von der Sache nicht betroffen bin und sie vielmehr als mein Gegenüber erfahre. Und doch ist sie auch die natürliche Voraussetzung dafür, daß die Sache mir als das gegeben ist, was sich von sich selbst her versteht und rechtfertigt und als solches von mir nur noch hingenommen werden kann. So ist sie gerade die Voraussetzung der Erfahrung der Selbstverständlichkeit der Sache. Diese Erfahrung scheint aber alles Staunen auszuschließen und ihm jeden Ansatzpunkt zu nehmen, der allenfalls in einer erfahrbaren Diskrepanz zwischen den beiden Polen der Erkenntnisrelation, nicht aber in der puren Indifferenz des einen gegenüber dem anderen beschlossen liegen würde, die auch die totale Hinund Annahmebereitschaft für die Sache begründet! Doch die gleiche Erfahrung, daß es ihr Sein und ihre Gesetzlichkeit und nicht die meine ist, die das Staunen auszuschließen scheint, vermag es andererseits auch zu begründen. Gerade weil ich als erkennendes Wesen durch die Sache nicht betroffen bin und sie nicht selber "an mir", sondern in der Weise des "gegenüber" vor mir habe, scheine ich ganz von selbst zum Staunen darüber kommen zu können, daß sie so und nicht anders ist! Indifferenz als Aufgeschlossenheit und als Distanz: ein und dieselbe Offenheit, die die ambivalente Erfahrung der Sache als das, was sich von selbst versteht und als Gegenstand des Staunens begründet. In diesem Sinne ist die Ambivalenz auch als Ausdruck jener eigenartigen Überraschung zu betrachten, die konstitutiv ist für alle Erkenntnis. Für die radikale Offenheit des erkennenden Subjektes und die in ihr begründete prinzipiell völlig unbestimmte Erwartung ist alles überraschend, was ihr nur entgegentritt. Aus demselben Grunde könnte man aber auch sagen, daß für sie nichts überraschend ist, und zwar nicht deshalb, weil sie als Offenheit nicht über Maßstäbe verfügen würde, das Überraschende vom nicht Überraschenden zu unterscheiden, sondern weil sich ganz einfach die Frage stellt, warum für das erkennende Subjekt überhaupt etwas überraschend sein sollte, da für seine Offenheit alles in gleicher Weise neu ist. Unsere Analysen könnten den Eindruck erwecken, ja den Verdacht nahelegen, daß das Nichtfestgelegtsein des Erkenntnisvermögens nicht nur der Möglichkeits-

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grund des Staunens ist, sondern daß die Erfahrung der grenzenlosen Möglichkeit, des Offenseins von allem, die ich in der radikalen Verwunderung mache, nur die Projektion dieses Nichtfestgelegtseins in die Wirklichkeit ist. Aber auch hier ist die Phänomenologie dazu angetan, all solche Formen einer Projektionstheorie zu widerlegen! Dazu müssen wir nur die Selbsterfahrung des Staunens noch näher betrachten, in der sich das Subjekt gegeben ist, wie es vom Standpunkt seines radikalen Nichtfestgelegtseins auf die Dinge blickt. Offensichtlich besteht sie darin, daß es zugleich und in der Einheit eines sich bestätigenden Begründungszusammenhanges den offenen Horizont unbegrenzter und unbestimmter Möglichkeiten erHilut und sein eigenes Nichtfestgelegtsein oder seine Fähigkeit, dies alles zu erwarten. So erfährt es in einem Atemzuge, daß von ihm her nichts festgelegt und alles möglich ist und daß möglicherweise auch tatsächlich alles möglich und nichts in irgendeiner schon bekannten Weise festgelegt ist! Dabei handelt es sich schon deshalb um keine Projektion der eigenen Verfassung in die Wirklichkeit, weil beide Erfahrungen sich gegenseitig rechtfertigen und bestätigen. Weil ich nicht festgelegt bin, kann ich das Ungeheure, ganz andere, kann ich alles "nur Mögliche" erwarten, ja davon ausgehen, daß möglicherweise ist, "wovon ich mir gar keine Vorstellung machen" kann. Ebenso aber gilt, daß ich Sinn und Bedeutung meines Nichtfestgelegtseins nur erfahren kann von dem Horizont unbegrenzter Möglichkeiten her, den ich erblicke. Dieses Verhältnis läßt sich nur tautologisch ausdrücken, aber die scheinbare Tautologie bringt nur die Deckungsgleichheit der beiden Erfahrungen zum Ausdruck, die auf dem objektiven Zusammenhang zwischen diesem Standpunkt des Nichtfestgelegtseins und dem Auftauchen jener Möglichkeiten beruht. 12

§ 3: Die Selbsterfahrung des Subjektes in der radikalen Verwunderung

Zum Abschluß dieser Phänomenologie des Staunens wollen wir uns vergegenwärtigen, wie sich das erkennende Subjekt in ganz spezifischer Weise in ihm und besonders in der radikalen Verwunderung gegeben ist. Zunächst einmal wird es in der staunenden Entdeckung des Reiches unbegrenzter Möglichkeiten in einzigartiger Weise seiner Fähigkeit inne, für alles, was ihm nur begegnen mag, offen zu sein. Ist doch die grenzenlose Möglichkeit, die mir im Staunen begegnet, immer im doppelten Sinne zu nehmen. Einmal handelt es sich um die unbestimmt grenzenlose Möglichkeit dessen, was es nur geben mag, sodann um die Möglich12 Auch hier kann keine Rede davon sein, daß diese gedoppelte Erfahrung in einer Reflexion bestehen oder eine solche voraussetzen würde, die im vorliegenden Falle dann zunächst die reine Unbestimmtheit des Erkenntnisvermögens in sich erfassen müßte, um sie als Maßstab in Beziehung zu setzen zu dem unbegrenzten und unbestimmbaren Spielraum der Möglichkeiten, der von ihm her erwartet werden kann. Sondern auch sie ereignet sich im unmittelbaren Blick auf die Sache, so daß wir ihren Gehalt und ihre Bedeutung adäquat nur vergegenwärtigen können, wenn wir diesen Blick hinaus mitvollziehen und dabei unseres eigenen Nichtfestgelegtseins inne werden.

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

keit, dies alles hinzunehmen, und sie wird ihrer Natur nach immer schon als bestimmte Fähigkeit eines konkreten Wesens erfahren! In diesem Sinne ist die Entdeckung unbegrenzter Möglichkeiten aparte rei auch schon die Erfahrung, daß es sich um Möglichkeiten für mich handelt und ich ihnen als aufnahme bereites Subjekt gegenüberstehe. Gerade darin, daß das staunende Subjekt jene Möglichkeiten als bloße Möglichkeiten entdeckt, erfährt es auch seine eigene Möglichkeit oder Fähigkeit, sie erkennend aufzunehmen, und damit erfährt es auch wiederum sich selbst als das Wesen, das nicht nur für dieses und jenes, sondern grundsätzlich für alles gerüstet ist, was ihm nur begegnen mag! Der Ausblick in die grenzenlosen, wenn auch unbestimmten Weiten des Möglichen läßt es seine eigenen Möglichkeiten und damit sich selbst als erkennendes Subjekt erfahren! Eng mit dieser ersten Art, seiner selbst in der Erfahrung inne zu werden, daß möglicherweise alles möglich ist, hängt die zweite zusammen, die paradoxerweise in der Unfähigkeit begründet ist, zu diesen Möglichkeiten Stellung zu nehmen. Indem das staunende Subjekt erfährt, daß es nur Möglichkeiten sind, muß es sie als solche stehenlassen und erfährt somit auch, daß es zu ihrem Bestehen oder Nicht-Bestehen keine Stellung nehmen kann. In ein und derselben Hinsicht und daher wesenhaft in einem einzigen Augenblick fordert der Ausblick auf jene unbegrenzten Möglichkeiten zur Stellungnahme heraus und verbietet sie, und genau in dieser Herausforderung erfährt das staunende Subjekt hier in einzigartiger Weise seine eigene, ganz auf sich gestellte Existenz! Die dritte Form, in der es sich selbst und seine Eigenständigkeit im Staunen erfährt, beruht auf der Erwartung grenzenloser Möglichkeiten in der radikalen Verwunderung. Sie transzendiert alle bestimmten Erwartungen, die die Dinge aufdrängen, und dieses "über sie hinaus Sein" der Erwartung wird selbstverständlich als das eigene erfahren! Indem das Subjekt so über alle Einzeldinge und die von ihnen nahegelegten Erwartungen hinaus ist, erfährt es ihnen allen gegenüber auf spezifische Weise seine eigene Souveränität. Bei flüchtigem Zusehen mag es allerdings scheinen, als könne es sich in dieser Erwartung gar nicht selbst erfahren. Denn sie hat ja keinen faßbaren Gegenstand, und ins Leere blickend erwartet sie scheinbar nichts. Der Eindruck wird durch die Amphibolie des Begriffs der Erwartung genährt, denn wir scheinen immer auf etwas Bestimmtes zu warten. Und doch hat auch diese im Staunen aufblitzende neue Erwartung ihren Gegenstand. Sie schaut zwar ins Leere, erfährt es jedoch als Möglichkeit, und damit schaut sie auf das, was möglicherweise aus ihm auf sie zukommen mag. Sie erfährt, daß sie mit allem rechnen kann und ist daher "auf alles gefaßt", ohne angeben zu können, worin dies alles besteht. Zuzugeben ist, daß es sich hier um eine ganz neue, einzigartige Form der Erwartung handelt, die sich ebenso wesentlich von allem anderen unterscheidet wie die radikale Verwunderung von allen anderen Formen der erkennenden Begegnung mit der Wirklichkeit. \3 13 Zur Prob1emgeschichte des Begriffs und des Phänomens des Staunens vgl. neuerdings die ausgezeichnete Darstellung von Stefan Matuschek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse (Studien zur deutschen Literatur 116). Tübingen 1991.

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 121

Fünfter Abschnitt

Zwischen Hinnahme und Skepsis Erkenntnis als Entscheidung Erster Teilabschnitt

Entscheidung über die Hinnahme der Wirklichkeit Kapitell: Das Subjekt vor letzten Möglichkeiten Wie wir gesehen haben, ist es im Grunde eine Abstraktion, vom Akt des Staunens zu sprechen, da in ihm immer auch das staunende Subjekt gegeben ist. Auf eine ganz neue Weise aber wird es sich seiner und seiner Selbständigkeit gegenüber der Sache in der Erfahrung inne, daß es nicht nur nicht "gezwungen" ist, die erstaunliche Sache hinzunehmen, sondern daß ihm nunmehr sogar die Entscheidung darüber anheimgestellt ist, "ja" zu ihr zu sagen oder sie dahingestellt sein zu lasen: mit allen Konsequenzen, welche das für den Fortgang der Erkenntnis nach sich ziehen wird. Nehmen wir als Beispiel wiederum die einsichtigen Sachverhalte, an denen sich besonders deutlich Kraft und mögliche Konsequenzen des Staunens in dem von uns gemeinten Sinne einer radikalen und letzten Verwunderung zeigen. Selbstverständlich sind sie auch im Blick eines solchen Staunens nach wie vor in ihrer Einsichtigkeit gegeben, aber zugleich bleiben sie jetzt in jener eigentümlich schwebenden Weise dahingestellt, die wir beschrieben haben. Es ist dann ein und dasselbe Subjekt, das sie in ihrer einsichtigen Notwendigkeit als erstaunlich und damit als hinterfragbar erfährt: das sie hinnimmt und die Möglichkeit erfährt, diese Hinnahme zu suspendieren. Und es hat immer die Fähigkeit, sich je und je von neuem für die eine oder andere "Hinsicht", den einen oder anderen Aspekt der Sache zu öffnen. Auch wenn es ganz in der Einsicht aufgeht, kann es den einsichtigen Sachverhalt doch auch stets im Modus der Verwunderung erblicken und über ihn zu staunen beginnen! Sozusagen im gleichen Atemzuge kann es also den Sachverhalt im Akte einfacher Einsicht hinnehmen als das, was sich von selbst her versteht und staunend die Möglichkeit entdecken, ihn dahingestellt sein zu lassen. Man wird hier einwenden, es sei unmöglich, daß ein und dasselbe Bewußtsein zugleich diese beiden Erfahrungen mache, die sich gegenseitig aufheben. Richtet sich die Verwunderung auf den Sachverhalt, der als einsichtig und notwendig entdeckt wird und damit als etwas, das nur so und nicht anders sein kann, dann scheint schon damit endgültig die Axt an die Wurzeln seiner Unumstößlichkeit gelegt. Ich erfahre, daß sich die Sache eben doch anders verhalten kann, und

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

übrig bleibt nicht die Schizophrenie von Einsicht in die Notwendigkeit und ihrer Relativierung, sondern nur diese? Daß der Einwand in dieser Form nicht zutreffen kann, zeigt seine jederzeit mögliche Umkehr. Auch die Verwunderung kann an der einsichtigen Notwendigkeit des Sachverhaltes nichts ändern, der nach wie vor so dasteht, wie ihn die Einsicht erfaßt. Fälschlicherweise wird hier vorausgesetzt, daß die Erkenntnis des notwendigen Sachverhaltes und die Verwunderung auf ein und derselben Einstellung beruhen, die gewissermaßen auf derselben Ebene Gegenargumente oder neue Gesichtspunkte gegen seine Notwendigkeit beibringen würde, so daß es sich dann allerdings zugleich um die Erkenntnis seiner Notwendigkeit und die seiner Relativität handeln würde und die letztere die erstere selbstverständlich völlig aufheben würde. Tatsächlich aber zieht die Verwunderung keineswegs den einsichtigen Sachverhalt in seiner konkreten Bestimmtheit in Zweifel, sondern eröffnet über ihn hinausgehend nur die allgemeine und unbestimmte Möglichkeit, daß alles und damit er selbst ganz anders sein könnten.

Kapitel 2: Die absolute Entscheidung § 1: Die Situation der Entscheidung

Andererseits - darin ist dem Einwand recht zu geben - kann es bei der gegensätzlichen Erfahrung ein und desselben Sachverhaltes in Einsicht und Verwunderung nicht bleiben, sondern sie wird zum Motor einer weiteren Erkenntnisbewegung, in der die Entscheidung des erkennenden Subjektes jene einzigartige Rolle spielt, von der wir gesprochen haben. Sie kommt schon zum Zuge, wenn das Subjekt, welches einerseits über den einsichtigen Sachverhalt staunt und sich andererseits nach wie vor von ihm gefangennehmen läßt, bei diesem Status quo verharrt: einem Schiedsrichter gleich, der, seines Amtes müde, keine Entscheidungen mehr fällt und die Partie unentschieden läßt. Denn - auch darin ist jenem Einwand recht zu geben - selbst das Verharren bei einem solchen Patt ist schon eine Entscheidung, und zwar gegen die Hinnahme des Sachverhaltes, die ja nach der Voraussetzung durch seine einsichtige Notwendigkeit zwingend gefordert ist und ohne Dazwischenkunft der Verwunderung eo ipso mit ihr gegeben wäre. Darüber hinaus aber ist gerade die Tatsache, daß der eingesehene Sachverhalt in seiner Notwendigkeit durch die Verwunderung, die ihn zu einer Möglichkeit unter anderen herabsetzt, nicht aufgehoben oder auch nur entkräftet wird, sondern daß nunmehr sowohl das gilt, was die Einsicht wie auch, was die Verwunderung zeigen, Grund genug dafür, daß sich diese widersprüchliche Einheit des Bewußtseins selber sprengt. Zwischen beide Standpunkte gestellt wird das erkennende Subjekt durch ihre Gegensätzlichkeit eo ipso dazu bestimmt, sich für einen von beiden zu entscheiden. Jetzt ist nicht mehr wie bei der normalen Erkenntnis alles

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 123 bereits von der Sache her entschieden, so daß ich sie nur anzublicken und zu erforschen brauche. Vom Sachverhalt her ist es nun keineswegs ausgemacht, ob ich ihn im Akt der Einsicht hinnehmen soll, wie er sich zeigt oder ihn in der Verwunderung als bloße Möglichkeit neben anderen dahingestellt lassen soll. Damit ist das erkennende Subjekt aufgefordert, aber auch in der Lage, zwischen beiden Möglichkeiten, der Affirmation des eingesehenen Sachverhaltes und seiner Suspendierung, eine absolut freie und souveräne, aber keineswegs willkürliche Entscheidung zu treffen. I Sie ist ihm aus demselben Grunde völlig anheimgestellt, aus dem sie völlig "rational", d. h. allein in seiner Erkenntnis begründet ist. Denn um Erkenntnis handelt es sich in beiden Fällen: sowohl wenn der Sachverhalt schlicht als Gegenstand der Einsicht wie auch, wenn er als Gegenstand der Verwunderung gegenwärtig ist.

§ 2: Die Rationalität der Entscheidung

Die Tatsache, daß die betreffenden Erkenntnisse ganz verschiedenartig sind, weil sie sich zwar auf denselben Sachverhalt beziehen, ihn jedoch in verschiedener Weise gegenwärtigen, schließt die reine Begründung der Entscheidung durch Erkenntnis - ihre absolute "Rationalität" - nicht aus, sondern ein, denn gerade deshalb hat das Subjekt die Möglichkeit, zwischen verschiedenen, aber erkenntnismäßig begründeten Optionen und damit wieder allein im Blick auf die Sache zu wählen. Es ist also gerade deshalb frei, weil die beiden Möglichkeiten als Erkenntnisse gleichwertig, aber nicht gleichartig sind. Die eine Möglichkeit besitzt keine größere, sondern eine andere Überzeugungskraft als die andere. Nur scheinbar verlangt also die Frage nach dem Grunde der Entscheidung einen Faktor außerhalb der Erkenntnis, der etwa in der Vorliebe für eine der beiden Möglichkeiten bestehen könnte.

I Wir bezeichnen sie im folgenden als "absolute" oder auch "radikale" Entscheidung und benutzen beide Ausdrücke durchaus gleichbedeutend. Der Ausdruck ,,radikal" meint natürlich keinen wie immer zu verstehenden Radikalismus, sondern ist ganz einfach seinem Wortsinn gemäß als "wurzelhaft" im Sinne von ursprünglich und grundlegend zu verstehen. In diesem Sinne legt sich die Verwendung der beiden Ausdrücke aus drei Gründen nahe. Zunächst einmal verkörpert diese Entscheidung in idealtypischer Weise das Wesen von Entscheidung überhaupt als freie, souveräne und doch begründete Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Sie ist also wirklich absolut und radikal "Entscheidung". Sodann liegt es auf der Hand und wird von uns weiter entfaltet werden, daß sie grundlegend werden kann für die Art, wie der Mensch die Wirklichkeit und damit sein eigenes Leben versteht und gestalten will, ja daß es hier gar keine grundlegendere Entscheidung geben kann. Damit wollen wir nicht sagen, daß sich jeder vor diese Entscheidung gestellt sieht: geht es doch hier nicht um faktische Abläufe, sondern um idealtypische Möglichkeiten des menschlichen Geistes. Drittens legt sich der Ausdruck ,,radikale Entscheidung" nahe, um den inneren Zusammenhang zwischen radikaler Verwunderung und der hier gemeinten Entscheidung festzuhalten.

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1. Teil: Souveräne Erkenntnis

Natürlich muß ich einen Grund haben, für diese statt für jene Option zu votieren, sonst handelte es sich nicht um Entscheidung, sondern um leeres Spiel der Willkür. Aber dieser Grund muß nicht in mir liegen: nicht in meinem Willen, diese statt jene Möglichkeit zu ergreifen. Vielmehr kann er auch vor mir liegen, und in diesem Sinne ist die Entscheidung hier in jedem Falle rational begründet. Eben deshalb ist sie auch absolut frei, weil sie in beiden Fällen vollkommen durch die Natur der Sache gerechtfertigt ist. Denn jede der heiden Möglichkeiten beruht auf einer bestimmten Erschließung der Sache und damit wieder nur auf ihr selbst. Daher kann die Entscheidung allein Angelegenheit des erkennenden Subjektes und in jedem Falle absolut sachgebunden sein. Auch die im Staunen enthaltene Entdeckung, daß der infrage stehende Sachverhalt möglicherweise ganz anders sein könnte, hat ihre eigene Wahrheit für sich und kann daher für das vor der Entscheidung stehende Subjekt in der Tat zu einem sachlichen Grund werden, seine Affirmation zurückzuhalten oder zu suspendieren und damit dahingestellt sein zu lassen, ob der Sachverhalt in der Tat so ist, wie er sich der Einsicht präsentiert. Man wird insistieren, daß es dennoch eines besonderen Grundes dafür bedürfe, daß das erkennende Subjekt hic et nunc die eine Möglichkeit der anderen vorzieht. Wiederum kann die Antwort nur lauten, daß der Grund schon in der jeweiligen Sache liegt, wie sie dem Subjekt jeweils gegeben ist, so daß sie in jedem der beiden denkbaren Fälle zum einerseits hinreichenden, andererseits doch radikal verschiedenen Motiv werden kann: entweder zur Affirmation oder dazu, sie zu suspendieren. § 3: Die Souveränität der Entscheidung

Von keiner Instanz außerhalb seiner selbst bewogen kann das erkennende Subjekt so rein als solches aus den Möglichkeiten, die sich durch sich selbst begründen, eine herausgreifen. Und damit erfahrt es - nicht durch Reflexion auf sich selbst, sondern im Blick auf diese Möglichkeiten - seine absolute Souveränität: die Tatsache, daß ihm als erkennendem Wesen sogar die Entscheidung über seine Erkenntnis überantwortet ist. Sie ist also deshalb absolut frei, weil sie allein durch die Sache vollkommen begründet ist und ich gerade deshalb als erkennendes Subjekt vor jeweils in sich begründeten Möglichkeiten stehend erfahre, daß es nur auf mich ankommt, welcher von heiden ich den Zuschlag gebe. Deshalb ist es einfach unumgänglich, hier auf den Begriff der Entscheidung zurückzugreifen, mag er auch das Mißverständnis nahelegen, es handele sich um eine Entscheidung aus sachfremden, nicht der Erkenntnisbewegung und der in ihr enthaltenen Tendenz nach Erkenntnis, sondern Inklinationen des Willens entspringenden Gründen. Um ,,Entscheidung" geht es in jedem Falle, da sie in der Tat absolut frei ist und zur Erkenntnis das Moment der Handlung hinzufügt. Weil sie als solche die Automatik zwischen der Sache und ihrer Hinnahme

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 125 durchbricht, wird hier die Affirmation zu einem notwendigen und konstitutiven Moment der Einsicht,falls sich das Subjekt tür den evidenten Sachverhalt ent ~ scheidet. Aber auch damit verwandelt sich die Einsicht nicht in eine "Setzung", denn die Notwendigkeit der Affirmation ist zwar in der Verwunderung über'den einsichtigen Sachverhalt begründet, die die Möglichkeit eröffnet, auch gegen ihn zu optieren, aber auch darin, daß er nach wie vor in seiner Einsichtigkeit gegeben ist. Daher hat sie auch hier nichts mit dem neukantianischen Begriff der "Setzung" im Sinne irgendeiner Form von "Konstitution" des Gegenstandes zu tun. Der Sachverhalt ist und bleibt dem Subjekt vorgegeben und dennoch kann es sich ihm versagen und seine Zustimmung dazu verweigern, daß er tatsächlich so und nicht anders ist. 2 Schon hier dürfte deutlich werden, daß die Erfahrung, die das Subjekt in dieser Entscheidung macht, nur scheinbar widersprüchlich ist. Auf den ersten Blick scheint der Widerspruch darin zu bestehen, daß es als erkennendes Subjekt auf der einen Seite nach wie vor an die Sache gebunden ist, nach der es sich allein zu richten hat, während seine Entscheidung auf der anderen Seite von den Erfahrungen der Auswahl und des "nicht Gezwungenseins" geprägt ist: den klassischen Merkmalen der freien Entscheidung: Spielraum und Selbstbestimmung. Unsere Analysen haben jedoch gezeigt, daß der Widerspruch nur scheinbar ist und die Entscheidung nicht im Gegensatz zur Sachgebundenheit des erkennenden Wesens steht. Das wird besonders an ihrem Charakter als Auswahl deutlich, denn gerade als solche orientiert sie sich allein an den vor Augen stehenden Alternativen und ist insofern geradezu der Modellfall einer vollkommenen Wahl, die schon die Alltagssprache als "sachliche Entscheidung" zu loben pflegt. Als solcher typischer Fall einer Auswahl ist sie der Situation eines Mannes analog, der mit dem Entschluß, seiner Angebeteten etwas Schönes zu kaufen gleich, was es sein möge, wenn es nur schön und schmückend ist - ein Geschäft betritt und hier aus den schönen Dingen, die vor ihm ausgebreitet werden, frei und souverän eines herausgreift. Dieses Herausgreifen ist aus demselben Grunde vollkommen frei, aus dem es keine Willkür ist. In dem allgemeinen Wunsch, ein schönes Schmuckstück zu erwerben, hat es zugleich den Maßstab wie den Spielraum seiner Freiheit. So wird auch in unserem Falle der Spielraum der Entscheidung, der sich in der radikalen Verwunderung aufgetan hat, durch die Wißbegierde zugleich eröffnet und begrenzt. Ihr entspricht es ebenso, entweder über die Einsicht hinauszufragen oder bei ihr stehenzubleiben, und daher folgt das Subjekt in jedem Falle der Gesetzlichkeit, nach der es angetreten ist, nämlich der Tendenz nach Erkenntnis. 2 Hier ist daran zu erinnern, daß wir die Verwunderung und die aus ihr resultierende Entscheidung zwar anhand der möglichen Urteilsenthaltung exemplifiziert haben, dieses Beispiel aber nicht dahingehend mißverstanden werden darf, als könne sich radikale Verwunderung und Entscheidung nicht auf jeden nur denkbaren Gegenstand erstrecken und als hätten sie nicht die Tendenz, sich auf die ganze Wirklichkeit auszudehnen. Vgl. dazu weiter unten die Ausführungen über die Ausdehnungstendenzen der Skepsis.

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1. Teil: Souveräne Erkenntnis

Aber die Erfahrung, daß wir uns als erkennende Wesen nach der Sache zu richten haben, steht nicht nur nicht in Gegensatz zu der, daß wir nicht gezwungen sind, sie hinzunehmen. Vielmehr ist die erste in der zweiten Erfahrung enthalten, ja ihre Voraussetzung. Wie wir in Abschn. 2 gezeigt haben, schließt die bewußte Erfahrung, daß wir uns erkennend nach der Sache richten, die der Indifferenz ein, die wir als Entdeckung beschrieben, daß es "Sache der Sache" ist, so und nicht anders zu sein. Diese Erfahrung, so sagten wir weiter, ist aber immer schon insofern auch die der Unabhängigkeit oder Freiheit des erkennenden Wesens, als es sich gerade deshalb, weil es sich um die Gesetzlichkeit der Sache und nicht um seine eigene handelt, nach ihr zu richten hat. Im Vollzug der "normalen Erkenntnis" erfährt sich diese Freiheit als an die Sache gebunden, ja geradezu als Voraussetzung ihrer Aufnahme: Freiheit für sie! In Verwunderung und Entscheidung erfahre ich dieselbe Indifferenz aber nunmehr als "Freiheit gegenüber" der Sache: als Plattform, von der aus ich nicht mehr gezwungen bin, sie hinzunehmen. Damit ist aber auch wieder gesagt, daß die Erfahrung der Indifferenz stets und auch noch in dieser Erfahrung der "Freiheit gegenüber" der Sache ganz und gar bleibt, und wir deshalb auch hier noch erfahren, daß wir uns nach der Sache zu richten haben: nur, daß diese jetzt aus ihr und ihrer Alternative besteht! Zum selben Ergebnis kommen wir, wenn wir die Indifferenz als Offenheit betrachten, die einmal als Offenheit für die Dinge und einmal als Standpunkt erfahren wird, von dem aus alles möglich ist. Aber in beiden Erfahrungen ist sie ganz und gar als sie seIhst gegenwärtig. Sonst wäre es ja auch unmöglich, im Blick auf die Dinge zu staunen, was voraussetzt, daß wir uns nach ihnen richten. Staunen wäre nicht selbst schon Erkenntnis, die sich als solche stets nach der Sache richtet. Und nur deshalb vermag ja auch, wie wir zu Beginn von Abschn. 4 ausgeführt haben, die Erfahrung der Indifferenz (und damit der Offenheit des Erkenntnisvermögens) ambivalent zu sein, d. h. ebensowohl die Hinnahme der Dinge als selbstverständliche Gegebenheiten wie das Staunen über sie zu begründen, weil sie selbst auch als Erfahrung der Offenheit immer ganz vorhanden ist. Gerade weil ich mich als erkennendes Wesen ganz und gar nach den vor Augen liegenden Möglichkeiten richte, kann ich mit jener absoluten Souveränität wählen, die nur in ihnen und in sich selbst ihren Grund und die vollkommene Sachlichkeit zur Voraussetzung hat, mit der das die Entscheidung treffende Subjekt ihnen zugewandt ist.

Kapitel 3: Die Skepsis als mögliches Ergebnis § 1: Die Skepsis als Haltung

Die Darstellung dieser Entscheidung zwischen Affirmation und ihrer Verweigerung ist keineswegs ein akademisches Glasperlenspiel mit Möglichkeiten, die zwar im Wesen der Erkenntnis grundgelegt sind, aber wegen ihrer Absonderlich-

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 127 keit keine Bedeutung für die "Praxis" haben! Denn das Beharren auf der negativen Entscheidung, der Versagung der Zustimmung also, ist nicht mehr und nicht weniger als die Skepsis, deren Möglichkeit als konkrete Haltung und Einstellung wir im Vorstehenden aus der Art und Weise abgeleitet haben, wie die Erkenntnis der Wirklichkeit begegnen kann. In wenigen exemplarischen Strichen wollen wir zeigen, wie sie sich als Haltung des erkennenden Subjektes darstellt und wie es möglich ist, daß ausgerechnet sie als Verzicht auf affirmative Stellungnahmen zum Motor und weitertreibenden Faktor der Erkenntnisbewegung werden kann. Dabei geht es uns in dieser phänomenologischen Studie nicht um die quaestio facti, sondern um die quaestio juris. Es geht uns also nicht darum, die Rolle zu beschreiben, die die Skepsis tatsächlich als lebendige Macht im Leben des einzelnen und als weitertreibender Faktor der Geistes- und Philosophiegeschichte gespielt hat, sondern die Frage zu beantworten, wie es überhaupt vom Wesen der Erkenntnis aus möglich ist, daß sie zu dieser Bedeutung gelangen kann. Um diese Möglichkeit in Griff zu bekommen, müssen wir vier Punkte beachten. Zunächst ist daran zu erinnern, daß wir die Möglichkeit der absoluten Entscheidung nur an einem einzigen, besonders geeigneten Beispiel entwickelt haben: der Einsicht notwendiger Sachverhalte. Es kann jedoch überall zu ihr kommen, wo wir den Dingen im Modus der Verwunderung begegnen, deren Radius so groß ist wie der der "normalen" Erkenntnis. Folglich kann es auch ebenso viele Formen der Skepsis wie Formen der Erkenntnis geben, von denen sie sich distanziert. Sie kann sich auf alles erstrecken, was wir in irgendeiner Form anschauen, wahrnehmen und einsehen. Sie kann in all diesen Fällen unser Vertrauen auf die in diesen Akten so oder so erfolgende Hinnahme der Dinge suspendieren: ist sie doch wie gesagt nichts anderes als die Festschreibung der Entscheidung für die Urteilsenthaltung und damit auch der Verwunderung, aus der diese Entscheidung entspringt. Dabei ist stets im Auge zu behalten, daß viele Formen der anschauenden Hinnahme als vermittelte Unmittelbarkeit immer auch schon eine ganz bestimmte Deutung der Wirklichkeit sind. Das ist schon deshalb der Fall, weil Erkenntnis den Gegenstand, den sie hinnimmt, allererst erschließen muß und in diese eröffnende Kraft des Erschließens in je spezifischer Weise dann auch meine Richtung des Blickens, meine Sicht der Dinge eingehen kann. So wird schon die Gestalt der sinnfälligen Welt, wie sie mir in der Wahrnehmung entgegentritt, durch unsere Sinnesorganisation erschlossen. 3 Zwar ist die Wirklichkeit in ihr tatsächlich gegeben, aber so, wie sie in der Brechung unserer Sinne erscheint. Dennoch kann man hier noch nicht im eigentlichen Sinne von einer "Deutung" der Wirklichkeit sprechen, zumal jene Organisation der Sinne in uns allen die gleiche ist! Eher schon ist dies dort der Fall, wo es darum geht, daß das, was ich wahrnehme, 3 Vgl. zum allgemeinen Wesen und Begriff des Erschließens Abschn. 6, zur Einheit von Erleben, Erschließen und Erkennen bei der Sinneswahrnehmung vgl. Abschn. 10, 2 Kap. 2.

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auch richtig verstanden werden muß, um überhaupt als das, was es ist, wahrgenommen werden zu können. Beim Verstehen geistiger Objekte und der Wahrnehmung der Güte und Schönheit der Dinge ist diese eröffnende, erschließende Kraft des "wertenden" Subjektes mit Händen zu greifen. 4 Von der Erschließung muß freilich das, was sie als Gegenstand der Hinnahme eröffnet, unterschieden werden, wenn auch beide Aspekte, Erschließung und Hinnahme, in der Einheit des Aktes der Entdeckung zusammenfallen mögen. Deshalb ist es durchaus legitim, daß wir uns hier zunächst auf diese Hinnahme, die das eigentliche Wesen der Erkenntnis ausmacht, konzentrieren. Aber die erschließende Kraft der Erkenntnis ist nicht nur dafür verantwortlich, daß uns überhaupt erkennbare Gegenstände gegeben sind und daß sie uns so und nicht anders erscheinen. Auf einer höheren Ebene geht auch unsere Deutung des Sinnes der Wirklichkeit immer schon in ihre Erfahrung ein. Hier gilt erst recht, daß jede Erfahrung der Wirklichkeit eine bestimmte Richtung des Blickens auf sie und eine bestimmte Sicht der Dinge voraussetzt. Aus diesem Grunde stehen in der radikalen Entscheidung über die Wirklichkeit nicht "nackte Tatsachen" zur Wahl, die so und nicht anders aufgefaßt werden könnten! Vielmehr geht es um die Wirklichkeit, wie wir sie je schon verstehend deuten und uns zu erklären suchen. Dabei kann im Sinne einer Kreisbewegung die Wahrheit all solcher Deutungen der Wirklichkeit natürlich nur an ihr selbst, an ihrer unmittelbaren Hinnahme und Entdeckung überprüft werden, so daß ihr Charakter als vermittelte Unmittelbarkeit auch insofern durchaus mit ihrem Anspruch, unmittelbare und unvoreingenommene Hinnahme der Wirklichkeit zu sein, Hand in Hand geht. Auch ist zu beachten, daß es der absoluten oder radikalen Entscheidung immer nur um die Wahl zwischen der Hinnahme der Wirklichkeit oder ihrer Suspendierung und nicht um die zwischen philosophischen Systemen gehen kann, die als solche nicht Gegenstand der radikalen Verwunderung sein können! Und diese Intention der radikalen Entscheidung wird nicht durch die Tatsache aufgehoben, daß die Wirklichkeit immer auch schon Ergebnis unserer Deutung ist. Denn es geht nicht um die Entscheidung über diese Deutung, sondern um die grundsätzliche Frage: Hinnahme oder nicht! Sofern Philosophie wirklich erfahrungsgesättigt ist, wird natürlich auch sie von dieser Frage ergriffen! Zweitens ist klar zwischen dem Skeptizismus als einer Theorie über die Wahrheitsflihigkeit und Reichweite der menschlichen Erkenntnis und der Skepsis als einer Haltung zu unterscheiden, die aus der Entscheidung hervorgeht, sich dem Anspruch der Wirklichkeit, wie wir sie entdecken, zu versagen und die diese Entscheidung prolongiert. Formal ist es also durchaus richtig, daß die These des Skeptizismus, es gebe keine Wahrheit oder wir seien nicht imstande, sie verbindlich zu erkennen, sich selbst widerspricht und ihrem Verfechter am Ende gar nichts übrig bleibt als zu schweigen. Der Einwand trifft jedoch nicht die Skepsis, die im Gegensatz zum kraftlosen Gedankenspiel des Skeptizismus eine Haltung 4

Vgl. dazu Abschn. 6.

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 129 ist, die aus der Verwunderung und damit aus der Erfahrung lebt, daß es von mir abhängt, den Sachverhalt zu affirmieren oder mich mit jener Rechtfertigung, die die Verwunderung eröffnet, der Affirmation zu entziehen. In diesem Sinne müssen wir drittens realisieren, daß die absolute oder radikale Entscheidung in sich genommen in gar keiner Weise schon eine inhaltliche Antithese gegenüber den infrage stehenden Erkenntnissen und Einsichten sein kann. Dazu bietet die ihr zugrundeliegende radikale Verwunderung keinen Anlaß. Sie bestreitet also die betreffenden Erkenntnisse nicht, sondern läßt sie dahingestellt sein und entscheidet sich ausdrücklich für diese Option, das Festhalten an dieser "epoche". Genau das verbindet sie mit der Skepsis, die zunächst einmal eine Haltung ist und kein System. Freilich kommt diese Suspendierung, wie wir am schlagenden Beispiel der zwingend notwendigen Einsichten demonstriert haben, als Außerkraftsetzung in der Konsequenz einer Leugnung gleich, wenn das Subjekt sie zur Grundlage der weiteren Erkenntnisbewegung macht. Und damit sind wir schon bei dem vierten Punkt, der hier zu beachten ist. Durch die Skepsis wird die Tendenz nach Erkenntnis und damit die weitere Erkenntnisbewegung keineswegs abgeschnitten. Denn daß ich mich - um nochmals zu unserem Beispiel zurückzukehren - für die Skepsis statt für den einsichtigen Sachverhalt entscheide, kann seinen Grund in der staunenden Erfahrung haben, daß alles auch ganz anders sein könnte und ich deshalb aus sachlichen Gründen nicht zu seiner Affirmation gezwungen bin, sondern im Gegenteil fragen und prüfen sollte, wie es zu seinem Anspruch gekommen ist. So kann auch die Skepsis dem Streben nach Erkenntnis oder der Wißbegierde entspringen. 5

§ 2: Der Radius der Skepsis

Nehmen wir die vier Punkte zusammen, dann ist es ganz zufällig und unvorhersehbar, ob und welchen Dingen gegenüber das Subjekt die Haltung der Skepsis einnehmen wird. Und zwar nicht nur deshalb, weil sich weder die radikale Verwunderung, die jederzeit spontan einsetzen kann und ihrer Natur nach alles 5 Mit der Einführung des Faktors "Wißbegierde" verlassen wir die reine, sich allein auf seine Analyse beschränkende Betrachtung des Erkenntnisphänomens nicht, um etwa auf ein ihm äußerliches Phänomen, die Emotionen oder den Willen zu rekurrieren. Vielmehr verstehen wir unter diesem Begriff hier zunächst nur die Selbstverständlichkeit, daß die Erkenntnisbewegung ihrer eigenen Logik nach die Tendenz hat, bis zu ihrer Vollendung weiterzugehen. Eine nähere Entfaltung des Phänomens der Erkenntnistendenz und seiner letzten und tiefsten Zielrichtung setzt die Besinnung darauf voraus, was Streben im allgemeinen und damit auch das Streben nach Erkenntnis im besonderen bedeuten und diesen Punkt, an dem die Phänomenologie ihrer eigenen Logik nach in Ontologie umschlägt, werden wir erst in Abschn. 6 erreichen. Beschränken wir uns also hier darauf, die Erkenntnistendenz zunächst ganz einfach als Inkarnation und Ausdruck der Erkenntnisbewegung zu begreifen, dann erfahren wir schon in ihr selbst, was sie jeweils "will".

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andere als eine geplante Veranstaltung ist noch die Entscheidung für die Skepsis voraussagen lassen! Wobei immer daran zu denken ist, daß diese aus der Verwunderung resultieren kann, aber nicht resultieren muß! Tiefer noch reicht der Grund, daß die Verwunderung als elementare Form der Begegnung mit den Dingen nur dann einsetzen kann, wenn ich mich überhaupt in der Weise des Staunens für sie öffne. Wie wir in Abschn. 3 ausgeführt haben, erfahren wir in den Pulsen des "ich kann mich für die Sache öffnen!" je und je von neuern, daß es von uns und unserer Fähigkeit zu dieser Offenheit abhängt, ob wir sie erkennen oder nicht. Und das gilt nicht nur für die "normale" Erkenntnis, sondern auch für das Staunen und die aus ihm hervorgehende radikale Verwunderung und folglich auch für die wiederum aus ihr möglicherweise resultierende Skepsis! Daher ist sowohl der Ausschnitt der Dinge, den wir erkennen wie auch der, von dem wir uns staunend distanzieren, immer willkürlich und nicht von der Logik der Sache her, sondern von uns bestimmt. So kann die Skepsis ebensowohl einen ganz bestimmten Punkt der Wirklichkeit wie das Gebiet, in dem er aufragt wie auch schließlich die Wirklichkeit insgesamt ergreifen. Dabei ist stets im Auge zu halten, daß wir hier nicht vom Skeptizismus im Sinne eines zusammenhängenden Systems von Enthaltungen sprechen, sondern von der Skepsis als einer jederzeit möglich werdenden Einstellung des Subjektes. Es mag daher inkonsequent erscheinen, nur einen einzelnen Punkt der Wirklichkeit in Frage zu stellen, alles übrige aber, das mit ihm zusammenhängt, nicht. Doch diese Inkonsequenz ist in der Fähigkeit des erkennenden Subjektes begründet, sich stets von neuem entdeckend für die Dinge zu öffnen und dies auch im Modus der Verwunderung tun zu können. Wenn auf der anderen Seite auch die Skepsis Ausdruck der Wißbegierde sein kann, dann hat sie die jeder Erkenntnis innewohnende Tendenz, sich nach sachlogischen Gesetzen auszudehnen. Wenn sie Teile eines zusammengehörenden Gebietes ergriffen hat, wird sie dazu neigen, sich wie ein Steppenbrand auf das ganze Gebiet auszudehnen. Es ist hier wie bei der normalen Erkenntnis. Der Ausschnitt der Wirklichkeit, den sie ergreift, ist als solcher immer schon mehr als er selbst und weist über sich hinaus auf das umgreifende Sachgebiet, dem er entnommen wurde. Damit haben wir schon die erste Antwort auf die Frage, wie ausgerechnet die Skepsis zum Motor der weiteren Erkenntnisbewegung werden kann. Gerade weil es im Prinzip ebenso viele Formen der Skepsis wie der Erkenntnis gibt, mag ihr Ansatzpunkt immer zufällig erscheinen. Indem sie sich ausdehnt, folgt sie jedoch ihrer eigenen Logik und der Tendenz nach Erkenntnis, die auch sie inspiriert. Einige exemplarische Hinweise mögen dies verdeutlichen. Skeptisch kann ich mich zunächst einmal ganz einfach zu den Dingen verhalten, die die Wahrnehmung präsentiert. Es ist möglich, daß diese Skepsis nur einen Teil der wahrnehmbaren Wirklichkeit umfaßt, doch liegt es in der Logik ihres Ansatzes, daß sie sich ausdehnt bis zum Dahingestelltseinlassen der Existenz der Außenwelt überhaupt - oder der Art und Weise, in der sie uns erscheint.

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis -

Erkenntnis als Entscheidung l31

Zwangsläufig hat diese Skepsis aber auch die Tendenz, sich auf die Einsichten auszudehnen, durch welche die wahrgenommene Wirklichkeit begriffen und vermittelt wird wie auch umgekehrt die Skepsis gegenüber diesen Einsichten und den aus ihnen entspringenden Kategorien der Deutung der sichtbaren Wirklichkeit die Tendenz hat, diese in Frage zu stellen. David Hume mit seinem Zweifel an der Evidenz und der objektiven Gültigkeit der Kategorie der Substanz und des Kausalitätsprinzips ist das beste Beispiel für diese Interdependenz und damit für die Logik der Skepsis. 6 Von der Skepsis gegenüber der Welt der Wahrnehmung können wir die gegenüber den verschiedenen Formen der Einsicht unterscheiden, die uns bereits als Paradebeispiel der radikalen Entscheidung gegen die Hinnahme der Wirklichkeit begegnete. Sie unterscheidet sich in ihrer Radikalität selbst wieder nach dem Stellenwert und mehr oder weniger grundlegenden Charakter, den diese Einsichten im Ganzen unseres Erkenntnisgefüges einnehmen und nach dem Maße, in dem in ihnen tatsächlich das Wesen von ,,Einsicht" im vollen Sinne des Wortes verwirklicht ist. Das ist immer dann der Fall, wenn der einsichtig notwendige Sachverhalt in sich selbst gegenwärtig ist. Hier gilt in radikalem Sinne das "autaut". Entweder ist der Sachverhalt selbst gegeben oder nicht und deshalb ist die Verwunderung, die sich auf solche Einsichten im engeren Sinne des Wortes richtet, von unüberbietbarer Radikalität. In diesem Sinne zeugt es für die Möglichkeiten der Verwunderung und der auf ihr beruhenden absoluten Entscheidung, daß ich mich sogar der dem Kontradiktionsprinzip zugrundeliegenden Einsicht entziehen kann, für die Sein und Nichts absolute Gegensätze sind! Eine Skepsis, die hier einsetzt, müßte, um wirklich konsequent zu sein, mit dieser grundlegenden Einsicht auch alle weiteren Wesenseinsichten suspendieren und darüber hinaus im Sinne dessen, was wir über die Anschauung als vermittelte Unmittelbarkeit gesagt haben, die Wahrnehmung und ihren Anspruch, ernst genommen zu werden, der mit der selbstverständlichen Voraussetzung ihrer Widerspruchsfreiheit steht und fällt. Aber wir sahen schon, daß die Skepsis kein System, sondern zunächst einmal eine in der Offenheit des Erkenntnisvermögens gründende Haltung zur Wirklichkeit ist, die jederzeit neu aufbrechen und sich jederzeit neu entzünden kann, so da~ sie jenen konsequenten Fortgang inspirieren kann, aber nicht muß. 6 Wobei es selbstverständlich offen bleiben muß, ob und wie Hume selber jeweils diese radikale Verwunderung erfahren hat, die der letzte und entscheidende Möglichkeitsgrund einer jeden Skepsis ist. Zweifellos sind sein Skeptizismus und seine skeptische Haltung in der eigenartigen Verbindung von empiristischem Ansatz und Immanenzphilosophie begründet, die er - und in anderer Weise wieder Berkeley - zur vollen Konsequenz entfaltet haben. Wenn wir die in der radikalen Verwunderung liegende Distanzierung von der Wirklichkeit und die Entscheidung, an ihr festzuhalten, als letzten, im Wesen des Erkennens selbst liegenden Möglichkeitsgrund der Skepsis betrachten, so ist damit selbstverständlich nichts über die vielen Denkanstöße gesagt, die zur Skepsis führen können. Umgekehrt können ja auch das Staunen und die radikale Verwunderung selbst aus solchen Denkanstößen und Motiven hervorgehen!

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In diesem Sinne ist es in der Tat möglich, an Einsichten festzuhalten, die wie immer man sie deuten mag - Grundprinzipien des Seins und der Erkenntnis sind, hingegen nur einem Teilbereich einsichtiger Wahrheiten mit Skepsis zu begegnen. Das zeigt die gesamte Erfahrung der Philosophiegeschichte. So lassen sich etwa die ethischen Einsichten ausgliedern und mit der Klammer der Skepsis versehen, während andere Wahrheiten eisern festgehalten werden. Oder die Skepsis richtet sich nur auf den Bereich von Wesenseinsichten der philosophischen Anthropologie und sucht diese konsequent durch rein empirische Aufschlüsse über den Menschen zu ersetzen. Gerade dieses Beispiel zeigt allerdings auch wieder, daß die Skepsis gegenüber einer bestimmten Teilregion von Einsichten ihrer Logik nach die Tendenz hat, sich zur Skepsis gegenüber dem Sinn und der Möglichkeit von Einsichten überhaupt als eigenständiger Quelle der Erkenntnis zu erweitern.

Kapitel 4: Die Skepsis auf der Suche nach neuer Gewißheit § 1: Gewißheit und Evidenz

Hiermit haben wir jedoch erst eine mögliche Form des Zusammenspiels von Erkenntnistendenz und Skepsis skizziert: das Ziel der Konsequenz oder systematischen Vollständigkeit, das wie von selbst zum Bestreben führt, die Skepsis auf alle zusammengehörigen Bereiche auszudehnen und so ihren Umfang immer zu erweitern. Man sieht jedoch nicht recht, wie dieser Weg zu neuen "Erkenntnissen" und nicht nur zur Ausdehnung der Urteilsenthaltungen und einer Erweiterung des Erkenntnisverzichts führen soll, wenn man auch geneigt sein mag, unter Voraussetzung einer selbst rational begründeten und sich so auch auffassenden Entscheidung für die Skepsis schon diese Ausdehnung als Erweiterung der neu gewonnenen Erkenntnis aufzufassen. Unter Voraussetzung der Skepsis muß die Erkenntnistendenz aber auch zur Suche nach einer nunmehr nur als idealer oder asymptotischer Grenzwert erreichbaren Gewißheit werden, die sich zwangsläufig entwickeln muß, wenn die Erkenntnis nicht mehr als Hinnahme und Selbstdarstellung der Wirklichkeit aufgefaßt wird - so, wie sie ist! An und für sich zielt auch dieses der Erkenntnistendenz eigene Streben nach Gewißheit selbstredend auf die Evidenz der Sache und damit auf ihre Gegenwart und kommt in ihr zur Ruhe! So ist sein Ziel kein subjektiver Bewußtseinszustand des Überzeugtseins, wie es die cartesianische Formel von der "clara et distincta perceptio" und erst recht Poppers Interpretation der Evidenz vermuten läßt, die dem gleichen Psychologismus verfällt, den sie zu bekämpfen vorgibt. Vielmehr ist und bleibt es stets das alleinige Ziel der Tendenz nach Erkenntnis, die Sache selbst zu erreichen. Nur dann tritt das Streben nach Gewißheit als eigener faßbarer Aspekt hervor, wenn dieses Ziel in Frage gestellt ist und der die Erkenntnisbewegung leitende Vorgriff die in ihm liegende Intention nicht erreicht! Wiederum

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 133 ist in der durch diese Erfahrung ausgelösten Suche nicht so etwas wie ein psychologischer Zustand der Sicherheit als Ziel gegenwärtig, sondern gegeben ist nur die Spannung zwischen dem Vorgriff und seinem sachlichen Ziel und die in ihr begründete Unruhe zu ihm hin. Tatsächlich ist diese Suche nach Gewißheit, wie Popper formal richtig bemerkt, immer auch Suche nach einem zureichenden Grunde, aber dieser ist kein Vehikel persönlichen Überzeugtseins und subjektiver Sicherheit, sondern der Inbegriff all jener letzten Endes einsichtigen Schlußfolgerungen, in denen mir - wenn auch vermittelt - die Sache, um die es geht, als wirklich bestehende gegeben ist. Daher ist die so erreichte Gewißheit nichts anderes als eine bestimmte Form der Erfahrung, daß es die Sache ist, die sich mir diktiert. Als Streben nach Gewißheit ist die Erkenntnistendenz so nichts anderes als die Frage, ob es tatsächlich die Sache selbst ist, die wir erreichen. Die Gewißheit selbst ist die Entdekkung, daß dies zutrifft und damit die Antwort auf die Frage, die als Antwort aber nur gegeben ist, soweit die Frage tatsächlich als Problem erfahren wurde. Daraus ergibt sich, daß von einer "subjektiven", die Verfassung des erkennenden Subjektes betreffenden Färbung des Begriffs "Gewißheit" nur insofern die Rede sein kann, als jene Frage dazu tendiert, die Vertiefung der Erkenntnis zur selbst bewußten Erkenntnis anzustoßen, in der die Sache ausdrücklich als Rechtsgrund ihrer Hinnahme erfahren wird. § 2: Die Spaltung der Erkenntnistendenz

Durch die radikale Verwunderung und die in ihr gründende Entscheidung für die Skepsis aber wird die Einheit der Erkenntnistendenz, die ursprünglich ebenso sehr und in derselben Hinsicht nach der Gegenwart der Sache wie nach Gewißheit strebt, die wiederum nur in ihrer Gegenwart besteht, in eigentümlicher Weise gespalten. Denn jetzt wird mit der einfachen Hinnahme der Sache auch ihr Anspruch, Ausweis ihrer eigenen Wahrheit zu sein, fraglich, so daß die Entscheidung über die beiden Möglichkeiten, Hinnahme oder Skepsis, immer auch die Entscheidung über diese Dissoziierung ist. Das ist jedoch wiederum nicht so zu verstehen, als würde plötzlich aufgrund der radikalen Verwunderung die Evidenz der Sache nicht mehr genügen und damit ein "Rest von Unsicherheit" bleiben, der das Streben nach Gewißheit herausfordern würde. Letzten Endes liefe das auf die Alternative hinaus, daß das Streben nach Gewißheit entweder durch die Evidenz der Sache und ihre Hinnahme erfüllt wird und die Entscheidung für die Skepsis und all ihre Konsequenzen ein leeres Spiel bliebe oder nunmehr ein begründeter Zweifel auftaucht, der die Entscheidung für die Skepsis im Sinne eines erhöhten Sicherheits- und Gewißheitsstrebens geradezu als notwendig erscheinen läßt! Ja, eine solche Entscheidung wäre dann nicht mehr erforderlich: Skepsis wäre die einzig wahre und notwendige Konsequenz, wenn die radikale Verwunderung einsetzt und alles als fraglich erscheinen läßt!

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Tatsächlich aber besteht die Alternative nicht, denn die beiden Möglichkeiten, die zur Entscheidung stehen, sind völlig inkommensurabel und deshalb auch in puncto Sicherheit und Gewißheit gar nicht vergleichbar. Die positive Möglichkeit, die Evidenz der Sache als solche, kann ihre Gewißheit durch nichts verlieren, ja die Frage nach dieser stellt sich überhaupt nicht! Auch die radikale Verwunderung kann die in der Evidenz gelegene Bürgschaft der Wahrheit in gar keiner Weise tangieren und in Zweifel ziehen. Gewißheit wird erst dann zum Problem und weitertreibenden Faktor im Erkenntnisleben, wenn ich mich entscheide, bei der Verwunderung stehenzubleiben und so die Haltung der Skepsis einzunehmen. So ist es also nicht die Sache, die in der radikalen Verwunderung "unsicher" wird, sondern das Subjekt wird in ihr an sich selbst verwiesen und hat nunmehr selbst zu entscheiden, ob es sich dem an und für sich unwiderstehlichen Sog der Evidenz hingeben oder skeptische Enthaltung üben soll. Und damit entscheidet es sich auch schon für die Art und Weise, in der es dem Erkenntnisstreben Rechnung tragen soll: durch die uneingeschränkte Hingabe an die Sache oder durch das auf sich allein gestellte Streben nach absoluter Gewißheit! So daß das Subjekt nicht durch das Streben nach Gewißheit dazu bestimmt wird, sich für das Stehenbleiben bei der radikalen Verwunderung und die Skepsis zu entscheiden, sondern umgekehrt im Sinne einer Kreisbewegung in seiner Entscheidung darüber befindet, ob es sich von diesem Streben bestimmen lassen soll oder nicht! Das soll natürlich auch hier nicht heißen, daß das Subjekt in einer Art von Reflexion auf sich selbst zUTÜckgewandt sich ausdrücklich dafür entscheiden würde, nicht mehr nach der Gegenwart der Sache, sondern nach einer anderen Art der Gewißheit zu streben und sich somit von einer anderen oder reduzierten Form der Erkenntnistendenz bestimmen zu lassen. Vielmehr ergibt sich die genannte Dissoziierung eo ipso aus der genannten Entscheidung und der in ihr erfolgenden Distanzierung von der "evidentia rei" als Wahrheitskriterium und aus dem Bemühen, dennoch die Erkenntnisbewegung unter den geänderten Bedingungen fortzuführen! Paradox könnte man sagen, daß diese Dissoziierung ganz einfach in der Tendenz angelegt ist, die Sache, um die es geht, unter allen und damit auch den jeweils neuen Umständen zu erreichen. Aber diese Sache kann jetzt nicht mehr einfach die Wirklichkeit sein, wie sie in Anschauung und Einsicht vor mir steht, und damit trennt sich das Ziel, sie zu gegenwärtigen, in eigentümlicher Weise von dem der Erkenntnis! Jetzt wird das Problem der Vergewisserung und damit einer neuen Art der Gewißheit, die nicht mehr einfach in der Gegenwart der Sache bestehen kann, zum Dauerproblem.

§ 3: Formen des Gewißheitsstrebens

Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich allerdings auch sogleich die Möglichkeit, daß die Skepsis nicht zum Ausgangspunkt einer neuen Erkenntnisbewegung,

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 135 also nicht zur Durchgangs-, sondern vielmehr zur Endstation werden kann! Denn die Entscheidung für sie ist ja zunächst einmal ganz einfach die Entscheidung für den Standpunkt der radikalen Verwunderung, für den alles möglich, offen und in der Schwebe ist! Und es kann gerade dieser Schwebezustand sein, der in seiner Absolutheit und Ausweglosigkeit eine so radikale und unerfüllbare Tendenz nach Gewißheit freisetzt, daß sie nicht anders erfüllbar ist als durch radikalen Verzicht auf weitere Erkenntnis. Nicht umsonst haben denn auch die Skeptiker seit jeher das Pathos der Wahrhaftigkeit in Erbpacht genommen! So kann die Tendenz nach Gewißheit ihre Erfüllung auch in der Erfahrung finden, daß im Lichte der Verwunderung alles offen und in der Schwebe bleibt. Gerade die absolut gesetzte, maßstablose Suche nach Gewißheit und Sicherheit der Erkenntnis beruhigt sich dann dabei, daß eben dies das Endergebnis sei! Selbst die Verfestigung der Skepsis zur dauernden Haltung der Verweigerung kann so noch Ausdruck gesteigerter Tendenz nach Erkenntnis und damit nach Gewißheit sein. Aber es liegt natürlich auch in der Logik der Tendenz, über die Skepsis hinauszudrängen und nach einer Gewißheit zu suchen, welche die in der Einsicht gegebene so sehr übersteigt, daß sie selbst von der Verwunderung nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Allerdings ist auch hier nicht Gewißheit das formale Ziel, denn das würde wiederum Reflexion voraussetzen, sondern das Subjekt sucht sozusagen nach einem Sachverhalt "hinter" dem von der Skepsis in Frage gestellten, angesichts dessen selbst die Fragen der radikalen Verwunderung verstummen. Indem es dessen einsichtige Selbstbezeugung zur Disposition stellt, kann es gerade dadurch motiviert werden, nach einer ganz anderen Begründung für sein Bestehen zu fragen oder danach, ob es ihn möglicherweise gar nicht gebe oder ob im Aufbau der Erkenntnis ohne ihn auszukommen sei! Wobei diese Fragen durchaus konvergieren können, denn wenn ich die Evidenz eines Sachverhaltes in Frage stelle, lasse ich auch ihn selbst in der Schwebe, so daß der Versuch, eine neue Begründung für ihn zu finden, darauf hinauslaufen kann, ganz ohne ihn auszukommen. Dabei ist stets im Auge zu halten, was wir bereits zur Vermeidung von Mißverständissen mit allem Nachdruck betont haben, daß die Verwunderung über die Einsicht nur das hervorragende Beispiel für ihre Macht ist. Ebenso könnte man sagen, daß die Verwunderung über die Außenwelt oder einen beliebigen Ausschnitt aus ihr nicht nur zu der Entscheidung führen kann, das Urteil über ihre Existenz zu suspendieren, sondern damit auch die Nachfrage in Gang setzen kann, ob sie möglicherweise nur ein Schleier der Maya ist, hinter welchem sich das eigentliche Sein der Wirklichkeit verbirgt. Jedenfalls ist es denkbar, ja sogar wahrscheinlich, daß das Streben nach einem festen, Gewißheit begründenden Halt niemals zur Ruhe kommt und über jedes Ergebnis hinaustreibt, weil es durch Verwunderung und Skepsis motiviert ist, die selbst wieder die Tendenz haben, sich auf jeden Fortschritt der Erkenntnis auszudehnen, so daß dieser die Quadratur des Kreises bewerkstelligen und zugleich alles im Sinne der Verwunderung offen halten und der Forderung nach

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Gewißheit entsprechen muß. Mag zudem auch das Streben nach der neuen, gesicherten Erkenntnis der Wirklichkeit zunächst aus der Skepsis gegenüber ganz bestimmten Einsichten hervorgehen, so hat es doch die Tendenz, sich zur Skepsis gegenüber Anschauung und Einsicht als Quellen der Erkenntnis überhaupt auszuweiten, und damit ist eo ipso die Axt an die Wurzeln jeder neuen Erklärung der Welt gelegt, die die alte an Sicherheit übertreffen und der Verwunderung standhalten kann. Denn ohne Anschauung und Einsicht in dem zu Beginn dieses Werkes definierten Sinne kommt kein Versuch aus, die Wirklichkeit zu entdecken, wie sie ist. Hier kann es nur darum gehen, idealtypische Gründe einer möglichen Entwicklung aufzuzeigen und nicht die tatsächliche Tragödie des unglücklichen Bewußtseins der Neuzeit zu beschreiben. Aber es liegt nahe, die hektische Unruhe der Philosophie, die sie von Extrem zu Extrem taumeln und schließlich im Agnostizismus, ja Positivismus versanden läßt, nicht zuletzt auf diese Suche nach absoluter Gewißheit zurückzuführen, die selbst den Zweifel überwindet, daß alles möglich und damit auch radikal anders sein könnte - und ihm zugleich nach wie vor gerecht zu werden versucht. Man braucht nur die Programmschrift der neuzeitlichen Philosophie, den "Discours de la methode" anzuschauen, um zu begreifen, wie naheliegend diese Vermutung ist! § 4: Keine lineare Entwicklung

Aber es ist nicht nur der unendlich komplexe Charakter der Geistesgeschichte, der jeden Versuch verhindert, sie einfach als Exempel für das zu nehmen, was vom Wesen des Bewußtseins her als möglich erscheint. Eine lineare Entwicklung zu einer sich im Zeichen der Verwunderung immer mehr überbietenden, ja überschlagenden Suche nach absoluter Gewißheit kann gerade durch die Fähigkeit des erkennenden Subjektes verhindert werden, sich je und je von neuem für die Dinge zu öffnen, wobei jedesmal offen ist, ob dies im Modus der Verwunderung oder dem der ,,normalen" Erkenntnis geschieht. Mag auch die Suche nach einer selbst der radikalen Verwunderung standhaltenden Gewißheit zu immer kühneren Konstruktionen weitertreiben, so steht doch dieser "necessitas consequentiae" die Fähigkeit gegenüber, die wir auch als ,,Fähigkeit zur Inkonsequenz" bezeichnen könnten, sich nach wie vor für die Einsichten zu öffnen, die der Fortschritt zu neuen Formen der Gewißheit endgültig hinter sich lassen will. So liegt es in der Natur und Logik der absoluten Entscheidung, daß sie jederzeit wiederhol- und revidierbar ist und das Streben nach Evidenz so jederzeit wieder durch die Rückkehr zu ihr befriedigt werden kann. Daher ist es ebenso gut möglich, daß diese Rückkehr, ja schon die einfache, sich immer wieder in Erinnerung bringende Existenz von Anschauung und Einsicht die Bewegung einer Erkenntnis unterbrechen, ja beenden, die in Gang gesetzt wurde, weil die Verwunderung nicht mehr bereit war, solche Einsichten zu akzeptieren, wie es auf der

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 137 anderen Seite sicher ist, daß selbst die sich von aller umittelbaren Hinnahme der Dinge emanzipierende Bewegung immer wieder auf unmittelbare Einsichten zurückgreifen muß. Sonst wäre die aus der Verwunderung hervorgehende Erkenntnisbewegung nur noch ein Bauen im Leeren, ein Schweben ohne jeden Halt, den allein Anschauung und Einsicht bieten können. Sie wäre "Erkenntnis" ohne jede Erkenntnis, da diese ihrer Natur nach nichts anderes als Hinnahme von Wirklichkeit sein kann!

Zweiter Teilabschnitt

Entscheidung über die eigene Erkenntnis Kapitell: Vollkommenes Bewußtsein und Reflexion Negatives Ziel unserer Arbeit ist es, durch eine radikal durchgeführte und sich immer noch vertiefende Phänomenologie des Erkenntnisaktes all jene Strömungen einer fürchterlichen Depossedierung des Menschen ad absurdum zu führen, die wir in der Einleitung aufgezählt haben: Biologismus, Psychologismus und die Philosophie der Geschichtlichkeit der Wahrheit, die unsere Erkenntnis und die ihr folgenden Handlungen zum Produkt, zum Überbau oder Geschick anonymer Mächte degradieren. Nicht erst die Überzeugungen, sondern schon das Subjekt und seine Maßstäbe des Denkens und Handeins erscheinen in dieser Sicht als ohnmächtiger und "vorprogrammierter" Spielball oder Schnittpunkt im gesellschaftlichen, "soziokulturellen" oder biophysischen Koordinatensystem von Kräftelinien. Die Widerlegung all dieser im Kampf gegen die Geistigkeit der Erkenntnis vereinten "Ismen" liegt implizit bereits in unserem Erweis der Offenheit des Erkenntnisvermögens vor. Denn diese Geistigkeit besteht ja in der freien Offenheit für die jeweilige "Sache selbst", d. h. im Blick auf die Sache, der seine Distanz zu ihr voraussetzt, von ihr bestimmen läßt, statt "hinterrücks" in einer ihm selbst nicht bewußten Weise zur Erkenntnis und zur Entscheidung bestimmt zu werden. Unsere bisherige Widerlegung aber gründete sich nicht nur auf die Explikation dieser Offenheit und ihrer charakteristischen Distanz zu den Dingen, die dem Subjekt in der bewußten Erkenntnis ausdrücklich gegeben ist. Aufgrund derselben Offenheit entzieht es sich in der Verwunderung sogar ihrem Diktat, ohne deshalb aufzuhören, sie zu erfassen. So ist es schließlich sogar in der Lage, sich für oder gegen die Erkenntnis zu entscheiden, ohne diese Entscheidung durch sachfremde Elemente zu verfalschen! Und doch hat die Offenheit des Erkennens, die seine Unabhängigkeit und Freiheit von den es angeblich von innen her prägenden und determinierenden Faktoren begründet, noch eine weitere Dimension. Bisher ging es stets darum,

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daß das Subjekt von den Dingen weiß, sich nach ihnen richtet und darin das Moment einer Freiheit besitzt, das mit seiner Offenheit identisch ist. Aber wir haben noch nicht gesehen, wie es sein Sichrichten selbst in Griff bekommen und offen sein kann für seine eigene Offenheit. Anders formuliert oder von einem anderen Aspekt aus gesehen geht es darum, daß die Freiheit der Erkenntnis in ihrer Bewußtheit besteht und daher in dem Maße zunimmt oder zu sich selbst kommt, in dem sie sich bewußt von den Dingen bestimmen läßt. Aber die höchste Form der Bewußtheit ist erst dann gegeben, wenn es nicht mehr einfachhin im Blick auf die Dinge lebt, sondern diese seine Beziehung zu ihnen ausdrücklich in den Blick nimmt, was nach Lage der Dinge nur in der Reflexion möglich ist! Das gilt a fortiori von der absoluten Entscheidung, in der das reine Subjekt in einzigartiger Weise über diese Beziehung zu den Dingen verfügt und darüber befindet, ob es sich von ihnen her bestimmen lassen soll oder nicht! Diese Entscheidung ist auch schon dann möglich, wenn es unmittelbar auf seine Gegenstände blickt. Von sich weggewandt erfährt es dann zwar seine Souveränität gegenüber den möglichen Alternativen, aber nicht gegenüber sich selbst. Es verhält sich zwar zu ihnen mit höchster Bewußtheit. Aber es erfährt noch nicht, daß und wie ihre Erschließung von seiner Art des Blickens abhängt. Es entdeckt die Wirklichkeit in dieser und in jener Weise, aber indem es unmittelbar auf sie schaut, werden ihm dieses Entdecken und seine Möglichkeit nicht selbst zum Gegenstand - geschweige denn zum Problem. Deshalb ist es sich zwar über die sachlichen Möglichkeiten im klaren und verfügt in der absoluten oder radikalen Entscheidung in "rationaler" Weise über sie, aber noch nicht über die verschiedenen Möglichkeiten des Entdeckens, von denen aus sich jene allererst eröffnen. Nicht zufällig werden wir so gerade an dieser Stelle der Entfaltung des zu sich selbst kommenden und über seine eigenen Stellungnahmen verfügenden Bewußtseins mit dem Problem der Reflexion konfrontiert. Daß eine solche Reflexion auf die eigene Erkenntnis in dieser oder jener Form möglich ist, scheint sich schon daraus zu ergeben, daß die Offenheit des Erkenntnisvermögens sich allem und jedem und damit auch sich selbst zuwenden kann. So liegt es nahe, anzunehmen, daß sie auch sich selbst und ihre "Hintergründe" in den Blick bekommen kann! Sie kann dies tun, ohne daß in der Natur der bisher betrachteten Erkenntnisakte eine innere Notwendigkeit dafür vorhanden ist, daß es zu einer solchen Reflexion kommt. Ist doch Erkenntnis in jeder der bisher betrachteten Formen und auf jeder Stufe ganz und gar als sie selbst verwirklicht und gehört es doch zu unseren wesentlichen Einsichten, daß sich das erkennende Subjekt so oder anders für die Dinge öffnen kann und unsere Darstellung des zu sich selbst kommenden Bewußtseins daher nicht die Geschichte einer notwendigen Entwicklung ist. Auch aus diesem Grunde konnten wir bisher die Reflexion aussparen, um zu zeigen, wie Erkenntnis auch schon in ihrem unmittelbaren, auf den Gegenstand gerichteten Vollzuge zum Bewußtsein ihrer selbst kommt. So sprachen wir bisher immer nur von der Selbsterfahrung, die sich im Blick auf

5. Absehn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 139 die Sache ereignet. Nunmehr aber stellt sich die Frage, inwieweit das Subjekt in der Reflexion Zuschauer seiner selbst werden und welche in der Tat ungeheuren Konsequenzen dies haben kann. Die Analyse dieser Reflexion sieht sich drei Schwierigkeiten gegenüber.

Kapitel 2: Die dreifache Schwierigkeit der Reflexion § 1: Die erste Schwierigkeit: Reflexion und Gegenwart der Sache selbst

Schon in früheren Veröffentlichungen 7 haben wir die Frage gestellt, ob eine solche Reflexion als Anschauung, d. h. als unmittelbare Erkenntnis der reflektierten Erkenntnis und nicht nur als Erinnerung an sie überhaupt möglich sei. Was kann eine Reflexion zeigen, deren Gegenstand wiederum die Anschauung und damit die Gegenwart der Dinge oder Sachverhalte ist? Und jede Erkenntnis, die diesen Namen verdient, ist ja Anschauung, die darin aufgeht, die Sache und nicht sich selbst zu präsentieren! Gerade in ihr verschwindet also das Bewußtsein in dem, was es sichtbar macht, und es ist deshalb nicht abzusehen, wie es durch die Reflexion zur Sichtbarkeit erweckt werden könnte. Wenn in der Anschauung nur die Sache gegenwärtig ist, so scheint auch die Reflexion nichts anderes sehen zu können als wiederum nur diese. Betrachten wir die Sachlage von der anderen Seite, nämlich von den Dingen her, die uns gegenwärtig sind, dann stehen wir vor der gleichen Schwierigkeit. Die Erkenntnis ändert an ihnen nichts. Ihr Ziel ist es, sie so zu entdecken, wie sie sind. Ihre Gegenwart oder ihr Gegebensein ist keine wahrnehmbare Eigenschaft an ihnen. Daher fragt es sich, inwiefern sie überhaupt für die Reflexion als "gegenwärtig" oder "gegeben" charakterisiert sind und nicht vielmehr auch für sie das bleiben, was sie ohnehin schon sind. Somit hätte auch sie dieselbe Welt vor sich wie die unmittelbar auf sie gerichtete Erkenntnis? Auf der anderen Seite ist es ebenso richtig, daß sie die Erkenntnis der Sache und gerade nicht sie selbst zum Thema hat, und das kann nur geschehen, wenn sie die Sache von vornherein so betrachtet, wie sie dem Subjekt gegenwärtig ist. Denn die Offenheit des Erkenntnisvermögens kann rein in sich selbst und für sich genommen nicht das spezifische Objekt für die Reflexion sein. Diese würde dann nur absolute Leere erfassen. 8 Das Gleiche gilt vom Erkenntnisakt selber, der gerade in der Anschauung nichts anderes ist als reine Hinnahme, die ganz der Sache zugewandt ist. Somit kann die Reflexion auch nicht auf so etwas wie Zwischeninstanzen zwischen Subjekt und Objekt wie etwa das Erkenntnisvermögen oder den Akt der Erkenntnis gehen. Sie kann allenfalls die Sache erfassen, Vgl.: Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, a. a. O. Deshalb ereignet sich die dem Erkenntnisakt wesentliche Selbsterfahrung der Offenheit und Hinnahmebereitschaft auch nur in obliquo im unmittelbaren Blick auf die Sache. 7

8

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

wie sie dem erkennenden Subjekt gegenwärtig ist. Nehmen wir ein Beispiel! Ich schaue den Schrank hier an, aber zugleich betrachte ich mich in der Reflexion, wie ich ihn hinnehme und er mir gegenwärtig ist. Die Reflexion erfaßt dann nicht so etwas wie den Akt der Anschauung, der den Schrank sichtbar machen würde. Statt seiner ist in der Tat nach wie vor nur der Schrank gegeben, aber doch auch das Subjekt, dem er gegenwärtig ist. Dabei stützt sich die Reflexion durchaus auf anschauliche, d. h. unmittelbar sichtbare Gegebenheiten, nämlich auf die Selbsterfahrung des hinnehmenden Subjektes und auf die Sache, die gegenwärtig ist. Ihr eigentlicher Gegenstand ist das Verhältnis zwischen beiden. Ich erfahre mich, wie ich den Schrank vor mir habe oder er mir gegenwärtig ist. Ob man von einer Anschauung dieses Verhältnisses sprechen will, ist völlig sekundär; besser wäre es vielleicht, von einem Innewerden zu reden, das aber weder nur als unmittelbare Selbsterfahrung der reflektierten Erkenntnis noch als so etwas wie ein "sekundäres Begleitbewußtsein" im Sinne Franz Brentanos, sondern als eigener, durch seine besondere intentionale Richtung ausgewiesener Akt der Reflexion zu verstehen ist.

§ 2: Die zweite Schwierigkeit: Reflexion und Entfremdung

Bei der zweiten Schwierigkeit geht es um die Zuschauerrolle, die das reflektierende Subjekt einnimmt. In der Reflexion scheinen wir die Erkenntnis gewissermaßen von außen zu betrachten, ohne selbst in sie einzutreten oder sie zu vollziehen. Und genau diese Zuschauerrolle ist es, die uns hier interessiert. Schon in früheren Arbeiten, die sich mit dem Begriff der Reflexion als "epoche" bei Husserl befaßten,9 haben wir die Frage gestellt, ob eine Reflexion, die gar nicht mehr das Ziel hat, die zugrundeliegende Erkenntnis mitzuvollziehen, sondern sie nur noch zu betrachten, überhaupt in der Lage ist, ihren Erkenntnischarakter, ihre Überzeugungskraft oder Einsichtigkeit zu erfassen oder ob sie die zugrundeliegende Erkenntnis nicht schon durch die Art ihrer Betrachtung zu einem für sie unverständlichen Getriebe entfremdet. Auch ganz unabhängig von der besonderen Problematik von Husserls Begriff der "epoche" stellt sich diese Frage, ob eine Reflexion, die die Erkenntnis nicht mehr mitvollzieht, weil sie diese zu ihrem Gegenstand macht, überhaupt noch in der Lage ist, ihr spezifisches Wesen als Erkenntnis zu erfassen, d. h. zu verstehen, wie sie zu ihren Urteilen kommt. Schaut sie doch nicht mehr wie die reflektierte Erkenntnis auf die Sache, sondern in einer ganz neuen Blickrichtung auf deren Erkenntnis. Kann sie so überhaupt noch erfahren, wie sich diese von der Sache her begründet? Daß A = B, B = C und folglich A = C ist, scheint zwingend einsichtig nur für die Erkenntnis, die sich der einsichtigen Kraft der den Fortgang motivierenden Prämissen öffnet, 9 Vgl. u. a. vom Verf.: Zur Dialektik der Reflexion bei Husserl. In: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 11 / 1958, S. 211 ff.

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis -

Erkenntnis als Entscheidung 141

aussetzt und unmittelbar auf den betreffenden Zusammenhang gerichtet iso Ist er aber auch einsichtig für die Reflexion, die ex definitione nicht auf ihn, sondern auf seine Gegenwärtigung gerichtet ist? Allgemeiner gefragt: wie kann das reflektierende Subjekt, das sich auf seine Zuschauerrolle beschränkt und eben deshalb nicht in den Fortgang der Erkenntnis verstrickt, dennoch an ihm teilhaben? \0 Die Schwieri!eit hat noch einen zweiten fundamentalen Aspekt. Wenn die Reflexion de facto nicht auf so etwas wie den Erkenntnisakt, sondern auf die Sache geht, wie sie dem Subjekt gegenwärtig ist, dann scheint sie diese qua Reflexion immer nur in obliquo und niemals in sich selbst wahrzunehmen. Sie sieht sie, wie sie je schon in einem Verhältnis steht, während es doch gerade die Einzigartigkeit dieses Verhältnisses ist, daß seine beiden Seiten in jener Indifferenz gegeneinander verbleiben, die wir beschrieben haben, so daß die Sache auch hier unberührt von ihm in ihrem Eigensein verharrt. Damit scheint die Reflexion schon kraft ihrer Blickrichtung einem seltsamen Widerspruch zu verfallen. Als anschauliche Erfahrung tendiert sie dazu, ihren Gegenstand so zu erfassen, wie er an und für sich ist. Aber ihr Gegenstand ist die ,,Erkenntnis": eine Hinnahme der Sache also, die in ihrem "In-sich" gänzlich davon unberührt bleibt, daß Erkenntnis sie hinnimmt. Indem die Reflexion jedoch nicht mit der Erkenntnis, sondern auf sie blickt, tendiert sie eo ipso dazu, die Sache als Korrelat, als bewußtes Sein, als "Noema" im Sinne Husserls aufzufassen: also gerade als das, als was sie sich im Vollzuge der Erkenntnis nicht präsentiert. So scheint 10 Dabei ist zunächst von einem grundsätzlichen strukturellen Unterschied zwischen der Reflexion auf die fertige und der auf die sich allererst entwickelnde Erkenntnis auszugehen! Es liegt auf der Hand, daß jeder geordnete Erkenntnisfortschritt diese als konstitutives Moment enthält, die ihn und seine Intention von innen her begreift, zum Ziel der Untersuchung in Beziehung setzt und daher gar kein bloßes Zuschauen von außen her sein kann! Während die fertige Erkenntnis ihren Gegenstand so vollkommen in Besitz hat, daß nur er und nicht sie selbst in der Reflexion aufscheint, ist der Erkenntnisprozeß erst auf dem Weg zur Sache, die er durch ,,Nachdenken" zu erreichen sucht! Daher scheinen hier die Akte des Suchens, Kombinierens und Kolligierens auch in sich selbst von der Reflexion sichtbar gemacht werden zu können. Wie die Existenz der Denk- und Lernpsychologie beweist, ist das auch zweifellos der Fall: in welchem Maße, das ist eine technische Frage, die wiederum nur die Psychologie angeht. Aber auch hier gilt: eine Reflexion, die die Vorgänge des Denkens und Überlegens und ihr Thema nur registriert, würde ihnen verständnislos gegenüberstehen. Sie würde die Intention nicht mehr mitvollziehen, die die Akte des Nachdenkens prägt und ohne die sie gar keine Erkenntnis wären. Daher muß die Reflexion, die konstitutiv ist für den Erkenntnisprozeß, mit ihm auf den gesuchten Gegenstand und nicht "auf' ihn blicken. Sie erfaßt zwar, daß wir dies oder jenes meinen, aber sie konstatiert das nicht einfach, sondern erwägt mit den Meinungen und im Blick auf den Gegenstand, ob sie ihn treffen oder nicht! So ist unsere Schwierigkeit, wie Reflexion Mitvollzug und zugleich Betrachtung sein könne, die gleiche für die entstehende wie für die erreichte Erkenntnis. Das gilt um so mehr, als es eine künstliche Stilisierung ist, Akte des "bloßen Nachdenkens" in dieser Schärfe von denen der Anschauung oder Einsicht zu unterscheiden, da jede echte Erkenntnisbewegung Fortschritt von Teileinsicht zu Teileinsicht und schließlich ihre zusammenfassende Integration ist. Auch bloße probierende Vorüberlegung und versuchsweise Ansetzung von Hypothesen sind selbstverständlich schon vom Vorblick auf die gesuchte Sache geleitet und können daher nur im mitverstehenden Vollzug angemessen erfaßt werden.

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1. Teil: Souveräne Erkenntnis

sich die Reflexion - gerade wenn sie unmittelbares Erfassen und Blicken sein will- in Widersprüche zu verfangen, indem das, was sie kraft ihrer Blickrichtung zu zeigen vermag, dem widerspricht, was sie zu zeigen vorgibt: die Erkenntnis, die als solche nichts anderes als die Sache "ist" und "sein" will. 11 Alles spitzt sich also auf die Frage zu, ob es der Reflexion nicht doch möglich ist, einerseits auf die Erkenntnis zu blicken und andererseits docn auch die Sache in ihrem subjektunabhängigen Ansichsein zu realisieren, die jene entdeckt. Ob es nicht möglich ist, auf die Erkenntnis gerichtet zu sein und sie doch so zu erfahren, wie sie sich selbst im Blick auf die Sache versteht? Diese Möglichkeit muß es geben. Sonst könnten wir überhaupt nicht sinnvoll über das Phänomen der Erkenntnis reden! Unter den Voraussetzungen unserer phänomenologisch erwiesenen Erkenntnislehre lösen sich die Schwierigkeiten zunächst auf, und zwar aus zwei Gründen. Einmal ist die Reflexion keine freischwebende Tätigkeit, sondern geht von demselben Subjekt aus, das auch der Träger der reflektierten Erkenntnis ist. Und diese Identität ist keine ontologische Konstruktion, sondern sie wird in der Blickwendung des reflektierenden Subjektes auf sich selbst unmittelbar erfahren. Zum anderen fällt die Offenheit des reflektierenden Subjektes trotz oder gerade wegen seiner besonderen Blickrichtung mit der des reflektierten für den einsichtigen Sachverhalt zusammen. Indem es auf seine eigene Offenheit für die Sache blickt, schließt es sich - selber nichts anderes als reine Offenheit - eo ipso mit ihr zusammen, und daher ist auch ihm der Sachverhalt in seiner spezifischen Überzeugungskraft unmittelbar präsent. Das Argument, daß die Reflexion eine andere Blickrichtung habe, ist daher richtig, aber rein formal. Denn der neue Akt richtet sich zwar auf die eigene Offenheit, aber er macht sie nicht im Sinne einer abstrakten Erwägung über sie zum Thema,12 sondern er erfährt sie als das, was sie ist. So erfaßt er, daß sie nur die andere Seite der Gegenwart der Sache ist, indem er sich mit der reflektierten Offenheit eo ipso an die Sache verwiesen sieht, und zwar gerade nicht, sofern sie Korrelat eines Aktes ist, sondern sofern sie in sich selbst besteht. Denn gerade auf sie geht ja das Vermögen der Offenheit. Es ist, als ob jemand im Blick auf einen Glasbehälter, in dem sich ein Gegenstand befindet, realisieren würde, daß es gerade die Durchsichtigkeit des Mediums ist, die den Blick ins Innere freigibt und daß es wegen dieser Durchsichtigkeit des Mediums nur der Gegenstand ist, auf den er blickt.

11 Husserl braucht nicht mit der Möglichkeit dieser Widersprüche zu rechnen, weil er schließlich von dem Konstrukt einer Reflexion ausgeht, die den Gegenstand schon deshalb legitimerweise als Korrelat des Bewußtseins auffaßt, weil er in ihm konstituiert wird und seine Sinngebung als Wirklichkeit empfängt. 12 Natürlich gibt es auch die ,,reflektierende" Erwägung über das, was die zugrundeliegende Erkenntnis ist, aber von ihr reden wir hier nicht, sondern von dem Akt der unmittelbaren, anschaulichen Erfahrung der eigenen Erkenntnis.

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 143 In diesem Zusammenhang wäre auch an Abschn. 3 zu erinnern, in dem wir gezeigt haben, daß das Subjekt seine Offenheit für die Dinge auch ausdrücklich als Fähigkeit erfährt. Indem es sich den Dingen öffnet und für sie offen bleibt, erfährt es, daß es sie - kraft seiner Offenheit und durch sie - zu entdecken und zu gegenwärtigen vermag. Nun liegt es aber auch hier auf der Hand, daß diese Fähigkeit ein und dieselbe ist beim reflektierenden und reflektierten Subjekt, und auch diese Identität ist keine ontologische Konstruktion, sondern sie wird ebenfalls im Vollzug der Reflexion unmittelbar erfahren. Denn es ist ja die eigene Offenheit für die Sache, der sich das reflektierende Subjekt anzuschmiegen sucht und damit erfährt es auch, daß es dasselbe Vermögen besitzt, die Gegenwart der Sache zu bewirken und zu tragen wie das reflektierte Subjekt. Indem es also die Erfahrung des "durch meine eigene Offenheit" zum Thema macht, erhält es eo ipso den Anstoß, sie mitzuvollziehen. Auf diese Weise aktualisiert die Offenheit der reflektierten Erkenntnis kraft ihres eigenen Wesens und ihrer inneren Logik die des auf sie gerichteten reflektierenden Subjektes und reißt sie mit sich in dieselbe Richtung! Sie kommt mit ihr zur Deckung, und diese Deckungsgleichheit wird im Mitvollzug erfahren. Daß ich fähig bin, die Sache zu gegenwärtigen und sie gerade deshalb auch tatsächlich Gegenwart wird, kann so nur deshalb erfaßt werden, weil die Reflexion sich gleichermaßen für die Sache öffnet. Dabei ist es müßig, darüber zu streiten, was hier Grund und Folge ist: ob das reflektierte Vermögen der Offenheit die Reflexion kraft ihres eigenen Wesens und ihrer inneren Logik mit sich reißt und so zum Motiv dafür wird, daß diese auch ihre eigene Fähigkeit des Sichöffnens realisiert und der des reflektierten Bewußtseins angleicht. Oder ob die Reflexion ihre Fähigkeit des Sichöffnens allererst realisieren muß, um auch das zugrundeliegende Vermögen des Sichöffnens im Mitvollzug zu erfahren. Maßgbend ist allein, daß dieses Vermögen nur im Mitvollzug erfahren werden kann und daß die Reflexion sich vom Blick auf die zugrundeliegende Erkenntnis in den mit ihr verwandeln muß. 13 13 So gewinnen wir auch die Möglichkeit, das Problem zu lösen, das in Abschn. 3,2 offen bleiben mußte, weil die Reflexion dort noch nicht behandelt wurde. Zweifellos ist die Einsicht, die das Vermögen zur Offenheit ausdrücklich als Grund und die Gegenwart der Sache als seine Folge begreift, ein Akt der Reflexion. Ist es möglich, daß auch sie den Erkenntnisvollzug als unmittelbaren Gang zur Sache hin nicht unterbricht und durchkreuzt, sondern vielmehr verstärkt? Sie kann nicht darin bestehen, die abstrakte Erkenntnis dessen, was überhaupt Grund und Folge ist, an das konkrete Verhältnis heranzutragen und es einfach als Beispiel dafür aufzufassen, daß hier ein Grund-FolgeVerhältnis vorliegt. Vielmehr ist sie immer schon Moment und Bestandteil der auf den konkreten Vollzug der Erkenntnis gerichteten anschaulichen Reflexion, die so nicht nur erfaßt, daß das Vermögen der Offenheit Grund der Gegenwart der Sache ist, sondern wieso dies dank der besonderen Natur der Offenheit möglich und notwendig ist. Damit erfaßt sie mit dem Verhältnis selber auch seine innere Notwendigkeit. Sie erkennt, daß kraft der Offenheit nichts anderes gegenwärtig sein kann als nur die Sache selbst und daß die reflektierte Erkenntnis daher auch nur erfaßt werden kann, wenn sie selbst mit ihr auf die Sache schaut. Weit entfernt davon, das Erkenntnisgeschehen zu unterbrechen, legitimiert sie daher die Verwandlung der Reflexion vom bloßen "Blicken auf' zum "Blicken mit". Sie macht diese Verwandlung zu einer selbst einsichtigen Angelegenheit.

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1. Teil: Souveräne Erkenntnis

Auf diese Weise scheinen sich die zweite Schwierigkeit und ihre beiden Teilprobleme aufzulösen, wie die Reflexion die zugrundeliegende Erkenntnis verstehen und wie sie mit ihr die "Sache selbst" als solche erfassen könne. Bei seinem Zuschauen erfährt das reflektierende Subjekt, daß es sich seinem besonderen Gegenstand angleichen kann und muß. Es erfährt dies unmittelbar und begreift es nicht bloß, da wir Reflexion hier immer als Anschauung und nicht als bloßes Nachdenken über Erkenntnis verstehen. Die Angleichung besteht darin, daß sich der Blick auf die eigene Offenheit mit ihr zusammenschließt und damit zum Mitvollzug der zugrundeliegenden Erkenntnis und ihrer ausdrücklichen reflexen Vergewisserung in Form eines eigenen Aktes wird. Die Situation ist also der eines Mannes analog, der einen Läufer beobachten will, welcher sich schnell von hinnen bewegt und erfährt, daß er zu diesem Zweck mitlaufen kann und muß.

§ 3: Die dritte Schwierigkeit: Zuschauen oder Mitvollzug

Damit allerdings scheint sich die zweite Schwierigkeit nur umzukehren! Dem zweiten Läufer geht es ja nicht darum, mitzulaufen. Er tut dies nur, um sein Objekt im Auge zu behalten. Ebenso ist das Ziel der Reflexion die Betrachtung und nicht der Vollzug der Erkenntnis. Auch wenn sie zu ihrem Mitvollzug wird, geht sie in ihm nicht auf. Sonst wäre sie keine Reflexion mehr und auch keine reflexe Vergewisserung der zugrundeliegenden Erkenntnis. Das also ist die dritte Schwierigkeit. Wie kann sich die Reflexion in Mitvollzug der Erkenntnis verwandeln und doch bei ihrer Betrachtung bleiben - Innewerden der Erkenntnis sein, wie wir es beschrieben haben? Offenbar müssen wir hier zunächst im Auge behalten, daß die Intention, die zugrundeliegende Erkenntnis zu betrachten, auch dann noch bleibt, wenn sich die Reflexion ihr angleicht und mit ihr auf die Sache blickt. Zwar tritt das reflektierende Subjekt in den Mitvollzug der Erkenntnis ein, aber von seinem Standpunkt aus. So scheint seine Intention die der reflektierten Erkenntnis zu übergreifen, sofern es ihm - auch im Mitvollzug - immer darum geht, sie zu erfassen. Das reflektierende Subjekt würde zwar seine Identität mit dem reflektierten erfahren, zugleich aber auch seine Differenz, sofern es seiner Intention, zuzuschauen, treu bleibt. Aber mit diesen Hinweisen scheinen noch nicht alle Probleme gelöst. Denn es fragt sich, wie die Reflexion unter solchen Umständen ein einziger, durch sein Ziel bestimmter Erkenntnisakt sein kann, als den wir sie ständig erfahren! Wie kann die Intention, die Erkenntnis zu betrachten, deren Intention, die auf nichts anderes als auf die Sache gerichtet ist, ergreifen und mit ihr zur Reflexion verschmelzen? Beide Intentionen scheinen nicht nur konträr zueinander zu stehen, sondern keine scheint auch dem zu entsprechen, was wir mit der Reflexion wirklich wollen 14. Betrachten wir die Erkenntnis als Zuschauer, so entspricht

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis -

Erkenntnis als Entscheidung 145

dies nicht der Absicht der Reflexion, sie so zu erfassen, wie sie sich selbst versteht. Betrachten wir mit ihr einfach den Gegenstand, so entspricht dies noch weniger der Absicht der Reflexion. Aber die Schwierigkeit ist nur dann nicht zu lösen, wenn man mit den Intentionen oder Erkenntnisakten, in denen sie sich inkamieren, wie mit Stangen operiert, die nicht zusammengebracht werden können und wenn man auf diese Weise die Reflexion als statische Einheit statt als Geschehen betrachtet. Denn offensichtlich ist sie eine Bewegung, die vom reflektierenden Subjekt ausgeht, das stets die Intention festhält, die Erkenntnis zu betrachten: auch wenn sie im Mitvollzug mit ihr verschmilzt. Eben deshalb kehrt das reflektierende Subjekt aus ihm immer wieder zu sich selbst und seiner Absicht zurück und sein Augenmerk oszilliert zwischen dem Mitvollzug der Erkenntnis und ihrem Innewerden, wie wir das bei der Lösung der ersten Schwierigkeit beschrieben haben. 15 Durch diese für das reflektierende Subjekt jederzeit mögliche Blickwendung wird wiederum ver14 Das Beispiel der Reflexion legt es nahe, zwischen der Intention als ,,zielrichtung" (intentionaler Richtung) oder "Blickrichtung" zu unterscheiden, die jeder Erkenntnis de facto zukommt und der Intention als ,,zielsinn" oder Absicht, gerade dies und nichts anderes zu erkennen, die in der betreffenden Erkenntnis zum Ausdruck kommen will. "Absicht" meint dabei nicht das, was ich mit der Erkenntnis anfangen will und damit auch nicht den Willen, der sich ihrer bedient, sondern nur die ihr selbst immanente Tendenz, dies oder jenes zu erfassen, die gewissermaßen die Seele des Erkenntnisaktes ist. Daß beide Intentionen nicht einfach identisch sind, zeigt schon der einfache Umstand, daß wir oft in die falsche Richtung blicken - und dies nicht nur bei der Sinneswahrnehmung! Doch auch wenn wir in die rechte Richtung schauen und den Gegenstand des Zielsinnes im Blick haben, können wir ihn dennoch verfehlen. So bleibt etwa die Bedeutung eines Gemäldes uns verborgen, obwohl wir sie zu erschließen suchen. Wir haben es zwar im Blick, aber dennoch stimmt die Blickrichtung nicht mit dem Ziel sinn überein, weil wir nicht auf die Züge achten, die allein uns diese Bedeutung offenbaren könnten. Der Grund liegt einfach darin, daß uns der Zielsinn oder die Absicht unseres Blickens selbst erst in abstracto oder als bloße "Meinung", wie Husserl sagen würde, gegeben ist und es diesem allgemeinen Erkenntnisstreben daher nicht gelingt, die Blickrichtung entsprechend zu präzisieren. Letzten Endes aber liegt der Grund für diese eigentümliche Diskrepanz zwischen dem, was der Erkenntnisakt eigentlich will und dem, was er de facto anzielt, in der Struktur des Entdeckens, das seinen Gegenstand immer erst im Vorgriff hat. Die drei Probleme, vor die uns die Frage nach der Möglichkeit der Reflexion stellt, sind gerade ein Schulbeispiel für die Schwierigkeit, beide Intentionen zur Deckung zu bringen! 15 Dabei ist es durchaus denkbar, daß die Vergegenwärtigung dessen, was wir im Mitvollzug als Erkenntnis erlebt haben, in der unmittelbar darauf folgenden Erinnerung geschieht, in der sie gewissermaßen noch in der ,,Retention" festgehalten wird, um einen bekannten Begriff Husserls zu variieren. Die ganze phänomenologische Phantasie, in der wir uns geistig-seelische Akte und Erlebnisse nicht nur vorstellen, sondern auch versuchsweise nachvollziehen, beruht auf solchen in der Retention festgehaltenen Erinnerungen. Aber die Frage, ob wir in der Reflexion die Erkenntnis wahrnehmen können, während sie sich ereignet oder erst in der sie festhaltenden Erinnerung hat nichts mit dem Wesen der Erkenntnisakte, den ihnen eigenen Intentionen und ihrer Vereinbarkeit zu tun, sondern betrifft nur die Spannweite des Bewußtseins und das Maß seiner Fähigkeit, Verschiedenes zugleich mit gleicher Aufmerksamkeit zu registrieren. Sie ist also eine technisch-psychologische Frage, deren Behandlung sich hier erübrigt.

10 Hoeres

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

mieden, daß die Dinge ihm nur als Bewußtseinskorrelate erscheinen oder die Erkenntnis in jener Weise neutralisiert oder verfremdet wird, mit der wir bei der Behandlung der zweiten Schwierigkeit konfrontiert wurden.

Kapitel 3: Die Reflexion als Entscheidung über die eigene Erkenntnis § 1: Reflexion als reines Zuschauen

Trotz dieser im Wesen der Akte begründeten Koinzidenz von Reflexion und reflektierter Erkenntnis ist in der Fähigkeit zur Reflexion auch noch die Möglichkeit enthalten, die ihr eigene Zuschauerrolle in einer Weise zu artikulieren, auf die das Modell der mitvollziehenden Erkenntnis nicht mehr zu passen scheint. Wir stoßen auf diese Möglichkeit, wenn wir uns vergegenwärtigen, was Zuschauen eigentlich im Vollsinne des Wortes bedeutet: Betrachtung eines Geschehens, bei dem sich der Zuschauer selber nicht engagiert. So schauen wir einer schönen Landschaft nicht zu. Wohl aber können wir Zuschauer sein, wie sich ein Gewitter entlädt. Der Zuschauer agiert im Theater ebenso wenig mit wie der Gaffer, der auf dem Marktplatz zusieht, wie sich zwei in die Haare geraten. Zwar kann es durchaus sein, daß erst Engagement, Verständnis, Teilnahme dem Zuschauer erschließen, was sich vor seinen Augen abspielt. Aber auch in diesem Falle steht seine Beteiligung im Dienste des Zuschauens, das immer eine Betrachtung per distance bleibt. Wollte man paradox formulieren, dann müßte man sagen, daß es hier dem Zuschauer erst durch seine Beteiligung möglich wird, das betreffende Geschehen in der für ihn typischen, unbeteiligten Haltung zu betrachten! In diesem Sinne liegt es zwar im Wesen des reflektierenden Zuschauens und der Offenheit für seinen spezifischen Gegenstand, daß es empfänglich ist für die Einsichtigkeit und den Rechtfertigungscharakter der zugrundeliegenden Erkenntnis und sie so erfaßt, wie sie sich selbst erfährt. Das aber schließt nicht aus, daß dieses Zuschauen - eben als solches - auch die Tendenz haben kann, nicht nur aus der Einheit mit dem zugrundeliegenden Bewußtsein immer wieder zu seinem Standpunkt der Betrachtung zurückzukehren, sondern auf ihm zu beharren und sich soweit wie möglich dem Sog der reflektierten Erkenntnis zu entziehen, sie von außen zu betrachten und den Schwerpunkt vom Mitvollzug ganz auf die Zuschauerrolle zu verlegen! Ein solches reines Zuschauen wäre kein neuer Standpunkt jenseits der "normalen" Reflexion, sondern nur seine Radikalisierung und Fortführung, die die Möglichkeit, die schon in ihm liegt, Zuschauer zu sein und nichts anderes, voll artikuliert. Dieses Zuschauen würde nach wie vor die normale Reflexion in sich enthalten, sodaß auch der reine Zuschauer zu all dem fähig bleibt, was wir der Reflexion zugeschrieben haben: das reflektierte Bewußtsein und seine Offenheit für die Sache von innen her zu begreifen. Aber selbst wenn sich auch hier der Blick des Zuschauers auf die Erkenntnis in den auf die Sache

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 147 verwandelt, so würde dieses reine Zuschauen doch radikal der Tendenz folgen, seine eigene Richtung des Fragens und Sehens beizubehalten. Eine solche Reflexion, die wir im Folgenden als ,,reine Reflexion" bezeichnen wollen, scheint sich allerdings in ständigem Widerstreit zwischen ihrem eigenen Wesen als Mitvollzug und ihrer natürlichen Zuschauerrolle zu befinden und das wirft die Frage nach dem Motiv auf, das dazu bewegt, in dieser einseitigen Zuschauerrolle zu beharren! Hier führt der Hinweis weiter, daß wir nicht nur eindrucksvollen Naturschauspielen wie etwa einem Gewitter, sondern auch ganz alltäglichen und selbstverständlichen Ereignissen und Verrichtungen wie dem Bau eines Hauses, dem Pflügen eines Ackers, dem Spielen der Kinder und Hunde, ja selbst dem Regen in gesammelter Ruhe gerne zuschauen: wirklich zuschauen, ohne diese Ereignisse nur zum Ausgangspunkte träumerischer Versunkenheit zu nehmen! Dabei stellt sich regelmäßig die Frage, ob das Augenmerk, das wir derart vertrauten Dingen und Ereignissen widmen, nicht bereits der aufbrechenden Verwunderung über sie entspringt, aus der dann ein Staunen hervorgeht, das ebenso anhält wie das Zuschauen selbst! Und sie ist ganz sicher positiv zu beantworten: vor allem, wenn es um so altvertraute Ereignisse wie unsere eigene Erkenntnis geht.

§ 2: Staunen über die eigene Erkenntnis

So spricht alles dafür, daß die ,,reine Reflexion" als konsequente Haltung des nachdenklichen Zuschauers bereits aus dem Staunen darüber kommt, daß es so etwas wie das Phänomen der Erkenntnis überhaupt gibt. Wobei dieses Staunen in welcher rudimentären Form auch immer seinerseits bereits die Reflexion auf das Erkennen oder doch zumindest seine ausdrückliche Wahrnehmung voraussetzt. Und sie kann wiederum zur Verwunderung über das führen, was sich vor dem "staunenden Auge" der Reflexion abspielt. Die Existenz dieser Kreisbewegung spricht jedoch nicht dagegen, daß die reine Reflexion, die als konsequentes Zuschauen den Erkenntnisprozeß nur noch von außen betrachten will, auch schon aus sich heraus - gleich, wie sie entstanden ist - auf ganz spezifische Weise zum Staunen über das Phänomen der Erkenntnis werden kann und gerade diese Weise ist es, die uns hier interessiert. Denn hier kehrt auf neuer, höherer Ebene jene Konstellation zwischen Reflexion und reflektiertem Bewußtsein wieder, die uns unter dem Titel der "zweiten Schwierigkeit" der Reflexion zum Problem geworden ist. Zwar kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß auch noch die reine Reflexion die Evidenz der Sachverhalte, auf die sich die zugrundeliegende Erkenntnis richtet, so erfaßt, wie diese selbst sie erfaßt. Indem sie aber auf der anderen Seite jetzt ausdrücklich auf dem Standpunkt des reinen Zuschauens insistiert, wird ihr diese Evidenz dennoch jetzt in einzigartiger Weise zum Problem! Sie entzieht sich ihr nunmehr nicht aus einer strukturel10*

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1. Teil: Souveräne Erkenntnis

len Unfähigkeit heraus, sie mit zu vollziehen, sondern aus der ihr ebenso natürlichen wie radikalen Konsequenz der Zuschauerrolle selber! Weder kann sie diese Evidenz leugnen noch ihre zwingende Kraft verkennen und doch richtet sich ihr Augenmerk nunmehr nur noch darauf, daß der Sachverhalt aufgrund seiner Evidenz vom zugrundeliegenden Bewußtsein so und nicht anders hingenommen wird. Konsequent der Intention des Zuschauens folgend will sie selbst nicht mehr mit dem Bewußtsein, auf das sie blickt, sehen, ob der Sachverhalt gerechtfertigt ist, sondern nur noch darauf, daß er ihm als gerechtfertigt erscheint und deshalb von ihm hingenommen wird. Mithin kann dieses reine Zuschauen von seinem Standpunkt aus jedenfalls mit Fug und Recht fragen, unter welchen Voraussetzungen das reflektierte Bewußtsein etwas als gegeben erachtet und was für es dieses Gegebensein bedeutet. Somit kann ihm die Evidenz, die das zugrundeliegende Bewußtsein als solche erfährt, zu einem selber erstaunlichen Phänomen werden, demgegenüber es in der Distanz der Verwunderung beharrt. Die Distanz ist von derselben Ambivalenz wie die, die die Offenheit überhaupt prägt und Staunen ermöglicht. Auf der einen Seite ist sie der Grund dafür, daß das reflektierende Subjekt den motivierenden Zusammenhang zwischen dem Sachverhalt und seiner Hinnahme ebenso zwingend erfährt wie die Erkenntnis, die es betrachtet. Auf der anderen Seite kann es sich ihm einfach dadurch entziehen, daß es ihn in der distanzierenden Weise des "Blickens auf' bewußt macht und ihn vom Standpunkt seiner Offenheit aus betrachtet, die auf nichts festgelegt ist: selbst nicht auf die einsichtigste und überzeugendste Form der Erkenntnis. Es kann also sogar sie als staunenswertes Phänomen erfahren und sie als etwas betrachten, das möglicherweise ganz anders sein könnte. Es kann in Verwunderung darüber geraten, daß es so etwas wie Einsichtigkeit als Grund der Hinnahme oder einfach so etwas wie Gegenwart der Sache - also das Phänomen der Erkenntnis, wie es uns in seiner jeweils anderen und sich doch durchhaltenden Gestalt entgegentritt - überhaupt gibt! 16

16 Zusammenfassend könnte man also unterscheiden zwischen der Reflexion, die einfach offen ist dafür, daß die reflektierte Erkenntnis den Sachverhalt hinnimmt, weil er einsichtig und zwingend ist, dem Zuschauer, der diesen Motivationszusammenhang staunend als Phänomen betrachtet und der Reflexion als konstitutivem Moment. Dabei versteht es sich, daß das Subjekt, das die Reflexion einsetzt, um seine Erkenntnisschritte zu koordinieren, nicht im gleichen Atemzuge über das Phänomen der Erkenntnis staunen kann, und andererseits bleibt auch die reine Reflexion in jedem Falle Mitvollzug der Erkenntnis, um sie überhaupt erfassen und damit auch über sie staunen zu können. Jedenfalls setzt die Alternative, entweder die zugrundeliegende Erkenntnis zu akzeptieren, so wie sie sich selbst akzeptiert oder sich darüber zu wundem, daß es so etwas wie eine solche Erkenntnis überhaupt gibt, immer schon den Standpunkt des reinen Zuschauens, der reinen Reflexion voraus.

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 149 § 3: Entscheidung über die eigene Erkenntnis

Dem reflektierenden Subjekt eröffnen sich so zwei in ihrer radikalen Verschiedenheit gleichberechtigte Möglichkeiten: einerseits Offenheit für die zugrundeliegende Erkenntnis und damit ihre schlichte Bejahung und andererseits Verwunderung über das Phänomen der Erkenntnis, die als solche ihren Anspruch immer schon in der Schwebe läßt. Die Möglichkeiten sind deshalb so gleichberechtigt, weil auch hier das Staunen voll und ganz den Gegenstand vergegenwärtigt, an dem es sich entzündet. Es ist also nicht so, daß sich in seinem Basiliskenblick die Einsichten des zugrundeliegenden Bewußtseins zu unverständlichem Geschehen verfremden würden. Vielmehr erfaßt es sie, um gerade deshalb darüber staunen zu können, daß es so etwas wie Einsichtigkeit im engeren und weiteren Sinne und damit das Phänomen der Erkenntnis überhaupt gibt. Indem der Akt der Verwunderung so auf der einen Seite die Erkenntnis fixiert, wie sie ist und sie auf der anderen Seite in der ihm eigenen Weise in der Schwebe läßt, kann er auch hier zum Motiv für eine radikale Entscheidung werden, die in diesem Falle über die Alternative zu befinden hat: "normale" Erkenntnis als Hinnahme der Wirklichkeit oder Stehenbleiben bei der Enthaltung über den Anspruch der Erkenntnis. Dabei handelt es sich ganz gewiß um einen ausgezeichneten Fall der absoluten Entscheidung. Denn sie hat jetzt nicht mehr einfach über die offene Frage zu befinden, ob möglicherweise alles ganz anders ist, als es mir als Wirklichkeit entgegentritt, sondern ob schon ihre Hinnahme sie tatsächlich so wiedergibt, wie sie ist, ja ob es so etwas wie sachgetreue Hinnahme überhaupt gibt oder ob sich unter diesem Anspruch etwas ganz anderes verbirgt. Gewiß umspannt auch schon die radikale Verwunderung, vor der die Möglichkeit auftaucht, daß alles ganz anders sein könnte, die Erkenntnisrelation, aber nur implizit: bezieht sie sich doch in unbestimmter Weite und Leere auf alles schlechthin. Davon abgesehen sind auch die intentionalen Richtungen der auf die Wirklichkeit schauenden Erkenntnis und der Reflexion derart entgegengesetzt, daß auch die Verwunderung dazu neigt, sich entsprechend zu differenzieren. So kann die reflektierende Verwunderung über das Phänomen der Erkenntnis der allgemeinen Verwunderung sowohl folgen und sich aus ihrem allumspannenden Charakter ergeben wie ihr auch vorausgehen. Sie geht ihr voraus, weil die Erfahrung, daß alles möglich und deshalb ganz anders sein könnte, eigentlich bei der Frage beginnt, ob nicht schon unsere Erkenntnis der Schleier sein könnte, hinter dem sich das ganz andere verbirgt. Daher hat sowohl die radikale Verwunderung die Tendenz, die Erkenntnis der Wirklichkeit zu ihrem besonderen Thema zu machen wie die reine Reflexion die Tendenz hat, in die radikale Verwunderung über alles und jedes einzumünden und sie noch zu vertiefen. Daß die in der reinen Reflexion begründete Verwunderung in gewisser Hinsicht radikaler ist, liegt auf der Hand; stellt sie doch nur deshalb nicht unmittelbar die Wirklichkeit in Frage, weil sie bereits ihre Hinnahme in Frage stellt.

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I. Teil: Souveräne Erkenntnis

Hinter der Möglichkeit, vor die sich die radikale Entscheidung nunmehr gestellt sieht, die Frage, ob Erkenntnis wirklich Hinnahme sei, in suspenso zu lassen, taucht die Versuchung der Skepsis auf, die es sich angelegen sein läßt, die Wirklichkeit und ihre Erkenntnis grundsätzlich auseinander zu dividieren. Sie kann der naheliegende Grund für die negative Entscheidung sein, den Anspruch der Erkenntnis in der Schwebe zu lassen: hat doch diese Enthaltung nur Sinn, wenn ich über sie hinausgehe zur Skepsis, wobei man sich fragen könnte, ob sie nicht schon Skepsis oder diese das Motiv für die Enthaltung ist. In jedem Falle liegt der Schritt von der Enthaltung über den Anspruch der Erkenntnis zur eigentlichen Skepsis zunächst näher als der zur allgemeinen radikalen Verwunderung und der ihr möglicherweise folgenden Entscheidung, dies alles in der Schwebe zu lassen. Denn es ist nicht einfach dasselbe, sich zu fragen, ob die Wirklichkeit tatsächlich das ist, als was sie sich mir darstellt oder ob die Erkenntnis tatsächlich leistet, was sie zu sein vorgibt. 17

Kapitel 4: Die Reflexion auf das Staunen So hat die aus der reinen Reflexion hervorgehende Verwunderung in jedem Falle ihre besondere Thematik und bleibt damit eine elementare Möglichkeit der Einstellung, in die wir jederzeit übergehen können, weil wir die Fähigkeit haben, wie alles andere auch unsere Erkenntnis staunend in den Blick zu nehmen. Generell kann sich jede der Einstellungen und Erfahrungen, die wir beschrieben haben, unabhängig von allen anderen ereignen: einfache Hinnahme, Verwunderung über die Wirklichkeit und schließlich Verwunderung über das eigene Erkennen! Die Geschichte des unglücklichen Bewußtseins, in der sich jede Bewußtseinsstufe mit Notwendigkeit aus der früheren ergibt, widerspricht der spontanen 17 Nur die Erkenntnistheorie, die statt vom Phänomen von vorgefaßten Deutungsmodellen ausgeht, verwechselt die beiden Ebenen, die Darstellung der Wirklichkeit in sich selbst und das Problem der Erkenntnis. Hierhin gehören alle Arten der cartesianischen, aber auch empiristischen Bewußtseinsphilosophie und der Transzendentalphilosophie, die statt von den Phänomenen der Anschauung, Entdeckung, Hinnahme, des SichRichtens nach den Dingen und dem in ihnen sich zeigenden unmittelbaren Kontakt zwischen Subjekt und Objekt vom geschlossenen Kreis der Immanenz des Bewußtseins ausgehen und nachher nur durch all jene Hilfskonstruktionen aus ihnen wieder zu den Dingen hinauskommen, die von der künstlichen, durch Gott garantierten Konformität der eingeborenen Ideen mit der Wirklichkeit bis zur Ersetzung von Erkenntnis durch Konstruktion bei Kant reichen - wenn nicht das ganze unlösbare Problem wie bei Hume in einem resignierenden, dafür aber ehrlichen Skeptizismus versandet. In dieser Sicht der Dinge fällt natürlich das Problem der Darstellung der Wirklichkeit in sich selbst mit dem seiner "Kundgabe im Bewußtsein" durch Nach- und apriorische Vorbilder zusammen, und es taucht die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis auf, die selbst denen Naivität vorwirft, die sie unter Hinweis auf das Phänomen der Erkenntnis als Scheinfrage enttarnen. Im übrigen zeigt schon ein Blick auf die Geschichte der Philosophie, daß die Frage, ob sich nicht in oder hinter der Darstellung der Wirklichkeit ganz anderes verbirgt, keineswegs mit der nach ihrer Darstellung im Bewußtsein zu konfundieren ist.

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 151 Fähigkeit, sich je von neuem und in je neuer Weise für die Dinge zu öffnen. Auf der anderen Seite aber besteht zwischen all jenen Einstellungen die Affinität, die wir beschrieben haben. Sie haben die Tendenz, sich gegenseitig zu motivieren. In dem, was die eine Einstellung sichtbar macht, lenkt sie den Blick auf die Möglichkeit, den Dingen auch in der anderen zu begegnen. In diesem Sinne kann schließlich jeder Akt des Staunens über die Wirklichkeit nicht nur zum Staunen über ihre Erkenntnis kommen und umgekehrt, sondern auch - einmal in Gang gesetzt - ins Staunen über sich selbst geraten: enthält doch der Akt des Staunens in einzigartiger Weise das Motiv, die Reflexion auf sich in Gang zu setzen. Denn er erfährt sich als Frage, die ohne Antwort bleibt, wobei eben dies, daß keine Antwort erfolgen kann, in die Erfahrung des Staunens eingeht. Diese konstitutive Rat- und Antwortlosigkeit ist Grund genug, ja ein von der Sache her ungemein naheliegendes Motiv, den Blick auf sich selbst und die eigene Unfähigkeit, Antwort zu geben und Bescheid zu wissen, zurückzulenken, die wiederum nichts anderes als die Offenheit qua Nichtfestgelegtsein ist, die in das Staunen eingeht. Auch hier ist die Reflexion zunächst nur als Mitvollzug möglich und kann nur in ihm erfassen, was Staunen eigentlich ist: Ausdruck der auf nichts festgelegten Offenheit und dementsprechende Erfahrung der Dinge. Aber auch diese Reflexion kann gegenüber dem bloßen Mitvollzug auf dem Standpunkt des Zuschauers verharren und dann erscheint ihr die staunende Erfahrung, daß alles möglich ist, selbst als staunenswertes Phänomen und damit wiederum nur als eine Möglichkeit unter anderen, den Dingen zu begegnen! So wie der Zuschauer in der reinen Reflexion auf die Erkenntnis darüber ins Staunen kommen kann, daß wir die Dinge aufgrund ihrer Einsichtigkeit hinnehmen, ohne sich selbst noch ihrer motivierenden Kraft auszusetzen, kann er sich in der entsprechenden Reflexion auf den Akt des Staunens dem inneren Zusammenhang zwischen dem Standpunkt der auf nichts festgelegten Offenheit und dem Akt des Staunens selbst entziehen. So kann er zur Wahrnehmung kommen, daß es nur von diesem Standpunkt aus möglich und sinnvoll ist, über alles zu staunen, während ihm selbst als Zuschauer das Staunen als zwar faßbares, aber doch selbst wieder erstaunliches Phänomen gegeben ist. Der Einwand, daß ein solches Staunen sich selbst aufhebe, übersieht, daß es hier nicht um Fragen der logischen Vereinbarkeit geht, sondern daß diese Form des Staunens in der ganz konkreten Position des Zuschauers begründet ist und sich daher zunächst einmal nur auf das Phänomen richtet, das er von außen betrachtet. Daß gerade diese Form des Staunens wieder in die radikale Verwunderung über alles und jedes umschlagen kann, steht auf einem anderen Blatt.

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Kapitel 5: Die vollkommen bewußte Entscheidung § 1: Staunende Reflexion auf das Staunen als Höhepunkt

Zweifellos ist diese staunende Reflexion auf das Staunen ein ganz spezifischer Ausdruck, ja ein Höhepunkt der Entfaltung des erkennenden Bewußtseins, wie es im Blick auf die Dinge schließlich zum Bewußtsein seiner selbst und damit wieder zur vollkommeneren Gegenwärtigung der Dinge gelangt. 18 Es kann ganz in den Dingen aufgehen. Es kann den Blick auf sie aber auch bewußt vollziehen und auf diese Weise schließlich zum Bewußtsein seiner selbst kommen, wie es sich bewußt von den Dingen bestimmen läßt. Regelmäßig kann dieser Höhepunkt des Zusichselbstkommens des Bewußtseins in der Erkenntnis zunächst einmal durch die Intensivierung des einfachen Blicks auf die Sache erreicht werden, in dem das Subjekt sich bewußt wird, daß es sie von ihr selbst empfängt und sich insofern ausdrücklich Rechenschaft gibt über sein Tun. Daß es so "ausdrücklich weiß, was es tut" und sich Rechenschaft gibt über sich selbst, aber ist nur ein anderer Ausdruck seiner geistigen Freiheit, wie wir sie in diesem ganzen Abschnitt entfaltet haben. Sie besteht darin, daß wir nicht unbewußt und sozusagen "hinterrücks" zu etwas bestimmt und insofern getrieben werden, sondern uns bewußt im Blick auf die Sache und von ihr bestimmen lassen. Das geschieht schon dort, wo wir uns ausdrücklich bewußt sind, daß es die Sache selbst ist, nach der wir uns richten, vollkommener dort, wo wir staunend erfahren, daß sie auch ganz anders sein könnte, sodaß sie uns nunmehr selbst zum Problem wird und wir damit in ganz neuer, rationaler Weise über sie und damit auch über ihre Hinnahme verfügen können. § 2: Die vollkommen über sich selbst verfügende Entscheidung

Legen wir diesen Maßstab zugrunde, dann ist die radikale Entscheidung die vollkommene Ausprägung eines solchen freien geistigen Bewußtseins, das sich in ihr nicht nur von der Sache bestimmen läßt, die es vor sich hat, sondern sie in vertiefter Form als einen ihrer möglichen Bestimmungsgründe erfaßt, indem sie sie mit ihrer sachlich begründeten Alternative konfrontiert. Noch vollkommener aber ereignet sich diese geistige Freiheit, wenn das Bewußtsein sich nicht nur von den sachlichen Alternativen bestimmen läßt, die es vor sich hat, sondern sich selbst und seine eigene Möglichkeit in der Reflexion in den Blick nimmt! Das aber kann nach allem, was wir gesagt haben, noch nicht jene einfache Reflexion leisten, die nichts anderes ist als Mitvollzug der Erkenntnis. Sie ist eigentlich keine neue Bewußtseinsstufe oder kein neues Moment der Rechenschaftslegung gegenüber der bewußten Erkenntnis, denn sie wiederholt nur und 18

Vgl. Abschn. 2 passim.

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 153 macht zum ausdrücklichen Thema, was das im Blick auf die Sache zu sich selbst kommende Bewußtsein ohnehin erfährt. Erst die reine Reflexion, die zwar Mitvollzug ist, sich ihm aber dennoch zugleich entzieht und auf dem Standpunkt des staunenden Zuschauers beharrt, stellt eine neue Dimension dar. Denn in ihr erfährt das Bewußtsein jetzt nicht mehr nur seine eigene Rechtfertigung von den Dingen her, sondern diese kann ihm nunmehr in der neuen Perspektive selber zum Gegenstand des Staunens und damit zum Problem werden. Und damit erst ist nicht nur der Weg frei für die radikale Entscheidung über Erkenntnis und Hinnahme einerseits oder Skepsis andererseits, sondern auch für eine Entscheidung, die sich im Sinne der Wesenszüge des vollkommenen geistigen Bewußtseins selber vollkommen in Griff hat. Dieser Weg führt über die staunende Reflexion auf das Staunen selbst oder die Verwunderung, in der diese nunmehr als bloß eine Möglichkeit unter anderen erscheint, zur Entscheidung über diese Möglichkeit. Nun beruht aber auf ihr, auf der Möglichkeit der Verwunderung überhaupt, jede Form der radikalen Entscheidung, sodaß im Staunen über Möglichkeit und Anspruch des Staunens zugleich die Grundlagen einer jeden absoluten oder radikalen Entscheidung zur Disposition gestellt werden. Indem diese staunende Reflexion den Standpunkt der auf nichts festgelegten Offenheit zum Problem werden läßt, der allererst Staunen ermöglicht, führt sie eo ipso dazu, auch auf die Offenheit als einfaches Medium und als Rechtsgrund der Hinnahme der Dinge zu reflektieren. So hat es der Blick auf jene staunende Einstellung an sich, zum Doppelblick zu werden: auf die Haltung der einfachen Hinnahme und die der Verwunderung zugleich. Und auch aus diesem Grunde die Entscheidung zwischen diesen Einstellungen zu motivieren! § 3: Der Zusammenfall aller Formen der Entscheidung

Daraus ergibt sich auch wiederum, daß die radikale Entscheidung über Bejahung der Erkenntnis oder Skepsis gegenüber ihrem Anspruch, die wir in diesem Teilabschnitt thematisiert haben, trotz der Verschiedenheit des Ausgangspunktes und des formalen Themas letzten Endes doch die Tendenz hat, mit der über Hinnahme der Wirklichkeit oder Offenhalten aller Möglichkeiten im Hinblick auf sie zusammenzufallen. Geht es doch trotz der je verschiedenen Blickrichtungen bei all diesen Entscheidungen um die rechte Einstellung zur Offenheit, die auf der einen Seite unteilbar ist, auf der anderen Seite aber immer die beiden Aspekte hat, Offenheit als auf nichts festgelegter Standpunkt zu sein, von dem her man blickt und Offenheit als Hinnahmebereitschaft. Nur ein anderer Aspekt für diese wesensnotwendige Tendenz der Entscheidungen über den Anspruch der eigenen Erkenntnis und über die Wirklichkeit, zusammenzufallen, ist die Tatsache, daß die absolute Entscheidung als vollkommen freies Bewußtsein von sich selbst im Prinzip unteilbar ist!

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Dritter Teilabschnitt

Bekenntnischarakter der Entscheidung Kapitel 1: Entscheidung und Sympathie In Abschn.5,1 haben wir gezeigt, wie allein schon die Wißbegierde zum Motor einer in sich folgerichtigen Entwicklung werden kann, die durch die radikale Verwunderung in Gang gesetzt wird. Schon die Entscheidung für die Skepsis kann allein aufgrund dieser Erkenntnistendenz erfolgen und das alles gilt natürlich auch für die aus dem Staunen über die Erkenntnis erfolgende Entscheidung für die Reserve gegenüber ihrem Geltungsanspruch, wie wir sie in Abschn. 5,2 betrachtet haben, 19 sodaß wir einen geschlossenen, in sich verständlichen, allein durch das Schwungrad der Erkenntnistendenz in Gang gehaltenen Motivationszusammenhang vor uns haben, in dem der Verzicht auf Erkenntnis selbst noch durch die Tendenz nach ihr verständlich wird. Die Philosophiegeschichte kann uns jedoch den Hinweis geben, daß diese Ausführungen über die radikale Entscheidung als Möglichkeitsgrund der Skepsis noch in eigentümlicher Weise unvollständig sind. Zwar ist es nicht unsere Aufgabe, die Gründe der realen philosophiegeschichtlichen Entwicklung aufzuzeigen, doch ist sie immerhin ein deutliches Indiz dafür, daß philosophische Erkenntnis ihrem Wesen nach auch Bekenntnis, d. h. Stellungnahme des konkreten Subjektes ist, die nicht nur in seiner Erkenntnis, sondern auch in seiner Vorliebe begründet sein kann. 20 Sie muß den Erkenntnischarakter der Erkenntnis nicht aufheben. Ihre Einbeziehung bedeutet nicht unbedingt, daß die Rationalität der Erkenntnis zugunsten eines Rückgriffs auf emotionale Faktoren aufgegeben oder gar zur Ideologie verflüchtigt wird, in der Neigung und Interesse sachliche Gründe ersetzen. 21 Generell gehört freilich die Frage, wie es möglich ist, den Erkenntnischarakter der Philosophie mit dem Gewicht einer solchen persönlichen Stellungnahme und der Erfahrung, daß wir deshalb auch für unsere Weltanschauung in einem tiefen und radikalen Sinne verantwortlich sind, zu vereinbaren, zu den tiefsten und schwersten, die sich einer jeden Philosophie der Erkenntnis aufdrängen. Hier können wir auf sie - eben weil es nicht unsere Absicht sein kann, die realen 19 Selbstverständlich gilt das auch für die Entscheidung für die Rückkehr zur nonnalen Hinnahme der Wirklichkeit und damit auch zur Evidenz als Wahrheitsinstanz. 20 Im Unterschied zu der der Erkenntnis immanenten Wißbegierde ist die "Vorliebe" hier zunächst einmal ganz einfach als ein der Erkenntnisbewegung äußerliches Moment zu verstehen, das also nicht mit ihrer Natur und Logik gegeben ist und dennoch auf sie einwirkt. 21 Das gilt selbstverständlich nicht nur für die fachphilosophische Erkenntnis, sondern für jede Grundlagenerkenntnis, in der wir aus der Methode und dem Bannkreis einer Fachwissenschaft heraustreten, um uns über die Bedeutung ihrer Ergebnisse für unsere Weltanschauung und den Sinn unseres Daseins klar zu werden und so die "Bedeutsamkeit" dieses Wissens zu ergründen.

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 155 Gründe der Philosophiegeschichte aufzuzeigen - nur eine Teilantwort geben, wie sie der Kontext der Untersuchung an dieser Stelle nahelegt. Denn die radikale Verwunderung und Entscheidung scheint genau dies Unfaßbare zu ermöglichen: daß die persönliche Vorliebe den Ausschlag bei der Erkenntnis geben kann, ohne sie dennoch als solche auch nur im geringsten zu beeinträchtigen! Die Erörterung dieser Möglichkeit muß zunächst die Frage klären, wieso die Alternativen, mit denen es die radikale Entscheidung zu tun hat, überhaupt zum Gegenstand von Sympathie und Antipathie werden können, um dann zu zeigen, warum eine solche Entscheidung, bei der die Vorliebe den Ausschlag gibt, weder Ideologie noch Willkür sein muß! Sofern es bei der radikalen Entscheidung zunächst einmal nur um Affirmation oder skeptische Enthaltung geht, ist in der Tat nicht recht zu sehen, wie diese Möglichkeiten zum Gegenstand einer Vorliebe werden können, die nicht einfach mit der Tendenz nach Erkenntnis zusammenfällt. Auf der anderen Seite legen beide Möglichkeiten ein verschiedenes Verständnis der Wirklichkeit nahe, das hinter ihnen als Verlockung aufscheint. Die skeptische Enthaltung gegenüber der einfachen Hinnahme der Wirklichkeit ermöglicht die Distanzierung von den ihr eigenen Wertmaßstäben und Normen. Auch wenn sie der Erkenntnistendenz folgend zunächst nur absolute Gewißheit zum Ziel hat, kann vor ihr beispielsweise doch ein ganz neues Bild vom Menschen und dem Sinn seines Daseins in wenn auch noch so vagen Umrissen auftauchen, das dann um seiner selbst willen und nicht nur als Gegenstand des Erkenntnisstrebens zu faszinieren vermag. Und so kann auch die auf der Tendenz nach absoluter Gewißheit basierende Entscheidung für die Skepsis zugleich der Hoffnung auf Möglichkeiten des Seins entspringen, die insoweit bestimmbar sind, als sie sich absolut von allem unterscheiden, was wir bisher vielleicht nur widerwillig als Realität anerkennen mußten. Hier wäre auch daran zu erinnern, daß sich die radikale Verwunderung und die ihr folgende Entscheidung nicht unbedingt auf die ganze Wirklichkeit erstrekken müssen. Vielmehr kann sie an jedem einzelnen konkreten Punkt der Begegnung mit ihr einsetzen und damit eine partielle Skepsis ermöglichen, die wiederum einer ganz konkreten Antipathie oder auch Sympathie entspringt. So könnte ich beispielsweise über das Phänomen der Gemeinschaft staunen und zu der skeptischen Frage kommen, ob und inwieweit es überhaupt sinnvoll ist, von so etwas wie einem organischen und gewachsenen Zusammenschluß von Menschen zu reden. Hinter dem Beharren auf dieser Skepsis würde dann - soll die Frage weitergehen - als einzig verbleibende Alternative die Möglichkeit auftauchen, die angeblichen Gemeinschaften nun in anderer Weise, etwa als bloß synthetische Zweckverbände zu interpretieren. Und es kann durchaus die Begeisterung für die Autonomie und Rationalität des einzelnen sein, die das Subjekt dazu bringt, die anfängliche Verwunderung über das Phänomen der Gemeinschaft in Skepsis gegenüber seiner Existenz umschlagen zu lassen, hinter der schon die Umrisse des neuen Ideals auftauchen!22

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Umgekehrt kann natürlich auch die Entscheidung für die Einsicht und gegen die skeptische Enthaltung nicht nur der Überzeugungskraft des einsichtigen Sachverhaltes, sondern auch der Vorliebe entspringen: etwa der Liebe zur Tradition oder dem Sicherheits- und Autoritätsbedürfnis, das sich an feste Wahrheiten anzulehnen sucht.

Kapitel 2: Vereinbarkeit der beiden Momente § 1: Der Ideologieverdacht

Damit haben wir schon die entscheidende Frage vorbereitet, wie die Vorliebe Motiv mit der spezifischen Rationalität und Souveränität der radikalen Entscheidung vereinbar sein kann. Wie wir sahen, sind für sie beide Möglichkeiten gleichwertig, wenn auch nicht gleichartig und sie rechtfertigen sich gänzlich durch sich selbst. Jede ist zureichender Grund, ihr zuzustimmen, sodaß die Entscheidung allein im Blick auf sie und von ihnen her getroffen werden kann. Deshalb scheint die Vorliebe auf den ersten Blick eine solche Entscheidung ihrer rationalen Reinheit zu berauben und in das Gegenteil ihrer selbst, in bloße Ideologie zu verwandeln. 23 al~

Offensichtlich gehört es zum Wesen der Ideologie, daß ihr Ursprung aus persönlicher Vorliebe oder Neigung unbewußt bleibt. Würde das Subjekt den Paralogismus durchschauen, in dem diese in "Erkenntnis" transformiert wird, dann hätte es sich damit auch schon von seiner trügerischen Bindung befreit, da der Satz: "es ist so, weil ich will, daß es so ist!" evident unsinnig ist. In dieser versteckten Weise kann die Vorliebe also als sozusagen verborgene Verführerin nicht den Ausschlag geben, ohne die radikale Entscheidung aufzuheben. Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht denkbar, daß das Subjekt bewußt auf seine Vorliebe und Neigung als Maßstab der Entscheidung zurückgreift, denn damit würde es diese zum leeren Spiel der Willkür degradieren.

22 Auch der intellektuelle Reiz, das Phänomen der Gemeinschaft noch weiter analytisch auseinanderlegen und synthetisch nachkonstruieren zu können, wäre ein solches Moment der Neigung oder Vorliebe, weil er nicht identisch ist mit der Tendenz, schlechthin zu wissen, was die Sache ist! Könnten wir hier im Sinne einer philosophiegeschichtlichen Tatbestandsaufnahme tiefer bohren, würden wir sicher auf wichtige Momente der Faszination des Rationalismus und der Aufklärung stoßen. 23 Natürlich ist es auch denkbar, daß die Distanz zur ursprünglichen Einsicht und die "Offenheit für alle Möglichkeiten", die die Verwunderung eröffnet, überhaupt nicht zur radikalen Entscheidung führt und dadurch ganz im Gegenteil zum Grund dafür wird, daß nun ohne weiteres die Affekte bestimmen, was als Erkenntnis gelten soll. Aber darum geht es hier nicht, sondern allein um die Frage, wie eine sich von den "sachlichen Möglichkeiten" her rechtfertigende radikale Entscheidung zugleich durch die Vorliebe bestimmt sein kann.

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis - Erkenntnis als Entscheidung 157 Die damit gestellte Frage nach der Möglichkeit des Zusammenspiels von Vorliebe und absoluter Entscheidung, das ihren rationalen Charakter nicht berührt oder gar aufhebt, läßt sich auf zweifache Weise beantworten, wobei die beiden Teilantworten denselben Sachverhalt von verschiedenen Seiten her beleuchten. § 2: Zwei Teilantworten

Erstens kann die Vorliebe für eine der Alternativen in einer ganz einfachen Weise den Ausschlag geben, ohne das Wesen der Entscheidung zu verfälschen und zwar einfach dadurch, daß sie das Subjekt veranlaßt, bei ihr stehenzubleiben. Denn bei der Entscheidung geht es zunächst ja gar nicht darum, zu sagen, was sie wirklich sei, sondern um verschiedene Möglichkeiten der Einstellung zur Wirklichkeit: um ihre Annahme oder um skeptisches Offenlassen. Wenn sich das Subjekt daher auf seine Vorliebe stützt, muß das keineswegs bedeuten, daß es sich das Recht nimmt, zu sagen, es solle nur deshalb eine bestimmte Ordnung der Dinge geben, weil es sie schätzt oder sie nicht geben, weil es sie mißbilligt. Vielmehr bleibt es ganz einfach bei ihrer Hinnahme in der normalen Erkenntnis stehen, was mit ihrer Annahme gleichbedeutend ist oder es geht über sie hinaus zur skeptischen Enthaltung mit all ihren Konsequenzen. Somit geht es also in dieser Form der Entscheidung gar nicht darum, daß ich die Wirklichkeit hinund annehme, weil ich sie so und nicht anders haben will, sondern was ich will, ist lediglich dies, bei der Einsicht stehenzubleiben, in der sie sich durch sich selbst legitimiert und meiner Neigung folgend die andere Möglichkeit als Versuchung abzuweisen. Oder ich schlage umgekehrt den Weg ein, den mir die Verwunderung eröffnet, weil mich die an seinem Ende auftauchenden Alternativen faszinieren. In keinem der beiden Fälle wird also die auf Erkenntnis beruhende Affirmation durch eine bestimmte Vorliebe oder "Werthaltung" ersetzt, sondern ich entscheide mich durch diese inspiriert zur Affirmation, weil ich nach wie vor sehe und einsehe, daß dies von der Sache her möglich ist. Denn beide Alternativen sind und bleiben der Entscheidung als echte Möglichkeiten vorgegeben und deshalb erfährt das Subjekt im Blick auf sie nach wie vor, daß seine Entscheidung selbst dann "von der Sache her" abgesichert ist, wenn es aus seiner Neigung heraus bei einer von ihnen stehenbleibt. Und damit stehen wir schon bei der zweiten Teilantwort auf die Frage, ob die Vorliebe nicht die radikale Entscheidung ideologisch verfälsche und damit aufhebe. Zweifellos besteht ein genauer inhaltlicher Entsprechungszusammenhang zwischen der Alternative, die ich in der radikalen Verwunderung als möglich erkenne und in der Entscheidung wähle und der Vorliebe, die den Ausschlag gibt, gerade bei ihr stehenzubleiben. Die Möglichkeit, die die Erkenntnis eröffnet, ist die gleiche, die die Vorliebe bejaht, sodaß sie auf ihre Weise die Erkenntnis bestätigt wie auch umgekehrt. Was das Subjekt als sachliche Möglichkeit erfährt, erfährt es gewissermaßen nochmals in anderer Weise als möglich, d. h. als gut

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und richtig in der betreffenden Vorliebe. Ja, mehr noch: indem die Erkenntnis die betreffende objektive Möglichkeit erst aufzeigt, macht sie damit in einem tieferen Sinne auch die Vorliebe erst möglich, die dieser Möglichkeit gilt. Sie legitimiert sie, inuem sie zeigt, daß der Gegenstand, auf den sie sich richtet, so auch möglich und denkbar ist! Auch wenn die betreffende Vorliebe schon besteht, wird sie durch die Eröffnung der Möglichkeit, die sich ihr nunmehr auftut, nochmals hervorgerufen. Anders ausgedrückt ergreift die Erkenntnis auch hier die Vorliebe oder Neigung, die latent in der menschlichen Natur, der seelischen Verfassung angelegt ist, verwandelt sie, hebt sie auf eine höhere Stufe und bringt sie damit erst in einer neuen Weise hervor! Die Vorliebe kann den Ausschlag bei der jeweiligen Entscheidung geben, wie sie auch andererseits durch sie hervorgerufen und bestätigt und so erst recht wieder wirksam werden kann!

§ 3: Beispiele

Machen wir uns dieses auf den ersten Blick so merkwürdige und doch organische Zusammenspiel von Vorliebe und Entscheidung nochmals an einem aktuellen Beispiel klar: dem krass materialistischen Welt- und Menschenbild, wie es der französische Nobelpreisträger und Molekularbiologe Jacques Monod in seinem Werk: ,,zufall und Notwendigkeit" mit schonungsloser Konsequenz vertritt. Wir greifen nicht zufallig auf dieses Werk zurück, denn es geht hier ja nicht um die Option zwischen Weltanschauungen und philosophischen Systemen, sondern allein um die Entscheidung zwischen Hinnahme der Wirklichkeit und ihrer Verweigerung: was immer für Konsequenzen ich dann aus ihr ziehen mag! Nun ist der krude Materialismus im Selbstverständnis Monods, der gerade darin exemplarisch für so viele seiner philosophierenden Zunftgenossen seit dem Beginn der Neuzeit steht, alles andere als ein vorgefaßter philosophischer Entwurf, sondern wirklich reine und getreue Hinnahme der erfahrbaren Wirklichkeit und nichts anderes. Daß er sie mit dem naturwissenschaftlichen Koordinatensystem gleichsetzt, steht auf einem anderen Blatt und ist nur ein Beweis dafür, daß die Hinnahme der Wirklichkeit, die dies bewußt sein will, durchaus mit einer verzerrten Optik oder einseitig verkürzten Sicht auf sie Hand in Hand gehen kann. Handelt es sich also der Tendenz nach um reine Hinnahme der Wirklichkeit, die hier immer schon als rein materielles Sein, als der berühmte "Urschoß der Materie" erscheint, dann kann sich die Möglichkeit auftun, daß wir über diese seltsame Seinsordnung, über die "geheimnisvolle" Materie zu staunen beginnen, die das alles leisten soll und in dieser Verwunderung taucht schon die Frage auf, ob sich hinter einer solchen "Materie" nicht etwas ganz anderes verbirgt als das, was uns naturwissenschaftliche Kategorien präsentieren. Indem wir diese Frage aufnehmen, können wir uns zur Skepsis gegenüber dem biologistisch-naturalistischen Weltbild entscheiden, obwohl wir ursprünglich von seiner Wahrheit überzeugt waren.

5. Abschn.: Zwischen Hinnahme und Skepsis -

Erkenntnis als Ents